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Leonora Carrington

EIN FLANELLNACHTHEMD

Une chemise de nuit de flanelle


Deutsch von Heribert Becker

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Aufführung durch Berufs- und Laienbühnen, des öffentlichen Vortrags, der
Verfilmung und Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Abschnitte. Das Recht der deutschsprachigen
Aufführung ist nur vom Rowohlt Theater Verlag, Hamburger Straße 17, 21465 Reinbek, Tel.: 040 – 72 72 -270, Fax: -276 zu
erwerben. Den Bühnen und Vereinen gegenüber als Manuskript gedruckt. Dieser Text gilt bis zum Tag der Uraufführung /
deutschsprachigen Erstaufführung / bis zur ersten Aufführung der Neuübersetzung als nicht veröffentlicht im Sinne des
Urheberrechtsgesetzes. Es ist nicht gestattet, vor diesem Zeitpunkt das Werk oder einzelne Teile daraus zu beschreiben oder seinen
Inhalt in sonstiger Weise öffentlich mitzuteilen oder sich öffentlich mit ihm auseinanderzusetzen. Der Verlag behält sich vor, gegen
ungenehmigte Veröffentlichungen gerichtliche Maßnahmen einleiten zu lassen.
Das Stück besteht aus einem Akt und fünf Szenen, die gleichzeitig ablaufen.
Ein Haus, das in fünf Zimmer und einen Keller unterteilt ist. Jeder Raum hat ein
anderes Licht. Das Erdgeschoss umfasst zwei Räume, von denen der eine eine
Kurzwarenhandlung, der andere eine Küche ist. Im ersten Stock liegen ein
Schlafzimmer und ein Badezimmer. Das fünfte Zimmer ist eine Mansarde.
Der unter dem Haus liegende große Keller ist kaum zu erkennen: Licht unterirdischer
Gewölbe.

Eine junge weißhaarige Frau strickt; ihr Haar ist so lang, dass sie es hin und wieder in
das große Kleidungsstück einarbeitet, das bis zur Mitte des Ladens reicht und immer
noch ziemlich geschwind zwischen den Stricknadeln hervorwächst. Die Frau singt. Die
Ladenglocke läutet in neun verschiedenen Tonlagen. Ein junger Mann betritt das
Geschäft, er trägt einen schwarzgelockten, ganz offensichtlich falschen Bart. Sein
Name ist Nud.

Die weißhaarige Frau strickt weiter und spricht, ohne von ihrer Arbeit aufzublicken. Sie
heißt Dwyn.

DWYN: Guten Abend, Sir. Welchen Artikel wünschen Sie?

NUD: Ein trübseliger Abend. Ich habe mich im Vorbeigehen gefragt, ob


Sie nicht zufällig Nachthemden führen.

DWYN: Nachthemden? Nein, Nachthemden führen wir nicht. Die trägt


heute niemand mehr, das ist völlig unmodern. Alle tragen
gestreifte Pyjamas, das ist Vorschrift, die Großen haben der
Zivilisation Streifen verpasst, damit man einen traumlosen Schlaf
hat.

NUD: Es war nur eine Frage. Wissen Sie nicht, wo ich diesen Artikel
finden könnte?

DWYN: Das weiß ich wirklich nicht. Wer gern ein Nachthemd tragen
möchte, der müsste es sich schon anfertigen lassen. Und das
würde ihn eine Menge Ärger und Geld kosten. Ich erinnere mich,
dass mein Vater ein Nachthemd besaß, es war aus Flanell und
von einer Qualität, wie man sie heutzutage nicht mehr findet.
Meine Mutter muss es mindestens zwanzigtausendmal
gewaschen haben.

(Inzwischen ist nach und nach die Küche sichtbar


geworden: Das Licht besitzt die Wärme des Feuers, und
in seinem rötlichen Widerschein, der allmählich stärker
wird, erkennt man einen Leichnam, der mit dem Gesicht
nach unten in einer sich ausbreitenden Blutlache liegt.
Der Tote trägt ein weißes Flanellnachthemd)

NUD: Dummerweise kenne ich kein Geschäft für Unterwäsche. Ich bin
fremd in der Stadt.

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DWYN: Ja, ja, das habe ich schon verstanden! Wir sehen so selten ein
neues Gesicht. Kein Mensch geht mehr auf Reisen heutzutage,
da alles Geld festliegt und Schiffe, Züge, Autos, Lastwagen für
etwas anderes verwendet werden ... Sie wissen ja.

