Niemandsland: Hader am Berg Scopus
Von Yfaat Weiss und Jan Eike Dunkhase
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Über dieses E-Book
Yfaat Weiss
Yfaat Weiss ist Professorin für Jüdische Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem, steht dem Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow vor und ist Professorin für Neuere, insbesondere jüdische Geschichte, an der Universität Leipzig.
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Niemandsland - Yfaat Weiss
Ein anderes Heiligtum
Die feierliche Grundsteinlegung der Hebräischen Universität auf dem Berg Scopus am 1. April 1925. »Könnte es einen geschichtsträchtigeren Ort geben«, fragte Lord Balfour in seiner Ansprache. © Library of Congress, G. Eric and Edith Matson Photograph Collection.
Die Versuchung ist groß, die Geschichte der Hebräischen Universität im Jahr 1948 als von Beginn an feststehenden Schlussakt eines Dramas zu lesen, in dem sich Zerstörung und Erlösung mischen. Seit den ersten Initiativen war die Gründung der Universität auf dem Berg Scopus mit einer politisch-theologischen Fracht beladen, die ihre Gründerväter regelmäßig auffrischten, wenn sie die Worte des Propheten Jesaja zitierten: »Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem.«
Wenngleich der Erwerb des Grundstücks von John Gray Hill während des Ersten Weltkrieges dem Zufallsspiel von Angebot und Nachfrage auf dem lokalen Immobilienmarkt geschuldet war, handelte es sich beim Berg Scopus doch um einen Ort, der von Symbolen des Heiligen nur so strotzte. 1912 schrieb er:
»Von unserem Haus aus bietet sich der, wie ich meine, erhabenste und prachtvollste Anblick der Welt. Von der einen Seite blicken wir herab auf die Heilige Stadt und auf das große Areal, auf dem sich einst der Tempelberg befand […], und gen Norden erblicken wir unzählige Dörfer des Alten Testaments, Rama, Mitzpa und Michmash. Wir überschauen also ein Land, das größtes menschliches Interesse und tiefste menschliche Gefühle weckt. So werden Sie gewiss verstehen, warum wir so begeistert sind vom Heiligen Land.«
Tatsächlich lassen sich vom Rücken des Scopusbergs, der höchsten Erhebung im Umkreis, biblische Schauplätze überblicken, die für die Geschichte der hebräischen Nation zentral sind. Der frühere britische Außenminister Lord Arthur James Balfour, Verfasser der berühmten nach ihm benannten Deklaration, erinnerte in seiner von Pathos durchdrungenen Rede anlässlich der Eröffnung der Universität im April 1925 vor mehr als 7 000 Anwesenden an die besondere Bedeutung des Orts: »Es war dieser Berg, von dem aus die römischen Zerstörer Jerusalems die Belagerung lenkten, die diesem großen Kapitel in der Geschichte des jüdischen Volkes ein Ende setzte. Könnte es einen geschichtsträchtigeren Ort geben?«, sprach Balfour halb fragend, halb proklamierend, als er auf den Nexus zwischen dem Verlust der Souveränität zur Zeit des Zweiten Tempels und der Hoffnung auf deren Wiedergewinnung mit der Gründung der Hebräischen Universität verwies. Im Wesentlichen dasselbe brachte auch Itamar Ben-Avi zum Ausdruck, der Sohn des Erneuerers der hebräischen Sprache Eliezer Ben-Jehuda, als er in der Jerusalemer Tageszeitung Do’ar Ha-Jom (Tagespost) konstatierte: »Titus hat den biblischen Tempel zerstört, Balfour errichtet den neuen Tempel.«
