2015 Book TaktischeMedizin
2015 Book TaktischeMedizin
2015 Book TaktischeMedizin
Taktische
Medizin
Notfallmedizin und Einsatzmedizin
2. Auflage
Taktische Medizin
Notfallmedizin und Einsatzmedizin
Christian Neitzel
Karsten Ladehof
(Hrsg.)
Taktische Medizin
Notfallmedizin und Einsatzmedizin
123
Herausgeber
Christian Neitzel
Calw, Deutschland
[email protected]
Karsten Ladehof
Calw, Deutschland
[email protected]
»This is not an easy environment, so nothing is easy. It’s all meant to make it easier, not easy.«
(Die Rahmenbedingungen sind nicht einfach, also kann nichts einfach sein. Alles dient dazu,
es einfacher zu machen, aber nicht einfach.)
Diese beiläufige Äußerung eines Sanitätsoffiziers einer israelischen Spezialeinheit trifft den
Nagel auf den Kopf: Die Bedingungen, unter denen die Helfer in einer taktischen Lage arbei-
ten müssen, sind äußerst herausfordernd. Neben der enorm anspruchsvollen notfallmedizi-
nischen Versorgung Schwerstverletzter kommt im Gegensatz zum zivilen Rettungsdienst
hinzu, dass sie in der Regel unter permanenter Bedrohung nicht nur des Helfers, sondern auch
seines Patienten erfolgt. Mit oftmals einfachsten Mitteln und unter hoher körperlicher Belas-
tung muss nicht nur die Behandlung, sondern auch die medizinische ebenso wie die militäri-
sche bzw. polizeiliche Einsatztaktik professionell beherrscht werden. Erschwerend kommt
hinzu, dass Bedrohungslagen immer komplexer werden, da der Täter oder Gegner zuneh-
mend schwerer zu identifizieren ist und er entweder primär Zivilpersonen angreift oder ihre
Schädigung zumindest billigend in Kauf nimmt. Mit den durch islamkritische Karikaturen
ausgelösten Anschlagsserien in Frankreich und Dänemark ist diese Realität endgültig auch
im Herzen Europas angekommen. Aber selbst bei einem militärischen Einsatz reicht das
Spektrum möglicher Szenarien im gleichen Einsatzgebiet von humanitärer Hilfe für ein
Flüchtlingslager oder der Versorgung des Herzinfarktes eines Dorfältesten über die Versor-
gung eines Verkehrsunfalls bis hin zu offenen, schweren Kampfhandlungen mit zahlreichen
Verwundeten – und das oftmals nur wenige Straßenzüge voneinander entfernt (»three block
war«).
Das heißt auch, dass in vielen Fällen das Ergebnis trotz optimaler Planung und Vorbereitung
leider nicht wie im Heimatland sein wird. Damit besteht aber unbedingt auch die Verpflich-
tung, dass alles getan wird, damit dies möglichst selten der Fall ist.
Die »verhinderbaren Todesursachen« beginnen bereits bei der Prävention und bei guter per-
soneller und materieller Ausstattung. Bei entsprechend deutlicher Beratung durch den medi-
zinischen Einsatzplaner ist in diesem Zusammenhang die klare Aussage eines Stabes, einer
Einsatzleitung oder auch des verantwortlichen Ingenieurs, wann ein Einsatz oder ein Projekt
mit einem zu hohen Risiko verbunden ist, noch wichtiger.
Nach einem Ereignis die Einsatzgrundsätze zu ändern, die Ausstattung zu verbessern, das
Budget zu erhöhen oder die PTSD-Behandlungsmöglichkeiten auszubauen ist generell und
vor allem für die »auslösenden« betroffenen Kameraden sicher nur die zweitbeste Lösung.
Jedem, der sich der verantwortungsvollen Aufgabe der Versorgung in diesem Umfeld stellt,
gebührt unser aller Dank!
Auch wenn uns bewusst war, dass unser Buch dazu beitragen würde, eine deutliche Lücke auf
dem Markt der Fachliteratur zu schließen, hat uns die ausgesprochen positive Resonanz
natürlich sehr gefreut, die dieses Buch erfahren hat. Als der Springer-Verlag mit der Planung
einer 2. Auflage an uns herangetreten ist, haben wir dies aber nicht nur als Lob verstanden,
VIII Vorwort zur 2. Auflage
sondern insbesondere auch als Chance begriffen, Anregungen und Wünsche unserer Leser
einfließen lassen zu können. Viele Kapitel sind daher in Details überarbeitet und das enthal-
tene Wissen aktualisiert worden. Neue Kapitel sind hinzugekommen, die weitere relevante
Aspekte im Bereich der taktischen Medizin abdecken. Dabei haben wir verstärkt versucht, die
Gemeinsamkeiten zwischen einem militärischen Einsatz, einer polizeilichen Lage und einem
Rettungsdiensteinsatz z. B. nach einem Anschlag aufzuzeigen. Wir hoffen, dass wir damit den
Ansprüchen und Erwartungen unserer Leser noch besser gerecht werden können.
Mit der immer weiter steigenden Intensität der Kampfhandlungen im Auslandseinsatz ge-
winnt die Bundeswehr zunehmend Erfahrung in der Versorgung von Verwundeten unter
Einsatzbedingungen. Erfahrungen, die verbündete Nationen in noch größerem Umfang be-
reits vor Jahren gemacht und in ein klar strukturiertes Konzept umgesetzt haben: Tactical
Combat Casualty Care (TCCC). Es berücksichtigt nicht nur die spezifischen Verletzungsmus-
ter, sondern auch die Besonderheiten einer Versorgung unter Gefechtsbedingungen. Dadurch
rettet das Konzept der »Taktischen Verwundetenversorgung« seit über einem Jahrzehnt ins-
besondere im Irak- und Afghanistankrieg nahezu täglich das Leben von verwundeten Sol-
daten verschiedenster Nationen.
Die Notwendigkeit eines angepassten Konzeptes zur Versorgung unter Bedrohung ist für das
Militär offensichtlich. Bei der Polizei haben sich diese modifizierten, notfallmedizinischen
Vorgehensweisen als »Tactical Emergency Medical Support« bisher vor allem im Bereich ihrer
Spezialeinheiten etabliert. Ausschreitungen bei Großveranstaltungen oder Demonstrationen,
Gewalt im häuslichen Umfeld, die Einsatzkonzepte für die aktive Reaktion auf eine Amoklage,
verletzte oder getötete Beamte bei Einsätzen gegen organisierte Kriminalität und leider zahl-
reiche weitere Beispiele zeigen deutlich, dass auch für andere Polizeikräfte die Adaption dieses
Vorgehens sinnvoll ist.
Bei polizeilichen Lagen liegt im Gefahrenbereich der Einsatzstelle die Verantwortlichkeit für
die Versorgung aller Verletzter – oder eben nur ihre unversorgte Rettung – bei der Einsatz-
leitung der Polizei.
Die Häufigkeit von Anschlägen steigt konstant und sie erreichen mittlerweile Länder, in denen
sie bisher undenkbar schienen. Auch instabile Verhältnisse nach Naturkatastrophen oder
politischen Unruhen mit Übergriffen auf Hilfskräfte sind traurige Beispiele, die verdeutlichen,
dass der Kreis der Rettungskräfte, die von »Taktischer Medizin« profitieren können, deutlich
über Polizei und Militär hinausgeht.
Notfallmedizinische Ausbildung muss proaktiv verbessert werden. Es darf nicht darauf gewar-
tet werden, dass Todesfälle auftreten, die bei adäquater Ausbildung hätten vermieden werden
können.
ausgebildeten Einsatzkräfte von Militär und Polizei, seien es Ersthelfer, »Medics«, Sanitäter
oder Ärzte.
Auch wenn dieses Buch auf den ersten Blick die Themen überwiegend in militärischen und
polizeilichen Lagen betrachtet, sind die Grundsätze auf die Patientenversorgung unter schwie-
rigen Rahmenbedingungen übertragbar. Das Buch kann daher Angehörigen von Rettungs-
diensten, Hilfsorganisationen und Feuerwehren nicht nur Einblicke in das Vorgehen von
Militär und Polizei in Gefahrensituationen geben, sondern auch wertvolle Grundlagen für das
eigene Handeln unter ähnlichen Umständen liefern - seien es Unfälle im laufenden Verkehr,
Brandeinsätze, häusliche Streitigkeiten oder z. B. die Höhenrettung von einer Windenergie-
anlage. Insbesondere für Leser aus dem Bereich der humanitären Hilfe und Katastrophen-
medizin sind nahezu alle Vorgehensweisen auf ihren Tätigkeitsbereich übertragbar.
Das Spektrum der behandelten Themen ist bewusst breit gewählt worden, um auch außerhalb
des Kernbereiches der Notfallmedizin die einsatzrelevanten Aspekte wichtiger Fachgebiete
praxisorientiert in einem Werk gemeinsam darzustellen.
Wir bitten unsere Leser ausdrücklich darum, mit uns Kontakt aufzunehmen und freuen uns
auf fachliche Diskussionen. Für Kritik, Verbesserungsvorschläge und Lob sind wir offen und
dankbar für jeden Hinweis der uns hilft, das Buch weiter zu verbessern. Die kontinuierliche
Anpassung an aktuelle Erfahrungen und Entwicklungen ist die Voraussetzung dafür, auch in
Zukunft einen Beitrag zur optimalen notfallmedizinischen Versorgung unserer Kameraden
und Kollegen leisten zu können.
Herausgeber
I Grundlagen
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
C. Neitzel
1.1 Taktische Verwundetenversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
1.2 Ausbildungsaspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
1.3 Geschichte der taktischen Verwundetenversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
3 Spezielle Ausrüstung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
S. Schöndube, C. Neitzel, C. Gartmayr, P. Siegert
3.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
3.2 Blutungskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
3.3 Atemwegsmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
3.4 Thoraxverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
3.5 Kreislaufmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
3.6 Wärmeerhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
3.7 Immobilisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
3.8 Monitoring . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
3.9 Rucksäcke und Taschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
7 Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
K. Ladehof
7.1 Ausbildungsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
7.2 Ausbildungskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
7.3 Ausbildungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
II Taktische Verwundetenversorgung
12 Schussverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
C. Neitzel, E. Kollig
12.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
12.2 Einführung in die Wundballistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
12.3 Geschosskonstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
12.4 Spezifische Wundballistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
12.5 Letalität von Schussverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268
13 Explosionsverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
M. Di Micoli, D. Bieler
13.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270
13.2 Verletzungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
13.3 Therapie von Sprengverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274
13.4 Taktische Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280
14 Bissverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
S. Hentsch, J. Sahm
14.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282
14.2 Ätiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282
14.3 Versorgung im Rahmen der taktischen Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282
14.4 Impfschutz und Antisereneinsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
15 Verbrennungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
M. Di Micoli, S. Hentsch
15.1 Definition, Grundlagen, Ursache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
15.2 Beurteilung der Verbrennungsschwere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
15.3 Inhalationstrauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
15.4 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
15.5 Besonderheiten beim Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293
15.6 Besonderheiten bei Stromverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
15.7 Bekleidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
XV
Inhaltsverzeichnis
16 Augennotfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
H. Gümbel
16.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296
16.2 Analgesie und Erstversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296
16.3 Augenprellung (Contusio bulbi) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298
16.4 Arterielles Retrobulbärhämatom (arterielle Blutung in die Augenhöhle) . . . . . . . . 298
16.5 Oberflächliche Hornhautverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
16.6 Penetrierende Verletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
16.7 Laserlichtexposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
16.8 Kampfgasexposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
16.9 Maßnahmen vor Rückführung in die klinische Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
19 Hängetrauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
R. Lechner, T. Lobensteiner
19.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316
19.2 Pathophysiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316
19.3 Bergungstod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317
19.4 Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
19.5 Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
22 Psychotraumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335
J. Ungerer, P. Zimmermann
22.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336
22.2 Historie und Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336
22.3 Traumatischer Stress . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337
22.4 Psychologische Krisenintervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
22.5 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
IV Polizei
24 BOS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363
R. Bohnen
24.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364
24.2 Feuerwehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364
24.3 Rettungsdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364
24.4 Polizei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
24.5 Medizinische Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
24.6 Absperrmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367
26 Schnittstellenproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375
R. Bohnen
26.1 Rechtliche Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376
26.2 Eigenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377
26.3 Problemfelder bei gemeinsamen Einsatzlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377
XVII
Inhaltsverzeichnis
27 TEMS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379
R. Bohnen
27.1 Historie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380
27.2 Inhalte von TEMS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380
27.3 Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381
27.4 Unterschiede zum zivilen Rettungsdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381
27.5 Vorteile des TEMS-Konzeptes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382
27.6 Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
27.7 Medizinische Grundversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
27.8 Einsatzplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384
27.9 Medizinische Erstversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384
27.10 Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385
27.11 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387
28 Personalaspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389
R. Bohnen
28.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390
28.2 TEMS-Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390
28.3 Rettungskräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391
28.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396
29 Materialressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397
R. Bohnen
30 Notkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401
R. Bohnen
30.1 Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402
30.2 Delegation und Notkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403
30.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404
V Besondere Umgebungen
34 Flugmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451
G. Röper, J. Stier, J. Schwietring
34.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452
34.2 Organisation des luftgebundenen Verwundetentransportes . . . . . . . . . . . . . . . . 452
34.3 Personal und Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455
34.4 Arztgespräch, Patientenaufnahme, Patientenübergabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459
34.5 Physikalische und psychische Einflüsse auf Patient und Personal . . . . . . . . . . . . . 461
34.6 AE im Rahmen von Personal-Recovery-Operationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471
35 Tauchmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473
C. Neitzel, N. Vortkamp
35.1 Gasgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474
35.2 Gefahren der Kompressionsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475
35.3 Gefahren der Isopressionsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475
35.4 Gefahren der Dekompressionsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477
35.5 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481
35.6 Ertrinken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483
35.7 Weitere Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484
VI Waffenwirkung
Serviceteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 604
XXI
Autorenverzeichnis
Patrick Früh
Patrick Früh hat während seiner Dienstzeit als Offizier an der Universität der Bundeswehr in
Hamburg Maschinenbau mit der Vertiefungsrichtung Wehrtechnik studiert. Seit dem Ende
der Dienstzeit ist er als Ingenieur tätig.
Christian Gartmayr
Christian Gartmayr ist seit über 20 Jahren im Rettungsdienst tätig, unter anderem in diversen
administrativen wie auch taktisch-operativen Führungspositionen. Im Rahmen seiner derzei-
tigen Tätigkeit als Lehrer und Dozent an einer Berufsfachschule für den Rettungsdienst bildet
er neben Rettungsassistenten auch Personal für paramedizinische Rettungsdienstsysteme im
Ausland aus. Seine Magisterarbeit an der Ludwig-Maximilians-Universität München über
Rettungsdienstsysteme in den USA beleuchtet als einen der Schwerpunkte Tactical EMS und
Wilderness EMS. Er berät Rettungsdienste in den USA und im nahen Osten.
den Jahren 2001 (Bosnien), 2007 (Kosovo), 2008/2010 (Afghanistan) als Augenfacharzt und
Konsiliargruppenleiter. Etablierung des »Partnering« mit afghanischem Vertragsarzt in Mazar
e Sharif. Aktuell einziger Abteilungsleiter für das Fach Augenheilkunde in der Bundeswehr.
Thomas Lobensteiner
Thomas Lobensteiner ist Leiter des Trainingszentrums der Bundespolizei in Berchtesgaden.
Er war von 1983–1988 Angehöriger der GSG 9. Er ist staatlich geprüfter Polizeibergführer;
Bereitschafts- und Einsatzleiter in der Bergwacht Bayern; Vorstandsmitglied im Europäischen
Bergführerverband der Exekutive und zahlreiche Auslandsaufenthalte führten ihn u. a. nach
Afghanistan, in den Libanon sowie nach Russland und China. Zu seinen Fachthemen gibt es
mehrere Veröffentlichungen von ihm.
nisse in der taktischen Verwundetenversorgung innerhalb der Bundeswehr. Dr. Neitzel war
bis 2012 verantwortlich für die taucherärztliche Betreuung der Spezialkräfte des Heeres. Er ist
Schießlehrer der Bundeswehr und Waffensachverständiger. Er sammelte Erfahrungen in meh-
reren Auslandseinsätzen der Bundeswehr als Notarzt und Leitender Sanitätsoffizier, unter
anderem in Afghanistan.
erweitern. In seiner langjährigen Tätigkeit als Verantwortlicher CFR C seiner Einheit (Master-
Medic) hat er an mehreren Auslandeinsätzen teilgenommen und war dabei mehrfach als
Medic über unterschiedlich lange Zeiträume eigenständig für die notfallmedizinische Versor-
gung von Verwundeten verantwortlich
den medizinischen C-Schutz ist er Truppführer der Task Force medizinischer C-Schutz der
Bundeswehr.
Johannes Stocker
Johannes Stocker hat ein Studium zum Sozialbetriebswirt absolviert und ist Leiter des Ret-
tungsdienstes und stv. Geschäftsführer beim DRK-Kreisverband Rems-Murr in Waiblingen.
Er ist seit 1981 hauptberuflich beim DRK tätig und konnte in dieser Zeit Erfahrungen im
bodengebundenen Rettungsdienst sowie in der Luftrettung sammeln. Er ist freier Dozent in
der Erwachsenenbildung und wirkt an der Erstellung und Durchführung von verschiedenen
Lehrgangs- und Ausbildungskonzepten für Einsatz- und Führungskräfte mit. Er ist für Behör-
den und Organisationen als Fachberater tätig. Nach dem Amoklauf von Winnenden im Jahr
2009 erarbeitete er zusammen mit der Polizei verschiedene Konzepte für Rettungsdienst und
Polizei zur Bewältigung von so genannten »Sonderlagen«.
KG Körpergewicht ml Milliliter
kg KG Kilogramm Körpergewicht mmHg Millimeter Quecksilbersäule, Torr
KHG Kerntechnische Hilfsdienst MMS »Medical Mission Statement«
GmbH MMW »Medium Molecular Weight«
KIA »Killed in action« MOI »Kinematics/Mechanism of In-
KKT Körperkerntemperatur jury«
KKW Kernkraftwerk MOUT »Military Operations in Urban
kN Kilonewton Terrain«
KOF Körperoberfläche MPG Medizinproduktegesetz
KPB Kreispolizeibehörden MRSA Methicilin-resistenter Staphylo-
KRI-Bw Kölner Risikoindex-Bundeswehr coccus aureus
KSK Kommando Spezialkräfte MRT Magnetresonanztomographie
kt/kn Knoten/knots (1,852 km/h) MSE Modulare Sanitätseinrichtung
KTW Krankentransportwagen mSv Millisievert
KZV Kontrolliertes zweizeitiges mTBI »Mild Traumatic Brain Injury«
Verfahren MTF »Medical Treatment Facility«
(medizinische Behandlungs-
l Liter einrichtung, z. B. Feldlazarett,
LBAT Luftbeweglicher Arzttrupp Rettungszentrum)
LE »Low order explosives«
LfU Landesamt für Umwelt N. Nervus
LFZ Luftfahrzeug NaCl Natriumchlorid
LKW Lastkraftwagen NATO-SOP »North Atlantic Treaty Organi-
LLRS SpezEins Luftlanderettungsstation zation – Standard Operating
Spezialeinsatz Procedure«
LLRS Luftlanderettungsstation NAW Notarztwagen
LLRZ Luftlanderettungszentrum NBR »Natural Background Rejection«
LMW »Low molecular weight« NEF Notarzteinsatzfahrzeug
LNA Leitender Notarzt NFCI »Non-Freezing Cold Injuries«
LOC »Level of Consciousness« (nichterfrierungsbedingte Kälte-
LSE Luftbewegliche Sanitätseinrich- verletzungen)
tung NFS Notfallstation
LSS »Life Span Study« NGA Nukleare Gefahrenabwehrkräfte
LVE Lagevortrag zur Entscheidung NGO »Non-Government Organisations«
LZ Landezone N-Lost Stickstofflost
NMDA N-Methyl-D-Aspartat
MACE »Military Acute Concussion NPA Nasopharyngealtubus
Evaluation« NRW Nordrhein-Westfalen
MAD »Mucosal Atomization Device« NSAR Nichtsteroidale Antirheumatika
(Medikamentenvernebler zur NTOA »National Tactical Officers Asso-
intranasalen Applikation) ciation«
MANV Massenanfall von Verwundeten/ NVA Nationale Volksarmee
Verletzten NVD »Night Vision Device«, Nacht-
MAP »Mean Arterial Pressure« sichtgerät
(mittlerer arterieller Druck) NVG »Night Vision Goggles«, Nacht-
MASCAL »Mass Casualty« (MANV) sichtbrille
MCL Medioklavikularlinie
MEDEVAC »Medical Evacuation« O2 Sauerstoff
MEK Mobiles Einsatzkommando OAE Otoakustische Emission
MERZ Marineeinsatzrettungszentrum ODL-Messgerät Ortsdosisleistungsmessgerät
MfS Ministerium für Staatssicherheit OEF »Operation Enduring Freedom«
mg Milligramm OIF »Operation Iraqi Freedom«
MIK NRW Landesministerium für Inneres OP Operation, auch Operationssaal
und Kommunales NRW OPA Oropharyngealtubus
MilFhr Militärischer Führer ORGL Organisatorischer Leiter
min Minute ORS »Oral Rehydration Solution« oder
MIO »Medical Incident Officer« »Oral Rehydration Salts«
XXXIV Abkürzungsverzeichnis
TBq Terabequerel
TCCC »Tactical Combat Casualty Care«
TEC »Tactical Evacuation Care«
TEL Technischer Einsatzleiter
TEMS »Tactical Emergency Medical Support«
TFC »Tactical Field Care«
TL Technische Lieferbedingung
TNT Trinitrotoluol
TOC »Tactical Operation Centre« oder
»Tactical Operations Command”
TREMA Tactical Rescue & Emergency Medicine
Association e. V.
TrspOrg Transportorganisation
TTP »Tactics, Techniques and Procedures«
TTS Transdermales therapeutisches System
UA Unterabschnitt
UN »United Nations«
USBV Unkonventionelle Spreng- und Brand-
vorrichtung
USBV-A Unkonventionelle Spreng- und Brand-
vorrichtung mit radioaktiver Beiladung
USSOCOM »US Special Operations Command«
UUA Unter-Unterabschnitte
UV Unkontrolliertes Verfahren
UZwG Gesetz über den unmittelbaren Zwang
bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch
Vollzugsbeamte des Bundes
V Veterinärspezifisches Medikament
V. Vena
V.a. Verdacht auf
VN Vereinte Nationen
VSG Verbundsicherheitsglas
VwuSP Verwundetensammelpunkt
W Watt
WALK »Warrior Aid & Litter Kit«
WBGT »Wet Bulb Globe Temperature«
WFV Wehrfliegerverwendungsfähigkeit
WHO »World Health Organization«
Grundlagen
Kapitel 1 Einleitung –3
C. Neitzel
Kapitel 7 Ausbildung – 87
K. Ladehof
3 1
Einleitung
C. Neitzel
1.2 Ausbildungsaspekte –6
Literatur –9
» »Der Soldat soll im Kriege jeden Augenblick zeichnet, in zivilen (also auch polizeilichen)
1 bereit sein, Gesundheit und Leben zum Opfer Lagen als Verletzung. Beide Begriffe werden
zu bringen. Er hat deshalb gerechte Ansprüche im Buch synonym verwendet.
auf schleunige Hilfe, sobald er verwundet
wird.« Aufgrund von Gefechten oder isoliert durchgeführ-
F. von Esmarch ten Operationen kann eine Evakuierung oft erst
nach größeren Verzögerungen erfolgen; auch die
Transportzeiten und -entfernungen sind im Regel-
1.1 Taktische Verwundeten- fall länger und weiter als in Deutschland. Aus diesen
versorgung Gründen kommt der präklinischen Versorgung
eine wesentliche Bedeutung für die Prognose des
Das Gefechtsfeld als »notfallmedizinischer Arbeits- Patienten zu. Gerade bei Aufträgen, die fernab von
platz« ist von einer hohen Bedrohung für Helfer medizinischen Behandlungseinrichtungen durch-
und Patienten sowie Dreck, Chaos und Unüber- geführt werden, sind medizinische »Bagatellproble-
sichtlichkeit gekennzeichnet (. Abb. 1.1). Die ver- me« oftmals von hoher Relevanz. Beispielsweise
fügbaren Ressourcen an Material, Ausrüstung und können akute Zahnschmerzen oder ein erlittenes
Personal sind meist stark begrenzt. Regelmäßig akustisches Trauma die Auftragserfüllung massiv
müssen mehrere Patienten gleichzeitig von wenigen gefährden. Auch Aspekte wie die technische Rettung
Helfern mit dem wenigen Material versorgt werden, aus Fahrzeugen, die Versorgung eines verletzten
das im Rucksack am Mann getragen werden kann. Diensthundes oder die psychische Erste Hilfe bei
Die Verwundungen sind im Vergleich zum üblichen akuten Belastungsreaktionen zeigen das breite und
Spektrum des zivilen Rettungsdienstes häufig anspruchsvolle Spektrum, das in der taktischen
schwer, akut lebensbedrohlich und eher von penet- Medizin beherrscht werden muss.
rierendem Trauma, Explosionsverletzungen und Moderne Konflikte sind durch eine enorme
Verbrennungen geprägt. Bandbreite der Intensität von Gefechtshandlungen
gekennzeichnet, die gleichzeitig und möglicher-
> In der militärischen Terminologie wird eine weise in unmittelbarer Nachbarschaft vorkommen
durch Einwirkungen des Gegners hervor- können. Die »Frontlinie« vergangener Tage, hinter
gerufene Verletzung als Verwundung be- der der Sanitätsdienst Versorgung und Transport
. Abb. 1.1 Die präklinische Versorgung von Verwundeten findet meist im laufenden Gefecht oder unter hoher Bedrohung
durch Spreng- und Brandfallen (»improvised explosive devices«, IED) statt. Dies erfordert grundlegend andere Vorgehens-
weisen als im zivilen Rettungsdienst. (Foto: Bundeswehr)
1.1 · Taktische Verwundetenversorgung
5 1
. Abb. 1.2 Die Selbst- und Kameradenhilfe ist durch strukturierte Vorgehensweise (»Care under Fire«), erweiterte Erste-
Hilfe-Ausbildung und geeignetes Material leistungsfähiger geworden. Ausgewählte Nichtsanitäter mit hochwertiger notfall-
medizinischer Ausbildung (»Tactical Medic«) überbrücken die im Gefecht häufig auftretende Lücke bis zur Übernahme des
Verwundeten durch den Sanitätsdienst auf Basis einer klaren Regelung der ihnen erlaubten Maßnahmen (Regelkompetenz),
im Notfall auch über einen längeren Zeitraum (»prolonged care«). Sanitäter müssen durch eine angemessene taktische
Grundbefähigung in der Lage sein, im Gefecht »weit vorne« zu versorgen. (Mit freundlicher Genehmigung von K. Ladehof )
der Patienten mit einem klar strukturierten »Weg Erster Hilfe hat mit der Einführung der Ausbildun-
des Verwundeten« sichergestellt hat, ist heute selten gen »Combat First Responder (CFR) A/B/C« und
zu finden. Es wurde der Begriff des »three block der »Einsatzersthelfer B« (EEH B) auch in der Bun-
war« geprägt: während in einem Stadtteil normales deswehr eine neue Dimension erreicht. Diese in der
Alltagsleben herrscht, kann die Sicherheitslage in Truppe »Medics« genannten Soldaten können von
einem anderen angespannt sein und parallel dazu moderner Blutstillung über fortgeschrittenes Atem-
können in einem dritten offene Gefechte stattfin- wegsmanagement bis hin zur Analgetikagabe er-
den. Die Bedrohungslage wird dadurch wenig vor- heblich mehr leisten als früher im Rahmen der
hersehbar, es kann jederzeit und überall zu Spreng- Selbst- und Kameradenhilfe üblich war. Sie müssen
stoffanschlägen oder zu intensiven Gefechten kom- in vielen Lagen eigenverantwortlich Schwerver-
men. Im Gegensatz zur klassischen Gliederung sind wundete am Leben erhalten können, deren Versor-
Sanitäter heute in den meisten Fällen in Einheiten gung auch manchen deutschen Notarzt an seine
der Kampftruppen eingebettet und begleiten ihre Grenzen bringen würde. Durch das hohe Ausbil-
Bewegungen außerhalb der Lager. Sie müssen sich dungsniveau dieser Soldaten bildet sich eine breite
damit auch dem Gefecht stellen und nicht nur Ver- Schnittmenge notfallmedizinischer Fähigkeiten
wundete unter gegnerischem Feuer versorgen, son- zwischen Truppe und Sanitätsdienst, die die sanitäts-
dern auch als taktisches Element fungieren können. dienstliche Versorgung sinnvoll ergänzt. »Medics«
Es ist unabdingbar, dass Sanitäter das soldatische stellen außerdem die Erstversorgung sicher, wenn
Grundhandwerk beherrschen (»shoot, move, com- die anwesenden Sanitäter selbst Opfer eines An-
municate«), in Bedrohungslagen richtig reagieren schlags oder Gefechts werden sollten. Sie müssen in
und ihr notfallmedizinisches Vorgehen der Situa- ausreichender Anzahl und Ausbildungshöhe auf
tion anpassen können. allen Ebenen vertreten sein, um zu jedem Zeitpunkt
Weil nicht alle Bewegungen der Truppe bei der in den kritischen ersten Minuten sofort zur Stelle zu
hochmobilen, flexiblen Operationsführung moder- sein. Dies trifft insbesondere auf selbstständig ope-
ner irregulärer Konflikte von Elementen des Sani- rierende Elemente wie Spezialkräfte zu.
tätsdienstes begleitet werden können, war eine Nur so kann vermieden werden, dass sie sich
Professionalisierung der traditionellen »Selbst- und unter Feuer über längere Strecken zum Verwunde-
Kameradenhilfe« sinnvoll und unumgänglich ten bewegen müssen. Die Einsatzerfahrungen aus
(. Abb. 1.2). Die Ausbildung von Nichtsanitätern in Afghanistan zeigen, dass selbst in Fahrzeugkonvois
6 Kapitel 1 · Einleitung
. Abb. 1.4 Der Einsatz von Hubschraubern ermöglicht die Evakuierung aus schwierigstem Gelände und den schnellen
Transport in hochqualifizierte chirurgische Behandlungseinrichtungen. Er hat den Verwundetentransport revolutioniert.
(Aus [8])
. Tab. 1.1 Anteil aller Gefallenen bis zum Erreichen der ersten ärztlichen Versorgung an allen Getöteten und Ver-
wundeten, abzüglich der Verwundeten, die innerhalb 72 h ihren Dienst aufnehmen konnten (KIA: »killed in action«).
(Aus [8])
a Dieim Vergleich im Irak niedrigere Mortalität ist durch ein besonders enges Netz an chirurgischen Behandlungs-
einrichtungen und Luftrettungsmitteln bedingt.
In Kombination mit modernen chirurgischen Ausbildung von Einheiten wie dem Kommando
Versorgungskonzepten (»damage control surgery«) Spezialkräfte (KSK) und der Fernspähtruppe, deren
und der schnellen Evakuierung Verwundeter Aufgabenspektrum ein besonders hohes Ver-
(. Abb. 1.4) konnte durch das TCCC-Konzept erst- wundungsrisiko und eingeschränkte sanitätsdienst-
mals seit dem Krim-Krieg (1853–1856) der Anteil liche Versorgung mit sich bringt, in den Grund-
der Gefallenen bei Verwundungen deutlich unter sätzen von TCCC. Seit 2006 findet am Ausbildungs-
20 % gesenkt werden (. Tab. 1.1) [1]. Einzelne Ein- zentrum Spezielle Operationen, Pfullendorf, ein
heiten, die alle Angehörigen in den Grundsätzen jährliches TCCC-Symposium statt, das regelmäßig
taktischer Verwundetenversorgung geschult haben, von mehreren hundert Teilnehmern aus Militär,
konnten die Häufigkeit potenziell vermeidbarer Polizei und Rettungsdienst besucht wird.
Todesfälle bei Verwundeten drastisch senken oder Das TCCC-Konzept wurde nicht nur in nahezu
diese sogar ganz verhindern [4, 8]. allen Teilen der US-Streitkräfte eingeführt, sondern
2001 initiierte das US Special Operations Com- auch in die britische, kanadische und israelische
mand (USSOCOM) das Committee on Tactical Armee. Entsprechende zertifizierte Kurse sind dar-
Combat Casualty Care (CoTCCC), das die Leitlini- über hinaus in Deutschland, Australien, Spanien,
en regelmäßig den aktuellen Einsatzerfahrungen Peru und Mexiko veranstaltet worden oder ge-
und dem Stand der Wissenschaft anpassen soll. Im plant [2]. Auch Rettungsdienste erkennen den
gleichen Jahr begann auch in der Bundeswehr die Nutzen von Elementen der TCCC-Ausbildung für
Literatur
9 1
zivile Gefahrenlagen. So führte z. B. der Rettungs- Literatur
dienst der Stadt London nach den Bombenanschlä-
gen von 2005 entsprechende Algorithmen unter 1. Alam HB, Koustova E, Rhee P (2005) Combat Casualty
Care Research: From Bench to the Battlefield.
Berücksichtigung von Tourniquets und Hämostyp- World J Surg 29:7–11
tika ein [2]. 2. Butler FK (2011) CoTCCC Meeting Minutes, November
Im Bereich der Polizei hat sich in den USA in 2010. http://www.health.mil/Libraries/101101_TCCC_
den letzten 50 Jahren ein lokal sehr unterschiedlich Course_Materials/0611_CoTCCC_Meeting_Min-
ausgeprägtes Versorgungskonzept für polizeiliche utes_1011_Final.pdf
3. Butler FK, Hagmann J, Butler EG (1996) Tactical combat
Lagen gebildet (»Tactical Emergency Medical Sup-
casualty care in special operations. Mil Med 161 Suppl:
port«, TEMS). Die Grundsätze der Versorgung sind 3–16
dabei weitgehend deckungsgleich mit denen des 4. Deal VT, McDowell D, Benson P et al. (2010) Tactical
TCCC, lediglich Nomenklatur und Szenarien un- Combat Casualty Care February 2010. Direct from the
terscheiden sich. Daher wird in den USA derzeit Battlefield: TCCC Lessons Learned in Iraq and Afghanis-
tan. J Spec Oper Med 10(3): 77–91
vom CoTCCC in Zusammenarbeit mit zivilen Ex-
5. DGU (2008) Jahresbericht des Traumaregisters der
pertiseträgern an einem an die Erfordernisse von Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie. http://www.
Polizei und Rettungsdienst angepassten landeswei- traumaregister.de/images/stories/downloads/Jahresbe-
ten Standard gearbeitet [2]. richt_2008.pdf
Das zu Beginn von und für Spezialkräfte ent- 6. Holcomb JB (2003) Fluid Resuscitation in Modern Com-
wickelte Versorgungskonzept hat statistisch nach- bat Casualty Care: Lessons Learned from Somalia.
J Trauma 54:546–551
weisbar dazu beigetragen, dass Verwundete in 7. Stahel PF, Heyde CE, Wyrwich W (2005) Aktuelle Konzepte
modernen Konflikten eine erheblich bessere Über- des Polytraumamanagements: Von ATLS zu »Damage
lebenschance haben [6, 10]. Traditionelle Grenzen Control«. Notfall Rettungsmed 8:454–465
in den Maßnahmen von Sanitätspersonal und 8. Wedmore I (2011) Prehospital and Enroute Care. In:
Nichtsanitätspersonal sind dabei überwunden wor- Martin M, Beekley A (Hrsg.) Front Line Surgery. A Practical
Approach. Springer, New York, S 1–16
den und stehen für das übergeordnete Ziel einer
9. Willy C, Voelker HU, Steinmann R (2008) Kriegschirurgi-
optimalen Versorgung zurück. 1898 formulierte der sche Verletzungsmuster. UPDATE 2007. Chirurg 79:66–76
Leitende Chirurg der amerikanischen Nationalgar- 10. Kotwal RS, Montgomery HR, Kotwal BM et al. (2011)
de, Colonel Nicholas Senn: »Das Schicksal des Ver- Eliminating Preventable Death on the Battlefield. Arch
wundeten liegt in den Händen von denen, die den Surg 146(12):1350–8
ersten Verband anlegen.« Ebenso wie sein erklärtes
Vorbild, Prof. Esmarch, hat er schon vor über
100 Jahren die herausragende Bedeutung der Selbst-
und Kameradenhilfe erkannt, um die Überlebens-
chance des Verwundeten zu maximieren. Mit den
modernen Konzepten der taktischen Verwundeten-
versorgung ist die Militärmedizin diesem Anspruch
so nah gekommen wie noch nie in der Geschichte
[10]. Um den bestmöglichen Erfolg zu erzielen, ist
es aber unabdingbar, dass alle Soldaten bzw. Polizis-
ten in den Grundsätzen der taktischen Verwunde-
tenversorgung geschult werden [4, 10]. Dieses Buch
soll einen Beitrag dazu leisten, Expertenwissen und
Einsatzerfahrung zugänglich zu machen und damit
all jene zu unterstützen, die oftmals unter hoher
eigener Gefährdung um das Leben ihrer Kamera-
den und Kollegen kämpfen.
11 2
Medizinische Einsatzplanung
(»medical planning«)
K. Ladehof, C. Neitzel
2.2 Auftrag – 15
Literatur – 27
»Taktische Medizin« beschäftigt sich v. a. mit den die Aspekte der humanitären Hilfe und medizini-
»ausführenden Ebenen« der präklinischen Versor- schen Versorgung der Bevölkerung in einem durch
gung, den erstversorgenden Kräften, wie es auch im Kriegshandlungen oder Naturkatastrophen ver-
2 Begriff bereits zum Ausdruck kommt. Daher wer- wüsteten Land, umfassen alle Bereiche der Entwick-
den in diesem Kapitel v. a. allem Handlungsgrund- lungszusammenarbeit und können hier allenfalls
lagen für diesen Bereich dargestellt. Die Planungen gestreift werden.
auf der operativen und strategischen Führungsebe- > Grundsätzlich muss in der medizinischen Ein-
ne schaffen dennoch die Basis für die Detailplanun- satzplanung zwischen geplanten Operationen
gen der taktischen Ebene, sodass entscheidende mit ausreichendem Vorlauf, sozusagen einem
Aspekte und wichtige Grundlagendokumente auch elektiven Eingriff, oder der kurzfristigen Re-
bei den Einsatzkräften bekannt sein sollten. Auf der aktion auf eine bereits existente Lage diffe-
taktischen Ebene muss letztendlich auch beurteilt renziert werden.
bzw. geprüft werden, ob Vorgaben eingehalten wer-
den, die beispielsweise auf Länderebene (z. B. ge- Im erstgenannten Fall steht am Ende des Planungs-
setzliche Vorgaben für den Rettungsdienst) oder prozesses die Aussage, ob bestehende sanitäts-
multinational (z. B. NATO-Vereinbarungen) erar- dienstliche Vorgaben (z. B. »medical timelines«)
beitet wurden. Schließlich wurden diese entwickelt, erfüllt und etwaige Verwundete bestmöglich oder
um die Rahmenlage zu definieren, in der das best- nur mit Einschränkungen versorgt werden können.
mögliche Versorgungsergebnis überhaupt erreicht Demgegenüber gewinnt mit steigender Dringlich-
werden kann. So sind z. B. die vom Schweregrad der keit von Operationen die Beurteilung immer größe-
Verletzung abhängigen, maximalen präklinischen re Bedeutung, welche der möglichen Einsatzoptio-
Versorgungsintervalle (»medical timelines«) in nen sich am besten absichern lässt und damit aus
mehreren NATO-Dokumenten verankert [1, 2]. medizinischer Sicht zu bevorzugen wäre. Dies wird
Wenn der verantwortliche Planer der medizini- sicher ein wichtiges Entscheidungskriterium für
schen Einsatzunterstützung erkennt, dass notwen- den militärischen Führer oder Gesamteinsatzleiter
dige Voraussetzungen fehlen, muss dies gemeldet sein, aber er kann sich dennoch aufgrund taktischer
und eine Änderung der Planung dringend empfoh- Erwägungen für die Durchführung einer anderen
len werden. Option entscheiden. So ist die Annäherung an ein
Zielobjekt über einen Freifalleinsatz z. B. mit einem
Tipp
relativ hohen Verletzungsrisiko verbunden und
wird sich im Einsatz schlecht medizinisch absichern
Bei Vorschriften, Erlassen oder auch NATO-
lassen. Dennoch kann die größere Wahrscheinlich-
Vereinbarungen (z. B. STANAG 2087, MC 326/1
keit eines militärischen Erfolges das höhere Risiko
und /2, AJP 4.10) handelt es sich meist nicht
aufwiegen.
um »hinderliche Vorschriften«, sondern Argu-
Schließlich kann bereits eine Lage vorliegen, die
mentationshilfen und oftmals praxisorientierte
eine unmittelbare medizinische Einsatzunterstüt-
Planungsgrundlagen. Sie sind häufig einfach/
zung erfordert, die dann nur noch begrenzt und
kostenlos im Internet zu finden (7 Kap. 2.7,
reaktiv während des laufenden Einsatzes geplant
»Literaturverzeichnis«, insbesondere [1–7]).
werden kann (z. B. ein frühzeitiger Notangriff bei
einer Geisellage). Hier liegt der Schlüssel in der Er-
Die Komplexität der Einsatzplanung entspricht arbeitung und Erprobung von Standardeinsatz-
auch auf der taktischen Ebene der Vielzahl der Ein- konzepten (»standard operating procedures, SOP).
satzoptionen. Allein mit Checklisten und Details Diese sollten entweder das gesamte Spektrum mög-
für unterschiedliche Einsatzarten, verschiedene licher Einsätze abdecken oder eine flexible, schnelle
Klimazonen, unterschiedlichen Materialbedarf und Anpassung an die tatsächliche Situation ermögli-
zeitlichen Vorlauf oder unterschiedliche Zielgrup- chen. Entscheidend ist die Ausplanung und Ab-
pen der sanitätsdienstlichen Versorgung können stimmung grundsätzlicher Verfahren und der
Bücher bzw. Ordner gefüllt werden. Insbesondere Schnittstellen zu anderen Beteiligten.
2.1 · Entwicklung eines Einsatzplanes
13 2
2.1 Entwicklung eines Einsatzplanes
Lage / Auftrag
Die medizinische Einsatzplanung muss prinzipiell
immer mindestens zwei Lagen berücksichtigen und
im Rahmen der Möglichkeiten ausplanen: Einer-
seits die optimierte, bestmögliche Individualversor- LA
GE
gung eines oder weniger Verwundeter und anderer- ER
FE ENN
K
ST UNG
G
UN
seits die Eventualfallplanung für den »worst case«.
STE
GEB
LLU
Die anderen möglichen Szenarien werden sich dann
BEFEHLS
NG
durch abgestufte Nutzung der Möglichkeiten, die
/
für diese beiden Extremfälle ermittelt und einge-
plant wurden, bewältigen lassen.
Als Basis für alle Einsätze sollte eine grundsätz-
liche MASCAL-Planung existieren, die generelle
Zuständigkeiten festlegt (wer alarmiert, wer kann En ng
tsc ilu
welche Aufgaben übernehmen – dazu vorherige hlu rte
ss Beu
Klärung des medizinischen Ausbildungsstandes al-
ler Kräfte, welche Grundausstattung ist vorhanden, PLANUNG
auf welchen Wegen kann Nachschub/Verstärkung
angefordert werden etc.) (7 Kap. 11). . Abb. 2.1 Kreisschema des Führungsvorganges
Im Bereich der BOS beinhaltet das Kreisschema
des Führungsvorganges (DV-100, . Abb. 2.1) die
wesentlichen Aspekte der Einsatzplanung: Nach der wird eine konkrete Planung eingeleitet. Außerdem
Auftragsauswertung erfolgt eine Lagefeststellung, wird generell geprüft, welche Standard-SOP, an-
auf der die Beurteilung der Lage und der unter- gepasst an Auftrag und Einsatzspektrum/-optionen,
schiedlichen Möglichkeiten des Handelns basiert. vorliegen und genutzt oder angepasst werden
Es folgt ein Entschluss (Präzisierung der Umsetzung können, oder ob diese erst entwickelt werden müs-
des bevorzugten Vorgehens) aus dem die Befehls- sen. Hier sind erstmalig die beiden Prüffragen zu
gebung resultiert. stellen:
Das detaillierte handwerkliche Vorgehen bei der 4 Was ist bis wann zu entscheiden?
Ausplanung einer Operation (»operational planning 4 Welche Informationen sind noch zu beschaf-
process«) mit ausreichendem zeitlichen Vorlauf be- fen? (Gibt es schon Unterlagen? Können über
steht auf der operativen Ebenen aus 5 Phasen, die einen »request for information« (RFI) Berichte
sich auch auf der Durchführungsebene widerspie- von Experten oder Kräften, die bereits vor Ort
geln oder auswirken. Die Beschäftigung mit diesem sind, angefordert werden?)
Bereich wirkt etwas »trocken«. Aber nur wenn klar
ist, in welcher Phase sich die Operationsplanung be- j2. Orientierungsphase (Orientation)
findet, kann sie sinnvoll unterstützt und beeinflusst Sobald ein konkreter Auftrag gegeben wird oder die
werden. Dieses System ist im vollen Umfang für die Absicht der übergeordneten Führung klar erkenn-
vereinheitlichte Planung komplexer, militärischer bar ist, erfolgt sozusagen die erste Grobplanung, die
Operationen anzuwenden, kann aber genauso für »Idee des Gefechts« wird entwickelt. Die Auftrags-
die präzise Vorbereitung einer großen Polizeiopera- auswertung mündet in der Identifizierung mögli-
tion oder eines Feuerwehreinsatzes bzw. deren me- cher Kräfte für die Durchführung des Einsatzes.
dizinische Unterstützung eingesetzt werden. Der Unterstützungsbedarf wird ermittelt und An-
forderungen werden gestellt. Ein »medical mission
j1. Initiierung der Planung (Initiation) statement« (MMS) wird mit den anderen Kräften/
Ausgelöst durch eine Anforderung oder ein Ereig- Abteilungen und der Einsatzleitung abgestimmt. In
nis (z. B. eine Meldung über eine Flutkatastrophe) diesem »ersten Entwurf« für den Einsatzplan sollten
14 Kapitel 2 · Medizinische Einsatzplanung (»medical planning«)
folgende Fragen beantwortet werden: wer macht Lagevortrag zur Entscheidung (LVE) der Einsatz-
was, wann, wo und warum? leitung vorgestellt. Nach Priorisierung eines COA
Jetzt muss auch entschieden werden, ob eine erfolgt die Entwicklung des Konzeptes für die
2 Erkundung vor Ort für die Lagefeststellung not- Operation (CONOPS). Diese Arbeitsgrundlage für
wendig ist. den endgültigen Einsatzplan (Phase 4) wird dann
Dabei sollte auf keinen Fall vergessen werden, der übergeordneten Führung zur Genehmigung
ggf. weitere Spezialisten einzubinden. Dies betrifft vorgelegt.
insbesondere die Präventivmedizin, also z. B. Vete- > In dieser Phase sollte bereits jeder »San-Ver-
rinärmediziner oder Zoologen zur Beurteilung der antwortliche« (vom Medic bis zum Leitenden
Vektorlage. Andererseits werden z. B. auch »aus me- Notarzt) für seinen Bereich und auf seiner
dizinischer Sicht« Pioniere/THW zur Beurteilung Ebene planen und beraten. Dafür müssen
der Nutzbarkeit eines Gebäudes oder Zugangsweges frühzeitig eine engmaschige Kommunikation
benötigt. Schwerpunkt ist neben Epidemiologie und die Weitergabe von Informationen über
und Umwelt die Infrastruktur wahrscheinlicher Sta- das »bigger picture« erfolgen.
tionierungsorte. Außerdem müssen bei entspre-
chender Anforderung der Unterstützungsbedarf Dies betrifft z. B. Aufklärungsergebnisse und
des »Gastlandes« (»population at risk«, PAR, Ge- Grundlagenwissen, nachrichten- und fachdienstli-
sundheitssituation), eventuelle Kooperationen mit che (INTEL/MED-INTEL) Erkenntnisse betreffend
»Non-Government Organisations« (NGO) und Einsatzraum, Ziel, Feind etc. Nach Ausplanung in
wiederum lokale Unterstützungsmöglichkeiten den Teilbereichen können die Detailplanungen ab-
(»host nation support«, HNS) geprüft werden. Letz- gestimmt und zusammengeführt werden. So plant
tere können in Form von medizinischen Einrich- z. B. der Tactical Medic eines SEK nach Information
tungen und lokal nutzbaren Ressourcen bestehen über die interne (polizeiärztlicher Dienst) und ex-
(z. B. Überprüfung der lokalen Lebensmittel, aber terne Unterstützung (Einbindung und verfügbare
auch ob regionale Kommunikationsysteme nutzbar Mittel des zivilen Rettungsdienstes) die Absiche-
sind). Für alle Bereiche müssen die zuständigen Be- rung innerhalb eines Objektes aus. Diese koordi-
hörden und Ansprechpartner identifiziert werden. niert er wiederum mit seinem taktischen Führer
Detail-Checklisten finden sich in zahlreichen Pub- und dann mit dem medizinisch gesamtverantwort-
likationen (sehr gut z. B. [8]). Ausführliche Unter- lichen Polizeiarzt.
lagen sind z. B. über die WHO (www.who.int), bei
Tipp
NGO (z. B. Ärzte ohne Grenzen) oder »auf dem
Dienstweg« [9–12] zu erhalten. Für einen »Standard-
Die kontinuierliche Abstimmung mit dem
einsatz« fällt in diese Phase die Prüfung der Mög-
Einsatzleiter/militärischen Führer und seine
lichkeiten der Krankenhäuser in der Nähe des Ein-
fachliche Beratung in der Vorbereitung er-
satzortes (Wieviele OP-Gruppen sind nachts ver-
möglichen die bestmögliche Berücksichtigung
fügbar? Wo ist die nächstgelegene Neurochirurgie?
sanitätsdienstlicher Aspekte bei der Opera-
– im Detail 7 Abschn. 2.5).
tionsplanung. Im Einsatz werden Anpassungen
und die Berücksichtigung neuer medizinischer
j3. Entwicklung des Konzeptes für
Aspekte ungleich schwerer möglich sein.
die Operation (»Concept Development«)
Basierend auf der Auswertung bisheriger Aufträge
und nach Herausarbeiten der Ziele und Absichten
der Führung für diesen Einsatz werden die Mög- j4. Entwicklung des Operationsplanes
lichkeiten des Handelns (»Courses of Action«, (»plan development«)
COA) zur Umsetzung des Auftrages entwickelt. (Im Auf der Basis eines genehmigten CONOPS (DV100
Bereich der BOS-Planung in Deutschland ent- = »Entschluss«) wird jetzt der Detail-Plan für den
spricht diese Phase der »Beurteilung« nach DV100.) Einsatz ausgearbeitet. Dieser legt konkret Beteiligte,
Die unterschiedlichen Optionen werden in einem Einsatzmittel, Frequenzen etc. fest. Die »offizielle«
2.2 · Auftrag
15 2
Weitergabe an die Einsatzkräfte folgt im Anschluss, Tipp
ggf. bereits als Befehl für den Einsatz (DV 100 =
»Befehlsgebung«). Natürlich sollten die ausführen- Achtung! Eine SOP ist je nach Einheit nicht so
den Experten vorher ausgiebig eingebunden und eindeutig definiert, wie der Name suggeriert.
zur Durchführbarkeit befragt werden, wenn eine Das Spektrum reicht hier von »grobem Anhalt,
hohe Aussicht auf Erfolg bestehen soll. von dem die meisten schon einmal gehört
haben«, bis zur erprobten und verbindlichen
Tipp
Handlungsgrundlage.
Eine gemeinsame Grobplanung der sanitäts-
dienstlichen Experten (der verschiedenen
Ebenen und beteiligten Einheiten) und Brain-
storming möglicher Optionen kann den Orien-
2.2 Auftrag
tierungsprozess beschleunigen. Dann erfolgt
Der erste Schritt in der medizinischen Einsatz-
z. B. die Ausplanung verschiedener Optionen
planung ist die Auswertung des Auftrages.
durch Teams und das Zusammentragen der
»Voraussetzung für die Sicherstellung des sani-
Ergebnisse. Weitere Entscheidungen und Koor-
tätsdienstlichen Versorgungsauftrages ist die Kennt-
dinationsbedarf werden ermittelt und sinn-
nis der Führungs- und Einsatzgrundsätze der zu
volle Elemente und Komponenten für den Ein-
versorgenden Truppenteile sowie ihres taktischen
satzplan festgelegt.
Verhaltens und deren Berücksichtigung bei der
eigenen Einsatzplanung und Auftragserfüllung.«
(FüEinsGrds SanDstBw) [7].
j5. Überprüfung der Planung (»plan review«) Grundvoraussetzungen und zu klärende Fragen
Durch intensives Training und praktische Er- sind:
probung (»rehearsals«) muss die Eignung des Pla- 4 Was ist die erwartete »wesentliche eigene Leis-
nes überprüft und der reibungslose Ablauf gesichert tung«, für welchen Planungsbereich besteht die
werden. Auch während des Einsatzes geht die Verantwortung? Wer plant »unter und über«
kontinuierliche Überprüfung weiter (»Mission dem eigenen Zuständigkeitsbereich?