NUD: Ja, man ist ziemlich allein, wenn man reist. Ich bin wirklich sehr
einsam, deshalb brauche ich ein Nachthemd; wenn es dunkel ist
und man liegt allein und durchgefroren im Bett, hat man dann
etwas, was man sich um die Füße wickeln kann. Ich leide
entsetzlich an kalten Füßen.

DWYN: Das ist ganz natürlich.

(Während dieses Gesprächs betritt eine schwarze Gestalt


die Küche; sie hat drei Hände. Sie nähert sich
geräuschlos dem Leichnam und stößt mit ihrer dritten
Hand einen Dolch in den leblosen Rücken. Dann stellt sie
leise und sehr sorgsam das Mobiliar auf den Kopf und
steckt zuletzt den Tisch in Brand. Danach zieht sie sich
zurück und hinterlässt jedes Ding an seinem
angestammten Platz)

NUD: Alles ist in seiner Art natürlich, und das ist nicht gerade ein
Fortschritt gegenüber dem Künstlichen. Ich habe immer davon
geträumt, Feuer in meinem Zimmer zu haben.

(Der Tisch in der Küche brennt lichterloh)

DWYN: Haben Sie je daran gedacht, im Bett Socken anzuziehen?

NUD: Daran habe ich nicht gedacht.

(Das Schlafzimmer ist in das Halblicht der Träume


getaucht. Die Mitte des Raums nimmt ein Säulenbett ein,
in dem Arawn, ein körperbehindertes Kind, liegt. Er ruht
auf großen, spitzengesäumten Kopfkissen und vertreibt
sich die Zeit damit, befiederte Wurfpfeile auf eine
Schneiderpuppe in einer Ecke des Zimmers zu werfen. Er
widmet sich diesem einsamen Spiel mit gezügelter
Grausamkeit.

ARAWN: Einen für Papa, zwei für Mama, drei für Prisni. So, jetzt sind die
alle tot, und ich fühle mich besser.

(Der Tisch in der Küche ist bereits ziemlich herunter


gebrannt. Ein fahles Frühlicht kriecht aus der
Dachkammer über Arawns Bett und breitet sich wie ein
Lichthof über den Giebel des Hauses. Ein dicker
schwarzer Schwan sitzt auf seinem Nest in der Mansarde,
sein langer Hals und sein kleiner Kopf wiegen sich im
Rhythmus des geräuschvollen Tickens der Pendeluhr

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unten in der Küche. Die Blutlache unter dem Leichnam
breitet sich langsam aus)

DWYN: In dieser Stadt hier sind wir immer ganz unter uns, und oft finden
die Fremden uns hartherzig, was nicht besagt, dass wir nicht
gastfreundlich sind. Oh nein, wir haben einen echten Sinn für
Gastfreundschaft. Ahhh!!!

(Wie in einem Anfall von Beklemmung schlägt sie sich


gegen die Brust)

ARAWN: (der die Zielscheibe auf der linken Brust der Schneiderpuppe
getroffen hat) Das ist wirklich eine schöne Sache. Sollen sie
brennen und lodern, diese aufgeblasenen Leute!

NUD: Was ist los? Sind Sie krank? Gestatten Sie, dass ich Ihnen ein
Glas Wasser hole, Sie haben einen Schwächeanfall.

DWYN: (die Augen aufschlagend) Es ist ein Krampf. Von Zeit zu Zeit
überkommt es mich. Gleich geht es mir wieder bestens, seien
Sie unbesorgt.

(Sie stützt sich auf den Ladentisch und holt daraus ein
kleines Fläschchen hervor, aus dem sie einen Schluck
trinkt. Nud geht zu ihr)

NUD: Es ist schrecklich, eine zarte Gesundheit zu haben.

DWYN: (reicht ihm das Fläschchen) Ich bin nervenkrank, wissen Sie.

(Die Schlafzimmertür geht auf. Ein sehr junges, ziemlich


ungeschickt als schwarzer Schwan verkleidetes Wesen
tritt ins Zimmer. Der richtige Schwan in der Mansarde
unterbricht einen Augenblick sein rhythmisches Hin- und
Herschwanken, fährt dann aber wieder fort damit)

ARAWN: Selbst für eine Schmutzliese hast du wirklich wenig Humor.


