Sokrates
Sokrates
Sokrates
in 2014
https://archive.org/details/sokratesOObuss
DIE GROSSEN ERZIEHER.
IHRE PERSÖNLICHKEIT UND IHRE SYSTEME.
HERAUSGEGEBEN
VON
Di RUDOLF LEHMANN,
PROFESSOR A. D. KÖNIGL. AKADEMIE ZU POSEN.
VII. BAND.
SOKRATES
VON
ADOLF BUSSE.
BERLIN,
VERLAG VON REUTHER & REICHARD
1914.
SOKRATES.
VON
BERLIN,
VERLAG VON REUTHER & REICHARD
1914.
Alle Rechte vorbehalten.
Vorwort.
Adolf Busse.
Inhalt.
II. DieneuenBildungsziele
12. Das griechische Erziehungswesen. Art und
13.
Verbreitung der Jugendbildung. 14. 15.Wandel in
den sittlichen und religiösen Anschauungen. 16. Der
Intellektualismus. 17. Die neuen Erziehungsauf-
gaben.
/
VIII
Seite
V. Kriegsdienste 83
43. Sokrates im samischen Kriege. 44. Bei Poteidaia.
45. Bei Delion und Amphipolis.
VII. BetätigungimStaatsIeben 90
48. Seine Abneigung gegen politische Tätigkeit.
49. Der Arginusenprozeß. 50. Unter der Herrschaft
der Dreißig.
Seite
1) Plat. Phaidon 60 D.
2) Da abgesehen von geringen Fragmenten des Aischines,
Antisthenes und anderer Sokratiker nur die Darstellungen Piatons
und Xenophons erhalten sind, so kommen für die Quellenkritik
neben Aristoteles nur diese beiden Zeugen in betracht. Wer ist
nun der zuverlässigste, Piaton oder Xenophon oder Aristoteles ?
In neuerer Zeit hat jeder von ihnen eifrige Verteidiger gefunden.
Da sind zunächst die Schildhalter Xenophons, welche in der xeno-
phontischen Apologie und in den Memorabilien die reinste Quelle
der Sokratik sehen (Hegel, Gesch. der Phil. II 69; Hermann,
Gesch. und System des Piatonismus I 249 ff. Döring, die Lehr
;
Sokrates und Plato, Tübingen 1896). Dann sind die Vertreter der
Ansicht zu nennen, daß die Sokratik hauptsächlich aus Piaton zu
schöpfen sei (nach Schleiermacher W. W. III 2, 293 ff. besonders
Brandis, Gesch. der gr.-röm. Philosophie IIa 20; Ritter, Gesch
der Phil. II 44; Natorp, Über Sokrates, in den Philosophischen
Monatsheften 30, 337 ff.; John Burnet, Plato's Phaedo, Oxford
1911 p. XI ff.; A. E. Taylor, Varia Socratica, Oxford 1911). End-
lich hat Aristoteles seinen Vertreter gefunden in Joel (Der
echte und der xenophontische Sokrates I 203 ff. ). Dazu kommen als
vierte Gruppe noch die Synkretisten, die Vermittler aller drei Über-
lieferungen unter Bevorzugung bald der einen Quelle bald der
anderen (Zeller, Die Phil, der Griechen IIa 4 91 ff. Windelband, ;
Skala, die mit dem Dialog >Euthyphron« schließt unter der Voraus-
setzung, daß Schleiermacher (Piaton Ia 52 f.) mit Recht seine Ab-
fassung in die Zeit nach Einreichung der Anklage gesetzt hat.
Wenn Bruns (Das liter. Porträt S. 228) aus den Worten der Apologie
(39 C. D.): »Viele werden kommen und euch zur Rechenschaft
ziehen, die ich bisher zurückgehalten habe« folgern zu müssen
glaubt, daß vor Sokrates' Tod keine Dialoge erschienen sind, so
wird nicht genügend beachtet, daß in den oben genannten Dialogen
ein gegen das Volk gerichteter Tadel kaum enthalten ist. Dieser
findet sich erst in der Apologie, dem »Kriton «, -Gorgias «Menon». ,
Erste Rede.
I. Einleitung (1).
Zweite Rede.
a. Urteil über die Abstimmung (25),
b. die verdiente Belohnung (26),
c. Antrag auf eine Geldstrafe (27. 28).
Dritte Rede.
a. Ansprache an die Geschworenen, die gegen ihn stimmten
(29. 30),
cc. Urteil über ihre Abstimmung (29),
1) Schanz, a. a O. S. 73.
2) Von den in den Memorabilien datierbaren Gesprächen fällt
keins in die Zeit vor 404.
3) Von den xenophontischen Schriften kommen die Apologie,
die Memorabilien, der Oikonomikos und das Symposion in betracht.
Von diesen ist die Apologie am frühesten verfaßt worden. Denn
sie ist älter als die Memorabilien, welche sowohl in den beiden
10 Quellenkunde zur Sokratik. — Xenophon.
ersten Kapiteln des ersten Buches wie in dem letzten des vierten
Buches deutliche Spuren der Benutzung, zum Teil wörtliche Über-
nahme zeigen. Die Apologie aber setzt nicht nur die etwa 493
erschienene Anklageschrift des Polykrates (vgl. § 19. 20. 25), sondern
auch den Tod des Anytos voraus, da (§ 31) berichtet wird, daß
dieser an seinem Sohn nur Schande erlebt und wegen der unver-
ständigen Erziehung desselben noch nach seinem Tode eine üble
Nachrede erfahren habe. (Das Radikalmittel Wetzeis in den Neuen
Jahrb. 1900 S. 389, der den Satz streichen will, ist natürlich abzu-
lehnen.) Nun hat aber Anytos noch 387/6 gelebt; denn in diesem
Jahre scheint Lysias' 22. Rede geschrieben zu sein, deren Redner
(§ 9) den Sitophylax des vorigen Jahres Anytos, der jedenfalls ein
hochangesehener Bürger gewesen sein muß und deswegen nicht
mit Christ-Schmid (Gr. L. 5 S. 480) von dem Ankläger zu trennen
ist, als Zeugen vorladen will (v. Wilamowitz, Arist. und Athen II
374; Blass, Att. Ber. 1 473; Ed. Meyer, Gesch. des Alt. V 273.
Ohne hinreichenden Grund will W. Aly, »Anytos der Ankläger des
Sokr.« in dem Neuen Jahrb. 1913 S. 173 das Jahr 395 für die Rede
ansetzen.) Also muß die Apologie erst nach 387/6 geschrieben
sein. Und sie wird bis in das Ende der achtziger Jahre herab-
gerückt durch die offenbare Benutzung von Piatons »Phaidon«.
Denn nicht nur das für die Situation recht unpassende y.utaiprjaavtu
avzov tt}v ntcpalriv (§ 28) stammt aus dem »Phaidon« (89 B), wo
die Handbewegung durch den tieferen Sitz des jungen Phaidon
sehr gut motiviert ist, sondern auch der Schluß (§ 33) zeigt deut-
liche Anklänge (v. Wilamowitz, »Die xenoph. Apologie« im Hermes
32 S. 101). Der Dialog »Phaidon« aber ist nach 384 anzusetzen
(Zeller IIa* 550; Raeder, Piatons philos. Entw. S. 178). Merk-
würdig ist, daß Zuccante (Socrate, Torino 1909, S. 156) auch jetzt
noch die xenoph. Apologie für unecht hält.
1) Daß Sokrates' Anhänger Gespräche, denen sie beiwohnten,
zu Hause schriftlich aufgezeichnet haben, dürfen wir aus einer
Stelle bei Piaton (Theait. 143 A) schließen, wonach Eukleides die
Unterredung, die Sokrates mit dem jungen Theaitetos gehabt und
dem Eukleides wiedererzählt hatte, sogleich nach der Trennung
niederschrieb und seine Aufzeichnung später dem Sokrates vorlas,
um sie mit seiner Hilfe zu ergänzen und zu verbessern. Daß ge-
rade das Gespräch, von dem hier die Rede ist, unmöglich historisch
sein kann, tut nichts zur Sache. Es kommt uns darauf an festzu-
stellen, daß dies Verfahren überhaupt üblich gewesen ist. Und
dies ist unbedingt aus Piatons Worten zu schließen. Damit er-
ledigt sich der Einwurf Zellers (Phil, der Gr. IIa 4 96 Anm. 3).
2) Er scheint hauptsächlich aus den Dialogen des Antisthenes
und Aischines geschöpft zu haben. Den Antisthenes sucht Joel
Quellenkunde zur Sokratik. — Xenophon. 11
(Der echte und der xenoph. Sokrates I 360 ff.) als Hauptqueile
nachzuweisen. Neuerdings sind von Dittmar (Aischines von Sphettos,
Berlin 1912, S. 32 ff.) mehrere Kapitel mit großer Wahrscheinlichkeit
auf Aischines zurückgeführt worden. Piaton wird zum Teil benutzt,
zum Teil bekämpft (Mein. IV 3, 2), Aristippos häufig angegriffen
(Mem. II 1. III 8). Wie Xenophon Piaton nachahmt, aber die
Farben stärker aufträgt, weist Ivo Bruns in dem Aufsatz »Attische
Liebestheorien« (Vorträge und Aufsätze S. 137) schlagend nach.
1) Mem. I 4,2 U 4,1 5,2 IV 3,2. Den genaueren Nachweis
liefert die gründliche und erschöpfende Erörterung Joels a. a. O. I 56 ff.
Diese ist, wie schon der Auszug aus der dritten Rede mit
der Erwähnung des Palamedes beweist, nach dem Vorbild
der platonischen Apologie unter Benutzung von Piatons
»Phaidon« und andern Quellen geschrieben ), enthält aber
1
nicht den Ertrag geliefert, den man früher von ihnen er-
wartet hat. Aristoteles ist geradezu für den objektivsten und ver-
trauenswürdigsten Gewährsmann der Sokratik gehalten worden,
weil er einerseits dem Zauber der Persönlichkeit zu weit ent-
rückt war, um in den panegyrischen Ton der unmittelbaren
Schüler zu fallen, anderseits aber der historischen Erscheinung
gaben ist kaum etwas zu finden, was nicht aus Piaton stammen
könnte. Trotzdem hat er nicht wenig zur Kenntnis und zur
richtigen Beurteilung der Sokratik beigetragen. Er hat mit
unanfechtbarer Glaubwürdigkeit den Punkt bezeichnet, wo
die Wege Piatons und seines Lehrers sich trennen, er hat
dadurch, daß er das Wesen der Sokratik hauptsächich aus
Piatons »Ladies«, »Protagoras« und der Apologie heraus-
holte, uns auf die verhältnismäßig reinsten Quellen der Lehre
hingewiesen, er hat durch kurze und treffende Formulierungen
wichtiger Lehrsätze unser Verständnis wesentlich gefördert.
Auf der andern Seite hat er freilich auch die richtige Auf-
fassung gewisser Lehrsätze durch seine Kritik erschwert.
Denn weil er nicht gewohnt ist, in seinen Ausführungen
Bericht und Urteil scharf zu trennen, und auch bei der Dar-
stellung fremder Theorien sich gern der Begriffe des eigenen
Systems bedient, so kann er leicht den Leser in die Irre
führen. Es ist deshalb bei seiner Benutzung Vorsicht ge-
boten, und insbesondere den Schriften gegenüber, die nicht
von ihm selbst, sondern von seinen Schülern stammen, also
bei der Eudemischen und der Großen Ethik. Denn in diesen
Darstellungen macht sich der subjektive und zur Kritik nei-
gende Charakter in erhöhtem Maße geltend, und sie haben
denn auch noch in neuerer Zeit zu einer einseitigen und
1
äußerlichen Auffassung der sokratischen Tugendlehre verleitet ).
Ja, die Staatsidee gewann eine solche Macht, daß ihr alle
10. Man
beachte nur folgende Tatsachen! Ein Jahr nach
Sokrates' Geburt (468) wurde Sophokles, dem neu empor-
steigenden Stern am Dichterhimmel, durch den Spruch der 10
Strategen zum ersten Mal der ^Preis zuerkannt. Danach be-
herrschten Aischylos und Sophokles 10 Jahre lang zusammen
die tragische Bühne, mit einander wetteifernd, von einander
lernend. Und kaum hatte der Ältere mit seiner tiefsinnigsten
und erschütterndsten Dichtung, der Orestie, vom Theater
Abschied genommen, so erschien in Euripides der Ersatzmann
auf dem Plan (455), eine neue Kunst- und Weltanschauung
vertretend. Wiederum entwickelte sich ein großartiger Wett-
kampf. Um
450 hat Sophokles den Aias, 442 die Antigone
auf die Bühne gebracht. Euripides siegte zum ersten Male
441; im Jahre 438 ging die Alkestis über die Bretter, die
dann folgenden Stücke, Medea (431) und Hippolytos (428),
reichen schon in die Zeit des peloponnesischen Krieges hinein.
Auch die Geburt der politisch-satirischen Komödie fällt in
diese Epoche. Ihr Schöpfer Kratinos, der Anhänger kimo-
nischer Politik und Denkweise und Bekämpfer des Modernis-
mus, mochte dieser sich in die Gestalt des zwiebelköpfigen
Perikles oder neuen Weisheitslehrers kleiden, hat im
eines
Jahre 453 seinen Siegeslauf begonnen und bald eine ganze
Schar von Wettbewerbern und Nachfolgern herangezogen.
Ebenso unerschöpflich ist die Produktionskraft auf dem
Gebiet der bildenden Künste. Die Architektur fand dankens-
werte Aufgaben bei der Errichtung von Tempeln und Staats-
gebäuden. Noch vor Abschluß des dreißigjährigen Friedens
447/6 wurde der lange zurückgestellte Bau des Athena-
Tempels nach einem neuen, von Iktinos entworfenen Plan
wieder aufgenommen und unter Leitung des Architekten
438 vollendet. In derselben Zeit entstanden der
Kallikratides
Niketempel am Eingang und das Odeion am Südabhang der
Burg. Sogleich nach Vollendung dieser Bauten wurden die
Propyläen in Angriff genommen und binnen 5 Jahren zum
Abschluß gebracht. Daran reihen sich die Staatsgebäude,
deren die vielköpfige Verwaltung bedurfte. Sie legten sich
insgesamt um den Markt, der jetzt Mittelpunkt des Staatsiebens
und öffentlicher Festplatz wurde. Unten in der Stadt wie
oben auf der Burg herrschte eine fieberhafte Bautätigkeit,
Athen wurde eine große, rührige Werkstätte, die den Künstlern
lohnende Aufgaben, den Arbeitern reichen Verdienst bot.
26 [. Athen zur Zeit des jungen Sokrates.
Gesittung schwebte.
Wer dieser Künste nicht mächtig ist, muß auf die Teilnahme
am Staatsleben verzichten. Deswegen hatte der Staat allen
Anlaß, den Jugendunterricht in den Bereich seiner Fürsorge
zu ziehen. In Sparta, wo die Stellung des herrschenden
Standes besondere Maßnahmen nötig erscheinen ließ, wurde
1) II 41, 1.
Das griechische Erziehungswesen, 29
1)Später sind sie auf Antrag des Ephialtes nach dem Rat-
hause am Markt gebracht worden (vgl. Busolt, Gr. Gesch. I 539).
2) Diog. L. I 57.
3) Staat X 606 E. trjv ^EXXaSa 7C£7tca'dsvv.£v ovtos 6 itoiv\xr\$.
3
4) Frg. 10 (Diels 1 59).
1)Das eine ist cpvöei, das andere &£6sl oder rd^co (Plat. Prot.