Chaim Weizmann nannte die Universität einen »dritten Tempel«, ebenso der führende Kulturzionist Achad Ha’am. Andere verglichen sie mit Jawne, jenem Ort, an dem der talmudischen Überlieferung zufolge Jochanan Ben-Sakkai und seine Schüler nach der Zerstörung des Zweiten Jerusalemer Tempels ein alternatives religiöses Zentrum schufen. Weizmann selbst betonte bei der Inauguration der Universität, sie richte »ihren Blick auf die Propheten und die Weisen, auf jene, die auf den Ruinen des jüdischen Staates die Akademien von Jawne, Nehardea und Pumbedita errichteten«. Mit religiösen und messianischen Sehnsüchten war jenes säkulare kulturelle Projekt, das sich Universität nannte, zweifellos reichlich ausgestattet. Selbst ein Mann der Tat wie Arthur Ruppin, der Leiter des Palästina-Amts in Jaffa, zeigte sich von hehren Gefühlen ergriffen, als er am Tag der Eröffnung des Instituts für Jüdische Studien im Jahr zuvor in sein Tagebuch schrieb:
»Die Tatsache, daß nunmehr wirklich der erste Anfang der Hebräischen Universität gemacht ist, machte auf mich großen Eindruck. Vielleicht ist dies doch ein historischer Tag, vielleicht wird doch von Zion eine neue Lehre ausgehen und der Menschheit neue Wege weisen.«
Ein Jahrzehnt nach der feierlichen Eröffnung der Universität hatte der Berg Scopus mit seinen Einrichtungen eine zentrale Stellung im Bewusstsein der politischen Führungsschicht erobert, er begann die eigentlich religiösen heiligen Stätten zu überschatten. Deutlich wird dies an der Reaktion der Jewish Agency auf die Empfehlungen der königlich britischen Untersuchungskommission für Palästina (Peel-Kommission) im Jahr 1937, die neben der Teilung des Landes in einen jüdischen und einen arabischen Staat vorschlug, Jerusalem und Umgebung als Teil einer Sonderzone unter britischer Mandatsverwaltung zu belassen. Die Jewish Agency erarbeitete daraufhin einen Gegenvorschlag zur Teilung der Stadt, den sie 1938 der neu eingerichteten Teilungskommission (Woodhead-Kommission) vorlegte. Mit der Unterstützung von Weizmann und Ben-Gurion enthielt sich ihre Exekutive dabei überraschenderweise jeglicher Forderungen im Hinblick auf die Jerusalemer Altstadt, verzichtete also bewusst auf die heiligen Stätten, um gleichzeitig in aller Entschiedenheit dafür zu plädieren, den Berg Scopus dem von ihr beanspruchten Westteil der Stadt zuzuschlagen. Angesichts der zu erwartenden internationalen Distanzierung und der mangelnden Aussicht, die Altstadt für sich zu gewinnen, neigten die Schlüsselakteure dazu, sich mit Ersatz abzufinden. So erklärte bei den Beratungen etwa Menachem Ussischkin, der Vorsitzende des Jüdischen Nationalfonds: »Der Scopusberg wird zum kulturellen Zentrum des jüdischen Volks werden, mit Tausenden von Studierenden und Hunderten von Professoren.« Vorerst blieben dies freilich Visionen. Am Vorabend der Teilung belief sich die Zahl der Professoren unter den weniger als 200 akademischen Angestellten auf lediglich rund 50, die Zahl der Studierenden lag etwas über 1 000. Die räumliche Isolierung des Elfenbeinturms im Nordosten der Stadt fand ihre Entsprechung in der tiefen Diskrepanz zwischen den Ansichten eines Teils der innerhalb seiner Mauern Tätigen und der öffentlichen Meinung außerhalb derselben.