Execution Checklist«) und es muss ggf. umgehend 4 Kenntnis der und Verständnis für TTP
mit der Aktivierung eines Alternativplans reagiert (»tactics, techniques and procedures«)/SOP
werden. (»standard operating procedures«) und
»Medical planning« ist analog zum Führungs- (aktuellen) Auftrag der Einheit
vorgang als Teil eines kontinuierlichen Prozesses zu 4 Was ist die Absicht der Führung/Einsatzleitung
verstehen: aus dem Plan resultiert (nach Abstim- (»commanders intent«/»bigger picture«)?
mung, Erprobung und Übung) ein Konzept/Befehl 4 Wieviel Soldaten/Schutzbefohlene sind zu ver-
für den Einsatz – dieser wird durchgeführt und die sorgen (PAR)?
Probleme, Fehler und Verbesserungsmöglichkeiten 4 Welche sanitätsdienstlichen Kräfte (SanKr)
identifiziert. Diese müssen dann konsequent bei der werden wo, wann und in welcher Stärke be-
Planung für Folgeeinsätze berücksichtigt werden! nötigt – welche Kräfte stehen potenziell zur
Ziel muss es sein, ein dichtes Netz von funk- Verfügung (Anzahl/Ausbildungsstand Medics/
tionierenden Plänen für unterschiedliche Einsatz- Sanitäter)?
optionen in der Schublade zu haben. Diese müssen 4 Wie sieht der (übergeordnete) Weg des Ver-
dann kontinuierlich an Lageveränderungen ange- wundeteten aus (CONOPS)/welche Einrich-
passt werden (ist z. B. die neurochirurgische Kom- tungen sind dafür vorgesehen oder vorgegeben
ponente mittlerweile in einer anderen Einrichtung (»medical footprint«)? Was ist die Basis der
zu finden?). Dadurch können sie bei fehlendem eigenen Detailplanung für die aktuelle Mission?
zeitlichem Vorlauf notfalls für den konkreten Ein- 5 Gibt es bei unterschiedlichen »Zielgruppen«
satz genutzt werden. auch unterschiedliche Wege des Verwunde-
16 Kapitel 2 · Medizinische Einsatzplanung (»medical planning«)
ten? (Zum Beispiel ist es für Koalitionskräfte ROE der eigenen Ethik«? Gibt es ggf.
wahrscheinlich grundsätzlich sinnvoll, eine »Nachbesserungsmöglichkeiten«? So ist
geringfügig weitere Transportstrecke in Kauf man z. B. für die Versorgung von zivilen
2 zu nehmen, wenn dort die Betreuung in der Opfern zwar nicht zuständig, aber im kon-
Muttersprache möglich ist. Andererseits kreten Fall entspräche dies unterlassener
kann es auch sein, dass es diesbezüglich feste Hilfeleistung. In diesem Fall sollten vor der
Vereinbarungen gibt. Zivilisten sind in einer Operation »Zuständige« gefunden werden,
lokalen Behandlungseinrichtung auch für z. B. ein Krankenhaus, mit dem entspre-
ihre Angehörigen besser erreichbar). chende Vereinbarungen getroffen wurden.
5 Sind zusätzliche Maßnahmen zu bedenken Mindestens sollte geklärt werden, wie Un-
(z. B. besondere Schutzmaßnahmen/Sicher- terstützung nachgefordert werden kann:
heitsvorkehrungen bei Kriegsgefangenen Welche Krankenhäuser und zivilen Ret-
(»Prisoners of War«, POW) oder Tätern)? tungsmittel sind in der Nähe und wie wer-
4 Welche Neben- oder Zusatzaufträge bestehen? den sie alarmiert? Eine »fehlende Zustän-
Ist die Versorgung der Bevölkerung (»hearts digkeit« liegt wiederum möglicherweise
and minds«) vorgesehen oder möglich? (Bei nicht an der »Ignoranz der Führung«, son-
einem Polizeieinsatz besteht die Verpflichtung dern kann sich unmittelbar aus der politi-
zur medizinischen Versorgung auch Unbe- schen Rahmenlage ergeben. So durfte z. B.
teiligter in der »warmen und heißen Zone«. das »UNTAC field hospital« (die ROLE-
7 Kap. 27, 32) 3-Einrichtung der Angehörigen der UN-
5 Dichte und Gesundheitszustand der Be- Friedensmission in Kambodscha) anfangs
völkerung im Operationsgebiet oder der nicht nur aus Kapazitäts- und Kostengrün-
Familienangehörigen des Täters bei einem den offiziell keine Zivilbevölkerung be-
Zugriff? handeln: Aufgrund seiner Lage in Pnom
5 Wie ist das Vorgehen des Gegners? Wird Penh war es nicht für alle Konfliktparteien
vom Gegner »billigend hingenommen« erreichbar, sodass die ausschließliche
auch unbeteiligte Zivilisten zu treffen, »Behandlung einer Seite« als Mangel an
werden sie als »Schild« benutzt oder be- Neutralität ausgelegt werden konnte.
wusst bekämpft?
5 Wird der »Krieg auch über die Medien ge-
führt«? Ist dies der Fall, sollte unbedingt 2.3 Lagefeststellung
eine Bilddokumentation der medizinischen (Umgebungsfaktoren)
Versorgung (EBD) eingeplant werden!
4 Gibt es Auflagen oder Beschränkungen? Bei der Beurteilung der Rahmenlage geht es v. a. um
5 Welche Geheimhaltung bzw. Absicherung geographische Faktoren, insbesondere Gelände und
ist erforderlich (»operational security«, Klima, und ihren Einfluss auf den Einsatz. Die eben
OPSEC)? (Beispiel: Die Bereitstellung besprochenen Punkte, die die allgemeine politische
weiterer Kräfte anderer Einheiten bzw. des Rahmenlage sowie die Situation hinsichtlich der
zivilen Rettungsdienstes in einer Polizeilage Medien betreffen, könnten jedoch auch hier zu-
ist unter dem Versorgungsaspekt sicherlich geordnet werden.
wünschenswert. Andererseits besteht eine
höhere Gefahr, dass etwas »durchsickert« Gelände Das »Gelände« bezieht sich einerseits auf
und z. B. die Täter durch die Presse gewarnt das Relief, also z. B. auf Höhenlage und Passier-
werden. Dies kann den gesamten Einsatz barkeit, andererseits aber auch auf Bebauung bzw.
bzw. die Einsatzkräfte gefährden und über- Infrastruktur und Bewuchs.
haupt erst Verwundete verursachen). So werden die Transportzeiten in einem schwie-
5 Welche politischen Vorgaben/»rules of en- rigen, zerklüfteteten Gelände deutlich ansteigen.
gagement« (ROE) bestehen? »Reichen die Der Einsatz von schweren, geschützten Fahrzeugen
2.4 · Feindlage – negative Faktoren für den Einsatz (Versorgungsbedarf )
17 2
wird vom Ausbau des Straßennetzes, aber auch von nikationsmittel). Bei jeder dieser Lagen müssen die
der Bebauungsdichte abhängen. Wenn es sich um Einflüsse auf die Operation und die Möglichkeiten
einen urbanen Raum handelt, werden bodengebun- zur Kompensation bewertet und nach Möglichkeit
dene Transporte z. B. durch Straßensperren leicht Redundanzen (z. B. Geräte auf anderer technischer
zu behindern sein, während zusätzlich die Verfüg- Basis) vorgesehen werden.
barkeit von Landeflächen sehr begrenzt sein wird.
Einen Landeplatz in einer Stadt dann auch noch zu Tipp
sichern, kann nahezu unmöglich sein. Dies wiegt
Es wird bei der Beratung des Einsatzleiters hilf-
um so schwerer, da bei militärischen Operationen
reich sein, Konsequenzen und Optionen ge-
in bebautem Gelände (»military operations in
staffelt darzustellen:
urban terrain«, MOUT), aufgrund der kurzen
5 was muss sein (»es ist zwingend erforderlich«)
Gefechtsdistanzen im Orts- und Häuserkampf
5 was ist sinnvoll (»eigentlich wäre es gut«)
(»close quarter battle«, CQB), die Verwundungsrate
5 was optimal (»schön wäre«).
wesentlich höher liegen wird.
Auf andere, spezifische Probleme wird man bei
anderem Gelände treffen:
4 amphibische Operationen: z. B. geschützter Ein einfaches Beispiel dafür ist die Anzahl der zur
Transport des Materials Akklimatisation (Höhe, Wüste) nötigen Tage und
4 Operationen in großen Höhen: z. B. Akklimati- damit der zeitliche Vorlauf für eine Operation.
sationsprobleme (7 Kap. 33), aber auch die
schlichte Problematik von ausreichendem
Sonnenschutz oder die eingeschränkte Leis- 2.4 Feindlage – negative Faktoren für
tungsfähigkeit von Lufttransportmitteln den Einsatz (Versorgungsbedarf )
4 bei stark felsigem Gelände: z. B. Kanalisierung
durch die zwingende Nutzung von Wegen mit Die Feindlage bezieht sich auf alle Bedrohungen, die
höherem Anschlagsrisiko und die höhere Ver- unmittelbar für Verwundungen, Verletzungen oder
letzungsgefahr etc. Erkrankungen verantwortlich sind (»Medical
Threat Assessment«).
Klima Der Bereich »Klima« ist ähnlich komplex Ziel ist also, eine möglichst präzise Lagebeurtei-
und der negative Einfluss von Hitze (7 Kap. 36), lung hinsichtlich der Risikofaktoren für die eigenen
Kälte (7 Kap. 38) und Feuchtigkeit v. a. auf die Leis- Kräfte bzw. die PAR, um Umfang, Art, Zeitpunkt
tungsfähigkeit von Mensch und Material ist offen- und Ort des Unterstützungsbedarfs konkreter be-
sichtlich. Für das erforderliche Spektrum von stimmen zu können. Anders formuliert, geht es um
Behandlungsmöglichkeiten kann gekühlter oder die Darstellung der Nachfrage, damit das Angebot
gewärmter Stauraum für Infusionen oder bestimm- – die sanitätsdienstlichen Mittel – angepasst und
te Medikamente unabdingbar sein. der mit der Bereitstellung verbundene Aufwand ge-
Allein die Lösung von Problemen wie die Ge- rechtfertigt werden kann.
währleistung ausreichender Trinkwasserversorgung Wenn also z. B. bei Operationen kleiner Ele-
(speziell z. B. bei einer längeren oder womöglich so- mente in schwer zugänglichem Raum ein hohes
gar abgesessenen Operation) kann entscheidend für Risiko von IED-Anschlägen besteht, müssen einer-
die Durchführung eines Auftrages sein. Eventuell seits unbedingt Mittel für den Lufttransport von
kann schon der Ausfall des schwächsten Gliedes ei- Verwundeten vorgehalten werden und andererseits
ner Kette die Durchführung eines Einsatzes gefähr- in diesen Elementen trotz des hohen Aufwandes
den (z. B. fällt der Kampfmittelbeseitiger, EOD, oder ausgewählte Kräfte eine medizinische Zusatzquali-
der Sprachmittler wegen Hitzeerschöpfung aus) fikation erhalten.
oder in einer deutlichen Verschlechterung der Ver- Dass umweltbedingte Faktoren ebenfalls zur
sorgung resultieren (z. B. staub- oder feuchtigkeits- »Feindlage« beitragen können, wurde bereits bei
bedingter Ausfall des Monitoring oder der Kommu- den Rahmenbedingungen angesprochen.
18 Kapitel 2 · Medizinische Einsatzplanung (»medical planning«)
Einer der beiden Schwerpunkte ist die Feindlage 4 Welche Erkrankungen kommen im Einsatz-
im engeren Sinn: gebiet gehäuft vor? Welche Überträger (Vekto-
4 Welche Feind(-stärke) und Bewaffnung ist be- ren) und Reservoire gibt es? Besteht aufgrund
2 kannt; besteht eine Rückhalt in der Bevölke- des spezifischen Migrationshintergrundes
rung bzw. im Stadtviertel oder »Milieu«? Aber eines Täters ein erhöhtes Infektionsrisiko, z. B.
auch: Besitzt der Täter einen Hund? hinsichtlich Tuberkulose oder HIV?
4 Welche Taktiken sind zu erwarten und wie 4 Welche Impfungen sind erforderlich/sinnvoll
groß ist die jeweilige Wahrscheinlichkeit (IED, und welcher zeitliche Vorlauf wird dement-
(offener) Angriff, ungerichteter Beschuss des sprechend gebraucht? Bei möglicherweise
Lagers mit Fernwaffen (Raketen, Mörser) etc.)? kurzfristigen Einsätzen muss Schlüsselpersonal
4 Wann finden die Angriffe statt? Bestehen eigene identifiziert werden, das einen breiten Basis-
Schutz (-Bunker) und Gegenmaßnahmen (luft- impfschutz erhält.
gestützte Gegenangriffe, CAS)? Daraus folgen (Datenbank für die Einheit anlegen und aktives
indirekt Möglichkeit (Zahl) und Art eigener Monitoring betreiben.)
Verwundeter. Einige Faktoren können diesbe- 4 Welche Chemo- und (individuelle) Expositi-
züglich dramatische Unterschiede verursachen onsprophylaxe (Repellents, Moskitonetze etc.)
(z. B. der – unerwartetete – Einsatz von Kampf- ist geeignet?
stoffen oder eine fehlende Luftüberlegenheit). 4 Welche Schutzmaßnahmen sind für eine feste
4 Hält sich der Gegner an völkerrechtliche Kon- Einrichtung möglich? (»Feldlager-Hygiene«,
ventionen? Wie hoch ist die Gewaltbereitschaft Vektorenmonitoring (CDC-Lichtfallen) und
eines Täters in polizeilichen Lagen? -kontrolle (z. B. Trockenlegen oder Behandeln
4 Wie wird der Gegner auf das eigene Vorgehen von Teichen, Errichtung von Wällen bei ge-
reagieren? (»Likely enemy causes of action?«) ringer Flughöhe von Insekten, Barrieresprit-
Ob er ausweicht oder verteidigt, erfordert zungen etc.).
einen unterschiedlichen Ansatz eigener Kräfte 4 Wie ist die Qualität der lokalen Verpflegung?
(ein Beispiel für die unzureichende Berück- 4 Welche Gifttiere und -pflanzen kommen vor?
sichtigung dieses Faktors war die Operation Sind Antidote und -venine verfügbar und kön-
Anaconda). nen sie gelagert werden? Auch dieser Aspekt
4 Wann und wo wird der Gegner/Täter am des »Medical Plannings« muss nicht auf exoti-
wahrscheinlichsten überrascht werden und sche Einsatzgebiete beschränkt sein, wie die
seine Waffen nicht einsetzen? reale Meldung »möglicherweise freilaufende
4 Besteht eine Kampfstoffbedrohung? Welche Giftspinnen in der Wohnung« bei der Er-
Schutzausrüstung ist für alle Soldaten/Spezia- teilung des Auftrages für einen SEK-Zugriff
listen erforderlich? Müssen spezielle Medika- belegt.
mente (Iod, Antidote, Antibiotika) vorgehalten
werden? Welche Behandlungsmöglichkeiten Hier sollte unbedingt das Expertenwissen (»medi-
sind vorhanden (7 Kap. 39–41)? cal intelligence«) des Robert Koch-Institutes (RKI)
bzw. von tropenmedizinischen Einrichtungen oder
Abhängig vom Einsatzland und den getroffenen eigenen Fachabteilungen eingeholt werden (Bun-
Maßnahmen kann die infektionsepidemiologische deswehr: Sanitätsamt der Bundeswehr, Abteilung V.
bzw. tropenmedizinische Bedrohungslage einen wei- Die Informationsleistungen umfassen u. a. detail-
teren bedeutsamen Schwerpunkt bilden. So hatte die lierte Länderberichte und eine Hotline [7]).
Rote Armee im sowjetisch-afghanischen Krieg höhe- Im Internet gibt es auch hier verlässliche Quel-
re Ausfälle durch Infektionskrankheiten als durch len, z. B. eben das RKI (www.rki.de) oder das CDC
Kampfhandlungen. Drei Viertel der in Afghanistan (»Centers for Disease Control and Prevention«,
eingesetzten Soldaten mussten während ihres Einsat- www.cdc.gov) und gute Handbücher lassen sich he-
zes stationär behandelt werden. Als Ursachen stan- runterladen, z. B. zu Infektionserkrankungen in
den Hepatitis und Typhus im Vordergrund [14]. Einsatz- bzw. Herkunftsländern die »Steckbriefe
2.4 · Feindlage – negative Faktoren für den Einsatz (Versorgungsbedarf )
19 2
seltener und importierter Infektionskrankheiten« entscheidender Bedeutung ist und die vorhandenen
des RKI [15]. Behandlungsressourcen effektiv den Patienten mit
Die Beurteilung des Einsatzraumes (»area of realistischen Überlebenschancen gewidmet werden
operations«, AO) betrifft v. a. das primäre Opera- müssen, gelten in LIC zumeist mit der zivilen Not-
tionsgebiet, aber (vorgeschobene) Einsatzbasen fallmedizin vergleichbare individualmedizinische
(»Forward Operating Base«, FOB) oder Zwischen- Behandlungsansätze. Daraus resultiert, dass im LIC
stationen (z. B. »staging areas«) müssen natürlich die sanitätsdienstlichen Kräfte sehr weit vorne – ty-
auch hinsichtlich der »regionalen Bedrohungslage« pischerweise durch Eingliederung in Teileinheiten
beurteilt werden. (So kann z. B. die Malariaprophy- ab Zugstärke – und vergleichsweise stark ausge-
laxe im eigentlichen Einsatzraum unwichtig, aber bracht werden, während bei einem HIC der Ansatz
aufgrund des längeren Aufenthaltes der Eingreif- weiter hinten erfolgt. Im günstigsten Fall kommt es
kräfte, QRF, in einer FOB erforderlich sein). beim LIC nur zu seltenen, »punktuellen« Ausfällen
Die Kalkulation potenzieller, eigener Ausfälle (z. B. durch einen einzelnen Anschlag), so dass eine
(»casualty rate estimates«, CRE) und des dadurch Situation analog zu (z. B. Polizei-)Einsätzen im
bedingten Versorgungsbedarfes ist ein Bestandteil Inland besteht, dass heisst die regionale, zivile
operativer Planung. Sie ist wesentlich von der Infrastruktur ist nutzbar, evtl. sind lediglich die
Feindlage abhängig. Details und Verfahren sind u. a. Sicherheitsvorkehrungen erhöht.
Gegenstand von Forschungsvorhaben und finden Ändert sich die Lage schnell, kommt dies daher
sich in zahlreichen Publikationen [3, 5, 13]. aus sanitätsdienstlicher Sicht einem Paradigmen-
Eine besondere Herausforderung liegt bei der wechsel gleich, der nicht nur andere taktische Prio-
Planung in der Unterscheidung zwischen Konflik- ritäten bedingt, sondern auch hinsichtlich des
ten hoher Intensität (»high intensity conflicts«, Materials völlig unterschiedliche Ansprüche stellt.
HIC) mit umfassenen Kampfhandlungen im Sinne Die Bundeswehr z. B. ist in die Auslandseinsätze der
eines klassischen Krieges, und Konflikten niedriger 1990er Jahre mit auf Hochintensitätskonflikte aus-
Intensität (»low intensity conflicts«, LIC) wie sie gerichtetes Material und Gliederungen gestartet.
z. B. im Afghanistan-Einsatz über weite Strecken Die typischerweise mit Transportkapazität für vier
typisch waren. Kennzeichnend für Kampfhandlun- Liegendverwundete ausgestatteten Fahrzeuge wur-
gen hoher Intensität ist ein im Vergleich zu den ver- den mehr und mehr durch solche mit einem dem
fügbaren sanitätsdienstlichen Kräften sehr hoher zivilen Rettungsdienst angepassten Transportraum
Verwundetenanfall, der regelmäßig keine Individu- sowie umfangreicherem medizinischen Material
albehandlung nach zivilen Standards mehr erlaubt. aber nur noch ein bis zwei Tragen ersetzt. Als pha-
Triagierung und ein möglichst geordneter »Ab- senweise um Kunduz herum hochintensive Gefech-
fluss« der Verwundeten über gestaffelt aufgebaute te stattfanden, machte sich der Mangel an sanitäts-
Behandlungseinrichtungen mit eingeschränkten dienstlichem Transportraum schmerzlich bemerk-
therapeutischen Möglichkeiten aus der Kampfzone bar. Hier gilt es, die Fähigkeit zum »Umschalten«
»nach hinten« sind typisch für den HIC (ROLE 1–4; weder materiell, personell noch konzeptionell zu
7 Abschn. 2.5 und Kap. 4). An die Gliederung und verlieren. Diese Erfahrung musste auch die Israeli-
Ausrüstung, insbesondere hinsichtlich der Liegend- sche Armee machen, die bei den regulären Operati-
transportkapazitäten, wird hier ein völlig anderer onen (LIC) in ihrem – kleinen – Land die Möglich-
Anspruch gestellt als bei Konflikten niedriger Inten- keit hat, sogar bodengebunden hochqualifizierte,
sität. zivile Versorgungseinrichtungen schnell zu errei-
Bei »low intensity conflicts« ist die Anzahl von chen. Dieses Konzept musste dann im 2. Libanon-
Truppen, Bewegungen im Raum und von Gefechten krieg zügig um »klassische«, vorgeschobene militä-
deutlich geringer, so dass jedem einzelnen Ver- rische Behandungseinrichtungen ergänzt werden,
wundeten oder Gefallenen eine erheblich höhere um auf den höheren Bedarf und die verzögerte
Bedeutung zugemessen werden kann. Während im Evakuierung zu reagieren. Auch hier musste die
Falle des HIC der klassische Weg des Verwundeten sanitätsdienstliche Versorgung im Hochintensitäts-
mit einer möglichst hohen Transportkapazität von konflikt erst wieder erlernt werden.
20 Kapitel 2 · Medizinische Einsatzplanung (»medical planning«)
Eine Zwischenstufe können z. B. kontrollierte Darauf aufbauend werden die Kräfte und Mittel im
Bereiche, sog. »green zones«, innerhalb eines Ein- eigenen Zuständigkeitsbereich organisiert.
satzraumes mit sonst hoher Gefährdung sein, inner-
2 halb derer bzw. nach deren Erreichen im Regelfall
von einer geringen Bedrohung ausgegangen werden 2.5.1 Medizinische Behandlungs-
kann. einrichtungen
Bedarfsberechnungen können sich über Be-
handlungskapazität und Transportraum hinaus z. B. Alle potenziell nutzbaren Behandlungseinrichtun-
auch auf den Bedarf an Blutprodukten erstrecken: gen (»medical treatment facilities«, MTF) im Ein-
so kann man relativ konfliktunabhängig (lediglich satzraum und ihre Leistungsfähigkeit, Nutz- und
bezogen auf ballistische Verletzungen) davon ausge- Erreichbarkeit sind festzustellen. Meistens wird
hen, dass etwa 20 % der Verwundeten transfusions- dieses größere Lagebild (»medical footprint«)
pflichtig sein werden und weitere 5 % über 10 Ein- bereits vorliegen und ein großer Anteil der notwen-
heiten benötigen [13]. digen Informationen muss nur angefordert wer-
den. Wichtig ist es, die Verlässlichkeit und Aktua-
lität der Angaben zu beurteilen und ggf. eine
2.5 Eigene Lage – Kräfte für den Überprüfung bis hin zu einer persönlichen Erkun-
Einsatz (Versorgungsangebot) dung vorzunehmen. Die wichtigsten Einrichtun-
gen sind diejenigen, die lebensrettende Maßnah-
Nach Auswertung des Auftrages und Ermittlung men durchführen können, die die eigenen Mög-
des möglichen Bedarfs muss beurteilt werden, wel- lichkeiten der präklinischen Versorgung über-
che Kapazität zur Verfügung steht, um einen Einsatz steigen. Die größte Bedeutung hat also die Frage:
sanitätsdienstlich abzusichern. Es wird sozusagen wer kann innere Blutungen stillen und was muss
das vorhandene »Angebot«, die »positiven Fakto- getan werden, um diese Einrichtung zu nutzen
ren«, ermittelt. Abschließend kann nach einer Ge- (»DCS-capability«, »damage control surgery«,
genüberstellung über den besten Einsatz der eige- 7 Kap. 4). Bei dynamischen Einsätzen mit Bewe-
nen Kräfte entschieden und ggf. weitere Kräfte an- gungen im Einsatzraum (mobilen Lagen) muss ge-
gefordert werden. klärt werden, ob Zuständigkeiten wechseln bzw.
Bei der Feststellung vorhandener Möglichkeiten andere Behandlungseinrichtungen besser erreich-
wird es natürlich einen deutlichen Unterschied ma- bar sind. Dies kann z. B. mit der Festlegung be-
chen, ob noch ein ausreichender zeitlichen Vorlauf stimmter »Ablauflinien« im Gelände koordiniert
besteht oder ob der Einsatz unvermeidbar und werden.
kurzfristig durchgeführt werden muss. Im ersten 4 Welche Einrichtungen sind verfügbar und was
Fall geht es um die optimale Ausplanung und vor- können sie?
handene Kräfte und Einrichtungen werden sicher 5 Personalschlüssel und
kritischer bewertet werden, als wenn es um die Er- Behandlungskapazität/-spektrum (Fähigkeit
mittlung aller schnell verfügbaren und noch ver- der operativen Erstversorgung/DCS,
tretbaren Möglichkeiten geht. Eventuell kann die Neurochirurgie, Intensiv- und Verbren-
Betrachtung der Situation auch unter dem Aspekt nungsbetten, Isolationsbetten/Isolierstation,
erfolgen, dass eine Aussage hinsichtlich der Durch- Röntgen/CT, Blutbank (wieviele Konser-
haltefähigkeit oder möglicher Abbruchkriterien ven), Labor. Diese kurze Liste stellt Kern-
getroffen werden muss. fähigkeiten dar. Eine gute Liste zur
Drei Schlüsselfragen müssen geklärt werden: Krankenhausevaluierung wurde durch das
4 Wer versorgt die Verwundeten weiter? TEMOS-Projekt entwickelt. www.temos-
4 Wer transportiert sie dorthin? worldwide.com/media/forms/Medical_
4 Wie kann die Kommunikation sichergestellt Facility_Short_Information_Chart.pdf)
werden? 5 Durchhalte- und Schichtfähigkeit; besteht
eine MASCAL-Planung (7 Kap. 11) bzw.
2.5 · Eigene Lage – Kräfte für den Einsatz (Versorgungsangebot)
21 2
gibt es einen erprobten Krankenhausalarm- werden. Auf dieser Basis können die bestgeeigneten
plan? Einrichtungen genutzt werden, wenn es zu Verwun-
5 Sicherheit, An- und Abtransport, deten kommt bzw. können mehrere Verwundete
Landeplatz/-möglichkeit (»Helicopter ggf. in verschiedene Einrichtungen gebracht wer-
Landing Site«, HLS) den, um (Operations-)Kapazitäten nicht zu über-
5 alternative Anfahrtstrecken, Koordinaten fordern [16].
der Einrichtung und Lage des Übergabe- Bei einem polizeilichen Einsatz kann z. B. auch
punktes für Patienten (Notaufnahme/ ein etwas weiter entferntes Krankenhaus die bevor-
Schockraum/Eingangssichtung) zugte Versorgungseinrichtung sein, da die Sicher-
4 Eigene Einrichtungen: Mindestausstattung und heitsvorkehrungen besser oder die »Anschlussver-
Leistungsfähigkeit sind unmittelbar durch die sorger« persönlich bekannt sind. Oder es werden
Bezeichnung mit einer definierten Ebene fest- Absprachen getroffen, die verhindern, dass man vor
gelegt [4] (7 Kap. 4) – so verfügt z. B. eine einer Schranke an der Zufahrt zur Notaufnahme
»ROLE 2«-Einrichtung regelhaft über mindes- steht und eine Diskussion mit dem »Nachtportier«
tens eine Operationsgruppe. führen muss.
4 Einrichtungen »befreundeter Organisationen«
(Koalitionskräfte/Hilfsorganisationen):
Bei NATO-Kräften gilt ebenfalls die genannte 2.5.2 Transportmittel
Klassifikation. Abhängig von der Nation, die
die Einrichtung betreibt, sollte man die Erfül- Angepasst an Lage und Auftrag müssen alle po-
lung dieser Vorgaben jedoch durchaus über- tenziellen Transportmittel identifiziert werden
prüfen. Hilfsorganisationen verfügen u. U. (7 Kap. 4). Im Regelfall werden Lufttransportmittel
ebenfalls über sehr gute und pragmatische Be- die entscheidende Ressource sein. Gerade bei Ein-
handlungseinrichtungen. Die Nutzung durch sätzen in urbanem Gelände oder bei gut ausgebau-
militärische Kräfte kann jedoch im besten Fall tem Straßennetz kann es jedoch durchaus die beste
eine Notlösung sein, da dies möglicherweise Lösung sein, mit einem eigenen bodengebundenen
die schützende »Neutralität« gefährdet. Transportmittel unmittelbar eine Behandlungs-
4 Einrichtungen des Einsatz-/Gastlandes können einrichtung anzufahren. Entscheidend sind auch
möglicherweise im Rahmen von HNS genutzt hier Flexibilität und Redundanz der Planung. Oft
werden [7]. Das Spektrum kann hier selbst in werden Kreativität und Improvisation benötigt.
Ländern mit sonst stark zerstörter Infrastruk-
Tipp
tur extrem breit gefächert sein. So gibt es z. B.
in Saida (Sidon) im Südlibanon ein ISO- und
Muss im Rahmen von Einsätzen auf improvi-
DIN-zertifiziertes Traumazentrum, das auch
sierten Verwundetentransportraum zurück-
im Libanonkrieg 2006 ohne Einschränkungen
gegriffen werden (z. B. gemieteter Kleintrans-
in Betrieb war.
porter mit Matratze), sind beispielsweise
Hier sollten die »offiziellen Informationen«
Zurrgurte und Werkzeug zur Befestigung der
unbedingt auf die Verlässlichkeit geprüft wer-
medizinischen Geräte extrem wertvoll. Außer-
den, im Regelfall mit einer Erkundung vor Ort.
dem wird sich spätestens hier der Wert modu-
Werden Mindeststandards erfüllt? Außerdem
larer, miniaturisierter Ausrüstung (7 Kap. 3)
müssen Ansprechpartner identifiziert, Ab-
und geeigneter Behältnisse zeigen.
sprachen getroffen und ggf. Vereinbarungen
schriftlich festgehalten werden.
Prüffragen für die medizinische Evakuierung sind
Nachdem diese Einrichtungen und ihre Leistungs- generell:
fähigkeit ermittelt wurden, sollten Kommunikation 4 Anforderungsverfahren: Wer entscheidet und
und Schnittstellen (stimmen Telefonnummern/Fre- koordiniert den Einsatz von (Luft-)Transport-
quenzen/Rufnamen noch?) regelmäßig überprüft mitteln?
22 Kapitel 2 · Medizinische Einsatzplanung (»medical planning«)
4 Wie ist die Erreichbarkeit sichergestellt (Tele- In multinationalen Einsätzen oder bei Unterstüt-
fon, Funkfrequenz, Rufnamen, Alternative/ zung durch befreundete Streitkräfte in besonderen
Redundanz)? Lagen ist es unabdingbar, sich mit der jeweiligen
2 4 Welche Sicherungskomponente (»force protec- Terminologie auseinanderzusetzen. Begrifflich-
tion«) ist notwendig/verfügbar? (Ggf. Unter- keiten können sich dann nochmals zwischen den
schiede zwischen CasEvac/MedEvac/TacEvac jeweiligen Teilstreitkräften unterscheiden. Wenn
(7 Kap. 4) beachten)! z. B. eine AirMedEvac-Unterstützung durch die
4 Wie ist die Verbindung zum Transportmittel US-Luftwaffe möglich ist, kann das Wissen für den
sichergestellt (VHF, UHF, SATCOM, HF, Verwundeten entscheidend sein, dass es neben
digital, ...)? Rufname und Frequenzen? einem «Aeromedical Evacuation Team« auch ein
4 Über welche Transportkapazität in welcher auf Intensivtransporte spezialisiertes «Critical Care
Qualität (Anzahl der Tragen und Sitze, Qualifi- Air Transport Team« (CCATT) gibt.
kation des Personals und Umfang des Materi-
als) verfügen diese Mittel?
4 Welche Reichweite, Anfahrt- und Transport- 2.5.3 Führungsstrukturen
zeiten haben sie? (»Raum-Zeit-Berechnung« und -mittel (Command – Control
Zeit bis zur Abfahrt/Start (»notice to move«, – Communicate, C3)
NTM) plus Fahrt-/Flugzeit)
4 Wie erfolgt die Übergabe? (Halte- bzw. Lande- Neben der grundsätzlichen Klärung der Führungs-
platz: Einrichtung durch Truppe, Sicherung, strukturen (wem sind welche sanitätsdienstlichen
Aufnahmeverfahren Tag/Nacht) Kräfte unterstellt?) und Zuständigkeiten ist hier die
4 Können die Transportmittel bei besonderen redundante Sicherstellung der Kommunikation
Operationen oder hohem Risiko bereits Ob- zwischen allen beteiligten Kräften bzw. Funktionen
jekt-näher stationiert werden? Wie werden sie ausschlaggebend. Dabei wird eine Schwierigkeit da-
in diesem Fall gesichert? rin liegen, die fachliche Kommunikation zu ermög-
4 Sind die für den Transport der eingesetzten lichen, ohne den »taktischen Funk« zu behindern.
Kräfte vorgesehenen Mittel auch für den Ver- Abhängig von der Größe des Einsatzes sowie Stärke
wundetentransport nutzbar? und Ausbildungsstand der Sanitätskräfte kann
4 Spezifisch für bodengebundenen Verwunde- durchaus Koordination, Führung und fachlicher
tentransport (GroundMEDEVAC): Rat auf dem Fernmeldeweg erforderlich sein. Na-
5 Welche Fahrzeuge sind in welchen Schutz- türlich ist es der Plan A, Kräfte und Mittel räumlich
klassen verfügbar? zusammenzufassen (CCP/PA), aber dies wird nicht
5 Können sie aufgehalten werden? Gelände- immer machbar sein. Zwei Funkkreise sind eine
gängigkeit (inkl. Bodenfreiheit und Wat- Option, stellen aber hohe Anforderungen an den
fähigkeit); Eng-/Schlüsselstellen bei der An- medizinischen Führer. Zwingend erforderlich ist es,
fahrt, Bedrohung der Anfahrtstrecke durch dass alle Sanitäter über Funk erreicht werden kön-
Feindkräfte etc. nen und ausreichende Kenntnis über die taktischen
4 Spezifisch für luftgestützten Verwundeten- Verfahren haben. Wenn es beispielsweise ein Code-
transport (AIRMEDEVAC): wort gibt, das das sofortige Verlassen eines Objektes
5 Annäherung an das LFz, Besonderheiten durch alle Kräfte nach sich zieht, wäre es sinnvoll,
bei der Beladung wenn auch die Sanität es kennt. Prüffragen:
5 Einschränkungen der Verfügbarkeit (Nacht- 4 Sind Unterstellung und Zuständigkeiten (vor
flugfähigkeit, Wetter, Höhe) Ort) klar geregelt?
5 Verfügbarkeit Winde und Mitführung eines Erprobte Zusammenarbeit (7 Abschn. 2.1)!
geeigneten Rettungssystems (z. B. SKED- 4 Haben alle Kräfte ausreichende Fernmelde-
Trage) bei schwierigem Gelände/fehlendem mittel (und weitere Arbeitsmittel wie Sprech-
Landeplatz (explizite Anforderung mit tafeln), sind Funknamen und Terminologie ge-
9-Liner bzw. Hinweis an die Leitstelle!) klärt?
2.5 · Eigene Lage – Kräfte für den Einsatz (Versorgungsangebot)
23 2
4 Wie sind die Führungsstrukturen des Sanitäts- 2.5.4 Eigene Ressourcen
dienstes (PECC etc.)? Welche Alarmierung und und Leistungsfähigkeit
Meldewege (»9-Liner«, Nachschub) sind fest-
gelegt? Mit der Klärung der oben genannten Faktoren wird
4 Sind die Kommunikationswege eindeutig die Basis geschaffen, um die eigentliche Aufgabe
(Fernmeldeplan)? Wer meldet was? auszuplanen: den Einsatz der eigenen Kräfte zur
> Die Funkverbindungen müssen mit aus-
Sicherstellung der präklinischen Versorgung
reichendem Vorlauf (bei Übergabe des
(ROLE 1). Wie bereits in 7 Kap. 1 dargestellt, liegt
Materials) und unmittelbar vor Einsatzbeginn
der Schlüssel in einer möglichst enggliedrigen bzw.
geprüft werden!
sich überlappenden Kette qualifizierter Versorger.
Diese reicht primär von der entscheidenden Erst-
versorgung (7 Kap. 6) bis zur Übergabe an die
Tipp
nächsthöhere Behandlungsebene.
Stärke, Position und Ausbildungsstand der sani-
Während der Versorgung von Patienten fehlt
tätsdienstlichen Elemente wird sich am wahrschein-
den Sanitätern meist der Lageüberblick. Die
lichsten Verlauf, dem Schwerpunkt des Einsatzes und
Erkundung, Markierung und Sicherung von
dem Schwerpunkt des möglichen Verwundetenauf-
Hubschrauberlandeplätzen erfolgt im Regelfall
kommens ausrichten. Prinzipiell ist dabei natürlich
ohnehin durch den taktischen Führer. Daher
anzustreben, höchstmöglich qualifizierte Kräfte so
sollten sinnvollerweise lediglich die medizi-
nah an den Ort der Verwundung zu bringen, wie es
nisch relevanten Teile des 9-Liners (Zeile 3–5, 8,
vertretbar ist. Dies wird jedoch die Grenze im takti-
ggf. MIST, 7 Kap. 4) an ihn gemeldet werden.
schen Ausbildungsstand und der Endlichkeit dieser
Nach Komplettierung setzt er diesen ab.
Ressource finden. Wie in 7 Abschn. 2.1 dargestellt,
müssen unterschiedlichste Verläufe einschließlich
Die Kommunikation mit den aufnehmenden Ein- des Fehlschlagens des Einsatzes (7 Kap. 11) in der
richtungen erfolgt unmittelbar durch die SanKr. Planung berücksichtigt werden.
4 Ist die weitere Ausstattung der SanKr vollstän- > Flexibilität und Improvisationsfähigkeit sind
dig? (Nachtsichtgeräte, Signalmittel, Nebel). entscheidend für den Operationserfolg – und
4 Ist die Versorgung mit Nachschub an Sanitäts- können dennoch durch sorgfältige Planung
material ein- und ausgeplant? (Definierte Kits, unterstützt werden (»Back-up-Plan B bis X«).
ggf. Abwurf etc; s. unten).
4 Sind die Standorte/Positionen von »Schlüssel-
personal« klar? (Einsatzleiter, Fernmelder mit jPrüffragen für den Einsatz der eigenen
Funkverbindung großer Reichweite zu MTF/ (San-)Kräfte
Evakuierungsmitteln, EOD, FAC/SOTAC, 4 Wie können die eigenen Kräfte dem Bedarfs-
MasterMedic etc.). träger am sinnvollsten zur Verfügung gestellt
4 Sind alle Kräfte in den Plan eingewiesen? Ist werden?
jedem sein Auftrag und seine Position klar? 5 Integriert in die Truppe oder als geschlosse-
Haben alle das »größere Lagebild« und den ge- nes Element?
planten Weg des Verwundeten (sowie den 5 Abgesessen oder aufgesessen?
»Plan B«) vor Augen? 5 Welches Kfz bietet die ideale Mischung aus
4 Gelegenheit für Feedback/Überprüfung bzw. Schutz, Beweglichkeit und Transportraum?
Abgleich betreffs Ausstattung einplanen. 4 Wie und bis wann ist die Nachführung sicher
möglich, wenn aus taktischen Gründen die
o Wer setzt was, wann, wo und wie in Gang? »standby-Variante« favorisiert wird?
5 Steht dies im Einklang mit den
Vorgaben/«medical timelines« und einer
noch akzeptablen Versorgungsqualität?
24 Kapitel 2 · Medizinische Einsatzplanung (»medical planning«)
5 Beherrschen die sanitätsdienstlichen Kräfte 4 Wie lange kann der Einsatz dauern?
die Einsatzverfahren, um »vorne« eingesetzt 5 Die Einsatzfähigkeit der Kräfte muss durch
zu werden (z. B. »fast rope«)? rechtzeitigen Wechsel oder Reservenbil-
2 5 Ist die Aufnahme durch eigene Kräfte am dung (vor Ort und im standby) erhalten
Objekt eindeutig abgesprochen (z. B. Mar- werden!
kierung der Eindringstelle und Abgleich 5 Welche Kräfte treffen sicher, welche
über Funk)? möglicherweise verzögert ein?
5 Durch wen erfolgt sie und ist eine »Force Ersteres ist eigentlich nur bei Durch-
Protection«/«Schildkröte« für Bewegun- setzungsfähigkeit, bodengebundener An-
gen in der Einsatzstelle/im Objekt vor- näherung und räumlicher Nähe weitgehend
gesehen? gewährleistet.
4 Wo sind die »Schlüsselpositionen und -funk- 4 Wie kann die Flexibilität der Reaktion erhöht
tionen« vor Ort (s. 7 Kap. 2.5.3)? und wie können zusätzliche Kräfte oder ggf.
4 Wo befinden sich die Schwerpunkte und mit eine höhere Versorgungsqualität schnell weit
welcher Raumplanung muss der Einsatz der nach vorne gebracht werden?
SanKr abgestimmt werden? (Zielobjekte, inne- US-Lösungen sind z. B. der Operationstisch in
rer/äußerer Ring, Gefahrenstellen etc.) der CH-47 (unmittelbare Einsatzfähigkeit nach
4 In welcher Stärke (anwesend und einsatzfähig), der Landung) oder ein hochmobiles, Rucksack-
mit welchem Ausbildungsstand und mit wel- basiertes Operationsteam (SPEARR oder
cher Ausstattung können die SanKr eingesetzt SOST).
werden? Welche medizinischen Fähigkeiten 4 Ist Telemedizin eine sinnvolle Ergänzung?
(Medics) befinden sich bereits vor Ort? (Ihre Beschränkungen dürfen nicht unter-
4 Wie sollten Sanitäter und Medics disloziert schätzt und sie sollte als Notlösung betrachtet
werden (z. B. auf verschiedenen Kfz, um bei werden).
einem IED-Anschlag auf verschiedene Aus- 4 Wie erfolgt die Bewegung von Verwundeten
weichrichtungen oder den Ausfall des SanKfz innerhalb des Objekts und der Transport zu
selbst reagieren zu können; oder auf die ver- den Aufnahme-/Übergabepunkten? Welche
schiedenen Eindringstellen verteilt, auch wenn Tragemittel werden von wem vorgehalten?
dazu eine Umgliederung der Trupps erforder- (Das UT-2000-Transportsystem mit (Doppel-)
lich wäre)? Radsatz ermöglicht es, einen Patienten mit
4 Wo sind die sinnvollsten Positionen für die einer einzigen Person zügig fortzubewegen).
eigenen Kräfte und Strukturen (VwuNest/ 4 Welche Übergabepunkte können für Boden-
CCP) an einem Einsatzort? und Lufttransport (»helicopter landing zone«,
5 Gibt es Ausweichpositionen für alle diese HLZ; »Ambulance Loading/Exchange Point«,
Plan-A-Positionen (»primary and alternate«)? ALP/AXP«) festgelegt werden [17]? (7 Kap. 34)
Wie werden sie markiert? 5 Entfernungen, Transportzeiten, Einschrän-
5 Ist das ebenso wie die räumlichen Anforde- kungen/Hindernisse; auch hier unbedingt
rungen (Platzbedarf und Schutz) mit Ein- primäre Lokalisation und Ausweichstellen?
satzleiter und -kräften abgestimmt? 5 Wie können sie und die Transportmittel ge-
4 Ist die Aufgabenverteilung beim Anfall von sichert und geschützt werden?
Verwundeten klar abgesprochen (und geübt 5 Sind die Übergabepunkte allen bekannt?
worden)? Wer meldet was? Wer transportiert 5 Lageabhängig kann z. B. auch die Ausgabe
wohin? Wer weist Hubschrauber ein etc.? von Anfahrtbeschreibungen und Ansprech-
4 Sind alle möglicherweise erforderlichen Fähig- partnern der HNS-Einrichtungen bzw.
keiten (EOD!) vorhanden oder zügig nach- der umliegenden Krankenhäuser bei einer
führbar? Wie sind sie erreichbar oder können mobilen Lage im ländlichen Bereich an die
sie ggf. selbst abgebildet werden (technische eingesetzten Kräfte als Taschenkarte eine
Rettung)? sinnvolle Option sein.
2.6 · Abwägung der Möglichkeiten und resultierender Plan für den Einsatz
25 2
5 In jedem Fall sollte eine mögliche Evakuie- 4 Welche Reichweite hat das Material, welches
rung kritischer Patienten nicht durch das sind die kritischen Ressourcen (z. B. Narkose,
Warten auf qualifiziertere Kräfte verzögern Beatmung (O2), Analgosedierung)?
werden. Ggf. ein Rendezvous-System verein- 4 Können definierte Versorgungspakete nachge-
baren, aber auch dabei muss der Zeitverlust führt werden? Definierte Kits als Routine auf
durch eine Umlagerung des Patienten sorg- allen MedEvac-Mitteln zur Nachversorgung
fältig abgewogen werden. Eventuell kann der für die Kräfte am Boden vorsehen.
Anschlussversorger auch mit Gerät zusteigen.
Tipp
4 Wie kann das Sanitätsmaterial am sinnvollsten,
modular und redundant auf die Kräfte verteilt
Gerade bei der Beschaffung und Bereitstellung
werden, z. B. Tragen auf alle Kfz, hier auch
von Sanitätsmaterial ist eine hohe Kreativität
»blow out« und »trauma kits« (7 Kap. 3), Vertei-
gefragt. In Kombination mit der Kenntnis der
lung des »mission critical equipment«, z. B. zur
»trockenen« Vorschriften und trister Beschaf-
Reduzierung des Materials beim Ausweichen?
fungswege ergeben sich zahlreiche Möglich-
5 Welches (persönliche) Material wird wo am
keiten zur Verbesserung der notfallmedizini-
Mann getragen (Erwähnung in der Befehls-
schen Ausstattung.
ausgabe)?
5 Wie ist die Folgeversorgung (z. B. mit Ver-
bandmaterial aber auch Batterien) ausge- So ist z. B. bei militärischen Einsätzen neben der
plant? regulären Beschaffung über die Apotheke u. U.
Zum Beispiel Material an der Eindringstelle, ein Direktkauf über die eigene Logistik (als Einsatz-
auf den Kfz, im Bereich der geplanten CCPs, bedarf oft mit höheren Wertgrenzen) oder der Be-
auf allen Evakuierungsmitteln [18], bei zug über Koalitionskräfte möglich. Auch für die
überwachenden Kräften des äußeren Ringes. aufwändige Beantragung von Material gibt es im
Bei einer solchen Verteilung des Materials Einsatz oder bei hoher Dringlichkeit verkürzte Ver-
sind jedoch sehr sorgfältige Absprachen zu fahren.
treffen, die immer wieder mindestens stich-
probenartig überprüft werden sollten.
4 Gibt es weitere, potenzielle Ressourcen? Ein 2.6 Abwägung der Möglichkeiten
Beispiel, was durch die Bezeichnung bereits und resultierender Plan für den
das gesamte Konzept beschreibt, ist die Erfas- Einsatz
sung der Angehörigen der Einheit unter dem
»walking blood bank«-Aspekt. (Also der Wie- Nach Abschluss der Ermittlung von potenziellem
derentdeckung der Warmblutspende und Bedarf und eigenen Möglichkeiten, der negativen
damit der Erweiterung der therapeutischen und positiven Faktoren (Lagefeststellung), erfolgt
Möglichkeiten bzw. der Einsparung einer enor- die bewertende Gegenüberstellung dieser Faktoren
men Logistik bei nach derzeitigen Erfahrungen (Beurteilung). Bei verschiedenen Einsatzoptionen
tolerablen Problemen). (»courses of action«, COA) werden die Unterschie-
de in der Unterstützung erarbeitet. Es werden die
Tipp
möglichen Verläufe, Gemeinsamkeiten, Vor- und
Nachteile, Stärken und Schwächen dargestellt und
Achtung! Bei multinationalen Einsätzen sind
beurteilt. Abschließend wird eine Empfehlung hin-
unterschiedliche Standards nicht nur bei Kon-
sichtlich der aus sanitätsdienstlicher Sicht favori-
zepten und Begrifflichkeiten, sondern auch
sierten Option gegeben.
hinsichtlich der eingesetzten Geräte zu beach-
ten (z. B. Stromspannung, Sauerstoffanschlüs-
se). Adapter vorhalten!
26 Kapitel 2 · Medizinische Einsatzplanung (»medical planning«)
Tipp OperationalMedicine/DATA/operationalmed/Manuals/
MEDOPSBOOKFEB01.ppt
13. Beekley AC (2007) Mass Casualties in Combat – Lessons
Die Beteiligung des »Medics«, »Sanis« oder des
Learned. J Trauma 62:S39–S40
»Doktors« an der Einsatzplanung muss immer
14. Grau LW, Jorgensen WA (1997) Beaten by the bugs.
wieder überprüft werden. Selbst wenn sie an- Military Review 77 (6): 30
fangs tatsächlich gemeinsam erfolgt ist, wird 15. Robert Koch-Institut (2011) Steckbriefe seltener und
dann oft die Weitergabe einer Lageänderung importierter Infektionskrankheiten. Berlin. http://www.
oder einer »kleinen Verbesserung« des Planes rki.de/cln_169/nn_468416/DE/Content/InfAZ/Steck-
briefe/Steckbriefe_120606,templateId=raw,property=-
vergessen.
publicationFile.pdf/Steckbriefe_120606.pdf
Kontrollfragen stellen: »Seit der Besprechung 16. NAEMT (2011) PHTLS: prehospital trauma life support,
am/um keine Änderung?«/»Annäherung Military Version, 7th ed. Elsevier Mosby, Toronto
über …?«/»Frequenz …?«/»Abmarsch 17. Whitlock W, Yevich S, Broadhurst R, Thompson GD,
um …?«/»CCP hinter …«). Redmond P, Packard R, eds. (2010) Special Operations
Forces Medical Handbook. MacDill Air Force Base, FL: U.S.
Special Operations Command
18. Butler FK Jr., Hagmann J, Butler G (1996) Military
Medicine, Vol. 161. Supplement 1
Literatur 19. List of current publicly available NATO Standards.
http://nsa.nato.int/nsa/NSDDPubl/listpromulg.html
1. NATO Standardization Agency, Military Committee Air
Standardization Board (MCASB) (2008) STANAG 2087
Medical Employment of Air Transport in the Forward
Area. Edn 6 dated 30 Oct 08
2. NATO (2007) MC 326/2 NATO Principles and Policies of
Operational Medical Support
3. NATO (1999) MC 326/1 NATO Medical Support Principles
and Policies
4. NATO (März 2006) ALLIED JOINT MEDICAL SUPPORT
DOCTRINE AJP 4.10(A)
5. NATO (November 2009) ALLIED JOINT MEDICAL
PLANNING DOCTRINE AJMedP-1
6. NATO (2009) ACO DIRECTIVE 83-1 Medical Support to
Operations (Timelines)
7. Sanitätsamt der Bundeswehr (31.07.2006) Leitfaden
Grundsätze für Führung und Einsatz des Sanitätsdienstes
der Bundeswehr (FüEinsGrdsSanDstBw)
8. Kowitz S (1999) Checklisten Erkundung. Wehrmedizin
und Wehrpharmazie 3: 16–25
9. Bundesministerium der Verteidigung (2001) Handbuch
für Auslandseinsätze im Frieden (Allgemeiner Umdruck
1/100). Federführung Stabsabteilung Fü S V Einsatz
Bundeswehr
10. NATO (1999) Military Medical Support in Disaster Relief.
AMedP-15
11. Department of Defense, Chairman of the Joint Chiefs
of Staff (2009) Foreign Humanitarian Assistance.
Joint Publication 3–29
12. Smith M (2001) Medical Operations Handbook. Brookside
Associates. http://www.brooksidepress.org/Products/
29 3
Spezielle Ausrüstung
S. Schöndube, C. Neitzel, C. Gartmayr, P. Siegert
3.1 Einführung – 31
3.2 Blutungskontrolle – 31
3.2.1 Tourniquets – 31
3.2.2 Junctional Tourniquets (JT) – 34
3.2.3 itClamp 50 (itc) – 35
3.2.4 Verbandstoffe – 35
3.2.5 Hämostyptika – 37
3.3 Atemwegsmanagement – 39
3.3.1 Absaugung – 40
3.3.2 Larynxtubus (King LT) – 40
3.3.3 Notfallkoniotomie – 40
3.3.4 Beatmung – 41
3.4 Thoraxverletzungen – 41
3.4.1 Okklusivverbände (»chest seals«) – 41
3.4.2 Entlastungspunktion – 43
3.4.3 Thoraxdrainage – 43
3.5 Kreislaufmanagement – 43
3.5.1 F.A.S.T. – 44
3.5.2 EZ-IO – 44
3.6 Wärmeerhalt – 45
3.7 Immobilisation – 46
3.7.1 Extremitätenimmobilisation – 46
3.7.2 Beckenstabilisierung – 46
3.7.3 HWS-Immobilisation – 46
3.7.4 Wirbelsäulenstabilisierung – 46
Literatur – 52
3.2 · Blutungskontrolle
31 3
3.1 Einführung rüstung kommt nur dann voll zur Geltung,
wenn der Nutzer die sichere und effektive
Im folgenden Kapitel werden Medizinprodukte und Anwendung auch unter Stress beherrscht.