337 D). Der Gegensatz durchzieht die gesamte Literatur des Jahr-
hunderts. Der erste, der diese Theorie aufgestellt hat, scheint der
Lehrer des Sokrates, Archelaos von Athen, gewesen zu sein, auf
den wir noch zurückkommen werden.
2) Yers 332 ff.
Die neuen Erziehungsaufgaben. 35
1) V. 437 Cr.
2) Phoinix (frg. 810.)
3*
36 III. Die Sophistik.
3) Nach Diog.
55 (Diels II 3 228) wurde seines Todes von
L. II
Euripides in der Tragödie Ixion gedacht, die in den Jahren 410
408 aufgeführt worden ist. Das führt uns auf das Jahr 411 als
Todesjahr des Protagoras. Und da der Oligarch Pythodoros, der
die Anklage einreichte, einer der Vierhundert war, so ist es wahr-
scheinlich, daß die Anklage und Verurteilung während der Herr-
schaft der Vierhundert (Juni bis September 411) erfolgte. Der An-
kläger Pythodoros, Sohn des Polyzelos, aus dem zur Phyle Antiochis
gehörigen Demos Anaphlystos gebürtig, ist nämlich identisch mit
jenem Pythodoros, der nach Aristoteles' Staat der Ath. (29, 1) den
Antrag auf Einsetzung des Rathes der Vierhundert stellte, und auch
wohl mit dem Pythodoros, der nach Xen. Hell. II 3, 1 im
Jahre 404/3 das Archontat bekleidete (Kirchner, Pros. Att. II 238.
239). Wenn Gomperz (Gr. D. 1 3 353) ihn einen »schneidigen
Reiteroffizier« nennt, so liegt offenbar eine Verwechselung mit Pytho-
doros, dem Sohn des Epizelos aus der Phyle Aigeis, vor (Kirchner
Nr. 12402), der bald nach dem Frieden des Nikias Hipparch und
415/414 Stratege war und auf dem zu Eleusis aufgefundenen Reiter-
denkmal dargestellt ist (Brückner, Athen. Mitt. XIV 389). Die von
Gomperz vertretene Ansicht, daß die Worte im euripideischen Pala-
medes (aufgeführt 415) >Getötet, ja getötet habt ihr die allweise,
die schuldlose Nachtigall der Musen« (fr. 588), welche nach einer
albernen Überlieferung auf Sokrates gemünzt sein sollen, sich tat-
sächlich auf den Tod des Protagoras beziehen und daß dieser dem-
nach 415 gestorben und 485 geboren sei, schwebt völlig in der
Luft. Wenn Protagoras, der nach unserer Annahme nur 12 Jahre
älter war als Sokrates, sich bei Piaton (Prot. 317 C) damit brüstet,
daß es unter den Anwesenden keinen gebe, dessen Vater er nicht
Protagoras. 4!
sein könne, obgleich auch Sokrates unter ihnen war, so ist das
weiter nichts als eine dem Sophisten in den Mund gelegte
Prahlerei.
1) Hipp. mai. 283 D. E.
Plat.
2) Plat. Prot. 310 D ff. 314 E ff.
3) Plat. Staat X 600 CD.
4) fr. 1.
»Wahrheit«, begann mit dem Satz: Aller Dinge Maß ist der >
Mensch, sowohl für das Sein derer, die sind, wie für das
Nichtsein derer, die nicht sind.« Ein anderer Abschnitt war
ausschließlich gegen die eleatische Auffassung des Seins ge-
richtet und führte den Titel »Über das Seiende«. Wieder ein
anderer, als »Große Rede« bezeichnet, handelte über die Er-
ziehung *). Auch die Erörterung »Über die Sprachrichtig-
2
keit« scheint zu diesem Werke gehört zu haben ). Die ganze
Darstellung war vermutlich in der Form von Aphorismen
gehalten und entbehrte einer breiteren Ausführung der Ge-
danken.
Den Bedürfnissen des Unterrichts dienten die »Ana-
3
logien« ), eine Schrift in zwei Büchern, welche den Grund-
satz,daß es auf jede Frage zwei einander entgegengesetzte
Antworten gibt, in die Praxis umsetzte und ethisch-politische
4
Probleme aus dem täglichen Leben in Form von Streitreden )
Maß ist der Mensch.« Aber sobald man daran geht, den Inhalt
des Satzes festzustellen, ruft Sokrates aus: »Bei den Charitinnen,
Prot, war Mann und gab uns als dem großen Haufen
ein hochweiser
dies als Rätsel während er die Wahrheit im geheimen nur
auf,
seinen Schülern mitteilte.« Ebenso scheint Aristoteles über die Be-
deutung des Satzes nicht ganz sicher zu sein. Er sagt (Metaph. 1. I
1053 a 35): »Wenn Prot, den Menschen das Maß aller Dinge
nennt, so meint er entweder den wissenden oder den sinnlich wahr-
nehmenden Menschen, deswegen weil der eine die Sinneswahrneh-
mung, der andere die Wissenschaft besitzt, die wir als das Maß
der Dinge ansehen. Obgleich also der Satz etwas Besonderes zu
enthalten scheint, so ist doch nichts dahinter.« Daraus geht doch
wohl hervor, daß weder Piaton noch eine erkenntnis-
Aristoteles
Iheoretische Erläuterung des Satzes vorgefunden haben.
1) fr. 2. 3. 10—12.
2) Plat. Crat. 391 B. C.
3) fr. 5.
1) Diels II 3 334.
2) fr.5 (Diels II 3 230).
3
3) Ilspi tfjg iv ccQ%fj HccTC£6zctc£G)g (Diels II
'
280).
4) 320 C— 322 D.
5) fr. 4.
6) Wolken 361.
7) Charm. 163 D. Prot. 341 A. Menon 96 B.
44 III. VI. Die Sophistik.
8) fr. 8.
3
9) Diels II 269.
10) fr. 5.
legung der Ansicht Joels (Der echte und der xen. Sokr. II 138),
der in diesem Prodikos nur eine Gesprächsfigur des Dialogs
»Herakles« von Antisthenes sucht und annimmt, daß die Prodi-
kosfabel von Xen. aus diesem Dialog entlehnt sei.
1) Das Sammelwerk enthielt offenbar mehrere moralische Be-
trachtungen, die alle deswegen dem Prodikos zugeschrieben wurden,
weil seine Fabel am Anfang stand. Der Titel «Hören«, der wohl
aus Hesiods Theog. 901 f. stammt, macht es wahrscheinlich, daß das
Ganze in drei Bücher zerfiel, die nach den drei Hören Eunomia,
Dike und Eirene benannt waren.
2) Hesiod. Opp. 287 ff.
2
3) Soph. fr. 334 (Nauck 209).
4) Plat. Apol. 19 E.
46 III. Die Sophistik.
Teil ein Akt seiner Eitelkeit; aber er gab zugleich damit ein
praktisches Beispiel für seine Lehre von der Rückkehr zur
Natur. Denn er hatte dem Gegensatz zwischen dem konven-
tionellen Brauch und der Naturnotwendigkeit, zwischen dem
positiven Recht und dem Naturrecht weiter nachgeforscht
und in der Konvention einen Tyrannen erkannt, der die
Menschheit in Völker, das Volk in soziale Klassen trennt und
dem Einzelnen die Fesseln höherer Kultur anlegt. Indem er
die Macht dieses Tyrannen bekämpfte, hat er nicht nur der
weltbürgerlichen Gesinnung und dem sozialen Ausgleich das
6) fr. 1.
I
gestorben. Seine mäßige, streng geregelte Lebensführung
1
wird durch ein ihm zugeschriebenes Wort gekennzeichnet ):
i
»Ich habe nie etwas getan, um mir einen Genuß zu ver-
!
schaffen*. Dem entspricht auch das Bild, welches Piaton in
I dem gleichnamigen Dialog von dem vornehmen, wohl etwas
2
ruhmredigen ), aber der modernen, subjektivistischen Denk-
I
j
richtung entschieden abgeneigten Greise entwirft. Ursprüng-
|
lieh Schüler desdann
Empedokles, der transcendentalen
|
Seinslehre der Eleaten zugetan, wandte er sich schließlich der
3
|
Skepsis des Protagoras zu, deren Ergebnis er in seiner Schrift )
; »Über das Nichtseiende oder über die Natur« bis zum er-
I
kenntnistheoretischen Nihilismus weiterbildete. Aber er war
|
kein scharfer Denker, wie schon die unwissenschaftliche Be-
j
handlung der Tugendlehre 4) beweist, und seine Bedeutung
I
liegt nicht auf philosophischem Gebiet, sondern lediglich in
3
1) ibid. II 329.
2) ibid. 334.
Busse, Sokrates.
:
tungen zieht, allen gemeinsam ist doch die Richtung auf die
i
Kühnheit steigt das menschliche Denken zu schwindelnder
]
Höhe empor. Nicht nur die Sprache, die Staatsordnung, das
|
Sittengesetz gilt als Schöpfung des Menschengeistes, man
ij wagt es sogar, die Gottesidee aus dem menschlichen Vor-
\
Stellungsleben abzuleiten. Alle diese Wissensgebiete zu durch-
! forschen, gilt als die eigentliche Aufgabe der Philosophie.
So entstanden in kurzer Zeit zahlreiche Einzelwissen-
j
Schäften, die in dem Studium des menschlichen Geisteslebens
! ihre gemeinsame Grundlage hatten. Auf der Psychologie
baute sich die Lehre vom Ursprung des Wissens,
einerseits
;
die Erkenntnistheorie, auf, anderseits die Lehre von den
|
Grundgesetzen des menschlichen Handelns, die Ethik und
|
Politik. Daran reihen sich die anderen Disziplinen, die von
den Sophisten begründet worden sind, die Sprachlehre, Ge-
schichtsforschung, Rechtswissenschaft, Theologie, endlich die
j
Pädagogik. Und da die Erziehung den Kern ihrer ganzen
54 III. Die Sophistik.
3) fr. 10.
4) fr. 3.
5) fr. 11.
6) Prot. 31 8 E ff.
Die Erziehungswissenschaft. 55
1) fr. 60.
2) vgl. S. 49.
3
3) Diels II 330.
56 III. Die Sophistik.
3
1) Diels II 648, 11.
2) Plat. Theait. 156 A.
Protagoras' Erkenntnislehre. 57
1) Vgl. S. 41 Anm. 5.
4) Prot. 334 A.
Der sophistische Relativismus. 59
3) fr. 3.
60 III. Die Sophistik.
des aus ihr entspringenden Nutzens. Aber der Nutzen ist ein
relativer Begriff, kann auf das Individuum, er kann auch
er
auf die Gemeinschaft bezogen werden. Und eben hier trennen
sich die Wege der beiden Sophisten. Antiphon gründet die
Moral auf das Prinzip des wohlverstandenen Interesses, ge-
langt aber mittels des Satzes, daß das Interesse des Einzelnen
nur im Rahmen der Gesamtwohlfahrt gewahrt werden kann,
zu der Forderung, nicht nur die Tugend der Besonnenheit,
Selbstbeherrschung, Rechtlichkeit zu pflegen, sondern auch die
3
1) Diels II 235.
2) Plat. Gorg. 459 E.
3) Plat. Prot. 318 Äff.
4) Vgl. S. 48.
Die Moral der Sophistik. 61
I
Gesetz mit der Frage herangetreten, ob Naturerzeugnis oder
I Menschensatzung, um durch ihre Entscheidung die Grenzen der
I
Gültigkeit willkürlich festzusetzen. In erster Linie legte man
j
den Maßstab an die Sprache und erkannte darin eine Schöpfung
des menschlichen Geistes, die einer kritischen Betrachtung zu
unterwerfen sich wohl verlohne. So hat denn Protagoras 2 )
in seinem Werke »Die Sprachrichtigkeit« die ersten Bausteine
zur Grammatik herbeigeschafft, indem er die Tempora des
Verbums, die vier Formen des unabhängigen Satzes, Wunsch,
Frage, Antwort (Aussage), Befehl, und die drei Geschlechter
der Substantiva unterschied. Aber er übte auch zugleich
meisternde Kritik an der Sprache und tadelte nicht nur Homer,
weil er im ersten Verse der Ilias
Singe, Göttin, den Zorn des Peleiaden Achilleus
einen Befehl, und nicht einen Wunsch ausgedrückt habe, son-
dern wollte auch die willkürliche und fehlerhafte Geschlechts-
bezeichnung der Substantiva einer Reform nach rationellen
Grundsätzen unterwerfen, wodurch er sich den berechtigten
2
Spott des Aristophanes zuzog ). Auch des Prodikos löbliche
Bemühungen um die Synonymik arteten schließlch in Sprach-
meisterei aus. Worte durch
Sein Versuch, die Bedeutung der
Vergleichung mit verwandten Worten und durch scharfe An-
grenzung des Inhalts festzustellen, hat sowohl auf die Aus-
bildung des Prosastils günstig eingewirkt wie auch zum ersten
Mal die Aufmerksamkeit auf das richtige Erfassen des Begriffs
eines Wortes gelenkt und damit der wissenschaftlichen For-
schung und insbesondere der sokratischen Begriffsphilosophie
einen großen Dienst Aber indem er oft willkür-
geleistet.
liche Unterschiede heraussuchte, indem er verlangte, daß jedes
Wort nur in der eigentlichen Bedeutung gebraucht werde,
3
1) Diels II 227.
2) Wolken. 638. 658 ff.
64 III. Die Sophistik.
1) Vgl. S. 43.
2) Prot. 320 ff.
3) Hes. Opp. 192; Tyrt. 10, 40Cr.; Theogn. 291 Cr.
4) Plat. Prot. 324 B.
5) Staat II 380 A, IX 591 Äff.
Der sophistische Rationalismus. 65
1) Vgl. S. 34.
2) fr. 4.
3
3) Diels, II 320.
Busse, Sokrates. 5
66 III. Die Sophistik.
»Ich betrachte euch, die ihr hier zugegen seid, insgesamt als
Verwandte, als Verbrüderte und Mitbürger, der Natur, nicht
der Satzung nach. Denn das Gleiche ist dem Gleichen von
Natur verwandt, die Satzung aber, diese Gewaltherrin der
Menschen, legt uns häufig einen widernatürlichen Zwang auf«.
Auf die sozialen Zustände des eigenen Volkes hat neben
Hippias auch Euripides die neue Weltanschauung angewandt
und nicht nur das Vorrecht adeliger Geburt geleugnet,
sondern auch in dem Sklaven den Menschen erkannt. Heißt
2
es doch in einem Fragment der Tragödie »Diktys« ):
5
68 IV. Sokrates' Lehrjahre.
1) Krit. 50 D.
:
1) Vgl. S. 29 f.
2) Aelian V. H. II 13.
einen Dialog unter ihren Namen und ließ Sokrates ein Ge-
spräch wiedererzählen, das Aspasia angeblich mit ihm selbst
wie auch mit Xenophon und seiner jungen Gemahlin *) ge-
habt habe. Mit Sokrates sprach sie über das Wesen der Liebe
und führte ihn in ein tieferes Verständnis des Liebesproblems
ein. Mit dem Ehepaar Xenophon aber erörterte sie die
Frauenfrage, indem sie die und sittliche Gleich-
geistige
wertigkeit der beiden Geschlechter und die Notwendigkeit
einer besseren Erziehung der Frau betonte. Dieser Dialog
machte den sokratischen Schulen einen starken Eindruck.
in
I
Musiklehrer Konnos unbefangenen Kritik nicht stand-
einer
3
halten. Schon die Zusammenstellung beider im »Menexenos« )
;
erregt gegen ihn Bedenken. Noch mehr die Art, wie So-
4
t krates seiner im Dialog »Euthydemos« ) gedenkt. Er teilte hier
!
dem Kriton sein Vorhaben mit, bei den beiden Meistern des
I
Wortgefechtes Euthydemos und Dionysodoros in die Schule
I
zu gehen, doch hege er die Besorgnis, daß er bei seinem
Alter den beiden Helden Schande machen möchte, wie dem
I
Zitherspieler Konnos, bei dem er noch jetzt die Zither schlagen
lerne. Leider zeige er sich recht ungeschickt und errege
|
nicht selten den Unwillen seines Lehrers. Dieser habe sich
j
schon den Spott der Jugend zugezogen, die ihn »Konnos
den Greisenlehrer« nenne. Was wollen die Worte sagen?
