Johan Huizinga - Wikipedia
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Johan Huizinga [ˈjoːɦɑn 'ɦœyzɪŋɣaː] (* 7. Dezember 1872 in Groningen; † 1. Februar 1945 in De Steeg
bei Arnhem) war ein niederländischer Kulturhistoriker. In seinen Forschungen befasste er sich mit
einem breiten Spektrum an Themen vom Frühmittelalter bis zu seiner Gegenwart, die sich über die
nordamerikanische über die niederländische und europäische bis zur arabischen und indischen
Geschichte erstreckten. Sein berühmtestes Buch trägt den Titel Herbst des Mittelalters und
interpretierte das Zeitalter der Renaissance weniger als Zeit des intellektuellen Aufbruchs in die Neuzeit,
sondern vor allem als Niedergang der mittelalterlichen Kultur und Gesellschaft. In diesem wie in seinen
anderen Werken interessierte sich Huizinga insbesondere für die Zusammenhänge zwischen dem
geistigen Leben einer Gesellschaft (Literatur, bildende Kunst, Mentalitäten) und ihrer äußerlichen
Entwicklung.
Von 1893 bis 1895 absolvierte er das Referendariat und Abschlussexamen für das Lehramt in
Niederländisch, Geschichte und Geographie. Anschließend bereitete er eine sprachwissenschaftliche
Dissertation vor, die Ausdrücke für Licht- und Klangempfindungen in verschiedenen indogermanischen
Sprachen vergleichend untersuchen sollte. Zu diesem Zweck unternahm er im Wintersemester 1895/96
einen mehrmonatigen Studienaufenthalt in Leipzig, brach diesen jedoch wieder ab, da die dortige
Dominanz der Junggrammatiker kein günstiges Umfeld für die völkerkundlich-kulturgeschichtliche
Ausrichtung seiner Arbeit bot. Bald nach der Rückkehr gab er auch sein Dissertationsvorhaben in dieser
Form auf und begann stattdessen eine Dissertation über die komische Figur des „Vidushaka“
(vergleichbar dem deutschen „Hanswurst“) im indischen Theater (De Vidushaka in het indisch toneel).
Mit dieser Arbeit, die in einer ihrer Thesen auch einen Teil seines ursprünglichen
Dissertationsvorhabens verarbeitete, wurde er 1896 bei Jacob Speyer promoviert. Enttäuscht von der
Sprachwissenschaft, insbesondere von den Junggrammatikern, deren Streben nach Rekonstruktion und
Vergleich formaler Strukturen sich immer weiter von der lebendigen gesprochenen Sprache und ihrer
emotionalen und expressiven Bedeutung entfernte, wandte er sich in einer Art persönlicher
„semantischer Wende“ dem Bedeutungsgehalt kultureller Ausdrucksformen zu.[1]
1897 trat er eine Stelle als Geschichtslehrer an einem Gymnasium in Haarlem an. Im Januar 1903
wurde er außerdem an der Universiteit van Amsterdam als Privatdozent für altindische Literatur- und
Kunstgeschichte zugelassen und hielt dort ab Oktober Vorlesungen.
Seit 1902 war Huizinga verheiratet mit der aus einer wohlhabenden Middelburger Familie stammenden
Mary Vicentia Schorer († Juli 1914). Der Ehe entstammten fünf Kinder, die der Witwer Huizinga nach
dem frühen Tod seiner Ehefrau allein erzog.
Professor in Groningen und Leiden
Seine Tätigkeit als Lehrer befriedigte ihn nicht. In der Orientalistik bestanden keine günstigen
Aussichten auf eine Professur, auch das Angebot einer journalistischen Tätigkeit schlug er aus.
Stattdessen wandte er sich auf Anraten seines früheren Lehrers Blok der Geschichtswissenschaft zu.
Einen Anstoß dazu erhielt er durch die Ausstellung spätmittelalterlicher Malerei 1902 in Brügge, die sein
visuell geprägtes Denken stark anregte. Blok verschaffte ihm 1905 gegen Vorbehalte der Fakultät und
des Kuratoriums den Groninger Lehrstuhl für allgemeine und niederländische Geschichte, noch ehe
Huizingas erste einschlägig qualifizierende Arbeit, eine auf Archivstudien beruhende Untersuchung zur
Stadterhebung Haarlems, vollständig erschienen war.
