Kl23 Pt2 All Deu SR CC Au

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Name:

Klasse/Jahrgang:

Standardisierte kompetenzorientierte schriftliche


Reife­prüfung / Reife- und Diplomprüfung / Berufsreifeprüfung

20. September 2023

Deutsch
20. September 2023 / Deutsch S. 2/23

Hinweise zur Aufgabenbearbeitung

Sehr geehrte Kandidatin! Sehr geehrter Kandidat!


Ihnen werden im Rahmen dieser Klausur insgesamt drei Themenpakete mit je zwei Aufgaben
vorgelegt. Wählen Sie eines der drei Themenpakete und bearbeiten Sie beide Aufgaben zum
gewählten Thema.

Themenpakete Aufgaben
Brigitte Kronauer: Der Kontrolleur
Textinterpretation (540 – 660 Wörter)
1 Textbeilage (Erzählung)
1. Literatur – Kunst – Kultur
Kunst und künstliche Intelligenz
Zusammenfassung (270 – 330 Wörter)
1 Textbeilage (Interview)
Daheimbleiben oder Reisen
Erörterung (540 – 660 Wörter)
1 Textbeilage (Essay)
2. Rückzug als Freiheit?
Alleinsein
Leserbrief (270 – 330 Wörter)
1 Textbeilage (Bericht)
Zwischen Überforderung und Langeweile
Textanalyse (405 – 495 Wörter)
1 Textbeilage (Kommentar)
3. Stellenwert der Arbeit
Arbeitszeit – Lebenszeit
Kommentar (405 – 495 Wörter)
1 Textbeilage (Bericht)

Ihnen stehen dafür 300 Minuten an Arbeitszeit zur Verfügung.


Die Aufgaben sind unabhängig voneinander bearbeitbar.
Verwenden Sie einen nicht radierbaren, blau oder schwarz schreibenden Stift.
Verwenden Sie ausschließlich die Ihnen zur Verfügung gestellten Blätter. In die Beurteilung wird alles
einbezogen, was auf den Blättern steht und nicht durchgestrichen ist. Streichen Sie Notizen auf den
Blättern durch.
Schreiben Sie auf jedes Blatt Ihren Namen und die fortlaufende Seitenzahl. Geben Sie die Nummer
des gewählten Themenpakets und den jeweiligen Aufgabentitel an.
Falls Sie mit dem Computer arbeiten, richten Sie vor Beginn eine Kopfzeile ein, in der Ihr Name und
die Seitenzahl stehen.
Als Hilfsmittel dürfen Sie ein (elektronisches) Wörterbuch verwenden. Die Verwendung von (gedruckten
und online verfügbaren) Enzyklopädien oder elektronischen Informationsquellen ist nicht erlaubt.
Abzugeben sind das Aufgabenheft und alle von Ihnen verwendeten Blätter.

Ihre Arbeit wird nach folgenden Kriterien beurteilt:

■ Inhalt
■ Textstruktur
■ Stil und Ausdruck
■ normative Sprachrichtigkeit

Viel Erfolg!
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Thema 1: Literatur – Kunst – Kultur


Aufgabe 1

Brigitte Kronauer: Der Kontrolleur

Verfassen Sie eine Textinterpretation.

Lesen Sie die Erzählung Der Kontrolleur (1977) von Brigitte Kronauer (Textbeilage 1).

Verfassen Sie nun die Textinterpretation und bearbeiten Sie dabei die folgenden Arbeitsaufträge:

■ Geben Sie den Inhalt der Erzählung kurz wieder.


■ Analysieren Sie Aufbau, Erzählperspektive und sprachliche Gestaltung des Textes.
■ Untersuchen Sie die unterschiedlichen Reaktionen der Fahrgäste auf den „Kontrolleur“.
■ Deuten Sie die Erzählung im Hinblick auf die Figur des „Kontrolleurs“.

Schreiben Sie zwischen 540 und 660 Wörter. Markieren Sie Absätze mittels Leerzeilen.
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Aufgabe 1 / Textbeilage 1

Hinweis: Die Rechtschreibung des Originaltextes wurde beibehalten.

Brigitte Kronauer: Der Kontrolleur (1977)

Sofort, ohne daß wir ausdrücklich den Entschluß fassen mußten, waren unsere Hände, als wir
das Wort „Fahrkartenkontrolle“ hörten, wie auf Befehl zu unseren Manteltaschen gezuckt. Dort
allerdings, bei einigen Leuten noch in der Luft, stoppte die Bewegung, wieder eigentlich ohne
unser Zutun. Wir gehorchten rascher, als wir denken konnten. Die Finger folgten der hastigen,
im Grunde ja überraschenden Geste derjenigen S-Bahninsassen, die nicht wie ich in Fahrtrich- 5
tung sahen, die nämlich offenbar früher als ich und die anderen, die mir den Rücken zuwandten,
auf ein neues, dem ersten widersprechendes Signal hin handelten.

Ich drehte den Kopf zum Kontrolleur herum. Er lehnte bewegungslos an der Tür, ein schmäch-
tiger junger Mann in einem Anorak, mit gestrickter Mütze auf dem Kopf, gleichmäßig rund ins
Gesicht gezogen. Ich wußte augenblicklich, daß er der Rufer sein mußte, „denn“, dachte ich im 10
ersten Moment, „er grinst wie einer, der zurecht alle Blicke auf sich spürt!“ Dann entdeckte ich,
daß er niemanden ankuckte. Er lächelte, als nähme er, weder triumphierend noch ängstlich, die
Wirkung seines Manövers gar nicht wahr. Bei kaum merklich rutschendem Mund lächelte er
beständig gegen die letzten Fensterscheiben des Wagens, über alle Locken und Hüte weg. „Ver-
träumt und wachsam“, sagte ich mir eher unwillkürlich, doch auf der Stelle, „freundlich und 15
feindselig zugleich! – Schön, aber was denn wirklich? Wie kann er dastehen, nachdem er alle Leu-
te zum Narren gehalten hat, und glauben, er dürfe sich der Situation so gleichgültig entziehen, so
ein Gesicht schneiden, beinahe angewidert, als kenne er das, was die Leute auf ihren Sitzen nun
denken, im voraus so gut, daß er gar nicht hinkucken muß. Und: Ihren Gefühlen nach werden
sie sich in zwei Lager spalten.“ Sie zeigten es zwar nicht deutlich, sie hielten still, sie verrieten sich 20
nicht, aber es gab jetzt mit Sicherheit Belustigte und Verärgerte. Es war unmöglich, ihm in die
Augen zu sehen.