Ist es denkbar, daß Sokrates noch im Alter sich im Zither-
spiel unterrichten ließ? Sicherlich nicht, vielmehr haben wir
j
hier einen humorvollen Hinweis auf die im Jahre 423 zu-
gleich mit des Aristophanes »Wolken« aufgeführte Komödie
des Ameipsias, die den Titel »Konnos« führte und in dra-
5
stischer Weisewie Sokrates mit andern alten
darstellte ),
des Sokrates gegeben und ist auch die erste Quelle für alle
die Nachrichten, welche ihn zum Schüler des Musiklehrers
Konnos machen.
39. Diese Ehre muß Konnos noch mit einem anderen Mu-
siker teilen % dem hochangesehenen Dämon, der aus einem
Lehrer des Perikles sein Freund und Berater geworden war 2
).
j
Wir sehen, es sind die Probleme, mit denen die Naturphilo-
sophie so lange gerungen hat und gerade um die Mitte des
5. Jahrhundertsaußer den großen Systematikern Herakleitos,
Empedokles, Demokritos sich einige Eklektiker eingehend be-
schäftigten: Archelaos, der über das Entstehen der lebenden
Wesen handelte, Diogenes von Apollonia, der die Luft als
j
Annehmbares diese Theorien ihm auch anfangs zu enthalten
! schienen, völlig konnten sie ihn doch nicht befriedigen, weil
I
die Grundursachen der Erscheinungen durch sie nicht auf-
|
gedeckt wurden. Da lernte er das Buch des Philosophen
I Anaxagoras »Über die Natur« kennen, und eine neue Ge-
|
dankenwelt tat sich vor seinem geistigen Auge auf. Er lernte,
daß ein denkender Geist die Ursache der Bewegung und der
|
Ordnung des Alls sei, daß diese Welt nicht als das Ergebnis
|
einer unbegreiflichen Notwendigkeit oder eines noch weniger
! faßbaren Zufalls gelten dürfe, sondern als die Schöpfung eines
! allweisen und allmächtigen Wesens, das nach Zweckbegriffen
I die Welt gebildet und geordnet habe. Damit war die Grund-
!
läge zu einer teleologischen Naturansicht gegeben, die dem
Sokrates Genüge zu tun wohlgeeignet war. Denn wenn die
Welt die Verwirklichung von Zweckgedanken ist, so braucht
i man bei jedem Ding nur den ihm zugrunde liegenden Zweck
zu suchen, um sein Wesen und seinen Ursprung zu verstehen.
In dem Zweckbegriff ist ja zugleich der Grund des Seins
und der Verwandlung gegeben. Aber bei tieferem Eindringen
! mußte Sokrates leider bemerken, daß die Theorie des Anaxa-
|
goras das nicht hielt, was sie versprach. Es war ein neues,
|
fruchtbares Prinzip der Naturerklärung gefunden, aber nicht
folgerichtig verwertet Der denkende Geist wurde
worden.
nur für den Ursprung des natürlichen Werdens in Anspruch
:
genommen, für das Verständnis des Weltlaufes wurde auf
ihn verzichtet. Der Geist verleiht dem Stoffe Bewegung und
Ordnung, aber dann tritt er zurück und läßt die Welt nach
I
|
sehen Philosophen Parmenides und Zenon ') kennen gelernt
habe, ist für die Kenntnis seiner geistigen Entwicklung uner-
heblich. Hingegen scheint die Überlieferung von seinem
Verhältnis zu Archelaos, dem Schüler des Anaxagoras, recht
beachtenswert. Sokrates soll im Alter von 17 Jahren, also 452,
sich an Archelaos angeschlossen und viele Jahre mit ihm
verkehrt haben. Ja, er machte sogar mit ihm, wie es heißt,
3
dieser Nachrichten ist vielfach in Zweifel gezogen worden ),
I
weil sie angeblich mit Piaton in einem unauflöslichen Wider-
spruch stehen. Aber das ist ein Irrtum. In der Apologie 4 )
werden nur die Schlachten erwähnt, die Sokrates mitgemacht
5
hat, im »Symposion« ) nur die Feldzüge, an denen auch Alki-
1
Sophisten nichl zu ist. Er meinte ), daß die
verkennen
lebenden Wesen durch Einwirkung des beseelten Feuers
die
auf die Erde entstanden und in allmähliger Entwicklung bis
zum Menschen emporgestiegen seien. Dann verfolgte er den
Entwicklungsgang des Menschengeschlechts, das nach seiner
Ansicht aus rohem Zustande sich zur Kultur emporgearbeitet
hat, dadurch daß es Städte gründete, Führer erwählte, Staats-
gesetze und Sittengebote aufstellte, Künste aller Art erfand,
ja, nach einer Überlieferung soll Archelaos schon den Satz
V. Kriegsdienste.
43. In dem Jahre 449, als bei Salamis auf Kypros der
letzte Sieg über die Perser errungen und der glorreiche Krieg
durch den Frieden des Kallias beendet wurde, trat Sokrates
als Mitglied der dritten Vermögensklasse in die Reihen des
Hoplitenheeres. Noch stand Athen auf dem Festland der
überlegenen Kriegsmacht der Peloponnesier und Boioter
gegenüber, und gerade die Jahre 447 und 446 stürzten den
2) Vgl. S. 79.
1) Apol. 28 E.
Bei Poteidaia. 85
Dieser ließ sich jedoch nicht stören und dachte weiter nach.
Ja, als es Abend wurde und das Nachtessen eingenommen
war, brachten die Leute ihre Lagerdecken aus den Zelten ins
Freie, um draußen zu schlafen und zu beobachten, ob So-
krates auch die Nacht hindurch noch dastehen würde. Und
dieser blieb in der Tat so lange auf dem Platze stehen, bis
die Sonne aufging. Dann richtete er ein Gebet an den Sonnen-
gott und entfernte
1
sich ).
).
3) Apol. 34 D.
4) Phaidon 60 A und 116 B.
5) Mem. II 2.
6) Symp. 2, 10.
Xantippe bei Piaton. 89
die es gibt, gegeben hat und geben wird, und von Sokrates
nicht etwa sondern als Gegenstand seiner täglichen
verteidigt,
Übung im Umgang mit unverträglichen Menschen hingestellt.
Da Antisthenes als Vertreter dieser Ansicht erscheint, so
dürfen wir wohl die Quelle aller Verunglimpfungen der
Xantippe in der kynischen Schule suchen, die in Sokrates
das Bild wahren Weisen zeichnete und dazu als Relief
des
das keifende Weib brauchte. Damit war für die moralischen
Betrachtungen und rednerischen Übungen in den Schulen
der Rhetoren und Moralphilosophen ein ausgezeichnetes
Thema gestellt. Wie wirksam konnte der Kontrast zwischen
dem zanksüchtigen Weibe und dem gelassen heiteren Philo-
sophen ausgemalt werden? Welches Tummelfeld fand hier
die üppige Phantasie der Griechen, wenn sie durch erdachte
Geschichten die auch den schlimmsten Angriffen trotzende
Selbstbeherrschung des Philosophen feiern wollte? Aber
sollte Sokrates so ganz unschuldig sein? Vielleicht hat er,
so dachte man, seiner Ehefrau Anlaß zur Eifersucht gegeben.
Und indem man diesen Gedanken weiterspann, verstieg sich
die Phantasie tatsächlich zu der Ungeheuerlichkeit, daß So-
krates noch ein Kebsweib, Namens Myrto 1 ), neben seiner
ehelichen Gattin hatte und an dem Unfrieden den Hauptteil
der Schuld trug.
47. Solchen Absurditäten gegenüber genügt es, auf
Piaton hinzuweisen, der für die Beurteilung der Xantippe
der einzige zuverlässige Zeuge ist. Er läßt sie nur im
»Phaidon« auftreten, und zwar zweimal. Das erste Mal
treffen wir sie am Morgen des Todestages vor dem Beginn
des letzten Gespräches, das zweite Mal am Abend unmittelbar
vor dem Scheiden. An der ersten Stelle 2 ) erzählt Phaidon:
»Als wir in das Gefängnis kamen, fanden wir Sokrates so-
eben von seinen Fesseln befreit und die Xantippe du —
kennst sie ja —
mit einem Knäblein auf dem Arm neben
ihm sitzen. Bei unserm Anblick schluchzte sie laut auf und
sprach nach Frauenart: Ach, lieber Sokrates, jetzt sind
deine Freunde da und wollen zum letzten Mal mit dir sich
unterhalten. Sokrates aber wandte sich an Kriton und sprach
Lieber Kriton, laß sie doch durch einen deiner Diener nach
1) Diog. L. II 26.
2) Phaidon 60 A.
90 VI. Sokrates' Familienleben.
1) ibid. 116 B.
Der Arginusenprozeß. 91
j
welche die wichtigsten Ämter durch das Los besetzte, fand
I
er im athenischen Staate keinen Raum für eine fruchtbare
Tätigkeit und beantwortete die Frage, warum er sich von
;
den Staatsgeschäften fern halte, mit der Bemerkung, daß er
I
eine größere politische Wirksamkeit auszuüben glaube, wenn
er tüchtige Politiker heranbilde als wenn er selbst politisch
1
!
tätig sei Oder er sagte, die innere Stimme, sein Daimonion,
).
2) Plat. Apol. 31 E.
3) Thuk. III 82, 8.
<)2 VII. Betätigung im Staatsleben.
die neue Flotte in See und stieß bald mit dem Feinde zu-
sammen bei der kleinen Inselgruppe der Arginusen. In einer
heißen Schlacht wurde die peloponnesische Flotte vernichtet
Aber der Sieg kostete den Athenern viel Opfer. Nicht
weniger als 25 Schiffe wurden in den Grund gebohrt. Und
da die Schlacht auf offener See stattfand, konnten sich die
Mannschaften nicht ans Land retten. Nach Beendigung des
Kampfes versuchte man zwar, die Schiffbrüchigen aufzufischen,
aber ein ausbrechendes alle Bemühungen
Unwetter machte
zunichte. Mehr als 4000 Mann, darunter etwa 2000 atheni-
sche Bürger, fanden den Tod in den Wellen. Die Verluste
wurden bei der arg gelichteten Bürgerschaft aufs schmerz-
lichste empfunden. Im Volke verbreitete sich die Ansicht,
die Feldherrn hätten bei der Rettungsarbeit ihre Pflicht ver-
säumt. Man beschloß, alle außer Konon abzurufen und vor
Gericht zu stellen. Sechs, der Sohn der
darunter Perikles,
Aspasia, folgten dem Befehl, war schon bei Mytilene
einer
gefallen, zwei kannten ihr Volk zur Genüge, um sich sofort
aus dem Staube zu machen. Bald nach der Ankunft in
2) ibid. I 7, 15.
94 VII. Betätigung im Staatsleben.
50. Der Zorn des Volkes hat sich damals auf Sokrates
trotz der Drohung nicht entladen. Bei aller Raserei hat
der gemeine Mann doch wohl noch einGefühl der Achtung
vor Menschengröße gehabt. Auch die Dreißig wagten sich
nicht an ihn heran, wiewohl er ihnen Trotz bot. Piaton
erzählt, daß sie in der Absicht, ihn zu ihrem Mitschuldigen
zu machen, ihn mit vier andern Bürgern auf das Rathaus
kommen und allen Fünf den Auftrag gaben, den
ließen
reichen Leon von Salamis zu verhaften. Die vier Andern
führten den Befehl aus und ;überlieferten den edlen Mann
der bluttriefenden Habgier der Dreißig. Sokrates aber ging
stillschweigend nach Hause, unbekümmert um die Rache der
2
Mordgesellen Nach andern Berichten hat sein früherer
).
1) Kock I 60.
96 VIII. Sokrates und die Komödie.
), derimmer bar-
fuß ging und einen abgeschabten Mantel trug und von der
Luft zu leben schien, auch nur einmal gesehen hatte, der
vergaß ihn so leicht nicht. Alle diese Eigenschaften machten i
I
zu drängen, aber der Dichter wußte doch den Zuschauern
sein Bild vor die Seele zu zaubern, indem er seinen Lieblings-
schüler, den hageren und blassen Chairephon, in den Kreis
6
|
der Schmeichler aufnahm ). Die Komödiendichter Telekleides
7
und Kallias ) verspotteten ihn als Mitarbeiter des Euripides,
1) Vgl. S. 75.
2) fr. 9 (Kock I 672).
3) D. h. er ist zugleich der größte Weise und der größte Tor.
4) fr. 352. 353 (Kock I 351).
5) 361 (Kock
fr. I 355).
6) 165 (Kock
fr. I 304).
7) Vgl. S. 72.
Busse , Sokrates. 7
.
des Dichters, der von der Bühne herab das Gift der Auf-
klärung in die Seele des Volkes träufelte.
53. Auch Aristophanes hat den Kunstgriff, seine beiden
Gegner mit einem Schlage zu treffen, angewandt und die
Flachheit der euripideischen Tragödie darauf zurückgeführt,
daß der Dichter sich von Sokrates die philosophischen Trivi-
1
alitäten einblasen läßt ). Häufiger richtet der Dichter, der
die Anziehung, welche Sokrates auf die Jugend ausübt, mit
Bedauern bemerkt 2 ), seinen Spott gegen die äußere Er-
scheinung, gegen den »ungewaschenen Sokrates und macht
den Leuten, welche damals in Tracht und Körperpflege die
spartanische Einfachheit und Schlichtheit zur Schau trugen,
den höhnischen Vorwurf, daß sie »sokratelten< 3 ) Doch das
sind nur gelegentlich abgesandte Pfeile. Einen umfassenden
und planvoll vorbereiteten Angriff machte Aristophanes in
den »Wolken«, in denen er offenbar alles das treffen wollte,
was die ganze Aufklärung, die ihm in Sokrates verkörpert
schien, an Verirrungen und Auswüchsen gezeitigt hatte. Ver-
gegenwärtigen wir uns zunächst den Gang der Handlung.
Der biedere athenische Bürger Strepsiades ist durch die Vor-
nehmheit seiner adligen Gemahlin und die noblen
Passionen seines Sohnes Pheidippides in Schulden gestürzt
worden. Außerstande, sich auf rechtlichem Wege seiner
Gläubiger zu erwehren, den Gedanken, daß der
fällt er auf
junge Herr die Advokatenkniffe der neuen Schule bei So-
krates lernen könnte. Da aber dieser aus Angst vor des
Gedankens Blässe den Vorschlag ablehnt, macht sich der
Alte selbst auf den Weg zu dem in der Nähe liegenden
Haus des Sokrates. Auf sein Klopfen erscheint ein Schüler
und erweckt seine höchste Spannung durch Erzählung einiger
Hauptkunststücke des Meisters. Endlich öffnet sich das
Grüblerhaus und Sokrates wird sichtbar, wie er oben an der
Decke in einem Hängekorbe sitzt. Auf die Frage, was er
tue, erklärt er:
1) Frösche 1491.