1915 wurde er auf den Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte an der Universität Leiden, einen der
renommiertesten Lehrstühle des Landes, berufen, den er bis zur Schließung der Universität im Jahre
1942 innehatte. Dort amtierte er 1932/33 als Rektor. 1916 wurde er Mitglied der Niederländischen
Akademie der Wissenschaften in Amsterdam, in der er ab 1929 den Vorsitz der
geisteswissenschaftlichen Abteilung führte. Außerdem wirkte er von 1916 bis 1932 als Redakteur bei
De Gids, einer der führenden Kulturzeitschriften der Niederlande. 1919 erschien sein Werk Herbst des
Mittelalters (Herfsttij der Middeleeuwen), das heute zu den Hauptwerken der Geschichtsschreibung des
20. Jahrhunderts zählt. Er publizierte in den folgenden Jahren eine Vielzahl von Studien zur
spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte, Literatur und Kunst, aber auch zwei Arbeiten zur
Geschichte und Kultur der USA. In seiner 1929 erschienenen kulturhistorischen Abhandlung
(Cultuurhistorische verkenningen) formulierte er eine wegweisende Definition von
Geschichtsschreibung: „Geschichte ist die geistige Form, in der sich eine Kultur über ihre Vergangenheit
Rechenschaft gibt.“[2]
Huizinga engagierte sich in der Akademie, in wissenschaftlichen Gesellschaften (u. a. 1918/19 als
Vorsitzender der Maatschappij der Nederlandse Letterkunde) und in verschiedenen Gremien. Zudem war
er universitätspolitisch aktiv. 1927 wurde er für vier Jahre Dekan seiner Fakultät; im Universitätsjahr
1932/33 war er Rektor. Er hielt weltweit Vorträge – in Frankreich, Belgien, der Schweiz, Österreich,
England, Spanien, den USA und Niederländisch-Indien – und wurde von den Universitäten von Tübingen
(1927) und Oxford (1937) mit Ehrendoktorwürden geehrt. In den 1920er Jahren war er niederländischer
Gutachter des Laura Spelman Rockefeller Memorial der Rockefeller Foundation und bereiste in dieser
Eigenschaft 1926 drei Monate lang amerikanische Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen. 1933
wurde er Mitglied der Commission Internationale de Coopération Intellectuelle des Völkerbunds.
Protest gegen den deutschen
Antisemitismus
In seinen Veröffentlichungen wahrte Huizinga meist Abstand zum tagespolitischen Geschehen; in
seinen politischen Einstellungen galt er als konservativ und wenig demokratisch gesinnt.[3] Dennoch
setzte er kurz nach der deutschen Machtergreifung 1933 ein weithin wahrgenommenes Zeichen gegen
den deutschen Nationalsozialismus und Antisemitismus und auch der Solidarität mit den in
Deutschland verfolgten Juden.
Kurz vor Ende einer im April an der Leidener Universität stattfindenden französisch-deutsch-englisch-
niederländischen Tagung des International Student Service lud Huizinga als Rektor der Universität den
als Leiter der deutschen Delegation anwesenden Nationalsozialisten Johann von Leers zu einem
Gespräch ein und befragte ihn über die von diesem verfasste antisemitische Hetzschrift mit dem Titel:
„Forderung der Stunde: Juden raus!“, von der er kurz zuvor Kenntnis erhalten hatte. In diesem Werk, das
erstmals 1928 erschienen war, griff Leers das Klischee antisemitischer Ritualmordlegenden aus dem
Mittelalter auf und behauptete, dass Christenkinder auch in den 1930er Jahren in Gefahr seien, von
Juden ermordet zu werden. Dazu sprach Leers in der Broschüre Juden einen kriminellen Charakter zu,
wie es Martin Finkenberger in seiner Untersuchung im Bulletin des Deutschen Historischen Instituts
Moskau als typisch für Leers Publikationen bezeichnet.[4] Leers verteidigte seine antisemitische
Haltung und seine Broschüre mit wenig überzeugenden Argumenten. Darauf bat ihn der Rektor, die
Universität und damit die Tagung zu verlassen, und verabschiedete ihn ohne Handschlag. Der Rektor
sah die Idee der Tagung, die dem internationalen akademischen Austausch diente, verletzt. Auf Grund
dieser Zurechtweisung reiste die deutsche Delegation ab, und die Konferenz wurde einen Tag früher
beendet.
In den Niederlanden fand Huizingas religiös begründete humanistische Haltung anfangs nicht nur
Zustimmung; so musste er sich vor dem Kuratorium seiner Universität rechtfertigen. Aber er erhielt
auch große Unterstützung. In Deutschland wurde er scharf angegriffen. So distanzierte sich die
Redaktion der Historischen Zeitschrift in einer Anmerkung zu einem im Druck befindlichen Aufsatz
Huizingas öffentlich von ihm und schrieb, dass sie diesen Artikel nicht abgedruckt hätte, wenn sie
Kenntnis von dem durch Huizinga veranlassten Vorfall gehabt hätte. Sie druckte auch keine weiteren
Artikel von ihm mehr ab. Huizinga wurde auf die von der Reichsschrifttumskammer eingeführte Liste
des schädlichen und unerwünschten Schrifttums gesetzt – ein Publikationsverbot in Deutschland.