Vor allem anderen galt dies für die politische Einstellung der Universitätsangehörigen. Ein großer Teil von ihnen identifizierte sich mit Brit Shalom, jener zur Zeit der Universitätseröffnung gegründeten Vereinigung, die die Idee eines binationalen Staats unterstützte. Als Sprachrohr dieser politischen Haltung fungierte der Kanzler, dann Präsident der Universität, Jehuda L. Magnes. Wenngleich er sich der Organisation nicht offiziell anschloss, da er an der Aufrichtigkeit der pazifistischen Motive ihrer Mitglieder zweifelte, unterstützte er in der Öffentlichkeit aktiv den Gedanken der Binationalität. Entschieden lehnte er jeden Erfolg des politischen Zionismus ab, der auf fremde Einmischung und den Ruf nach Vorrechten unter dem Schutzschirm einer imperialen Großmacht zurückzuführen war. Als die Peel-Kommission 1937 ihren Teilungsplan vorlegte und dieser zum festen Faktor künftiger Szenarien wurde, taten Magnes und seine Mitstreiter alles in ihrer Macht Stehende für die Idee des binationalen Staats. Zu diesem Zweck gründeten sie im Sommer 1942 gemeinsam mit weiteren Kollegen von der Hebräischen Universität die Partei Ichud, um gegen den Plan zur Gründung eines jüdischen Staates zu opponieren, der sich auf der Biltmore-Konferenz abzuzeichnen begann. Magnes’ Aktivitäten gipfelten in seiner Aussage vor dem Anglo-Amerikanischen Untersuchungskomitee im März 1946. Ohne von seiner Haltung im Hinblick auf den binationalen Staat abzuweichen, gleichzeitig aber in absolutem Widerspruch zu seiner Unterstützung der Beschränkung jüdischer Einwanderung in den 1930er Jahren forderte Magnes hier das Einwanderungsrecht für 100 000 heimatlos gewordene Juden nach Palästina. Er betrachtete dies als humanitären Akt, der die Forderung nach einem jüdischen Staat erübrigen würde. Magnes’ Äußerung als Privatmann und Mitglied des Ichud, nicht in seiner Funktion als Universitätspräsident, wurde in der Presse mit großer Zustimmung aufgenommen. Die private Aussage eines anderen Universitätsangehörigen und Ichud-Mitglieds, Martin Buber, verstimmte die Öffentlichkeit hingegen. Die Tageszeitung Ha-Boker (Der Morgen) verglich Bubers vermeintlich im Namen der Universität vorgebrachte Äußerungen sogar mit jener feindlichen Front, die sich zur Zeit des Titus auf dem Berg Scopus formiert hatte.
Am deutlichsten zeigte sich Magnes’ politische Grundhaltung in seiner kategorischen Ablehnung jüdischen Terrors. Nachdem er im Sommer 1939 bei einer Busfahrt einem Gespräch zwischen Jugendlichen im Geiste von Simsons selbstmörderischem Racheschwur »Ich will sterben mit den Philistern« (Richter 16,30) gelauscht hatte, schrieb er in sein Tagebuch: »Langsam verfällt das auserwählte Volk im Heiligen Land der barbarischen Primitivität der Wüste.« Eine solche Haltung war an der Hebräischen Universität seinerzeit durchaus verbreitet. An einer von den Studierenden organisierten Demonstration gegen den jüdischen Terror beteiligten sich rund 600 Menschen. Und so war es folgerichtig, dass Weizmann und Magnes sich Ende 1944 darin einig waren, die Ermordung von Lord Moyne durch die Untergrundmiliz Lechi als einen schlimmen Vorfall zu betrachten. Dies entsprach der Einstellung der Universitätsleitung, die terroristische Aktivitäten im Allgemeinen und den Anschlag auf das King David Hotel im Sommer 1946 im Besonderen scharf verurteilte. Magnes blieb dieser Haltung treu, als er zu Beginn des Studienjahrs 1946/47 vor Extremisten warnte, die Zerstörung und Verwüstung brächten. Im Jahr darauf äußerte er seinen Abscheu vor der Entführung und Ermordung von zwei britischen Sergeants durch die Miliz Irgun im