2) Vögel 1554.
3) Vögel 1282.
Aristophanes' »Wolken«. 99
I
staltet hat. Während in der ersten Fassung nur die Natur-
j
philosophie und die Sophistik in der Person des Sokrates
j
seinen Lehrer im Kampf mit einem Sophisten darstellte, um
dem Volke den Gegensatz vor Augen zu führen, so wird es
nicht allzu verwunderlich erscheinen, daß Aristophanes ihn
mit der Sophistik auf eine Linie stellte. Sicherlich hat er
1) Bruns a. a. O. S. 199.
106 IX. Der Wirkungskreis.
1) Apol. 18 B.
2) Plat. Apol. 20 Ef.
3) Diog. L. II 37 gibt die Antwort in einem (später erdichteten)
Trimeter
ccvSq&v ancivrcov Z(OKQäxr\g oocpcbratcg,
Suidas s. v. oo<p6? sogar in zwei Trimetern
Gocpbg ZocponXfjg, cocpcorsgog <T EvQinidrig,
ccvSgav de itdvtav Zcongärrig oocfcorazog.
Der delphische Orakelspruch. 107
I glaube, während der Mann nichts wisse und dabei sich ein-
bilde, etwas zu wissen. Dieselbe Erfahrung habe er auch
bei allen andern gemacht, die er auf Veranlassung des Gottes
prüfte. Es stellte sich heraus, daß alle nichts Rechtes wußten,
aber die Männer, die im Rufe hoher Weisheit standen, ge-
rade die beschränktesten waren, während die schlichteren
Leute sich der Belehrung zugänglicher zeigten. Doch fehlte
es allen an Selbsterkenntnis und Klarheit über die Beweg-
gründe ihres Handelns. Davon die Menschen zu überzeugen
J
und sie dahin zu bringen, daß sie selbst sich über ihr Tun
Rechenschaft geben, habe er zu seiner Lebensaufgabe gemacht,
und er glaube damit den Willen des delphischen Gottes zu
erfüllen.
Welche Bewandtnis hat es mit dem Orakelspruch? Es
sind Stimmen laut geworden, welche seine geschichtliche
Wahrheit bezweifeln und ihn für eine Erfindung Piatons er-
!
klären ). Allein die unmittelbar vorangehende Erklärung -)
des Redners, daß er die lautere Wahrheit sagen wolle, die
Bezugnahme auf das Zeugnis des Chairekrates, des Bruders
des damals schon verstorbenen Chairephon, die genaue Be-
zeichnung Chairephons nach seinem Charakter und seiner
politischen Partei, alles dies ist geeignet, die Zweifel an der
Geschichtlichkeit des Orakels zu zerstreuen. Dann erwächst
aber dem Verständnis eine eigentümliche Schwierigkeit. So-
krates sagt, den Ausspruch des delphischen
daß er durch
3
Gottes zu seiner Menschenprüfung angeregt sei ). Aber setzt
nicht umgekehrt das Orakel die Ausübung der Lehrtägkeit
voraus? Sokrates muß sich doch schon bedeutendere Ver-
dienste erworben, muß schon deutliche Proben seiner Weis-
heit abgelegt haben, ehe Chairephon wagen konnte, seine
Anfrage an die Pythia zu richten und ehe die delphischen
Priester die ehrenvolle Erklärung abgaben. Es scheint also,
als ob Piaton das und kausale Verhältnis des Orakel-
zeitliche
spruchs und der Lehrtätigkeit geradezu umgekehrt und die
Folge zur Ursache gemacht habe. So lauten in der Tat fast
alle Ansichten, die über diese Frage geäußert worden sind.
3) Theait. 151 A.
4) Plat. Apol. 21 A.
5) Xen. Mem. II 3.
Im engeren Schülerkreis. 111
j
gewandte und lebenskluge Aristippos, welcher den Genuß
j
zum Lebensprinzip machte. In der Tat eine bunte Reihe
j
merkwürdiger Gestalten, die mit wenigen Ausnahmen ihren
;
besten Lebensgehalt von Sokrates herleiteten und nach seinem
I Tode nichts wollten, als in Wort und Schrift, im Leben und
im Sterben sein geistiges Vermächtnis erfüllen. Das ist nur
erklärlich, wenn wir die Vertraulichkeit und Innigkeit be-
achten, mit der Meister und Schüler verkehrten. Wie er von
seinen Freunden die volle Hingabe forderte, so schenkte er
auch jedem sein ganzes Herz. Er nahm an allen Bestrebun-
gen und Sorgen des einzelnen den lebhaftesten Anteil und
griff in jeder Notlage mit Rat und Tat helfend ein. Er ver-
4
söhnte feindliche Brüder miteinander ), er verschaffte einem
5
Verarmten eine neue Erwerbsquelle ), er veranlaßte die
wohlhabenden Anhänger zur Unterstützung eines Notleidenden 6),
er erörterte mit jungen Freunden die Bedingungen des staats-
männischen Berufs 7 ). Dafür besaß er denn auch das unbe-
schränkte Vertrauen seiner Jünger, die alle ihre Anliegen ihm
ans Herz legten und ihn wie einen Vater verehrten. Um
von diesem Vertrauensverhältnis eine Vorstellung zu ge-
winnen, braucht man nur die liebliche Szene zu lesen, die
5) Mem. II 7f.
6) Mem. II 5, 1.
7) Mem. III 6. 7.
112 IX. Der Wirkungskreis.
5) ibid. I 3 6.
Lehrer und Schüler. 113
1) Xenophon (Mem.
I 6, 14) läßt ihn sagen: »Auch die Geistes-
schätze,welche die alten Weisen uns in Büchern hinterlassen haben,
nehme ich mit meinen Freunden vor, und wenn wir darin etwas
Gutes finden, so holen wir es heraus und halten es für einen
großen Gewinn, uns gegenseitig fördern zu können«. Daß unter
den Weisen hauptsächlich die alten Dichter zu verstehen sind, be-
weist die um 393 erschienene Anklageschrift des Polykrates, gegen
die Xenophon seinen Meister (Mem. I 2, 56 ff.) in Schutz nimmt.
Wir erfahren aus daß Polykrates den Vorwurf
dieser Verteidigung,
gegen Sokrates geschleudert habe aus den namhaftesten
hat, er
Dichtern die schlimmsten Stellen ausgewählt und durch ihre Er-
läuterung seine Anhänger verdorben. —
Über Polykrates wird
später noch zu sprechen sein-
2) 339 Äff.
3) 344 B heißt es tbv xvtiqv ccvtov tbv oXov dis^eÄftcoiiev %ccl
tTjv §ovlr\6iv.
5) ibid. I29 f.
2,
wesen zu sein. Und das ist bei der Art seiner Menschen-
prüfung nicht verwunderlich. Wer den Politikern nachweist,
daß sie zwar in den Augen vieler Menschen und am meisten
in ihren eigenen kluge Leute seien, in Wirklichkeit aber es
nicht sind, wer die Dichter sucht, daß sie
zu überführen
nicht mit klarem Bewußtsein, im Taumel der Be-
sondern
geisterung dichten und auf Grund dieser Kunst vieles zu
wissen glauben, was sie nicht wissen, wer den Handwerkern
vorhält, daß sie durch ihre Fachkenntnisse sich zum Selbst-
bewußtsein und zu der Einbildung verleiten lassen, auch
über die wichtigsten Staatsangelegenheiten ein Urteil zu haben,
der ;muß allerdings dessen sicher sein, daß er manches Sa-
menkorn des Verdrusses und Hasses ausstreut. Und wenn
solche Unterhaltungen nun gar im Beisein der Schüler sich
abspielen und diese dann womöglich anfangen x ), auf eigene
Hand Gespräche anzuknüpfen und die guten Leute bloßzu-
stellen, so war es unausbleiblich, daß sich der Stolz des athe-
1) Plat. Apol. 23 C.
8*
;
X. Die Persönlichkeit.
60. Xenophon macht an
einer Stelle der Memorabilien x )
Bemerkung, daß alle guten Lehrer nicht nur
die vortreffliche
weise Lehren erteilen, sondern auch durch ein vorbildliches
Leben auf ihre Schüler einwirken. So habe Sokrates über
die Tugend und alle Fragen des Menschenlebens stets fesselnd
gesprochen, er habe aber auch selbst als Muster menschlicher
Vollkommenheit allen vor Augen gestanden. Damit sind in
1) I 2, 17.
Volkstümliche Züge. 117
1) Plat. Menon 80 A.
122 X. Die Persönlichkeit.
1
vor Poteidaia ), oder auf der Straße pötzlich stehen blieb,
in ein Hoftor trat und Gedanken
dort sich längere Zeit seinen
2
überließ ). Wenn er so mit einem Problem rang, dann er-
schien ihm der Logos, der Beweis, wie ein lebendes Wesen,
das man festhalten und sorgfältig pflegen das man, ,
1) Vgl. S. 85.
2) Plat. Symp. 175 A. B.
3) Plat. Phaidon 89 C. D.
Sein Daimonion. 123
;
mus, die Überschätzung der Verstandeskräfte, welche ihm das
Wesen des dichterischen Schaffens und überhaupt die Wirkung
der triebmäßigen Kräfte des Menschen verschloß. Er erkannte
i
kein freies Spiel der Phantasie an und unterschätzte die Macht
der irrationalen Kräfte im menschlichen Seelenleben. Diese
j
Einseitigkeit im wesentlichen eine Folge seines eigenen
ist
|
Seelenzustandes. Weil in ihm selbst der Verstand die unbe-
!
dingte Herrschaft ausübte, so gelangte er zu der Ansicht,
daß die Denktätigkeit allein ausreiche, nicht Ge-
nur den
samtinhalt des Wissens zu erzeugen, sondern auch das Wollen
und Handeln zu lenken. Denn die Lehre vom Tugendwissen
;
ist aus der persönlichen Erfahrung des Urhebers geflossen
und hat ihre psychische Wurzel in der vollen Harmonie
zwischen Wissen und Wollen, die den Kern des sokratischen
Wesens darstellt. Lehren und Leben fiel bei Sokrates zu-
sammen sowohl in der äußeren Betätigung wie dem Inhalt
j
nach. Seine Philosophie hat einen ganz persönlichen Cha-
|
rakter, sie ist inneres Erlebnis und spiegelt die Charakter-
züge des Urhebers deutlich wieder.
64. Aber trotz der Herrschaft des Verstandes gab
|
es in Sokrates' Seelenleben eine Macht, die etwas Geheimnis-
j ist sein »Daimonion«.
volles an sich trägt, das Die Deutung
I
diesermerkwürdigen Erscheinung macht einige Schwierigkeit
i
Viele haben darin die Einbildung eines Psychopathen gesehen,
andere die Vision eines Inspirierten, wieder andere hielten
j
sie für einebewußte Erfindung des Philosophen oder wenig-
I
stens für eine Schöpfung seiner Ironie 2 ). Sind auch diese
I
Auffassungen heute abgetan, so glaubt man doch in dem
Daimonion den sicheren Beweis einer mystischen Naturanlage
|
oder wenigstens einer tief religiösen Seelenstimmung und des
I
Glaubens an einen lebendigen, sich ständig betätigenden Gott zu
der Götter oder auch nur als Gabe der Weissagung ange-
j
meldet, auf dem rechten Wege zu sein glaubt, aber mit seinem ;
;
philosophischen Spekulationen fernhielt, in der Meinung, daß
diese Fragen das menschliche Fassungsvermögen überschreiten,
so erkannte er auch das Daimonion als gegeben an und be-
gnügte sich, es mit der Volksanschauung als die Wirkung
einer göttlichen Macht, als etwas Daimonisches hinzustellen.
Diese Auffassung des Sokrates kann uns jedoch nicht der
Verpflichtung überheben, eine natürliche Erklärung des Phä-
nomens zu es vielleicht das Gewissen ge-
versuchen. Ist
), wo er
bald darauf Gelegenheit zu einem Gespräch
inhaltreichen
finden sollte. Das ist nicht die Art, wie sich das Gewissen
zu äußern pflegt. Aber in einer Hinsicht stimmt das Dai-
monion allerdings mit dem Gewissen überein es meldete :
Die Lehre.
XI. Das Prinzip der Sokratik.
65. Als Sokrates sich in die Reihe der geistigen Kämpfer
stellte, standen zwei Parteien einander schroff gegenüber.
|
Die Modernen, Führung der Sophisten, sahen die Auf-
unter
|
klärung der Geister die wichtigste Forderung der Zeit an
als
|
und stellten sich die Aufgabe, die überkommenen Anschau-
I
ungen auf ihre Berechtigung zu prüfen und an dem Maß-
stabe der Vernunfterkenntnis zu messen. Bei dieser Unter-
|
suchung machten sie die Entdeckung, daß die Kulturgüter,
|
Sprache, Sitte, Recht, Staat, welche man als die naturgegebenen
1) Mem. IV 7, 6.
I
gekommen sei. Auch überstiegen die physikalischen Unter-
suchungen das menschliche Erkenntnisvermögen, wie dieUn-
|
einigkeit der Naturphilosophen beweise, von denen dieser
nur eine Welt, jener eine unendliche Zahl von Welten an-
genommen habe, der eine jede Ruhe, der andre jede Bewegung
leugne. Ferner hätten diese Untersuchungen keinen prak-
i
tischen Wert, während die tiefere Kenntnis menschlicher
Lebensverhältnisse für jeden von großem Nutzen sei ). Aus J
j
engherzig umgrenzte, sondern auch die Politik und die Reli-
! gion mit einbegriff, aber doch immer in den Grenzen der
!
Moralphilosophie sich bewegte. Und diese Beschränkung
wird auch in der platonischen Apologie bestätigt. Wenn
hier 2 ) Sokrates sein Lebenswerk schildert, so stellt er sich
ganz als Moralprediger hin, der seine Mitbürger zur Pflege
der geistigen Güter, zur Abkehr von dem Streben nach ma-
teriellem Besitz ermahnt. Selbst wenn er nach Spuren der
Weisheit bei den Politikern, den Dichtern, den Handwerkern
sucht 3 ), forscht er nicht etwa, ob die Männer sich um die
Erkenntnis der Wahrheit bemühen, sondern er sucht zu er-
fahren, ob sie ihre Kunst oder ihr Gewerbe mit vernünftiger
Einsicht und Überlegung betreiben, also die praktische Weis-
heit besitzen. Sind das nicht Beweise dafür, daß Sokrates in
erster Linie sittlicher Reformator gewesen ist und von vorn-
2) Apol. 29 D f.
3) ib. 21 Bf.
;
1) Plat. Apol. 19 C.
Die Grundlegung des Wissens. 135
beruhe und daß Tugend und Wissen eins seien, bildet der
! erste den Kern und das Herzstück der Lehre. Dies erkennt
|
man auch daraus, daß die sokratische Tugendlehre im Grunde
I
nichts anderes als Begriffsforschung ist. Sokrates suchte nicht,
|
wie die Sophistik, durch Anpreisung des tugendhaften Lebens
|
die Menschen auf den Weg der Sittlichkeit zu locken, sondern
!
er entwickelte die Begriffe der Tugenden, in der Überzeugung,
daß das Wissen schon das richtige Handeln nach sich ziehen
werde. Er ist eben stets der spekulative Philosoph, der die
Begriffe aus dem Bewußtsein herausschält und von den daran
haftenden Widersprüchen zu reinigen sucht. Wenn er sich
auf das Gebiet moralischer Betrachtungen beschränkte, so ließ
j
er sich von dem Gedanken leiten, daß er hier am ehesten
die Idee des Wissens verwirklichen und zur Wahrheits-
erkenntnis gelangen könne, weil die ethischen Begriffe einer-
seits als Spiegelungen des allgemeinen Vernunftgesetzes ob-
jektive Wahrheit enthalten, anderseits als Bewußtseinsinhalte
der Denktätigkeit zugänglich seien. Wenn er aber in der
Apologie sich als Moralprediger und Erzieher der Bürgerschaft
schildert, so hebt er aus Rücksicht auf das Verständnis seiner
Zuhörer nur den Inhalt seiner Lehren hervor, läßt aber die
Form oder die Methode unerwähnt.