Wolltest du mich etwa erschrecken, Prisni?

PRISNI: Ich habe diese Stellung als Mädchen für alles nicht
angenommen, um mich von einem Knirps in Ihrem Alter
verhöhnen zu lassen. Wie kommen Sie überhaupt darauf, dass
ich Sie erschrecken wollte?

ARAWN: Glaubst du, ich wüsste nicht, was gespielt wird? Glaub mir,
Schmutzliese, ich kenne euch alle durch und durch. Aber was
sogar mein Begriffsvermögen übersteigt, ist der Grund, weshalb
du in diesem Aufzug herum stolzierst. Demnächst wirst du noch
Eier legen, und dann hast du die Bescherung.

PRISNI: (tritt ans Bett und zeigt ihm die Faust) Sie sind ein mieser kleiner
Strolch, das sind Sie. Sitzen da zurückgelehnt in Ihren Kissen
wie ein kleiner Herr.

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ARAWN: Geh, hol mir mein Abendessen, du ödest mich an.

PRISNI: Eines Tages werdet ihr anderen schon noch erfahren, was los
ist, und an dem Tag werden Sie den Charmeur spielen, Sir. Die
Treppe hinauf und die Treppe hinunter rennen, das ist’s, was ich
tue, und „Gib mir dies“ und „Gib mir das“, und die gnädige Frau,
die den lieben langen Tag lang strickt, ohne auch nur danke zu
sagen. Ihr werdet noch erleben, was Sache ist, das schwöre ich
Ihnen.

ARAWN: Prisni, bei deiner Grammatik läuft es mir kalt den Rücken
hinunter.

PRISNI: Grammatiziere mir dies und grammatiziere mir das! Ich werd
Ihnen das Rückenmark ausquetschen, jawohl, das werd ich!

ARAWN: Mein Rückenmark ist, wie du sicher weißt, vollkommen negativ.


Darf ich dich also darauf aufmerksam machen, dass dieser
Scherz jeder Grundlage entbehrt?

PRISNI: Das macht nichts, Mister Rawn. Es gibt niemanden, Sir, der
Ihnen in puncto Geist das Wasser reichen könnte.

ARAWN: Wir fühlen uns von einem Kompliment geschmeichelt, selbst


wenn es vom Federvieh kommt. Geh jetzt und bring mir mein
Abendbrot.

(Als sie sich umdreht um zu gehen, wirft er einen kleinen


Pfeil hinter ihr her, der zitternd in ihrem Rücken stecken
bleibt)

PRISNI: (zornig) Was fällt Ihnen ein, Sie mieser Wicht!

ARAWN: Prisni, in bezug auf Geflügel ...

(Er lächelt vielsagend zur Zimmerdecke hinauf)

PRISNI: Ah nein, nein! Nur das nicht!

ARAWN: Du kannst gehen, Schmutzliese.

(Sie läuft lachend aus dem Zimmer. Arawn lehnt sich


zurück und blickt zur Zimmerdecke. Über ihm wiegt der
Schwan seinen langen Hals zum Ticktack-Rhythmus der
Küchenuhr)

NUD: (plump-vertraulich Dwyns große Strickarbeit befingernd) Ich


glaube, auch Sie sind manchmal allein, nicht wahr?

DWYN: Das Familienleben kann genauso einsam sein wie das Leben
eines verlassenen Reisenden.

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ARAWN: Ich habe gehört, wie das Leben aus seinem Leib entwich, ich
habe gesehen, wie seine Augen sich langsam zur Weiße des
Todes verfärbten, ich habe die schnellen Fäulniskeime
eingesogen, als sie sich an die Arbeit machten, ich habe auf
meinen Lippen eine andere Dimension gespürt, ich habe einen
neuen Zustand seiner Haut berührt. Ich kenne nun den
Geschmack des Todes.

NUD: Wir haben viel gemeinsam, Sie und ich, wir sind beide einsame
Seelen, die inmitten des Getriebes und des Lärms der Lebenden
ziellos fortgetrieben werden.

(Prisni erscheint in der Küche, und als sie den Raum


betritt, schießen zahlreiche kleine Feuerzungen aus
verschiedenen Ecken des Zimmers hervor. Der Tisch ist
nur noch ein unförmiges Gebilde aus Asche und
verkohltem Holz. Sie blickt starr auf den Leichnam, und
ihre Lippen formen unhörbare Worte.