Bei der nächsten Station, Sternschanze, beugte er sich plötzlich, nachdem ihn einige Leute
beim Ein- und Aussteigen passiert hatten, aus der Tür und pfiff laut auf einer Trillerpfeife, noch
vor dem Abfahrtszeichen des Bahnsteigbeamten. Jetzt flogen auf einmal viele Köpfe herum, ge- 25
krauste Stirnen, jetzt also doch erkennbar argwöhnische Gesichter! Aber gleich duckten sie sich
wieder in ihre früheren Haltungen zurück. Ich fragte mich, ob das Pfeifen nicht gefährlich sei,
ich war erschrocken und sah nun auch, daß er in der rechten, schlaff nach unten hängenden
Hand einen Einkaufsbeutel trug. Er lehnte sich, als die Bahn abfuhr, nach hinten und lächelte
wieder, ganz unbeteiligt, mit still zuckenden Lippen. Ich bemerkte mir gegenüber einen Mann, 30
gekrümmt auf der Vorderkante des Sitzes, schielend, schweratmend. Er trug ebenfalls einen Ein-
kaufsbeutel bei sich, seiner allerdings war prallgefüllt, und er hielt ihn mit den beiden fleckigen,
geschwollenen Händen fest auf den Knien. Auch in seinem Gesicht gab es ein seltsames Auf- und
Abgleiten. Er sah starr zu dem Mann an der Tür. In der Nähe seiner hervorquellenden Augen
verrutschten die Falten unaufhörlich. 35

Der falsche Kontrolleur griff in seinen Beutel und holte ein Radio heraus, das er sogleich zu
voller Lautstärke aufdrehte. Überall versteiften sich die Nacken. Gegen das unverständliche Grö-
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len des Nachrichtensprechers drückte auf der anderen Seite die Stille einer totalen, vollkommen
verheimlichten Aufmerksamkeit. Nur der Schielende klappte mit einem Mal den Mund auf und
rief wild in das Abteil zu den übrigen Insassen, die aber – wie abgemacht – nicht zurücksahen: 40
„Das is wohl’n Kommunist, was? Das is wohl’n Roter. Raus hier, Kommunist, oder halt die
Klappe!“

Der Mann an der Tür wechselte seinen Gesichtsausdruck, als er bei der Station Holsenstraße
pfiff, nicht um eine erkennbare Spur. Neben mir saß jemand in dunkelblauem Mantel aus gutem
Stoff. Auf seinem Schoß lag ein Diplomatenkoffer. Von der Seite, unter gesenkten Lidern, be- 45
merkte ich ihn, sein weißblondes Haar, eng anliegend, so daß der Kopf sehr ordentlich, fast kahl,
ja nackt wirkte und schattenlos. Ein Mann Mitte dreißig, von innen rosig erleuchtet. Er preßte
die Lippen zu einer heiklen Wellenlinie. Der empörte Fahrgast schien sich nur noch mit Mühe
auf dem Sitz zu halten, als der Mann mit der Pudelmütze sein Radio keineswegs leiser drehte,
sondern, im Gegenteil, in Altona, vor der Abfahrt des Zuges, den Oberkörper nach draußen 50
schwenkend, wieder gellend pfiff. Der andere schüttelte, hochrot angelaufen, eine Faust und
schrie: „Der ist wohl irre, was? ’n Irrer! Halt die Fresse! Halt die Fresse! Hat wohl Paragraph 51.“
Er fügte noch etwas mit einem Komma und einer Zahl dahinter hinzu. Jetzt spätestens würden
ihn alle wegen dieser detaillierten Kenntnis verdächtigen! Er stand halbwegs, zwischen den Knien
der Fahrgäste schwankend, etwa sechs Meter von seinem Gegner entfernt, der unverändert schräg 55
zu den letzten Fenstern sah.

Ich dachte: „Zu wem schlagen sich die Leute augenblicklich?“ Der Mann neben mir verzog die
Lippen sehr vorsichtig, und beinahe gelang es ihm, sich im Leder seiner Aktentasche zu spiegeln.
Immer mehr Hälse wurden sachte gedreht. Alle schienen den Atem anzuhalten, etwas wurde
mit äußerster Anstrengung unterdrückt: Wut oder Gelächter, während der Schielende heftiger 60
schielend weiterbrüllte, fast schluchzend, mit sich überschlagender Stimme tobte. Er setzte sei-
nen Beutel, den er so lange fest umklammert hatte, auf den Boden, wo er sofort umkippte. Der
Mann beachtete es nicht, er reckte seine schwerfälligen Hände vor, „Kommunist, Irrer! Zum
letzten Mal, hau ab!“ keuchend. Plötzlich, jetzt endlich, machte der andere die Geste des Lei-
serdrehens. Er sah dabei ununterbrochen mit schwach bebenden Mundwinkeln über alle Köpfe 65
weg, freundlich und feindselig zugleich, also nichts von beidem. Alle nahmen diese Reaktion,
dieses Nachgeben zur Kenntnis, auch der Schreiende. Er atmete in Stößen, aber schwieg nun. Es
dauerte auch nur noch wenige Sekunden: Der Pfeifer stieg aus. Er sprang um die Ecke, schon war
er weg in Bahrenfeld. Was hatte ich erwartet? Ah, da: Von draußen hörten wir einen extra lauten
Pfiff, leidenschaftlich geradezu. Aha: Nicht zu verkennen, aha, das tat gut! Also doch jetzt etwas 70
Eindeutiges. „Trotz, schlichtweg Trotz!“ dachte ich zufrieden und streckte die Beine in den Gang,
um mir dieses Gefühl auch ganz glaubwürdig vor Augen zu halten.

Die Leute schwenkten locker die plötzlich wieder gelenkigen Hälse, hier und da ein lächelnder
Kontakt. „Ja, und Sie lachen auch noch darüber!“ flüsterte der Schielende erschöpft zu mir hin.
Er rieb sich mit dem Handrücken Speichelflocken von Kinn und Mund. Der Mann an meiner 75
Seite nickte zart, verschmitzt.

„Alle, die hier im Abteil sitzen“, dachte ich beim Aussteigen, „werden zuhause, beim Abend-
brot oder kurz vor dem Einschlafen, gelassen eine Geschichte zum besten geben, eine mit zwei
Personen.“

Quelle: Kronauer, Brigitte: Der Kontrolleur. In: Kronauer, Brigitte: Die gemusterte Nacht. Erzählungen. Stuttgart: Klett-Cotta 1981, S. 134 – 137.

Die Infobox befindet sich auf der nächsten Seite.


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INFOBOX

Brigitte Kronauer: Schriftstellerin, die 1940 in Essen geboren wurde und 2019 in Hamburg
gestorben ist

Altona, Bahrenfeld, Holsenstraße, Sternschanze: S-Bahn-Stationen in der deutschen


Stadt Hamburg
Paragraph 51 (veraltet): regelte im deutschen Strafrecht die Frage der Unzurechnungsfähig-
keit einer Person
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Thema 1: Literatur – Kunst – Kultur


Aufgabe 2

Kunst und künstliche Intelligenz

Schreiben Sie eine Zusammenfassung.

Situation: Als Vorbereitung für eine Diskussionsrunde zum Thema Kunst und künstliche
Intelligenz in Ihrer Klasse / Ihrem Kurs fassen Sie ein Interview mit einem Experten
zusammen.

Lesen Sie das Interview Die malenden Maschinen mit Holger Volland, das am 5. Juni 2019 auf der
Website von Deutschlandfunk Kultur erschienen ist (Textbeilage 1).