Ausrüstungsgegenstände beschrieben, die ihren
Ursprung und ihre Berechtigung insbesondere in Medizinprodukte unterliegen bei der Einführung
der taktischen Notfallversorgung haben. Auch der und Vertrieb in Deutschland dem Medizinproduk-
zivile Rettungsdienst hat den Wert einiger Medizin- tegesetz (MPG) und der Europäischen Richtlinie
produkte erkannt, ihre Einführung und die Ein- 2007/47/EG [1, 2]. Mit dem Medizinproduktegesetz
bindung in Protokolle begonnen. Die Neu- und wird die Zulassung für den deutschen Markt und
Weiterentwicklung ist ein kontinuierlicher Prozess, die notwendige Kennzeichnung (CE-Kennzeich-
abhängig vom Szenario, geprägt durch die Nutzung nung) geregelt.
des Materials in aktuellen Konflikten und dem dar- In diesem Kapitel werden vor allem Materialien
aus abgeleiteten Bedarf. Daher stellt dieses Kapitel vorgestellt, die für den deutschen Markt zugelassen
nur eine Momentaufnahme der für die taktische sind. Da eine Vielzahl der Innovationen für den prä-
Medizin besonders relevanten, frei auf dem Markt klinischen Einsatz, insbesondere für die taktische
verfügbaren Medizinprodukte dar. Verwundetenversorgung, im anglo-amerikanischen
Einen guten Überblick über den aktuellen Stand Raum ihren Ursprung hat und die europäische Zer-
bieten verschiedene Messen z. B. die jährlich im tifizierung Zeit in Anspruch nimmt, wird im Fol-
Dezember stattfindende »Special Operations Medi- genden auch auf ausgewählte Produkte hingewiesen
cal Association« (SOMA)-Konferenz in Tampa, die noch keine CE Zertifizierung besitzen, bei
Florida, oder als europäische Plattform die Combat denen diese jedoch angestrebt wird.
Medical Care Conference in Ulm im jährlichen
Wechsel mit dem TCCC-Symposium in Pfullen-
dorf. Beide Veranstaltungen zeichnen sich durch 3.2 Blutungskontrolle
Vorträge, Workshops und eine wachsende Zahl von
Ausstellern aus. 3.2.1 Tourniquets
Aufgrund unterschiedlicher Präferenzen wird
jeder Anwender den Vorzug unterschiedlichen Tourniquets dienen der Kontrolle lebensbedrohli-
Produkten geben. Allerdings gibt es genügend Er- cher Blutungen an den Extremitäten. Bis heute gibt
fahrungswerte und empirische Untersuchungen, es kein ideales Tourniquet, jedes hat Vor- und Nach-
um die Auswahl auf erprobte und geeignete Pro- teile, deren Bedeutung der jeweilige Nutzer für sich
dukte zu beschränken. Unter Stresssituationen abwägen sollte. Bei einem Produkt für eine Gruppe,
muss das Team mit dem eigenen Verbandsmaterial die nur ein Basistraining erhält kann z. B. die mög-
handlungssicher sein und darüber hinaus dem lichst einfache Anwendung im Vordergrund stehen,
speziell ausgebildeten Notfallpersonal zuarbeiten ein Personenschützer wiederum hat vielleicht nur
können. Beides setzt eine einheitliche Ausrüstung, seine Anzug-Hosentasche für die Aufbewahrung.
Verpackung und standardisierte Notfall-Kits inner- Die potenzielle Gewebeschädigung durch ein Tour-
halb eines Teams voraus. Die beste Akzeptanz niquet hängt grundsätzlich von ihrer Breite und dem
hat die Ausrüstung, welche Einzelmerkmale wie für die Unterbindung des arteriellen Blutflusses auf-
klein, leicht, wind-, wasser- und staubgeschützt, so- zuwendenden Druck ab. Tourniquets mit einer brei-
wie einfach in der Anwendung, in sich vereinen ten Manschette verursachen weniger Begleitverlet-
kann. zungen [3]. Wenn also wiederum weder Platz noch
Kosten die entscheidende Rolle spielen, ist ein brei-
> Um die Sicherheit für Patienten, Anwender tes, pneumatisches Tourniquet die ideale Wahl.
und Dritte zu gewährleisten, sollte im Einsatz Muss ein Tourniquet dagegen auch ohne ständi-
nur Material mitgeführt werden, auf das der ge Überwachung zuverlässig wirken, sind pneu-
Anwender eingewiesen ist und mit dessen matische Tourniquets nicht erste Wahl, da sie un-
Handhabung er vertraut ist. Die beste Aus- bemerkt Druck verlieren können. Im Hinblick auf
32 Kapitel 3 · Spezielle Ausrüstung
a b c
. Abb. 3.1a–c Befestigungsmöglichkeiten von Tourniquets. a Tasmanian Tiger. b NOW! von Blue Force Gear. c NATO-T mit
Gummibändern. (Fotos: S. Schöndube)
das Anlegen des Tourniquets mit nur einer Hand spröde werden und bei sehr hoher Belastung bre-
(»one-handed«) z. B. bei einer lebensbedrohlichen chen. Dies sollte bei der Aufbewahrung bedacht
Blutung am Arm und ohne die Möglichkeit der werden, und ein regelmäßiger Tausch ist sinnvoll.
Hilfe durch eine zweite Person, sind einige der ver- Bei der derzeit verfügbaren 3. Generation des Pro-
fügbaren Tourniquets nur eingeschränkt, andere duktes wurden u. a. der Knebel verstärkt, das Ende
gar nicht geeignet. Man sollte die jeweiligen Nach- rot markiert, um ein stresssicheres Einschlaufen zu
teile kennen und ggf. ein Zweitprodukt mitführen, gewährleisten, und das Klettband zum Verschließen
um eine lebensbedrohliche Blutung zuverlässig und wurde in weiß gestaltet, um gut erkennbar die An-
schnell stoppen zu können. legezeit notieren zu können.
Das Tourniquet sollte an der Ausrüstung so
angebracht sein, dass es sichtbar ist und der Träger SOF Tactical Tourniquet Wide (SOFTT-W) Das
es selbst mit beiden Händen gleichermaßen von SOFTT-W (. Abb. 3.2b) ist eine Weiterentwicklung
seiner Ausrüstung entfernen kann. Bei Schutz- des 2003 auf dem Markt erschienenen SOFTT. Der
westen bietet die Frontplatte genügend Spielraum Knebel und auch der Verschlussmechanismus sind
zur Befestigung. Hierfür können sowohl kommer- aus Metall gefertigt. Mit dem SOFTT-W kann ein
zielle Tourniquethalter als auch einfache Gummi- hoher Druck aufgebaut werden, was für das Abbin-
bänder dienen (. Abb. 3.1). den an den unteren Extremitäten erforderlich sein
kann.
Combat Application Tourniquet (C.A.T) Das C.A.T. Da es aber schwerer und größer ausfällt als das
(. Abb. 3.2a) ist seit Jahren das am meisten verbrei- C.A.T., wird es gern als Backup-Tourniquet bei dem
tete Tourniquet. Es wurde auch in die Bundeswehr Team Medics vorgehalten. Es kann – ebenso wie das
eingeführt und wird an alle Soldaten in den Einsatz- C.A.T. – in den Farben schwarz (taktisch), orange
gebieten der Bundeswehr ausgegeben. Das C.A.T. (Rettungsdienst) und blau (Training) erworben
zeichnet sich insbesondere durch geringes Packmaß werden. Von beiden gibt es (teilweise schwer zu er-
und Gewicht sowie die gute Handhabbarkeit ein- kennende) Plagiate auf dem Markt, die nicht zuver-
schließlich einer vergleichsweise einfachen Ein- lässig funktionieren.
Hand-Anwendung aus. Die Abbindung verläuft
innerhalb einer Stoffummantelung und vermindert Emergency & Military Tourniquet (EMT) Das EMT
so Reibungsschäden und Einklemmungen der Haut. ist das einzige durch das CoTCCC empfohlene
Das Tourniquet ist als Einmalprodukt konzi- Tourniquet, welches pneumatisch Druck aufbaut.
piert. Gerade bei längerer Sonnen- bzw. UV-Expo- Aufgrund des flächigen Drucks durch die breite
sition an der Ausrüstung können die Plastikanteile Manschette ist die punktuelle Belastung des Gewe-
3.2 · Blutungskontrolle
33 3
a b
c d
. Abb. 3.2a–d Verschiedene Tourniquets. a C.A.T. der Fa. Composite Resources. b SOFTT Wide der Fa. Tactical Medical
Solutions. c NATO-Tourniquet. d SWAT-Tourniquet. (Fotos: S. Schöndube, Dr. C. Neitzel)
bes geringer als bei mechanischen Tourniquets. Da- 30 sec erreicht werden. In der Praxis ist es jedoch
durch kann die Gefahr von Gewebeschädigungen vorgekommen, dass der Ratschenmechanismus
beim Anlegen und bei einer längeren Verweildauer dem Druck nicht standgehalten hat. Das E-MAT
reduziert werden. Bei einem Lufttransport muss, besitzt eine CE-Zertifizierung.
wie bei allen luftgefüllten Medizinprodukten, auf
den sich ändernden Fülldruck der Manschette ge- NATO-Tourniquet Das NATO-Tourniquet (. Abb.
achtet werden. Nachteile der EMT sind die Größe 3.2c) ist eine Weiterentwicklung der Grundidee aus
und der hohe Anschaffungspreis. Ebenfalls kann bei dem Vietnamkrieg. Damals wurde ein Dreiecktuch
proximalen Verletzungen die Breite der Manschette mit einem Knebel und einem Fixierring versehen.
hinderlich sein. Es gibt seitens der Herstellungsfir- Es wurde von den norwegischen Spezialkräften wei-
ma Überlegungen, die Kosten für die Herstellung terentwickelt. Das metallene Endstück dient nach
durch die Neugestaltung des Verschlussmechanis- Einhängen des am Riemenende eingenähten Ringes
mus zu reduzieren. Es wird durch das CoTCCC als gleichzeitig als Knebel. Ist das Tourniquet fest genug
Tourniquet für den Sanitätsdienst empfohlen. angezogen, kann es mit dem verschiebbaren Ring
durch Einhaken festgelegt werden. Das NATO-
Mechanical Advantage Tourniquet (MAT) Das MAT Tourniquet ist einhändig nur umständlich anzule-
(zivile Version E-MAT in Orange) ist ein relativ gro- gen. Zum Anlegen an den oberen Extremitäten ist
ßes mechanisches Einhandtourniquet. Der Ver- es notwendig, den Arm vor dem Schließen zweimal
schlussmechanismus (Ratsche) ist in der vorge- zu umwickeln, erst danach kann der nötige Druck
formten Spange der Basis eingebracht. Das Tourni- erreicht werden. Am Bein reicht meistens eine
quet wird mittels eines Haken/Ösen-Prinzips ge- Wicklung aus.
schlossen und kann somit leicht angelegt werden. Das Anlegen des Tourniquets ist oft relativ
Der Druck wird danach mittels einer Ratsche durch schmerzhaft, da es im Bereich des Knebels meist zur
eine Drehbewegung aufgebaut. Laut Hersteller kann Einklemmung der Haut kommt. Aufgrund des ge-
eine Abbindung unter Idealbedingungen in ca. ringen Packmaßes ist es für verdeckte Operationen
34 Kapitel 3 · Spezielle Ausrüstung
bestens geeignet. Es ist sehr verlässlich und als uni- oder bilateralen Einsatz verfügbar. Einige JT
Backup eine sinnvolle Ergänzung. sind ebenso für den Einsatz an anderen Körper-
regionen geeignet. Das CoTCCC-Komitee hat be-
Tipp
reits eine Empfehlung zum Einsatz von JT in seine
Guidelines [5] aufgenommen.
Wegen des sehr flexiblen Gurtbandes und
3 der fehlenden Druckplatte, kann das NATO-
Junctional Emergency Treatment Tool (JETT) Das
Tourniquet sehr gut bei Diensthunden verwen-
JETT wurde von der Fa. North American Rescue in
det werden.
Zusammenarbeit mit dem UT Health Science Cen-
ter for Translational Injury Research (CeTIR) ent-
SWAT-Tourniquet Das SWAT-Tourniquet ist im wickelt. Es besitzt eine CE Zertifizierung und hat
Endeffekt eine Gummibinde, die im festen Zug um bei einer Studie bewiesen, dass eine Kompression
eine Extremität gewickelt wird (. Abb. 3.2d). Sie der Arterie femoralis innerhalb von 68 sec. bilateral
entspricht damit vom Funktionsprinzip einer möglich ist. Das JETT ist erst seit kurzem auf dem
traditionellen Esmarch-Binde. Aufgebrachte Mar- Markt und muss noch zeigen ob es sich gegen Kon-
kierungen sollen durch Änderung ihrer Form an- kurrenzprodukte anderer Hersteller durchsetzen
zeigen, wann ein ausreichend großer Zug aufge- kann. Das Abdrücken, weniger Abbinden, erfolgt
bracht wird. Das Tourniquet ist nicht einhändig mechanisch und nutzt die anatomische Landmarke
nutzbar, muss bei unzureichender Kompression im Bereich distal des Leistenbandes.
komplett abgewickelt werden und ist unter Stress
oder wenn es nass ist (z.B. durch Blut) eher schwer SAM Junctional Tourniquet Das SAM ist ein pneu-
zu handhaben. matisches Tourniquet welches bilateral Manschet-
ten besitzt. Diese können jedoch, wenn nur eine
einseitige Verletzung behandelt werden muss, ent-
3.2.2 Junctional Tourniquets (JT) fernt werden. Als Begleitverletzung bei schweren
Extremitätenverletzungen, insbesondere Amputa-
Ein relativ neuer Bereich betrifft die Markteinfüh- tionsverletzungen ist eine Beckenfraktur häufig.
rung sog. »Junctional Tourniquets«, für den präkli- Das SAM wurde so gestaltet, dass neben der Mög-
nischen Einsatz. JT wurden aufgrund einer Bedarfs- lichkeit des gleichzeitigen bilateralen Abdrückens
forderung des Department of Defense (DoD) [4] der Arteria femoralis, auch eine Hüftfraktur stabili-
entwickelt, und einige Produkte haben zwischen- siert werden kann. Untersuchungen haben ergeben,
zeitlich bereits eine CE-Zertifizierung. Als Folge dass das SAM Junctional Tourniquet nach einer
zunehmender IED-Anschläge haben Methoden Zeitspanne von 25 sec erfolgreich die Arteria femo-
und Geräte an Bedeutung gewonnen, die Explosi- ralis komprimieren kann. Auch das SAM besitzt
onsverletzungen auch im Leistenbereich behandeln bereits eine CE-Zertifizierung.
können. Da diese Verletzungen außerhalb des Ein-
satzbereiches von Extremitäten-Tourniquets liegen, Abdominal Aortic Junctional Tourniquet (AAJT) Mit
konnte der Behandelnde bisher nur versuchen, sie dem AAJT (. Abb. 3.3) verfolgt die Fa. Compres-
manuell zu komprimieren und dann, z. B. mit Hilfe sion Works LLC einen anderen Ansatz für das glei-
von Widerlagern und unter Nutzung von Hämos- che Grundproblem der hohen Verletzung an den
typtika, suffiziente Druckverbände anzulegen. unteren Extremitäten ohne die Möglichkeit einer
Weiterhin wurde festgestellt, dass es bei IED- Abbindung mit herkömmlichen Tourniquets. Das
Anschlägen sehr häufig zu beidseitigen Verletzun- AAJT soll die Aorta abdominalis nahe der Bifurca-
gen kommt. Als Antwort seitens der Industrie wur- tio aortae pneumatisch komprimieren.
den mechanische und pneumatische Tourniquets Tests haben ergeben, dass dies grundsätzlich
entwickelt, die die Kompression der Arteria femo- möglich ist (siehe 7 Abschn. 9.3.4). Das AAJT wurde
ralis oder der Aorta abdominalis bzw. der Bifurka- bereits in Afghanistan erfolgreich zum Einsatz ge-
tion zum Ziel haben. Es sind Tourniquets für den bracht. Vom Hersteller werden auch der Hals- sowie
3.2 · Blutungskontrolle
35 3
. Abb. 3.3 Das AAJT der Fa. Compression Works LLC in . Abb. 3.4 CRoC der Fa. Combat Medical System, der Auf-
der Anwendung. (Mit freundlicher Genehmigung der Fa. bau mit verstellbaren Gestell, Fixierung und der mecha-
Compression Works LLC) nische Druckstempel sind gut zu erkennen. Das Endstück
(hier für die Arterie femoralis dargestellt) kann entspre-
chend der Anwendung angepasst werden. (Mit freundlicher
Genehmigung durch die Fa. Combat Medical Systems)
a b
. Abb. 3.5a,b itClamp 50. a Itc im geöffneten Zustand, »ready to use«. b Itc im Einsatz, zu sehen ist das Verschließen der
Wundhöhle. (Mit freundlicher Genehmigung durch die Fa. PfalzMed)
Druckverbandpäckchen
Alle Produkte verfügen über eine größere Wundauf-
lage, elastisches Bindenmaterial, mit dem ein ange-
a
passter Druck aufgebaut werden kann, sowie eine
Verschlussmöglichkeit, meist durch Klett oder Ha-
ken. Bei den meisten ist ein unterschiedlich geform-
ter Druckkörper integriert, einige bieten Zusatzop-
tionen. Auch die Uriel-Bandage, Cinch Tight,
H-Bandage, FEB9 oder andere Produkte können
aufgrund unterschiedlicher Details für einen be-
stimmten Anwender Vorteile bieten. Wichtig sind
jedoch der erprobte Umgang und die bereits erwähn-
te Einheitlichkeit innerhalb eines Einsatzteams.
b
»The Emergency Bandage« (Notverband) Der Not-
verband (. Abb. 3.6a), auch bekannt als »Israelische . Abb. 3.6a,b Druckverbände. a Emergency Bandage/Not-
Binde«, wurde 2003 in die Bundeswehr eingeführt verband der Fa. FirstCare Products. Darstellung der verschie-
und gehört zum festen Bestandteil der persönlichen denen erhältlichen Größen. Als Unterlage dient der Abdomi-
nalverband. b OLAES Modular Bandage der Fa. TacMed Solu-
Sanitätsausstattung für die Soldaten im Einsatz. Die
tions (Fotos: S. Schöndube)
Bandage ist vakuumiert und doppelt verpackt und
kann aufgrund einer Schlaufe bei Bedarf vom Ver-
letzten selbst angelegt werden. Ein Plastikknebel des. Weiterhin verhindert ein eingearbeiteter Faden
kann als Druckkörper, zur Umlenkung der Ver- das ungewollte Abrollen der Binde beim Anlegen.
bandrichtung und zur Fixierung genutzt werden. Der Notverband ist in mehreren Varianten verfüg-
Für die letztgenannte Funktion befindet sich primär bar, u. a. in 10 und 15 cm Breite, mit einer zweiten
eine Spange mit Widerhaken am Ende des Verban- Wundauflage sowie als Bauchverband.
3.2 · Blutungskontrolle
37 3
OLAES Modular Bandage Die OLAES (. Abb. 3.6b) teil darin, dass mit der Binde direkt aus der Packung
der Fa. Tactical Medical Solutions wurde von einem heraus tamponiert werden kann.
ehemaligen Medic der US Spezialkräfte entwickelt.
Die OLAES vereint eine Mehrzahl an Behandlungs-
möglichkeiten. Der Druckkörper kann auch als 3.2.5 Hämostyptika
Augenklappe genutzt werden, unter der Wund-
auflage befinden sich eine 15×20 cm große, durch- Bei stark ausgeprägten und damit lebensbedrohli-
sichtige Plastikfolie, die als luftdichter Verband chen Blutungen oder bei Blutungen, die sich z. B.
oder bei Verbrennungen bzw. Bauchverletzungen mit einem Druckverband nicht stoppen lassen, ist
genutzt werden kann sowie ein 10×250 cm langes der Einsatz von blutstillenden Substanzen, sog. Hä-
Stück Kerlix-Verbandmull, welches für das mostyptika – auch Hämostatika genannt – indiziert.
Tamponieren von Wundhöhlen gedacht ist. Die Alle derzeit verbreiteten Substanzen sollten mög-
Bandage ist in Breiten von 10 und 15 cm verfügbar lichst nahe an die Blutungsquelle gedrückt werden
und wird häufig beschafft, wenn die Multifunk- (bereits ausgetretenes Blut aus der Wunde wischen)
tionalität eines Produktes – z. B. aufgrund eines und der Druck muss nach der Einbringung noch
beschränkten Ausrüstungsumfanges – von Vorteil mehrere Minuten aufrechterhalten werden.
ist.
3
3.3.1 Absaugung
3.3.3 Notfallkoniotomie
3.3.2 Larynxtubus (King LT)
Es gibt Situationen in denen diese invasive Maß-
Für nicht spontan atmende Verletzte hat sich der nahme notwendig ist, um das Leben eines Verletz-
Larynxtubus (von VBM Medizintechnik GmbH) in ten zu retten z. B. bei Bewusstlosigkeit mit massi-
unterschiedlichen Ausführungen als praktikabel er- vem Gesichtstrauma. Es ist die letzte Möglichkeit
weisen. Er ist, auch für weniger Geübte, einfach in und sollte auch als solche und nur von geübtem
der Anwendung, kann bei günstigen Verhältnissen Personal unter Analgesie durchgeführt werden.
innerhalb weniger Sekunden appliziert werden und Es gibt zahlreiche kommerzielle Koniotomie-
hat eine geringe Komplikationsrate. Es handelt sich bestecke wie z. B. Quick Trach II von VBM, CricKit
um einen Tubus der im Hypopharynx mit einem von NARescue oder das – eher starre – Kit von
Ballon den Ösophagus und mit dem zweiten Cuff Portex (Portex Cricothyroidotomy Kit). Alle versu-
den Pharynx verschließt. Der King LT wird in ins- chen mit unterschiedlichen Konstruktionen, eine
gesamt sieben Größen (farbkodiert) angeboten. Penetration der Kehlkopfrückwand zu verhindern.
Die Blockerspritze ist mit 120 ml sehr groß. Als Allerdings arbeitet man »ohne Sicht«, so dass von
– nicht MPG-gemäße – Notlösung eignet sich eine den meisten präklinisch erfahrenen Experten die
mehrfach gefüllte 20-ml-Spritze. Eine sinnvolle Er- chirurgisch-anatomische Präpariertechnik emp-
gänzung ist ein Gleitmittel. fohlen wird (7 Kap. 9).
3.4 · Thoraxverletzungen
41 3
. Abb. 3.10 Endotrachealtubus mit Bougie »Führungshilfe«, . Abb. 3.11 Pocket BVM. (Foto: S. Schöndube)
der Bougie ist im Gegensatz zum Führungsstab hochflexibel
und kann dadurch in die eröffnete Luftröhre eingebracht
werden, um dann dem ET-Tubus als Führung zu dienen.
(Foto: S. Schöndube)
Der folgende Abschnitt beschränkt sich auf Artikel, . Abb. 3.13a,b Okklusivverbände. a SAM Chest Seal.
b HALO Chest Seal. (Fotos: S. Schöndube)
die ihre Brauchbarkeit [6, 7] mehrfach unter Beweis
gestellt haben und bereits CE-zertifiziert sind.
Zu den Okklusivverbänden mit Ventil gehören: Im zentralen Bereich ist es durchsichtig gehal-
4 Das Asherman Chest Seal (ACS) von Rüsch ten und gewährleistet einen freien Blick auf die
verfügt über ein Flatterventil. Es haftet häufig darunterliegende Wunde. Das »chest seal« hat
nicht zuverlässig auf feuchter Haut und hat eine Größe von 15×20 cm, wird aber gefaltet
daher an Stellenwert verloren. geliefert, so dass die Verpackung nur 13×15 cm
4 Beim Bolin Chest Seal (BCS) von H&H Asso- groß ist.
ciates sind drei kleinere Ventile eingebaut.
Es haftet ebenfalls unter schwierigen Bedin- Okklusivverbände ohne Ventil sind:
gungen häufig nicht ausreichend zuverlässig. 4 Das HALO Chest Seal der Fa. PMI wird mit
4 Das SAM Chest Seal with Valve von SAM zwei Exemplaren in einer Verpackung geliefert.
Medical haftet auch unter schwierigen Be- Es haftet auch bei kaltschweißiger Haut ver-
dingungen. Markierungsstreifen sind gut mit gleichsweise gut und hat ebenfalls eine Größe
einem Nachtsichtgerät sichtbar, was die Hand- von 15×20 cm mit den entsprechenden Vor-
habung in Dunkelheit wesentlich erleichtert. und Nachteilen. Es ist keine Kompresse zum
Es ist auch ohne Ventil erhältlich (SAM Chest Trockenwischen des Klebebereiches beigelegt.
Seal), wobei beide aufgrund ihrer Größe von 4 Das HyFin Chest Seal der Fa. North American
15×20 cm eher schwierig zu verstauen sind. Rescue klebt ebenfalls sehr gut und ist mittler-
4 Das Russel Chest Seal der Prometheus weile auch in einer Version mit Ventil (HyFin
Medical LTD ist ein »chest seal«, welches an Vent) sowie einer extra großen Version zur
jeder Ecke eine Ventilöffnung zur Entlüftung Abdeckung multipler thorakaler Splitterver-
und ggf. zum Abfließen von Blut hat. letzungen (HyFin Xtreme) erhältlich.
3.5 · Kreislaufmanagement
43 3
3.4.2 Entlastungspunktion
3.6 Wärmeerhalt
Blizzard Die Fa. Blizzard hat sich auf die Herstel- Ready-Heat Für den aktiven Wärmeerhalt haben
lung von passiven Wärmedecken, bestehend aus sich die Ready-Heat-Produkte bewährt. Die Ready-
Reflexcell, spezialisiert. Reflexcell ist eine Entwick- Heat (. Abb. 3.16b) entwickelt bei Kontakt mit der
lung, die bestehend aus einer äußeren und inneren, Umgebungsluft, nach 15–20 min, Temperaturen,
robusten Lage reflektierendem Materiales, welches von ca. 37–40 °C (modellabhängig) und hält diese
durch Luftkammern voneinander getrennt, die für ca. 8 h. Da die Wärmepads über die Um-
Körperwärme gut hält. Es gibt Varianten als Decke, gebungsluft aktiviert werden, kommt es bei Ver-
Schlafsack, in Form einer Weste in unterschiedli- ändern des Umgebungsdruckes (z. B. im Gebirge)
chen Farben und ist komprimiert verpackt, eine zu Einschränkungen in der Temperaturentwick-
gute Ergänzung der Ausrüstung. lung. Die Ready-Heat ist in verschiedenen Größen
als Decke oder Weste erhältlich.
APLS-Trage Von APLS (Absorbant Patient Litter
Tipp
System; . Abb. 3.16a) gibt es eine ganze Bandbreite
von guten Lösungsvorschlägen für den passiven
Des Öfteren wurden die Wärmepads durch
Wärmeerhalt. Die APLS Thermal Guard ist eine
den Transport ungewollt aktiviert. Deshalb hat
Trage, die in Schlafsackform passiv die Wärme hält.
sich das 4-Fach-Panel bewährt. Es deckt den
Der Zugang zum Patienten erfolgt über seitliche
Torso ab und ist klein im Packmaß, so dass
Einschübe, die mit Klett geschlossen gehalten wer-
mehrere Ready-Heat Exemplare mitgeführt
den. An der Oberseite befindet sich ein Klarsicht-
werden können.
fach, für die Aufnahme von z. B. einer Verwundeten-
Karte oder Spritzen. Das Innenmaterial ist saug-
fähig und kann 4,5 l Flüssigkeit aufnehmen. Als In Verbindung mit einer Blizzard oder APLS
Besonderheit gibt es auch eine Trage für Diensthun- kann die Wärme des Verletzten, auch bei sehr tiefen
de, mit den gleichen Eigenschaften. Temperaturen, sehr gut gehalten werden.
46 Kapitel 3 · Spezielle Ausrüstung
3.8.1 Pulsoxymetrie
klar sein, dass es Grenzen der Pulsoxymetrie gibt Alarmgrenzen, eine je nach Geräteversion in
und daher die Aussagen der Messung über eine kPa oder mmHg wählbare Anzeige und große
Atmungs- oder Beatmungsqualität aufgrund des Robustheit. Es ist damit ein optimales Kapno-
Verfahrens erschwert oder verfälscht werden meter für den taktischen Einsatz, was sich
können. So beeinflussen folgende Faktoren die allerdings auch auf den Preis auswirkt.
Messung [6]:
3 4 Hypothermie
4 Hypotension 3.8.3 Erweitertes Monitoring
4 Kompression der Arterien
4 Bewegungsartefakte Ist eine komplette Überwachung gewünscht oder
notwendig z. B. als Begleitperson für eine VIP auf
Ferner führt die erhöhte Konzentration von CO-Hb, Auslandsreise, wird kein Weg an einem Monitor vor-
wie sie nicht nur bei starken Rauchern, sondern beiführen. Der Argus Pro LifeCare von Schiller ist
auch bei CO-Vergiftungen vorkommen kann, zu ein Beispiel für einen vollwertigen Patientenmonitor
verfälscht hohen Werten. Erwähnenswert an dieser mit Defibrillator bei einer kompakten Bauweise
Stelle ist aber der Nutzen, besonders dann, wenn die (260×265×145 mm) und einem Gewicht von 4,4 kg.
Geräte klein genug sind, um am Mann mitgeführt Der ProPaq LT von Welch Allyn wiederum ist
zu werden, denn trotz oben erwähnter Fehlerquel- ein noch kleinerer (152×193×145 mm), leistungs-
len stellen sie einen guten Indikator zur Überwa- fähiger, stromunabhängiger und trotzdem vollwer-
chung der (Be-)Atmung und – mit Einschränkun- tiger Überwachungsmonitor. Er ist leichter (750 g)
gen – auch der Kreislaufsituation dar. als der Schiller, verfügt jedoch nicht über eine Defi-
brillatorfunktion.
Ein Ausblick in die Zukunft könnte das Mini-
3.8.2 Kapnometer Medic-System von Athena GTX sein. Es handelt
sich um eine drahtlose Patienten-Überwachung.
Um frühzeitig erkennen zu können, ob ein Endo- Der Medic empfängt Signale von bis zu 10 Patien-
trachealtubus eine Fehllage aufweist, verlegt oder teneinheiten, die auf der Stirn angebracht werden
diskonnektiert ist, ob Leckagen im Schlauchsystem und zusätzlich von 3 EKG Elektroden. Der Empfän-
vorliegen und ob die Beatmung ausreichend ist, ger hat die Möglichkeit, die Vitalparameter wie HF,
werden präklinisch Kapnometer eingesetzt. Beim Temperatur, SpO2, Pulsrate und die »puls wave
hier betrachteten taktischen Einsatzbereich muss transit time« (entspricht den diastolischen Blut-
auch bei diesen Geräten besonders auf Kompaktheit druck) zu überwachen. Die Empfängereinheit wer-
und einfache Bedienbarkeit geachtet werden. Zwei tet die empfangenen Daten aus und gibt Alarm bei
diesen Anforderungen entsprechende Kapnometer Veränderungen im Status des Patienten.
werden im Folgenden beschrieben: Für den Transport steht dem medizinischen
4 Der Easy Cap II der Fa. Nellcor ist ein kom- Personal eine Vielzahl von Geräten zur Verfügung,
paktes, qualitativ darstellendes System zum ein- nur gibt es wenige Systeme die bei großem Funk-
maligen Gebrauch über mehrere Stunden. Es tionsumfang noch ausreichend kompakt sind. Die
handelt sich um ein Einmalprodukt, das zwi- moves portable ICU ist eine »mobile Intensivsta-
schen Tubus und Beatmungsbeutel konnektiert tion« mit einem integrierten Sauerstoffkonzentra-
wird. Es zeigt bei jeder Ausatmung einen Far- tor (der Sauerstoff der Umgebungsluft wird konzen-
bumschlag, der grob den CO2-Gehalt der Aus- triert und ein 85 % O2-Gehalt garantiert). Die Ein-
atemluft anzeigt (Einteilung: <4 mmHg, heit, ist aufgrund ihrer Größe und Möglichkeiten,
4–15 mmHg, 15–38 mmHg). für den Transport mit Fachpersonal geeignet.
4 Ein quantitatives Messergebnis, bei kleinsten Eine Möglichkeit, alle notwendigen Geräte zu
Abmessungen liefert das EMMA-Notfallkapno- kombinieren, zeigt . Abb. 3.18. Der Koffer (Peli
meter der Fa. Phasein (. Abb. 3.12). Bei nur 1600) enthält eine Beatmungseinheit mit O2-Flasche,
60 g Gewicht bietet das Gerät selbst verstellbare Monitor und Absaugung. Kombiniert mit einer
3.9 · Rucksäcke und Taschen
49 3
. Tab. 3.3 Ausstattungsumfang persönliche Sanitätsausstattung (»individual first aid kit«, IFAK)
lich vom Ausbildungsstand der Anwender und dem pill pack«), Verwundetenkarte, Mittel zur Volumen-
Aufbau der Rettungskette abhängig. So gilt es z. B. zu therapie, Kleiderschere ergänzt werden (. Tab. 3.3).
bedenken, ob jedes Teammitglied eine Entlastungs- Im Optimalfall ist das IFAK für alle sichtbar
nadel für die Thoraxpunktion mit sich führt oder ob gekennzeichnet und kann, um es ggf. einem Helfer
darin ausgebildete Medics bzw. Rettungsdienstper- zu übergeben, schnell von der Ausrüstung ge-
sonal ausreichend schnell nachgeführt werden kön- trennt werden. Weiterhin besteht die Möglichkeit,
nen bzw. kurze Evakuierungszeiten bzw. Transport- sich ein einheitsinternes IFAK zusammenzustellen,
wege bestehen. Bei militärischen Einsätzen hingegen um es in passender Konfiguration, z. B. möglichst
ist das Mitführen einer umfangreicheren, persönli- flach, einzuvakuumieren. Dies hat den Vorteil, dass
chen Ausstattung zwingende Voraussetzung für eine es auf die Bedürfnisse der Einheit (verfügbare
zeitgerechte Versorgung. Die Auswahl der Produkte Taschen an der Ausrüstung oder in der Einsatzuni-
kann je nach Einsatzgrundsätzen variieren. Kommt form) besser zugeschnitten ist und es darüber hin-
es zu einem Einsatz in Zivil, verbieten sich Produkte aus vor Staub und Feuchtigkeit geschützt wird (z. B.
mit militärischer bzw. sperriger Verpackung. Die kann sich in einem unverpackten Wendl-Tubus
Wahl des Tourniquets ist ein Beispiel für diese Pro- Sand und Staub anlagern, welcher dann beim Ein-
blematik: C.A.T. oder SOFTT-W bieten zwar eine atmen erst einmal mehr Probleme als Nutzen
höhere Anwendersicherheit als das SWAT-Tourni- bringt).
quet bzw. verursachen dem Patienten im Vergleich Für den First Responder bzw. Ersthelfer ist es
zum NATO-Tourniquet weniger Schmerzen bei der wichtig, den Auftrag auszuwerten, um daraus die
Anlage, sind aber möglicherweise zu groß, als dass notwendigen Schlüsse für die mitzuführende Aus-
sie ein Personenschützer in der Hosentasche seines rüstung zu ziehen. Handelt es sich beispielsweise
Anzuges mitführen kann. um eine Polizeilage mit kurzen Wegen oder einen
> Als Grundausstattung sollten die Bereiche des
längeren Anmarsch, ist der Einsatz im urbanen,
Eigenschutzes (Handschuhe), der Blutstillung,
ländlichen oder gar im gebirgsähnlichen Umfeld, ist
der Atemwegssicherung, des Wärmeerhaltes
nach dem Verlassen des Fahrzeuges ausreichend
sowie das Verhindern ggf. Behandeln eines
Zeit, um einen Rucksack aufzusetzen oder sollte er
Spannungspneumothorax abgedeckt werden.
flach genug sein, um ihn bereits aufzuhaben etc.
Unerfahrene neigen dazu, zu viel Material mitzu-
Das IFAK kann um sinnvolle Inhalte wie z. B. führen. Der Notfallrucksack sollte aber nicht mehr
Erstantibiose und Schmerzmedikation (»combat als 15 kg Mehrgewicht zur Folge haben bzw. muss
3.9 · Rucksäcke und Taschen
51 3
. Abb. 3.20 Battle Belt: Abwurfsack, Kampfmitteltasche, . Abb. 3.21 Die »First Responder« (LT070) von Lindnerhof
Holster und Taschen für A-, B-, C-Probleme. Taktik kann mittels eines Hüftgurts getragen werden und
(Foto: S. Schöndube) verfügt über Schlaufen zur geordneten Aufnahme von
Material. Beim häufigen Wechsel zwischen aufgesessenen
und abgesessenen Vorgehen, kann sie jedoch aufgrund der
relativen Tiefe hinderlich sein. (Foto: S. Schöndube)
auch an das aus Einsatzgründen bereits zwingend tet werden kann. Darauf aufbauend hat sich eine
mitzuführende sonstige Material angepasst werden. Kombination von mindestens 2 Rucksackgrößen
Bei Bedarf muss Zusatzmaterial auf das Einsatzele- bewährt (. Abb. 3.22). Der kleinere für kurze Wege,
ment aufgeteilt werden, wofür sich z. B. der Wär- wie z. B. bei einer Fahrzeuglage. Hier kann bei Be-
meerhalt oder auch der Volumenersatz anbieten. darf schnell Material aus den parkenden Fahrzeu-
Als praktikabel hat sich für eine erweiterte gen nachgeführt werden. Der Größere für abgesetz-
Ausstattung eine Hüfttasche (. Abb. 3.20 und te Einsätze mit verlängerter Evakuierungszeit und
. Abb. 3.21) erwiesen, aus der das A, B, C abgearbei- genügend Stauraum, um dem Träger die Möglich-
a b
. Abb. 3.22a,b Rucksäcke. a Kleiner Rucksack, hier M9 zusätzlich mit Poc-Kit-Trage an der Unterseite. b Großer Rucksack, hier
Mystery Ranch, gut zu erkennen die A-, B-, C-Taschen unterhalb vom Rucksack und an der linken Seite. (Fotos: S. Schöndube)
52 Kapitel 3 · Spezielle Ausrüstung
Literatur
Versorgungsebenen und
Evakuierung von Verwundeten
J. Bickelmayer, S. Hauschild
4.2 Verwundetentransport – 58
4.2.1 Grundlagen des Verwundetentransports – 58
4.2.2 Bodengebundener Verwundetentransport – 60
4.2.3 Lufttransport des Verwundeten (»aeromedical evacuation«) – 60
4.3 MEDEVAC-Anforderung – 60
4.5 Schlussbemerkung – 62
Literatur – 62
4.1 Grundlagen und Ebenen Versorgung am Ort der Verwundung beginnt und
der Versorgung kontinuierlich bis zur vollständigen Wiederher-
stellung des Patienten durchgeführt wird. Dabei soll
In Krisen- und Kriegsgebieten herrschen in Bezug die medizinische Versorgung stets dem neuesten
auf Infrastruktur, Telekommunikation und Bedro- Stand der Wissenschaft entsprechen. Jede Ebene
hungslage ungünstige Umgebungsbedingungen für der Versorgung baut auf den Fähigkeiten der vor-
die medizinische Versorgung von Patienten. Dem- hergehenden auf und bietet außerdem jeweils ein
entsprechend findet sich selten ein funktionsfähiges erweitertes Leistungsspektrum. Im Rahmen der
4 Gesundheitssystem, auf welches im Bedarfsfall zu- Patientenversorgung können einzelne Ebenen
rückgegriffen werden kann (»host nation support«). übersprungen werden (z. B. Transport eines Ver-
Andererseits kann zwar ein funktionsfähiges wundeten mit FORWARDAIRMEDEVAC direkt zu
System verschiedener Versorgungseinrichtungen einer ROLE 3).
bestehen, aber der Zugriff darauf erschwert oder In den letzten Jahren hat die Rolle des Erst-
nur verzögert möglich sein. Daher sollte man helfers im Rahmen der Selbst- und Kameradenhilfe
grundsätzliche Kenntnisse über Lage und Fähigkei- zunehmend an Bedeutung gewonnen, da erkannt
ten der Gesundheitseinrichtungen in seinem Ein- wurde, dass der Zeitpunkt des Behandlungsbeginns
satzraum besitzen. Die Staffelung der Rettungskette einen kritischen Faktor für das Überleben und Out-
und Kenntnis über ihre zunehmenden Möglich- come darstellt.
keiten oder Spezialisierung ihrer Elemente können Im folgenden Text soll die einsatzspezifische
bei der sinnvollen Entscheidung über ein Trans- Rettungskette anhand der aktuellen medizinischen
portziel entscheidend sein (7 Kap. 2.5). Selbst in Versorgungsstrukturen und Vorgehensweise am
Deutschland nimmt die Spezialisierung von Versor- Beispiel der Bundeswehr beschrieben werden
gungseinrichten zu und gerade in Klinikverbünden (. Abb. 4.1).
verengt sich das Spektrum zahlreicher regionaler
Versorgungseinrichtungen zunehmend.
4.1.1 Ebene 1/»ROLE 1«
Tipp
. Abb. 4.1 Schematische Darstellung der militärischen Rettungskette. Je nach den örtlichen Gegebenheiten und der Lage
können Abweichungen in Aufbau oder Ablauf vorkommen
Kameradenhilfe ausgebildet werden. Diese können chen Operationen der Spezialkräfte nicht primär
am Ort der Verwundung (»Point of Injury« – POI) vorgesehen ist.
innerhalb der ersten Minuten eine erste medizini- Die Einsatzersthelferausbildung ist eine Aus-
sche Versorgung vornehmen, die unter den Bedin- bildung in taktischer Verwundetenversorgung
gungen des laufenden Gefechts häufig primär nicht (TCCC – »Tactical Combat Casualty Care«) und
durch Sanitätspersonal geleistet werden kann. Um orientiert sich an den Algorithmen des PHTLS
die erforderliche Qualität der Erstmaßnahmen (»Prehospital Trauma Life Support«) unter beson-
durch nichtsanitätsdienstliches Personal zu ge- derer Berücksichtigung der taktischen Lage. Ziel ist
währleisten, wurde das Ausbildungskonzept der es, die vermeidbaren Todesursachen im Einsatz
Einsatzersthelfer A und B für die konventionellen (Verbluten an Extremitätenwunden, Spannungs-
Einheiten der Bundeswehr geschaffen. Die Fähig- pneumothorax und Atemwegsverlegung) zu erken-
keiten und Befugnisse, die im Rahmen dieser Aus- nen und schnellstmöglich suffizient zu behandeln.
bildung medizinischen Laien vermittelt werden,
sollen das Überleben der Patienten sichern. Damit jEinsatzersthelfer A
sollen die Einsatzersthelfer das Sanitätspersonal er- Einsatzersthelfer A werden so ausgebildet, dass sie
gänzen und nicht ersetzen. Dieses Konzept trägt der Maßnahmen der Ersten Hilfe durchführen können.
Tatsache Rechnung, dass mittlerweile nicht mehr Besondere Bedeutung kommt hier vor allem der
alle Kleinsteinheiten durch BAT (Bewegliche Arzt- raschen Blutstillung zu. Daher enthält die persönli-
trupps) oder Rettungstrupps (RettTrp) begleitet che Sanitätsausstattung im Einsatz entsprechende
werden können oder aber deren Einsatz bei man- Medizinprodukte wie Tourniquets und Hämostyp-
56 Kapitel 4 · Versorgungsebenen und Evakuierung von Verwundeten
tika (7 Kap. 3.2). Darüber hinaus werden die Ein- Die Ausrüstung ist lage- und auftragsbezogen
satzersthelfer A zur Gabe von Schmerzmitteln primär taktischer Natur, medizinisches Material
mittels Autoinjektoren und zur Herstellung der und Equipment wird je nach Ausbildungsstand in
Transportfähigkeit von Verwundeten ausgebildet. zusätzlichen Packgefäßen bzw. Rucksäcken mitge-
Mittlerweile wird jeder Soldat zu einem EHA im führt (7 Kap. 3).
Rahmen der Grundausbildung qualifiziert.
Sanitätspersonal
jEinsatzersthelfer B 4 Einsatzsanitäter (Rettungssanitäter mit Zusatz-
4 Einen Schritt weiter geht der Einsatzersthelfer B: ausbildung)
Besonders ausgewählte Soldaten der Teilstreitkräfte 4 Einsatzrettungsassistent (Rettungsassistent mit
erhalten eine erweiterte sanitätsdienstliche Aus- Zusatzausbildung)
bildung, die sie befähigt, lebensrettende Sofortmaß- 4 BAT-Arzt (beweglicher Arzttrupp; Fachkunde
nahmen oberhalb der Selbst- und Kameradenhilfe Rettungsmedizin, Zusatzausbildung)
im Rahmen der Notkompetenz im Einsatz durchzu- 4 LBAT-Arzt (luftbeweglicher Arzttrupp; Fach-
führen. Hierunter fallen zusätzlich zu den Befugnis- kunde Rettungsmedizin, Zusatzausbildung,
sen eines EHA: SpezlOP)
4 Behandlung eines Spannungspneumothorax
durch Nadeldekompression Der Rettungstrupp (RettTrp) besteht personell aus
4 Anlegen von chest seals bei penetrierendem 4 zwei Rettungsassistenten und
Thoraxtrauma 4 ein bis zwei Militärkraftfahrern, die häufig
4 Kontrolle des Atemwegs mittels »Chin-lift/Jaw- eine Ausbildung zum Einsatzsanitäter erhalten
thrust-Manöver« und Nasopharyngealtubus haben.
4 Anlegen eines i.v. Zuganges (ggf. i.o.)
4 Gabe von Vollelektrolytlösungen Da spezielle Fahrzeuge genutzt werden (Wolf MSA,
Duro III/YAK, EAGLE 4, TPZ Fuchs 1 A 7/1 A 8), ist
jCombat First Responder ein geschützter Verwundetentransport nach der
Die Soldaten der spezialisierten Kräfte und Spezial- Initialversorgung möglich, wobei sich bisher aus
kräfte werden dagegen zu sog. »Combat First Res- Erfahrungswerten heraus vornehmlich der TPz in
pondern« (CFR) ausgebildet. Hochrisikoeinsätzen bewährt hat. Je nach Gelände-
Hierdurch sind sie je nach Ausbildungsstufe (A beschaffenheit und Auftragslage können zusätzlich
bzw. B) befähigt, erweiterte Maßnahmen im Rah- der Wiesel 2 San und der Hägglund BV 206 S einge-
men der Notkompetenz bis hin zur i.v. Analgosedie- setzt werden. Der RettTrp wird in die Kampftruppe
rung, Etablieren eines definitiven Atemweges ohne eingegliedert und versorgt häufig als erstes Element
Muskelrelaxanzien und Gabe weiterer festgelegter des Sanitätsdienstes verletzte oder verwundete
Notfallmedikamente sowie ggf. anderen invasiver Soldaten.
Maßnahmen durchzuführen. Die CFR C der Spezi- Der Rettungstrupp kann auch abgesessen zum
alkräfte erhalten zudem eine Ausbildung zum Ret- Einsatz kommen. Hierbei werden meistens leichte
tungssanitäter. Unterstützung erhalten die o. g. Notfallrucksäcke mitgeführt. Der abgesessene
Kräfte im Verlauf – wann immer möglich – durch Einsatz ist besonders dann von Vorteil, wenn im
den Sanitätsdienst (RettTrp und/oder BAT). Rahmen eines Auftrages die Transportmittel auf-
Die lehrgangsgebundene Ausbildung von Kom- grund der Auftragslage (geräuschlose Annäherung,
battanten zu Sanitätsspezialisten hat die Rettungs- schwieriges Gelände) nicht nah genug an der zu ver-
kette revolutioniert und maßgeblich dazu beigetra- sorgenden Truppe positioniert werden können. Bei
gen, dass einerseits verwundete Kameraden schnel- Gefechtshandlungen hoher Intensität sind zudem
ler bestmöglich versorgt werden. Andererseits ist meist auch die Sanitätsspezialisten der Truppe mit
die Bedeutung der taktischen Einsatzmedizin auch anderweitigen Aufgaben betraut und können sich
im Vorfeld eines Auftrages mehr ins Bewusstsein nicht immer primär der Verwundetenversorgung
gerückt. zuwenden.
4.1 · Grundlagen und Ebenen der Versorgung
57 4
Die hier eingesetzten Rettungsassistenten müs- Sanitätseinrichtungen im Feld
sen zusätzlich zu ihrer notfallmedizinischen Exper- In einigen Lagen kann eine Rettungsstation MSE
tise über eine fundierte militärische Ausbildung (MSE = modulare Sanitätseinrichtung) geschützt
sowie eine hohe physische und psychische Belast- (Containermodul) auf dem Landweg oder eine
barkeit verfügen. Luftlanderettungsstation (LSE-gestütztes Zeltsys-
Es kann eine erweiterte Notkompetenz zu- tem mit Luftkammerschienen, LSE = luftbewegliche
erkannt werden, die durch den leitenden Sanitäts- Sanitätseinrichtung) per Lufttransport in den Ein-
offizier im Einsatz (LSO i.E.) auf Antrag festgelegt satzraum verbracht werden. Beide verfügen über
und erteilt wird. Die erweiterte Notkompetenz im mindestens zwei Notfallbehandlungsplätze, darun-
Einsatz hat sich in den letzten Jahren bewährt. ter zwei mit Beatmungsmöglichkeit. Sie dienen der
Der Bewegliche Arzttrupp (BAT) besteht perso- sanitätsdienstlichen Schwerpunktbildung und der
nell aus: Wiederherstellung oder dem Erhalt der Transport-
4 einem Arzt mit der Fachkunde Rettungs- fähigkeit sowie dem Zeitgewinn bei verlängerten
medizin bzw. der Zusatzbezeichnung Notfall- Evakuierungszeiten und sind auch (LLRS) per Luft-
medizin transport verlegbar. Sie benötigen immer eine zu-
4 ein bis zwei (LBAT) Rettungsassistenten und sätzliche Schutzkomponente zur Sicherung.
4 ein bis zwei Kraftfahrern mit der Ausbildung Die Luftlanderettungstation Spezialeinsatz
zum Einsatzsanitäter. (LLRS SpezEins) nimmt in Zukunft mit der Fähig-
keit der DCS (»damage control surgery«) eine Zwi-
Die eingesetzten Fahrzeuge entsprechen denen des schenstellung zwischen der Ebene 1 und der Ebene
Rettungstrupps. Die materielle Ausstattung ent- 2 ein.
spricht in etwa einem NAW/NEF in Deutschland.
Der BAT kann ebenso wie der Rettungstrupp in die
Elemente der Kampftruppe eingegliedert werden. 4.1.2 Ebene 2/»ROLE 2«
Die Anforderungen an die militärische Ausbildung
und die körperliche und psychische Belastbarkeit der 4 Rettungszentrum (RZ) und Rettungszentrum
Besatzung sind dieselben wie die an den Rettungs- leicht (RZ le)
trupp. Der Arzt ist als Sanitätsstabsoffizier zudem 4 Luftlanderettungszentrum (LLRZ) und Luft-
Berater der Truppe in sanitätsdienstlichen Angele- landerettungszentrum leicht (LLRZ le)
genheiten und Fachvorgesetzter aller Soldaten vor 4 Marineeinsatzrettungszentrum (MERZ)
Ort. Als sog. »Medical Incident Officer« (MIO) über-
nimmt er bei einem MASCAL (»mass casualty«, Die Einrichtungen der Ebene 2 werden in einem ge-
Massenanfall von Verwundeten) die fachliche Füh- sicherten militärischen Bereich, einem Camp, einer
rung aller an der Verwundetenversorgung beteiligten Einsatzbasis oder einem PRT (»provincial reconst-
Soldaten sowie die Triage und plant den Verwunde- ruction team«) vorgehalten. Sie können aber auch
tentransport in enger Absprache mit dem taktischen im Vorfeld einer militärischen Operation land- oder
Führer vor Ort. Dabei setzt er sein Personal sach- und luftbeweglich (LLRZ, LLRZ le) in eine FOB (»For-
fachgerecht ein und kann Maßnahmen an Rettungs- ward Operating Base«) verbracht werden und dort,
assistenten oder anderes Hilfspersonal delegieren. teilweise gegen Splitterwirkung und wenig gegen
Die Möglichkeiten der notfallmedizinischen Steilfeuerbeschuss gesichert, betrieben werden. Die
Versorgung durch den BAT umfassen das volle zeltgestützten luftbeweglichen Sanitätseinrichtun-
Spektrum der Notfallmedizin, wobei jedoch be- gen sind schnell verlegbar und kommen insbeson-
stimmte materielle Ressourcen (z. B. Sauerstoff) dere bei Operationen mit geringem Vorlauf (z. B.
begrenzt sind und der Umfang der medizinischen Evakuierungsoperationen) oder zu Beginn eines
Maßnahmen durch die taktische Lage häufig einge- längerfristigen Einsatzes zur Anwendung. Bei einer
schränkt wird. zu erwartenden Einsatzdauer von mehr als einem
Jahr werden die Behandlungseinrichtungen häufig
in fester Infrastruktur eingerichtet. Maritime Ein-
58 Kapitel 4 · Versorgungsebenen und Evakuierung von Verwundeten
satzverbände haben die Option, Marineeinsatzret- res ist besonders bei TBI (»traumatic brain injury«)
tungszentren (MERZ) containergestützt an Bord in Erwägung zu ziehen. Die Entscheidung über
von Einsatzgruppenversorgern (EGV) zu betreiben. das einzusetzende Rettungsmittel und die aufneh-
Die Einrichtungen der Behandlungsebene 2 mende Versorgungseinrichtung trifft die PECC
verfügen über die Fähigkeit einer ersten notfall- (»patient evacuation coordination cell«, Rettungs-
chirurgischen Versorgung im Sinne einer »damage leitstelle).
control surgery«. Zur Ausstattung gehören eine
Notaufnahme inklusive Schockräumen, Opera-
4 tionssälen, Intensivbehandlungsplätze mit Beat- 4.1.4 Ebene 4/»ROLE 4«
mungsmöglichkeit, Bettenstation, Röntgen, Labor,
eine Apotheke sowie ein begrenztes Kontingent an Die definitive operative Versorgung bzw. Weiter-
Blut- und Gerinnungsprodukten. Dem Schock- behandlung des Patienten und danach die Rehabili-
raummanagement kommt hierbei eine Schlüssel- tation erfolgt in den Fachabteilungen deutscher
rolle zu. Es werden immer mindestens ein chirurgi- Bundeswehrkrankenhäuser. Bei Bedarf werden
sches und ein anästhesiologisches Team (Facharzt auch zivile Krankenhäuser der Schwerpunkt- und
und Assistenzpersonal) vorgehalten. Maximalversorgung genutzt.