Die Dunkelheit im Keller weicht allmählich einer gewissen


Helligkeit, in der ein Festmahl sichtbar wird. Von den
Tischgästen sehen viele wie puppenhafte Leichen aus,
sie essen mit mechanischen Bewegungen. Drei weitere
Gäste sitzen an dem achteckigen Tisch: ein Mann
mittleren Alters, eine schwarze Person mit drei Händen
und eine dicke weiße Gans. Alle tragen lange
Flanellhemden. Die schwarze Gestalt zieht eine Leier
hervor und beginnt, eine Melodie zu spielen; sie wird von
der neben ihr sitzenden weißen Gans und von dem
schwarzen Schwan hoch oben in der Dachkammer
begleitet. Die Stimmen klingen schrill und so melodisch
wie die Musik einer Zimmermannssäge. Prisni macht mit
sichtlicher Anstrengung eine Bewegung, steigt über den
toten Körper und betritt den Laden)

PRISNI: Ma’m ...

DWYN: (nervös aufspringend und sogleich ungehalten) Was ist denn nun
schon wieder? Habe ich Ihnen nicht gesagt, Sie sollen niemals
hier herumstolzieren, wenn ich mit einem Kunden beschäftigt
bin?

PRISNI: Es ist sehr wichtig, Ma’m.

DWYN: Dann beeilen Sie sich. Stehen Sie nicht augenrollend herum und
stehlen mir meine Zeit.

(Die Musik von oben und unten ist leise, bleibt aber
vernehmbar. Nur Prisni scheint sie zu hören)

PRISNI: Bitte, Ma’m, ich muss Sie allein sprechen.

NUD: Beachten Sie mich nicht, ich bin ein Freund der Familie.

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PRISNI: Bitte, Ma’m, wenn Sie einen Augenblick in die Küche kommen
könnten ...

DWYN: Jetzt nicht, ich habe zu tun.

(Prisni sieht sie sonderbar an und geht hinaus in die


Küche. Dort kniet sie sich neben die Leiche und taucht
ihre Fingerspitzen in das Blut. Sie blickt verstohlen hinter
sich, führt dann die Finger an ihren Mund und leckt sie ab.
Der ältere Mann im Keller beginnt, nervös zu lachen, so
als kitzele ihn jemand. Prisni taucht abermals ihre Finger
in das Blut und leckt sie ab)

ARAWN: Sie fangen schon wieder an! (Ekstatisch huscht ein Lächeln tiefer
Wonne über sein Gesicht) Schon wieder, schon wieder, schon
wieder, möge es doch ewig währen!

DWYN: Die heutigen Dienstboten werden immer unerträglicher. Sie


würden kaum glauben, was ich mit diesen Mädchen alles
durchgemacht habe ...

NUD: Immer Spaß und keine Arbeit, das ist heutzutage so üblich.
Meine arme Mutter hat ihre gesamte Hausarbeit bis zum
fünfundsiebzigsten Lebensjahr selber gemacht. Genau wie eine
Putzfrau.

(Die Uhr in der Küche schlägt in neun verschiedenen


Tonlagen, und Prisni erhebt sich und läuft hinaus. Der
schwarze Schwan biegt seinen Hals und schlägt
schwerfällig mit den Flügeln. Unter seinem schwarzen
Gefieder ist ein dickes, grünliches Ei zu erkennen)

ARAWN: (wirft lässig einen Pfeil zur Zimmerdecke hinauf) Ergötzlich,


dieses Zeitalter, das Tullias Affen einen Knirps und Ledas Gans
einen Schwan nennen kann.

(Prisni stürzt ins Zimmer, sie scheint mit einem Mal von
einer heftigen Erregung ergriffen zu sein)

PRISNI: Master Rawn! Master Rawn! Etwas Außerordentliches ist


geschehen!

ARAWN: Ich stelle fest, dass du mein Abendessen vergessen hast.

(Die Musik ist rein und einschmeichelnd geworden, die


Uhr in der Küche schlägt schneller)

PRISNI: Oh, armes Kind! Wie soll ich es Ihnen sagen?

ARAWN: Schwatz einfach drauf los, das wird nicht schwer sein.