Schreiben Sie nun die Zusammenfassung und bearbeiten Sie dabei die folgenden Arbeitsaufträge:

■ Geben Sie wieder, wie mit künstlicher Intelligenz Kunstwerke geschaffen werden.
■ Beschreiben Sie, worin sich laut Holger Volland kunstschaffende Maschinen von menschlichen
Künstlerinnen und Künstlern unterscheiden.

Schreiben Sie zwischen 270 und 330 Wörter. Markieren Sie Absätze mittels Leerzeilen.
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Aufgabe 2 / Textbeilage 1

Künstliche Intelligenz und Kunst

Die malenden Maschinen


Können Maschinen Kunst? Nicht wirklich, aber sie können so tun, als ob. Und das so perfekt, dass wir
irgendwann glauben, dass sie Kunst können. Auch menschliche Kreativität ist oft nur imitiert, sagt Hol-
ger Volland, Experte für künstliche Intelligenz.

Interview: Stephan Karkowsky

Deutschlandfunk Kultur: Künstliche Intelligenz kann fast alles so gut wie der Mensch außer Kunst,
heißt es. Zumindest sind noch keine großen Roboterkomponisten bekannt, und es sind noch keine
Algorithmen aufgetaucht als Autoren in der „Spiegel“-Bestsellerliste. […]

Fragen wir Holger Volland, den Gründer des digitalen Kulturfestivals THE ARTS+ und Autor des Buches
„Die kreative Macht der Maschinen“. Ist nicht eigentlich genau das Kreative, das Sie in Ihrem Buchtitel
führen, das, was den Maschinen fehlt, weswegen sie nie so geniale Künstler werden können wie die
Menschen?

Holger Volland: Das ist natürlich eine wunderbare Frage, denn an der Kreativität macht sich momen-
tan die größte Angst fest, die wir auch vor Maschinen haben, die in diesem Bereich wildern, denn bis-
lang war Kreativität immer das, was wir nur dem Menschen vorbehalten haben, was uns fast gottgleich
quasi zu Schöpfern unserer Welt gemacht hat.
Jetzt tauchen Maschinen auf, die musizieren, die Filme schneiden, die Bücher schreiben, und es liegt
natürlich nahe zu glauben, dass diese Maschinen damit auch kreativ sind.

Sind Sie es nicht?

Ich glaube, sie sind es nicht. Man streitet sich momentan noch drüber. Meiner Meinung nach sind diese
Maschinen vor allem in der Lage, menschliche Kreativität perfekt zu imitieren und etwas zu erzeugen,
das man natürlich auch für kreativen Output halten kann.
Das Interessante daran ist aber, glaube ich, weniger, ob die Maschinen wirklich kreativ sind, sondern
das Interessante ist, dass die Wirkung dieser Kreationen auf uns vollkommen identisch ist mit der
Wirkung von menschlichen Kreationen.
Also ganz konkret: Wenn wir Musik hören, die uns traurig macht, dann macht uns diese Musik traurig,
ob sie von einer KI komponiert wurde oder von einem Menschen.

An welche Maschinenkünstler denken Sie, wenn Sie sagen, es gibt welche, die uns nahezu perfekt die
Illusion vermitteln, sie wären kreativ?

Also es gibt ein Werk, was mittlerweile dreieinhalb Jahre alt ist: „The Next Rembrandt“ heißt das, und
das ist ein Porträt im Stile von Rembrandt gemalt.
Das Ganze stammt aus einer KI, die erzeugt wurde von Museen und von Technologieunternehmen,
und diese KI wurde trainiert anhand von existierenden Rembrandt-Porträts und hat es so möglich
gemacht, ein neues Porträt zu schaffen.
Der abgebildete Mann darauf, den gab es gar nicht, den hat sich die KI ausgedacht. Die Malweise hat
sie perfekt imitiert, und das, was jetzt so vor uns steht, wenn wir es in einer Ausstellung sehen, sieht
aus wie ein Rembrandt, es fühlt sich sogar so an wie ein Rembrandt, weil dieser Pinselstrich auch in
3-D modelliert ist. Es ist aber kein Rembrandt. Also das finde ich ein sehr, sehr schönes Beispiel immer
noch dafür, wie leistungsfähig Algorithmen mittlerweile sind.
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[…] [M]an muss sich das so vorstellen, so eine Maschine lernt, wie wir Menschen auch lernen. Also
wenn Sie einem kleinen Kind verschiedene Stücke Obst zeigen, dann wird es irgendwann begriffen
haben, wie eine Banane aussieht, wie ein Apfel aussieht.
Letztlich ist es mit Maschinen nichts anderes, und so eine Maschine, der Sie Hunderte von Porträts
gezeigt haben und gesagt haben, das ist ein menschliches, gemaltes Porträt, das ist ein Gesicht, dann
lernt die Maschine daraus zu extrahieren, was sind die Regeln, wie ich ein Gesicht male, und das
macht sie dann auch. […]

Aber im Prinzip bleiben Maschinen doch die Summe dessen, was Menschen ihnen einprogrammieren.
Halten Sie es für eine Arroganz von uns Menschen, zu glauben, dass wir mehr sind als nur die Summe
unseres Inputs?

Das ist eine sehr gute Frage, denn auch wenn wir uns ansehen, wovon zum Beispiel Künstlerinnen und
Künstler inspiriert werden, wenn sie Werke schaffen, dann sehen wir natürlich, dass es ganz oft auch
Kopien dessen sind, was wir vorher an Kunst uns angesehen haben, was wir untersucht haben.
Die wirklich eigenständigen Arbeiten, die Arbeiten, bei denen jemand einen Regelbruch begeht, bei dem
jemand Chaos erzeugen will oder etwas ganz Neues erzeugen will, diese Arbeiten sind relativ selten tat-
sächlich. Auch wir kopieren uns die ganze Zeit selbst.

[…] Ich halte es für ausgeschlossen, dass eine KI für sich behauptet, seht her, was ich schaffe, das ist
Kunst. Es fehlt ihr das Bewusstsein, um das zu sagen, oder?

Das ist komplett richtig. Ich glaube, das unterscheidet auch Maschinen von Künstlern am meisten, dass
ein Künstler den Drive hat, etwas zu schaffen. Er hat Inspiration, der bringt seine Persönlichkeit mit ein,
der hat eine Intention, die der Kunst zugrunde liegt.
Eine KI hat nie diese Intention, und sie bringt auch nie Persönlichkeit mit ein. Eine KI wird einfach nur
trainiert anhand von Beispielen und kann dann diese Beispiele sehr, sehr gut imitieren, sodass wir, wie
gesagt, leicht drauf reinfallen.

Es ist ja nicht ausgeschlossen, dass sich die Technik irgendwann so weit entwickelt, dass wir tatsäch-
lich die Kunst einer KI als eigenständige Kunst werten eines Tages. Wie würde das unser Selbstbild
verändern?