Und doch ist gerade die Forschungsmethode wie bei
jeder philosophischen Theorie so auch in der Sokratik von
ausschlaggebender Bedeutung. Sokrates hat dem philoso-
phischen Denken eine neue Richtung gewiesen, indem er es
von der Beschäftigung mit der Natur abrief und auf die Be-
trachtung des Subjekts hinlenkte. Dadurch erhielt seine For-
schungsweise den Charakter der Subjektivität, und zwar nicht
nur deswegen, weil die sittlichen Aufgaben des Menschen den
Gegenstand des Nachdenkens bilden, sondern auch deshalb,
weil durch die Erforschung des menschlichen Bewußtseins
die Wahrheit erkannt werden soll. Doch ist die sokratische
Subjektivität etwas ganz anderes als der theoretische Subjek-
tivismus der Sophisten. Während Protagoras nur eine sub-
jektive Wahrheit, d. h. den bloßen Schein gelten lassen wollte,
erklärte Sokrates, daß den Begriffen objektive, allgemein gül-
tige Wahrheit zukomme. Bei ihm ist das Wissen nur inso-
fern subjektiv, als es auf dem Boden des denkenden Subjekts
erwächst, aber insofern objektiv, als es allgemeine, von dem
136 XII. Die Begriffslehre.
1) Metaph. XIII 4. 1078b 27 dvo ydg huv & tig ccv artoSou]
ZaHQarsi diYca'ag rovg t,
1
E7tdY.riY.ov? Xoyovg %<xl rb oq&g&cu
na&6Xov.
Die Allgemeingültigkeit der Wertbegriffe. 137
3
1) Windelband, Geschichte der antiken Philosophie S. 101.
2) Vgl. S. 82.
138 XII. Die Begriffslehre.
1) ibid. 197 A.B. Der Schluß des Dialogs enthält schon pla-
tonisches Lehrgut.
Die induktive Methode. 143
Busse, Sokrates. 10
146 XII. Die Begriffslehre.
j
erstens die Selbstbeobachtung, zweitens
der gegenseitige Ge-
I
dankenaustausch. Das größte Hindernis auf dem Wege zum
begrifflichen Wissen ist die Selbsttäuschung, der geistige
|
Hochmut, der sich im Besitz des Wissens wähnt und des-
halb ein ernstliches Streben nach der Wahrheit nicht auf-
|
kommen läßt. Nur derjenige, welcher von diesem Dünkel
sich freimacht auf Grund einer strengen Selbstprüfung
und
zu dem Bewußtsein des Nichtwissens gelangt, darf hoffen,
den Zugang zum Tempel der Weisheit zu finden. Die Hohl-
heit und Nichtigkeit des Scheinwissens muß aufgedeckt, der
|
Halbbildung muß der täuschende Schleier abgerissen werden,
! ehe der Blick für die Gediegenheit des wahren Wissens sich
öffnet. Erst wenn der alte Schutt fortgeräumt ist, darf man
zur Errichtung des Neubaues schreiten. Aus diesem Grunde
I machte sich Sokrates zum Anwalt des delphischen Gottes
und verkündigte aller Welt das in seinem Tempel ange-
I
schriebene Mahnwort: »Erkenne dich selbst«. Ja, dies Wort
: ist, wie es scheint, geradezu das Leitmotiv der sokratischen
j
Erziehung geworden. Xenophon weiht der Erörterung des
1
Wertes der Selbsterkenntnis ein langes Kapitel ), und Piaton
kennen, und eine hohe Stufe der Weisheit hat schon der-
jenige erreicht, der zum Bewußtsein des Nichtwissens ge-
langt ist.
Doch wird Sokrates von der Skepsis der Sophisten durch eine
tiefe Kluft getrennt. allerdings mit ihnen die Meinung,
Er teilt
1) Symp. 216 A.
2) Plat. Apol. 21 D f. Phaidr. 229 E.
Die Menschenprüfung. 149
1) Vgl. S. 39.
2) Xen. Mem. I 2, 3. Plat. Apol. 33 A.
3) Apol. 19 E. 20 C.
4) Sie heißen nicht (icc&riTcci\ sondern ovvovteg, avvÖLoctQLßovrsg
ccvrß), yvmQLfiOL, 87UtrjdsL0i.
5) Xen. Mem. IV 5, 12. Plat. Apol. 27 A. Theait. 151 E.
Menon 89 E.
6) Plat. Theait. 150C.
150 XIII. Die sokratische Dialektik.
1) Plat. Apol. 21 C.
2) ibid. 29 D. E.
3) ibid. 38 A.
4) ibid. 41 B. C.
Die sokratische Ironie. 151
2) frg. 17 Cr.
3) Das ist Piaton die Bedeutung des Wortes Ironie.
bei
Denn der slqcov Ribbecks Aufsatz im Rh. M. 1876 S. 381) ist
(vgl.
ursprünglich der hohle Schwätzer und betrügerische Schalk, dann
seit Sokrates der, welcher sich unwissend stellt, überhaupt sich
selbst verkleinert, im Gegensatz zum alccgmv, dem Prahlhans und
Aufschneider. Dementsprechend ist Ironie (stQavefa) zunächst das
leere, nichtige Geschwätz, dann die Vorspiegelung der eigenen Un-
wissenheit und allgemein die Selbstverkleinerung und Verstellung.
Daraus wurde die mit herablassender Überlegenheit verbundene
Verspottung, endlich die scheinbare Billigung einer haltlosen,
nichtigen Meinung und die Äußerung des Gegenteils von dem,
was man wirklich denkt Den letzten Bedeutungswechsel hat
schließlich das Wort in der romantischen Schule erfahren, die unter
Ironie das überlegene Spielen mit den Dingen versteht und im
weiteren Sinne das Wort zur Bezeichnung der Lebensansicht ge-
braucht, der das ganze Leben nichts als eine »schöne, genialische
Täuschung, ein herrliches Schauspiel« (Novalis) ist.
4) Plat. Menon 80 A.
152 XIII. Die sokratische Dialektik.
|
Gimpel auf den Leim zu locken, ein Trugbild und Gaukel-
|
spiel, die langen Reden der Sophisten dienen zur Lähmung,
nicht zur Weckung der Geisteskräfte. Die Wahrheit läßt sich
nur auf dem Wege der Selbstbesinnung, Selbsterkenntnis er-
forschen ; diese aber wird durch einen Gedankenaustausch in
hohem Grade gefördert.
75. Diese eigentümliche Form der wissenschaftlichen
!
Untersuchung erhielt in sokratischen Kreisen die Bezeichnung
Dialektik. Das Wort, welches vor Piaton und Xenophon
nicht vorkommt, bedeutet zunächst nichts weiter als die Un-
1) Xen. Mem. IV 1, 2.
156 XIII. Die sokratische Dialektik.
1) Plat. Prot. 34 D.
2) Plat. Menon 77Cff.
158 XIV. Die Tugendlehre.
j
besteht, daß der Mensch sich zwar bewußt ist, daß er Böses
vorhat, aber unter dem Zwange der Leidenschaft es doch
tut. Und Aristoteles gibt die sokratische Ansicht richtig wieder,
5
wenn er sagt ): »Es wäre arg, so meinte Sokrates. wenn dort,
1) Plat. Kriton 48 C.
2) ibid. 44 B.
3) Plat. Hipp. min. 372 Äff.
Der Ursprung der Theorie. 161
»Wenn es heißt:
Kein Mensch ist schlecht mit Fleiß noch glücklich
wider Willen,
so ist, wie es scheint, das erste als falsch, das zweite als
1) Eth. Nie. III 7. 1113b. 13. Der von Aristoteles zitierte Vers
geht auf Epicharm zurück; vgl. Diels, Vors. I 3 122. Noch schärfer
als Aristoteles drückt sich der Verfasser der Großen Ethik (A 9.
1187a 7) aus in den Worten: Sokrates sagte, es läge nicht in
unserer Macht, gut oder schlecht zu sein; denn wenn jemand einen
fragte, ob er lieber gerecht oder ungerecht sein wollte, so würde
niemand die Ungerechtigkeit wählen. Ebenso verhält es sich mit
der Tapferkeit und Feigheit und auch mit den übrigen Tugenden.
Es ist also offenbar, daß wenn Menschen schlecht sind, sie es
nicht mit freiem Willen sein können. Daraus erhellt, daß die
Menschen auch nicht mit freiem Willen gut sind«.
Der Vorwurf des Determinismus. 163
|
auch etwas Schlechtes sein kann. Erst dort, wo gründliches
j
Wissen, klare Erkenntnis herrscht, fällt das subjektiv Gute
mit dem objektiv Guten zusammen. Dies Wissen aber sich
anzueignen, ist die höchste sittliche Forderung, die an jeden
Menschen gestellt wird. Darum ist jeder selbst schuld an
der falschen Entscheidung der Vernunft und der aus dem
! Irrtum entspringenden Verfehlung. Wer sich ehrlich um die
i
Erkenntnis der wirklichen Lebensgüter bemüht, wird das
I
Rechte nicht verfehlen. Denn das Wissen, dem Sokrates in
I
dem psychischen Organismus eine so große Macht zuerkennt,
;
hat einen ganz eigenartigen Charakter. Es ist seiner Form
|
nach nicht ein angelerntes, sondern ein selbst erworbenes,
I nicht ein gedächtnismäßiges, sondern auf eigenem Nachdenken
i
beruhendes, nicht ein äußerliches und zusammenhangloses,
|
sondern ein begriffliches und systematisches Wissen, ein
Wissen, das das ganze menschliche Bewußtsein mit seiner
Kraft erfüllt und durchdringt, das zu einer heiligen Über-
zeugung und zu einem unverlierbaren geistigen Besitz ge-
worden ist. Seinem Inhalt nach aber umfaßt dies Wissen
alles, was zu einer vernünftigen Gestaltung des Lebens, zur
4) Joel a. a. O. I 315.
Die Erziehungstheorie. 165
1) Mem. III 9, 4.
2) Charm. 174C.
3) Prot.332 A.
4) Phaidr.237 E. Symp. 196C. Staat III 389 D.
5) Phaidon 69 A.
166 XIV. Die Tugendlehre.
I
Wie derjenige, der das Wesen
der Arzneikunde kennt, damit
zugleich Arzt so auch
ist, jeder gerecht, der den Begriff
ist
Mannes sei eine andere als die des Weibes, und wieder anders
sei die des Kindes, des Greises, des Sklaven, ja jedes Unter-
nehmen erfordere eine andere Tugend. Demgegenüber weist
Piaton *), hier ganz im somatischen Geiste sprechend, die
Einheit des allgemeinen Tugendbegriffs und die Gleichheit
der Tugend bei allen Menschen nach. Aristoteles tadelt diese
Anschauung 2 ) und meint, es sei zwar anzunehmen, daß alle
an der Tugend teilhaben, aber nicht auf gleiche Weise. Viel-
mehr zeige jeder, der Mann, das Weib, der Knabe, der Sklave,
eine eigentümliche Form der Tugend, und man dürfe nicht
3
mit Sokrates sagen ), daß die Besonnenheit des Weibes die-
selbe sei wie die des Mannes oder die Tapferkeit oder Ge-
rechtigkeit, sondern die Tugend des Mannes offenbare sich
mehr im Herrschen, die des Weibes mehr im Gehorchen.
Wir sehen, wie die Auffassung der Tugend wechselt, je nach
dem das logische oder das ethische Moment schärfer betont
wird. Sokrates faßte ausschließlich die logische Seite ins Auge,
gelangte aber auf diesem einseitigen Standpunkt dazu, bei den
verschiedenen Ständen und Geschlechtern mehr das Gleiche,
da? allgemein Menschliche, als die Unterschiede hervorzu-
heben. Von war es nur noch ein Schritt bis zu
hier aus
der daß auch die Sklaven Anspruch auf die
Erkenntnis,
natürlichen Menschenrechte haben, und daß dem weiblichen
Geschlechte dieselbe gesellschaftliche Stellung zukomme wie
dem männlichen. Die erste Folgerung hat die kynische Schule
gezogen und hat in Übereinstimmung mit manchem Sophisten 4 )
die Sklaverei für eine naturwidrige,nur auf dem Herkommen
beruhende Einrichtung angesehen 5). Die somatischen Gedanken
über die geistigen Anlagen des weiblichen Geschlechts haben
Xenophon und Piaton, jeder in seiner Weise, weiter ent-
6
wickelt Der wackere Ehemann Xenophon verlangt, daß
).
damit die Ehe die Form einer wirklichen Lebens- und Ar-
beitsgemeinschaft erhalte, welche nur dann möglich sei, wenn
beide in ihrem Wirkungskreise, der Mann draußen, die Frau
!
im Hause, Hand in Hand arbeiten ). Piaton bildet die soma-
tische Auffassung bis zum Extrem fort. Er beschränkt den
Unterschied der Geschlechter auf die körperlichen Eigen-
schaften und gelangt zur völligen Frauenemanzipation, indem
er in seinem Vernunftstaat die Frauen erst an der Erziehung
der Männer und dann an allen Staatsgeschäften teilnehmen
2
läßt ).
1) Oik. 7, 22.
2) Staat V 452 E ff.
Entgegengesetzte Auffassungen. 171
J
daher die sokratische Ethik als individuellen Eudämonismus
2
dar ), erkannten aber dabei an, daß seine im Leben bewährte
|
Sittlichkeit weit über den Inhalt der Lehre hinausgehe. Dazu
|
kommen noch die Auffassungen derer, welche die Darstellung
j
Piatons und Xenophons zu vereinigen suchen. Sie haben
entweder sich zu der Erklärung geflüchtet, daß Xenophon die
I
exoterische, für das unwissenschaftliche Publikum bestimmte
Lehre mitteile, Piaton dagegen die esoterische, im engeren
Form der Ethik darstelle 3 oder sie
Schülerkreis vorgetragene ),
!
ganz entgegengesetzter Ansichten gemacht habe, ist bei der
Klarheit und Schärfe seines Denkens und bei der Energie
seiner Schlußfolgerungen nicht annehmbar. Gewiß, er hat
kein geschlossenes Moralsystem aufgebaut; denn da er seine
i
Gedanken nicht schriftlich niederlegte, so fehlte ihm der
|
äußere Anlaß, seine sittlichen Überzeugungen zu einem ab-
|
gerundeten Ganzen zusammenzufassen. Aber wenn sein Cha-
I
rakter auch nur einigermaßen dem Bilde entspricht, das
Piaton und Xenophon von ihm entworfen haben, so müssen
wir annehmen, daß er jedenfalls über die leitenden Gedanken,
|
lieh und angenehm, weil es gut ist d. h. der Würde des Ver-
nunftwesens entspricht. Die Vertreter aller drei Richtungen
setzen also die Einheit der drei Werte voraus, aber das
I
l
Prinzip des sittlichen Handelns ganz verschieden,
ist bei ihnen
I
bei dem einen der Lebensgenuß, bei dem andern der äußere
I
Nutzen, bei dem dritten die geistige Vervollkommnung. Es
ist demnach falsch, wenn man aus der Gleichsetzung von
1) Heinze a. a. O. 751.