Zusätzlich erhielt er ein Einreiseverbot und wurde auf die Fahndungslisten der Gestapo gesetzt.
Huizingas Beispiel aus dem Jahr 1933 machte Schule. Nachfolgende Rektoren und andere Professoren
sprachen sich gegen den Antisemitismus der Deutschen aus. Nach dem Einfall der Deutschen in die
Niederlande gab es im Oktober 1940 Vorträge von Professoren an der Universität Leiden, die sich gegen
die Deutschen und ihren Antisemitismus richteten, als eine Reihe von jüdischstämmigen Mitarbeitern
die Universität Leiden verlassen mussten.
Letzte Jahre
Während der deutschen Besatzung der Niederlande (1940–1945) im Zweiten Weltkrieg konnte Huizinga
seine Professur anfangs noch ausüben. Obwohl sein Name seit Mai 1940 auf einer Liste potenzieller
Geiseln stand und er mit seiner Verhaftung rechnete, lehnte er im August 1940 eine Einladung zur
Emigration in die USA ab. Im Februar 1941 wirkte er an der Formulierung einer Erklärung gegen die
antisemitischen Maßnahmen der deutschen Besatzer mit, die anschließend von Rektorat und
Kuratorium der Universität wieder abgeschwächt wurde. Mit anderen Professoren bat er Ende April
1942 im Rahmen eines Protests gegen die Einmischungen der Besatzungsbehörden in
Universitätsangelegenheiten um seine Entlassung. Am 1. Juni 1942 wurde er emeritiert, auch seine
Mitgliedschaft in der Akademie der Wissenschaften musste er niederlegen. Im gleichen Jahr wurde die
Universität Leiden geschlossen.
Im August 1942 wurde Huizinga mit anderen Prominenten im Geisellager Sint-Michielsgestel interniert.
Aufgrund eines ärztlichen Gutachtens, das ihn als für die „Dauer nicht haft- und lagerfähig“ erklärte,
wurde er auf eine ministerielle Anordnung hin bereits im Oktober wieder entlassen, da im Hinblick auf
seine internationale Bekanntheit auf jeden Fall vermieden werden sollte, dass er in deutscher Haft ums
Leben kam. Die Entlassung erfolgte jedoch unter der Auflage, nicht nach Leiden zurückzukehren. Mit
seiner zweiten Ehefrau, der fast vierzig Jahre jüngeren Auguste Schölvinck (1909–1979), die er 1937
geheiratet hatte, und mit ihrer gemeinsamen Tochter ließ er sich daraufhin in De Steeg bei Arnhem
nieder. Den Kontakt zu Freunden und Kollegen erhielt er brieflich aufrecht. Am 7. Dezember 1942
wurden ihm zu seinem siebzigsten Geburtstag zwei Festschriften im Manuskript angeboten, die jedoch
erst 1948 im Druck erscheinen konnten. Im März 1943 wurden seine Schriften in den Niederlanden
verboten. Nach einer kurzen Krankheit starb Huizinga am 1. Februar 1945 in De Steeg.
Sein Hauptwerk ist Herbst des Mittelalters (1919), das heute als Klassiker der europäischen
Historiographie des 20. Jahrhunderts gilt.
In Homo ludens (1938; deutsch: 1939) untersucht Huizinga die Rolle des Spiels und der Kreativität in
allen Bereichen der Kultur, besonders in Recht, Wissenschaften, Kunst und Philosophie. Das Spiel wird
als zentraler, selbstständiger Kulturfaktor gesehen und die Neigung zum Spiel als Ursprungsort aller
großen kulturellen Bildungen angesehen. Unter „Spiel“ versteht er
Huizinga steht damit auch am Anfang einer Diskussion um den Ursprung des Sports. Wenn er
allgemein menschlich ist, kann er nicht erst, wie u. a. von Allen Guttmann postuliert, mit der
Industrialisierung in Großbritannien entstanden sein, sondern seine Elemente müssen schon lange
vorher existiert haben.[5]
Daneben veröffentlichte Huizinga eine Geschichte der Universität Groningen im 19. Jahrhundert,
Mensen en menigte in Amerika (1917) und Amerika levend en denkend (1926) zur Kultur und Geschichte
der USA, eine Biographie des Erasmus von Rotterdam, eine Biographie des niederländischen Künstlers
Jan Veth (1927), eine Darstellung der niederländischen Kultur des 17. Jahrhunderts sowie die beiden
Schriften Im Schatten von morgen (1935) und Geschändete Welt (posthum 1945), die sich kritisch mit
gesellschaftlichen Entwicklungen seiner Gegenwart beschäftigten.
Zudem verfasste er kurz vor seinem Tode die kleine autobiographische Schrift Mein Weg zur Geschichte
(posthum 1947 erschienen).
Veröffentlichungen
Deutschsprachige Ausgaben
Weitere Werke
Literatur
Einzelnachweise