Man kann davon ausgehen, wenn eine Maschine in der Lage ist, wirklich eigenständig kreativ zu sein
und auch kreativ sein zu wollen, dann hat sie zumindest einen großen Schritt gemacht in Richtung der
starken Intelligenz. Dann stehen wir als Menschen natürlich vor ganz neuen Problemen. Wir müssen
sehr, sehr viele Dinge neu beurteilen und müssen lernen, in einer Welt zu leben, die von Menschen
genauso wie von Maschinen beherrscht wird.

Der erste Weg für künstliche Künstler wäre also, uns Kreativität vorzugaukeln, bis wir es glauben. Der
zweite wäre tatsächlich, etwas wie ein Bewusstsein so perfekt zu imitieren, dass wir denken, jawohl, da
steckt was drin, was lebt?

Genau, so ist es. Es geht um die Imitation dessen, was wir glaubwürdig dann als Bewusstsein sehen, und
dann, wenn diese Imitation so gut ist, dann kann man sich wirklich die Frage stellen, na ja, was unterschei-
det uns Menschen an dieser Stelle noch von der Maschine, also wann spielt uns ein anderer Mensch quasi
auch nur Bewusstsein vor, weil wir das als Menschen gelernt haben. […]

Hinweis: Die Zwischenüberschriften des Originaltextes wurden entfernt.

Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/kuenstliche-intelligenz-und-kunst-die-malenden-maschinen.1008.de.html?dram:article_
id=450582 [27.01.2023].
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Thema 2: Rückzug als Freiheit?


Aufgabe 1

Daheimbleiben oder Reisen

Verfassen Sie eine Erörterung.

Lesen Sie den Essay Die Utopie des Reisens unter dem Regime der Corona von Ingrid Thurner,
der 2020 auf der Website der Autorin erschienen ist (Textbeilage 1).

Verfassen Sie nun die Erörterung und bearbeiten Sie dabei die folgenden Arbeitsaufträge:

■ Nennen Sie Gründe für das Daheimbleiben, die im Essay dargelegt werden.
■ Diskutieren Sie im Text beschriebene Vorschläge für ein verändertes Urlaubsverhalten aus
heutiger Sicht nach dem Ende der Pandemie.
■ Nehmen Sie Stellung zur Bedeutung des Reisens für junge Menschen.

Schreiben Sie zwischen 540 und 660 Wörter. Markieren Sie Absätze mittels Leerzeilen.
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Aufgabe 1 / Textbeilage 1

Die Utopie des Reisens unter dem


Regime der Corona
Kann man den Rückzug aus der Weite hinein in eine Enge auch als Aufbruch in eine neue
Selbstbestimmtheit begreifen?

Von Ingrid Thurner

[…] Die Geschichte des internationalen Tourismus hat gezeigt, dass Reiseströme immer dann versie-
gen, wenn in einem Zielgebiet unkalkulierbare Risiken nicht ausgeschlossen werden können. Pauschal­
tourismus mit Wunsch nach Abenteuern gibt es nicht, deren Nichteintreten muss ein Veranstalter
garantieren können, und er haftet auch dafür. Das Gegenteil von Freiheit ist Gesundheit, sagt die
Schriftstellerin Juli Zeh. Massentourismus braucht keine Freiheit, sondern Sicherheit.

Wenn Länder für Ankommende eine vierzehntägige Quarantäne verordnen, ist Reisen nur noch für eine
Minderheit attraktiv. Solche Zwänge nehmen allenfalls Individualisten, Weltenbummler und Abenteurer
auf sich, Leute mit viel Zeit, hohem Budget und ausgeprägtem Eigensinn. Ein Massentourismus wie er
in den zwei Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts üblich wurde, könnte unter solchen Bedingungen nicht
funktionieren. Es gäbe weder Kreuzfahrtschiffe mit Tausenden von Passagieren noch Schischaukeln,
die die Landschaften und Ökosysteme mehrerer Täler ruinieren. Es gäbe auch nicht die überfüllten
historischen Kerne in den europäischen Hauptstädten, in denen kein Weiterkommen ist, weil Foto­
grafierende und Schlendernde in spärlicher Bekleidung alle Wege verlegen, die Durchgänge verstellen
und alle Stühle in den Gastronomiebetrieben besetzen.

Kann die längst von Klimatologen und Ökoaktivisten geforderte Entschleunigung der Mobilität einem
winzigen Virus gelingen? Eine Besinnung auf die Transportmittel des 19. Jahrhunderts, als die Fort-
bewegung mit Bahn und Postkutsche, zu Pferd, zu Schiff und zu Fuß erfolgte, möge die Fantasien
beflügeln und den Urlaubswilligen neue, wenn auch altbekannte Richtungen weisen. Im Coronarhyth-
mus werden die Wege länger und beschwerlicher, und die Reisegeschwindigkeit sinkt. Doch die Ziele,
bisher immer weiter in die Ferne verlagert, werden wieder in die Nähe rücken. Das Abhaken von
Sehenswürdigkeiten, die mit Sternen bekrönt sind, könnte, wer will, ersetzen durch ein kontemplatives
Verweilen an Orten, die Anmut und Charme aus ihrem unprätentiösen Charakter beziehen.

Das Bedächtige, bis jetzt nur attraktiv für Außenseiter, Aussteiger und Alte, wäre wohl tauglich als
Programm und Motto für einen neuen Reisestil, der gar so neu nicht ist, aber dem Vergessen erst noch
entrissen werden muss. Im Jahr 1983 landete Sten Nadolny mit seinem Roman „Die Entdeckung der
Langsamkeit“ einen Longseller. Darin kann der Polarforscher John Franklin wegen seiner Langsamkeit
der Geschwindigkeit seiner Zeitgenossen nicht standhalten. Mit dem Tempo kommt er nicht mit. Aber
mit Beharrlichkeit kommt er zu Erfolg und Ansehen.

Das Langsame hat keinen guten Ruf, ihm haftet ein Odeur von Inkompetenz und Unfähigkeit an. Von
den Adepten des Immer-mehr und Immer-schneller wird es gern gleichgesetzt mit dem Rückständigen,
Ewiggestrigen, Begriffsstutzigen. Doch jetzt könnte es eine neue Mode beschreiben oder gar einen
neuen Zeitgeist begründen, der nicht nur Individualisten und Systemverweigerern entspricht. Dass
Ruhe nicht zwingend Stillstand bedeutet, muss wohl erst noch entdeckt werden, ebenso, wie langsam
eigentlich langsam ist.
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Mit der neuen Gemächlichkeit gewinnt ein alter Urlaubstyp wieder Aktualität. Balkon, Terrasse und
Hausgarten – bisher als Zuflucht für Leute mit knapp bemessenem Budget betrachtet oder als Ferien­
ersatz für Reiseunwillige und Spießer belächelt – werden vielleicht eine neue Bedeutung erlangen. Bei
näherer Betrachtung ist Destination Dahamistan durchaus eine Alternative mit lohnenden und entspan-
nenden Facetten. Gewiss ist diese Variante der Erholung die billigste, die Ausgaben sind überschaubar,
versteckte Kosten eher unwahrscheinlich. Man kann es sich sparen, Angebote auf Prospektwahrheit
hin abzuklopfen, unangenehme Überraschungen, weil das Urlaubsprodukt nicht hält, was die Werbung
verspricht, sind ausgeschlossen. Wer in den Sommerferien auf Balkonien faulenzt, schlägt der Haupt-
saison ein Schnippchen, leidet weder unter Staus auf den Autobahnen oder an den Grenzen noch
unter überbuchten Hotels. Vor Ort ist alles wie gewünscht. Unter solchen Bedingungen ist gut lachen,
die Entschleunigung begrüßen und Kuchen backen. Es bleibt einem die Erfahrung erspart, was ruhige
Lage tatsächlich bedeutet, nämlich: weitab vom Zentrum oder Fenster in einen Hinterhof. Und man
bleibt auch von dem Erlebnis verschont, was zentrale Lage heißen kann: an einer verkehrsreichen,
lärmigen Straßenkreuzung gelegen. Dresscodes, Besichtigungszwang und Kulturstress sind ersatzlos
gestrichen. Unfreundlich ist nicht das Personal, sondern allenfalls die eigenen Urlaubsbegleiter, also
Familie und Freunde.