174 XIV. Die Tugendlehre.
um Wissen als
das das Wesen der Tugend darzutun. In
einem Falle *) macht er sich den Grundsatz der Volksmoral
zu eigen, wonach das Glück in einem angenehmen, sorg-
und schmerzlosen Leben besteht, und weist nun nach, daß
auch auf diesem Standpunkt das Wissen der entscheidende
Lebensfaktor ist. Denn da die dauernde Lust wertvoller ist
als die augenblickliche, das Verhältnis der Lustempfindungen
aber nur durch das Nachdenken festgestellt werden kann, so
ist die richtige Wahl des Angenehmen und Lusterregenden
lediglich eine Folge der verständigen Überlegung und klaren
Einsicht, die falsche Wahl also nichts als Unwissenheit. Diese
Darlegung hat man allen Ernstes als Beweis dafür angeführt,
daß Sokrates das sittliche Handeln auf ein Berechnen und
Abwägen des mehr oder minder Angenehmen zurückführt,
seine Ethik also ein auf kluger Berechnung beruhendes
System des Lebensgenusses und der Glückseligkeit sei 2). Eine
solche Interpretation war nur bei völliger Verkennung der
Aufgabe, die Piaton sich in dem Dialoge gestellt hat, mög-
lich. Es handelt sich hier nicht darum, den Endzweck alles
sittlichenHandelns nachzuweisen, sondern das Wissen als die
unerläßliche Voraussetzung und Grundlage aufzuzeigen, auch
auf dem Standpunkt des volkstümlichen Eudämonismus. Die
wahre Anschauung des Sokrates über das Verhältnis der Be-
griffe Gut und Angenehm finden wir im Dialog »Gorgias<
durch den Satz ausgedrückt, daß die Verwirklichung des
Guten das höchste Lebensziel sein muß; denn das Gute ist
stets auch angenehm, nicht aber das Angenehme immer
3
gut ).
1) Mem. IV 6, 8. 9.
2) ibid. III 8, 8.
3) ibid. IV 2, 31 f.
7) Laches 192 D.
8) Menon 87 E.
176 XIV. Die Tugendlehre.
!
Politiker auftrete?« Durch diese Staatsgesinnung unterschied
er sich wesentlich von den Sophisten, mit denen er in der
individuellen Richtung der ethischen Denkweise übereinstimmte.
Denn diese Richtung ist nicht zufällig, nicht künstlich ge-
schaffen, sondern ein Ergebnis des Zeitgeistes. Nachdem der
Mensch gewissermaßen sich selbst entdeckt hatte, als er in
sich eine Welt im Kleinen fand, wandte er sein Augenmerk
natürlich dieser neuen Welt zu und suchte die Normen seines
Verhaltens festzustellen. So trat an die Stelle der primitiven
Sozialmoral, die den Menschen nur als Element der Gemein-
schaft betrachtet hatte, die Individualmoral, die ihn isolierte
1) Mem. IV 2, 34.
Busse, Sokrates. 12
178 XIV. Die Tugendlehre.
2) IV 2, 34.
3) I 6, 10.
4) IV 8, 6.
5) 1 6, 10.
6) I 2, 4.
7) I 4, 13
8) I 3, 53, IV 3, 14.
9) III 9, 5, IV 5, 6.
Der idealistische Charakter der Ethik. 179
1
!
Darstellung beweisen. In der Apologie )
spricht Sokrates
die Überzeugung aus, daß es des Mannes erste Pflicht sei,
I für die geistige und sittliche Bildung zu sorgen, und er stellt
dabei die Vertretung dieses Grundsatzes ausdrücklich als den
Inhalt seiner Lebensarbeit hin: »Solange ich atme und Kraft
habe, werde ich nicht aufhören, euch zu ermahnen und zu-
rechtzuweisen, indem ich jeden, dem
ich begegne, in der ge-
wohnten »Du, mein Lieber, der du Bürger
Weise anrede:
Athens bist, der großen, durch Intelligenz und Willenskraft
gleich ausgezeichneten Stadt, schämst du dich nicht, nach
Geld und Gut, nach Ruhm und Ehre zu trachten, aber das
Streben nach Weisheit und Wahrheit und nach allen Schätzen
der Seele außer acht zu lassen?«.
Der Wahrheit dient man aber am besten, wenn man
allen Gefahren zum Trotz an den Forderungen der Ehre und
I
Gerechtigkeit festhält und auf seinem Posten ausharrt, auch
wenn der Tod einem droht 2 ). Man werfe nicht ein, daß
dies Funken platonischen Geistes, nicht Bekenntnisse nüchterner
j
sokratischer Denkweise sind. Hat nicht Sokrates durch seinen
Opfertod den authentischen Beweis geliefert, daß er
wirklich solche sittliche Anschauung hegte? Was berechtigt
uns zu dem Zweifel daran, daß er den Grundsatz, welchen er im
Leben und im Sterben bewährte, auch ausgesprochen habe?
Gewöhnlich sind bei den Menschen die sittlichen Forderungen
in der Theorie strenger als in der Praxis, und bei Sokrates
sollte der umgekehrte Fall eingetreten sein? Nein, vielmehr
ist uns sein Leben eine volle Bürgschaft für den idealistischen
1) Apol. 29 D.
3
2) ibid. 28 B.
3) 47 D.
12
180 XIV. Die Tugendlehre.
Seele; denn diese ist bei weitem wertvoller als der Körper.
Nicht das Leben an sich hat ja einen Wert, sondern nurjdas
sittliche Leben oder was dasselbe ist, das löbliche und ge-
rechte Leben ). Darum ist das Unrechttun unter allen Um-
x
Fällen für erlaubt gehalten habe. Nun hören wir von Ari-
4
stoteles ), Sokrates habe die Einladung des Königs Archelaos
von Makedonien mit der Begründung abgelehnt, daß es
schimpflich sei, wenn man nicht Gutes mit Gutem ebenso
wie Böses mit Bösem vergelten könne. Die Wahrscheinlich-
keit, daß Piaton diesen angeblichen Ausspruch des Sokrates
1) ibid. 48 B.
2) ibid. 49 E.
3) ibid. 46 B.
4) Rhet. B. 23. 1398 a 24.
5) Piaton: mg ovdsnors ög&cög t%ovtog ovrs tov ccSl%slv ovts
TOV ävtCc8l%BLV OÜTS KCCHÜg TtÖ.6%0VXCt CC[lVV£6dcU CCVTldQCbVXCt XtfXüj».
Aristoteles: vßqiv yccg IqpTj slvcu rb pr] dvvctßQ'ai cc{ivvuad ai öfiotag
,
6) Mem. II 3, 14.
Der idealistische Charakter der Ethik. 181
1
! andern billigt )Meinung, daß es das Zeichen eines
er die
tüchtigen Mannes wenn
er die Freunde im Wohltun, die
sei,
|
widerspiegeln, ja geradezu eine seiner Lieblingssentenzen zum
2
j
Ausdruck bringen ). Da kann kein Zweifel obwalten, daß
hier nicht Sokrates, sondern Xenophon das Wort führt.
Fällt also das Zeugnis Xenophons fort, so sind wir für
unsere Entscheidung lediglich auf innere Gründe angewiesen.
I
Nun ist zu beachten, daß es sich bei dem Ausspruch allein
um die Vergeltung empfangener Wohltaten handelt. Der die
Einladung ablehnende Sokrates will sagen, daß es schimpflich
sei, Wohltaten nicht erwidern zu können, und setzt die Ver-
1) ibid. II 6, 35.
2) Außer den beiden Stellen der Memorabilien finden wir den
Satz noch im Hier. 2, 2, in der Kyrop. I 4, 25. V 3, 32. VIII 7, 28,
in der Anab. I 9, 11 angeführt. Auch Gorgias scheint das Wort
gern gebraucht zu haben. Er zitiert es zweimal im Palamedes
(18. 25), und Menon bezeugt in dem gleichnamigen platonischen
Dialog (71 E), daß Gorgias einen Beweis der Tüchtigkeit darin
gesehen habe, in der Politik den Freunden Gutes, den Feinden
Böses zu erweisen. Endlich ist Lysias zu erwähnen, der das Wort
dreimal (Pro mil. 14. 20 Contra Andoc. 7) verwendet.
3) Vgl. Bruhn zu Soph. Ant. 40.
4) fr. 12, 5 Cr.
182 XIV. Die Tugendlehre.
sich nicht auf Sokrates, sondern auf Piaton beziehen *). Da-
gegen hat Sokrates die Identitätder drei Lebenswerte Gut,
Nützlich und Angenehm mehrfach zum Ausdruck gebracht.
Denn wahrhaftnützlich und angenehm ist das, was der
Förderung unserer Glückseligkeit dient oder zur Steigerung
unserer Vollkommenheit beiträgt. Dies ist aber zugleich das
Gute. Sokrates kennt demnach nicht den Widerstreit zwischen
Neigung und Pflicht, noch weniger den Rigorismus, der
i einer aus Neigung entsprungenen guten Handlung nur Legalität,
nicht Moralität zuerkennen will. Seine Ethik zeigt nähere
Verwandtschaft mit der Leibnizschen Tugendlehre als mit der
Kantschen Pflichtenlehre.
93. Deshalb liegt ihm die Askese völlig fern; er ver-
schmäht keineswegs den heitern Lebensgenuß. Freilich ver-
steht er die Grenzen inne zu halten und geht niemals so
weit, daß die Klarheit seines Denkens getrübt und seine
Selbstbeherrschung erschüttert wird. Die geistige Freiheit
zu wahren, verlangt schon die Selbstachtung. Daher seine
Genügsamkeit und Bedürfnislosigkeit 2 ). Je weniger der Mensch
auf die äußeren Güter Wert legt, desto mehr macht er sich
von der Außenwelt unabhängig, desto mehr kann er sich der
geistigen Tätigkeit widmen. Wer seine beste Kraft der Be-
friedigung leiblicher Bedürfnisse opfert und ein Spielball launen-
hafter Antriebe wird, verzichtet auf die innere Freiheit, das
schönste Vorrecht des Menschen, und erniedrigt sich selbst
zum Der Hinweis auf die knechtische Gesinnung
Sklaven.
des von beherrschten Mannes scheint von
blinden Trieben
Sokrates gern angewandt und bei den freiheitsstolzen Athenern
sehr eindrucksvoll gewesen zu sein. Bei Xenophon sieht es
1) Mem. I 1, 16.
2) IV 2, 23. 5, 3
352 B. Die Stelle hat Aristoteles
3) Prot. Eth. Nie. VII 2.
1145 b 23 im Auge.
4) Symp. 215 E.
5) Plat. Alk. I 122 A.
6) Metaph. XIII 4. 1078 b 19.
Das Familienleben. 185
|
geistigen Anlagen entfalten kann, sondern auf den Verkehr
I
mit den Mitmenschen angewiesen ist. Und zwar sind es
mehrere konzentrische Kreise, mit denen er in Wechselwirkung
steht, die Familie, der Freundeskreis, der Staat, die Religions-
gemeinschaft. Welche Ansicht hatte Sokrates über das Ver-
halten des Einzelnen innerhalb dieser verschiedenen Sphären?
Die sittliche und kulturelle Bedeutung der E h e ist ihm fremd
geblieben. Er sah darin weiter nichts als eine Veranstaltung
zur Kindererzeugung und Erhaltung des Menschengeschlechts.
Das dürfen wir wohl)
glauben. Und wahr-
Xenophon 1
1) Mem. II 2, 4.
2) Plat. Apol. 34 D.
3) Plat. Phaidon 116B.
186 XV. Die sokratische Sozialethik.
1) Mem. II 3.
2) Mem. II 2.
3) Vgl. S. 101.
4) I 2, 49.
5) 9A. 15 D.
Die Freundschaft. 187
I
Strebens, der Selbstvervollkommnung. Die Wertschätzung der
Freundschaft ist also auf dem Boden der sokratischen Begriffs-
und Tugendlehre erwachsen, und sie ist vielleicht die schönste
Blüte, die diesem Boden entsprossen ist. Das Ideal, das den
I
Athenern immer an den Panathenäen beim Vortrag der Ilias,
dem Hohenlied der Freundschaft, vor die Seele trat, das ihnen
Euripides in der Taurischen Iphigenie durch das Freundespaar
Orest und Pylades auf der Bühne verkörperte, das durch
die Gruppe des Harmodios und Aristageiton in engster Ver-
bindung mit dem Freiheitsideal an einer Ecke der Agora
ihnen vor Augen gestellt wurde, hat hier seine wissenschaft-
liche Begründung und was vielleicht noch mehr gilt, in einem
Kreise von gleichgesinnten Männern seine praktische Bewäh-
rung gefunden. Die Aufgabe, welche damit der Meister ge-
löst war ungemein erschwert durch die damals weit
hat,
5) II 6, 38 39.
6) II 6, 19.
Die Freundschaft. 189
1) 210 B.
2) 214 B.
3) 215 E.
4) 218A.
190 XV. Die sokratische Sozialethik.
auf Erden ist nur ein Schattenbild dessen, was wahrhaft und
absolut gut ist, was den höchsten Lebenszweck und den alles
umfassenden Gegenstand Sehnsucht bildet.
unserer Wenn
also Naturen, die verwandt und verschieden sind,
zugleich
durch freundschaftlichen Verkehr sich gegenseitig zu ergänzen
und zu fördern suchen, so tun sie es in dem gemeinsamen
Aufblick nach dem höchsten Gut. Und dies gemeinsame
Streben nach der Verwirklichung der Idee des Guten ist der
Wesenskern der wahren Freundschaft.
Daß diese Gedankenschöpfung Piatons sich von den so-
matischen Dialogen weit entfernt und nahe Verwandtschaft
mit dem Symposion aufweist, liegt auf der Hand. Ebenso ist
ersichtlich, daß die Grundlage, auf der sich die Gedanken
aufbauen, sokratischen Ursprungs ist. Aber wer wird es
wagen, hier mit kritischer Sonde sokratisches und platonisches
Geistesgut zu scheiden? Das ist eine jener Aufgaben, denen
gegenüber wir bescheiden nicht nur das ignoramus, sondern
auch das ignorabimus bekennen müssen.
96. Als Athener hat Sokrates sich auch mit der Staats-
idee eingehend beschäftigt. Für den Sophisten, der keine
Heimat hatte, mochte die Frage nach der sittlichen Bedeutung
des Staates unerheblich sein, dem Athener, dessen Staat in alle
Lebensverhältnisse der Bürger gebieterisch eingriff, trat sie auf
Schritt und Tritt entgegen. Wenn nun
schon die Sophisten
über die Berechtigung des Staates und die Grenzen seines
Machtbereichs Betrachtungen anstellten, so war es für Sokrates
geradezu praktisches Bedürfnis, sich mit den schwebenden
Problemen Denn er war ein echter
auseinanderzusetzen.
Sohn seines und seiner Zeit.
Volkes Dem Athener des
5. Jahrhunderts aber war sein Staat etwas Heiliges und Un-
antastbares. Er lebte und starb für den Satz, daß das, was
die Gesetze gebieten, gerecht sei Und als Sokrates, trotz-
3
1) Schwartz, Charakterköpfe der ant. Lit. I 52.