Aus logistischen Gründen muss stets an eine
schnellstmögliche Weiterverlegung der Patienten
gedacht werden, um die Aufnahmefähigkeit dieser 4.2 Verwundetentransport
Einheit zu erhalten.
Diese Einheit kann auf dem Landweg und durch 4.2.1 Grundlagen des
die Luft (meistens durch Hubschrauber) erreicht Verwundetentransports
werden. Bei maritimen Einheiten (MERZ) erfolgt
der Transport ggf. über den Seeweg, wobei auf- Der qualifizierte Verwundetentransport sowohl
grund des kritischen Zeitmoments beim Notfall- vom Ort der Verwundung als auch zwischen den
patienten stets der Lufttransport vorgezogen wer- Behandlungseinrichtungen ist das Bindeglied,
den sollte. welches die Kontinuität im Gesamtsystem der sani-
tätsdienstlichen Versorgung sicherstellt. Ziel ist es,
jeden Verwundeten zu jeder Tageszeit, bei jedem
4.1.3 Ebene 3/»ROLE 3« Wetter und aus jeder Region evakuieren zu können.
Die mobilen präklinischen Anteile, Rettungstrupps
Einsatzlazarette bilden im NATO-Standard die und Bewegliche Arzttrupps, sind mit Fahrzeugen
3. Versorgungsebene. Je nach Einsatz kann die ausgestattet, welche die Faktoren Schutz, Mobilität
Leistungsfähigkeit in einzelnen Teilbereichen das und sanitätsdienstliche Funktionalität in Einklang
Niveau einer Universitätsklinik haben, während an- bringen. Der bodengebundene Verwundetentrans-
dere Fachbereiche ggf. überhaupt nicht abgebildet port (GROUNDMEDEVAC) wird auch zukünftig
werden. Im Vergleich zur Ebene 2 sind neben Anäs- unverzichtbarer Bestandteil der Rettungskette blei-
thesie und Chirurgie auch andere Fachdisziplinen ben.
wie z. B. Neurochirurgie, Radiologie, Augenheil- Die Erfahrungen in Afghanistan haben erneut
kunde, Urologie, Innere Medizin, HNO, Dermato- die herausragende Bedeutung des Lufttransports
logie und Labormedizin vertreten. Ferner werden (AIRMEDEVAC) mit Hubschraubern und anderen
erweiterte diagnostische Möglichkeiten (CT) und Luftfahrzeugen für den Verwundetentransport ver-
eine größere Infrastruktur mit erhöhten intensiv- deutlicht. Sowohl aufgrund der Dislozierung von
medizinischen und Operationskapazitäten vor- Truppenteilen in ausgedehnten Einsatzräumen als
gehalten. auch aufgrund der Anforderungen an einen dem
Die Ebene 3 wird meistens im Rahmen des ent- Verletzungsmuster angepassten Transport kann der
lastenden Verwundetentransports von der Ebene 2 zeitgerechte, qualifizierte Transport von verwunde-
oder direkt von der Ebene 1 aus angeflogen. Letzte- ten Soldaten nicht immer bodengebunden erfolgen.
4.2 · Verwundetentransport
59 4
Einsatzland- und lagebezogen ist auch der Ver- Die Evakuierung von Verwundeten (»medical
wundetentransport auf dem Wasserwege möglich. evacuation«) kann grundsätzlich in folgende drei
Je nach Einsatz sowie personeller und materiel- Formen unterteilt werden:
ler Ausstattung der Transportmittel wird zwischen
folgenden Begrifflichkeiten unterschieden: Forward Medical Evacuation
4 CASEVAC (»Casualty Evacuation«): Evakuie- Transport des Verwundeten vom Ort der Ver-
rung eines Verwundeten mit einem Transport- wundung zur ersten notfallchirurgischen Behand-
mittel, welches nicht speziell für den Transport lung in Versorgungseinrichtungen der Ebenen 1+
von Verletzten/Verwundeten oder Erkrankten bis 3. Zum Einsatz kommen bodengebundene Fahr-
vorgesehen und ausgerüstet ist. Dementspre- zeuge (Rettungstrupp, Beweglicher Arzttrupp),
chend befindet sich weder medizinisches Gerät Wasserfahrzeuge oder Luftfahrzeuge (forward AIR-
noch medizinisches Personal an Bord. Das MEDEVAC), wobei heutzutage ausschließlich
bedeutet, dass bei einer Verschlechterung des Hubschrauber eingesetzt werden.
Gesundheitszustandes des Patienten keine Be- Im Auslandseinsatz der Bundeswehr sind eigens
handlung erfolgen kann und sich damit das für den MEDEVAC-Einsatz vorgehaltene und
Outcome verschlechtert. Angemerkt sei je- ausgerüstete Hubschrauber (CH-53) verfügbar. Be-
doch, dass bei CASEVAC eine Begleitung des sonders jedoch hat sich die enge Zusammen-
Patienten durch einen Soldaten mit erweiterter arbeit mit den US-amerikanischen MEDEVAC-
Sanitätsausbildung erfolgen kann und sollte. Einheiten (UH-60/HH-60) bewährt und die Trans-
Während des Transports übernimmt dieser die portzeiten haben sich unter Nutzung eingerichteter
Versorgung des Patienten mit den ihm zur Hubschrauberlandezonen (HLZ/HLS = »heli landing
Verfügung stehenden Mitteln. Da es mittler- site«) erheblich verkürzt.
weile ein definiertes Ziel innerhalb der NATO
ist (STANAG 3204), jedem Verwundeten un- Intra-Theatre Tactical Medical Evacuation
verzüglich eine kontinuierliche und bestmög- Patiententransport von einer Behandlungseinrich-
liche medizinische Versorgung durch qualifi- tung zur anderen innerhalb der »joint operations
ziertes Personal zukommen zu lassen, spielt area« (JOA). Zum Einsatz kommen bodengebunde-
das CASEVAC-Konzept heutzutage im Einsatz, ne Fahrzeuge (RettTrp, BAT) oder Luftfahrzeuge
auch bei Operationen der Spezialkräfte, so gut (TACAIRMEDEVAC), wobei sowohl Hubschrau-
wie keine Rolle mehr. ber als auch Flugzeuge eingesetzt werden können.
4 MEDEVAC (»Medical Evacuation«): Qualifi- Typischerweise erfolgt der Transport aufgrund des
zierter Verwundetentransport vom Ort der kritischen Zeitfaktors auf dem Luftweg, um z. B.
Verwundung zu einer medizinischen Versor- einen stabilisierten Patienten zur weiteren medizi-
gungseinrichtung der Ebene 2 oder 3 mit nischen Versorgung in eine Behandlungseinheit der
einem speziell für diesen Zweck mit medizi- höheren Ebene (häufig Ebene 3) zu verbringen.
nischem Material und Personal ausgestattetem Hierbei hat sich gezeigt, dass die Patienten so früh
Transportmittel zu Wasser, zu Lande oder wie möglich und spätestens in dieser Evakuierungs-
durch die Luft. Während des Transports erfolgt phase aufgrund der häufig erforderlichen intensiv-
die weitere Behandlung des Patienten durch medizinischen Behandlung der Verwundeten arzt-
sanitätsdienstliches Personal, wobei der Um- begleitet transportiert werden sollten.
fang der Versorgung von der jeweiligen Quali-
fikation abhängig ist (»flight medic«, Parame- Strategic Medical Evacuation
dic, Rettungsassistent, Arzt). Repatriierung bzw. Transport von Patienten von
4 CASEVAC und MEDEVAC werden unter dem einer Behandlungseinrichtung im Einsatzgebiet zur
Begriff TACEVAC (»Tactical Evacuation«) zu- weiterführenden medizinischen Versorgung in eine
sammengefasst. medizinische Behandlungseinrichtung (meistens
Ebene 4) außerhalb der JOA. Der Transport erfolgt
immer auf dem Luftweg. Die eingesetzten Luftfahr-
60 Kapitel 4 · Versorgungsebenen und Evakuierung von Verwundeten
zeuge (Airbus A310 + A319, Transall C-160, Chal- rungsfreien Transport in eine medizinische Versor-
lenger CL 601) werden speziell mit Patiententrans- gungseinrichtung, auf der anderen Seite geht der
porteinheiten (PTE) ausgerüstet, welche eine inten- Lufttransport durch seine Eigenheiten (Abnahme
sivmedizinische Überwachung und Versorgung des Sauerstoffpartialdrucks und des Luftdrucks mit
während des Transports ermöglichen. Personell zunehmender Flughöhe, Lärmbelastung mit Ein-
werden hierfür spezielle Teams eingesetzt, die im- schränkungen in Bezug auf Diagnostik und Kom-
mer aus einem Arzt und Assistenzpersonal beste- munikation, Kinetosen durch Flugmanöver) mit
hen (US: CCATT – »Critical Care Air Transport nicht unerheblichem Stress für den Patienten ein-
4 Teams«). her. Bestimmte (relative) Kontraindikationen für
den Lufttransport in größerer Höhe ohne Druck-
ausgleich in der Kabine müssen vor Transport-
4.2.2 Bodengebundener beginn ausgeschlossen worden sein (penetrierende
Verwundetentransport Augenverletzungen, nicht entlasteter Spannungs-
pneumothorax, schwere respiratorische Insuffi-
Unter qualifiziertem Verwundetentransport ver- zienz, Luftembolie, Dekompressionskrankheit) (aus-
steht man den Abtransport des anbehandelten Pati- führlich 7 Kap. 34). Da die Einsatzhöhe der einge-
enten mit Fachpersonal (Rettungsmediziner und/ setzten Helikopter eher niedrig ist, fallen hier diese
oder Rettungsassistent) in einem eigens für den Besonderheiten der Flugmedizin nicht so sehr ins
Verwundetentransport vorgesehenen und aus- Gewicht.
gerüsteten Transportmittel. Es kommen speziell
konfigurierte Fahrzeuge in den Varianten Rettungs-
trupp (entspricht einem zivilen RTW – Rettungs- 4.3 MEDEVAC-Anforderung
wagen) und BAT (entspricht einem zivilen NAW –
Notarztwagen) zum Einsatz. Die Fahrzeuge sind Um eine Notfallmeldung abzusetzen bzw.
geländegängig und verfügen über eine Zusatzpan- MEDEVAC anzufordern, haben sich zwei Schemata
zerung zum Schutz vor Splitterwirkung und Hand- NATO-weit durchgesetzt. Da das METHANE-
waffenbeschuss sowie spezielle Vorrichtungen wie Schema einer militärischen Lagemeldung ent-
Kommunikations- und Navigationsmittel sowie spricht, soll an dieser Stelle nur auf den 9-Line
eine Bewaffnung zum Eigenschutz. MEDEVAC Request eingegangen werden. Dieses
Meldeschema wird durch den militärischen Führer
vor Ort an das »Tactical Operations Center« (TOC)
4.2.3 Lufttransport des Verwundeten abgesetzt, von hier aus wird es an die PECC weiter-
(»aeromedical evacuation«) geleitet. Hierzu holt dieser alle notwendigen medi-
zinischen Informationen vom MIO bzw. dem medi-
Unter »aeromedical evacuation« versteht man den zinischen Führer vor Ort ein und lässt sich fachlich
Verwundetentransport mit Drehflüglern (»rotary beraten. Der 9-Line MEDEVAC Request ist inner-
wing« = Hubschraubern, z. B. CH-47, CH-53, UH- halb der NATO durch ein Standardization Agree-
60, HH-60) und Starrflüglern (»fixed wing« = Flug- ment (STANAG) einheitlich festgelegt.
zeuge, z. B. C-160/C130).
Die Unterteilung der »aeromedical evacuation« 9-Liner
erfolgt analog zur o. g. Einteilung der »medical Die Form des »9-Liners« ermöglicht eine strukturierte
evacuation«, allerdings wird das Kürzel »Air« bzw. Abfrage und komprimierte Übertragung relevanter
»Aero« in den Begriff bzw. in die Abkürzung ein- Informationen. Der Funkspruch »[…] Line 3: Alpha 2,
oder hinzugefügt. Charlie 5 […]« teilt dem Empfänger z. B. mit, dass
Der Lufttransport zeichnet sich gegenüber dem 2 Schwerverwundete und 5 Leichtverwundete zu
bodengebundenen Transport durch einige Beson- evakuieren sind. Auch mit geringen Englischkennt-
derheiten aus: Auf der einen Seite profitiert der nissen ist so eine qualifizierte Übertragung von
Verwundete von dem schnellen und erschütte- Informationen möglich.
4.3 · MEDEVAC-Anforderung
61 4
. Tab. 4.1 Emergency Air MEDEVAC Request – »9-Liner«. (Nach NATO STANAG 2087 Ed. 6, Feb 09 [1])
M Verletzungsmechanismus/Zeit
(»mechanism/time of injury«)
I Verletzung/Erkrankung
(»injury or illness sustained«)
S Symptome/Vitalfunktionen S Symptoms
(»symptoms and vital signs«) A Airway
B Breathing rate
C Pulse rate
D Consciousness
E Other signs
T Therapie
(»treatment given«)
62 Kapitel 4 · Versorgungsebenen und Evakuierung von Verwundeten
5.1 Grundsätzliches – 64
5.2 Einteilung der Rettungsmittel Beim Verletzten wird dabei immer vom Zustand
»bewusstlos« ausgegangen. Nur so kann dann in der
Bei der Einteilung von Rettungsmitteln unterschei- Notsituation die richtige Technik verzugslos ange-
den wir zwischen: wendet werden.
4 Rettungsgriffen Jede Technik hat dabei ihre eigenen Vor- und
4 Hilfsmitteln zur Rettung Nachteile. Im Kern stehen sich dabei immer Aus-
4 Behelfsmäßigen Rettungsmitteln weichgeschwindigkeit und Ansatz der Rettungs-
4 Industriell gefertigten Rettungsmitteln kräfte gegenüber. Es kann zweckmäßig sein, im
Rahmen der Ausweichbewegung aus dem Gefah-
Gerade in der Phase »Care under Fire« kommt dem renbereich die Technik und den damit gebunden
einfachen Prinzip von »load and go« besondere Be- Kräfteansatz anzupassen. Beispielsweise wird ein
deutung zu. Die einfache und schnelle Methode unter Beschuss gekommener Trupp in der Phase
wird hier zum Erfolg führen, da die Gefahrenzone CuF nur eine Technik wie »collar drag« oder »two
schnellstmöglich verlassen werden muss. man-drag« anwenden können, um Deckungsfeuer
abgeben, sich dadurch überhaupt erfolgreich lösen
und somit den Totalausfall des Trupps verhindern
5.2.1 Rettungsgriffe zu können. Wenn die Bedrohung nachlässt, bietet es
sich an, eine kräfteschonendere Technik anzuwen-
Unter den »Rettungsgriffen« existiert eine Vielzahl den. Hierfür stehen dann auch oft weitere Kräfte zur
praktikabler Ein- bis Mehrpersonentechniken Verfügung.
66 Kapitel 5 · Rettung von Verwundeten
. Tab. 5.1 Gängige Techniken zum Retten von Patienten aus Gefahrenbereichen mit ihren jeweiligen Vor-
und Nachteilen
5.2.2 Hilfsmittel zur Rettung Als Beispiel hierfür können die sog. »drag straps«
und Bandschlingen genannt werden (. Abb. 5.3).
Mit Hilfe eines aus einem Dreiecktuch o. ä. herge- Diese Mittel sind meist aus Gurtband aus dem Klet-
stellten Rings, der von zwei Helfern mit je einer tersportbereich gefertigt und in vielen Variationen
Hand gegriffen wird, können Verwundete gut getra- verfügbar. Die grundlegende Ausführung dafür ist
gen werden. Der Patient sitzt dabei auf dem Ring immer eine »leinenartige« Verbindung vom Retter
bzw. den Händen der Helfer. Bei diesem Griff kann zum Patienten zur horizontalen Schleifrettung aus
sich ein Verwundeter bei Bewusstsein selbstständig dem Gefahrenbereich. Durch die Verbindung er-
an den Rettern festhalten, sodass diese jeweils eine folgt eine bessere Kraftübertragung und der Retter
Hand zur Nutzung einer Waffe oder zum Festhalten hat bei Bedarf beide Hände frei, ohne dass das Zug-
in schwierigerem Gelände frei haben. band auf den Boden fällt bzw. er dieses verliert (Ein-
In den Bereich der »Hilfsmittel zur Rettung« satz bei eingeschränkter Sicht).
fallen auch all jene Ausrüstungsgegenstände, die Außerdem kann eine Leine oder Bandschlinge
eine Rettung in der ersten Phase schnell ermögli- einem Verletzten, der noch bei Bewusstsein ist, zu-
chen bzw. in späteren Phasen den Abtransport mit geworfen werden und er dann (mit ausreichenden
anderen Mitteln unterstützen. Kräften, da die Reibung natürlich sehr hoch ist)
5.2 · Einteilung der Rettungsmittel
67 5
a b
c d
e f
aus einer Deckung heraus in Sicherheit gezogen Die Möglichkeit einen Verwundeten mittels eines
werden. um seine Sprunggelenke gelegten und am Gürtel
des Retters befestigten »drag strap« rückwärtsge-
Tipp hend aus dem Gefahrenbereich zu ziehen und dabei
Deckungsfeuer zu schießen, funktioniert primär
Eine an der Weste befestigte und vorbereitete auf sehr glattem Untergrund (in Gebäuden) und mit
offene Bandschlinge mit der einer Länge von leichten Patienten (. Abb. 5.4). Bei unebenem Un-
3 m kann zusammen mit zwei HMS-Karabinern tergrund wird die Mündung der Waffe dabei stark
in der ersten kritischen Phase eine schnelle auf und ab schwenken. Das Deckungsfeuer wird
Rettung ermöglichen. Weiterhin ist sie multi- ineffektiv und es entsteht eine massive Gefährdung
funktional (z. B. zur Sicherung an einer Rückhalte- des zu Rettenden.
leine im LFz oder einem Seilsteg) einsetzbar. Mit Rundschlingen lassen sich zudem viele be-
helfsmäßige Mittel erstellen. Diese reichen von ein-
68 Kapitel 5 · Rettung von Verwundeten
a b c
. Abb. 5.3a–c Bandschlingen. a Behelfstrage durch überkreuzt unter dem Patienten liegende Bandschlinge. b Improvisierte,
vertikale Rettung. c In die Bundeswehr eingeführtes Bandmaterial mit einer Traglast von 2200 kg. (Foto: G. Wiechmann)
. Abb. 5.5 Anlage einer Transportschlinge (»hasty harness«) zum Schleifen oder zur Aufnahme des Patienten auf den Rücken
(dann Enden beim Führen nach vorne hoch in die Achseln ziehen, damit der Schwerpunkt nicht zu tief liegt). Insbesondere
falls der Verwundete noch Ausrüstung trägt, sollte die Bandschlinge eine Länge von 9 m haben. (Grafik: M. Neitzel)
. Abb. 5.6 Kampfunterstützungssatz, bestehend aus: 18 m . Abb. 5.7 An den Motorhaubenscharnieren befestigte
Statikseil 11 mm Seil, 4 HMS-Karabinern, 2 Bandschlingen Gummiexpander mit Karabiner ermöglichen die Sicherung
(3 m und 9 m), 1 Seilrolle mit Stop (z. B. Petzl »Micro Traxion«) des quer über der Motorhaube liegenden Verwundeten durch
sowie einer Aufbewahrungstasche. (Foto: S. Schöndube) Einhaken an der Ausrüstung im Schulterbereich und Fixie-
rung der Oberschenkel mittels Expander. (Foto: Dr. C. Neitzel)
einigen Fällen die einzig anwendbare bzw. mitführ- lern ähnliche Produkte angeboten, welche sich aber
bare Möglichkeit sein. im Einsatzbereich und der Zulassung enorm unter-
scheiden können. Hier sind die Eigenschaften anhand
der oben aufgeführten Kriterien genau zu prüfen.
5.2.4 Industriell gefertigte Häufig erlauben die Umstände den Einsatz
Rettungsmittel hochwertiger Evakuierungssysteme nicht, oder das
Mitführen der vergleichsweise sperrigen Behälter
Bei den industriell gefertigten Rettungsmitteln bietet ist nicht zwingend erforderlich. In diesem Fall
der Markt die größte Auswahl. Hier sollte anhand der bieten Hilfsmittel wie leichte Tragetücher erheb-
eingangs beschriebenen Kriterien sorgfältig ausge- liche Vorteile hinsichtlich Gewicht und Packvolu-
wählt werden. Meist werden von mehreren Herstel- men (. Abb. 5.8).
70 Kapitel 5 · Rettung von Verwundeten
a
5
Tipp
a b
. Abb. 5.10a,b RollUp. a RollUp fertig für die vertikale Bergung. Gut zu erkennen ist, dass die Anschlagpunkte für das
Bergeseil/Winde an der Kante angebracht sind und damit auch ein für das Winchen vorbereitetes System schleiffähig bleibt.
b RollUp zerlegt. Gut zu sehen sind die Quer-/Längsstreben. (Mit freundlicher Genehmigung der Fa. Kohlbrat & Bunz GmbH)
. Abb. 5.11 Foxtrott Litter. Der Gurt zum Schleifen des . Abb. 5.12 ARK bag von TacMed Solution, die Foxtrott
Patienten befindet sich in einer separaten Tasche am Kopf- befindet sich im Mittelfach und kann auch auf dem Rücken
teil und ist zur Demonstration etwas herausgezogen. tragend entnommen werden. (Foto: S. Schöndube)
(Foto: Dr. C. Neitzel)
schiede auf. Durch den Einsatz von Längs- und stellt eine Zwischenstufe zwischen Tragetuch und
Querstreben wird eine sehr hohe Eigenstabilität Sked-Stretcher dar. Mit ihr kann man Patienten
erreicht und darüber hinaus gewährleistet, dass auf auch schleifen, darüber hinaus reduziert sich der
den Verletzten kein Druck von der Längs-/Quersei- Personalaufwand beim Patiententransport durch
te aufgebaut werden kann. Im Prinzip stellt das Roll- eine gute Stabilität in der Längsachse. Es kann aber
Up hierdurch eine Kombination aus Korb- und nicht wie die Sked-Trage zur vertikalen Rettung ein-
Schleiftrage dar. Das RollUp ist zum vertikalen und gesetzt werden. Aufgrund der Größe eignet es sich
horizontalen Bergen von Verletzten vorgesehen und noch zum Mitführen am Rucksack.
kann über Schnee oder Gras gezogen werden. Dazu Wer die Foxtrott Litter nicht im mitgelieferten
muss das RollUp nicht extra vorbereitet werden. Packsack mitführen möchte, kann das ARK bag
Anschlagpunkte für die vertikale als auch die hori- (. Abb. 5.12) nutzen. Dieses wurde im Prinzip um
zontale Bergung sind, bis auf die Antirotationsleine die Foxtrott herum gebaut und bietet neben der
für die Windenbergung, bereits vorinstalliert. Auch Aufnahme der Trage ausreichend Stauraum für
beim RollUp gibt es optionale Auftriebskörper für Standard-Verbandsmaterial.
die Wasserrettung. Eine platzsparende Alternative zur Krankentrage
Die zusammenrollbare Kunststofftrage Foxtrott ist die Talon-II-Model 90C-Falttrage (. Abb. 5.13).
Litter von Tactical Medical Solutions (. Abb. 5.11) Durch ihr kleines Staumaß ist sie auch auf Fahrzeu-
72 Kapitel 5 · Rettung von Verwundeten
5 a b
gen (Wolf etc.) gut mitzuführen. Ein verfügbarer SanMat-Depot ausgestattet. Mit der Trage kann der
Tragebehälter (»Warrior Aid & Litter Kit«, WALK) Patient direkt an Luftrettungsmittel ohne Umlage-
ist mit zusätzlichen Taschen versehen, die als Back- rung übergeben werden. Die Tragen lassen sich ggf.
up-Bag im Auto mit Sanitätsmaterial gefüllt werden auch von zwei Helfern tragen, was im Einsatzfall
können. So ist jedes Fahrzeug mit Tragehilfe und Personal einspart.
73 6
Technische Rettung
und Bergung
S. Börner
6.2 Einsatztechnik – 75
6.2.1 Technische Erstmaßnahmen – 75
6.2.2 Möglichkeiten der technischen Rettung – 77
6.2.3 Fahrzeugkonstruktion – 77
6.2.4 Möglichkeiten zur Sicherung von Kraftfahrzeugen – 78
6.2.5 Fahrzeugöffnung – 80
6.2.6 Besonderheiten geschützter Fahrzeuge – 83
6.2.7 Befreiung – 85
6.2.8 Bergung – 85
6.2.9 Aufgabe von Fahrzeugen – 85
Taktische Operationen sind durch ein erhebliches entsprechend ausgebildeten Kräfte, muss
Risiko für die beteiligten Kräfte gekennzeichnet. dem Führer dabei bewusst sein und in die
Die Wahrscheinlichkeit des Eintrittes von Notfall- Lagebeurteilung einfließen.
situationen ist hoch, was die Planung entsprechender
Rettungsmaßnahmen notwendig macht. Hierbei Fallbeispiel
müssen die Besonderheiten taktischer Lagen nicht Während einer Patrouillenfahrt wurde ein Allschutz-
nur berücksichtigt werden, sondern in den Mittel- Transport-Fahrzeug (ATF) Dingo als zweites Fahrzeug
punkt aller Überlegungen treten. Die Verantwor- der Kolonne durch eine improvisierte Ladung (»im-
tung für Art und Abfolge der zu ergreifenden Maß- provised explosive device« – IED) angesprengt und
nahmen liegt daher beim militärischen Führer. Das blieb liegen. Der nachfolgende Transportpanzer
Kapitel gibt Hilfestellungen zu praktischen Aspek- Fuchs kam nicht mehr rechtzeitig zum Stehen und
ten der technischen Rettung in Notlagen, in denen fuhr auf das beschädigte Fahrzeug auf. Während die
speziell ausgebildetes Personal nicht verfügbar ist. Dingo-Besatzung unverletzt blieb, erlitten Fahrer und
6 Beifahrer des Transportpanzers durch den Aufprall
erhebliche Verletzungen. Die Rettung der Betroffe-
6.1 Technische Rettung im Kontext nen erwies sich als schwierig, da sich beide Türen
taktischer Lagen zum Fahrerraum soweit verzogen hatten, dass sie
sich mit den zur Verfügung stehenden Mitteln nicht
6.1.1 Rettung unter besonderen von außen öffnen ließen. Eine Öffnung der Dachluke
Bedingungen war aufgrund der zum Schutz des Bordschützen auf-
montierten Panzerschürze ebenfalls nicht möglich.
Rettungsmaßnahmen im Einsatz mobiler Kräfte Als einzig gangbarer und zeitnah realisierbarer
sind in den meisten Fällen durch den Mangel an Rettungsweg stand die ca. 40 cm breite Verbindung
notwendigen Ressourcen gekennzeichnet. Die Ver- zwischen Mannschafts- und Fahrerraum zur Ver-
fügbarkeit medizinischer Ausrüstung ist ebenso fügung, durch die zunächst ein Ersthelfer zu den Be-
begrenzt wie die Möglichkeiten zum Mitführen troffenen gelangte, um die Vitalfunktionen zu prüfen
technischer Rettungsgeräte. Die oftmals notwen- und die Splitterschutzwesten zu entfernen. Nachfol-
dige hohe Mobilität und räumliche Dislozierung gend wurden die Verletzten mittels Seil in den Mann-
von eigenen Teilen erlaubt meist nicht, dass qualifi- schafsraum gezogen und medizinisch erstversorgt.
zierte technische Rettungskräfte alle eigenen Bewe-
gungen begleiten. Dieses Beispiel dokumentiert die Schwierigkeiten
Die Priorität der Maßnahmen nach Anspren- der Umsetzung zivil üblicher Maßnahmen. So ver-
gung oder Beschuss liegt in der taktischen Reaktion hinderten Bedrohungslage und spezielle Fahrzeug-
auf die Feindeinwirkung. Deshalb sind häufig nur konstruktion eine patientenschonende Rettung, bei
wenige Kräfte für die Rettung und Verwundeten- der sich die Art der Befreiung am Verletzungsmus-
versorgung verfügbar. ter des Patienten orientiert. Die Stabilisierung der
Alle im nachfolgenden Kapitel beschriebenen Patienten und die Herstellung der Transportfähig-
Möglichkeiten zur technischen Rettung nach Unfall keit mussten zurückgestellt werden um die Rettung
oder Feindeinwirkung ordnen sich der besonderen überhaupt zu realisieren.
Situation militärischer Einsätze unter. Standardi-
sierte Handlungsabfolgen, wie sie in der täglichen Zusammenfassung
Gefahrenabwehr in Deutschland regelmäßig zum Technische Rettungsmaßnahmen können in militäri-
Einsatz kommen, können wegen der besonderen schen Einsätzen nur unter Berücksichtigung der
Bedrohungslagen nicht oder nur begrenzt zur An- taktischen Lage und mit begrenzten Mitteln vor-
wendung kommen. genommen werden. Im Rahmen der Auftragserfül-
lung hat die Sicherheit der militärischen Einheit Vor-
> Die erhöhte Gefährdung der Verwundeten rang vor einer individuellen, maximalen Versorgung
und der zur Rettung eingesetzten, aber nicht Einzelner.
6.2 · Einsatztechnik
75 6
6.1.2 Folgen von Unfällen lichkeit die Aufgabe des BAT-Fahrzeuges oder den
und Feindeinwirkung Abbruch der Mission erzwingen.
könnten bereits an den Lastaufnahmeösen befestigt speziell im Rahmen der Eigensicherung nützlich
und Abschleppstangen leicht zugänglich verlastet sein und dazu beitragen, den Rettungseinsatz zu
sein. ordnen.
Ist ein Fahrzeug nicht mehr roll- bzw. lenk- Den wesentlichsten Schutz vor Verletzungen
fähig, kann eine kurzfristige Verbringung aus der der eingesetzten Rettungskräfte bildet die persönli-
Gefahrenzone nur durch ein schwereres, leistungs- che Ausrüstung. Zwar ist diese den Anforderungen
stärkeres Fahrzeug erfolgen. So ist ein ATF-Dingo des militärischen Einsatzes angepasst, beinhaltet
sicher in der Lage, einen MB 250gl Wolf mit stehen- jedoch ähnliche Elemente wie die ziviler Rettungs-
den Rädern zu ziehen. Ist das betroffene Fahrzeug kräfte. Handschuhe, festes Schuhwerk, Helm und
jedoch gleich schwer, wird die Überwindung der Schutzbrille bieten einen Mindestschutz vor mecha-
Gleitreibung sowohl den Motor des Zugfahrzeuges, nischen Belastungen und sollten von allen an einer
als auch die Abschleppmittel überfordern. Entschei- technischen Rettung beteiligten Kräften durchge-
det sich der taktische Führer für dieses Mittel, soll- hend getragen werden. Die zusätzliche Ausrüstung
6 ten die Befestigungspunkte am gezogenen Fahrzeug mit medizinischen Einweghandschuhen bietet In-
möglichst tief gewählt werden um ein Umkippen zu fektionsschutz und ist auch in taktischen Lagen re-
vermeiden. Da Schleppseile und -stangen nur für alisierbar. Die Bewegungsfreiheit und der Tastsinn
den Transport rollender Kfz ausgelegt sind, sollten bleiben uneingeschränkt erhalten.
mehrerer Abschleppmittel gleichzeitig verwendet > Heimkehrende Einsatzkräfte berichten über
werden. Dabei ist auf die gleiche Länge der Seile und die Häufung von Fahrzeugbränden in Folge
Stangen zu achten, ansonsten kann keine Last- bzw. von Ansprengung sowie Beschuss. Selbst
Kraftverteilung erfolgen. Reichen die vorgesehenen wenn die eigentliche Fahrgastzelle nicht be-
Befestigungspunkte nicht aus, können Seile um troffen ist, besteht durch die erhebliche
Achsen oder Fahrzeugsäulen gelegt und mit Rauchentwicklung z.B. brennender Reifen,
Schäkeln verbunden werden. Eine Beschädigung akute Lebensgefahr für die Besatzung.
von Drahtseilen durch die Unterschreitung zuläs-
siger Biegeradien muss in einer solchen Ausnahme- Die Beschädigung von Fahrzeugstrukturen er-
situation in Kauf genommen werden. höht die Brandgefahr. Kraftstoff kann austreten und
Muss ein Fahrzeug aufgegeben werden und durch heiße Fahrzeugteile entzündet werden. De-
soll eine Evakuierung in der Gefahrenzone erfolgen, fekte Kabel können Kurzschlüsse auslösen. Die Be-
bedarf es umfangreicher Sicherungsmaßnahmen. reitstellung der mitgeführten Kfz-Pulverlöscher soll
Um zur Rettung eingesetzte Soldaten vor direktem sicherstellen, dass Entstehungsbrände unverzüglich
Beschuss zu schützen, könnten gepanzerte Fahrzeu- bekämpft werden können, um Fahrzeuginsassen
ge so positioniert werden, dass sie als Deckung die- und Opfer zu schützen.
nen. Kennzeichen einer Lage mit Feindeinwirkung
Tipp
ist der Mangel an Personal, welches für die techni-
sche Rettung abgestellt werden kann. Verfügbare
Im Falle eines offenen Feuers, z. B. brennende
Kräfte sind meist in großen Teilen im Gefecht oder
Kraftstofflachen, sollten Feuerlöscher zeit-
der Sicherung gebunden. Die Rettung beschränkt
gleich, nicht nacheinander, zum Einsatz kom-
sich auf Maßnahmen zur Wiedererlangung der
men.
Mobilität.
Maßnahmen nach Unfällen Ziel ist es, mit einer Pulverwolke das Feuer am
Unvorhergesehene Ereignisse werden im Rahmen Weiterbrennen zu hindern. Nach Möglichkeit wird
militärischer Operationen immer erwartet. Unfall- mit dem Wind angegriffen und von vorne nach hin-
szenarien können in ihrer Erscheinung aber so viel- ten gelöscht. Bei Bränden im Motorraum des Fahr-
seitig sein, dass eine strukturierte Abarbeitung ge- zeuges kann die Löschwirkung am besten erzielt
rade in der Erstphase unmöglich erscheint. Trotz- werden, wenn die Motorhaube nur einen Spalt weit
dem können die nachfolgenden Überlegungen geöffnet wird, um das Löschpulver einzublasen.
6.2 · Einsatztechnik
77 6
> Zur Brandbekämpfung ist ebenso wie zur
Rettung von Fahrzeuginsassen eine genau
Kenntnis des Aufbaus der beteiligten Mis-
sionsfahrzeuge unabdingbar (s. unten). Die
Lage der Zugänge sowie deren Öffnungs-
mechanismen müssen im Interesse eines
zielführenden Vorgehens allen Beteiligten
geläufig sein. Gleiches gilt für die Verlastung
und Handhabung mitgeführter Rettungs-
mittel.
. Abb. 6.1 Modulare Bauweise
Bei Dunkelheit oder schlechten Sichtverhältnis-
sen kann Beleuchtung notwendig werden, die Fahr-
zeuge und Helfer für Gegner zu einfachen Zielen 6.2.2 Möglichkeiten der technischen
macht. Der Umfang hängt daher in erster Linie von Rettung
der Sicherheitslage und den zur Verfügung stehen-
den Mitteln ab. Taschenlampen mit Farbfiltern, Die technische Rettung umfasst alle Maßnahmen
Restlichtverstärker oder Infrarotgeräte können zur Befreiung von Personen aus Zwangslagen, bei
hilfreich sein, um Lichtdisziplin zu wahren. Die denen Werkzeug und Gerät angewendet wird. Das
Handhabung der Rettungsgeräte sollte bekannt Spektrum reicht dabei von der Verwendung eines
sein, um ähnlich wie beim Gebrauch von Waffen Seils bis hin zum Einsatz hydraulischer Spezial-
kein Licht zu benötigen. Ein Einsatz der Fahrzeug- geräte. Die technischen Möglichkeiten der Ret-
scheinwerfer ist häufig problematisch, da Einsatz- tungskräfte hängen also von ihrem Ausstattungs-
kräfte durch die tiefe Positionierung der Scheinwer- umfang ab.
fer geblendet werden können. Fahrzeuge müssen Neben der Ausrüstung ist das Beherrschen ein-
außerdem zum effektiven Ausleuchten meistens aus zelner Techniken zur Befreiung wichtig. Dafür sind
der Marschformation herausgelöst und umgesetzt ein Grundverständnis für Fahrzeugkonstruktionen
werden. Gerade bei der Arbeit unter Nachtsichtge- und physikalische Vorgänge notwendig. Weitere
räten kann die Ausleuchtung durch ggf. vorhandene Voraussetzung für eine erfolgreiche Rettung sind
Infrarotfahrzeugscheinwerfer diesen Aufwand aber Fertigkeiten im Umgang mit dem mitgeführten
wert sein. Arbeits- und Rettungsgerät.
Eine strikte Licht- und Geräuschdisziplin ist bei
Arbeiten zur Rettung aus Fahrzeugen aber meist
nicht zu wahren. Die gewaltsame Zerstörung von 6.2.3 Fahrzeugkonstruktion
Fahrzeugstrukturen geht einher mit dem Verbiegen
von Metallen und dem Brechen von Halteelemen- Die Fahrgestelle militärischer Radfahrzeuge basie-
ten. Je massiver das Kfz ist, umso stärker wird ren in der Regel auf der bewährten Konstruktion
der Arbeitslärm sein. Der Einsatz rotierender serienmäßiger Leiterrahmen. Bedingt durch die an-
Maschinen, wie Sägen und Trennschleifer kann gestrebte Belastungsfähigkeit werden einzelne
neben den Geräuschen zusätzlichen Funkenflug er- Fahrwerkskomponenten, wie Federn und Räder
zeugen. Der Kräfteansatz zur Sicherung oder Ver- besonders robust ausgeführt. Anforderungen an
teidigung vor Ort und die frühe Entscheidung zur Geländetauglichkeit und Beweglichkeit erfordern
Heranführung von Reserven sollte diesem Aspekt eine entsprechende Dimensionierung, welche sich
Rechnung tragen. im Falle einer notwendigen Rettung nachteilig auf
die Erreichbarkeit von Fahrzeuginsassen auswirkt.
Auf das Fahrgestell werden je nach geplanter Ver-
wendung Aufbauten montiert, welche die Besat-
zung und Einsatzmittel aufnehmen (. Abb. 6.1).
78 Kapitel 6 · Technische Rettung und Bergung
Zusammenfassung
Vor den eigentlichen Rettungsarbeiten können
. Abb. 6.6 Akku-betriebenes Motorpumpenaggregat. Sicherungsmaßnahmen notwendig werden, welche
(Mit freundlicher Genehmigung der Fa. Lukas) ein gefahrloseres Vorgehen ermöglichen sollen. Der
Umfang der Maßnahmen richtet sich nach den situa-
tiven Gegebenheiten und dem Improvisationsver-
mögen aller Beteiligten.
6.2.5 Fahrzeugöffnung
Gerätetyp Abbildungsnummer
Zusammenfassung
. Abb. 6.10 Ansatzpunkt Nähe Scharnier Ungeschützte Fahrzeuge können nach Anschlag
oder Unfall einen erheblichen Deformationsgrad auf-
weisen. Eine gründliche Erkundung möglicher Zu-
werden, da Türpfalzen und Sicken für Stabilität und gänge kann Zeit bei der Rettung sparen. Fenster,
Wiederstand sorgen. Des Weiteren wird die erzielte Türen und Luken sind zu bevorzugen. Der Einsatz
Weite des Zugangs kleiner ausfallen als bei der hydraulischer Rettungsgeräte sollte die letztmögliche
Komplettentfernung der Tür. Außerdem wird die Maßnahme darstellen.
ggf. notwendig werdende vollständige Abtrennung
der Tür durch die Verformungen erschwert.
Raumschaffender, jedoch zeitaufwändiger ist 6.2.6 Besonderheiten geschützter
der Versuch, die Tür aus dem Schloss herauszuzie- Fahrzeuge
hen. Dazu sollte der Türöffner auf der Innenseite
mittels Hindurchgreifen durch Türspalt oder Fens- Das Aufschneiden oder -sägen der Fahrzeugpanze-
ter offengehalten und die Tür in Fahrtrichtung weg- rung ist mit dem zur Verfügung stehenden Gerät
gezogen werden. Gelingt dies nicht, kann die nicht möglich oder erfordert unverhältnismäßig ho-
Schlossseite der Tür ebenfalls mit dem Spreizer ge- hen Zeitaufwand. Deshalb sollten zur Rettung Türen
öffnet werden. Schwierigkeiten können sich hierbei oder Luken geöffnet werden. Der Erstzugang ist nach
aus der Verwendung unterschiedlicher Materialien dem notwendigen technischen Aufwand zu planen.
ergeben. Der Schlossbügel ist aus gehärtetem Mate- Dabei sind Zugänge, die ohne oder mit einfachem
rial und bietet dem Spreizer viel Widerstand. Das Werkzeug geschaffen werden können, vorzuziehen.
umliegend verbaute Karosserieblech ist weicher Türen und Luken, welche über zusätzliche Minen-
und reißt, wodurch ein zusätzlicher Schneidvor- schutzverriegelungen oder Öffnungssicherungen
gang erforderlich werden kann. verfügen, bieten zumeist einfache technische Mög-
lichkeiten, wie Hebel oder Sechskantschrauben, um
Tipp
diese von außen zu betätigen. Gleiches gilt für Luken,
welche nur innenliegende Öffnungsriegel besitzen.
Geräteführer sollten ihre Position so wählen,
Leider sind Größe, Position und Kennzeichnung sol-
dass sie sich nicht im Wirkbereich abzutren-
cher Öffnungshilfen nicht einheitlich.
nender Fahrzeugteile befinden.
> Eine genaue Kenntnis der typenbezogenen
Fahrzeugausrüstung ist Bedingung für eine
Die Idee, Fahrzeugtüren und Luken mit Hilfe eines schnelle Rettung. Deshalb sollte jeder Soldat
anderen Fahrzeuges herauszureißen, ist in gefähr- die Zugänge zu allen in einer Patrouille einge-
lichen Lagen denkbar, um schnell und effizient zu setzten Fahrzeugtypen und deren Öffnungs-
arbeiten. Diese Lösung birgt aber enorme Risiken! mechanismen kennen.
So können Fehlversuche eine weitere Rettung er-
heblich erschweren. Türen und Luken bieten keine Alternativ zum herkömmlichen, bündigen Einlas-
stabilen Befestigungspunkte. Griffe reißen ab, die sen der Türen in die Fahrzeugoberfläche, können
Verriegelungsmechanik wird verbogen und An- diese exponiert auf der Karosserie aufgesetzt sein.
84 Kapitel 6 · Technische Rettung und Bergung
Zusammenfassung
An gepanzerten Türen sind Öffnungshilfen verbaut, Die Rettung aus geschützten Fahrzeugen muss über
welche vor Türentfernung getrennt werden müssen. bestehende Fahrzeugöffnungen erfolgen. Anbauteile
Diese sind in ihrer Funktion vergleichbar mit den haben zum Teil ein erhebliches Eigengewicht und
Teleskophaubenliftern herkömmlicher PKW. sollten vor der Demontage zusätzlich gesichert
werden. Beim Einsatz hydraulischen Rettungsgerätes
! Das Hineinschneiden kann zur schlagartigen
können extreme Spannungen auftreten.
Druckentlastung und dem Umherfliegen von
Teilen führen. Günstiger ist eine Demontage
durch Abschrauben.
6.2 · Einsatztechnik
85 6
6.2.7 Befreiung Zum Wiederherstellen der Mobilität können
das hydraulische Rettungsgerät und Brechwerk-
Zum Zwecke der Rettung verletzter Fahrzeuginsas- zeuge effektive Hilfe leisten. Beschädigte, herabhän-
sen müssen geschaffene Zugänge ggf. erweitert wer- gende Anbauteile wie Stoßstangen oder Kotflügel
den. Dazu gehört die Beseitigung von Einbauten. sollten abgetrennt werden, um ein Verkeilen oder
Speziell die Einbausätze für Funkgeräte und weitere Beschädigungen zu verhindern. Einge-
Waffenhalter können z. B. bei einem Zugang über klemmte Räder können durch das Wegdrücken von
das Fahrzeugheck die Rettung sogar unmöglich störenden Karosserieelementen ihre Bewegungs-
machen. Je nach Ausstattung der Rettungskräfte freiheit wiedererlangen, wodurch die Rollfähigkeit
können Metallrahmen geschnitten oder gesägt und beschädigter Fahrzeuge zurückgewonnen wird.
Kunststoffe herausgebrochen werden.
Idealerweise erfolgen medizinische Maß-
nahmen zur Stabilisierung eines Patienten und 6.2.9 Aufgabe von Fahrzeugen
technische Arbeitsschritte im Wechsel. Um bei mas-
siver Deformation eines Fahrzeuges Raum zu schaf- Kann die Mobilität des beschädigten Fahrzeuges
fen, werden gestauchte Karosserieelemente in Rich- nicht wieder hergestellt und ein Transport nicht
tung ihrer ursprünglichen Position zurückgedrückt. sichergestellt werden, muss es in der Regel aufgege-
Einklemmungen im Thoraxbereich beeinträchtigen ben werden. In diesem Fall erfolgt bei militärischen
die Atmung des Betroffenen und müssen unverzüg- Einsätzen regelmäßig die Zerstörung. Hierfür
lich beseitigt werden. Dies kann durch Sitzverstel- sollten bereits vor Operationsbeginn verfügbare
lung, Entfernung der Sitzfüllung oder das Abtren- Möglichkeiten geprüft und geplant werden. Im Re-
nen des Lenkradkranzes geschehen. Typische für gelfall stellen mitgeführte Vernichtungsladungen
einen Frontalaufprall sind Einklemmungen des die zuverlässigste Variante dar. Alternativ kann die
Fahrers im Fußbereich. Pedale können mittels Seil Vernichtung oder Unbrauchbarmachung mittels
oder Gurt seitlich weggezogen werden, häufig sogar anderer Kampfmittel (z. B. Handgranaten, Schnell-
nur mittels Muskelkraft. nebel, Panzerabwehrhandwaffen), durch in Brand
setzen, durch Artilleriefeuer oder durch Luftunter-
stützung erfolgen. Lässt die Lage dies zu, sollten
6.2.8 Bergung zumindest Waffen, Führungs- und Fernmeldemate-
rial im Vorfeld geborgen und mitgeführt werden
In Rettungseinsätzen werden Leichen und Sachwer- oder ihre gezielte Unbrauchbarmachung sicher-
te geborgen. Diese begriffliche Abgrenzung doku- gestellt sein.
mentiert die Priorität des Rettens. Die notwendigen
Maßnahmen und die Bergungsreihenfolge werden
durch den Führer vor Ort festgelegt. Die Aufgaben
der technischen Unterstützung können sehr vielsei-
tig sein und reichen von der Bergung getöteter Per-
sonen bis zur Herstellung der Bewegungsfähigkeit
von Fahrzeugen. In 7 Kap. 5.2, Abschn. »Maßnah-
men nach Unfällen«, wurde bereits beschrieben,
dass Rettung und Bergung durchaus gleichzeitig
durchgeführt werden können. Der Transport eines
Fahrzeuges aus der Gefahrenzone mag primär die
Rettung der Insassen bezwecken, jedoch nehmen
ggf. Fahrzeug, Bewaffnung und Beladung im Rah-
men taktischer Überlegungen einen sehr hohen
Stellenwert ein.
87 7
Ausbildung
K. Ladehof
7.1 Ausbildungsbedarf – 89
7.1.1 Auswertung des Auftrages und Konsequenzen
für die Ausbildung – 89
7.1.2 Entwicklung eines idealtypischen, modularen Systems – 89
7.1.3 Ermittlung von Ressourcen und Möglichkeiten –
realistische Umsetzbarkeit – 91
7.2 Ausbildungskonzepte – 92
7.2.1 Theoretischer Hintergrund und Komponenten eines Konzeptes – 92
7.2.2 Prüfung der praktischen Umsetzung und Anpassung – 95
7.3 Ausbildungsverfahren – 98
7.3.1 Grundsatzfragen vor der konkreten Umsetzung
einer Ausbildung – 98
7.3.2 Durchführung szenariobasierter Ausbildung – 100
7.3.3 Weitere Hinweise – 102
7.3.4 Auswahl der eingesetzten Methoden – 103
7.3.5 Teilnehmereinbindung und Nachbesprechung – 106
Literatur – 107
Dieses Kapitel stellt zunächst die Bedarfsermittlung Erfordernisse andere Schwerpunkte haben, wurde
für eine bestimmte Zielgruppe als Grundlage einer bereits in den vorausgegangenen Kapiteln dargestellt
weiteren Ausbildungsplanung dar. Darauf aufbau- (7 Kap. 1.2; 7 Kap. 8) und wird z. B. auch noch einmal
end sollte eine Ausbildungskonzeption entwickelt im Abschnitt »Polizei« dargestellt (. Tab. 27.1).
werden, die ggf. auch unterschiedliche Ausbil- Es gibt außerdem möglicherweise keine perso-
dungshöhen berücksichtigt. Im dritten Teil werden nelle Redundanz, wenn diese Ersthelfer die medizi-
dann unterschiedliche Ausbildungsverfahren dar- nische Versorgung nicht leisten können, da die An-
gestellt: Wenn klar ist, welche spezifische Rahmen- schlussversorger eben nicht in einer potenziell
lage für eine Ausbildungsgruppe existiert und »feindlichen« Umgebung arbeiten können bzw.
welche Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt wer- überhaupt dorthin gelangen.
den sollen, können die geeignetsten Verfahren zur Wenn also externe Bedrohungen als zusätzlicher
Erreichung der Lernziele ausgewählt werden. Ausbildungsinhalt abgebildet werden müssen und
Die Ausbildung unterscheidet sich in der Takti- die Versorgung dann unter Umständen durch diese
schen Medizin natürlich nicht grundsätzlich von Erstversorger auch noch länger durchgeführt werden
der Ausbildung in anderen praxis- bzw. handlungs- muss (»prolonged care«), muss dieser notwendige
7 orientierten Lernbereichen. Dennoch müssen eben Ausbildungsschwerpunkt auch im dafür gewählten
unbedingt die Besonderheiten bei der Versorgung Zeitansatz ausreichend berücksichtigt werden.
und dabei vor allem die erschwerten Rahmenbedin-
gungen abgebildet werden. Damit ist nicht gemeint, Lage der zivilen Ersthelferausbildung
Die Ausgangslage für diese Ersthelferausbildung ist in
dass die Auszubildenden ständig »unter Beschuss«
Deutschland bereits nicht ideal gewesen und wird sich mit
oder einer anderen Bedrohung arbeiten sollen, son- der aktuellen Novellierung im Bereich der Berufsgenossen-
dern dass »belastungsstabile« Verfahren vermittelt schaften (BG) wahrscheinlich eher verschlechtern. Es wurde
werden – was in hohem Maße durch Algorithmen- gerade erst begonnen, die Erste Hilfe-Ausbildung bereits
basiertes Arbeiten und eine ausreichend hohe Repe- als Standard in der Schule einzuführen und wie auch sonst
in der Breitenausbildung liegt der Fokus vor allem auf
tition erreicht werden kann.