Der Gesundheit ist so ein Heimurlaub ausgesprochen zuträglich. Nebenwirkungen durch Impfungen
und Prophylaxen bleiben aus. Es gibt kein ungewohntes Essen, das nicht schmeckt, aber Magenbe-
schwerden verursacht, keine zu üppigen Buffets, die den Leibesumfang erweitern, keine morgendlichen
Kopfschmerzen vom abendlichen All-inclusive-Wein. Im Salat und im Obst lauern keine unbekannten
Viren und Bakterien auf der Suche nach einem neuen Wirt, und die Luft in dieser Sommerfrische ist
nicht geschwängert von tropischen Krankheitserregern.

Es richtig krachen lassen in Dahamistan – und man muss noch nicht einmal früh aufstehen, um die
Liege­stühle zu reservieren wie am Ballermann. Aus den Lautsprechern dröhnt keine Musik, die nie-
mand hören will, und es nerven keine penetranten Animateure mit ihrer Zwangsbespaßung. Wenn
die Sonne sticht, entflieht man mit wenigen Schritten ins kühle Innere. Keine lästigen Haustiere wie
Mücken, Fliegen, Ameisen sind zu bekämpfen. Wortwechsel mit aufdringlichen Souvenirhändlern,
lästigen Straßenverkäufern, selbsternannten Guides entfallen, ebenso die Angst vor Kleinkriminalität.
Das Abenteuer besteht im Wesentlichen darin, mit sich selbst und seinen Liebsten zurande zu kom-
men. Ansonsten sind die Urlauber auf Balkonien gegen Überraschungen gefeit.

Damit der Urlaubstraum nicht zum Urlaubstrauma wird, empfiehlt sich zwischendurch eine kleine
Zerstreuung, etwa ein Ausflug. Dazu muss man nicht einmal vor die Türe treten, bequem aus dem
Sessel bucht man mit den Schriftstellern Xavier de Maistre und Karl-Markus Gauß eine Reise durch
das eigene Zimmer. Die Odyssee entlang des Inventars wird dabei durchaus zum Abenteuer. Ein Blick
durch die Wohnung lässt den Stubenhocker erkennen, dass ziemlich viel Welt von draußen ins Private
eingedrungen ist. In den persönlichen Besitztümern manifestiert sich das Ferne und das Vergangene.
Den Raum auswendig lernen wie Sten Nadolnys Protagonist das Schiff, auf dem er angeheuert hat,
entspannt den Geist und erholt die Seele, schärft nebenbei den Blick für Einzelheiten, erhöht die Sorg-
falt, schult das Gedächtnis. Von den Gegenständen lernen, die Vergangenheit reflektieren, die Bio­grafie
der Dinge auskundschaften, das Verborgene in ihnen entdecken – die Forschungsreise durch das
eigene Reich offenbart Vorlieben und Abneigungen, eröffnet ungeahnte Perspektiven, entpuppt sich als
Expedition ins Innere, ins Selbst.

Der ultimative Geheimtipp des bedächtigen Urlaubens ist aber: auf Schusters Rappen reisen. Nur wer
zu Fuß geht, sieht die Kleinformate der Welt, das Unscheinbare, das zu Unrecht gering Geschätzte.
Selbst das Fahrrad ist oft zu schnell, um die verborgenen Schönheiten am Wegesrand würdigen zu
können. Anregungen liefert Johann Gottfried Seumes „Spaziergang nach Syrakus“. Vom Dezember
1801 bis zum August 1802 marschierte er von Leipzig über Wien, Ljubljana, Venedig, Rom und Neapel
nach Siracusa auf Sizilien und über Mailand, Zürich und Paris wieder zurück. Fast die gesamte Strecke
legte er zu Fuß zurück. Auch diese Reise führte nicht nur zu Erkenntnissen über die ergangenen Orte,
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die er mit scharfem Auge für soziale und politische Missstände beschreibt, sondern auch zu Einsichten
in die eigene Person.

Da Zuhause-Bleiben und Zu-Fuß-Gehen nicht jedermanns Sache ist, werden Menschen weiterhin
durch die Welt rasen, wenn sie nicht durch äußere Umstände oder persönliches Ungemach davon
abgehalten werden. Gewiss wird Urlaub im Inland nun mit Nachdruck beworben werden, die Sommer-
frische eine Renaissance erfahren, wenn auch vielleicht nur vorübergehend. Mit den durch Corona
gewonnenen Einsichten über die Fragilität einer globalisierten Welt kommt vielleicht der eine oder die
andere zu der Erkenntnis, dass mit Bedacht und Gemächlichkeit beim Ferienmachen mehr gewonnen
ist als beim hektischen Kilometerfressen rund um den Globus.

Quelle: https://www.ingrid-thurner.at/2020/06/08/die-utopie-des-reisens-unter-dem-regime-der-corona/#more-1455 [27.01.2023].

INFOBOX

Ingrid Thurner (geb. 1954): Kultur- und Sozialanthropologin mit den Forschungsschwer-
punkten Fremdwahrnehmungen, Mobilitäten und Medien

Destination Dahamistan: Wortneuschöpfung für den Urlaub zuhause


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Thema 2: Rückzug als Freiheit?


Aufgabe 2

Alleinsein

Verfassen Sie einen Leserbrief.

Situation: Sie lesen einen Bericht über das Phänomen Honjok und reagieren darauf
mit einem Leserbrief.

Lesen Sie den Bericht Die neuen Einzelgänger von Marlene Patsalidis aus der Tageszeitung Kurier
vom 29. Oktober 2020 (Textbeilage 1).

Verfassen Sie nun den Leserbrief und bearbeiten Sie dabei die folgenden Arbeitsaufträge:

■  eschreiben Sie kurz das Phänomen Honjok.


B
■ Bewerten Sie dieses Phänomen.
■ Nehmen Sie Stellung zu möglichen gesellschaftlichen Auswirkungen des zunehmenden
Alleinseins.