Die Staatsidee in Athen. 191
j
stellten unter Führung des Hippias dem
den positiven, in
|
Menschen angeborene Recht gegenüber und erklärten, daß
die Staatsgesetze nichts weiter als willkürliche Menschen-
|
Satzungen seien, deren Geltung nur soweit reiche, als sie
j
dem natürlichen Rechte nicht widersprechen. Wo das positive
;
und das natürliche Recht miteinander in Widerstreit geraten,
da hat nach sophistischer Auffassung das
Recht natürliche
f
unbedingt den Vorrang. Allein der Begriff des natürlichen
j
Rechtes ist sehr unbestimmt und vieldeutig. Man hat dar-
! unter die allgemeinen Menschenrechte verstanden, die durch
1 die bestehende Gesellschaftsordnung eine unberechtigte Be-
schränkung erfuhren. Man hat aber auch darin die Freiheit
des Einzelnen in der rücksichtslosen Wahrnehmung persön-
|
licher Interessen gesehen. Denn der Staat, die Schöpfung
I
kluger Menschen, schien nur um der Einzelwohlfahrt willen
da zu sein. Als die höchste Pflicht galt die Selbsterhaltung,
|
dann die Sorge um die Familie, erst an dritter Stelle stand
der Staat. Bei einer Kollision zwischen dem Staatsinteresse
und dem Vorteil des Einzelnen hat danach jeder Bürger das
|
Recht, den Staatsgesetzen den Gehorsam zu versagen und sich
auf alle Weise ihren Organen zu entziehen. Gegen diese
|
gefährlicheTheorie hat Sokrates die alte athenische Staats-
i
gesinnung wieder zu Ehren gebracht und in Lehre und Leben
1) Kriton 51 BC.
2) Kriton 52 A.
3) Mem. II 1, 12 ff.
Sokrates' Staatsanffassung. 193
I
Staat leben müsse, sei es als Regierender, sei es als Regierter.
|
Er versäumt keine Gelegenheit, die Aufgaben des praktischen
I Staatsmanns zu erörtern, Unbefähigte vor der Laufbahn zu
l warnen, Befähigte dazu anzuspornen Denn die Staatskunst
j
erscheint ihm als die höchste aller Künste, sie verdient die
königliche Kunst genannt zu werden 2 ). Sie erfordert einen
j
Mann, der gründliche Sachkunde mit Selbsterkenntnis ver-
bindet. Denn Schutz und Sicherheit der Bürger, überhaupt
i
ihre Wohlfahrt, hängt von dem Staate, dem sie angehören,
ab 3 ). So hat Sokrates über das Verhältnis des Einzelnen zum
Staate gedacht und diese Grundsätze nicht nur in seiner
Lehre vertreten, sondern auch im Leben und im Sterben be-
ll
währt.
Um ist die Beantwortung der Frage,
so dringender aber
wodurch den Vorwurf unpatriotischer Haltung zuge-
er sich
I zogen hat. Denn wenn diese Beschuldigung wegen der streng
;
gewahrten Amnestie auch nicht in der Anklage zum Ausdruck
I kam, so ist sie doch im Volke verbreitet gewesen. Das be-
weist die Rechtfertigung seines politischen Verhaltens in der
I
1) ibid. III 6, 7.
2) ib. IV 2, 11.
3) II 1, 15. III 7, 9.
4)Es gibt nichts Törichtigeres als die Überlieferung (Cic.
Tusc. V. 37, 108), daß Sokrates auf die Frage, woher er stamme,
geantwortet habe, er sei ein Weltbürger. Hier liegt jedenfalls eine
Verwechselung mit Diogenes vor, von dem dasselbe erzählt wird
(Diog. L. VI 63).
Busse, Sokrates. 13
194 XV. Die sokratische Sozialethik.
1) Apol. 31 E.
2) Plat. Kriton 52 E.
3) Xen. Mem. III 9, 10. Plat. Polit. 297 E.
Sokrates' Staatsauffassung. 195
I
dankenrichtung der Aufklärung lag. Hatten doch schon die
Sophisten die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Vorbil-
dung für die Staatslaufbahn und ihre Dienste für
erkannt
J
diesen Zweck angeboten. Aber wie tief ist trotzdem die
Kluft zwischen den Sophisten und Sokrates! Das Bildungs-
i
motiv ist dort die Überlegenheit des Einzelnen, hier die Wohl-
j
fahrt des Ganzen, das Bildungsziel dort die geistige Gewandt-
heit und Schlagfertigkeit, hier staatsmännisches Wissen und
sittliche Kraft, das Bildungsmittel dort die Rhetorik, hier die
2
Begriffsphilosophie ).
4
1) Zeller, Phil. d. Gr. II a 170.
13
196 XVI. Sokrates' Gottesglaube.
98. Der Staat warf sich gegen den Aufklärer zum Hüter
des Götterglaubens auf. Hat Sokrates ihm Anlaß zum Ein-
schreiten gegeben? Man hat neuerdings versucht, auf Grund
der Darstellung in den aristophanischen »Wolken« unsern
Philosophen zum Gottesleugner, zum radikalen Atheisten zu
stempeln und ist somit unduldsamer als die Ankläger ge-
wesen, die ihm nur Nichtachtung der vom Staate anerkannten
1
Götter vorwarfen ). Aber kann jemand die Frömmigkeit zu
den Tugenden d. h. zu den Grundpfeilern des sittlichen Lebens
rechnen, wenn er ihr Objekt, die Gottheit, nicht anerkennt?
Und doch gehört zu den am besten bezeugten Nachrichten
die Überlieferung, daß Sokrates die Frömmigkeit auf eine
Linie mit der Gerechtigkeit, und
Weisheit, Besonnenheit
Tapferkeit stellte und Hauptformen der Tugend
hierin die fünf
erblickte. Und wie bei den übrigen Tugenden suchte er auch
das Wesen der Frömmigkeit begrifflich zu erfassen und fest-
zustellen, was in eigentlichem Sinne fromm und was gottlos
2
sei ). Die von ihm gefundene Begriffsbestimmung blieb aller-
dings zunächst an der Oberfläche haften, wenn sie die Fröm-
migkeit als die Kenntnis dessen, was den Göttern gegenüber
3
sich gebührt ), hinstellte und diese Tugend dadurch in ein
näheres Verhältnis zu der Gerechtigkeit brachte, welche in
dem richtigen Verhalten gegen die Menschen bestehe 4 ). Aber
Sokrates hat sich auch damit nicht begnügt, sondern das
Wesen tiefer zu erfassen versucht.
der Gottesverehrung Er
erkannte,daß es auf die äußere Form nicht ankommt, und
wies gern auf eine Erklärung der Pythia hin, welche auf die
Frage, wie man die Götter verehren solle, die Antwort er-
'
teilte, daß es am
beim Gottesdienst der heimischen
besten sei,
1) Mem. I 3, 1. IV 3,6.
2) ibid. I 3, 2 ff.
5) Lach. 198 E.
198 XVI. Sokrates' Gottesglaube.
1) Anab. III 5.
2) Mem. I 4, 8. IV 3, 17.
3) Euthyphr. 14 C. E.
Die rechte Gottesverehrung. 199
I
und die Menschenähnlichkeit der Volksgötter ausgesprochen ),
der andere geäußert hat 3 ), Homer und Archilochos verdienten
aus den Preiswettkämpfen verwiesen und mit Ruten gestrichen
zu werden, weil sie den Göttern Unwürdiges anhängten. Auch
von der damals üblichen allegorischen Deutung der Götter-
mythen will Sokrates nichts wissen. Er erklärt 4 ), daß er für
solche Spielereien keine Zeit habe; denn er sei immer noch
nicht zur Selbsterkenntnis gekommen, und es sei lächerlich,
i
wenn jemand, der sich selbst nicht kennte, über Dinge nach-
|
denke, die ihn nichts angehen. Theologische Spekulationen
lagen ihm noch ferner als naturwissenschaftliche. Wie er
in Kultusfragen empfahl, sich nach dem Herkommen zu richten,
so legte er auch der Glaubenssatzung keinen Wert bei. Eine
Rechtgläubigkeit, Gesinnung verband,
die sich mit roher
forderte seinen Spott heraus. Als einer unter Verleugnung
des kindlichen Gefühls den eigenen Vater wegen fahrlässiger
Tötung gerichtlich verfolgte und in diesem unnatürlichen Vor-
der größte,
Nicht an Gestalt vergleichbar den Sterblichen noch an Ge-
danken.
Ganz ist Auge, ganz Ohr und ganz Gedanke sein Wesen.
Immer am gleichen Ort verharrt er ohne Bewegung,
Und es kommt ihm nicht zu, bald dahin bald dorthin zu
gehen.
Mühelos schwingt er das All mit seines Geistes Ver-
mögen 2
),
an die Götter gerichtet hat, daß er unter den Schauern des Todes
seinen Freund Kriton aufgefordert hat, dem Asklepios einen
Hahn zu opfern, zum Zeichen dessen, daß er von der Krank-
heit des Erdenlebens genesen und von den Fesseln der Kör-
4
perlichkeit befreit sei ). Es ist wohl glaublich, daß er in der
1) Plat. Euthyphr. 15 D.
2) Nestle, Vorsokr. 112.
3) frg. 5. 9. 3. 94 (Diels).
4) Plat. Phaidon 118A.
Teleologische Vorstellungen. 201
Sonne eine göttliche Macht sah und sein Tagewerk mit einem
i
Gebet an Helios begann ). Erinnern wir uns, mit welcher
l
j
Schärfe er sich gegen die Meinung des Anaxagoras, daß die
j
Sonne ein Stein sei und der Mond aus Erde bestehe, in der
2
|
Apologie ) ausspricht, und denken wir daran, daß Sokrates'
I
Lehrer Archelaos und dessen Geistesgenosse Diogenes von
!
Apollonia den Ursprung aller Bewegung und alles Lebens in
i
den höchsten und reinsten Luftschichten, insbesondere in der
I
Sonne suchten, so dünkt es nicht unwahrscheinlich, daß So-
I
krates in den Gestirnen göttliche Mächte oder wenigstens be-
I
sonders augenfällige Erscheinungsformen der Gottheit erblickt
|
hat. Hat doch schon Anaximenes, an den die späteren An-
|
hänger der jonischen Schule anknüpfen, die Gestirne als
3
|
Götter verehrt ), und noch Piaton betrachtete die Himmels-
körper als die edelsten und vollkommensten aller lebenden
Geschöpfe, ja als göttliche Wesen 4 ). Sollte Sokrates, der der
i
von der Göttlichkeit der Natur-
volkstümlichen Vorstellung
kräftedoch um vieles näher steht als Piaton, dem naiven
|
Glauben schon entwachsen gewesen sein?
100. Wir würden nun über die Gottesvorstellung des
j
Sokrates weit genauer unterrichtet sein, wenn wir zwei Kapitel
i
der xenophontischen Denkwürdigkeiten, in denen dem Sokrates
1 ein breit ausgeführter teleologischer Beweis für das Dasein
und die Wirksamkeit Gottes in den Mund gelegt wird, wirk-
l
lieh auf ihn zurückführen dürften. In dem einen Kapitel 5
)
I
sucht er aus der zweckmäßigen Einrichtung des menschlichen
6
|
Organismus, in dem andern ) aus dem tief durchdachten Bau
|
des Weltalls die Macht, Weisheit und Güte der Gottheit dar-
zutun. Dort wird von dem Satze ausgegangen, daß ein be-
j
seeltes und zweckmäßig gestaltetes Naturwesen auf einen
|
denkenden Urheber hinweist. Nun ist aber der Mensch ein
nach Zweckbegriffen geschaffener Organismus. Schon die
I
körperlichen Eigenschaften, die aufrechte Haltung, dieGeschick-
i
lichkeit der Hände, die kunstvoll eingerichteten Sinnesorgane
! lassen ihn als das Werk eines weisen Meisters erkennen. Die
dient mit dem Monde und den Gestirnen den Menschen als
Tiere sind der Menschen wegen da, denen sie nicht nur
Nahrung bieten, sondern auch sonst allerlei Dienste leisten.
Aber die schönsten Gottesgaben sind die geistigen Kräfte des
Menschen, die Sinnesorgane, das Gedächtnis, die Denkfähig-
keit, endlich die Sprache, welche ein geordnetes Gemein-
schaftsleben ermöglicht, und die Weissagekunst, die uns die
Zukunft vorausschauen läßt. Diese wunderbar zweckmäßige
Natureinrichtung kann nur das Werk einer höchsten Vernunft
sein, die zu dem Weltall in demselben Verhältnis steht wie
die menschliche Seele zum Leibe. Die Seele ist unsichtbar
heißt dort ):
1) V. 201-215.
2) Vgl. Nestle a. a. O. S. 64.
3) fr. 41 (Diels).
Diogenes von Apollonia. 205
|
weise Einrichtung in der Natur und im menschlichen Orga-
i
! beweisen,
Der Erde Träger und der Erde Herrschere),
Wer du auch seist, geheimnisvolles Wesen,
Ob Zeus, ob Weltgesetz, ob Menschengeist,
Dich fleh ich an; du lenkest lautlos wandelnd
Der Menschen Schicksal mit gerechter Hand,
so ist nicht daran zu zweifeln, daß der Dichter seine ganze
1) frg. 5.
2) frg. 3.
3) frg. 6.
4) Nestle, a. a. O. 145 ff.
5) 884-888.
r
6) Mit diesen Worten d> yr}? ö%rnicc -autcX yfjg t%a>v i8qav be-
zeichnet er die Luft; vgl. Aristoph. Wölk. 264 (Diels, Vorsokr. 3
431).
206 XVI. Sokrates' Gottesglaube.
|
einrichtung zu sehen. Und die Gottesvorstellung, die sich
j
mit dieser Teleologie verbindet, ist groß und
jedenfalls so
erhaben, daß sie des Sokrates durchaus würdig erscheint. Die
! Gottheit ist identisch mit der höchsten Vernunft, die das ganze
I
All durchwaltet, deren Allmacht in der Gesetzmäßigkeit der
|
Weltbewegung, deren Weisheit in der Harmonie des Welten-
j
baues und des menschlichen Organismus, deren Güte in der
Fürsorge für die Menschheit sichtbar wird. Der teleologische
Optimismus, der in dieser Gottesauffassung sich widerspiegelt,
steht mit der sokratischen Denkweise in bestem Einklang. Ist
der helle, freudige Glaube an den Sieg des Guten der Grund-
zug seiner Ethik gewesen, so beruht seine Religion auf der
unbedingten Zuversicht zu der Weisheit und Güte Gottes.
Und der Gedanke an eine allgemeine Weltvernunft mußte ihm
auch durch seine Begriffslehre nahe gebracht werden Denn
wenn es wirklich eine allgemeine, sich in den unverrückbaren
Begriffen offenbarende Wahrheit gibt, so muß in dem Welt-
1) Plat. Apol. 26 D.
2) W. Windelband, Präludien S. 93.
208 XVI. Sokrates' Gottesglaube.
auch, daß die innere Stimme sich oft bei belanglosen Ange-
legenheiten, durchaus nicht nur bei wichtigen Entscheidungen
gemeldet habe. Dies steht alles mit der Auffassung, daß das
Daimonion ein Ausfluß göttlicher Vorsehung sei, im Wider-
spruch. Sokrates war nicht Psychologe genug, um es als ein
fein ausgebildetes Ahnungsvermögen zu erkennen, aber er
war ein zu schlichter Mann und nüchterner Denker, um darin
eine ihm zuteil gewordene göttlich e Inspiration zu sehen. Ge-
wiß, er hat geglaubt, daß die göttliche Vorsehung sich ebenso
indem Denken und Handeln des einzelnen Menschen wie in
1
noch mit dem Inhalt seiner Lehre ). Das Bild des gottbe-
geisterten Propheten, das Piaton mit so lebhaften Farben in
1) Od. X 489.
Dritter Abschnitt.
Der Ausgang.