Reanimationsmaßnahmen. Ein großer Teil der Bevölkerung
> Die Besonderheit für den größeren Teil der wird mit der Thematik lediglich und einmalig im Rahmen
Erstversorger in diesem Umfeld wird sein, der Fahrerlaubnisausbildung konfrontiert. Diese Ausbildung
der »Lebensrettenden Sofortmaßnahmen« ist mit 8 Unter-
dass – auch wenn es dazu kommt, dass ein
richtseinheiten (UE = 45 Minuten) festgelegt. Die Ausbildung
Kamerad verwundet wird – der Primärauftrag betrieblicher Ersthelfer dauerte bisher 16 UE und wird bei
eben nicht die medizinische Versorgung ist. nahezu unveränderten Inhalten ab April 2015 auf 9 UE
Dies muss dementsprechend durch ange- reduziert [1]. Dies liegt einerseits im Interesse der Unter-
passte Algorithmen sowie in den weiteren In- nehmen, die ihre Mitarbeiter jetzt nur noch einen Tag frei-
stellen müssen, andererseits bleibt das Entgelt für die
halten und Methoden der Ausbildung abge-
Ausbildungseinrichtungen bei Reduzierung des Aufwandes
bildet werden. weitgehend gleich (derzeit pro Teilnehmer 34 € für 16 UE,
dann 28 € für 9 UE [2]). Die »Aufwertung der Fortbildung«
Möglicherweise steht sogar im Vordergrund, dass und Vermittlung der umfangreichen Inhalte soll durch »deut-
auch während der laufenden Versorgung weiterhin liche Vereinfachungen in verschiedenen Themenfeldern, u.a.
in besonderem Maß die Rahmenlage beachtet bzw. im Bereich der Reanimation«, durch »kompakte Gestaltung«
beherrscht werden muss. Grundsätze wie »shooter und »Verzicht auf überflüssige medizinische Informationen
bei gleichzeitiger didaktischer Optimierung« erreicht werden
first« und »best medicine on the battlefield is fire
[1]. Außerdem sollen »Praxisanteile in den Vordergrund ge-
superiority« spiegeln diese Lage wider. Auch bei »zi- rückt« werden. Erwachsenenbildung beruht auf Verständnis
vilen« Szenarien kann eine ähnliche Lage vorliegen: und Handlungseinsicht, was einerseits Zeit für Erklärungen
eine Gruppe, die auf die Rettung von Atemschutzge- und andererseits eine Wiederholung von Lerninhalten er-
räteträgern spezialisiert ist, wird ihren Auftrag nicht fordert.
»Didaktische Reduktion« bedeutet eben auch den Verzicht
lange durchführen können, wenn sie nicht gegen die
auf Inhalte und nicht ihre oberflächlichere Darstellung. Die
Umgebung ausreichend geschützt ist und sofort auf bisherigen Inhalte der Ersthelfer-Ausbildung wurden ledig-
etwaige Veränderungen reagiert. Dass in taktischen lich umformuliert und es wurden nahezu keine Themen weg-
Lagen die Verletzungsmuster und medizinischen gelassen (lediglich das »Abdominaltrauma« wird nicht mehr
7.1 · Ausbildungsbedarf
89 7
genannt, 2011 wurde der Einsatz eines AED sogar als zusätz- eingesetzt; alleine, als Unterstützung, als
licher Ausbildungsbestandteil ergänzt). »2. Welle«? Dies betrifft insbesondere die mög-
Die längst überfällige Anpassung der Methoden, Betonung
liche (autarke) Versorgungsdauer im ungüns-
der Praxisausbildung und Streichung unnötiger Details [3, 4]
werden derzeit auch von den Rettungsdienstschulen leider tigsten Fall; wann treffen sicher (!) medizinisch
oft unzulässig als Verbesserungen durch die Verkürzung dar- höher qualifizierte Kräfte ein bzw. wann
gestellt. Tatsache ist, dass die gerade am zweiten Tag mögli- werden diese erreicht. Daraus kann abgeleitet
che Wiederholung von Inhalten und Nachfragemöglichkeit werden, welche medizinischen Fähigkeiten die
(nachdem die Inhalte »sacken« bzw. »überschlafen« werden
Betroffenen haben sollten. Dies wiederum
konnten) verloren geht. Es kann klar belegt werden, dass in
Deutschland mehr geholfen und die Überlebenswahrschein- muss natürlich mit rechtlichen oder politi-
lichkeit erhöht werden könnte, wenn mehr Ersthelferkennt- schen Vorgaben und dem »Willen der Füh-
nisse und Selbstvertrauen in der Bevölkerung bestehen wür- rung« abgeglichen werden.
den [5]. Das heißt am konkreten Beispiel: wenn ein
Beides kann sicher nicht durch eine Reduzierung der Aus-
Spannungspneumothorax aufgrund der Bedro-
bildungszeiten erreicht werden. Diese Entwicklung darf
auf keinen Fall im taktischen Bereich, bei noch schwierige- hungslage eine wahrscheinliche Verletzung ist
ren Lagen, als Maßstab für einen sinnvollen Ausbildungs- und nur die Kollegen in der gleichen Einsatz-
umfang betrachtet werden. Wenn eine »zivile« Ausbildung gruppe sicher rechtzeitig vor Ort sind, um die
bisher als Ausgangslage vorausgesetzt wurde, muss jetzt, lebensrettende Entlastungspunktion durchzu-
um das gleiche Endergebnis zu erreichen, die interne Aus-
führen, müssen diese dazu befähigt werden.
bildungszeit ggf. um »den fehlenden Tag« ergänzt werden
(. Tab. 7.2). Wenn eine reale Gefahr besteht, dass ein Inge-
nieur auf einer Offshore-Windenergieanlage
einen Stromschlag erleidet, muss sein Kollege
7.1 Ausbildungsbedarf befähigt werden, einen Defibrillator zu bedie-
nen (und dieser muss zur Verfügung stehen!)
7.1.1 Auswertung des Auftrages (7 Kap. 8.3).
und Konsequenzen
für die Ausbildung
7.1.2 Entwicklung eines idealtypischen,
Bei der Planung einer Ausbildung bzw. dem Erstel- modularen Systems
len eines Ausbildungskonzeptes für eine Zielgruppe
muss zuerst eine Bedarfsanalyse erfolgen, die die Aus diesen Überlegungen leiten sich möglicher-
folgenden Grundsatzfragen hinsichtlich des Auf- weise mehrere, gestaffelt eingesetzte Ausbildungs-
trages beantwortet: höhen ab. Aus den notwendigen Fähigkeiten und
4 Welche Personen müssen von dieser Gruppe den für ihre seriöse Ausbildung benötigten Zeiten
versorgt werden: nur eigene Kräfte, zivile ergibt sich die Gesamtdauer der Ausbildung. Zu-
Unbeteiligte, besondere Schutzbefohlene? sätzlich müssen dabei auch besondere Ausgangs-
– Im letztgenannten Fall können vielleicht lagen berücksichtigt werden: es braucht mehr Aus-
sogar Erkrankungen relevant sein, die eine bildungszeit, wenn man die notfallmedizinischen
zusätzliche Schulung sinnvoll machen, wie Fähigkeiten eines Rettungssanitäters nicht unter
z. B. Diabetes. Anleitung oder im Team in einer Wohnung in
Entsprechend der Ermittlung des Versorgungs- Deutschland, sondern potenziell auch auf sich ge-
bedarfs bei der medizinischen Einsatzplanung stellt im Auslandseinsatz auf dem Gefechtsfeld
(7 Kap. 2.4) lautet die Frage: Wer ist die »popu- beherrschen soll. Ein Einsatzsanitäter muss dem-
lation at risk«? entsprechend länger und mit komplexeren Fallbei-
4 Welche Aufgabe müssen die Auszubildenden spielen ausgebildet werden. Derzeit werden häufig
im Rahmen potenzieller medizinischer Erst- zivile Ausbildungshöhen trotz der nur bedingten
versorgung erfüllen, welche Einsatzszenarien Einsatzrelevanz als Ausbildungsgrundlage genutzt
(welche Risiken und Verletzungsmuster) sind und dann in einem zweiten Schritt modifiziert, um
möglich, welche wahrscheinlich. Wo sind sie sie an die besondere Versorgungssituation anzupas-
90 Kapitel 7 · Ausbildung
sen. Eigentlich wäre es natürlich sinnvoller die Aus- Maßnahmen durch die unmittelbar vor Ort befindlichen an-
bildung unmittelbar auf die einsatzspezifischen deren Beamten unumstritten ist, gibt es meist nur Aussagen
oder Untersuchungen [7] zur Qualifikation medizinisch hö-
Notwendigkeiten auszurichten, aber erst eine zivil
herwertig ausgebildeter Einsatzbeamter (»Medics«).
anerkannte bzw. bekannte Ausbildungshöhe er-
möglicht die Mitarbeit im Regelrettungsdienst und Neben diesen »harten Fakten« muss auch unbe-
damit die Inübunghaltung im Heimatland. Außer- dingt – und immer wieder neu – ermittelt werden
dem ist die Ausbildungsgruppe in spezialisierten mit welcher Erwartungshaltung die potenzielle
Bereichen häufig nicht groß genug, um zu recht- Ausbildungsgruppe an die Ausbildung herangeht?
fertigen, dass für sie längere, speziell auf sie ausge- (Vorausgegangene, wenig interaktive Ausbildun-
richtete Lehrgänge durchgeführt werden. gen? Vorstellungen über was geht/was nicht? Ereig-
Ausbildungsinhalte/-themen können mögli- nisse/verletzte Kameraden innerhalb eines Verban-
cherweise bei verschiedenen Zielgruppen identisch des, deren Verletzungen besondere Maßnahmen
sein, aber die Schwerpunkte und Lernziele unter- erfordert hätten? ...).
scheiden sich. So definieren z. B. die Entwickler des Aufbauend auf diesen Fragen, die den Rahmen
Tactical Medicine Curriculums (für den Bereich für die Entwicklung eines Curriculums vorgeben,
7 TEMS) 18 »educational domains«, fordern inner- sollte jetzt ermittelt werden, welche Faktoren bei
halb dieser Bereiche aber unterschiedliche Kompe- der Umsetzung berücksichtigt werden müssen:
tenzen für Operator, Medic, Team Commander und 4 Welche Ausbildungshöhe besteht als Grund-
Medical Director [6]. lage, gibt es ein Konzept zur medizinischen
In welchem Umfang soll TEMS/TECC abge- Erstversorgung? Gibt es schon ein Konzept/
bildet werden (nur die Versorgung im Einsatz oder eine SOP zur Abbildung dieser Fähigkeit (wie
mit allen Aspekten inkl. Medical Planning, Gesund- viel in welcher Ausbildungshöhe pro (Teil-)
heitsmanagement und Trainingssteuerung, Be- Einheit)?
triebssanitätswesen etc.)? 4 Gibt es bereits ein Konzept zur medizinischen
Ausbildung und insbesondere auch zur Fort-
Beispiel SEK
Das Spektrum möglicher Einsätze beinhaltet mit einer hohen bildung bzw. Inübunghaltung?
Wahrscheinlichkeit »internistische« Probleme (Herzbeschwer- 4 Gibt es gestaffelt höher qualifizierte Kräfte in
den bis hin zur Reanimation, akute Belastungsreaktionen, der Einheit, die als Multiplikatoren genutzt
Asthmaanfälle, »mediterranen Ganzkörperschmerz« etc.), de- werden können? In welcher Stärke werden die
ren Bewältigung auch Kern »ziviler« Erste-Hilfe-Ausbildun-
Kräfte eingesetzt? Gibt es vorbestehende
gen ist. Dennoch wird in der regulären Breitenausbildung ein
zu geringer Schwerpunkt auf Praxisbeispiele gelegt und von Qualifikationen aus anderen Bereichen (z. B.
einer eben deutlich überdurchschnittlichen Professionalität durch Engagement bei der Freiwilligen Feuer-
und Motivation der Teilnehmer wird sicher nicht ausgegan- wehr)? Wer steht dementsprechend als Ausbil-
gen. Verletzungen durch Verkehrsunfälle (Einsatzfahrten, der oder Co-Trainer zur Verfügung?
mobile Lagen), aber auch durch Sturz (Höhenintervention,
4 Begleiten Anschlussversorger/Rettungsdienst-
Verfolgung eines Täters, schlechte Lichtverhältnisse) oder
penetrierende Verletzungen (Stich-, Schuss-, Explosions- kräfte die Einsätze, verfügen diese über eine
verletzungen) kommen bei SEK-Einsätzen mit größerer Wahr- taktische Ausbildung (Art/Umfang/Dauer)?
scheinlichkeit vor, und bei ihrer Versorgung müssen sowohl Gibt es feste Kooperationen, möglicherweise
die taktische Lage als auch die Fortsetzung des Auftrages (einen) ärztliche(n) Leiter, eine Ausbildungs-
berücksichtigt werden. Militärische »Gefechtsfeld«-Lagen
einrichtung, die die Zielgruppe unterstützen
stellen einen weniger wahrscheinlichen Extremfall (wie z. B.
bei einem Amoklauf ) dar, werden dann aber sicher den zivi- kann?
len Rettungsdienst völlig überfordern. 4 Gibt es gemeinsame Konzepte mit dem
Schwerpunkt der zeitkritischen Erstversorgung insbesondere Rettungs- bzw. Sanitätsdienst, werden diese
bei einsatzbedingten Verletzungen bis hin zu Schuss- oder geübt (wie oft)?
Sprengverletzungen (»ballistischem Trauma«) wird die Blut-
4 Welche Ausrüstung ist vorhanden/soll be-
stillung, falls möglich mit – temporärer – Tourniquetanlage
oder suffizienten (Druck-)verbänden sowie die Atemwegssi- schafft werden (modulare Staffelung – IFAK
cherung (stabile Seitenlage oder Nasopharyngeal-/Wendl- für jeden Angehörigen – für den/die Spezia-
Tubus) sein. Obwohl die essentielle Bedeutung der ersten listen – für die Kfz etc.)? Gibt es wiederum
7.1 · Ausbildungsbedarf
91 7
rechtliche Vorgaben, die hier beachtet werden notwendige Ausbildung aufgrund zu geringer fi-
müssen (z. B. das Medizinproduktegesetz nanzieller Mittel oder verfügbarer Zeitkontingente
[MPG]). zu streichen. Die dargestellte Bedarfsanalyse dient
4 Welche Infrastruktur wäre ideal, welche steht dann eben dazu, die Notwendigkeiten besser dar-
in der Liegenschaft der Einheit bzw. an einem stellen zu können, Forderungen zu begründen oder
möglichen Ausbildungsort zur Verfügung? den Bedarf für Alternativlösungen festzustellen
4 Gibt es weitere Aufgaben/Ausbildungs- (kann der Rettungsdienst vielleicht doch befähigt
schwerpunkte/Spezialisierungen oder typische werden, »weiter vorne« zu versorgen?). Letztlich
besondere Lagen, die in der Ausbildung be- müssen diese Aspekte identifiziert und bewertet
rücksichtigt werden sollen (z. B. Höheninter- werden, um dem Führer in der Gesamtverantwor-
vention, Berge, maritime Einsätze, interkul- tung eine Entscheidungsgrundlage dafür zu liefern,
turelle Kompetenzen, Auslandseinsätze)? entsprechende Ressourcen in die Ausbildung zu
Werden weitere Inhalte benötigt (z. B. Verbrin- investieren oder dies nicht zu tun. Gerade wenn
gungsausbildungen, um den Bedarfsträger darauf verzichtet wird, eine dem Anforderungspro-
überhaupt begleiten zu können)? Resultieren fil angemessene Ausbildung vollumfänglich abzu-
hieraus Synergieeffekte oder eher Spannungs- bilden, muss diese Entscheidung im Bewusstsein
felder? der damit verbundenen Nachteile getroffen werden
– dem Verantwortlichen muss das »Preisschild« sei-
Durch die Beantwortung all dieser Fragen ergibt ner Entscheidung klar sein.
sich das zu planende »ideale Konzept«. Für eine Keine Rolle sollte die rechtliche Problematik der
erfolgreiche Umsetzung muss dann zwingend der Durchführung invasiver Maßnahmen durch Laien
Abgleich mit dem, was in der Realität tatsächlich spielen, da die Maßnahmen nicht an sie delegiert
umsetzbar ist, erfolgen. werden, sondern sie eigenverantwortlich auf Basis
des § 34 StGB, Rechtfertigender Notstand (7 Kap.
30) arbeiten. Dennoch müssen mögliche Bedenken
7.1.3 Ermittlung von Ressourcen oder Hemmschwellen ähnlicher Art identifiziert
und Möglichkeiten – realistische werden, um proaktiv auf sie reagieren zu können,
Umsetzbarkeit z. B. durch Ausbildung der Führer zu dieser Thema-
tik; Kosten-Nutzen-Analyse (wenn beispielsweise
Primär ist dabei eine Gegenüberstellung der ange- der Ausfall eines Beamten mit einer fünfjährigen
strebten Befähigung mit der zur Verfügung stehen- Spezialausbildung vermieden worden wäre oder
den Zeit notwendig. In der Regel sind nämlich zahl- Schutzbefohlene in einer Polizeilage mangels Aus-
reiche Zusatzqualifikationen für den Auftrag erfor- bildungshöhe nicht adäquat lebensrettend versorgt
derlich oder wünschenswert – und auch wenn es worden sind), Aufklärung über die rechtliche Situ-
etwas flapsig formuliert scheint: Bei der »eierlegen- ation etc. Außerdem sollten Hemmschwellen inner-
den Wollmilchsau« ist die Wolle naturgemäß nicht halb der Ausbildungsgruppe, wie z. B. Angst vor
ganz so flauschig. Und unabhängig von der Intensi- Blamage, Ekel, »Spritzenphobie«, ebenso frühzeitig
tät und Dauer einer medizinischen/rettungsdienst- identifiziert und thematisiert werden, wie rechtli-
lichen (Zusatz-)Ausbildung ändert sich nichts am che Bedenken etc. Wenn ein bestimmter Ausbil-
Grundsatz »shooter first«: Der Einsatzbeamte er- dungsinhalt die Gesamtakzeptanz für den Lehrgang
wirbt ebenso wie der Offshore-Monteur lediglich gefährdet, sollte erneut geprüft werden, ob auf ihn
eine – wenn auch extrem wichtige – weitere Be- seriös verzichtet werden kann.
fähigung, die keine Abstriche im Hinblick auf Ziel ist ein umfassende Analyse der Notwendig-
Primärauftrag und -aufgabengebiet zur Folge haben keiten und begünstigender Faktoren für die Aus-
darf. bildung (»comprehensive needs and learning re-
Sekundär müssen leider auch die finanziellen sources assessment«) [8].
Mittel für Ausbildung und Ausrüstung betrachtet Wer braucht was – und wer sagt das? [9] Die
werden. Das heißt jedoch nicht, dass es seriös wäre, erste Antwort auf die erste Frage muss ebenso wie
92 Kapitel 7 · Ausbildung
das Ergebnis der Bedarfsanalyse hinterfragt und sinnvoll, sich auch hier an den Empfehlungen von,
ggf. neu diskutiert werden [10]. Als »Spezialist für den jeweiligen Bereich spezifischen, Fachgesell-
für die Thematik« muss man den Kontakt zu den schaften zu orientieren.
»Entscheidern« suchen, Fragen beantworten und Ein definiertes Curriculum bzw. wenigstens eine
Hintergründe (was bringt die Ausbildung der entsprechende »skills list« (. Tab. 7.1; 7 Kap. 31) ist
Führung?) erklären. die Grundlage für eine Standardisierung der Ausbil-
dung und ist damit erforderlich, um eine effektive
Zusammenarbeit vor Ort zu ermöglichen. Nur
7.2 Ausbildungskonzepte wenn der medizinische Einsatzleiter vor Ort weiß
oder schnell erkennen kann, welche Fähigkeiten die
7.2.1 Theoretischer Hintergrund und weiteren Kräfte haben, kann er diese auch einsetzen
Komponenten eines Konzeptes bzw. ihnen Aufgaben übertragen, ohne sie zu über-
(= Gefährdung der Verletzten/Patienten) oder un-
Nachdem der Ausbildungsplaner den Bedarf er- terfordern (= Verschwendung von Ressourcen).
mittelt hat, sollte für die weitere Umsetzung ein Dies würde also z. B. bei einem Massenanfall bedeu-
7 Konzept erstellt werden, das ten, dass der medizinisch Höchstqualifizierte an der
4 die Lerninhalte im Detail festlegt (ggf. für Einsatzstelle einem »Alpha-Medic« klar definierte
unterschiedliche Ausbildungshöhen), Aufgaben zuweist (z. B. Blutstillung durchführen,
4 dazugehörige Fähigkeiten (»skills«) und Infusion vorbereiten), während er einen »Bravo-
Kompetenzen definiert, die Medic« darum bittet, eine selbständige Unter-
4 Teilnahme an Kursen, Praktika etc. – ein- suchung (und Einstufung) eines Verletzten durch-
schließlich erforderlicher Wiederholungsaus- zuführen (und eine Rückmeldung im MIST-Format
bildung – strukturiert und bekommt). Bei einem »Charlie-Medic« kann er
4 Begrifflichkeiten klärt. davon ausgehen, dass auch die Triage bzw. Vorsich-
tung eine abrufbare Fähigkeit ist: »Du gehst links
Klärung von Begrifflichkeiten bezieht sich darauf, um den Bus, ich rechts und dann setzen wir eine
dass z. B. ein »SEK-Medic« oder auch die individu- gemeinsame Lagemeldung ab.«
elle Sanitätsausstattung (IFAK) nicht einheitlich Die klare Beschreibung einheitlicher Mindest-
definiert ist. Es ergibt sich damit auch die Möglich- standards unterscheidet eine curriculare Aus-
keit, in diesem Zusammenhang sinnvolle Begriffe bildung mit einer klaren Kursstruktur auch von
neu zu etablieren, wie z. B. den »Master Medic« als Informationsveranstaltungen zur Thematik, kürze-
Hauptverantwortlichen für die Thematik innerhalb ren Workshops im Rahmen von Kongressen, Pro-
einer (Teil-)Einheit. Eine weitere gute Option ist es, dukt-Einweisungen oder der informellen Weiterga-
neben einer ggf. individuellen Benennung einer be von Wissen im Rahmen von Praktika.
Ausbildungshöhe, die mit ihr verbundenen Fähig- Das heißt nicht, dass es nicht möglich ist, die
keiten zu »kodieren«. So ist z. B. die Kennzeichnung für eine bestimmte Aufgabe erforderlichen Kom-
einer Ausbildungsdauer und im Idealfall der für sie petenzen über die Nutzung derartiger Ausbildungs-
klar definierten Fähigkeiten durch einen Buchsta- angebote »zusammenzusammeln« und es ist der-
ben zunehmend akzeptiert (A bzw. »Alpha«, B, C zeit wahrscheinlich für motivierte Kräfte, die
etc. kennzeichnen eine zunehmende Qualifika- Einheiten ohne »offiziellem Konzept« angehören,
tionshöhe). Natürlich sollte dann auch hinterlegt die einzig pragmatisch realisierbare Möglichkeit.
sein, welcher Zeitansatz für das Erlernen einer Fä- Die konsequente Nutzung eines Nachweisheftes,
higkeit vorgesehen ist und dies wiederum muss sich in dem unterschiedlichste Ausbilder die Vermitt-
an seriösen Erfahrungswerten orientieren. Die Ent- lung von Fähigkeiten, Durchführung von Maß-
lastung eines Spannungspneumothorax oder gar die nahmen, Einweisung auf Geräte u. ä. bestätigen
Koniotomie z. B. als Inhalte eines eintägigen Kurses können, ermöglicht es, auch einer derartig »ge-
vorzusehen, schadet eher der Akzeptanz der gesam- stückelten« Ausbildung eine rechtlich belastbare
ten Ausbildung und Qualifikation. Natürlich ist es Basis zu geben.
7.2 · Ausbildungskonzepte
93 7
Entlastungspunktion/Notfallentlastung – X X
des Thorax
Beat- Mund-zu-Mund/-Nase X X X
mung
mit Maske – X X
Sauerstoffgabe – – X (lageabhängig)
... (intraossär) X X
94 Kapitel 7 · Ausbildung
C Circulation Herz-Lungen-Wiederbelebung X X X
– Blutstillung
einschließlich Anwendung eines X X X
und Volumen-
halbautomatischen Defibrillators
therapie
Anwendung spezifischer Medikamente § (ggf. entsprechend
sowie elektrischer Therapien zur Be- BAEK Notkompetenz/
handlung von Herzrhythmusstörungen Weisung PÄD)
(Megacode-Training)
E Environment Wärmeerhalt X X X
und erwei-
Lagerung des Patienten/Anlage von (X) X X
terte Maß-
Schienen
nahmen
Reposition von groben Fehlstellungen/ – – X
Anlegen von Extensionsschienen
Die Inhalte der Ausbildung werden in Lernab- also der »Einsatzwirklichkeit«. Sie »ergänzt« damit
schnitte gegliedert oder ggf. Lernfeldern zugeord- »die traditionelle fachlogische Didaktik durch eine
net. Die sogenannte Lernfeldkonzeption beschreibt handlungslogische Didaktik.« Dies bedeutet vor
die – »modernere« – Orientierung an angestrebten allem, dass die Teilnehmer bereits zu Beginn ihrer
Handlungskompetenzen und damit die unmittel- Ausbildung mit konkreten Situationen aus dem be-
bare Abbildung des späteren, beruflichen Alltages, ruflichen Alltag konfrontiert werden [12].
7.2 · Ausbildungskonzepte
95 7
Die Ausbildung erfolgt damit insbesondere
»fächerübergreifend« und berücksichtigt verstärkt
Vermittlung Medizinische
eine emotionale Komponente (Betroffenheit er- notwendiger Fähigkeiten
zeugen, Anwendbarkeit und Nutzen klar darstellen; Grundlagen (»Skills«)
Perspektiven erzeugen). Dies klingt vielleicht nach
us
m
»gemeinsamem Gurkenschälen« kann aber gerade
ith
Intensives,
or
bei der späteren Versorgung eines Kollegen, den
lg
lagenbasiertes
-A
DE
man schon seit Jahren kennt, entscheidende Be- Training
BC
deutung haben. Der Begriff »Lernfelder« wird auch
>A
<C
in den Lehrplänen der unterschiedlichsten Aus-
bildungsträger für die Beschreibung der Inhalte der
Ausbildung zum Notfallsanitäter verwendet [13, 14].
Diese Handlungsorientierung ist wiederum
Handlungssichere und belastungsstabile
auch bestimmend für die Auswahl der eingesetz- Erstversorgung
ten Methoden [15]. Wenn das Ziel ist, dass der
. Abb. 7.1 Dreiklang der Vermittlung einer algorithmus-
Einsatzbeamte erlernt, wie er unter Bedrohung
basierten Erstversorgung
einen verletzten Kollegen versorgt, muss die prak-
tische, szenariobasierte Ausbildung Kern der Aus-
bildung sein. Dennoch wird er fordern und hat Manche Lerninhalte können vielleicht nur mit
Anspruch darauf, dass er versteht, warum er be- einem erhöhten Aufwand in der wünschenswerten
stimmte Maßnahmen durchführen soll und ihre Tiefe vermittelt werden. Die praktische Versorgung
professionelle Durchführung schrittweise erlernt einsatzspezifischer, ballistischer Verwundungen
(. Abb. 7.1). wird man nicht in einer Notaufnahme in Deutsch-
Abhängig von der angestrebten Qualifikation land erlernen können, was ggf. sogar Auslandsprak-
werden Lernziele formuliert, die klar festlegen, was tika erforderlich machen kann (z. B. Traumazentren
der Auszubildende erlernen soll und vor allem in in den USA, Südafrika, Brasilien).
welcher Lernzielstufe (LZS) bzw. -tiefe diese ver-
mittelt werden:
4 Geht es um eine orientierende Darstellung, 7.2.2 Prüfung der praktischen
d. h. dass der Teilnehmer »von der Thematik Umsetzung und Anpassung
schon einmal gehört hat«, kann er Inhalte
lediglich wiedergeben und bestimmte Fertig- Ein weiterer essenzieller Punkt bei der Ausge-
keiten ausführen (LZS1). staltung eines Konzeptes ist die Ermittlung von
4 Wenn er sie »verstanden« hat, kann er auch Schnittstellen und Grundlagen: Gibt es bereits ein
komplexe Sachverhalte erfassen, was in der anerkanntes System mit definierten Ausbildungs-
Medizin in der Regel erforderlich sein wird höhen, deren Nutzung auch eine rechtliche Hand-
(LZS2). lungssicherheit ermöglicht? Haben die Angehöri-
4 Die Anpassung an die Lage im Sinne einer gen der Einheit bereits eine definierte Vorausbil-
Abstraktion und Übertragung auf analoge dung, wie die Lebensrettenden Sofortmaßnahmen
Situationen (Transferleistung) ist dement- oder die BG-Ersthelferausbildung? Gibt es »fertig
sprechend für die Anwendung in taktischen konfektionierte« Lehrgänge, die den Bedarf erfüllen
Lagen gefragt (LZS3). oder als Teil eines Gesamtsystems genutzt werden
4 Wenn die besondere Lage potenziell die Ent- können? Ist dies wirtschaftlich sinnvoll, da eigene
wicklung neuer Verfahren und die Bewertung Ausbilderstellen mangels Auslastung nicht geschaf-
des Nutzens von Verfahren, Methoden und fen bzw. Material nicht beschafft werden kann?
Material erfordert, ist die LZS4 notwendig – Oder ist der Bedarf so speziell, dass eben doch eine
und damit eine entsprechend lange Ausbil- personelle und materielle Abbildung im eigenen
dungszeit. Bereich die beste oder einzig vertretbare Lösung ist?
96 Kapitel 7 · Ausbildung
Evtl. kann die Wirtschaftlichkeit durch Nutzung zur Verfügung gestanden hätte. In den letzten Jahren wurde
oder Schaffung von Ausbildungsverbünden mit diese Ausbildung auch auf andere Truppengattungen (wie
Spezialkräfte und Fallschirmjäger) ausgedehnt. Nach der
ähnlichen Bedarfsträgern gewährleistet werden.
ursprünglichen Benennung des dreiwöchigen Lehrganges
Nach Definition der Handlungskompetenzen »Patrol Medical Course« hatte sich auch hier der Begriff Medic
und den dazugehörigen Inhalten bzw. Lernzielen etabliert.
sollten bereits im Konzept auch spezifische Hin- Bei den deutschen Spezialkräften durchlaufen alle Einsatzkräf-
weise zur Umsetzung und den Ausbildungsverfah- te eine entsprechende dreiwöchige Ausbildung und es wird
zusätzlich in jedem Team ein Kommandosoldat zum Rettungs-
ren gegeben werden (7 Abschn. 7.3).
sanitäter ausgebildet (Bezeichnung in der Bundeswehr KdoFw
Das heißt z. B., dass die Ausdehnung der Aus- San bzw. auch Combat First Responder C). Er nimmt jährlich an
bildung auch in die Nacht in der Lehrgangsaus- einem vierwöchigen Programm zur Inübunghaltung teil. Sein
gestaltung berücksichtigt werden muss, wenn dies Fertigkeitsspektrum entspricht in . Tab. 7.1 bezogen auf TCCC
die »realistische Arbeitszeit« der Zielgruppe ist. dem Einsatzsanitäter oder C-Medic (7 Kap. 4.1).
Dennoch muss man auch hier bereits darauf achten,
dass eine Überfrachtung bzw. Überforderung ver- Unabdingbar für ein erfolgreiches Ausbildungskon-
mieden wird. Man sollte eine »Tages-Lernpensum- zept ist es, eine Wiederholungsausbildung für alle
7 Grenze« beachten und Regeneration einplanen Ausbildungshöhen und in ausreichendem Umfang
(bzw. diese evtl. mit der Wiederholung von Inhalten vorzusehen. Dies beginnt eigentlich bereits inner-
kombinieren). Wie so oft ist weniger vielleicht mehr halb eines Lehrganges, da eine Mindesthäufigkeit
– und bleibt vor allem länger erinnerlich. für die erfolgreiche erste Beherrschung einer Maß-
Außerdem ist ein Konzept nie »fertig«, sondern nahme festlegt werden sollte (»Venenpunktion lernt
es sollte eine Zeitachse zur Umsetzung festgelegt man nur durch Venenpunktion«). Hinsichtlich der
werden und es muss eine periodische Anpassung an Venenpunktion sollte z. B. mindestens eine jähr-
veränderte Rahmenbedingungen bzw. die medizi- liche (mehrfache) Wiederholung der Maßnahme
nische Weiterentwicklung vorgesehen werden. für den Kompetenzerhalt festgelegt werden, beim
Wie immer muss man das Rad nicht neu erfin- Umgang mit einem Verbandpäckchen würde z. B.
den: sowohl bei unterschiedlichen Behörden im auch die Wiederholung alle 3 Jahre ausreichen.
Inland als auch im internationalen Rahmen gibt es Einerseits geht es dabei um die »Rezertifizierung«
zahlreiche, teilweise auch leicht im Internet erhält- der Maßnahmen, aber auch um die schlichte »Halt-
liche Konzepte. Das britische »First-Person-on- barkeit« der Fähigkeiten (. Tab. 7.2).
Scene« (FPOS)-System bildet z. B. drei aufeinander Der Schlüssel zum Erreichen einer ausreichen-
aufbauende Ausbildungshöhen mit präzisen zeit- den Frequenz ist die kontinuierliche Abbildung der
lichen Vorgaben und Qualifikationen ab (Basic 10, praktischen Übung notfallmedizinischer Kompe-
Intermediate 30 und Enhanced 30 weitere Stunden). tenzen in anderen »taktischen« Trainings. Wann
Entwickelt wurde es vom Gesundheitsministerium immer möglich, sollte die Ausbildung gemeinsam
für Ersthelfer in ländlichen Gebieten, so dass z. B. mit den anderen, nicht medizinisch spezialisierten
auch verlängerte Versorgungszeiten und die Gabe Einsatzkräften (»cross training«) erfolgen. Es wäre
von Notfallmedikamenten durch Ersthelfer (!) be- eben schon ein ziemlicher Zufall, wenn ein halbes
rücksichtigt werden. Dutzend Medics bei einem Einsatz gemeinsam un-
terwegs wären. Wie auch in 7 Kap. 8 und 25 darge-
Beispiel für die Umsetzung von Ausbildungshöhen
stellt, liegt das Schicksal des Verwundeten in den
bei der Bundeswehr (Heer)
Um auf die besondere Situation abgesetzt oder autark operie- Händen desjenigen, der den ersten Verband anlegt
render Einheiten zu reagieren, wurden für diese Kräfte Lehr- und dies wird häufiger nicht der Medic, sondern
gänge geschaffen, die eine medizinische Höherqualifikation eine Einsatzkraft mit anderer Spezialisierung sein.
im Sinne einer Erweiterten Erste-Hilfe-Ausbildung beinhalten. Damit ist die Medic-Ausbildung immer auch eine
Zusätzlich wurde auch eine begrenzte Reaktionsfähigkeit auf
Multiplikatorenschulung, in der Grundsätze der
nicht-traumatologische Notfälle geschaffen. Dies betraf frü-
her vor allem Angehörige der hinter feindlichen Linien ope- Didaktik angesprochen – und natürlich intensiv
rierenden Fernspähtruppe, für die bei solchen Einsätzen der vorgelebt – werden sollten. Wenn weitere Synergien
Sanitätsdienst nicht oder nur mit extremen Verzögerungen oder Schnittstellen identifiziert werden können,
7.2 · Ausbildungskonzepte
97 7
SEK-Medics
Erfahrener SEK- Kontinuierlicher Einsatz als 5 Tage Auf- Einsatz-Ersthelfer Wie oben minde-
»Medic« (kontinuier- Medic7 und fachliche bau-Lehrgang B16 (EEH-B1) stens 5 plus 10 Tage
liche Weiterbildung Inübunghaltung, Einsatz- Bei Qualifikation standardisiert,
und Wiederholungs- und Rettungsdienst- zum RS = EEH-C möglichst weitere
ausbildung) (»Charlie«) Erfahrung; Multiplikator in »Charlie-Medic« Fortbildungen
der Weiterbildung der bzw. Einsatzsani- (Kongresse, bei
Einsatzbeamten und täter SE anderen SE etc.)
Alpha-Medics
deutlich verlängerter Versorgung) umgesetzt werden. Einen »Bravo-Medic« wird es also nur in einer Übergangsphase
geben, wenn er schon am 5 Tage-TVV/TECC-Aufbau-Lehrgang teilgenommen hat, aber noch nicht auf dem Rettungs-
sanitäter-Lehrgang war.
7 Achtung: auch der »Alt- oder MasterMedic« bleibt »normaler« Einsatzbeamter mit taktisch-operativem Primärauftrag
wird man eine höhere Akzeptanz für die Integration werden eben weder die erforderlichen Mittel
von »San-Lagen« in andere Ausbildungsvorhaben noch die notwendigen Ausbildungszeiten zur
erzielen. Verfügung stehen.
Sicher wird die sanitätsdienstliche Lagedar-
stellung und -abarbeitung dort »kein Übungsschwer- Andererseits besteht aufgrund des Engagements für
punkt« sein, aber nur die kontinuierliche Wiederho- die Ausbildung und sorgfältiger, konzeptioneller
lung wird letztendlich auch bei den »Troopern« Vorarbeit auch ein begründeter Anspruch auf eine
Handlungssicherheit erzeugen, die nicht zuletzt dem ausreichende, institutionelle Unterstützung. »Good
verwundeten Medic zu Gute kommen kann. teaching is supported by strong and visionary leader-
Auch sinnvolle Prüfungen zur Feststellung des ship, and tangible institutional support – resources,
Lernerfolgs, aber vor allem auch zur juristisch trag- personnel, and funds.« [14] (Gute Lehre wird durch
fähigen Dokumentation einer Ausbildungshöhe eine starke und visionäre Führung unterstützt und
sollten unmittelbar im Konzept verankert werden. es muss eine konkrete, institutionelle Unterstützung
Da es vor allem um das Erlernen praxisbezogener gewährleistet sein – hinsichtlich personeller, finan-
Fähigkeiten geht, die dann auch noch unter erhöh- zieller und sonstiger Ressourcen.)
7 ter Belastung abrufbar sein sollen, ist anzustreben,
dass auch eine Leistungsüberprüfung oder ein Ab-
schlusstest eines Lehrganges diese Situation wider- 7.3 Ausbildungsverfahren
spiegelt.
Wenn eine bestimmte Ausbildungshöhe bestä- 7.3.1 Grundsatzfragen vor
tigt werden soll und eine entsprechende Prüfung der konkreten Umsetzung
natürlich nur dann Sinn macht, wenn sie bei Nicht- einer Ausbildung
Beherrschen der im Curriculum bzw. einer Skills-
List festgelegten Fähigkeiten nicht bestanden wird, » Ich unterrichte meine Schüler nie; ich versuche
muss sie möglichst standardisiert und nachvollzieh- nur, Bedingungen zu schaffen, unter denen sie
bar durchgeführt werden. Fehler sollten dabei ge- lernen können.
zielt aufgeschlüsselt werden (z. B. führen »kritische (Albert Einstein, 1879–1955)
Fehler« unmittelbar zu einer Schädigung oder zum
Tode des Patienten). Unter dem Stichwort »OSCE« Im günstigen Fall wurde also eine Bedarfsermitt-
(»objective structured clinical examination«) findet lung durchgeführt und ein ggf. modulares Ausbil-
man Orientierungshilfen zu Aufbau und Entwick- dungskonzept erstellt, bevor eine konkrete Aus-
lung einer solchen Prüfung. bildung durchgeführt wird. Damit stehen die – mög-
Schließlich sollten in einem Ausbildungskon- lichst homogene – Ausbildungsgruppe, die Lern-
zept auch Verantwortlichkeiten und Zuständigkei- ziele und Tiefe ihrer Vermittlung, die für die
ten festgelegt werden. Wenn also z. B. für einen Lernabschnitte zur Verfügung stehenden Zeiten
»Combat-ready«-Status (ein klar definiertes Fähig- und evtl. auch bereits die geeignetsten Methoden
keitsprofil, das erforderlich ist, um an Einsätzen teil- und Verfahren für die spezifische Ausbildung fest.
zunehmen) auch eine medizinische Ausbildungshö- Oft wird es aber auch der Fall sein, dass lediglich
he festgelegt ist, ist der Chef für die Umsetzung ver- grobe Vorgaben hinsichtlich der Lernziele bzw. ein
antwortlich und es ist nicht – mehr – die Aufgabe des Wunsch der Ausbildungsgruppe und die zur Verfü-
medizinischen Beraters oder Ersthelfers selbst, um gung stehende Zeit feststehen, wenn eine Ausbil-
eine Lehrgangsteilnahme zu »betteln«. dung durchgeführt wird. Soweit möglich sollten im
Vorfeld dennoch die im 7 Abschn. 7.1 dargestellten
> Ausschlaggebend ist, dass der Entscheider Fragen gestellt werden. Vor allem muss eine Bewer-
(also meistens »die Führung« und eben nicht tung und klare Aussage erfolgen, welche Themen in
der Kursteilnehmer bzw. »Medic«) das Ausbil- welcher Form beim vorgegebenen Zeitansatz
dungsprogramm akzeptiert – und es daher seriös abgebildet werden können. Es macht wenig
vorher versteht und beeinflussen kann. Sonst Sinn, möglichst viele der für die taktische Medizin
7.3 · Ausbildungsverfahren
99 7
relevanten Themen »abzuhaken«, wenn damit am Fallbeispiel-basierte Ausbildung nur in kleinen
Schluss kein Lerninhalt wirklich nachhaltig vermit- Ausbildungsgruppen bzw. mit einer hohen Aus-
telt werden konnte, oder aufwändige Ausbildungs- bilderstärke durchgeführt werden.
verfahren einzusetzen, wenn dadurch die notwen- Das Verhältnis von Ausbildern zu Auszu-
dige Grundlagenausbildung und Repetition nicht bildenden sollte bei dieser intensiven Ausbildung
durchgeführt werden kann. 1 zu 6 nicht überschreiten, 1 zu 4 wäre günstiger.
Eine weitere generelle Entscheidung muss vor der Nur auf diese Weise kann eine für den Teilnehmer
Ausbildung hinsichtlich des Ortes der Durchfüh- befriedigende Moderation des Verlaufs mit mög-
rung gefällt werden. Bei der Ausbildung von Fertig- lichst verzögerungsfreien Rückmeldungen erfolgen.
keiten und grundlegenden Abläufen (»initial«) kann Andererseits ist bei geringerer Ausbilderdichte auch
der Ort der Ausbildung nahezu beliebig gewählt wer- keine ausreichende Beobachtung des Vorgehens
den. Hier sollte der Schwerpunkt eher auf »kurze gewährleistet, um im Anschluss an das Szenario ein
Wege zum Unterrichtsraum, trocken und ausrei- detailliertes Feedback geben zu können (7 Abschn.
chend beleuchtet« gelegt werden. Je komplexer die 7.3.5). Möglichkeiten, den damit verbundenen Auf-
Lagedarstellung wird, umso mehr ist eine gezielte wand bzw. die Kosten beim Einsatz externer Ausbil-
Auswahl der Trainingseinrichtung bzw. des -geländes der zu reduzieren, bestehen durch die Kooperation
wichtig. Einerseits kann die Nutzung der originären verschiedener Einheiten, vorgeschaltete Ausbildung
Liegenschaft der Einheit (und damit ggf. der Einsatz interner Multiplikatoren (meist höherwertig ausge-
eines »Mobile Training Teams« (MTT) vor Ort) sinn- bildete Angehörige der Einheit, aber z. B. auch la-
voll sein, andererseits ist für einen bestimmten Aus- gespezifische Schulung des Betriebssanitätsdiens-
bildungsabschnitt möglicherweise ein genau daran tes) oder »Amtshilfe« verschiedener Behörden.
angepasstes Objekt ideal (als hochspezialisiertes Bei- Ein Austausch von Ausbildern unterschiedli-
spiel die Bergwachtausbildungshalle in Bad Tölz). Es cher Einheiten wird nahezu immer beiden Seiten
gibt unterschiedlichste Vor- und Nachteile, so steht Vorteile bringen, da es gerade bei komplexeren Pro-
z. B. der deutlich geringere Aufbauaufwand bzw. die blemen unterschiedliche Lösungsansätze geben
höhere Detailtiefe bei Nutzung eines vorbereiteten wird, die eine Weiterentwicklung oder Konsolidie-
Ausbildungsortes (Beispiel »Halle 113« in Hammel- rung beider Systeme bewirken können. »Net-
burg) dem dadurch höheren zeitlichen Aufwand für working schadet nie.«
die Anreise gegenüber. Ein stillgelegtes Fabrikgelän- Dies ermöglicht auch, dass in der Ausbildung
de bietet meist gute Voraussetzungen, um unter- nach der ersten Festigung der grundlegenden Lern-
schiedlichste Lagen von polizeilichen Zugriffen über inhalte bewusst ein regelmäßiger Wechsel der Aus-
Arbeitsunfälle bis zur Versorgung beim Kampf in bilder in Form einer Stationsausbildung erfolgt.
urbanem Gelände in realistischer Umgebung zu trai- Dennoch sollten die Teilnehmer den jeweiligen
nieren – und es ist im Regelfall kostenlos und in über- »Grundlagenausbilder« als primären Ansprechpart-
schaubarer Entfernung verfügbar. ner bzw. Tutor behalten. Auf diese Weise erleben die
Die ausschlaggebende Bedeutung der Praxis- Teilnehmer verschiedene Schwerpunktsetzungen,
ausbildung und Vermeidung »theoretischer Über- Detail-Abweichungen in der Vorgehensweise und
frachtung« wurde generell in der Erste Hilfe-Ausbil- profitieren von unterschiedlichen Erfahrungen. Da-
dung erkannt und sowohl in der Fachliteratur zur bei sollte gerade bei Algorithmus-basierter Ausbil-
Didaktik in der Ersthelferausbildung [12] als auch dung immer wieder der Hinweis gegeben werden,
zur Notfallpädagogik (z. B. [15]) sowie von der BG dass es sich um ein Schema und eben kein Dogma
betont. Man darf jedoch nicht unterschätzen, dass handelt. Daher können unterschiedliche Ausbilder
sorgfältige und sinnvolle praktische Ausbildung bei durchaus leicht voneinander abweichende Meinun-
gleichen Inhalten im Regelfall eben einen höheren gen vertreten, da es oft »mehrere legitime Hand-
Zeitaufwand erfordert. Ein »Folienfilm« ist leider lungsalternativen« [15] gibt. Die Trainer sollten je-
immer noch das Resultat, wenn die Inhalte vorgege- doch darauf achten, dass sie bei Bedarf und spätes-
ben sind und die dafür vorgesehene Ausbildungs- tens auf Nachfrage die Relevanz bzw. Evidenz für
zeit nicht ausreicht. Außerdem kann eine effektive bestimmte Aussagen oder Vorgehensweisen darstel-
100 Kapitel 7 · Ausbildung
len können: handelt es sich um eine Richtlinie, Leit- man dennoch eine begrenzte Überforderung auch
linie, Empfehlung, objektive Meinung oder subjekti- als didaktisches Mittel einsetzen, etwas ausprobie-
ve Meinung [15]. Außerdem muss jeder Ausbilder ren oder eine optisch beeindruckendere Darstel-
natürlich auch darauf achten, ob er auf die Darstel- lung einsetzen, da »das Auge mitisst«. Dann sollte
lung einer (selbst begründet) abweichenden Mei- man dies aber in Absprache mit der Ausbildungs-
nung ggf. verzichtet, um die Ausbildungsgruppe gruppe und möglichst erst nach entsprechender
nicht zu überfordern. Die Varianz von Notfällen ist Erklärung tun. Sonst ist die Gefahr groß, dass auf-
so hoch, dass man ohnehin nicht alles verbindlich, grund von Demotivation und Frustration wertvolle
eindeutig und konkret regeln kann [17]. Ausbildungszeit verloren geht, Ziele nicht erreicht
Außerdem sind Flexibilität und Reflexion eben- werden oder man die Gruppe »verliert«. Erwachse-
falls, insbesondere in der Erwachsenenbildung, nenbildung lebt von Partizipation und Konsens.
sinnvolle Ausbildungsziele. Die Teilnehmer sam- Unbedingt müssen sich die Teilnehmer in der
meln im Idealfall Mosaiksteine, die dann die Grund- Lagedarstellung »wiederfinden«, d. h. die Vermitt-
lage für ihre Entscheidung bilden. Dabei sollte eine lung der Themen und vor allem die Fallbeispiele
selbständige »try and error«-Korrektur erfolgen, müssen an die Arbeits- und Versorgungssituation
7 falls nicht der erwünschte Erfolg eintritt, oder der der Ausbildungsgruppe angepasst werden. Das
Ausbilder wird unterstützend eingreifen. »Action Spektrum »realistischer Arbeitsumfelder« reicht in
with reflection« oder bekannter »learning by doing« der taktischen Medizin vom »klassischen Gefechts-
[8] sind Prinzipien nachhaltiger Ausbildung. feld« über das alpine Gelände mit tiefem Schnee
oder einen abgelegenen Abschnitt eines Container-
Tipp
hafens in tiefster Dunkelheit bis zu einer Plattform
Bei Stationsausbildungen kann es sinnvoll in 80 m Höhe auf einer Baustelle.
sein, jeweils eine »Skills-Station« einzubauen,
Tipp
damit die Teilnehmer in der Rotation unter-
schiedlich belastet werden bzw. nicht perma- Je homogener die Ausbildungsgruppe ist,
nent unter dem Druck einer – realistisch darge- umso näher kann man an ihrer Einsatzrealität
stellten – Verletztenlage arbeiten müssen. ausbilden, sich (in) thematisch(en Details) an
sie anpassen und vor allem in der Schilderung
der Praxisbeispiele überzeugen.
jemand mit diesem spezifischen Ausbildungs- die Ausbildungsgruppe achten und eine mög-
gruppen-Hintergrund als Mitausbilder ins Boot zu liche Überforderung oder andere didaktische
holen. Problematik unmittelbar ansprechen.
Im Idealfall kennt man wirklich ein reales Fall- 4 Kontinuierlicher Wechsel von Theorie, Fertig-
beispiel, das sich für die Vermittlung der jeweiligen keiten und Praxis in Form von Fallbeispielen
Lernziele eignet. Gerade bei einer unrealistisch bzw. Lagedarstellungen. Sukzessive zusätzliche,
klingenden Lage erübrigen sich Diskussionen. – »Ja, ggf. vorher theoretisch vermittelte, Inhalte in
klingt für mich auch so, ist aber so passiert…« – Der die Praxisbeispiele integrieren.
Teilnehmer muss möglichst zunehmend »von der 4 Das Rückgrat der gesamten Ausbildung muss
Lage absorbiert werden« und sich für die Dauer des ein standardisierter Untersuchungs- und
Fallbeispiels gefühlt am fiktiven Einsatzort befin- Behandlungsalgorithmus sein (7 Kap. 1.2). Das
den. Gerade in der Erwachsenenbildung und auf im Bereich der taktischen Medizin bewährte
der Basis eines gemeinsamen Erfahrungshinter- Vorgehen wird ausführlich in den Kap. 8 und 9
grundes muss es nicht einmal aufwändig sein, die- behandelt. Auch in der Ausbildung müssen die
ses Ziel zu erreichen. Ggf. kann man natürlich auch unterschiedlichen Vorteile immer wieder he-
7 Bilder einsetzen oder bei ausreichender Zeit den, rausgearbeitet werden: »Treat first what kills
möglichst realen, Ausbildungsort tatsächlich ent- first« gibt dem Verwundeten die bestmög-
sprechend gestalten (Gerüstteile, ein Autowrack, lichen Chancen, erst die Standardisierung und
Trümmer bis hin zu brennenden Fleischresten und »gemeinsame Sprache« ermöglicht ein effek-
ähnlichem). Auch dabei sollte man das berühmte tives Teamwork (es ist klar, was als nächstes
»Zuviel des Guten« im Hinterkopf haben und sich passieren sollte) und er bietet eine Rückfallpo-
im Zweifel an den sensibleren Teilnehmern orien- sition und eine teilweise Entlastung von diffe-
tieren. Auch in Vorträgen sollte man den didakti- renzierten Überlegungen (insbesondere, wenn
schen Nutzen der audiovisuellen Medien abwägen Ressourcen anderweitig, z. B. beim an-
und »Horrorbild-Vorträge« vermeiden! Anderer- haltenden Monitoring der Sicherheitslage,
seits ist z. B. eine Schutzbrille mit realen »Schrap- gebunden sind).
nell-Einschlägen« aus dem Einsatz unter dem 4 Wiederholung begründen! Warum immer
»Awareness«-Aspekt hinsichtlich erforderlicher wieder ähnliche Lagen oder Verletzungsmuster
Prävention unschlagbar. dargestellt werden, muss umso besser begrün-
det werden, je weniger professionell bzw. in
diesem Arbeitsumfeld routiniert die Ausbil-
7.3.3 Weitere Hinweise dungsgruppe ist. Gerade »Drill«-Ausbildung
muss vorher begründet werden, um Einsicht
4 Klar erkennbarer Beginn eines Fallbeispiels zu erzielen.
(dies muss nicht unbedingt eine Pyrotechnik- 4 Nicht an einem ganz tollen Übungskonzept
Show sein, sondern das Betreten eines Raumes, festhalten, wenn es nicht funktioniert. bzw. die
ein Knall, das Eintreffen mit einem Fahrzeug Teilnehmer (gerade wenn diese unerwartete,
o. ä.). aber sinnvolle, Alternativlösungen entwickeln)
4 Unbedingt Kennzeichnung der Trainer nicht in das »Übungskorsett« zwängen bzw.
(Warnweste, Knicklicht o. ä.), um einen klaren den erwarteten oder erhofften Verlauf auf-
Lageüberblick zu ermöglichen! zwingen.