Schreiben Sie zwischen 270 und 330 Wörter. Markieren Sie Absätze mittels Leerzeilen.
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Aufgabe 2 / Textbeilage 1

Die neuen Einzelgänger


Honjok-Generation. Immer mehr junge Menschen finden Gefallen am Alleinsein. Woher kommt das
Rückzugsbedürfnis?

Von Marlene Patsalidis Flenreiss-Frankl. Junge seien Den Trend zur Abschottung sieht
davon zunehmend überfordert. Flenreiss-Frankl kritisch: „Rück-
Eine junge Frau betritt ein Res- „Um vor dem Druck und der zug kann für einen bestimm-
taurant in Seoul. Sie bittet um Unsicherheit zu flüchten, ziehen ten Zeitraum gut zur Selbstfin-
einen Tisch für sich allein, bestellt sie sich zurück, suchen im Allein- dung sein. Ist Alleinsein zeitlich
Ramen und Rotwein, fischt einen sein Rückhalt und eine kontrol- begrenzt, etwa bei einem tem-
Roman aus ihrer Tasche und lierbare Situation.“ Wegen des porären Lockdown, kommt man
beginnt zu lesen. Ringsum ver- oft enorm hohen Arbeitspensums damit leichter zurecht als mit
weilen Gäste an anderen Tischen bleibe auch wenig Zeit für Nähe ungewissen Dimensionen.“ Ver-
ebenfalls solo. Blickdichte Trenn- und Beziehungen. In ihrer Praxis bleibt man über mehrere Monate
scheiben separieren die Männer beobachtet sie, dass auch hierzu- oder Jahre in Isolation, birgt das
und Frauen, die keine Notiz von- lande immer mehr junge Men- Gefahren für die Psyche. „Wer
einander zu nehmen scheinen. schen an Überforderung leiden. dauerhaft isoliert lebt, entwickelt
„Zu mir kommen immer wieder vermehrt Ängste und depressive
Solche Szenen sind in der süd- junge Männer und Frauen, die Symptome.“ Nach langen Phasen
koreanischen Millionenmetro- nur mehr Kontakte übers Internet des Rückzugs „sozial wieder in die
pole längst keine Seltenheit mehr. pflegen, die nicht wissen, wo sie Gänge zu kommen“, sei fordernd.
In dem kollektivistisch geprägten im Leben hinmöchten, und sich
Staat ist das selbst gewählte Ein- einigeln.“ Autonomie am Vormarsch
zelgängertum populär geworden.
Davon zeugen zigfach im Netz Ähnlich sieht es Kulturforscher Die Zahl der Alleinlebenden wird
geteilte Bilder von einsam essen- Thomas Herdin, der hinter dem in den kommenden zehn Jahren
den Südkoreanern, Blogs, die Siegeszug der sozialen Isolation stark steigen, prognostiziert die
Einblicke ins „Loner-Life“ geben, im asiatischen Raum auch einen Statistik Austria. 2019 gab es in
oder Apps, die Konsumgüter für Akt des Protests vermutet: „Es Österreich 1,48 Millionen Ein-
den Alltag auf Solopfaden prei- kann als Versuch gedeutet werden, personenhaushalte, 1985 waren es
sen. Benannt wurde das Phäno- sich von kollektivistischen Wur- knapp 770.000. Fortschreitende
men mit dem Begriff „Honjok“ – zeln zu befreien, Raum für die Individualisierung und mehr
aus den Wörtern „hon“ (allein) eigene Identität und das eigene Trennungen sind unter anderem
und „jok“ (Stamm). Lebenskonzept zu beanspruchen Gründe dafür. [...]
und familiäre Verpflichtungen,
Einsame Zuflucht die in Asien oft vereinnahmend Im April erklärten die kanadisch-
und belastend sind, abzustreifen.“ chinesische Journalistin Crystal
„Das Abkapselungsbedürfnis Letztlich sei diese Form der extre- Tai und US-Psychologin Francie
kommt daher, dass die Leis- men Individualisierung wohl auch Healey „Honjok“ in ihrem gleich-
tungsgesellschaft vor allem in Ausdruck dessen, „dass junge namigen Buch zum globalen Phä-
Teilen Asiens stark ausgeprägt Menschen sich überall auf der nomen – und holten die Bewe-
ist“, erläutert Psychologin Karin Welt gern ausprobieren.“ gung aus dem tristen Eck. In
20. September 2023 / Deutsch S. 16/23

ihrem „Manifest für das selbst kann in der Tat heilsam sein, weiß Einkehr dienen, um sich wieder
gewählte Alleinsein“ beschreiben Flenreiss-Frankl: „Wir leben in aufs Wesentliche zu besinnen.“ 
sie das Lebensmodell als „inspi- hektischen Zeiten, kommen nur
rierende Haltung, die zu mehr selten richtig zur Ruhe. Phasen
Glück führt.“ Gewollter Rückzug des Rückzugs können innerer

Quelle: Kurier, 29. Oktober 2020, S. 26.


20. September 2023 / Deutsch S. 17/23

Thema 3: Stellenwert der Arbeit


Aufgabe 1

Zwischen Überforderung und Langeweile

Verfassen Sie eine Textanalyse.

Lesen Sie den Kommentar Wenn man sich im Job langweilt von Karin Bauer aus der
Online-Ausgabe der Tageszeitung Der Standard vom 5. Jänner 2019 (Textbeilage 1).

Verfassen Sie nun die Textanalyse und bearbeiten Sie dabei die folgenden Arbeitsaufträge:

■ Beschreiben Sie die Phänomene Burnout und Boreout laut Textbeilage.


■ Analysieren Sie den Aufbau sowie die sprachliche Gestaltung des Textes.
■ Erschließen Sie mögliche Intentionen der Autorin.

Schreiben Sie zwischen 405 und 495 Wörter. Markieren Sie Absätze mittels Leerzeilen.
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Aufgabe 1 / Textbeilage 1

Boreout statt Burnout

Wenn man sich im Job langweilt


Fröhlich und chillig ist das neue Narrativ für die Arbeitswelt. Die Wirklichkeit schaut anders aus.
Nach Burnout geht es jetzt auch um Boreout