XVII. Die gerichtliche Anklage.
1) Xen. Conv. 9, 1.
2) Daß von den drei Anklägern die drei durch die sokratische
Menschenprüfung verletzten Berufsstände, nämlich der der Dichter, der
Gewerbetreibenden und der Politiker, vertreten werden, ist natürlich
eine Fiktion Piatons (Plat. Apol. 23 C).
3) Plat. Apol. 36 A B.
Anytos. 217
|
Hierbei bewiesen die Führer der Freiheitskämpfer eine wunder-
bare Mäßigung und Besonnenheit. Wenn es endlich gelungen
ist, Athen den Krallen der Revolution zu entreißen und den
Staat wieder in die Bahnen gesetzlicher Ordnung zu lenken,
so gebührt der erste Preis allerdings dem edlen Spartaner-
könig Pausanias, der zwischen den kämpfenden Parteien den
Friedensschluß vermittelte, aber der zweite den ebenso maß-
vollen wie kühnen Demokraten, welche dem Vaterlande zu-
liebe ihren Rachedurst standhaft unterdrückten. Und daß ge-
rade Anytos im Sinne der Mäßigung wirkte, dürfen wir aus
einer Mitteilung schließen, wonach er einmal seine Leute,
die während des Bürgerkrieges einen Racheakt verüben
wollten, mit der Bemerkung zurückhielt, eine solche Tat sei
in der Zeit der Gefahr nicht angebracht, sondern müsse so
5
lange verschoben werden, bis das Ziel erreicht sei ).
108. Das Ziel war erreicht, als beide Parteien sich wieder
1) Andok. 1, 91.
2) isokr. 18, 2. Blaß, Att. Bered. II 214.
3) Arist., Staat der Ath. 40, 2.
|
sich bemühte. Daß dieser Mann Aufnahme des
bei der
I
Kampfes gegen Sokrates sich von parteipolitischen Erwägungen
i
habe leiten lassen, ist ganz undenkbar. Es ist später viel
:
gefabelt worden von des Sokrates oligarchischer Gesinnung
I und seiner abfälligen Beurteilung der demokratischen Staats-
1) Aristot. a. a. O. 34.
2) Isokr. 18, 23.
3) Plut. Alk. 4. Athen. XII 534.
220 XVII. Die gerichtliche Anklage.
j
ständnislos gegenüber. Sie erscheint ihm unwirtschaftlich,
ij weil sie der produktiven Tätigkeit, der Erzeugung materieller
j
Güter, wertvolle Kräfte entzieht. Wenn sie aber gar die
I Form der Aufklärung annimmt und sich mit den Fragen des
1
;
geboten, Religionssatzungen, beschäftigt, ihm so dünkt sie
verdammenswert denn sie droht, die Grundlagen aller Lebens-
;
väterlichen Religion ,
Mangel an Staatsgesinnung. Wer die
|
Jugend in richtige Bahnen lenken will, muß sie nach dem
|
Vorbild der Väter zur Gottesfurcht, Sittenreinheit, Vaterlands-
! liebe erziehen und zu einer praktischen Tätigkeit anleiten *).
1) Menon 92 Ef.
222 XVII. Die gerichtliche Anklage.
1) Plat. Apol. 23 C.
Außer Piaton (vgl. S. 3) sind wahrscheinlich auch
2) Anti-
;
sthenes und Aristippos schon vor Sokrates' Tod literarisch tätig
gewesen (Zeller IIa 4 282. 338).
3) Vögel 1282.
Busse, Sokrates. 15
226 XVIII. Die Gerichtsverhandlung.
5) Xen. Apol. 4.
Das Prozeßverfahren. 227
1) Plat. Apol. 33 E 38 B.
2) Xen. Apol. 1.
I
schauungen, zweitens die Erschütterung der elterlichen Auto-
rität und die Auflösung der Familienbande, drittens die Er-
ziehung zur Untätigkeit durch einseitige Pflege der Wissen-
schaft und Entwöhnung von praktischer Arbeit, viertens die
Ablenkung vom Staatsleben, endlich fünftens die Ausstreuung
unsittlicher und volksfeindlicher Lehren durch frivole Auslegung
von Dichterstellen.
118. Wie trat Sokrates diesen Beschuldigungen ent-
|
gegen ? Wenn uns auch in der platonischen Apologie nur
die voneinem Dichtergenius umgeformte Verteidigungsrede
erhalten ist, so läßt sich doch der Charakter und der Gesamt-
inhalt der wirklich gehaltenen Rede mit einiger Sicherheit er-
damit meine, sei er unter das Volk getreten und habe das
Denken seiner Mitbürger geprüft. Dabei habe er gefunden,
daß alle nichts Rechtes wußten, aber etwas zu wissen glaubten,
während zwar auch nichts wisse, aber auch nichts
er selbst
zu wissen Durch dieses Bewußtsein der Unwissen-
glaube.
heit sei er allerdings in gewissem Sinne allen überlegen und
deswegen von dem Gott für den weisesten erklärt worden.
Aber aus der Menschenprüfung seien ihm viele Anfeindungen
erwachsen, zumal da die jungen Leute, die sich ihm an-
schlössen, seinem Beispiele folgten und ebenfalls die Menschen
auf die Probe stellten. Diese Feindschaft sei die Quelle jener
grundlosen Verleumdungen und auch der gerichtlichen An-
klage.
Nunmehr wendet sich der Redner der Anklage selbst zu,
stellt aber die beiden Anklagepunkte um und weist zuerst die
Beschuldigung des Jugendverderbs zurück, indem er den An-
kläger der pädagogischen Unwissenheit überführt und dann
nachweist, daß kein vernünftig denkender Mensch seine Schüler
absichtlich verderben könne, denn es wisse jeder, daß Gutes
nur die Guten, die Bösen aber Böses zu erweisen pflegen.
Wer daher von seinen Schülern Gutes erfahren wolle, müsse
sich bemühen, sie nicht schlechter, sondern besser zu machen.
Die Widerlegung des Vorwurfs der Religionsneuerung leitet
der Redner dadurch ein, daß er den Ankläger zu der Be-
l
hauptung drängt, Sokrates glaube ) überhaupt nicht an Götter
und halte auch Sonne und Mond für leblose Weltkörper.
Gegen diese Beschuldigung wird erstens geltend gemacht, daß
der Ankläger offenbar Sokrates und Anaxagoras verwechsele,
zweitens durch eine spitzfindige Schlußfolgerung dargetan,
daß jeder, der an Dämonisches *) glaubt, notgedrungen auch
an Dämonen glaube. Da aber die Dämonen entweder Götter
oder Gotteskinder seien, so müsse ein solcher auch an Götter
glauben.
Nach dieser kurzen Widerlegung der Anklage wendet
sich der Redner der Darlegung seines Lebenswerkes, der
Volkserziehung, zu und schildert zunächst seine innere Stellung
|
Angelegenheit eines jeden Bürgers sei ; wenn aber dieser
1
I
Phrase ist. Auch genoß der Angeklagte bei seiner Verteidi-
gung den vollen gesetzlichen Schutz und durfte seine Recht-
fertigungsrede wie die von unbeugsamem Selbstgefühl erfüllte
Begründung des Strafantrages bis zum Schluß vortragen. Wir
werden also erklären müssen, daß vom rechtlichen Standpunkt
das Urteil der athenischen Geschworenen unanfechtbar ge-
wesen ist.
121. Wie aber, wenn man den moralischen Maßstab
236 XVIII. Die Gerichtsverhandlung.
und dem Volke spricht und seine Verurteilung als einen Sieg
0
der Massenpsyche über die freie Persönlichkeit ansieht ).
1) Apol. 38 D.
2) Apol. 32.
3) Vgl. S. 226.
4) Plat. Apol. 23 A.
5) Pöhlmann, Sokrates und sein Volk S. 76 ff.
Sokrates' Überzeugungstreue. 237
seite. Wenn die Mehrheit der Richter frei ist von sittlicher
Schuld, so fällt die ganze Verantwortung für den unseligen
Urteilsspruch dem Sokrates zu, der durch seine seltsame Ver-
teidigung nicht nur sich selbst denTod bereitet, sondern auch
den Ehrenschild seiner Vaterstadt mit einem Schandfleck be-
sudelt hat. Welche Motive drängten ihn zu diesem Schritt?
Hat er die Wirkung seiner Worte nicht vorausgesehen? Ist
er ein Opfer des Irrtums geworden ? Unmöglich Sokrates ;
),
1) Nauck
2
545. In der Inhaltsangabe zu Isokrates' Busiris
und bei Diog. L. II 44 wird sogar erzählt, daß Euripides mit diesen
Worten versteckt auf Sokrates angespielt und die Athener zu Tränen
gerührt habe. Da aber die Tragödie schon 415 aufgeführt und
Euripides 7 Jahre vor Sokrates gestorben ist, so erledigt sich der
erste Teil der Nachricht. Die Rührung des Publikums wäre denk-
bar, wenn man annehmen wollte, daß sich der Vorgang bei einer
späteren Wiederaufführung des Dramas abspielte. Aber die ganze
Nachricht trägt zu deutlich den Stempel der Erfindung.
2) Diog. L. II 43.
3) Vgl. S. 9 Anm. 3.
Die Bedeutung seines Opfertodes. 241
1) Vgl. S. 230.
Busse, Sokrates. 16
242 XIX. Sokrates' Ende.
|
schichtlicher Vorgang zugrunde. Nur scheint nicht Kriton,
sondern der Urheber des Flucht-
Sokratiker Aischines der
I planes gewesen zu sein *). Der Gedanke war ja auch durch
die Verzögerung der Urteilsvollstreckung den Freunden sehr
nahe gelegt. Ein Zufall fügte es nämlich, daß gerade am
Tage vor der Gerichtsverhandlung die Vorbereitungen für die
Feier der Delien begannen. Das Fest fiel in den Monat
Thargelion, der dem zweiten Teil unseres Mai und dem ersten
2
unseres Juni )
entspricht, und wurde alljährlich zur Erinne-
I
rung an die angeblich durch Theseus erfolgte Rettung der
sieben Knaben und sieben Mädchen gefeiert, die der Sage
nach alle neun Jahre als Tribut nach Kreta gesandt werden
mußten. Als Beginn der Vorbereitung galt die Bekränzung
des Schiffes, das die Festgesandtschaft zur Feier nach Delos
3
hinüberführte, als Ende des Festes die Rückkehr des Schiffes ).
Als die Argiver 546 von den Spartanern bei Thyrea be-
1)
siegtwaren, ließen sie sich das Haar abschneiden und taten das
Gelübde, es nicht eher wieder wachsen zu lassen, als bis sie die
Spartaner besiegt hätten (Herod. I 82).
Das Scheiden. 247
;
dieser antwortet, man pflege nur soviel zu mischen, als
gerade hinreiche. Da sagt Sokrates: »Aber es ist wohl er-
!
laubt, zu den Göttern zu beten, daß der Übergang zum
|
Jenseits glücklich von statten gehe. Möge es also ge-
schehen!« Mit diesen Worten setzte er den Becher an den
Mund und trank ihn mit ruhiger Gelassenheit aus. Die
|
Freunde, die sich bis dahin beherrscht
hatten, brachen jetzt
j
tief Tränen aus, und besonders Apollodor, der
erschüttert in
|
schon vorher den Tränenstrom nicht hatte zurückhalten
können, schrie laut auf vor Jammer, so daß allen An-
wesenden das Herz brechen wollte. Nur Sokrates blieb
ruhig und sagte: »Was soll das, ihr wunderlichen Menschen?
Ich habe hauptsächlich deshalb die Frauen fortgeschickt, damit
sie nicht in solcher Weise sich versündigten. Denn ich habe
immer gehört, daß man in Andachtsstille sterben müsse.
Wohlan, bewahret die Ruhe und seid stark!« Die Ermah-
nung wirkte und die Freunde unterdrückten die Tränen.
Sokrates aber ging zuerst umher und legte sich dann auf
den Rücken. Alsbald stellte der Diener durch Berührung
der Füße und Schenkel fest, daß der Körper von unten zu
erstarren und zu erkalten begann. Als die Starre bis zum
Leibe gelangt war, enthüllte Sokrates, der zugedeckt dalag,
noch einmal sein Gesicht und sprach: »Lieber Kriton, wir
248 XIX. Sokrates' Ende.
Sand VI: I. A. Comenius von Prof. J. Kvacala. XII, 183 Seiten. Gr. 8°.
Band I:
gut gelungen ist ihm der nicht leichte Vergleich mit Rousseau, und
die Resultate, die M.'s scharfes Eindringen hier erzielt, werfen ein ganz
neues Licht auf Jean Paul und Rousseau selbst."
[Jahresberichte für deutsche Literaturgeschichte XVI, IL]
Band II
Großen, als den Methodiker par excellence und hebt hervor, daß in
einer Sammlung, die die großen Erzieher darstellt, der Stagirite nicht !
fehlen darf. Daß diese Arbeit nicht eben mühelos gewesen, glaubt
man dem Verf. gern, zumal es an genügenden, wirklich umfassenden
Vorarbeiten so gut wie ganz fehlte. Niemand, der sich ernst-
haft mit der geschichtlichen Entwicklung der pädago-
gischen Prinzipien beschäftigt, wird in Zukunft an W.'s
meisterhaftem Buche vorbeigehen dürfen."
[Frankfurter Zeitung v. 31. X. 1909.]
Band III:
„Das ist nun in der Tat ein Buch, das ein jeder
Lehrer in seiner Bibliothek haben sollte, auch wenn
sie noch so bescheiden ist. Sicher wird er oft zu diesem
Buche greifen." [Schweizer, pädagogische Zeitschrift XX, 5.]
Band IV:
ganz von selbst aus der Lektüre erwächst, daß niemand hinfort eine
hinreichende Einsicht in die treibenden Kräfte der preußischen und
i
deutschen Unterrichtsgeschichte haben wird, der dieses Buch nicht in
lallen seinen Teilen in sich aufgenommen hat".
[Prof. Dr. i. Wychgram Frauenbildung XI, 6.]
Band V:
Sakmann von ihm als Erzieher entwirft, mutet ganz neu an. Es ist
zweifellos das beste Buch über den Pädagogen R das wir besitzen." ,
auch manches Seichte und Dilettantenhafte, das vor ernster Kritik kaum
bestehen kann. Wohltuend sticht hiergegen das von wissenschaftlichem
Geiste getragene Werk von G. ab, das zweifellos zu dem Besten
gehört, was in jüngster Zeit über das Seelenlebendes Kindes
geschrieben worden ist. Es führt in die Tiefe und kann vor allem
zeigen, welche Fülle von Aufgaben es für die Kinderseele noch zu
lösen giebt." [Literarischer Handweiser 1909, No. 1.]
„ ... eine ungemein liebenswürdige, klare und anregende
Form der Darstellung, die von der ersten bis zur letzten
Zeile in Spannung hält." [Allgem. Literaturblatt XIX, 1.]
DAS GEDÄCHTNIS.
DIE ERGEBNISSE DER EXPERIMENTELLEN PSYCHOLOGIE
UND IHRE ANWENDUNG IN UNTERRICHT UND ERZIEHUNG
VON
Dr. MAX OFFNER,
am K.-Ludwigsgymnasium in München.
Professor
1913. Gr. 8°. XII, 312 Seiten. Mk. 4.20, in Leinenband Mk. 5.—.
behauptet wohl nicht zu viel, wenn man dieses Buch als eines der
wertvollsten Erzeugnisse der psychologischen Litera-
tur der letzten Jahre bezeichnet."
[Prof. E. Dürr in d. Deutsch. Literaturzeitung 1909, No. 51/52.]