Juli 1947, ein Ereignis, das eine lange Reihe weiterer antibritischer Gewalttaten und Racheakte der »Dissidenten«-Organisationen Irgun und Lechi nach sich zog, nachdem die Briten im Februar 1947 ihren Rückzug aus dem Land ankündigten. Dabei wollte Magnes weder die Allgemeinheit noch sich selbst von der Mitverantwortung für die »Dissidenten« freisprechen. Er weigerte sich allerdings, ihnen das alleinige Anrecht auf den Begriff »Dissidenz« zu überlassen. In seiner Rede zur Eröffnung des Studienjahrs 1947/48 betonte er, es gebe zwei verschiedene Arten von Dissidenz, eine, die er lobe, und eine, die er verdamme; Letztere bedeute, das Joch des Himmelreichs abzuschütteln, während sich Erstere von der Verunreinigung abwende und Reinheit und Aufrichtigkeit liebe. Israel sei »der größte Dissident in der Geschichte der Menschheit«, Dissidenz entspräche mithin dem »innersten Wesen des Judentums«. Zum Schluss seiner Rede – es sollte seine letzte sein – verwies Magnes auf den Zufluchtsort jener Dissidenten, die zu der Zeit gegen die Verunreinigung in ihrem Umfeld opponierten:
»Gott sei Dank, es gibt eine Hebräische Universität im Land, einen Zufluchtsort, einen Tempel, ein kostbares Heiligtum, einen Ort zumindest, wo wir über die Jahre und nach Streit und Diskussion, denke ich, eine Übereinkunft erzielt haben; die Übereinkunft besteht darin, dass die Universität eine res publica ist, eine autonome Körperschaft, unabhängig von Staat und ekklesía, eine Universität, die einerseits integraler Bestandteil des Lebens der Gemeinschaft ist und andererseits eine Dissidentin, getrennt von der Gemeinschaft, insofern sie sich, was immer auch die Mehrheit entscheidet, nicht ihrer Freiheit der Wissenschaft, des Denkens und der Rede entäußern kann.«
Die Hoffnungen, die Magnes – in dem Maße, wie es die Mandatszeit zuließ – in die Universität als res publica setzte, schwanden mit der Erlangung der politischen Souveränität. Nach und nach integrierte sich die Universität aus eigenem Antrieb in den Jischuw und unterstellte sich der Autorität der nationalen Institutionen. Mit der Verabschiedung des UN-Teilungsplans am 29. November 1947 endete faktisch die Zeit jener institutionellen Autonomie, die die Lehreinrichtung als »Universität des jüdischen Volkes« genossen hatte. Angesichts ihrer strategischen Lage und der mit der Umsetzung des Teilungsplans einhergehenden geopolitischen Konsequenzen wurde sie gewissermaßen über Nacht äußeren Zwängen unterworfen, während sie von innen her gefordert war, mit den künftigen strukturellen Herausforderungen umzugehen. In einer der Senatssitzungen lautete ein Tagesordnungspunkt: »Die Universität unter dem Zukunftsregime.«
Corpus separatum
Anlässlich der Eröffnung des neuen Studienjahres am 8. Juli 1947 wurde Chaim Weizmann und Jehuda L. Magnes die Ehrendoktorwürde der Hebräischen Universität verliehen. V. l. n. r.: Yitzhak Vilkansky-Volcani, unbekannt, Giulio (Yoel) Racah, Michael Fekete, Chaim Weizmann, (Arie) Leon Simon, Jehuda L. Magnes (stehend), Moshe Schwabe, Naftali Herz Tur-Sinai (Harry Torczyner) und David Werner Senator. Courtesy of the Central Zionist Archives, Jerusalem.
In jenen Tagen war das Regime der Zukunft noch in Nebel gehüllt. Nachdem die britische Regierung ihre Entscheidung bekanntgegeben hatte, das ihr noch vom Völkerbund erteilte Mandat an die Vereinigten Nationen zurückzugeben, wurde im Mai 1947 die UN-Sonderkommission für Palästina (UNSCOP) eingesetzt. Diese wies Jerusalem zum Abschluss ihrer Verhandlungen einen internationalen Status zu und empfahl einstimmig, das Mandat baldmöglichst aufzuheben. Gegen eine