4 Höhepunkte setzen, sowohl bei einem Fall- 4 Gerade bei den möglichen Zielgruppen der
beispiel, als auch im Verlauf des Ausbildungs- taktischen Medizin ist es wichtig, die Medien
tages! an den Teilnehmerkreis anzupassen. Spezial-
4 Am Ende des Ausbildungstages das »Runter- kräfte sind z. B. sehr hoch und wirklichkeits-
kommen« begünstigen (entspanntere Schluss- nah belastbar, aber »Kennenlern-Spielchen«
besprechung, möglicherweise einschließlich werden eher auf Ablehnung stoßen, da das
eines gemeinsamen Bieres o.ä.). Sorgfältig auf »team building« bereits lange erfolgt ist. Wenn
7.3 · Ausbildungsverfahren
103 7
ein »Fremdkörper« da ist, dann ist es oft eher
der Ausbilder, der im Rahmen seiner Möglich- 5 Die Einhaltung von Eckzeiten ist für einen
keiten eine Integration anstreben sollte. Dies strukturierten Ablauf entscheidend.
ist in erster Linie dadurch möglich, dass er, auf 5 Teilnehmer sollten möglichst frühzeitig
Basis seiner eigenen fachlichen Qualifikation, über Ausbildungserfordernisse informiert
(ehrliches) Interesse und Respekt zeigt, Nach- werden (»ab heute Nachmittag möglichst
fragen stellt, um Besonderheiten zu verstehen ältere Bekleidung tragen, die dreckig
und ggf. auch das Vorgehen gemeinsam mit werden kann«).
den Teilnehmern modifiziert und an die spezi- 5 Bei Unterrichten ausreichend Raum für
fische Lage adaptiert. Wenn es sich nicht um Fragen einplanen.
einen etablierten Lehrgang handelt, sondern 5 Ausbildungshilfsmittel wie Taschenkarten
der Ausbilder die Zielgruppe noch nicht aus- und praxisnahe Anleitungen zu komplexe-
reichend kennt, ist es wichtig, ein Feedback ren Fertigkeiten zum Nachlesen austeilen.
nicht erst am Ende der Ausbildung einzuholen. 5 Gute, alte Hilfsmittel nutzen: Ein Handzettel
Die Abfrage der Erwartungshaltung zu Beginn mit der Skizzierung der Ziele, Unterrichts-
und Feedbackrunden nach einzelnen Aus- mittel, Methoden und Medien, Quellen etc.
bildungsabschnitten ermöglichen es ggf. die hilft bei der Strukturierung.
laufende Ausbildung noch hinsichtlich Inhal- 5 Natürlich kann ein guter Ausbilder improvi-
ten und Methoden anzupassen. sieren, aber er sollte einen guten Grund
4 Das – wichtige – Gesamtfeedback am Ende dafür haben, weil er bei sorgfältiger Vorbe-
eines Lehrganges i. S. eines »hot debriefs« nützt reitung präziser auf die Abbildung aller
der Weiterentwicklung des Kurses, für die Lernziele und andere Details achten kann.
aktuelle Gruppe kommt es zu spät. Daneben 5 Gemeinsam entwickelte Flipchart-Übersich-
sollte ein standardisierter Evaluationsbogen zu ten nachher im Unterrichtsraum aufhängen
Beginn der Ausbildung ausgegeben werden, (dann sollte ihre mögliche Optik aber präzi-
der vor allem die Möglichkeit zum schnellen se vorbereitet werden). Dies ermöglicht
Feedback, aber auch zur freien Formulierung eine gute (und wiederholte) Visualisierung
von Kritik und Anregungen bietet. Er kenn- wichtiger Lernziele. Auch die Darstellung
zeichnet damit gleichzeitig auch Abschluss und der Gliederung der Ausbildung kann auf
Zusammenfassung des Lehrganges oder einer diese Weise erfolgen und erleichtert den
Lerneinheit. Teilnehmern den Überblick bei komplexe-
4 Ausbildungsverfahren und -geschwindigkeit ren Themen (evtl. parallel »abhaken« oder
müssen immer wieder selbst hinterfragt und Pfeil verschieben).
im Ausbildungsteam besprochen werden.
Dabei sollten insbesondere »Problemfälle« bei
den Teilnehmern angesprochen und ggf. ihre
gezielte Förderung geplant werden. 7.3.4 Auswahl der eingesetzten
Methoden
Bewährte »Standardtipps« zur
Unterrichtsgestaltung > Wenn eine Ausbildung durchgeführt wird,
5 Medien gezielt auswählen (natürlich ins- müssen aus den zur Verfügung stehenden
besondere kein Folien- bzw. Powerpoint- Möglichkeiten die Ausbildungsmethoden
Film) (. Tab. 7.3). ausgewählt werden, die am besten geeignet
5 Einen Notfallplan vorsehen, wenn ein sind, um in der gegebenen Zeit das Erreichen
Medium nicht zur Verfügung steht (bzw. der Lernziele bestmöglich zu unterstützen.
dieses ggf. redundant vorhalten)!
Vorlieben des Ausbilders oder das Vorhandensein
prinzipiell guter Mittel sollten diese Entscheidung
104 Kapitel 7 · Ausbildung
nur begrenzt beeinflussen. Der Effekt »Wenn man Verfügung steht. Wenn amputierte Verletzungsdar-
einen Hammer hat, sieht jedes Problem wie ein Na- steller (z. B. »amputees in action«, Großbritannien)
gel aus« [20] sollte unbedingt vermieden werden. die Ausbildung unterstützen, muss nicht jedes Fall-
Zum Beispiel ist simulationsbasiertes Training mit beispiel mit dem Verlust einer Extremität einherge-
hohem Kosten- und Zeitaufwand verbunden, der hen, da sie meist auch »normale« Verletzungssitua-
bei begrenzten Ressourcen zu Lasten der Repetition tionen hervorragend darstellen können. Diese Liste
der Themen und Verfahren geht. Die Amortisie- ließe sich mit Beispielen zu jeder Methode oder je-
rung oder Vermarktung des nun einmal angeschaff- dem Mittel fortsetzen.
ten High Tech-Simulators allein kann also kein Auch bei einem für eine bestimmte Zielgruppe
Grund sein, diesen einzusetzen. Genauso sollte man bewährten Lehrgang muss die Übertragbarkeit der
vermeiden, dass jedes Fallbeispiel mit einer Explo- eingesetzten Methoden auf eine Ausbildungsgrup-
sion »garniert« wird, nur weil ein Pyrotechniker zur pe mit einem anderen Hintergrund kritisch hinter-
»Konventio- Leichter zu organisieren Wird bei unzureichender Für die Vermittlung von
neller« Preisgünstig Vorbereitung leicht zu Grundlagen – natürlich
Unterricht Einfachere Steuerung des Verlaufs »trocken« bzw. »frontal« möglichst interaktiv und
Ausbilderpersönlichkeit kommt Ausbilderpersönlichkeit abwechslungsreich – unver-
zum Tragen kommt zum Tragen ändert notwendig
Simulatoren Zuwendung zum »Patienten« und Teuer Insbesondere für das (Team-)
weg vom Ausbilder-Feedback Zeitaufwändig Training/CRM und »human
vertiefendes Skill-Training bzw. Eher statisch factors« wertvoll [19]
Skills im Zusammenhang/einige Eingeschränkte Rück-
invasive Skills nur am Simulator meldung (z. B. unange-
nehme Lagerung, unzurei-
chender Wärmeerhalt)
»Animal lab« Invasive Skills Töten eines Tieres (Einschlä- Insbesondere für das Erler-
(Versorgung Tatsächliche Verantwortung für ferung/Narkose) nen suffizienter Blutstillung
eines narkoti- die Versorgung eines Lebewesens/ Hoher logistischer und (inkl. Packing und Hämos-
sierten Tieres) nur adäquate Maßnahmen sind Genehmigungsaufwand, typtika, aber z. B. auch Nut-
erfolgreich unbedingt Vermeidung von zung des Knies für temporä-
Leiden für das Tier (Tierarzt, ren, direkten Druck) besser
auch wenn nicht vorge- als jedes andere Verfahren/
schrieben) Modell
Tierkörper Reales Gewebe Ggf. Töten eines Tieres Für Koniotomie-Training sehr
(-teile) Ähnliche Anatomie (Schlachtung) gut geeignet (und in diesem
Aufwändig Fall nur Schlachtabfälle –
Ohne Blutung »Schweinegurgeln« und
abgelagerte Haut)
Leiche/Körper- Realste Anatomie Verfügbarkeit
spender (Meist) fixiertes Gewebe/
keine Blutung
Buddy-Training Übungsteilnehmer zu sein ist auch Belastbarer als reale Ver- Wechseln der Positionen und
eine wertvolle Erfahrung (z. B. letzte (noch aktive Wärme- Anpassung im Schwierig-
hinsichtlich Stellenwert und Quali- produktion) keitsgrad; unterschiedliche
tät des Wärmeerhaltes) Schwerpunkte (Arbeit allei-
ne, im Team, Anleitung eines
Laien etc.)
7.3 · Ausbildungsverfahren
105 7
e-learning Sorgfältigste mediale Aufberei- Hoher Aufwand für die In Kombination mit »realer«
tung von Sachverhalten möglich, Produktion wertiger In- Ausbildung (zur Vor- und
da potenziell große Nutzergruppe halte/hohe Anforderungen Nachbereitung) (= »blended
Lernzeit und -ort frei wählbar an IT-Ausstattung learning«) gute Möglichkeit,
Individuelle Bearbeitungs- Interaktion eingeschränkt um Präsenzzeit einzusparen
geschwindigkeit oder sehr aufwändig bzw. die Lehrgangszeit
Leichte Unterstützung durch/ Entspricht damit oft effektiver zu nutzen. Auf-
Kombination unterschiedlichster Frontalunterricht ohne wand realistisch einschätzen.
Medien Nachfragemöglichkeit Sinnvoll in »content manage-
Oft nicht der realen ment system«/Lernplattform
»Hardware-Situation« der einbetten
Nutzer angepasst (lang-
sames Internet, Zugangs-
beschränkungen bei
Behörden)
Planspiel- Darstellung komplexer Lagen Potenziell »verzerrter Blick« Erfordert meist längere
training (MANV) (mehr Überblick als in der Entwicklung und sorgfältige
Leicht zu unterbrechen/Detail- Realität) und Handlungen Vorbereitung(Spielregeln).
besprechung (Gliederung in (z. B. Transport mehrerer Beübung von Strukturen,
Abschnitte) Patienten(karten) durch Führung, (BOS-)Zusammen-
(Meist) kostengünstig (insbeson- einen Helfer) arbeit; ggf. als Vorbereitung
dere im Vergleich zur Vollübung) Komplexer als für Teil- einer Vollübung
Rahmenbedingungen beein- nehmer sinnvoll Ermöglicht vor allem Ent-
flussbar Rahmenbedingungen scheidungstraining
unrealistisch
fragt werden. Auch wenn es generelle Prinzipien Vielleicht hat sich auch ein kleiner Effekt zu einer
und Erfahrungswerte für die beschriebenen Metho- Kette entwickelt etc.
den gibt, »funktioniert« dennoch nicht alles ange- Wenn ein einzelner Teilnehmer »völlig auf dem
sichts unterschiedlicher Vorausbildung, Hinter- Schlauch stand«, könnte eine vorausgehende, kurze
grund, Erfahrung, Kultur oder Geschlecht. Abklärung unter vier Augen sinnvoll sein. Außerdem
sollte man erklären, dass selbst bei einem »schlech-
ten« Durchgang eine gute Nachbesprechung, in der
7.3.5 Teilnehmereinbindung eben die Probleme vom Versorger selbst erkannt
und Nachbesprechung oder gemeinsam herausgearbeitet werden, einen
größeren Lernerfolg mit sich bringen kann, als eine
> Eine der wichtigsten Komponenten einer
fehlerfreie Versorgung. Auch wenn man unbedingt
erfolgreichen Ausbildung ist eine standardi-
ausreichend Zeit für die Nachbesprechung einpla-
sierte Nachbesprechung der Fallbeispiele, für
nen sollte, sind Stringenz und Beschränkung auf
die daher auch ausreichend Zeit eingeplant
Wesentliches genauso wichtig. Das »Zerreden«
werden muss. Die Nachbesprechung muss
eines Beispiels macht möglicherweise den gesamten
7 auch an den Ausbildungsstand der Gruppe
Aufwand wieder zunichte – daher vorher überlegen,
angepasst werden.
welche Punkte man ansprechen möchte.
Alle organisatorischen, zum Übungsbild ge-
Eine »Expertengruppe« benötigt den Ausbilder oft hörenden Maßnahmen sollten vor Beginn der
nur noch als Moderator. Ein bewährtes System ist Nachbesprechung abgeschlossen sein (d. h. z. B.
es, den mit der Versorgung des Verwundeten pri- Sicherheit an den Waffen hergestellt, Verletztendar-
mär betrauten Teilnehmer zuerst nach seinen Ein- steller von Verbänden und Zugängen befreit, Mate-
drücken und seiner Bewertung der Situation zu rialaufbereitung abgeschlossen). Außerdem sollten
fragen. Dann kommen weitere Helfer und der Ver- Störungen der Nachbesprechung vermieden wer-
letztendarsteller zu Wort, der vor allem ein Feed- den (Nebengeräusche durch Funk oder Motoren,
back hinsichtlich seiner Versorgung (z. B. Wärme- Parallelgruppe übt noch etc.).
erhalt?) und Betreuung geben sollte. Erst dann Ein Video-Debrief ist zwar prinzipiell ein hervor-
kommentiert der Ausbilder die genannten Punkte, ragendes Tool, das insbesondere unnötige Diskus-
ergänzt seine Wahrnehmungen und positive, aber sionen vermeidet, beansprucht aber einen hohen
natürlich auch negative Punkte. Wenn der Teilneh- Zeitaufwand, der auf Kosten der – meistens viel wich-
mer selbst die wichtigen »lessons identified« bereits tigeren – Wiederholung geht. Gerade bei mobilen
genannt hat, wird die Aufgabe des Trainers mehr Lagen oder z. B. in schwerem Gelände ist der organi-
eine Zusammenfassung (Wiederholung des Lern- satorische Aufwand wiederum sehr hoch. Prinzipiell
zieles dieser Ausbildung, kurze Darstellung des gilt: »je komplexer die Versorgung und je größer das
zeitlichen Verlaufs, evtl. bei komplexen Lagen Team«, umso sinnvoller wird dieses Mittel sein.
Gliederung in Phasen) oder die – wohldosierte – Entscheidend ist es, den Teilnehmern die Er-
Platzierung von wichtigen Tipps oder Kernpunkten kenntnis zu vermitteln: Jeder in der Ausbildung
(Materialorganisation, Kommunikation, Reassess- identifizierte Fehler, hilft Fehler in der Realität zu
ment, Lageüberblick u. ä.) sein. Klar am Beispiel vermeiden. Dazu müssen natürlich der Umgang
begründete Empfehlungen für Verbesserungen miteinander und das Lernumfeld passen. »Good
werden in diesem Verlauf meist gut akzeptiert. Man teaching is as much about passion as it is about rea-
sollte dabei also zwar Prinzipien im Hinterkopf ha- son.« [16] (Gute Lehre hat ebenso viel mit Leiden-
ben (z. B. mit etwas Positivem beginnen), aber es ist schaft wie mit Erklärungen zu tun.)
noch wichtiger, authentisch zu bleiben. Bei einem
katastrophalen Durchgang muss man nicht zwin- » Erzähle es mir – und ich werde es vergessen.
gend etwas Positives suchen, sollte aber unbedingt Zeige es mir – und ich werde mich erinnern.
nach Ursachen und Problemen fragen: Eigener Lass es mich tun – und ich werde es behalten.
Fehler in der Falldarstellung? »Luft raus für heute?« (Konfuzius 553–473 v. Chr.)
Literatur
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109 II
Taktische
Verwundetenversorgung
Kapitel 8 Grundlagen TCCC – 111
K. Ladehof
Grundlagen TCCC
K. Ladehof
Literatur – 125
> Taktische Medizin ist der Oberbegriff für kommen können. Schießt ein Täter auf Geiseln oder
ein System der präklinischen Versorgung, bei Einsatzkräfte, muss im Vordergrund stehen, ihn an
dem aufgrund einer besonderen Rahmen- weiteren Aggressionen zu hindern. Wird ein Beam-
lage angepasste Prinzipien zur Anwendung ter verletzt, muss er aus dem unmittelbaren Wirk-
kommen. Charakteristisch ist, dass die Ver- bereich gerettet und soweit nötig im ersten ge-
sorgung in definierten Phasen durchgeführt schützten Bereich versorgt werden. Im polizeilichen
wird und auch die medizinischen Maßnah- Bereich haben die sinnvollen Modifikationen zu
men an die Situation adaptiert werden. einer abweichenden Benennung geführt: das sog.
TEMS-System wird in 7 Kap. 24–28 ausführlich be-
Taktische Verwundetenversorgung steht nicht im schrieben.
Widerspruch zu zivilen Versorgungskonzepten
wie z. B. ATLS/PHTLS (»Advanced Trauma Life
Support«/»Prehospital Trauma Life Support«), son- 8.1 Hintergründe und Prinzipien –
dern basiert auf diesen und setzt sie konsequent für Unterschiede zum
das Arbeiten in einer Bedrohungslage und für ein zivilen Rettungsdienst
spezifisches Traumaspektrum um.
»Tactical Combat Casualty Care« (TCCC) ist Für die Rettungskräfte sollte immer der Grundsatz
wiederum das System zur zielgerichteten, präklini- gelten: die Sicherheit am Einsatzort und der Schutz
8 schen Versorgung von Patienten, das für militäri- der eingesetzten Kräfte haben höchste Priorität
sche Lagen entwickelt wurde. Wie in der Einleitung beim Vorgehen. Er gilt in besonderem Maße, wenn
dargestellt, wurde es 1996 erstmalig beschrieben [1] eine Bedrohungslage, im Extremfall feindlicher
und wird seitdem kontinuierlich über ein Fachgre- Beschuss, vorliegt. Bei der Annäherung müssen also
mium (CoTCCC) weiterentwickelt. Die präzise zunächst die möglichen Gefahren identifiziert wer-
Vorgehensweise bei der medizinischen Versorgung den, um dann weitere Schritte einleiten zu können.
und die Bedeutung einzelner Maßnahmen werden Auch die medizinische Versorgung wird meist erst
in 7 Kap. 12 dargestellt. In diesem Kapitel sollen die möglich sein, wenn es gelingt, die Bedrohung zu
Grundlagen und Hintergründe für das System der verringern. Für TCCC resultiert daraus der Kern-
taktischen Verwundetenversorgung, wesentliche satz für die erste Versorgungsphase: »The best
Prinzipien und Abweichungen zu zivilen Verfahren medicine on any battlefield is fire superiority«
sowie die generelle Herangehensweise im Rahmen (Die beste Medizin auf dem Gefechtsfeld ist Feuer-
der taktischen Medizin erläutert werden. Dieses überlegenheit). Um diese zu erreichen, kann sowohl
System wird aufgrund seiner Entstehung und seiner die Feuerkraft des Sanitäters als auch, wenn noch
besonderen Relevanz für diesen Bereich vor allem möglich, die des Verwundeten ein wichtiger Faktor
an militärischen Lagen veranschaulicht. sein. Auch wenn keine unmittelbare Gefahr erkenn-
Es ist jedoch für polizeiliche Lagen ebenso wie bar ist, muss unbedingt zuerst ein Überblick über
für Situationen im Rettungsdienst, die mit einer be- die Gesamtlage gewonnen werden. Das Spektrum
sonderen Gefährdung einhergehen, hervorragend weiterer Bedrohungen kann von der Verminung der
geeignet, um die bestmögliche Versorgung durch- offensichtlichsten Ausweichstelle bis zur Waffe in
zuführen. Im Regelfall wird auch bei diesen eine der Hand des verwundeten, bewusstseinsgetrübten
spezielle zeitliche (Eile sowie Vorgehen in Phasen) Kameraden reichen.
und räumliche (Abstand bzw. geschützte Bereiche) Auch die Möglichkeit eines Zweitanschlages
Komponente eine entscheidende Rolle spielen und muss bedacht werden, selbst wenn die Reaktions-
ebenso die medizinische Versorgung gravierend be- möglichkeiten darauf begrenzt sind (7 Kap. 8). Be-
einflussen. reits aus einer ersten Explosion können zahlreiche
Als Beispiel wird es bei einer Geisellage einen Sekundärgefahren resultieren, z. B. Brände, insta-
sog. »inneren Ring«» geben, in dem aufgrund einer bile Infrastrukturen oder austretende Gase. Im
potenziellen Bedrohung durch den oder die Täter schlimmsten Fall ist eine Annäherung an die Ver-
zunächst keine Rettungsdienstkräfte zum Einsatz wundeten aufgrund von anhaltendem Beschuss
8.1 · Hintergründe und Prinzipien – Unterschiede zum zivilen Rettungsdienst
113 8
oder auch durch Einsatz von Kampfstoffen gar nicht scheidungskompetenz in medizinischen Fragen
möglich. Als eher etwas hilflose Reaktion auf solche (z. B. Evakuierungsentscheidungen), ohne diese in
Lagen wurde der Begriff »remote assessment« ge- der Tiefe beurteilen zu können. Ein gutes Vertrau-
prägt, der beschreibt, dass eine begrenzte Beurtei- ensverhältnis, gemeinsames Üben und Verständnis
lung und ggf. auch Anleitung eines Verwundeten zu für die Abläufe des Anderen sind damit Vorausset-
sinnvoller Selbsthilfe auch aus einer Deckung her- zung für eine gute Versorgung des Patienten. Dies
aus machbar ist. beginnt bereits vor einem Einsatz mit der Entschei-
Die Grundsätze des TCCC gelten unabhängig dung, ob und wie weit der Einsatzleiter z. B. Kräfte
davon, wer die erste notfallmedizinische Versor- des Rettungsdienstes mit »nach vorne« bzw. in eine
gung unter Bedrohung oder in einer taktischen »heiße Zone« nimmt. Dies wiederum hängt von
Situation leistet. Die Prinzipien treffen für einen zahlreichen Faktoren ab: ist es überhaupt vom tak-
»Tactical Medic«, Rettungsassistenten oder Notarzt tischen Ausbildungsstand her vertretbar, diese
in gleicher Weise zu. Auch der in 7 Kap. 11 im Detail Nichtkombattanten bzw. Nichtpolizeibeamten in
dargestellte Algorithmus wird analog angewendet. die Lage einzubinden? Kann der Gesamtverant-
Natürlich werden Entscheidungen für komplexere wortliche dieses Fachpersonal ausreichend schüt-
Maßnahmen abhängig vom Ausbildungsstand ge- zen (sowohl materiell in Form von ballistischem
fällt und mit zunehmender Erfahrung wird man Schutz als auch durch die Begleitung durch eine
sich auch nicht immer exakt an den Ablauf halten. Schutzkomponente)? Was für Vorteile haben seine
Ein Algorithmus ist kein Dogma. Dennoch ist die Einsatzkräfte oder andere durch die Lage betroffene
präzise Kenntnis eine wichtige Handlungsgrund- Personen durch den Einsatz dieser Spezialisten?
lage, wenn bei größerer Belastung und höherem Kann er medizinische Fähigkeiten im Bereich der
Stress kreatives Denken schwieriger wird. Gerade Einsatzstelle durch eigene Kräfte (z. B. weiterge-
wenn ein Bekannter oder Freund betroffen ist, er- bildete Polizeibeamte 7 Kap. 19–24) sicherstellen?
möglicht das »stumpfe Abarbeiten« eines Algorith- > Voraussetzung für die Gewährleistung einer
mus als Rückfallposition dennoch zielgerichtetes qualifizierten Versorgung unter Bedrohung
Arbeiten und kritische Punkte werden nicht verges- wird also einerseits eine notfallmedizinische
sen. Außerdem erfolgen die Maßnahmen unter Be- (Basis-)Ausbildung aller beteiligten Kräfte
rücksichtigung ihrer Dringlichkeit. Die gemeinsa- sein. Andererseits ist eine taktische Ausbil-
me Arbeitsgrundlage und Sprache (»Der Patient dung auch für die medizinischen Spezialisten
entwickelt ein B-Problem«) erleichtert die Zusam- unverzichtbar.
menarbeit, die Integration weiterer Kräfte und die
Übergabe. Wenn also z. B. ein Helfer hinzukommt, Der Führer wiederum muss fundierte Grundkennt-
während der Primärversorger die Stabilität des nisse über die lageangepasste Notfallmedizin, also
Brustkorbes prüft, weiß er, dass als nächstes die TCCC, sowie die Möglichkeiten und Grenzen der
Drehung des Patienten erfolgt. Er kann jetzt wiede- einzelnen Komponenten haben, um auf dieser Basis
rum abhängig von der Lagebeurteilung entweder seine Entscheidungen treffen zu können. Konkur-
eine Unterlage für den Verwundeten vorbereiten rieren die Interessen des Patienten und des Auf-
oder den Kopf bei der Drehung stabilisieren bzw. trages miteinander, kann es im Extremfall dazu
diese Maßnahmen vorschlagen. kommen, dass bereits durch den Sanitäter selbst
> Die medizinische Versorgung ist nur ein Teil
oder durch den für die Gesamtoperation Verant-
einer komplexen – taktischen – Lage.
wortlichen zugunsten des Auftrages entschieden
wird. Damit ist unter Umständen auch eine Zurück-
Dabei ist das medizinische Personal im Regelfall stellung der medizinischen Versorgung zur Fort-
einem taktischen Führer unterstellt, der die Ge- setzung des Einsatzes notwendig, ggf. sogar unter
samtverantwortung für den Einsatz trägt. Dies trifft Inkaufnahme einer eingeschränkten individualme-
für den militärischen Führer genauso wie für den dizinischen Versorgung. Dies kann zwingend erfor-
Einsatzleiter der Feuerwehr oder der Polizei zu. derlich sein, da von der weiteren Durchführung
Damit hat ein »Taktiker« auch die letztendliche Ent- einer Operation möglicherweise das Leben oder die
114 Kapitel 8 · Grundlagen TCCC
Gesundheit einer größeren Anzahl von Menschen flicts«) bzw. Operationen gegen irreguläre Kräfte
abhängt. die potenziell großen Distanzen zwischen den me-
dizinischen Versorgungseinrichtungen. Außerdem
Besonderer Einfluss der taktischen Lage kann es auch durch schwieriges Gelände, schlechte
5 Gute medizinische Versorgung kann eine oder zerstörte Infrastruktur, eingeschränkte Ver-
schlechte taktische Entscheidung sein. fügbarkeit von Lufttransportmitteln (Nachtflug-
5 Eine schlechte taktische Entscheidung kann fähigkeit? Schutzkomponente für medizinische
mehr Verluste und/oder das Fehlschlagen Hubschrauber verfügbar? etc.) sowie anhaltende,
der Mission zur Folge haben. feindliche Bedrohung zu deutlich verlängerten
5 Bei militärischen Operationen liegt meist Transportzeiten und auch dadurch zu einer ver-
nicht nur ein medizinisches, sondern auch zögerten Anschlussversorgung kommen.
ein taktisches Problem vor, wenn es Ver- Die Wahrscheinlichkeit, dass die Helfer bei
wundete gibt. einem militärischen oder polizeilichen Einsatz mit
5 Sowohl für den Verwundeten als auch für einer größeren Anzahl von Verwundeten konfron-
den Auftrag muss das bestmögliche Ergeb- tiert werden, ist leider wesentlich höher als im »Ret-
nis erreicht werden. tungsdienstalltag«. Die Ressourcen an qualifizier-
tem Personal sind per se vor Ort verhältnismäßig
klein, sodass schon geringe Zahlen von Verwunde-
8 (Nach Frank Butler)
ten einen MASCAL (»Mass casualty«) bedingen
können. Zusätzlich werden die materiellen Ressour-
Zusätzliche Erschwernisse oder Limitierungen für cen schneller erschöpft sein, da einerseits die Trans-
die medizinische Versorgung auf dem Gefechtsfeld port- bzw. Tragekapazität der eingesetzten Mittel
bzw. in Bedrohungslagen sind die weiteren meist und Kräfte begrenzt ist und andererseits in einer
ungünstigen Rahmenbedingungen: militärische taktischen Lage wie einem Gefecht eine Folgever-
Operationen (insbesondere im Bereich von Spezial- sorgung erschwert oder nicht durchführbar ist.
kräften, wo das System des TCCC in den ersten Jah- Umso wichtiger ist es, die materielle Ausstattung zu
ren weiterentwickelt wurde) werden ebenso wie optimieren und sie modular gestaffelt auf alle vor-
polizeiliche Einsätze häufig nachts durchgeführt. handenen Einsatzmittel zu verteilen. Ebenso wird
Bei zusätzlich vorliegender Bedrohung verbietet die Nachalarmierung und Zuführung von Spezialis-
sich die Nutzung von weißem Licht, da es über Kilo- ten (was bereits den Notarzt einschließt) meist nicht
meter als Zielmarkierung für Feindkräfte dienen möglich sein, sondern im Regelfall wird der Trans-
kann. Daraus ergibt sich, dass sowohl die medizini- port zur nächsthöheren Versorgungsebene in der
sche Versorgung mit Nachtsichtgeräten als auch Verantwortung der Erstversorger liegen.
unter einem Poncho, der als Lichtabschirmung Durch all diese Faktoren kommt es zu Modifi-
Verwundeten und Helfer bedeckt, erforderlich kationen und Abweichungen von »zivilen« Behand-
sein kann (sog. »low light techniques«) und daher lungsalgorithmen, auf die nun und in 7 Kap. 9 näher
im Vorfeld eines Einsatzes geübt werden muss eingegangen werden soll. Dabei geht es nicht einmal
(7 Kap. 20). darum, Menschen, die infolge eines Auftrages Ge-
Insbesondere wenn es bei bodengebundenen, sundheit und Leben riskieren, höherwertig zu ver-
nicht fahrzeuggestützten Bewegungen zu Verwun- sorgen. Es ist lediglich das Ziel, trotz der Einschrän-
deten kommt, werden diese nur sehr eingeschränkt kungen durch die Rahmenlage eine Versorgung zu
gegen Umwelteinflüsse geschützt werden können. gewährleisten, die diese Nachteile soweit möglich
Dadurch erhalten Maßnahmen gegen die Hypo- ausgleicht. Dies bedeutet einen erhöhten Aus-
thermie eine noch größere Bedeutung. Unter Um- bildungs- und finanziellen Aufwand.
ständen stehen nur behelfsmäßige Tragemittel zur
Verfügung (7 Kap. 2 und 3). > Taktische Medizin zielt darauf ab, trotz
Weitere Einflussfaktoren sind gerade bei asym- schlechter Bedingungen das bestmögliche
metrischer Kriegsführung (»low intensity con- Ergebnis zu erzielen.
8.2 · Phasen und Zonen der Versorgung
115 8
Die Vorgehensweisen im Bereich TCCC werden
auch auf der Basis einer sorgfältigen Auswertung 5 »Tactical Evacuation Care« (TEC): Ver-
der leider großen Fallzahlen weiterentwickelt, die sorgung während des Transportes nach
insbesondere die US- und die britische Armee vor Besetzen des eigenen oder Aufnahme
allem in Afghanistan und im Irak haben. Sie sind durch ein Fahrzeug oder nach Übergabe
damit zunehmend »evidence-based« und werden des Verwundeten an ein Rettungsmittel.
kontinuierlich durch das CoTCCC unter Gewähr-
leistung des Praxisbezuges angepasst. Auch unter
dem Aspekt, dass die Katastrophenmedizin auf- Die Versorgung im Rahmen der taktischen Ver-
grund steigender Häufigkeit von Terroranschlägen wundetenversorgung erfolgt in Anpassung an die
und Naturkatastrophen eine Renaissance erlebt, taktische Lage in Phasen bzw. Zonen (. Abb. 8.1).
erfolgt die Übernahme von immer mehr Prinzipien Dabei liegt in der CuF-Phase der Schwerpunkt dar-
und Verfahren durch den zivilen Rettungsdienst auf, auf die Bedrohung zu reagieren und sie entwe-
[2]. So ist auch die temporäre Tourniquet-Anwen- der zu beseitigen oder den Verwundeten und sich in
dung z. B. seit kurzem Bestandteil der aktuellen Sicherheit zu bringen. Das kann bedeuten, dass auf
ATLS-Leitlinien und der S3-Leitlinie zur Polytrau- medizinische Maßnahmen vollständig verzichtet
maversorgung [3]. Weitere Beispiele sind der gestie- werden muss oder nur solche durchgeführt werden
gene Stellenwert der permissiven Hypotonie, der können, die bei minimalem Zeitaufwand einen ent-
Einsatz von hämostatischen Substanzen (Hämos- scheidenden – lebenswichtigen – Vorteil für den
typtika) und die Nutzung von intraossären Zugän- Patienten mit sich bringen. Dies wird im Regelfall
gen bei Erwachsenen. Die fundamentale Bedeutung bedeuten, dass nur die Blutstillung mittels Tourni-
der sekundären Hypothermie und die Verfahren quet und evtl. die Atemwegssicherung mit einem
und materiellen Möglichkeiten zu ihrer Verhinde- Wendl-Tubus als Maßnahmen in Frage kommen.
rung werden ebenfalls im militärischen Bereich Dabei darf jedoch nie vergessen werden, dass es
erforscht und die Ergebnisse finden schnelle Ver- auch eine maßgebliche Bedeutung haben kann, den
breitung. vielleicht noch kooperativen Verwundeten selbst zu
Gleichzeitig gibt es Aspekte, die in der zivilen sinnvollen Handlungen anzuleiten. Dies wiederum
Notfallmedizin keinen Stellenwert haben (z. B. die kann die Unterstützung des Feuerkampfes, die
orale Flüssigkeitstherapie) oder die aufgrund der Selbstanlage eines Tourniquet oder z. B. das simple
hohen Dichte von hochqualifiziertem Personal eine Stillen oder Reduzieren einer Blutung am Hals
geringere Bedeutung haben (z. B. die Delegation der durch direkten Druck sein. (»Versuche mit Deiner
Analgesie und die Schaffung einer »Regelkompe- Hand auf diese Stelle zu drücken, so fest Du kannst.
tenz«). Ich werde die Wunde dann gleich verbinden«). In
der Katastrophenmedizin findet diese Phase in der
sog. »heißen Zone« statt. Der Begriff wurde v. a. im
8.2 Phasen und Zonen Zusammenhang mit Gefahrstofflagen geprägt, gilt
der Versorgung aber genauso für polizeiliche Lagen. Schwerpunkt
ist es auch hier, die Gefährdung zu beenden oder ihr
durch schnelle Evakuierung in einen nicht oder
Definitionen weniger gefährdeten Bereich auszuweichen. Das
5 »Care under Fire« (CuF): Versorgung am Ort kann auch einfach bedeuten, ein einsturzgefährde-
der Verwundung noch unter feindlichem tes Gebäude mit dem Patienten schnellstmöglich zu
Feuer oder anderer unmittelbarer Bedro- verlassen oder ausreichend Abstand zwischen sich
hung. und einen Sprengsatz zu bringen.
5 »Tactical Field Care« (TFC): Versorgung in Der erreichte, weniger gefährdete Bereich wie-
der ersten Deckung bzw. nach Verlassen derum ist die sog. »warme Zone«, die der ersten
des unmittelbar gefährdeten Bereiches. Deckung entspricht, und in der dann die TFC-Phase
durchgeführt wird. Hier kann die Versorgung so-
116 Kapitel 8 · Grundlagen TCCC
. Abb. 8.1 Zonen der Versorgung. CuF »Care under Fire« (schnelle Rettung, ggf. Tourniquet); TFC »Tactical Field Care«
(Notfallmaßnahmen in 1. Deckung – treat & go); TEC »Tactical Evacuation Care« (Versorgung beim Transport)
weit fortgesetzt oder überhaupt erst geleistet wer- IED-Lage oder bis zur erfolgreichen Bekämpfung
den, die nötig ist, um akute Lebensbedrohungen von Feindkräften gewartet muss.
abzuwenden und eine Stabilisierung des Patienten Immer kommt der Blutstillung ausschlagge-
zu erreichen. Es handelt sich also mit höchster Pri- bende Bedeutung zu, da im Regelfall erst in einer
orität um die »klassischen Maßnahmen« zur unmit- stationären Versorgungseinrichtung die Gabe von
telbaren Abwendung einer vitalen Bedrohung bei Erythrozytenkonzentraten, Gerinnungsfaktoren
einem Sichtungskategorie-1-Patienten (SK1 bzw. bzw. Vollblut erfolgen kann. Je länger sich die An-
Triage Group 1, T1 oder »immediate«) (7 Kap. 11). schlussversorgung verzögern kann, umso mehr
Wenn in der taktischen Lage ausreichend Zeit zur muss gelten: »Jeder Erythrozyt (und jeder Gerin-
Verfügung steht bzw. kein zeitnaher Transport er- nungsfaktor) zählt.« Wenn also z. B. bereits fest-
folgen kann, werden auch weniger dringende Ver- steht, dass der Transport zur ersten chirurgischen
letzungen versorgt. Neben dem Verletzungsmuster Behandlungseinrichtung mehrere Stunden dauert,
(insbesondere aufgrund schnellstmöglichen Trans- sollte die Indikation zur Tourniquet-Anwendung
portbeginns bei einer inneren Blutung) können also auch auf weniger kritische Blutungen ausgedehnt
z. B. die zwingend notwendige Fortsetzung des Auf- werden, dann jedoch unbedingt die schnellstmögli-
trages, der Feind- oder Zeitdruck sowie die einge- che Umwandlung aller Tourniquets angestrebt wer-
schränkte Verfügbarkeit von Mitteln die Durchfüh- den. (Die genauere Darstellung der Maßnahmen
rung nicht unmittelbar zwingend notwendiger folgt in 7 Kap. 9).
Maßnahmen verhindern. Demgegenüber kann Die TEC-Phase beginnt mit der Übergabe des
reichlich Zeit für eigentlich nicht dringende Maß- Verwundeten an ein Transportmittel bzw. mit der
nahmen (wie die Anlage eines intravenösen Zugan- Einleitung des Transportes. In dieser Phase sollten
ges) zur Verfügung stehen, weil – leider – auf die bei einer sorgfältigen Einsatzplanung und -vorbe-
Evakuierung bis zum Morgen, bis zur Klärung einer reitung weitere Ressourcen zur Verfügung stehen.
8.2 · Phasen und Zonen der Versorgung
117 8
Dies kann von personellen und materiellen Res- ches Material nachgezogen werden können. Wenn
sourcen in Form einer weiteren Materialtasche auf z. B. bei einer Geisellage durch Festnahme der Täter
dem eigenen bodengebundenen, taktischen Ver- bereits vollständige Sicherheit hergestellt werden
bringungsmittel bis zu einem kompletten, bewegli- kann, spricht nichts dagegen, schnellstmöglich ei-
chen Arzttrupp mit Erfahrung im Lufttransport von nen BAT (beweglicher Arzttrupp) oder Rettungs-
Verletzten auf einem Rettungshubschrauberäquiva- dienstkräfte zum Verwundeten zu bringen. Da sie
lent reichen. zudem professionellere Tragemittel mitführen,
Die Notwendigkeit des eigenständigen Trans- kann dies die Evakuierung sogar beschleunigen.
portes durch die erstversorgenden (Einsatz-)Kräfte
Tipp
wird in polizeilichen Lagen oder bei Großscha-
densereignissen deutlich seltener vorliegen. Den-
Entscheidend ist die aus dem ATLS-Konzept
noch ist es z. B. bei einem Zwischenfall im Rahmen
bekannte und bereits bei den »essenziellen
der Überwachung eines Gehöfts in einer abgelege-
Prinzipien« aufgeführte Regel »Mach‘ nicht
nen Gegend durchaus möglich, dass zumindest der
mehr kaputt.« bzw. »Verschwende keine Zeit
Transport zu einem sinnvollen Rendezvous-Punkt
mit nicht wirklich wichtigen Maßnahmen.« An-
mit dem Rettungsdienst durch polizeiliche Kräfte
ders gesagt ist die Frage nicht: »Was kann ich
erfolgen sollte. Dadurch kann die präklinische Ver-
für den Patienten tun?«, sondern »Was sollte
sorgungsdauer u. U. gravierend reduziert werden.
bzw. muss ich jetzt für den Patienten tun?«
Die »kalte Zone« wird in militärischen Lagen
Und im Rahmen der kontinuierlichen
meist erst in einer vorgeschobenen Operationsbasis
Neubewertung der Gefährdungslage immer
oder einem Feldlager erreicht werden, sodass hier
wieder: »Was kann ich tun ohne mich oder ihn
keine unmittelbare Gleichsetzung mit TEC erfolgen
unnötig zu gefährden?«
kann. In Einsätzen, die in einem primär nichtfeind-
lichen (»permissive«) Umfeld stattfinden, kann sie
bereits vor einem Gebäude beginnen oder in ausrei- Die jeweils beste Managementstrategie hängt von
chender Entfernung von einem Sprengsatz erst eini- diesen räumlichen Verhältnissen und dem durch sie
ge Häuserblocks entfernt liegen. Prinzipiell ist sie bedingten Zeitbedarf bis zum Erreichen höher-
sicher genug, um die Bereitstellung von Rettungs- wertiger Versorgungseinrichtungen ab.
dienstmitteln bis hin zum Aufbau von Strukturen Für Verwundete, die aufgrund innerer Blutun-
wie einem Behandlungsplatz zu ermöglichen. Bei gen nicht durch die Erstversorger anhaltend stabi-
polizeilichen oder nichtmilitärischen Ereignissen lisiert werden können, ist die Einleitung eines
wird sie meist in relativer räumlicher Nähe liegen. zügigen Transportes zur ersten chirurgischen Be-
Dies gilt auch bzw. gerade bei einem Massenanfall handlungseinrichtung entscheidend. Auch dort
von Verwundeten, wenn auch dies wiederum durch wiederum werden die Maßnahmen in Anpassung
die mögliche Gefahr eines Sekundäranschlages sei- an die Gesamtlage und die aktuelle Situation des
ne Grenzen findet. Je näher die kalte Zone liegt bzw. Patienten durchgeführt. Eine solche Vorgehensweise
je schneller sie zu erreichen ist, umso mehr müssen wird im Regelfall auf »damage control surgery«
insbesondere zeitraubende Maßnahmen im Rah- (DCS), also die Durchführung der zu diesem Zeit-
men des TFC kritisch auf ihre Notwendigkeit hin- punkt zwingend erforderlichen chirurgischen Maß-
terfragt werden. Dies gilt natürlich nur unter der nahmen hinauslaufen – unter Zurückstellung wei-
Voraussetzung, dass dort tatsächlich Rettungsmit- terer rekonstruktiver Eingriffe. Der entscheidende
tel, Behandlungseinrichtungen oder höher qualifi- Punkt ist also die Dauer bis zum Erreichen einer
ziertes Personal zur Verfügung stehen. Es macht DCS-befähigten Einrichtung. Das weitere Vorgehen
keinen Sinn, mit geringer materieller Ausstattung in ist abhängig von der Art der Verwundung und dem
einer ersten Deckung über die zwingende Stabilisie- Zeitraum, der seit der Verwundung vergangen ist.
rung hinaus zu behandeln, wenn mehr oder qualifi- Wurde z. B. ein Soldat in einem Feldlager durch
ziertere Helfer leicht erreichbar sind. Außerdem Steilfeuer verwundet und liegt unmittelbar vor dem
sollte geprüft werden, ob Spezialisten oder zusätzli- Eingang eines Feldlazarettes, sollte er unter Auf-
118 Kapitel 8 · Grundlagen TCCC
. Abb. 8.2 Todesursachen auf dem Gefechtsfeld und Anteil der einfach verhinderbaren Todesfälle (DOW »died of wounds«)
roranschlag mit konventionellem Sprengstoff, ähn- nen mit einer 10 s dauernden Maßnahme gerettet
lich ausfallen: Mehr als die Hälfte der Verwundeten, werden. Die zweithäufigste, verhinderbare Todes-
die versterben, hat so schwere Verletzungen an Kopf ursache bei dieser Ausgangssituation ist die Ent-
und Rumpf, dass sie auch durch unmittelbare wicklung eines Spannungspneumothorax. Des-
chirurgische Maßnahmen nicht gerettet werden halb hat die Behandlung dieser im Zivilen seltenen
könnten. Ein Teil hätte zwar durch eine sofortige Problematik im Bereich der taktischen Verwunde-
operative Versorgung gerettet werden können, diese tenversorgung einen so hohen Stellenwert. Außer-
wurde aber im erforderlichen Zeitfenster nicht er- dem muss die Maßnahme »feldtauglich«, also
reicht. Hier könnte schnellerer Transport, aber v. a. schnell und mit einem vergleichsweise geringen
ein engeres Netz von Transportmitteln und Versor- Ausbildungsaufwand durchführbar sein. Dies
gungseinrichtungen einen Unterschied machen. spricht gegen eine Thoraxdrainage und führt zur
Die Patienten, die erst verzögert v. a. an Wund- Favorisierung der natürlich nicht definitiven Maß-
infektionen oder Multiorganversagen versterben, nahme der Entlastungspunktion zu einem mögli-
werden unter dem Begriff »died of wounds« (DOW) cherweise frühen Zeitpunkt (Näheres 7 Kap. 9.3).
erfasst. Bei diesen Patienten könnte insbesondere Weitere knapp 10 % dieser präklinisch verhinder-
bei langer Transportzeit die frühzeitige und im Ide- baren Todesursachen liegen in der Verlegung der
alfall auch intravenöse Gabe von Antibiotika diesen Atemwege begründet. Es betrifft also nur 1,5 %
Verlauf verhindern (7 Kap. 9.3). aller Verwundeten, aber erneut kann der Tod mit
Tragisch ist es, wenn ein Verwundeter an einem einfachsten Mitteln verhindert werden: als erste
Problem verstirbt, das leicht hätte behoben werden »probatorische« Maßnahme kann nach der Mund-
können. Daher muss in der frühzeitigen, präklini- raumkontrolle der Esmarch-Handgriff angewendet,
schen Versorgung der Schwerpunkt auf den 15 % ggf. der Kopf überstreckt werden. Diese Maßnahme
der Verwundeten liegen, die an einfach verhinder- würde den Helfer jedoch anhaltend binden. Die ein-
baren Todesursachen versterben. Bei diesen steht zige einfache Möglichkeit die Atemwegsverlegung
mit zwei Dritteln (dieser 15 %) das Verbluten an durch Flüssigkeiten anhaltend zu beseitigen, besteht
Extremitätenwunden im Vordergrund, was die Be- in der stabilen Seitenlage. Diese wird daher bei einer
deutung des Tourniquets für TCCC und TEMS er- größeren Anzahl von Verwundeten (7 Kap. 15)
klärt. Das heißt bis zu 10 % aller Verwundeten kön- ebenso wie bei Patienten, die nicht durchgängig be-
120 Kapitel 8 · Grundlagen TCCC
8 . Abb. 8.3 Mortalitätskurve bei penetrierendem Trauma a Verlauf ohne Behandlung, b bei vollständiger Versorgung nach
TCCC-Prinzipien
obachtet werden können, die beste Option sein. Ein bei unmittelbarer chirurgischer Intervention,
Transport in stabiler Seitenlage wird in einer takti- innerhalb der ersten Minuten sterben werden.
schen Lage jedoch im Regelfall nicht realisierbar Wichtige Botschaft in diesen Fällen: Das Versterben
sein. Aus diesem Grunde sind Wendl- oder Guedel- des Patienten liegt nicht am Versagen der Helfer!
Tubus Mittel der Wahl, wobei ersterer wegen der Allerdings sollten »Tactical Medics« ebenso wie das
geringeren Gefahr Erbrechen auszulösen und auf- Rettungsdienstpersonal im Rahmen der Möglich-
grund der »stabileren Lage« bevorzugt werden soll- keiten darauf vorbereitet werden.
te (ausführlicher 7 Kap. 9.2). > 5 Es gibt Verwundete, die sterben werden,
egal was Du für sie tust,
5 es gibt Verwundete, die überleben
8.3.2 »Die-off curve«: werden, egal was Du tust und
Wann stirbt man? 5 es gibt Verwundete, die nur sterben
werden, wenn Du jetzt nichts für sie tust!
Gemäß dem Prinzip »Behandle zuerst, was zuerst
tötet« können die oben angeführten Maßnahmen Manche Merksätze könnten leicht als »zu heroisch«
nur dann das Überleben eines möglichst hohen An- missverstanden werden, aber sie bringen die Prob-
teils von Verwundeten erzielen, wenn sie in der lematik auf den Punkt und prägen sich gut ein. Da-
richtigen Reihenfolge bzw. mit der richtigen Priori- mit können sie auch in einer Stresssituation erinnert
tät zum richtigen Zeitpunkt durchgeführt werden. werden und sollten dann dazu führen, dass nicht die
Hierfür ist die Betrachtung der Sterblichkeit durch Verzweiflung über Dinge, die vom Erstversorger
die verschiedenen Todesursachen im zeitlichen nicht geändert werden können, das Handeln be-
Verlauf an der Mortalitätskurve für penetrierende stimmt, sondern das zielgerichtete Arbeiten nach
Verletzungen hilfreich (. Abb. 8.3). einem erlernten und trainierten Algorithmus be-
Wenn man die Gesamtheit der Verwundeten ginnt, um rettbare Kameraden tatsächlich zu retten.
betrachtet, wird ein Teil so schwere Verletzungen Lediglich durch die Verbesserung der persönli-
aufweisen, dass sie bei bester Versorgung, also selbst chen Schutzausstattung (»personal protective
8.4 · Vorgehensweise: SICK
121 8
equipment«, PPE) konnte dieser Anteil in den letz- Atemwegsverlegungen innerhalb weniger Minuten
ten Jahrzehnten geringfügig verringert werden. Der zum Tod. Daher müssen sie (»A-Probleme«) trotz
einzige Weg, um diesen Anteil weiter zu reduzieren, ihrer relativ geringeren Häufigkeit (7 Kap. 8.3) vor-
liegt in der Anpassung der militärischen Taktik an dringlich behandelt werden.
die Bedrohungslage und damit z. B. an die verwen- Innerhalb der ersten 6 h ab der Verwundung
deten Sprengsätze und ihre beabsichtigte Wirkung. können weitere 10 % an zunehmenden Atmungs-
Im Mittelpunkt stehen hierbei Abstand und Panze- problemen (»B-Problemen«) versterben, wobei, wie
rung. Da in diesem Fall jedoch »beide Seiten« ihre bereits dargestellt, der Spannungspneumothorax im
Verfahren weiterentwickeln, ist der Erfolg dieser Vordergrund stehen wird.
Maßnahmen begrenzt. Außerdem sind die Folgen eines prolongierten
Innerhalb der ersten Stunde würden weitere Schocks in diesem und den folgenden Intervallen
10–15 % der Verwundeten versterben: im Vorder- für weitere Todesfälle verantwortlich. Gemeinsam
grund stehen, wie oben dargestellt, Blutungen im mit dem resultierenden Multiorganversagen sowie
Halsbereich und an den Extremitäten sowie Atem- Infektionen liegen hier die Hauptursachen für die
wegsverlegungen. Dies wird häufig mit dem Kon- verzögerten Todesfälle im späteren Verlauf nach
zept der »golden hour« beschrieben, das von einer Verwundung.
Dr. R. Adams Cowley entwickelt wurde. Ebenso wie Daraus ergeben sich auch zwingende Schluss-
die »platinum ten minutes«, sozusagen dem Nach- folgerungen für die Konzeption und Planung:
folgemodell, handelt es sich um ein wertvolles Kon- Wenn klar ist, welche Maßnahmen zu welchem
zept, um zu verdeutlichen, dass eine möglichst früh- Zeitpunkt durchgeführt werden müssen, folgt dar-
zeitige Intervention ausschlaggebend ist, um das aus auch, welche Fähigkeiten den Verwundeten in
Leben eines Verwundeten zu retten bzw. sein Be- welchem Zeitfenster erreichen müssen. In den ers-
handlungsergebnis zu verbessern. Beide Begriffe ten Minuten ist die Selbst- und Kameradenhilfe mit
sind jedoch nicht wissenschaftlich belegt und selbst dem Schwerpunkt effektiver und lageangepasster
in Cowley’s Nachlass wurden keinerlei Unterlagen Blutstillung sowie das Freimachen und -halten der
gefunden, die eine wissenschaftliche Evidenz be- Atemwege entscheidend. Wenn ein Verwundeter
legen könnten. Unter Vergegenwärtigung des Blut- nach 30 min an seinem Spannungspneumothorax
volumens des Menschen (ca. 1/13 des Körperge- versterben würde, muss er bzw. ihn bis dahin je-
wichts) und seines Herzminutenvolumens (bereits mand erreichen, der in der Durchführung einer
in Ruhe beim Erwachsenen 4,5–5 l) wird schnell Entlastungspunktion ausgebildet ist. Dann kom-
klar, dass eine stark blutende Wunde so schnell wie men zunehmend erweiterte Fähigkeiten zur Stabili-
möglich und unbedingt innerhalb der ersten Minu- sierung des Verwundeten zum Tragen, die ins-
ten versorgt werden muss (7 Kap. 9.3) [8, 9]. besondere die Medikamentengabe und Volumen-
> »Das Schicksal des Verwundeten liegt in
therapie, das erweiterte Atemwegsmanagement so-
den Händen dessen, der den ersten Ver-
wie Thoraxdrainage und Sauerstoffgabe umfassen.
band anlegt.«
In der Folge ist dann die chirurgische Intervention
entscheidend.