Von Karin Bauer den Kindern, dem Haushalt und näher als der große, chillige Spaß
dem restlichen Organisations- im locker-leidenschaftlichen Job-
Wahnsinn. Wie machen die kram kaum jemals ausgeht und leben. Laut Arbeitsklima-Index
das? Fröhliche, gebräunte Leute man nie abschalten kann. Ach ja der Arbeiterkammer Oberöster-
strahlen nichts als Happiness und – und außerdem fehlt der Sinn 40 reich erleben bis zu 30 Prozent 75
Gesundheit aus auf den Fotos, in der Arbeit für die Happiness, Burnout-Zeichen an sich. Laut
die sie in Gruppen beim Chil- 5 vielleicht die Perspektive, zumin- Anton-Proksch-Institut sind acht
len und Cocktailtrinken (viel- dest die Überzeugung, im Job Prozent akut betroffen, 19 im
leicht sind es Smoothies?) zei- genau auf dem richtigen Platz Problemstadium und 17 in einem
gen. Nicht nach Dienstschluss, zu sein. Warum sollten sonst in 45 sogenannten Übergangsstadium. 80
sondern tagsüber. Mal so zwi- sämtlichen Umfragen von Job-
schendurch. Manchmal liegen 10 portalen rund 40 Prozent der Wer glaubt, das seien halt die ver-
sie in Hängematten und tippen Beschäftigten sofort wechselwil- brauchten Älteren, denen nach
– ganz im Flow – irgendetwas lig sein, und das nicht wegen des 30 Jahren Jobleben nicht mehr zu
in ihre Notebooks wie in Hoch- Gehalts? Angesichts der tatsäch- 50 helfen ist, irrt. Über 40 Prozent
glanzmagazinen. Allesamt Inha- lichen Fluktuationsraten han- der 18- bis 34-Jährigen geben 85
ber cooler Jobs, von der Kom- 15 delt es sich dabei offensichtlich in der Allianz-Stress-Studie an,
munikationsexpertin bis zum mehrheitlich um innere Kündi- akute Stressbelastung am Arbeits-
Developer. gungen. platz zu erleben. Besonders hohe
Burnout-Gefährdung attestiert
Juchhu – das neue Statussymbol Beunruhigende Zahlen 55 auch das Anton-Proksch-Institut 90
für die neue Arbeitswelt […] ist der Gruppe unter 30 und erklärt
etabliert: Entspannung, Gelas- 20 Europaweit fühlen sich fast das mit dem spezifischen Druck,
senheit und Happiness. Zumin- 60 Prozent der Beschäftigten von Fuß zu fassen im Arbeitsleben.
dest die Hälfte der Arbeitenden schwierigen Kunden, Schülern
muss angesichts solch konstru- oder Patienten besonders belastet, Sitzen, warten, Däumchen drehen
ierter Wirklichkeit massiv an sich was die EU-Gesundheitsagentur 60
und ihrer Fähigkeit zum Selbst- 25 OSHA als psychosozialen Risiko- Zurück zum Chillen: Es scheint 95
management (im Zeitalter der faktor Nummer eins qualifiziert. allerdings abseits des dokumen-
Optimierungs-Apps) zweifeln. tierten Flächenphänomens Burn-
Denn sie wünscht sich weniger Kopfschmerzen, Schlafstörungen, out und der aktuell wieder hoch-
Stress (den schlechten, den belas- kaputte (oder keine) Beziehungen, modernen Stigmatisierung und
tenden, nicht den anregenden), 30 Allergien, Panikattacken, Exis- 65 Ausgrenzung Arbeitsloser in der 100
weil die Arbeit zu viel, zu dicht tenzängste, Abstiegspanik, Suizid- zum Brauchbarkeitsfetisch stili-
ist, weil Vorgesetzte nichts wert- gedanken, anhaltende Erschöp- sierten Erwerbsarbeitswelt noch
schätzen, weil Kunden mühsam fungszustände. Das kommt der etwas faul zu sein. Eine Umfrage
sind und weil sich alles miteinan- Wirklichkeit eines Drittels der des international tätigen Fach-
der mit der Familie, den Eltern, 35 heimischen Beschäftigten derzeit 70 und Führungskräftevermittlers 105
20. September 2023 / Deutsch S. 19/23

Robert Half gibt entsprechende und eine ganze Reihe mehr oder 145 Abstumpfung, Entfremdung und
Hinweise. Demnach sind 60 Pro- weniger „ultimativer“ Ratgeber ein „Absinken der Intelligenz“
zent der Beschäftigten in ihrem sowie Seminare zwecks Prophy- blüht. Boreout lässt also verblö- 185
Job chronisch gelangweilt. Sie laxe und Kur erhalten. den. Ähnlich wie Burnout – die
haben zu wenig oder gar nichts 110 Dauerflutung mit Stresshormo-
zu tun, sind zu monotoner Arbeit Boreout geht gar nicht nen (etwa Cortisol) führt ja auch
ohne erkennbaren Sinn ver- zu einer Art Vergiftung, die das
dammt, versitzen ihre Arbeits- Zu geringe oder keine Belastung 150 Funktionieren des Hirns hemmt 190
stunden, bis diese endlich vorü- punktet gar nicht in der Kommu- und permanent im Flüchten-/
ber sind. 115 nikation – wer outet sich da? Hey, Kämpfen- oder im Erstarren­
Schatz, putz du mal die Woh- Modus hält. Daneben hat dann
Seid doch froh!, könnte man nung und hol die Kinder, mir nicht mehr viel Platz.
da sagen, spart ihr doch eure war ja schon im Büro so fad! Das 155
Lebenskraft für das, was ihr nach kommt sicher nicht oft vor. Bore- Zumindest nicht das, was auch 195
Feierabend tun wollt. Denkt an out wird verschwiegen, kunstvoll als Trend ausgerufen wird:
all die chronisch Überforder- 120 verborgen und in der Selbstdar- Em­pathie und Beziehungsfähig-
ten, die im Burnout zusammen­ stellung um 180 Grad umgedeu- keit. Das wäre schön – und die
brechen! tet in ein echt stressiges Berufs- 160 Hirnforschung sagt: Es macht
leben. Es soll ja niemand merken, nichts so dauerhaft glücklich wie 200
Weit gefehlt, sagen Mediziner. dass man total überflüssig ist funktionierende soziale Bezie-
Denn dieses sogenannte Bore- und folgenlos ersetzt respek- hungen. Dazu gehört aber zuerst
out hat, wenngleich weniger gut 125 tive gestrichen werden könnte. eine Beziehung zu sich selbst.
beforscht und dokumentiert, Außerdem ist es höchst unwahr- 165 Wer andere spüren und etwas
ähn­ liche bis gleiche Symptome scheinlich, dass man wirklich geben will, muss sich erst selbst 210
wie die Schwester Burnout. Aus- ernst genommen wird mit einem spüren. Das geht sichtlich weder
gebranntsein von Langeweile, Boreout – man kann ja schließ- im Gefängnis der permanenten
von Unnützem, von chronischer 130 lich froh sein, wie gesagt. Überforderung noch im Kerker
Unterforderung macht ebenso der sinnentleerten Langeweile.
krank wie dauernder Termin- Gemessen ist allerdings, dass ein 170 Wenn, wie Ali Mahlodji (what- 215
druck, Informationsüberflutung Zustand andauernd herabge- chado) in seinem Report für das
und all die bekannten Plagen. setzter Aktivierung bei andau- Zukunftsinstitut schreibt, arbei-
Der feine Unterschied: Burnout 135 ernden einförmigen und sich ten zu dürfen zu einem Privileg
ist quasi eine Medaille auf dem wiederholenden Arbeitsaufga- wird und das, was wir heute Faul-
Schlachtfeld der Leistungsge- ben mit Schläfrigkeit, Müdig- 175 heit nennen, zu einer Tugend im 220
sellschaft. Es ist im besten Fall keit, einer Verminderung der Maschinenzeitalter, dann wird
besprechbar geworden, hat Ver- Reak­ tionsfähigkeit und einer das Sich-selbst-und-andere-Spü-
antwortungsträger und einen 140 Zunahme schwankender Herz- ren die größte Herausforderung.
gesetzlichen Rahmen wie die frequenz einhergeht. Deutsche Und die schönste Aufgabe. Am
Evaluierungspflicht psychischer Arbeitnehmerschützer haben 180 besten im Grünen. n 225
Belastungen am Arbeitsplatz, es zuletzt Ergebnisse veröffent-
hat Führungskräfteschulungen licht, wonach Dauerfadisierten

Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000088977697/wenn-man-sich-im-job-langweilt [27.01.2023].