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(Alle puppenhaften Leichen im Keller beginnen, mit
großer Geschwindigkeit etwas zu verzehren, das wie
Suppe aussieht)

PRISNI: Armes Bübchen! Was für ein furchtbarer Schlag für einen kleinen
Krüppel!

ARAWN: Es ist wohl nicht nötig, dich darauf aufmerksam zu machen, dass
ich nicht imstande bin, mir selber mein Essen aus der Küche zu
holen. Also rede laut und deutlich, bevor ich an meinen leeren
Eingeweiden zugrunde gehe.

PRISNI: Oh, Master Rawn ... Ihr armer Vater!

ARAWN: Steht er mal wieder unter der Wirkung eines starken Getränks?
Ach, Prisni, deine Naivität vermag mich nicht zu überzeugen.

PRISNI: Ihr Vater, Master Rawn, ist tot.

(Arawn kneift ein Auge zu und zielt mit einem der kleinen
Pfeile auf die unteren Partien der Schneiderpuppe.
Behutsam wirft er den Pfeil, ehe er antwortet)

ARAWN: Ich hätte nie gedacht, dass sich mein Vater einem so
interessanten Experiment wie dem Tod unterziehen könnte. Ein
vergleichsweise unscheinbarer und sehr gewöhnlicher Mensch
wird zu einem Auserwählten, wenigstens für einen kurzen
Augenblick.

PRISNI: Ihr Vater ist auf grauenhafte Weise ermordet worden.

ARAWN: Ach, wirklich?

PRISNI: Und Ihre arme verwitwete Mutter war weniger als zwei Meter von
diesem grauenhaften Attentat entfernt!

ARAWN: Wie froh sie sein wird, verwitwet zu sein!

(Die Dunstschwaden aus dem Badezimmer fallen in


Tropfen von der Decke)

PRISNI: Er hat sein Blut fein säuberlich durch die ganze Küche verspritzt.

ARAWN: Mir scheint, mein Appetit ist deswegen nicht geringer geworden,
und ich sähe es mit Genugtuung, wenn du mir mein Abendessen
holen würdest, vergiss diesmal nicht die Butter!

(Die Musik und das Ticken der Uhr werden sanft und wild,
im Keller mischt sich eine Geige unter sie. Prisni verlässt
halb tanzend das Zimmer)

Geschwister habe ich keine, aber der Vater dieses Mannes war
der Sohn meines Vaters ...

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DWYN: Noch ein bisschen Likör wird Ihnen nicht schaden.

(Sie trinkt gierig einen großen Schluck und reicht Nud die
Flasche)

NUD: (singt und fällt dabei unbewusst in den Rhythmus der Musik im
Haus) In den alten Tagen lebte einmal eine Schelmin, die hatte
ein blühendes Geschäft ... Hihi! Kathusalem! Kathusalem!
Kathusalem!

(Prisni erscheint im Dachzimmer, sie nähert sich auf


Zehenspitzen dem Schwan und legt sehr sanft ihre Hand
unter seinen Hals. Ihr Gesichtsausdruck wirkt elastisch.
Der Schwan breitet seine Flügel aus und flattert; das
dicke, grünliche Ei ist jetzt vollständig sichtbar. Prisni lässt
sich auf die Knie fallen und liebkost es hingebungsvoll.
Der Schwan lehnt sich auf sie, und in dieser Haltung
verharren sie einige Augenblicke)

DWYN: Ich hole noch eine Flasche aus der Küche, so schlagen wir zwei
Fliegen mit einer Klappe.

ARAWN: Du wirst diese Dinge unter der Erde anbieten und servieren.

(Zur Musik der Geigen und Leiern erreicht das Festmahl


im Keller seinen Höhepunkt, und jedem Gast wird ein
weichgekochtes Ei serviert)

NUD: Madam, Ihre Gastfreundschaft übertrifft alles!

(Dwyn rollt ihre meterlange Strickarbeit zusammen und


geht in die Küche. Beim Anblick des Leichnams und der
in Unordnung gebrachten Möbel bleibt sie wie leblos
stehen. Die Pendeluhr schlägt sehr rasch. Sie sinkt über
der Blutlache zusammen und dreht den Körper um)

DWYN: Wie Sie sich verändert haben, mein Gemahl! Seine Haut ist jetzt
wie eine Pflanze. (Sie küsst ihn auf den Mund) Jetzt gehören Sie
mir, ich bin das mächtigste Geschöpf der Welt!

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