Dies kommt auch in der von PHTLS gerne zitierten
Stellungnahme von Nicholas Senn (1844–1908)
zum Ausdruck: »The fate of the wounded rests in 8.4 Vorgehensweise: SICK
the hand of the one who applies the first dres-
sing« (1898). Senn war u. a. Gründer der Vereini- Herangehensweise/erste Schritte an der Einsatzstelle: SICK
gung der Militärärzte der USA und wiederum Fan S »Scene Safety/Security« – Sicherheit o Überblick
von Friedrich von Esmarch (1823–1908) [10] und (10-for-10/Ruhe bewahren)
I Impression/orientierender Blick/Erster Eindruck/
dessen Buch von 1869 »Der Erste Verband auf dem
Bewusstseinslage (AVPU)
Schlachtfelde« [11]. C »Critical Bleeding«
Da das Gehirn nur einen kurzfristigen Sauer- K »Kinematics/Mechanism of Injury« (MOI) – Kinematik/
stoffmangel erträgt (»Ischämietoleranz«), führen Unfallhergang (HWS)
122 Kapitel 8 · Grundlagen TCCC
8.4.1 S – Sicherheit und Lagefest- device«) auslösen würde; das kurze Erinnern unter
stellung (»scene assessment«) dem Aspekt »situational awareness« (ist irgend et-
was ungewöhnlich oder anders als sonst?) führt erst
In der Annäherung an eine Einsatzstelle bzw. einen zu der Wahrnehmung, dass auffallend wenig Perso-
Schadensort ist es entscheidend, einen Überblick nen auf der Straße sind oder ein seltsamer Geruch in
über die Lage zu gewinnen. Dabei liegt der Schwer- der Luft liegt; der Patient berührt noch die strom-
punkt auf der Sicherheit: Der kritische Punkt ist das führende Leitung, die bereits zu seinem Problem
Erkennen aller Bedrohungen, Schadensursachen geführt hat und jetzt den Helfer gefährdet – die Liste
und -folgen (wie z. B. instabile Infrastrukturen oder der Beispiele kann jeder Leser aus seinem eigenen
austretende Gase nach einer Explosion). Militärisch Erfahrungsschatz ergänzen. Viele Wahrnehmungen
steht natürlich die Reaktion auf Feindkräfte im Vor- lassen sich nicht genau beschreiben, sondern sind
dergrund. Eine weitere Besonderheit kann bei takti- das berühmte »Bauchgefühl«, die Intuition. Der
schen Lagen darin bestehen, dass gar nicht versucht Punkt ist jedoch: man braucht auch ein paar Sekun-
wird, die Sicherheit der gesamten Einsatzstelle herzu- den, um dieses potenziell lebensrettende Gefühl
stellen. Oftmals kann diese in nicht vollständig kon- wahrzunehmen. Die weniger moderne Beschrei-
trolliertem Gebiet auch gar nicht erreicht werden. bung dieses Vorgehens lautet: »Fühle zuerst Deinen
Auftragsabhängig oder aus Zeitgründen muss die eigenen Puls«. Besonders wichtig ist dieses kurze
Sicherheit eines Teilbereiches oder eine sich selbst Innehalten, wenn man als Team arbeitet oder wenn
8 sichernde bewegliche Gruppe u. U. erst einmal aus- mehrere Helfer eintreffen: die zeitliche Investition,
reichen, um innerhalb einer gefährdeten Zone vorzu- die erforderlich ist, um eine schnelle Aufgabenver-
gehen. Auf diese Weise kann auch die medizinische teilung vorzunehmen, wird den Patienten nicht tö-
Versorgung in diesen Bereich transportiert werden, ten, ermöglicht aber erst die Nutzung aller Ressour-
was jedoch einen hohen taktischen Ausbildungs- cen (»Crew Ressource Management«). Wenn es sich
stand der dort eingesetzten Kräfte erfordert. Ziel ist um ein größeres Ereignis, z. B. einen Massenanfall
die Rettung des Verwundeten und unmittelbares von Verwundeten (MANV) oder MASCAL, han-
Ausweichen. Bei einer Amoklage wiederum bewegt delt, ist jetzt der Zeitpunkt, Einsatzbereiche festzule-
sich je nach Einsatzkonzept u. U. (auch) ein Ret- gen. Da dies den organisatorischen Aufwand erhöht
tungsteam im Objekt, das sich selbst beim Vorgehen und Kräfte und Mittel teilt, muss diese Maßnahme
und der Versorgung sichert und primär ebenfalls ver- sorgfältig abgewogen werden. Allerdings kann sie
suchen wird, mit dem Verletzten den gefährdeten bereits aufgrund verschiedener Evakuierungsrouten
Bereich schnellstmöglich zu verlassen (7 Kap. 32). oder wenn sich mehrere Verwundetennester bzw.
> Unbedingt notwendig ist es, beim Vorgehen
Patientenablagen bilden, erforderlich sein. Beispiele
die Balance zwischen zügiger Lagefeststel-
für eine solche Situation sind: zwei Eindringstellen
lung und -beurteilung und der Vermeidung
ohne Verbindung innerhalb des Objekts, zwei be-
von überstürztem Handeln und Detailfokus-
troffene Fahrzeuge in einem Konvoi oder wenn
sierung zu halten.
Trümmer eines Gebäudes nach einem Anschlag
zwei Annäherungsrichtungen notwendig machen.
Aus Untersuchungen zu Fehlerursachen bei team- > Je ungünstiger das Kräfteverhältnis Helfer zu
orientierter Patientenversorgung wurde das Prinzip Verwundeten ist, um so frühzeitiger muss
»10 s für 10 min« entwickelt [12]. Die Kernaussage eine Lagemeldung bzw. der Notruf mit der
dabei ist, dass ein kurzer Moment der Orientierung gezielten Nachforderung von Kräften abge-
erforderlich ist, um alle Fakten zu erfassen, ggf. In- setzt werden.
formationen aus dem Team oder von anderen Be-
teiligten zusammenzutragen und alle wichtigen As- Weitere Aspekte der Annäherung bei größeren Er-
pekte eines Problems wahrzunehmen. Auf dieser eignissen werden in 7 Kap. 11 behandelt.
Basis kann dann »10 min« zielgerichtet vorgegangen Grundlegende Aspekte der Sicherheit, auch im
werden: das sorgfältige Hinsehen lässt den Draht Rettungsdienst, betreffen die persönliche Schutz-
erkennen, der die zweite IED (»improvise explosive ausstattung. Bei militärischen Lagen sind sie teil-
8.4 · Vorgehensweise: SICK
123 8
weise noch schwieriger umzusetzen (z. B. ist bei Die Feststellung des Bewusstseinszustandes
Handschuhen der Interessenkonflikt zwischen er- (»level of consciousness«, LOC) erfolgt mit der
forderlichem mechanischen Schutz und erhaltenem orientierenden Untersuchung nach dem AVPU-
Gefühl noch höher), haben aber eine noch größere Schema (»Alert – Verbal response – Pain – Unres-
Bedeutung (z. B. Schutzbrillen nicht nur als Spritz-, ponsive«, 7 Kap. 9.3).
sondern auch als ballistischer Schutz).
<C> – Critical Bleeding
Parallel dazu wird nach offensichtlichen Blutungen
8.4.2 Versorgung des Verletzten geschaut. Starke Extremitätenblutungen werden
lageabhängig umgehend mit einer Tourniquet ver-
I – Impression (erster Eindruck) sorgt (7 Kap. 9.2). Welche Intensität eine Blutung
Der erste Eindruck, den man von der Gesamtlage für diese Bewertung haben muss (und ob man sie
hat, mündet in einer zunehmend präziseren Lage- kritisch, massiv oder lebensbedrohlich nennt),
beurteilung. Das gleiche Prinzip setzt sich in hängt von der Lage, der persönlichen Erfahrung
der Arbeit am Patienten fort: Erster Eindruck und und der Routine im Umgang mit einer Tourniquet
Orientierung sind für die Behandlung des Patienten ab. Im Zweifelsfall sollte sie als temporäres Mittel
entscheidend. Impression, persönlicher subjektiver großzügig genutzt werden.
Eindruck und Intuition sowie ein standardisiertes
Vorgehen nach einem Algorithmus helfen auch, K – Kinematik
wichtige Nebenbefunde wahrzunehmen, das kurze Im nächsten Schritt muss der Unfallmechanismus
»feel your own pulse first« verhindert, sich »auf die (»mechanism of injury«, MOI; Kinematik) beurteilt
offensichtlichste Verletzung zu stürzen«. werden. Dies ist u. U. schon ein »Nebenergebnis«
> Die erste Untersuchung und Behandlung des
der Lagebeurteilung. Wenn es sich um Verwundun-
Patienten verfolgt zwei Ziele: die schnelle
gen infolge einer Explosion handelt, ist bereits klar,
Identifikation kritischer Patienten (und dar-
dass man abhängig von Energie und Entfernung das
aus folgend zügiger Transportbeginn, wenn
volle Spektrum der Explosionsverletzungen erwar-
es die Lage erlaubt) sowie die vorrangige
ten sollte. Handelt es sich um eine Schussverletzung,
Behandlung lebensbedrohlicher Probleme.
sind besondere Merkmale der Wundballistik zu be-
achten (7 Kap. 12 und 13). Die Einsatzstelle muss
Mit dieser Grundüberlegung erübrigt sich auch die unter dem Aspekt begutachtet werden, welche Be-
Diskussion über den idealen Umfang der Maßnah- wegungen der Verwundete vollzogen hat und insbe-
men vor Ort. Es geht nicht darum, ob »scoop and sondere welche Kräfte auf ihn gewirkt haben. Dafür
run« oder »stay and play« geeignetere Prinzipien wird der Begriff Kinematik verwendet [13]. Primä-
sind, sondern darum welches Vorgehen für den res Ziel ist es, Anhaltspunkte für die Wahrschein-
jeweiligen Patienten geeigneter ist. In jedem Fall ist lichkeit des Vorliegens bestimmter Verletzungen zu
die möglichst kurze Aufenthaltsdauer vor Ort (»li- sammeln, um daraus Schlussfolgerungen für die
mited scene intervention«) anzustreben. Dennoch Behandlung zu ziehen. Faktoren, die für eine Verlet-
sollte dies bei einer inneren Blutung tatsächlich auf zung der HWS und des Beckens sprechen, haben in
»scoop and run« (und die Durchführung der Maß- diesem Zusammenhang die größte Relevanz, wie in
nahmen während des Transportes) hinauslaufen. 7 Kap. 9.3 eingehend thematisiert wird.
Demgegenüber kann die beste Versorgung z. B. im
Falle einer komplizierten Fraktur des Unterschen- Weitere Versorgung nach ABCDE-Schema
kels ohne jegliche Bedrohung die möglichst scho- Das »ABC-Schema« basiert auf dem leicht zu
nende Reposition nach Erreichen ausreichender merkenden, in immerhin knapp zwei Dritteln der
Analgesie und sorgfältige Schienung (und damit Welt verwendeten lateinischen Alphabet. Eine
mehr oder weniger »stay and play«) sein. In vielen Schwierigkeit beim Erinnern und Abarbeiten ist je-
Fällen wird der »goldene Mittelweg« »treat and go« doch, dass auch die Feststellung des Bewusst-
ideal sein. seinszustandes sowie der Schutz der HWS »A« zu-
124 Kapitel 8 · Grundlagen TCCC
. Tab. 8.1 Vorgehensweise, Schemata und Merkhilfen zur (weiteren) Versorgung des Verletzten
geordnet werden und die Sicherheit als Grundvor- zunehmend Verwendung. Die Bedeutung ist de-
aussetzung »nebenbei erwähnt« wird. Um diese ckungsgleich mit <C>ABCDE.
8 grundlegenden Feststellungen und Maßnahmen zu Beide Merkworte sind gut anwendbar.
strukturieren und die kritische Blutung »rechtzeitig <C>ABCDE ist allerdings zum PHTLS/ATLS-Sys-
zu stillen«, wurde »SICK« entwickelt. tem »vollständig kompatibel«. Verständigungspro-
Das weitere Vorgehen nach ABCDE garantiert, bleme, z. B. im Rahmen der Übergabe im Schock-
dass die neben »<C>« lebensbedrohlichsten Pro- raum (»Der Patient hat ein B-Problem«), sind im
bleme in der richtigen Reihenfolge angegangen wer- Gegensatz zu MARCH damit ausgeschlossen.
den (. Tab. 8.1). Im Detail wird dies im folgenden Die entscheidenden Grundsätze bei der Versor-
Kapitel dargestellt. gung unabhängig vom verwendeten Schema noch
Wie in 7 Abschn. 8.3 dargestellt, müssen mit einmal zusammengefasst:
höchster Priorität diejenigen medizinischen Pro-
»Feel your own pulse first« Fühle den eigenen Puls zuerst
bleme des Verwundeten behandelt werden, die am
»Treat first what kills first«
Behandle zuerst, was zuerst
schnellsten zum Tode führen würden. Massive tötet
Blutungen können innerhalb weniger Minuten zum »Every Erythrocyte counts« Jeder Erythrozyt zählt
Verbluten führen und einmal verlorene Erythrozy- »Identify critical patients« Identifiziere kritische
ten und Gerinnungsfaktoren sind auf dem Ge- Patienten
»Do no further harm« Mach‘ nicht mehr kaputt/
fechtsfeld meist über lange Zeit nicht ersetzbar. Auf
Vermeide Unnötiges
die Kontrolle von starken Blutungen wird daher bei
der taktischen Verwundetenversorgung im Gegen- Die englischen Begriffe und Merkhilfen werden
satz zum zivilen ATLS/PHTLS eine höhere Priorität bewusst verwendet, da auch im Einsatz zunehmend
gelegt, so dass das ABCDE-Schema in jedem Fall im Verbund mit anderen Nationen gearbeitet wird
ergänzt werden muss. Eine andere Möglichkeit der und sie aufgrund der Verbreitung anderer inter-
Darstellung, die unter anderem beim Battlefield Ad- nationaler, präklinischer Versorgungssysteme –
vanced Trauma Life Support (BATLS) eingeführt PHTLS, ITLS (»International Trauma Life
wurde, stellt für »catastrophic hemorrhage« (katas- Support«), ETC (»European Trauma Course«) –
trophale Blutung) ein <C> in eckigen Klammern einen hohen Wiedererkennungswert haben. Außer-
voran [14]. dem treffen die Formulierungen die Kernaussage
Das Merkwort MARCH findet im amerikani- oft präziser, als die deutsche Übersetzung es ver-
schen und neuerdings auch europäischen Raum mag.
Literatur
125 8
Literatur
Leitlinien zur
Verwundetenversorgung
C. Neitzel, K. Ladehof, F. Josse
Literatur – 210
Die Phase »Care under Fire« (Versorgung unter Be- Wird ein Rettungsversuch unternommen, muss vor
schuss, CuF) ist gekennzeichnet durch eine hohe Be- dem Verlassen der Deckung jedem Beteiligten das
drohung. Bei Gefechten handelt es sich dabei meist Vorgehen klar sein. Auch der Verwundete sollte per
um direkten oder indirekten Beschuss ohne ausrei- Zuruf, Funk o. ä. informiert werden. Nicht unmit-
chende Deckung. Aber auch ungesicherte IED-La- telbar an der Rettung beteiligte Elemente sollten
gen, Brände oder Absturzgefahr können schnelles, diese mittels Deckungsfeuer unterstützen (»keine
zielgerichtetes Handeln mit kalkuliertem Risiko zur Bewegung ohne Feuer«). Die Koordination liegt da-
Vermeidung weiterer Ausfälle notwendig machen. bei in den Händen des taktischen Führers vor Ort.
Befindet sich die betroffene Einheit unter effek-
Rettung von Verwundeten
tivem gegnerischem Feuer, rücken die medizini-
schen Maßnahmen in den Hintergrund. Priorität
Verschiedene Techniken zur Rettung aus
hat das Führen des Gefechts, um die eigenen Mög-
dem Gefahrenbereich sowie behelfsmäßige
lichkeiten des Handelns zu erweitern. Zumindest
und industriell gefertigte Rettungsmittel
muss das gegnerische Feuer soweit unterdrückt
werden ausführlich in 7 Kap. 5 beschrieben.
werden, dass die Rettung und Versorgung Ver-
wundeter möglich wird. Insbesondere bei kleineren
Einheiten kann jede verfügbare Waffe für den Aus- Eine Immobilisierung von Wirbelsäule oder Extre-
gang des Gefechts entscheidend sein, sodass auch mitäten hat in der Phase »Care under Fire« keinen
die Feuerkraft der Sanitäter im Rahmen der Selbst- Stellenwert. Sie dauert zu lange und setzt den Ver-
verteidigung wichtig ist. wundeten ebenso wie die Helfer weiter dem gegne-
Nach Möglichkeit sollte es vermieden werden, rischen Feuer aus. Der zu erwartende Nutzen steht
weitere Soldaten durch die Versorgung und Rettung damit im Regelfall in keiner Relation zum Risiko
von Verwundeten zu gefährden. Sind diese selbst- (7 Kap. 8.2 und 7 Abschn. 9.3.2).
9.2 · Care under fire
129 9
. Tab. 9.1 Vergleich der Anwendung von Tourniquets als »temporäre Maßnahme« oder »last resort« (Mittel der
letzten Wahl); TFC »Tactical Field Care«, TEC »Tactical Evacuation Care«
Kurzzeitige Problemlösung, um Zeit für AB(C) zu gewinnen Versagen aller anderen Maßnahmen
Eine Handbreit von Leiste bzw. Achsel entfernt So nah oberhalb der Wunde, wie noch effektiv
(Bei CuF) Zeit »im Hinterkopf« Anlagezeitpunkt notieren (Stirn, Tourniquet, Dokumen-
tationskarte)
zu können. Zur Blutstillung sollte grundsätzlich entsprechend markiert (z. B. rote Sprühfarbe) und
das Tourniquet des Verwundeten genutzt werden. nicht mehr für Ernstfälle genutzt werden.
Vom CoTCCC («Committee on Tactical Combat Ein Tourniquet wird in der Phase CuF (»Care
Casualty Care«) empfohlene Tourniquets – derzeit: under Fire«) so fest angelegt, dass die Blutung zum
CAT (»Combat Application Tourniquet«), SOFTT Stehen kommt. Später muss sichergestellt werden,
(»Special Operations Forces Tactical Tourniquet«), dass der periphere Puls tatsächlich nicht mehr tast-
EMT (»Emergency And Military Tourniquet«) – bar ist [59]. Kann die Blutung mit einem Tourniquet
haben ihre Effektivität bei der Blutstillung in Stu- nicht kontrolliert werden bzw. ist nach Anlage noch
dien nachgewiesen. Tourniquets unterliegen dem ein peripherer Puls tastbar, sollte ein zweites Tour-
Verschleiß, werden durch UV-Licht spröde und niquet neben dem ersten (möglichst auf der dem
sind im Regelfall Einwegprodukte. Für Ausbildung Körperstamm zugewandten Seite) angelegt werden
und Übung verwendete Tourniquets sollten daher (. Abb. 9.3) [12]. Dies ist insbesondere bei der An-
. Abb. 9.3 Insuffiziente improvisierte Tourniquets wurden durch proximale Anlage von je einem CAT ergänzt. (Aus [59])
132 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung
> Wird der Verwundete beim Öffnen eines Atemwege zu lange, um dies unter effektivem feind-
Tourniquets kreislaufinstabil, besteht der lichem Feuer durchzuführen. Schockbedingte Be-
Verdacht auf ein Tourniquet-Syndrom. wusstseinsstörungen hingegen sind symptomatisch
Präklinisch sollte dieses symptomatisch für einen massiven Blutverlust und sollten die Blut-
mit Infusionstherapie, Sauerstoff und ggf. stillung zunächst in den Fokus rücken. Ist ein Frei-
Katecholaminen therapiert werden. halten der Atemwege zwingend notwendig, und die
taktische Lage erlaubt dies, kann ggf. ein Wendl-
Tubus eingelegt oder der Bewusstlose bei ausrei-
9.2.3 Atemwegsmanagement chender Deckung in Seitenlage positioniert werden.
Mit weiterführenden Maßnahmen sollte bis zum
Atemwegsmanagement in der heißen Zone erfor- Erreichen sicherer Deckung (Phase »Tactical Field
dert in der Regel zu viel Zeit und verlängert dadurch Care«) gewartet werden.
die Gefährdung für Verwundeten und Helfer.
Atemwegsverlegungen sind auf dem Gefechtsfeld
meist durch Bewusstseinsstörungen aufgrund eines 9.3 »Tactical Field Care« (. Abb. 9.6)
schweren SHT (z. B. durch Kopfschuss), fortge-
schrittenen Schock oder durch ein direktes Trauma Die Phase »Tactical Field Care« (TFC) beginnt,
der Atemwege bedingt. Während schwere Verlet- sobald eine sichere Deckung erreicht wird und kein
zungen im ZNS-Bereich ohnehin eine schlechte wirksames gegnerisches Feuer mehr zu erwarten ist.
Prognose haben und eine erhebliche Gefährdung Dies kann hinter dem Schutz einer Mauern, hinter
von Rettern nicht rechtfertigen, dauert die Atem- einem oder im Inneren eines geschützten Fahr-
wegssicherung bei ausgedehntem Trauma der zeugs, in einem Straßengraben oder in einem ge-
9.3 · »Tactical Field Care«
135 9
sicherten Gebäude der Fall sein. Die eingesetzten Sauerstoff steht in dieser Phase meist nicht zur
Helfer müssen dabei durch andere Kräfte gesichert Verfügung, da Druckgasflaschen zu schwer, sperrig
werden, um sich auf die Versorgung konzentrieren und aufgrund der Explosionsgefahr zu gefährlich
zu können. Die Art der vom Gegner eingesetzten sind, um sie im Rucksack unter Gefechtsbedingun-
Waffen und Munition spielt eine wesentliche Rolle gen mitzuführen. Unter manchen Bedingungen
bei der Beurteilung, welche Deckung ausreichend kann die Mitführung von chemischen Sauerstoffer-
ist. So ist der Innenraum eines Transportpanzers zeugern sinnvoll sein. Nähere Erläuterungen zur
bei Beschuss mit Panzerfäusten nicht als sichere Thematik finden sich in 7 Abschn. 9.4.
Deckung zu werten, da Panzerabwehrhandwaffen Der Transport von Verwundeten kann in der
Schutzausstattung dieser Kategorie für gewöhnlich Phase TFC koordinierter und unter Einsatz von
durchdringen können. effektiveren Hilfsmitteln erfolgen. Normale Feld-
Der schnelle Abtransport des Patienten kann krankentragen sind meist nicht verfügbar, da sie
jederzeit notwendig werden, z. B. durch vorzeitig auch zusammengeklappt aufgrund ihrer Länge,
eintreffende Hubschrauber oder Nachsetzen des außer in Sanitätsfahrzeugen, nur schwer mitgeführt
Gegners. So früh wie möglich sollte daher eine ge- werden können. Ausführlichere Darstellung der
eignete Tragehilfe unter dem Patienten positioniert Thematik Verwundetentransport 7 Kap. 5.
werden (z. B. Bergetuch), um ihn im Bedarfsfall so- > Wichtig ist, dass überall innerhalb der Einheit
fort bewegen zu können. Außerdem ist es sinnvoll, ausreichend Tragehilfen für den Verwundeten-
immer nur das Material aus dem Rucksack zu ent- transport vorhanden sind und sie nicht erst
nehmen, das in diesem Moment auch tatsächlich herangeführt werden müssen.
gebraucht wird, und ihn sofort wieder zu verschlie-
ßen. Grundsätzlich sollte zu jedem Zeitpunkt eine Daher sollte im aufgesessenen Einsatz pro Fahrzeug
Verlegebereitschaft innerhalb von 2 min hergestellt und im abgesessenen Einsatz pro Trupp mindestens
werden können. eine Tragehilfe mitgeführt werden. Während zur
Lebensbedrohliche Blutungen sollten bereits Nutzung auf Fahrzeugen Falttragen oder auch
während der Phase »Care under Fire« versorgt wor- außen angebrachte Spineboards sinnvoll sind,
den sein. Der Erfolg der Maßnahmen muss nun haben sich am Mann insbesondere leichte Berge-
kontrolliert werden, und noch nicht gestillte starke tücher (z. B. Poc-Kit Stretcher, Fa. Combat Medical)
Blutungen unter Kontrolle gebracht werden. Sind oder Schleiftragen (z. B. Foxtrott Litter) außer-
lagebedingt massive Extremitätenblutungen bisher ordentlich bewährt.
noch nicht gestillt, sollten diese zunächst schnellst-
möglich mit einem Tourniquet gestoppt werden.
Auf nicht unmittelbar lebenswichtige Interventio- 9.3.1 Körperliche Untersuchung
nen sollte nach Möglichkeit verzichtet werden, wenn
sie den Abtransport zu chirurgischen Behandlungs- Die körperliche Untersuchung des Patienten folgt
einrichtungen verzögern und es sich um lebensbe- einem festen Ablauf, um stressresistent das Erken-
drohliche Verwundungen handelt (»critical pa- nen und Behandeln lebensbedrohlicher Zustände in
tients«) [59]. Erfordert es die taktische Lage, kann der Reihenfolge ihrer Bedrohlichkeit zu ermöglich
die medizinische Versorgung sich auch darauf be- (»treat first what kills first«). Die Untersuchung
schränken, einen Verwundeten schnellstmöglich folgt daher dem <C>ABCDE-Schema, und jedes
einem Fahrzeug oder Hubschrauber zuzuführen erkannte Problem wird behandelt. Die körperliche
und zu evakuieren [27]. Dies gilt insbesondere für Untersuchung wird aufgeteilt in eine »erste Unter-
unkontrollierbare (innere) Blutungen. suchung« (»initial assessment«) und eine »einge-
Patienten mit Bewusstseinsveränderung (z. B. hende Untersuchung und Behandlung« (»rapid
durch Schock, Analgetika) sollten umgehend ent- trauma assessment«).
waffnet werden, um eine Selbst- und Fremdgefähr- Die »erste Untersuchung« soll schnell und ziel-
dung auszuschließen. Dies umfasst auch Spreng- gerichtet unmittelbar lebensbedrohliche Zustände
und Kampfmittel. (z. B. spritzende Blutung, Atemwegsverlegung, Span-
136 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung
nungspneumothorax) erkennen und therapieren hel- durch Bewusstlosigkeit verursacht [40]. Während
fen. Sobald ein liegender Patient zur Inspektion des traumatische Ursachen und Schwellungen im Be-
Rückens dabei auf die Seite gedreht wird, sollte vor reich der Atemwege regelmäßig eine Koniotomie
dem Zurückdrehen eine Transportmöglichkeit (z. B. erforderlich machen, ist bei Atemwegsverlegungen
Tragetuch) und eine Isolationsschicht zum Wär- infolge nachlassendem Muskeltonus und vermin-
meerhalt (z. B. Rettungsdecke, Isomatte) untergelegt derter Schutzreflexe durch Bewusstseinsstörungen
werden. Ist eine genauere Untersuchung der Körper- häufig die einfache Einlage eines Wendl-Tubus oder
rückseite in der Lage nicht möglich, sollte diese zu- eine stabile Seitenlagerung lebensrettend und ange-
mindest mit den Händen abgefahren werden, um sichts der besonderen Situation im Gefecht ange-
Blutungen zu entdecken (»blood sweep«). Die rele- messen. Insbesondere bei Blutungen oder Erbro-
vanten Krankheitsbilder, Befunde und Therapieopti- chenem im Rachenraum kann bei Bewusstlosen die
onen werden in diesem Kapitel eingehend erläutert. stabile Seitenlage bis zur Verfügbarkeit einer Absau-
Die »eingehende Untersuchung und Behand- gung die wesentliche lebensrettende Maßnahme
lung« erfolgt entweder unmittelbar im Anschluss an sein.
die »erste Untersuchung« oder zum nächstmögli- Neben diesen einfachen Maßnahmen sind im
chen Zeitpunkt. Dabei ist besonderer Wert auf eine taktischen Umfeld supraglottische Atemwegs-
gründliche und vollständige Untersuchung und Be- hilfsmittel, insbesondere der Larynxtubus, eine
handlung aller Befunde zu legen (»from head to toe, gute Option. Auch mit ihnen sollte der Anwender
treat as you go«). Besonders häufig werden aufgrund jedoch im Regelfall eine ausreichende Handlungssi-
von nicht sorgfältig durchgeführten Untersuchun- cherheit im klinischen Umfeld erworben haben. Die
9 gen Blutungen im Bereich des Schritts, Genitals oder klassische endotracheale Intubation hat insbeson-
Gesäßes übersehen. Gerade im taktischen Umfeld dere aufgrund des hohen Ausbildungsaufwandes
mit schlechten Überwachungsmöglichkeit und Ein- eine eher nachgeordnete Bedeutung. Bei den häufig
hüllen des Patienten zur Hypothermieprophylaxe eine Atemwegssicherung notwendig machenden
gehen bei längeren Evakuierungszeiten auch bei un- Verletzungen der Atemwege ist eine Intubation auf-
erkannten Sickerblutungen schnell größere Blut- grund von massiver Blutung, Gewebsfetzen und
mengen verloren. Gleiches gilt für Blutungen im zerstörter anatomischer Merkmale gerade für den
Fußbereich, die aufgrund der Blutansammlung im Unerfahrenen regelmäßig sehr schwierig. Hier kann
Stiefel häufig längere Zeit verborgen bleiben. Die für den geübten Anwender die Videolaryngoskopie
Stiefel sollten daher immer ausgezogen oder zumin- die Erfolgschance unter den ohnehin schwierigen
dest eine Finger bis zur Fersenkappe in den Stiefel Bedingungen deutlich verbessern.
gesteckt und auf Blut kontrolliert werden. Das Gesäß Bisher ist nicht nachgewiesen, dass die Intubati-
sollte wenn möglich entkleidet werden und der on beim Thoraxtrauma ohne respiratorische Insuf-
Schritt zumindest durch Tasten überprüft werden. fizienz eine verbesserte Prognose bewirkt [15]. Bei
Der Ablauf der Untersuchungen ist auf den ent- respiratorischer Insuffizienz, z. B. aufgrund eines
sprechenden Taschenkarten detailliert aufgeführt Thoraxtraumas, ist die endotracheale Intubation
(. Abb. 9.7) (Download unter: http://www.trema- zur Optimierung der Ventilation dagegen klar indi-
online.info/download.html). ziert. Alternativ kann aber auch eine Koniotomie
erfolgen, wenn die endotracheale Intubation nicht
verfügbar ist. Da supraglottische Atemwegshilfs-
9.3.2 Atemwegsmanagement mittel einfach anzuwenden und häufig ausreichend
und HWS-Immobilisierung sind, und ein Instrumentarium zur Koniotomie als
(. Abb. 9.8) alternativlose letzte Option beim schwierigen
Atemweg ohnehin unverzichtbar ist, muss in Ab-
Atemwegsverlegungen auf dem Gefechtsfeld sind hängigkeit von Ausbildungsstand, Auftrag, Lage
bei den Patienten nahezu ausschließlich durch Ge- und sonstiger Ausrüstung die Notwendigkeit zum
sichts- und Halsverletzungen bei Schuss- oder Ex- Mitführen von Intubationsinstrumentarium indivi-
plosionsverletzungen, Inhalationstrauma [59] oder duell beurteilt werden.
9.3 · »Tactical Field Care«
137 9
. Abb. 9.7 Taschenkarte »Initial Assessment« und »Rapid Trauma Assessment«, Stand 2012. (TREMA e.V.)
138 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung
A Airway (Atemwegsmanagement)
> Die Intubation bietet sich als Verfahren an, Pharyngeale Atemwegshilfsmittel
wenn der Anwender einen hohen Ausbil- Nasopharyngealtuben (NPA, Wendl-Tubus) oder
dungsstand hat, ausreichend Kräfte für das Oropharyngealtuben (OPA, Guedel-Tubus) verhin-
Beatmen des Verwundeten und das Tragen dern eine Atemwegsverlegung durch ein Zurück-
des beatmeten Verwundeten sowie eine sinken des Zungengrundes beim bewusstlosen
Möglichkeit zum Liegendtransport vorhan- Patienten. Sie eignen sich daher hervorragend zur
den sind, adäquate Überwachungsmöglich- Verwendung bei Patienten mit Bewusstseinsstörun-
keiten bestehen und eine Beatmungsmög- gen, nicht aber zur Sicherung der Atemwege bei
lichkeit mit einer ausreichend langen Durch- Atemwegsverlegungen durch Verletzungen im
haltefähigkeit verfügbar ist. Kopf-Hals-Bereich oder Inhalationstrauma. Aus
grundsätzlichen Erwägungen kontraindiziert ist der
Die zur Intubation notwendige Narkoseeinleitung Nasopharyngealtubus, wenn Brillenhämatom, Li-
zieht zwingend eine Beatmung nach sich, die nicht quoraustritt oder stärkere Blutungen aus Ohr oder
nur hohe logistische Anforderungen hinsichtlich Nase auf ein Schädel-Hirn-Trauma mit Beteiligung
der Durchhaltefähigkeit (Sauerstoffvorrat!) von Be- der Schädelbasis hinweisen, um eine mögliche int-
atmungsgeräten stellt, sondern auch stets Helfer razerebrale Fehllage zu vermeiden. Stehen keine
durch den aufwändigeren Transport und die konti- Alternativen zur Verfügung, kann die Anwendung
nuierlich notwendige Überwachung bindet. Es be- beim SHT aber in Einzelfällen sinnvoll sein. Darü-
stehen darüber hinaus wissenschaftliche Hinweise ber hinaus bieten pharyngeale Atemwegshilfmittel
darauf, dass eine präklinische Beatmung bei Patien- keinerlei Schutz vor Aspiration von Erbrochenem
9 ten im Schock deren Prognose verschlechtern oder Blut. Im Vergleich zum Guedel-Tubus wird der
könnte. Als Ursache wird eine Verminderung des Wendl-Tubus auch von somnolenten (»verbal«)
venösen Rückstroms zum Herzen durch beat- und soporösen (»pain«) Patienten meist gut tole-
mungsbedingte intrathorakale Druckerhöhung ver- riert und sollte daher bevorzugt werden. Die Einla-
mutet [15]. Ist sie daher nicht absolut indiziert (z. B. ge von Wendl-Tuben kann in trockenem, staubigem
Apnoe, Hypoventilation), sollte die Indikation zur Klima aufgrund der meist ausgetrockneten Nasen-
Einleitung einer Narkose und Beatmung im takti- schleimhäute schwieriger sein. Eine ausreichende
schen Umfeld generell zurückhaltend gestellt wer- Benetzung mit geeignetem Gleitmittel ist daher be-
den. In manchen Fällen, wie z. B. nach Atemwegssi- sonders wichtig. In taktischen Lagen kann zur Be-
cherung mittels Koniotomie, kann lageabhängig schleunigung der Maßnahmen in Notfällen auch
beim spontan atmenden Patienten der Verzicht auf Speichel als Gleitmittel verwendet werden. Aus In-
eine Narkoseeinleitung und Beatmung auch vertret- fektionsschutzgründen sollte dieser nach Möglich-
bar und taktisch sinnvoller sein. keit vom Verwundeten stammen.
Die Gefahr einer Tubusfehllage in Hypopha-
rynx oder Ösophagus hat im taktischen Umfeld Koniotomie (. Abb. 9.9)
aufgrund der erschwerten Überwachung besondere Gerade Verletzungen von Gesicht und Hals erfor-
Bedeutung. Da Patienten häufig ohne besondere dern häufig eine Koniotomie zur Sicherung der
Vorsicht bewegt werden müssen, besteht ein deut- Atemwege [59]. Bei penetrierenden Halsverletzun-
lich erhöhtes sekundäres Dislokationsrisiko. Da sie gen ist die frühzeitige definitive Sicherung der
die gefährlichste Komplikation einer endotrachea- Atemwege durch endotracheale Intubation oder
len Intubation oder Koniotomie ist [15], sinngemäß Koniotomie wichtig, da Hämatome schnell die Luft-
aber auch auf supraglottische Hilfsmittel übertragen wege verlegen können [40, 43]. Ähnliche Probleme
werden kann, ist die Nutzung eines kompakten und kann ein Inhalationstrauma verursachen [59].
leichten Kapnometers (z. B. Easy Cap II, Fa. Nellcor; Die Koniotomie ist die weltweit anerkannte
EMMA, Fa. phasein) empfehlenswert. Es erlaubt die »ultima ratio« des sonst nicht beherrschbaren
laufende Kontrolle der korrekten Tubuslage, z. B. Atemweges [43]. Auf ein Koniotomie-Set, gleich
auch während der Patient über längere Strecken ge- welcher Technik, darf somit nicht verzichtet werden.
tragen wird. Im taktischen Umfeld wird daher häufig zugunsten
9.3 · »Tactical Field Care«
141 9
von Wendl-Tubus, supraglottischem Atemweg und auch gegeben sein, wenn eine endotracheale Intuba-
einem chirurgischen Koniotomie-Set auf Material tion nicht möglich ist (z. B. bei ausgedehnten Verlet-
zur endotrachealen Intubation verzichtet. zungen, nicht vorhandenem Intubationsbesteck
Aufgrund der eingeschränkten Ressourcen und etc.) und die Atemwegssicherung mittels supraglot-
des Zeitbedarfs sollte eine Bewusstlosigkeit alleine tischer oder pharyngealer Atemwegshilfsmittel
unter taktischen Gegebenheiten keine Indikation nicht ausreichend erscheint [43, 23].
zur Durchführung einer Koniotomie darstellen Die Durchführung einer Koniotomie ist in chir-
[12]. Andererseits ist im taktischen Umfeld eine de- urgischer Technik oder mittels entsprechender
finitive Atemwegssicherung aufgrund der häufig Punktionssets möglich. Beide Varianten weisen Vor-
rauen Transportbedingungen und der einge- und Nachteile auf. Grundsätzlich sollte die Technik
schränkten Überwachungsmöglichkeiten anzustre- gewählt werden, die erlernt wurde und beherrscht
ben. Eine Indikation zur Koniotomie besteht daher wird. Sie sollte innerhalb einer Einheit standardisiert
nicht nur, wenn mit anderen Hilfsmitteln eine ad- sein, um Material austauschen zu können.
äquate Oxygenierung nicht sichergestellt werden Der Zeitbedarf für eine Koniotomie in chirurgi-
kann. Die relative Indikation zur Koniotomie kann scher Technik wird, je nach Ausbildungsstand, mit
142 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung
30–180 s angegeben [43]. Eigene Erfahrungen vorne und fußwärts gezogen und so eine ausrei-
und Berichte aus den aktuellen Konflikten zeigen, chend große Öffnung zur Einlage des Tubus erzeugt
dass eine chirurgische Koniotomie bei häufigem wird (. Abb. 9.12).
Üben am (Tier-)Modell auch unter Beschuss regel- Als Provisorium kann der Skalpellgriff quer in
mäßig in unter einer Minute durchgeführt werden die Öffnung eingeführt und zum Spreizen um 90°
kann [59]. gedreht werden, wodurch sich im Regelfall aus-
Die im TREMA-e.V.-Algorithmus empfohlene reichend Platz zum Einführen des Tubus gewinnen
Vorgehensweise entspricht der in der Literatur be- lässt.
schriebenen »Rapid-four-step-Technik« [44] und ist Wie bei allen Koniotomietechniken kann es zu
erfahrungsgemäß einfach zu erlernen und anzuwen- Blutungen und Verletzungen verschiedener Struk-
den (. Abb. 9.10). Der vertikale Hautschnitt mindert turen kommen. Besonders gefährdet sind Larynx,
die Gefahr der Verletzung der lateral der Trachea Trachea, Ösophagus und Schilddrüse [43]. Insbe-
verlaufenden Gefäß-Nerven-Bündel und erleichtert sondere die möglichen ausgeprägten und häufig
gleichzeitig das Auffinden der Membrana cricothy- schwer zu kontrollierenden Blutungen sind bei
roidea [43]. Nach Durchtrennung der Membran chirurgischen Eingriffen im Halsbereich sehr ge-
kann die Öffnung mittels Gefäßklemme oder Na- fürchtet und können auch bei der Koniotomie
senspekulum aufgehalten werden (. Abb. 9.11). Als auftreten. Als Normvariante verfügen manche
Alternative haben sich Trachealhaken (»cric hook« Menschen über einen zusätzlichen Schilddrüsen-
bewährt, mit deren Hilfe der Ringknorpel nach lappen, den Lobus pyramidalis (. Abb. 9.13). Dieser
9.3 · »Tactical Field Care«
143 9
a b
c d
. Abb. 9.11a–d Die chirurgische Koniotomie am Leichenpräparat. a Längsschnitt über dem Kehlkopf. b Aufsuchen der
Membrana cricothyreoidea zwischen Kehlkopf und Ringknorpel. c Querdurchtrennung der Membran. d Nasenspekulum als
Einführhilfe. (Fotos: F. Josse)
a b
c d
. Abb. 9.14a–d Seldinger-Technik zur Erleichterung des Einführens bei schwieriger Anatomie. a Ertasten der hohlen Trachea
mit dem Finger. b Einführen des Führungsstabes entlang des Fingers, dabei Kontrolle der intratrachealen Lage. c Vorschieben
des Tubus über den Führungsstab. d Festhalten des Tubus und Herausziehen des Führungsstabes. (Fotos: F. Josse)
Supraglottische Atemwegshilfsmittel
Als supraglottische Atemwege im Notfall werden
Larynxmasken, Kombitubus und Larynxtubus
empfohlen. Sie sind im Vergleich zur endotrachea-
len Intubation in der Regel einfacher erfolgreich zu
platzieren [17]. Auch wenn supraglottische Atem-
. Abb. 9.15 Im Gegensatz zum starren herkömmlichen
Intubations-Führungsstab hat der elastische Führungsstab
wegshilfsmittel keine definitive Sicherung der
eine atraumatische Spitze und reduziert so das Risiko für Atemwege auf dem Niveau einer endotrachealen
extratracheale Tubuslagen. (Fotos: F. Josse) Intubation sicherstellen, bieten sie doch einen ge-
146 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung
wissen Aspirationsschutz, insbesondere bei Blutun- weisen meist, bezogen auf Körpergröße und -ge-
gen im Nasen-Rachen-Raum [59]. Die Möglichkeit wicht des Patienten, eine hohe Anwendungsbreite
zur Platzierung einer Magensonde (z. B. LTS/LTS II, auf und verringern damit den Umfang des mitzu-
Fa. VBM) verringert das Risiko von durch Erbre- führenden Materials. Wichtig ist, dass die Hilfsmittel
chen bedingter Aspiration erheblich [17]. beim Füllen des Cuffs nicht festgehalten werden, um
Die Wahl zwischen Larynxmaske oder -tubus sich richtig platzieren zu können [17]. Der Combitu-
sollte sich in erster Linie an dem Ausbildungs- und bus ist aufgrund seiner Rigidität und der daraus
Erfahrungsstand mit dem jeweiligen Hilfsmittel resultierenden Verletzungsgefahr und der notwen-
orientieren. Die Möglichkeit eines »blinden« Ein- digen tiefen Bewusstlosigkeit oder Narkose nicht
führens erleichtert das Arbeiten ohne Licht, was optimal geeignet. Die Verwechslungsgefahr bei je-
gerade beim Versorgen in Dunkelheit vorteilhaft ist, weils zwei unabhängigen Konnektoren für den Beat-
und verringert die notwendige Vorbereitungszeit mungsbeutel und zwei Cuffs zum Blocken machen
erheblich, was hypoxämische Phasen reduzieren ihn als Hilfsmittel für den Unerfahreneren nach
hilft. Larynxmasken und insbesondere -tuben Meinung der Autoren weniger empfehlenswert.
9.3 · »Tactical Field Care«
147 9
Die aufgrund der Besonderheiten des takti- durchschnittlich 5,5 min angegebenen Zeitbedarfs
schen Umfelds (z. B. häufige Positionsänderungen, [45] entstehende Gefährdung für Helfer und Patient
Versorgung von Verwundeten durch einen einzel- steht insbesondere in der Phase »Care under Fire«
nen Helfer, Belassen des Schutzhelms mit Kinnrie- in keinem Verhältnis zum Nutzen [8]. Nach Mög-
men am Patienten) häufig schwierige Maskenbeat- lichkeit sollte sie zu einem späteren Zeitpunkt,
mung kann durch die Verwendung supraglottischer nachgeholt werden. Bei penetrierenden Halsverlet-
Atemwegshilfen in vielen Fällen ersetzt werden. zungen kann die Anlage einer Halskrause über
einem Verband zur Blutstillung durch zusätzlichen
Tipp
Druck und Immobilisierung beitragen.
Ist ein stumpfer oder kombiniert penetrierend-
Ein VBM-Larynxtubus LTS/LTS II der Größe 4 ist
stumpfer Verletzungsmechanismus gegeben (z. B.
für die Anwendung bei Patienten mit Körper-
IED-Anschlag, Verkehrsunfall), sollte aufgrund der
größe 155–180 cm zugelassen. Das Modell LTS II
dabei häufig auftretenden Wirbelsäulenverletzun-
verfügt darüber hinaus über einen Einfüh-
gen dagegen immer eine adäquate Immobilisation
rungskanal für das problemlose Legen einer
erfolgen, wenn die Lage dies zulässt [12]. Im Zwei-
Magensonde. Dieses und ähnliche Modelle an-
felsfall müssen Risiko und Nutzen gegeneinander
derer Hersteller decken damit nahezu alle Er-
abgewogen werden [45]. Neben den handels-
fordernisse in der taktischen Notfallmedizin ab.
üblichen Modellen zur HWS-Immobilisierung
(z. B. Stiffneck, Fa. Laerdal oder X-Collar, Fa. Next)
kann auch eine improvisierte Zervikalstütze aus
Immobilisierung einem um den Hals gewickelten SAM-Splint herge-
Beim Polytraumapatienten wird gemäß ziviler Leit- stellt werden.
linien bis zum Beweis des Gegenteils immer von > Bei einem Verwundeten mit schwerem
einer HWS-Verletzung ausgegangen, sodass eine stumpfem Schädel-Hirn-Trauma sollte von
prophylaktische HWS-Immobilisierung obligato- einer begleitenden HWS-Verletzung ausge-
risch ist [55]. Hierbei handelt es sich aber nahezu gangen werden. Sofern die Lage dies zulässt,
ausschließlich um Patienten mit stumpfem Verlet- sollte daher eine Immobilisierung erfolgen.
zungsmechanismus. Bei Gefechtshandlungen kom- Die Zervikalstütze darf dabei aber nicht zu
men dagegen häufig Patienten mit penetrierendem eng angelegt werden, um eine Hirndruck-
Trauma der Wirbelsäule vor. Schon Studien im steigerung durch Verschlechterung des venö-
Vietnamkrieg haben gezeigt, dass nur 1,4 % der Pa- sen Abflusses zu vermeiden.
tienten mit penetrierenden Halsverletzungen von
einer HWS-Immobilisation profitiert hätten [3].
Ebenso sind bei Schussverletzungen des Kopfes
schwere begleitende HWS-Verletzungen durch 9.3.3 Brustkorb und Atmung
Schleudertrauma eher selten [45]. Darüber hinaus (. Abb. 9.17)
verdichten sich Studienergebnisse, dass bei pene-
trierendem Wirbelsäulentrauma eine Immobilisie- Penetrierende Thoraxverletzungen
rung nicht nur Nutzen für den Patienten hat, son- Penetrierende Thoraxverletzungen werden im
dern (z. B. wegen Zeitverlust durch Immobilisa- taktischen Umfeld im Regelfall durch Schuss-,
tionsmaßnahmen) sogar die Sterblichkeit erhöhen Splitter- oder Stichverletzungen verursacht. Die
kann [21]. Aufgrund dessen wird im militärischen Pathomechanismen werden in 7 Kap. 12 und 13 be-
Bereich bei penetrierenden Wirbelsäulenverletzun- handelt.
gen zunehmend auf Immobilisationsmaßnahmen Beim penetrierenden Thoraxtrauma liefern
zugunsten einer schnellen Evakuierung verzichtet, Ein- und ggf. Austrittswunde nur bedingt Hinweise
zumal diese häufig sehr aufwändig sind und die auf das wahre Ausmaß der intrathorakalen Verlet-
Helfer massiv gefährden können. Die aufgrund des zung. So kann auch bei kleinen Ein- und Austritts-
für eine adäquate Immobilisierung der HWS mit wunden ein erheblicher Schaden an den im Brust-
148 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung
B Breathing (Atmung/Brustkorb)
. Abb. 9.18 Links: Ein Okklusivverband (»chest seal«) verhindert das Eindringen von Luft durch die Thoraxwunde in der In-
spiration. Dadurch wird eine Restventilation des kollabierten Lungenflügels erzielt. Mitte: Pendelatmung bei penetrierendem
Thoraxtrauma. Rechts: Spannungspneumothorax. Bei Inspiration dringt Luft durch die Wunde ein, bei Exspiration verhindert
ein Ventilmechanismus das Ausströmen
weniger Fläche für den alveolären Gasaustausch zur fäßverletzung eine Ansammlung von Blut im
Verfügung steht. Übersteigt die Wundöffnung in Pleuraspalt, spricht man vom Hämatothorax. Die
der Thoraxwand einen Durchmesser von ca. 2 cm, Unterscheidung von Pneumothorax und Häma-
wird der betroffene Lungenflügel beim Atmen tothorax ist präklinisch von nachgeordneter Wich-
nahezu nicht mehr belüftet, und es entsteht eine tigkeit. Sie ist ohnehin nur durch eine gewissenhafte
Pendelatmung (Syn.: Mediastinalflattern) durch Perkussion möglich, die bei Umgebungslärm
Hin- und Herbewegung des Mediastinums zwi- schwierig ist [53].
schen beiden Lungenflügeln. Dadurch werden die Patienten mit Thoraxverletzung, die bei Be-
noch entfaltete Lunge der Gegenseite und die obere wusstsein sind, nehmen meist spontan eine Schon-
und untere Hohlvene in ihrer Funktion beeinträch- haltung ein, die nach Möglichkeit belassen werden
tigt (. Abb. 9.18 Mitte). Bei kleineren Löchern bleibt sollte. Toleriert der Verwundete eine Positionsände-
eine gewisse Restventilation der betroffenen Lun- rung, empfiehlt sich die atmungserleichternde La-
genseite bestehen, da der Widerstand für die ein- gerung sitzend oder mit hochgelagertem Oberkör-
strömende Luft in der Trachea geringer als durch per. Bei Bewusstlosigkeit sollte der nichtbeatmete
das Loch in der Thoraxwand ist [45]. Patient in der stabilen Seitenlage auf der verletzten
Als besonders gefährliche Form des Pneumo- Thoraxseite gelagert werden, um eine optimale Ent-
thorax kann gerade bei kleineren Löchern durch faltung und Belüftung der unverletzten Seite zu
einen Ventilmechanismus ein Spannungspneumo- ermöglich. Diese Seite wird aufgrund der guten Be-
thorax entstehen (s. unten). Verursacht eine Ge- lüftung dann auch am besten perfundiert (Euler-
150 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung
. Abb. 9.19 Durch Blut verschmutzte Ventile eines Bolin Chest Seal mit fraglicher Effektivität. Die Blutansammlungen unter
der Klebefläche deuten auf eine teilweise Ablösung hin, die fast den Rand des Pflasters erreicht. (Foto: F. Josse)
9
Liljestrand-Reflex) und somit der bestmögliche Überdrucks garantieren sollen. Da die Ventile häufig
Gasaustausch in der Lunge sichergestellt. durch Blut verstopft und nicht mehr funktionsfähig
Zur standardisierten Versorgung von penetrie- sind und ihre Wirksamkeit generell bisher nicht
renden Thoraxverletzungen haben sich Okklusivver- nachgewiesen ist, waren sie zwischenzeitlich von ge-
bände (»chest seals«) durchgesetzt. Es handelt sich ringerer Bedeutung (. Abb. 9.19) [45]. Weil aktuell
um Klebeverbände, die die Wunde luftdicht ver- sehr gut haftende Okklusivverbände mit Ventilme-
schließen. Sie machen aus einem offenen einen ge- chanismus marktverfügbar sind, werden sie auf-
schlossenen Pneumothorax. Bei Löchern größeren grund theoretischer Überlegungen wieder als Ver-
Durchmessers wird so eine gewisse Ventilation des sorgungsstandard empfohlen. Der sicheren Haftung
betroffenen Lungenflügels bewirkt und eine Pendel- des Okklusivverbandes an der Haut kommt aber die
atmung wirkungsvoll verhindert. Gerade bei spontan höchste Priorität zu, so dass im Zweifelsfall dem si-
atmenden Patienten kann dadurch eine wesentliche cher abdichtenden Verband auch ohne Ventil der
Verbesserung der Atmung erreicht werden (. Abb. Vorzug gegeben werden sollte. Eine möglichst durch-
9.18 links). Außerdem werden die erkannten Ein- und gehende Überwachung ist für frühes Erkennen und
Austrittswunden für die spätere Weiterbehandlung rasche Therapie eines möglicherweise (erneut) ent-
deutlich sichtbar markiert. Luftdichte Okklusivver- stehenden Spannungspneumothorax, wie bei jedem
bände bieten darüber hinaus den Vorteil, dass sie bei Patienten mit penetrierender Thoraxverletzung, be-
Wunden kleineren Durchmessers einen durch einen sonders wichtig (. Abb. 9.20).