Die Infobox befindet sich auf der nächsten Seite.


20. September 2023 / Deutsch S. 20/23

INFOBOX

Anton-Proksch-Institut: Klinikum in Wien zur Behandlung von Suchterkrankungen


Fluktuationsraten: drücken aus, wie viele Mitarbeiter/innen im Verhältnis zur gesamten Be-
legschaft ein Unternehmen verlassen oder aus einem Unternehmen ausscheiden
Mahlodji, Ali (geb. 1981): Autor und Co-Founder der Berufsorientierungsplattform
whatchado
Narrativ: Erzählung oder Darstellung, die benutzt wird, um Werte und Normen einer Gesell-
schaft zu erklären und weiterzutragen
20. September 2023 / Deutsch S. 21/23

Thema 3: Stellenwert der Arbeit


Aufgabe 2

Arbeitszeit – Lebenszeit

Verfassen Sie einen Kommentar.

Situation: Eine Tageszeitung lädt junge Erwachsene ein, für eine Beilage zum Thema
Arbeit Beiträge einzusenden. Sie verfassen einen Kommentar, für den Sie auch einen
passenden Titel formulieren.

Lesen Sie den Bericht „Fire“-Bewegung: Der Trend zur frühen Pension von Selina Thaler aus der
Online-Ausgabe der Tageszeitung Der Standard vom 22. November 2018 (Textbeilage 1).

Verfassen Sie nun den Kommentar und bearbeiten Sie dabei die folgenden Arbeitsaufträge:

■ Beschreiben Sie kurz die im Text dargestellten Anti-Arbeit-Bewegungen.


■ Bewerten Sie diese Bewegungen.
■ Nehmen Sie Stellung zu einem sinnvollen Verhältnis von Arbeit und Freizeit.

Schreiben Sie zwischen 405 und 495 Wörter. Markieren Sie Absätze mittels Leerzeilen.
20. September 2023 / Deutsch S. 22/23

Aufgabe 2 / Textbeilage 1

Arbeitsethos

„Fire“-Bewegung:
Der Trend zur frühen Pension
20 Jahre Arbeit, 50 Jahre Pension? Oder gar nicht mehr arbeiten, wie die sogenannten Anti-Worker?
Das Verhältnis zu Arbeit wird radikal hinterfragt

Von Selina Thaler dass man im frühen 21. Jahr- Privilegierte Perspektive
hundert wegen des technologi-
Eine Welt ohne Arbeit ist schen Fortschritts 15 Stunden pro Es geht dabei nicht um Sparsam-
schwer vorstellbar. Der klassische Woche arbeitet. Die Befürworter keit um jeden Preis, sondern um
Lebensweg der meisten Men- der Anti-Work-Bewegung gehen ein anderes Leben mit Sinn und
schen besteht aus Ausbildung, davon aus, dass Arbeit in Zeiten Zeit statt Geld und Konsum –
Beruf und der dann verdienten der Automatisierung überflüssig daher werden sie auch Frugalis-
Pension [...]. ist und man sich schönen Tätig- ten genannt, das steht für einfach,
keiten widmen sollte, finanziert bescheiden. Eine Art Kapitalis-
Doch immer mehr Menschen durch ein Grundeinkommen. muskritik mit kapitalistischen
stellen ihr Verhältnis zur Arbeit Mitteln.
infrage – auch vor dem Hinter- Auch die Anhänger der soge-
grund einiger Jobs, die künftig nannten „Fire“-Bewegung hinter- Die Anti-Arbeit-Bewegungen wol­
von Maschinen oder künstlicher fragen den Stellenwert der Arbeit: len nicht nur das Ende der klas-
Intelligenz übernommen wer- Während andere Mittzwanziger sischen Karriere, sondern damit
den; chronischer Krankheiten, die ihre berufliche Karriere planen die Welt verbessern: Wer weniger
vermutlich wegen zunehmender und die Altersvorsorge noch weit konsumiert, seltener auf Urlaub
Arbeitsüberlastung steigen; unge- entfernt scheint, denken sie an ihre fährt, lebt nachhaltiger, so ihre
recht verteilter Arbeit; prekärer Pension. „Fire“ steht für Financial Überzeugung. Wer statt eines
Jobverhältnisse, die von Firmen Independence, Retire Early, auf sinnbefreiten Jobs ein Ehren-
wie Amazon oder Uber vorange- Deutsch: finanzielle Unabhängig- amt übernimmt, trägt mehr zur
trieben werden; oder eines größer keit, frühe Rente. Sie kehren das Gesellschaft bei. Wer seiner Lei-
werdenden Anteils an sogenann- Verhältnis von Lebensarbeitszeit denschaft nachgeht und eine
ten „Bullshit-Jobs“ [...]. Nicht und Rentenjahren um. Zehn bis Firma gründet, empfinde mehr
zuletzt die Arbeitseinstellung vie- 20 Jahre Arbeit, 50 bis 60 Jahre Sinn im Leben. Und wer mehr
ler Mil­lennials, lieber mehr Frei- Pension, finanziert von einem Zeit hat, könne diese auch für
zeit zu haben als Geld und Kar- selbst erarbeiteten, passiven Ein- Haushalt und Kinderbetreuung
riere zu machen, wie etliche kommen. Sie investieren in ETFs, aufwenden, so einige der Hoff-
Umfragen belegen, zeugt davon. Staatsanleihen, Immobilien, um nungen – allerdings aus einer sehr
später von der Rendite zu leben. privilegierten Perspektive.  n
Mehr Technik, weniger Arbeit Das reicht zwar nicht für Weltrei-
sen und teure Autos, aber für ein
Schon 1930 prophezeite der gemäßigtes Leben ohne Arbeits-
Ökonom John Maynard Keynes, zwang.

Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000088979306/fire-bewegung-der-trend-zur-fruehen-pension [27.01.2023].

Die Infobox befindet sich auf der nächsten Seite.


20. September 2023 / Deutsch S. 23/23

INFOBOX

Bullshit-Jobs: Jobs, die laut dem Anthropologen David Graeber keinen gesellschaftlichen
Nutzen haben und auch von den Menschen, die sie ausüben, als nutzlos empfunden wer-
den
ETFs: Abkürzung für Exchange Traded Funds; Form der Geldanlage, bei der Geld meist in
ein Bündel an Aktien investiert wird

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