Ventilmechanismus an der Thoraxwand verursach-
ten äußeren Spannungspneumothorax sicher verhin- > Da sich die Ausdehnung der Brustkorbhöhle
dern. Da aber meist auch eine Lungenverletzung mit durch die Atmung laufend verschiebt, sollten
Verbindung zu den Atemwegen und einem mögli- alle penetrierenden Verletzungen oberhalb
chen Ventilmechanismus vorliegt, erhöht der luft- des Bauchnabelniveaus und unterhalb des
dichte Verschluss der Brustkorbwunden andererseits Kehlkopfes inkl. des Schulterbereiches als
die Gefahr eines inneren Spannungspneumotho- mögliches penetrierendes Thoraxtrauma be-
rax. Manche Modelle verfügen daher über Ventile, handelt und mit luftdichten Verbänden ver-
die in diesem Fall theoretisch den Ausgleich des sorgt werden.
9.3 · »Tactical Field Care«
151 9
haltefolie bewährt. Letztere kann bei sehr geringem
penetrierende Thoraxverletzung Packmaß und -volumen große Flächen abdecken
und ist daher optimal für die Versorgung multipler
Thoraxwunden geeignet, kann aber bei zu fester
Okklusivverband zirkulärer Wicklung die Atmung oder Beatmung be-
Vier-/Drei-Seitenverband, Asherman, Bolin etc. hindern. Sie ist zudem gut geeignet für die Versor-
gung von Thoraxverletzungen beim Diensthund
Assessment (7 Kap. 23) und kann im Notfall auch als Provisorium
zur Abdeckung großflächiger Wunden, z. B. Verbren-
Atemnot – Zyanose – Unruhe nungen, eingesetzt werden. Sowohl Hydrogelfolie, als
fehlendes Atemgeräusch auf der betroffenen Seite
Tachypnoe – Atemfrequenz > 30/min
auch Frischhaltefolie sind nicht als Medizinprodukte
Hypotonie – RR syst. < 80 (radial nicht tastbar) zugelassen und dürfen daher theoretisch nicht zur
Tachykardie HF > 100/min Behandlung am Menschen eingesetzt werden. An-
(zunehmende Verschlechterung / »C-Problem«) dere Möglichkeiten zum luftdichten Verschluss bie-
als Spätzeichen Hautemphysem / gestaute Halsvenen /
verschobene Trachea
ten (jodhaltige) Fettgaze (z. B. Inadine, Betaisodona-
Wundgaze) oder Defibrillatorelektroden.
Spannungspneumothorax
Entlastungspunktion
Ein Spannungspneumothorax entsteht aus einem
. Abb. 9.20 Leitlinie penetrierende Thoraxverletzung Pneumothorax, wenn während der Inspiration in
den Pleuraspalt eingeströmte Luft bei der Ausat-
mung aufgrund eines Ventilmechanismus nicht
Die industriell hergestellten »chest seals« werden in mehr ausströmen kann. Der Ventilmechanismus
7 Kap. 3 beschrieben. Zum improvisierten Verschluss wird beim penetrierenden Thoraxtrauma meist
lassen sich aber auch luftdichte Folien (z. B. Ver- durch Gewebefetzen im Bereich der Wunde ge-
packung von Infusion oder Brandwundenverband- bildet, die sich von innen vor die Öffnung legen. Ein
tuch Bw, Kompressenverpackung, Folie etc.) an vier Spannungspneumothorax kann auch durch Lun-
Seiten mittels Pflasterstreifen fixieren. Werden nur genverletzungen verursacht werden, die eine
drei Seiten festgeklebt, kann die lockere Seite theo- Verbindung zwischen den Atemwegen und dem
retisch als Flatterventil fungieren und Luft nach Pleuraspalt herstellen. Sie werden häufig durch ein
außen entweichen lassen. Die Wirksamkeit ist aller- (primäres) Explosionstrauma oder iatrogen durch
dings nicht bewiesen [45]. Besonders bewährt hat die Beatmung verursacht [55].
sich hier Gewebeband oder Sporttape, da es auch Durch den steigenden Druck in der betroffenen
auf schweißnasser Haut vergleichsweise gut haftet. Thoraxseite wird das Mediastinum zunehmend in
Im Notfall ist auch die Nutzung des Wundklebers Richtung der unverletzten Thoraxseite gedrückt,
Cyanacrylat (z. B. Dermabond) möglich, der aller- sodass sich der dortige Lungenflügel nicht mehr
dings bei Entfernung des Verbandes Hautschäden richtig entfalten kann und die Atmung einge-
hinterlässt. Diese Techniken können auch zur zu- schränkt wird. Der erhöhte intrathorakale Druck
sätzlichen Abdichtung oder Befestigung von vor- verschlechtert durch Kompression der oberen und
gefertigten Okklusivverbänden bei schlechter unteren Hohlvene den venösen Rückstrom zum
Haftung genutzt werden. In jedem Fall sollte die Herzen und kann so einen Schock verursachen oder
Haut vor Aufbringen eines Okklusivverbandes für verstärken (. Abb. 9.18 rechts).
eine bestmögliche Haftung mit einer Kompresse o. ä. Ein Spannungspneumothorax ist v. a. durch zu-
von Feuchtigkeit und Schmutz gereinigt werden. nehmende Atemnot und einen Abfall der Sauer-
Als sehr gute Alternativen haben sich Hydrogel- stoffsättigung gekennzeichnet, auch wenn diese
folien, wie sie zum Bau von Sprengladungen ver- Symptome sehr unspezifisch sind [53]. Auf der be-
wandt werden (z. B. Hydrogel [USA] Roll, Fa. EVAC troffenen Thoraxseite bestehen ein abgeschwächtes
Safety Products, www.EVAC.nl), wie auch Frisch- Atemgeräusch und hypersonorer Klopfschall. Es
152 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung
. Abb. 9.21 Nadelentlastung eines Spannungspneumothorax. Die Punktionsstelle liegt zwar streng in der Medioklavikular-
linie, aber dennoch deutlich medial der Brustwarze. Eine weiter lateral durchgeführte Punktion verringert die Komplikations-
gefahr deutlich. (Foto: F. Josse)
9
kommt wie beim Pneumothorax außerdem zu werden. Da die Anlage einer Thoraxdrainage unter
Tachykardie und Hypotension mit dem entschei- Gefechtsbedingungen sehr zeitaufwändig ist, einen
denden Unterschied, dass diese kontinuierlich pro- vergleichsweise hohen Materialverbrauch bedeutet
gredient sind (»zunehmendes C-Problem«). Im und nur schwer unter ausreichend sterilen Be-
Verlauf kommt es durch die intrathorakale Druck- dingungen erfolgen kann, hat sich die Nadel-
erhöhung zur Kompression der Hohlvene und einer dekompression als Standard etabliert (. Abb. 9.21).
dadurch verursachten Jugularvenenstauung. Liegt Sie ist bei der akuten Entlastung eines Span-
gleichzeitig ein hämorraghischer Schock vor, kann nungspneumothorax ebenso effektiv wie die Anlage
das Hervortreten der Halsvenen als Zeichen der einer Thoraxdrainage [28], stellt aber keine de-
oberen Einflussstauung durch Hypovolämie und finitive Versorgung dar. Vielmehr überbrückt die
Zentralisation maskiert werden [55]. Beim sehr aus- Nadelentlastung den Zeitraum, bis die Lage die
geprägten Spannungspneumothorax kann es als Anlage einer Thoraxdrainage erlaubt. Im Idealfall
spätes Zeichen zur Verschiebung der Luftröhre zur erfolgt sie bei kurzen Evakuierungszeiten unter ste-
unverletzten Thoraxseite hin kommen [55]. Diese rilen Bedingungen im Schockraum der aufnehmen-
Trachealdeviation ist am Hals fühl- und teilweise den Behandlungseinrichtung.
sichtbar. Manchmal sind knisternde Luftblasen un- Zwar ist die angesprochene Auskultation eines
ter der Haut tastbar (Hautemphysem). einseitig fehlenden Atemgeräusches das wichtigste
Ein Spannungspneumothorax kann in Ausnah- und zuverlässigste diagnostische Verfahren bei der
mefällen innerhalb weniger Minuten entstehen und präklinischen Diagnose eines Spannungspneumo-
zum Tod führen. Häufig bilden sich Symptome aber thorax [53], aber sie kann im taktischen Umfeld
erst nach deutlich längeren Zeiträumen von bis zu aufgrund der Hintergrundgeräusche in der Regel
über einer Stunde. Dies verdeutlicht die besondere nicht durchgeführt werden. Daher kann meist nur
Bedeutung einer durchgehenden Überwachung von aufgrund zunehmender Atemnot und Kreislau-
Patienten mit penetrierendem Thoraxtrauma. finstabilität bei penetrierendem Thoraxtrauma auf
Ein Spannungspneumothorax führt ohne The- das Vorliegen eines Spannungspneumothorax ge-
rapie unweigerlich zum Tod des Betroffenen. Der schlossen werden. Häufig muss in kurzer Zeit ohne
bestehende Überdruck muss daher zügig entlastet weitere Untersuchungsmöglichkeiten eine Thera-
9.3 · »Tactical Field Care«
153 9
pieentscheidung getroffen werden. Die Indikation
für eine Nadelentlastung bei penetrierendem
Thoraxtrauma und zunehmender Dyspnoe sollte
daher großzügig gestellt werden [59]. Da beim pe-
netrierenden Thoraxtrauma nahezu immer ohne-
hin ein Pneumothorax vorliegt, in der Literatur
keine Todesfälle durch nichtindizierte Nadelpunk-
tionen des Thorax beschrieben worden sind und ein
nicht erkannter oder behandelter Spannungspneu-
mothorax dagegen in der Regel tödlich endet, ist das
geringe Risiko unter den gegebenen Umständen
gerechtfertigt. Besteht ohne penetrierendes Thorax-
trauma der Verdacht auf einen Spannungspneumo-
thorax, ist die Indikation zurückhaltender zu stel-
len, weil dann ein Pneumothorax erst durch die
Punktion verursacht werden kann. . Abb. 9.22 Die Nadelentlastung wird im 2. oder 3. ICR
lateral der MCL oder der Brustwarze. Zum Auffinden wird
> Ein penetrierendes Thoraxtrauma in Verbin- der Oberrand des Sternums an der Drosselgrube (Fossa
dung mit zunehmender Atemnot und Schock- jugularis) getastet (1), ca. 2 Querfinger fußwärts ist eine
symptomatik rechtfertigt eine Entlastungs- wulstige, quer verlaufende Knochennaht auf dem Brustbein
zu tasten (2). An ihr setzt seitlich die 2. Rippe an. Folgt man
punktion auf der verletzten Thoraxseite!
ihr zur Seite, findet man fußwärts den 2. ICR
Die Entlastungspunktion eines Spannungspneu-
mothorax sollte in der sog. Monaldi-Position im
2. oder 3. Interkostalraum (ICR) in der Mediolaviku- Da an der Unterkante der Rippen Gefäß-Nerven-
larlinie (MCL) erfolgen. Die MCL wird gerade von Bündel verlaufen, muss die Punktion immer auf der
Helfern mit niedrigem Ausbildungsstand oftmals zu Oberseite der Rippen senkrecht zur Hautoberfläche
weit medial vermutet, da die tatsächliche Lage von erfolgen (. Abb. 9.23). Das Durchdringen der
Beginn und Ende der Klavikula nicht bekannt ist. Brustwand kann häufig aufgrund des Widerstands-
Gerade unter dem Stress und den schlechten Bedin- verlustes gefühlt werden. Besteht ein Spannungs-
gungen des Gefechtsfeldes ist auch in Untersuchun- pneumothorax, entweicht in diesem Moment
gen ein Trend feststellbar, dass zu nahe am Sternum zischend Luft. Bei der Verwendung von Venen-
punktiert wird. Dies gefährdet nicht nur Herz und verweilkanülen ist es wichtig, vorher die hintere
große Gefäße, sondern verletzt auch häufig die Verschlusskappe komplett zu entfernen! Auch wenn
A. mammaria interna, die seitlich entlang des Ster- kein zischendes Geräusch zu hören war (z. B. bei
nums verläuft [57]. Zunehmend wird daher empfoh- Umgebungslärm), ist die schlagartige Besserung der
len, mindestens drei Querfinger lateral des Sternum- Atemnot des Patienten ein nahezu sicherer Hinweis
randes [53], besser aber seitlich der Brustwarze im für die erfolgreiche Therapie eines Spannungspneu-
2. oder 3. ICR zu punktieren (. Abb. 9.22) [45, 57]. mothorax. Bleibt diese aus, ist die Punktion etwas
weiter lateral (ggf. mehrfach) zu wiederholen. Er-
Tipp folgt weiterhin keine Besserung, sollte die Ver-
dachtsdiagnose »Spannungspneumothorax« über-
Die Knochennaht zwischen Manubrium und dacht werden. Besteht weiterhin der hochgradige
Corpus sterni lässt sich beim liegenden oder Verdacht auf einen Spannungspneumothorax, ist
sitzenden Patienten nahezu immer gut tasten. bei frustraner Nadelpunktion die Anlage einer Tho-
Sie dient als einfache und verlässliche Orientie- raxdrainage indiziert. Zur unmittelbaren Lebens-
rung zum Auffinden der Punktionsstelle im rettung reicht hier auch ohne Einlage einer Draina-
2. ICR in MCL (. Abb. 9.22). ge die Eröffnung des Brustkorbes zur Druckentlas-
tung. Wird keine Thoraxdrainage mitgeführt, kann
154 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung
. Abb. 9.23 Die Nadelentlastung muss nahe der kopfwärts . Abb. 9.24 Nach Entlastungspunktion im Brustkorb belas-
gelegenen Kante der Rippe erfolgen, um das an der Unter- sener Katheter mit typischem Knick. (Foto: F. Josse)
kante gelegene Gefäß-Nerven-Bündel nicht zu verletzen
9 als Provisorium z. B. auch ein Endotrachealtubus messer einer Entlastungsnadel können keine aus-
o. ä. verwendet werden. reichend großen Luftmengen strömen, um die
Nach der erfolgreichen Nadelentlastung kann Atemmechanik wesentlich zu beeinflussen [45].
der Plastikkatheter im Brustkorb belassen oder In zivilen Studien wurden Brustwanddicken im
wieder entfernt werden. Wird die entfernte Entlas- Bereich des 2. ICR in der MCL von unter 2,5 cm er-
tungsnadel mit aufgesteckter Schutzkappe neben mittelt, bei anderen Untersuchungen waren 5-cm-
der Entlastungsstelle auf den Brustkorb geklebt, ist Nadeln nur in 4 % der Fälle nicht lang genug, um die
sie für erneut notwendige Punktionen jederzeit Thoraxhöhle zu erreichen. Für Nadelentlastungen
griffbereit und kennzeichnet die durchgeführte werden daher 5 cm lange Nadeln als ausreichend
Entlastungspunktion. Bei den amerikanischen lang angesehen [10]. Aufgrund des meist erheblich
Streitkräften ist es üblich, den Plastikkatheter im besseren Trainingszustandes ist beim Brustmuskel
Brustkorb zu belassen und zu fixieren. Dies markiert von Soldaten eine höhere durchschnittliche Brust-
für nachfolgend tätige Helfer (z. B. nach Übergabe wanddicke zu erwarten, ähnliches gilt für adipöse
an Hubschrauber) auch ohne ausführliche Überga- Patienten. Studien an amerikanischen Soldaten
be, dass ein Spannungspneumothorax vorgelegen haben dies bestätigt, die durchschnittliche horizon-
hat und entlastet worden ist. Durch diese »Mik- tale Brustwanddicke lag im 2. ICR in der Mediokla-
rothoraxdrainage« kann theoretisch kein erneuter vikularlinie bei 5,36 cm ± 1,19 cm, mit Einstichwin-
Spannungspneumothorax entstehen, da die Luft bei kel 90° zur Hautoberfläche bei 4,86 cm ± 1,1 cm.
zunehmendem Druck entweichen könnte. Da Ve- Übliche 5-cm-Nadeln (z. B. übliche 14-G-Venen-
nenverweilkanülen beim Patiententransport aber verweilkanülen) sind daher nach dieser Studie für
häufig abknicken oder durch Blut verstopfen, ist die eine sicher erfolgreiche Entlastungspunktion häufig
im Thorax belassene Nadel meist nicht effektiv nicht lang genug [20]. Allerdings handelt es sich
(. Abb. 9.24). um CT-gestützte Messungen der Brustwand, die
Sie verleitet aber zu einer unzureichenden eine mögliche Kompression der Muskulatur beim
Überwachung des Patienten, weil der Spannungs- Punktionsversuch nicht berücksichtigen. Es sind
pneumothorax vermeintlich ausgeschlossen ist. Ein daher in der Bundeswehr und den meisten alliierten
Tiegel- oder Heimlich-Ventil muss nicht zwingend Streitkräften lange Entlastungsnadeln als Standard
angebracht werden. Durch den geringen Durch- eingeführt worden [59]. Als stabilere und längere
9.3 · »Tactical Field Care«
155 9
Alternative zu normalen Kanülen können lange
. Tab. 9.2 Für die Differenzialdiagnose von Span-
Venenverweilkanülen (CE-zertifiziert: z. B. Angio- nungspneumothorax und Herzbeuteltamponade
cath 12G, Fa. BD) oder auch Babythoraxdrainagen relevante Untersuchungsbefunde
verwendet werden. Bei letzteren weist der Trokar
allerdings einen relativ stumpfen Kegelschliff auf, Spannungs- Herzbeutel-
der bei der Überwindung des Hautwiderstandes viel pneumothorax tamponade
Kohlenmonoxid besetztes Hämoglobin (COHb) sind. Da eine Liegezeit von unter 2 h unkritisch ist
messen können, liefern darüber hinaus Hinweise und die Blutungen kontrolliert sind, kann der Ver-
auf eine CO-Intoxikation, wie sie z. B. bei Fahrzeug- such eines Wechsels auf einen Druckverband
bränden auftreten kann. Da COHb von normalen grundsätzlich aber warten, bis Maßnahmen mit
Pulsoxymetern nicht erkannt und eine falsch-hohe höherer Priorität abgearbeitet sind. Bei Verwunde-
Sättigung angezeigt wird, sind sie eine wertvolle ten, die sich bereits im Schock befinden, sollte das
Hilfe bei der Differenzialdiagnostik von Bewusst- Tourniquet belassen werden, um keinen weiteren
seinsstörungen, die auf Volumengabe nicht reagie- Blutverlust zu riskieren [45].
ren. Kombinationsgeräte sind zwar am Markt ver- Der Ersatz eines Tourniquets durch einen
fügbar, allerdings noch nicht in der Größe eines Druckverband reduziert in der Regel den Analge-
Fingerpulsoxymeters. Sie eignen sich daher eher für tikabedarf des Verwundeten und vermindert die
eine Nutzung in Fahrzeugen als am Mann. Wahrscheinlichkeit eines Tourniquet-Syndroms. Die
Wie alle Überwachungsgeräte ersetzen Pulsoxy- Anwendung von Hämostyptika erhöht die Erfolgs-
meter nicht die sorgfältige klinische Überwachung chance dabei deutlich. Einmal angelegte Tourniquets
des Patienten. Im Schock oder bei Unterkühlung sind sollten auch nach dem erfolgreichen Wechsel auf ei-
die ablesbaren Werte aufgrund der eingeschränkten nen Druckverband vollständig gelöst in ihrer Positi-
peripheren Perfusion häufig nicht verlässlich. on belassen werden, um eine erneut beginnende Blu-
tung schnell stoppen zu können. Wird eine Wunde
zur Untersuchung freigelegt, sollte ein weiterhin not-
9.3.4 »Circulation« (. Abb. 9.25) wendiges, aber noch auf der Kleidung platziertes
9 Tourniquet nach Möglichkeit im Rahmen dieser
Blutungskontrolle (. Abb. 9.26) Maßnahme direkt auf der Haut angelegt werden.
Tourniquets Nach einer Liegezeit von 15–30 min ist mit dem
Die Stillung von relevanten Blutungen hat auch in Auftreten eines erheblichen Ischämieschmerzes zu
der Phase TFC Priorität vor allen anderen Maßnah- rechnen. Dieser addiert sich zu den Schmerzen
men. Im Vorfeld angelegte Tourniquets müssen un- durch die Verwundung und die schmerzhafte Kom-
mittelbar auf Effektivität kontrolliert werden und pressionswirkung des Tourniquets selber und er-
bei noch bestehender Blutung oder tastbarem peri- fordert in aller Regel spätestens in der Kombination
pherem Puls fester angezogen oder mit einem zwei- die Behandlung mit potenten Schmerzmitteln. Die
ten Tourniquet ergänzt werden. Alle noch nicht auftretenden Schmerzen sind normal und kein
versorgten starken Extremitätenblutungen können Zeichen einer falschen Verwendung des Tourniquets.
auch jetzt zunächst mit einem Tourniquet versorgt Tourniquets können falsch oder nicht fest genug
werden. Auch wenn das Tourniquet nur temporär angelegt sein, sich im Laufe der Zeit lockern, ver-
genutzt wird, kann dadurch bis zur Anlage eines schieben oder durch Materialfehler keine Wirkung
Druckverbandes der Blutverlust minimiert werden. mehr haben. Außerdem ist es möglich, dass der Ver-
Die durch das Tourniquet schnell und effektiv ge- wundete das Tourniquet aufgrund der Schmerzen
stillte Blutung kann dann zunächst in den Hinter- oder der durch den Blutverlust bedingten Ver-
grund rücken und dringlichere Probleme behandelt wirrung selbst öffnet. Sie sollten daher regelmäßig
werden (z. B. starke Blutungen des Körperstamms). kontrolliert werden, insbesondere bei Umlagerung
Lassen sich Extremitätenblutungen mittels anderer und Transport des Patienten. Bei Verwundeten im
Maßnahmen nicht kontrollieren, sollten Tourni- Schock kann es notwendig sein, liegende Tourni-
quets als Mittel der letzten Wahl 1–2 Querfinger quets nach einiger Zeit fester anzuziehen, da durch
oberhalb der Verwundung angelegt und dann be- Infusionstherapie der Blutdruck ansteigen und er-
lassen werden (. Abb. 9.27). Zur temporären Blut- neut eine Blutung beginnen kann [59, 67].
stillung in den Phasen CuF oder TFC angelegte Auf der Arbeitsebene wird zunehmend eine
Tourniquets sollten schnellstmöglich ersetzt wer- Mindestliegezeit des Tourniquets von 30 min vor
den, sobald die Lage dies erlaubt und wenn längere dem Wechsel auf Druckverband empfohlen, da sich
Versorgungs- oder Evakuierungszeiten zu erwarten bis zu diesem Zeitpunkt Gerinnsel ausreichend ver-
9.3 · »Tactical Field Care«
157 9
C Circulation (Blutungen/Kreislauf/Volumen)
festigt haben und das Risiko einer erneuten Blutung auch am Körperstamm durch Druck und ggf. die
minimiert sein soll. Zu dieser Theorie gibt es bisher Anwendung von Hämostyptika. Manuelle Kom-
keine wissenschaftlichen Studien, sodass Nutzen pression führt auch bei starken Blutungen fast im-
oder Risiko dieses Vorgehens nicht beurteilt werden mer zum Erfolg, bindet den Helfer aber dauerhaft,
können. ist während des Transportes kaum aufrechtzuerhal-
ten und daher nur kurzfristig durchführbar. Direk-
Direkter Druck ter Druck eignet sich gut, um Zeit zur Heranfüh-
Die Kontrolle von Blutungen ohne Anlage eines rung von Helfern oder zur Vorbereitung von Mate-
Tourniquets erfolgt sowohl an den Extremitäten als rial zu gewinnen. Wichtig ist, dass ausreichend
158 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung
Anlage Druckverband
–
Anlage Druckverband und/oder
hämostyptisches Dressing
Erläuterungen
Verband regelmäßig kontrollieren
Tourniquet gelöst belassen + Blutstillung erfolgreich
– Blutstillung ohne Erfolg
großer Druck aufgebaut wird und der Patient auf wird. Vor- und Nachteile dieser Ansätze können
festem Untergrund als Widerlager liegt. Bewährt bisher nicht bewertet werden. Es bleibt abzuwarten,
hat sich dabei eine Technik analog zur Haltung bei ob sie auf breiter Ebene tatsächlich in die präklini-
der Herzdruckmassage mit durchgedrückten Ellbo- sche Nutzung kommen.
gen und zwei Händen. Ist der Helfer alleine, kann
vorübergehender Druck mit dem Knie beide Hände Wundtamponade
zum Arbeiten freimachen [51]. Im amerikanischen Die Durchführung einer Wundtamponade (»wound
Raum wurden Hilfsmittel eingeführt, die Blutungen packing«) ist in Deutschland unüblich, gehört aber
der Beine durch Kompression der Leistenarterien in der Ausbildung von US-amerikanischem Sani-
kontrollieren sollen (»Junctional Tourniquet«) tätspersonal, insbesondere im Bereich der Spezial-
(7 Kap. 3). Mit Einschränkungen lassen sich einige kräfte, seit Jahrzehnten zum Standard. Es hat sich
dieser Produkte auch im Bereich der Schulter an- schon vor Einführung moderner Hämostyptika
wenden. Sie sind in die aktuellen TCCC-Leitlinien bewährt und ist dem klassischen europäischen
als Empfehlung aufgenommen worden, praktische Druckverband überlegen, da gerade bei tiefen
Erfahrungen im größeren Maßstab stehen noch aus oder zerklüfteten Wunden erheblich mehr Druck
[70]. Im Entwicklungsstadium befinden sich derzeit auf die Wundränder und insbesondere die bluten-
ein Tourniquet, das die abdominelle Aorta kompri- den Gefäße erzielt werden kann. Traditionell be-
miert, und das Produkt abdominal foam, bei dem währt hat sich dabei Kerlix, ein sehr saugfähiger
zur Kontrolle von intraabdominellen Blutungen ein elastischer Verbandmull. Alternativ lassen sich
aushärtender Schaum in die Bauchhöhle gespritzt auch gängige Verbandmittel wie Mullbinden,
9.3 · »Tactical Field Care«
159 9
Bauchtücher, langgezogene Kompressen etc. ver- bis die Blutung durch Kompression unter Kontrolle
wenden. ist. Bei Verletzungen im Bereich großer Gefäße
Zunächst wird die Blutung durch Druck unter (z. B. Leiste) ist häufig ein Druck auf die herznah
Kontrolle gebracht. Im Zweifelsfall kann dies bei gelegene Seite des Wundrandes erfolgreich, da hier
großen Wunden oder starken Blutungen mit der im Regelfall das stark blutende Gefäßende liegt.
Faust oder dem Handballen geschehen. Blut, das Eine Blutung aus kleineren Gefäßen kann häufig
sich in der Wunde gesammelt hat, wird mit Kom- auch durch Kompression mit den Fingerspitzen
pressen, Mullbinden, Verbandpäckchen o. ä. her- unter Kontrolle gebracht werden. Nach Reinigung
ausgewischt, um die Blutungsquelle bestmöglich zu der Wunde von Blut, kann durch einzelnes Anhe-
identifizieren. Strömt erneut viel Blut in die Wunde, ben der Finger nacheinander recht genau ermittelt
wird die Position der komprimierenden Hand werden, wo die Hauptblutungsquelle liegt. Diese
verändert und das Blut entfernt. Dieser Vorgang Stelle gilt es, mit größtmöglichem Druck zu tampo-
wird schnell und zielgerichtet solange wiederholt, nieren.
160 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung
. Abb. 9.28 Prinzip der Wundtamponade: 1 Wunde mit Blutansammlung, 2 manueller Druck kontrolliert die Blutung (Hand-
ballen, Fingerspitzen, Faust), die freie Hand wischt vorhandenes Blut aus, 3 während eine Hand weiter die Blutung kontrolliert,
tamponiert die andere Hand die Blutungsquelle, 4 die Wunde wird nach und nach mit komprimiertem Verbandmaterial gefüllt,
die andere Hand erhält dabei den Druck auf die Tamponade aufrecht, 5 zum Schluss wird ein Druckverband über der Wundtam-
ponade angelegt, 6 zum Vergleich: traditioneller Druckverband, der bei tiefen, zerklüfteten Wunden unzureichend ist
Wird ein bindenförmig aufgerolltes Material Druck auf die Blutungsquelle ausüben und darf nur
zum Tamponieren genutzt (z. B. Kerlix, Mullbinde), kurz gelockert werden, um die nächste Schicht an
sollte das Ende mit einem Knoten versehen werden, Tamponade unter ihr einzubringen. Sobald das
der gezielten Druck auf die Blutungsquelle ermög- Hautniveau leicht überschritten ist, wird ein Druck-
licht. Alternativ kann die freie Hand einen ca. verband über der Tamponade angelegt. Dessen
kirschgroßen, festen Ball aus dem Verbandmaterial Druck wird durch das komprimierte Verbandmate-
formen. Der Knoten oder Ball wird auf die noch rial gut auf die Wundränder übertragen und kont-
durch manuellen Druck stillstehende Blutungs- rolliert Blutungen insbesondere bei tiefen Wunden
quelle gelegt und dann fest darauf gepresst, um die effektiver als ein herkömmlicher Druckverband
Blutung weiterhin zu kontrollieren. Anschließend (. Abb. 9.28). Wird unmittelbar auf der Blutungs-
stopft die freie Hand in Zick-Zack-Bewegungen quelle zu Beginn ein Hämostyptikum eingebracht,
oder Kreisen auf und um die Blutungsquelle herum erhöht dies die Erfolgswahrscheinlichkeit erheblich
die Wunde solange mit komprimiertem Verband- und verzeiht leichte handwerkliche Fehler bei der
material aus, bis sie über das Hautniveau hinaus Durchführung. Grundsätzlich lässt sich eine Wund-
aufgefüllt ist. Der Schlüssel zum Erfolg liegt dabei tamponade aber mit jeglichem saugfähigen, elasti-
darin, dass das Verbandmaterial möglichst gut ver- schen Material erfolgreich durchführen [51]. Im
dichtet wird. Die andere Hand muss permanent Notfall ist z. B. auch eine Wundtamponade mit
9.3 · »Tactical Field Care«
161 9
Baumwoll-T-Shirts möglich, wenn hygienische
Aspekte hinter akuter Lebensgefahr zurückstehen
müssen.
> Hämostyptika + Tamponade + Druck +
Druckverband = Erfolg
. Abb. 9.30 Eviszeration von Darm bei Schussverletzungen des Abdomens. Die kopfwärts des Bauchnabels liegenden
Wunden sollten dabei wie Verletzungen des Thorax behandelt und luftdicht verschlossen werden. (Foto mit freundlicher
Genehmigung von J. Schwietring)
9
seitlich und hinten) sinnvoll sein, um in Kreuzgän- (Eviszeration, . Abb. 9.30), sollten sie ohne Druck
gen ausreichend Druck auf die Wunde bringen zu steril abgedeckt werden. Hierfür eignen sich gerade
können. Ein ausreichend großes, längliches Druck- bei großflächigeren Verletzungen Brandwunden-
polster (ggf. auch eine SAM-Splint-Schiene) erhöht verbandtücher oder spezielle Abdominalverbände
die Effektivität und macht ggf. auch die Anlage eines (z. B. Emergency Bandage, Fa. First Care). Bei Be-
Verbandes möglich, der abwechselnd zirkulär um darf können Ringpolster (z. B. aus Dreiecktüchern)
Oberschenkel und Hüfte herum Druck aufbaut. eingesetzt werden, um die Kompression von her-
Die gerne genutzten selbsthaftenden Binden ha- vorstehenden Eingeweiden zu vermeiden. Ist eine
ben im taktischen Umfeld deutliche Nachteile und verzögerte Evakuierung zu erwarten, kann es sinn-
sollten deswegen zurückhaltend genutzt werden: voll sein, Baucheingeweide nach Spülung ohne Ge-
Gerade bei höheren Temperaturen und kompri- waltanwendung in die Bauchhöhle zu reponieren.
mierter Lagerung im Rucksack verkleben sie häufig, Bei Schuss- und Splitterverletzungen ist dies auf-
lassen sich dann schlecht abwickeln und zerreißen grund des meist engen Wundkanals häufig nicht
gelegentlich dabei. Selbsthaftende Idealbinden ver- oder nur mit Gewalt möglich und sollte dann unter-
mindern durch die fehlende Verschieblichkeit der lassen werden.
einzelnen Bindengänge darüber hinaus die erziel- Wunden mit minimaler Blutung ohne Gefahr
bare Kompressionswirkung. Selbsthaftende Binden der Beteiligung großer Blutgefäße können mit ein-
können aber gerade bei anatomisch schwierigen fachen Verbänden versorgt werden, sobald die Lage
Regionen oder Amputationsverletzungen eine dies erlaubt und alle Maßnahmen mit höherer Prio-
wertvolle Hilfe darstellen. Neben industriell vor- rität abgearbeitet sind. Ist dies nicht der Fall, können
gefertigten Druckverbandpäckchen mit eingearbei- sie bis zum Erreichen einer Behandlungseinrich-
teter Wundauflage und Druckpolster eignen sich tung unversorgt bleiben [45]. Die Evakuierung soll-
breitere Kompressionsbinden hervorragend zur te keinesfalls für das Verbinden geringfügiger Wun-
Nutzung bei Druckverbänden. den verzögert werden. Entscheidend ist hier das
Wurden bei penetrierenden Abdominalver- Monitoring, ob anfangs wenig blutende Wunden
letzungen Baucheingeweide nach außen verlagert später doch beginnen, kontinuierlich zu bluten.
9.3 · »Tactical Field Care«
163 9
Hämostyptika weise, schafft aber gerade bei engen Wundkanälen
Hämostyptika sind blutgerinnungsfördernde Pro- größere Schwierigkeiten in der Anwendung.
dukte. Sie erhöhen die Erfolgschancen bei der Kon- Die modernen Wirkstoff-beschichteten Gaze-
trolle einer Blutung durch direkten Druck oder die Produkte, wie z. B. Combat Gauze, bzw. Quik Clot
Anlage eines Druckverbandes erheblich, wenn sie Gauze, und Celox Gauze, sind aufgrund ihrer einfa-
unmittelbar an der Blutungsquelle platziert werden cheren Anwendbarkeit und der guten Wirksamkeit
[59]. Vor ihrer Anwendung muss die Blutung durch besonders zu empfehlen. Ihre Anwendung ist deut-
direkten Druck bestmöglich gestillt und die Wunde lich weniger ausbildungsintensiv, die Erfolgsraten
durch Auswischen mit einer Kompresse, der Hand sind nach Erfahrung der Autoren größer als bei Gra-
etc. von überschüssigem Blut befreit werden, da sich nulaten und Pulvern, und sie sind für den Einsatz als
der Wirkstoff sonst bereits dort verbrauchen könn- Verbandmittel zur Wundtamponade durch die
te. Ist das Hämostyptikum eingebracht, wird unter Kombination von Wirkstoff und erzielbarem Druck
kontinuierlicher Blutungskontrolle durch Druck die ideal geeignet. Combat Gauze ist als derzeitiges
restliche Wunde mit komprimiertem Verbandmate- Standardhämostyptikum der US-Streitkräfte und
rial gefüllt (s. oben). Anschließend wird je nach der deutschen Spezialkräfte eingeführt und bewährt
Produkt 3–5 min flächig fester manueller Druck auf sich hervorragend. Es ist darüber hinaus klein ver-
das Verbandmaterial ausgeübt. Ist danach kein packt. Celox Gauze ist ungefähr gleich effektiv, er-
Durchbluten des Verbandes feststellbar, wird ein scheint aber besonders empfehlenswert wegen sei-
Druckverband angelegt, der den Druck auf die ner von der Konzentration der Gerinnungsfaktoren,
Wunde aufrechterhält [59]. ggf. vorhandenen Antikoagulanzien und Hypother-
QuikClot Granulat der 1. Generation als be- mie unabhängigen Wirksamkeit [16].
kanntester Vertreter der modernen Hämostyptika Da ausreichend große Studien noch ausstehen,
erwies sich als hochwirksam bei der Kontrolle von kann eine klare Empfehlung hinsichtlich der Über-
Blutungen, verursachte aber im Reaktionsgebiet legenheit eines Produktes noch nicht gegeben wer-
große Hitze (~70 °C) und entsprechende Gewebe- den. Die Auswahl sollte daher abhängig von der Art
defekte [1]. Es wird daher heute nicht mehr ange- der Wunde, dem eigenen Ausbildungsstand und
wendet. Andere Wundauflagen der ersten Genera- Erfahrungswerten erfolgen.
tion (HemCon) sind gut wirksam, durch ihre Steif-
heit allerdings ohne erheblichen Aufwand nur auf Hals- und Gesichtsblutungen
glatten Wundflächen anwendbar und neigen dazu, Blutungen im Hals- und Gesichtsbereich sind be-
besseren Kontakt zu den Handschuhen des Anwen- sonders häufig. Sie liegen in modernen Konflikten
ders als zur Wunde herzustellen. bei ca. 20–50 % der Verwundeten vor [41]. Neben
Bei der Anwendung von Hämostyptika sollte der erheblichen psychologischen Wirkung auf Ver-
denen der 3. Generation (QuikClot Gauze, Celox wundete und Helfer sind diese Verletzungen auf-
Gauze, Celox Trauma Gauze, Chitogauze, ggf. auch grund der zahlreichen lebenswichtigen und auf en-
Traumastat) der Vorzug gegeben werden. Sind diese gem Raum verlaufenden Strukturen (große Blutge-
nicht verfügbar, können alternativ solche der 2. Ge- fäße, Atemweg, Ösophagus, HWS) gerade im Hals-
neration verwendet werden (QuikClot ACS+, Celox bereich besonders problematisch. Eine Weichteil-
Pulver, Hemcon Chitosan oder Chitoflex) [59]. Al- schwellung oder ein sich ausbreitendes Hämatom
len Granulaten und Pulvern ist gemeinsam, dass sie kann schnell zu einer Verlegung der Atemwege füh-
bei engeren Wundverhältnissen und starkem Wind ren, was neben der Blutstillung insbesondere dem
teilweise schlecht angewandt werden können und Atemwegsmanagement eine zentrale Bedeutung
durch verwehtes Granulat Augenschädigungen ver- zukommen lässt [41]. Weniger bekannt ist die dro-
ursacht werden können, starke Blutungen sie vor hende Gefahr der Erblindung durch die Entstehung
Wirksamwerden aus der Wunde spülen und nach eines retrobulbären Hämatoms (7 Kap. 16) [18].
ihrem Einbringen nur schwer unmittelbarer Druck Blutungen im Gesichtsbereich lassen sich relativ
auf die Wunde ausgeübt werden kann. Die Ver- einfach beherrschen, sobald der Atemweg durch
packung in Beutelchen löst diese Probleme teil- Koniotomie oder endotracheale Intubation defini-
164 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung
Blutungen sollten auch im Schock nicht in Schock- Verwundete mit Amputationsverletzungen bei-
lage, sondern flach gelagert werden. Dies soll eine der Beine weisen häufig eine begleitende Becken-
Verstärkung der Höhlenblutung aufgrund eines fraktur auf!
Blutdruckanstieges verhindern. Ist der Kreislauf de- Beim Patient mit Verdacht auf instabile Becken-
kompensiert und kein Radialispuls mehr tastbar, ist fraktur sollten beide Beine durch Längszug auf die
diese Maßnahme als ultima ratio dennoch indiziert. gleiche Länge gebracht (Korrektur einer vertikalen
Aufgrund des sich bei der Atmung laufend ver- Beckenverschiebung) und in Innenrotation mit einer
schiebenden Zwerchfells können alle Verwundun- Binde aneinander fixiert werden. Industriell herge-
gen unterhalb der Brustwarzen und oberhalb des stellte Beckenschlingen (SAM Pelvic Sling, T-Pod)
Schambeins eine Verletzung der Abdominalhöhle erzielen dabei gute Resultate, sind aber häufig zu sper-
bedeuten, während alle Verwundungen oberhalb rig zum Mitführen im Rucksack. Eine improvisierte
des Bauchnabels und unterhalb des Kehlkopfes die Beckenschlinge lässt sich gut mit Hilfe einer Rettungs-
Thoraxhöhle eröffnen können [8]. Auch die Penet- decke, einer Uniformjacke oder -hose o. ä. herstellen
rationsrichtung des Projektils sowie das schwer be- (»pelvic sheeting«). Die Schlinge muss einen ausrei-
urteilbare Zerstörungsausmaß durch die Bildung chend breiten (ca. 20 cm) Kompressionsgürtel um das
einer temporären Wundhöhle muss bei Schuss- und Becken herum gewährleisten. Die Enden werden um
Splitterverletzungen beachtet werden (7 Kap. 12). den Patienten gelegt, zur Kompression gegeneinan-
Bei instabilen Beckenverletzungen kann durch der gezogen (. Abb. 9.33) und anschließend befestigt
Kompression der Beckenschaufeln das Beckenvolu- (z. B. mittels Gefäßklemmen, Klebeband o. ä.).
men und damit der maximale Blutverlust begrenzt Mittels einer Schockhose (»military anti-shock
werden [8]. trouser«, MAST) kann versucht werden, das maxi-
166 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung
c Schocktherapie
Pathophysiologie des hämorrhagischen
Schocks
Ein durch größeren Blutverlust verursachter Volu-
menmangel verringert die kardiale Vorlast und
führt zum Absinken des Herzminutenvolumens
(HMV) [56]. Durch die Ausschüttung der Katechol-
amine Adrenalin und Noradrenalin erhöht sich das
d
HMV durch Zunahme von Herzfrequenz und
. Abb. 9.33 a–c Beckenstabilisierung mit Rettungsdecke. Schlagkraft, und Arteriolen und venöse Kapazitäts-
Die zusammengefaltete Decke wird unter dem Becken
gefäße ziehen sich zusammen [56]. Der Körper
hindurchgeführt und das Becken mit Zug komprimiert. Die
Enden werden einmal gegeneinander verdreht und dann kann dadurch den Blutdruck eine gewisse Zeit auf
befestigt (z. B. mittels Klebeband oder Knoten). Wenn sie normalem Niveau halten. Ein junger, sportlicher
nicht ausreichend fest anliegt, kann der Druck (vorsichtig!) Patient kann so einen Verlust von bis zu 30 % des
mittels eines Knebels erhöht werden. d Die Mittellinie der
Beckenschlinge sollte über dem großen Rollhügel des Ober-
Blutvolumens ohne sichtbare Zeichen verbergen
schenkels (Trochanter major) liegen. (Fotos: Dr. C. Neitzel) (. Tab. 9.3) [55]. Der nicht mehr reversible Schock,
der nahezu immer im Tod endet, wird im Regelfall
9.3 · »Tactical Field Care«
167 9
a Erst bei Blutverlusten von >750 ml sind frühe Symptome eines Schocks festzustellen, bis zu 30 % Blutverlust können
durch einen Blutverlust von 50 % des Körperblut- Die Auswirkungen des Schocks gehen deutlich über
volumens ausgelöst [6]. den klinisch sichtbaren Abfall des arteriellen Blut-
Erstes Symptom eines Schocks ist meist eine drucks hinaus. Die Konstriktion peripherer Gefäße
Tachykardie, die allerdings wenig spezifisch ist und bewirkt eine Zentralisation der Durchblutung auf
auch durch Anstrengung, Angst, Schmerz etc. be- lebenswichtige Organe. Das restliche Gewebe wird
dingt sein kann. Blasse Haut und Schleimhaut sowie unzureichend durchblutet, eine Mikrozirkulations-
Kaltschweißigkeit sind Zeichen für eine bestehende störung mit weitreichenden Folgen entsteht [56]:
Anämie, eine Zyanose für eine Hypoxämie, Kalt- 4 Anämie: Blutungen verursachen den Verlust
schweißigkeit für Sympathikusaktivierung und von Erythrozyten als Sauerstoffträger und ver-
Zentralisation. Ein deutlicher Abfall des Blutdrucks schlechtern so die Versorgung des Gewebes.
unter 100 mmHg tritt häufig erst nach 30–40 % ver- 4 Metabolische Azidose: Die schlechte Gewebe-
lorenem Blutvolumen auf [8]. Weitere frühe Symp- perfusion führt zu einer Sauerstoffmangelver-
tome können das ZNS betreffen: gerade eine für die sorgung, sodass die hypoxischen Zellen ver-
betroffene Person ungewöhnliche Ängstlichkeit, mehrt Laktat als Abfallprodukt ihrer Energie-
Verwirrtheit oder Teilnahmslosigkeit kann ein Hin- gewinnung produzieren. Das anfallende Laktat
weis auf einen Blutverlust sein und sollte zu einer führt zur Bildung einer metabolischen Azido-
sorgfältigeren Untersuchung – und Entwaffnung – se, die ihrerseits ödematöse Gewebeschwel-
des Patienten führen. lungen verursacht und damit die kapillare Per-
fusion weiter verschlechtert [51]. Die Azidose
Tipp
verschlechtert die Wirksamkeit von Gerin-
Die kapilläre Reperfusionszeit (Nagelbettprobe) nungsfaktoren: So ist bei pH 7,2 die Aktivität
ist ein im taktischen Umfeld einfach zu erheben- der meisten Gerinnungsfaktoren um die Hälfte
des Schockzeichen. Sie wird ermittelt durch reduziert [62], Faktor VIIa hat bei einem pH
Druck auf einen Fingernagel, bis das Nagelbett von 7,1 (Normalwert 7,35–7,45) nur noch 10 %
blass wird. Dauert es nach Beendigung des seiner normalen Aktivität [24].
Drucks länger als 2 s, bis die rosa Färbung zu- 4 Hypothermie: Die Energieproduktion durch
rückkehrt, ist sie verlängert und ein Schock Laktatbildung verringert die körpereigene
wahrscheinlich. Bei Hypothermie mit Zentralisa- Wärmebildung und trägt so zur akzidentellen
tion ist die Reperfusionszeit ebenfalls verlängert. Hypothermie bei (7 Kap. 38). Die Hypothermie
wirkt sich ebenfalls negativ auf die Blutgerin-
168 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung
Volumenersatz
Da Infusionen aber das verlorene Blut nicht nicht ausreichend erwärmt, tragen sie zur Entste-
gleichwertig ersetzen können, treten in Abhängig- hung einer Hypothermie bei. Diese führt ihrerseits
keit von der verabreichten Menge auch negative wiederum zu einer Gerinnungsstörung und senkt
Effekte auf. Die im Blutkreislauf noch vorhandenen die Überlebenswahrscheinlichkeit. Nicht optimal
Gerinnungskomponenten (Thrombozyten und auf die physiologischen Verhältnisse des Blutes ab-
Gerinnungsfaktoren) werden verdünnt. Kolloidale gestimmte (nichtbalancierte) Lösungen können da-
Infusionslösungen können darüber hinaus durch rüber hinaus durch Verdünnung des im Blut enthal-
eine Störung der Fibrinvernetzung die Bildung und tenen Bikarbonats eine Dilutionsazidose bedingen,
Stabilisierung von Blutgerinnseln stören. Sind die die die ohnehin vorliegende metabolische Azidose
Infusionslösungen beim Eintritt in den Körper weiter verstärken kann [37]. Wird durch Überinfu-
170 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung
Permissive Hypotension*
- DMS kontrollieren
- Achsengerechte
Lagerung/ggf. Traktion
bei Frakturen
ggf. Thoraxdrainage Antischockhose - Immobilisation
Becken-Schlinge
erwägen (z.B. M.A.S.T.)
M.A.S.T. und
Beckenschlinge kombinierbar
Erläuterungen
DMS Durchblutung, Motorik, Sensibilität
M.A.S.T Military Anti-Shock Trousers bzw. Pneumatic Anti-Shock Garment (PASG)
* Gilt nicht bei gleichzeitigem »schwerem« SHT (GCS <8)
den muss. Dies bedingt auf der einen Seite von Natur Ein vorhandener Femoralispuls entspricht etwa
aus einen eher restriktiven Volumenersatz. Zum an- einem systolischen Blutdruck von 70 mmHg, ein
deren ist die möglichst sichere und einfache Identifi- Carotispuls von 60 mmHg (. Abb. 9.37).
zierung solcher Patienten wichtig, für die eine Infusi- Die aktuellen Standards der US-Streitkräfte
onstherapie lebensrettend ist [27]. Auf dem Gefechts- sehen eine restriktive Flüssigkeitszufuhr vor. Nur
feld gut erhebbare und leicht zu beurteilende Werte Patienten mit fehlendem Radialispuls oder Be-
sind der systolische Blutdruck und die Bewusstseins- wusstseinstrübung als Zeichen einer Mikrozirkula-
lage des Patienten. Ein RRsys <80 mmHg ist ebenso tionsstörung sollen Infusionen erhalten. Um eine
wie eine bestehende Unruhe oder Bewusstseins- möglichst übersichtliche Handhabung zu erreichen,
störung bis hin zur Bewusstlosigkeit (ohne andere wird dann generell die Applikation eines Bolus von
erkennbare Ursache) ein Zeichen für eine einge- 500 ml kolloidaler Infusionslösung empfohlen,
schränkte Organperfusion [35]. Eine Bewusstlosig- wenn keine Blutprodukte zur Verfügung stehen.
keit, die nicht durch ein SHT, Medikamente oder Bessert sich der Bewusstseinsstatus und ein Radia-
weitere, bei jungen Soldaten seltene Gründe (wie z. B. lispuls ist wieder palpabel, ist vorerst keine weitere
Hypoglykämie) verursacht ist, tritt meist bei einem Volumengabe indiziert [27]. Wird in einem Zeit-
RRsys ≤50 mmHg ein. Da die Blutdruckmessung mit- fenster von 30 min keine Besserung durch die
tels Blutdruckmanschette vergleichsweise aufwändig Bolusgabe erzielt, erfolgt einmalig eine zweite Gabe
ist und Stethoskop und Manschette im taktischen von 500 ml [45]. Kristalloide Lösungen können als
Umfeld häufig nicht zur Verfügung stehen oder Alternative eingesetzt werden, wenn keine kolloida-
kaum anwendbar sind, wird der Radialispuls als Er- len zur Verfügung stehen.
satz genutzt. Das Vorhandensein eines peripheren Die Bolusgabe kann als Schwerkraft- oder
Pulses am Handgelenk zeigt einen systolischen Blut- Druckinfusion erfolgen. Letztere ist durch manuel-
druck von zumindest 80 mmHg an und stellt damit le Kompression, mittels Druckinfusions- oder Blut-
eine ausreichend aussagefähige Alternative dar [27]. druckmanschette möglich. Feldmäßig kann die In-
172 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung
Blutdruckmessung
fusion auch im Kreuzbein- oder Schulterbereich Alternativ kann bei der erstmaligen Volumengabe
unter den Patienten gelegt werden, um das eigene auch die Gabe von 250 ml einer hyperonkotisch-
Körpergewicht zur Kompression des Infusions- hyperosmotische Lösung (z. B. RescueFlow) zum
beutels zu nutzen [58]. Dadurch wird, abhängig von Einsatz kommen. Ist eine durchgehende Überwa-
der Isolation unter dem Patienten, die Infusion zu- chung möglich, kann die Infusion auch unmittelbar
sätzlich warmgehalten. Aus dem gleichen Grund nach der Wiederkehr eines radialen Pulses oder
kann eine Infusion mit Druckinfusionsmanschette Aufklaren des Patienten gestoppt werden, um den
beim Patienten innerhalb der Maßnahmen zum erreichten, minimal notwendigen systolischen Blut-
Wärmeerhalt (z. B. Schlafsack) platziert werden. druck nicht durch weitere Volumengabe wesentlich
> In allen genannten Fällen muss zur Vermei-
zu überschreiten und ggf. erneut Blutungen zu pro-
dung von Luftembolien das Infusionssystem
vozieren [59]. Dieses Vorgehen stellt sicher, dass nur
komplett luftleer sein. Dazu wird das Infusi-
solche Patienten Infusionslösungen erhalten, die
onssystem in den Beutel gesteckt, geöffnet,
wesentlich von ihnen profitieren. Dadurch werden
der Beutel auf den Kopf gedreht und durch
nicht nur Infusionen gespart, sondern der Arbeits-
Zusammendrücken solange Flüssigkeit ins
aufwand durch Anlage von Zugängen und Über-
System gepresst, bis es (inkl. Tropfkammer!)
wachung der laufenden Infusion wird für die Helfer
vollständig entlüftet ist.
deutlich reduziert. Verwundete mit wahrscheinlich
höherem Blutverlust, aber noch vorhandenem
Dieses Vorgehen macht aus den o. g. Gründen beim Radialispuls und klarem Bewusstsein sollten vorerst
Verwundeten mit nicht kontrollierbaren Blut- keine Infusionen erhalten. Die Anlage eines venö-
ungen, insbesondere des Körperstamms, Sinn. sen Zugangs ist aber zum frühestmöglichen Zeit-
9.3 · »Tactical Field Care«
173 9
Hämodynamische Therapie
CAVE
Schweres SHT (GCS<8) bzw. AVPU < PU. Ziel RR 120 mmHG syst. → Volumen (HyperHaes)
punkt sinnvoll, um bei weiterer Verschlechterung Holcomb teilt Verwundete, die eine Infusions-
unmittelbar eine Volumengabe durchführen zu therapie erhalten, anhand ihrer Reaktion auf
können. Zum Offenhalten von venösen Zugängen Flüssigkeitsgabe in drei Gruppen ein:
wird eine Fließgeschwindigkeit von ca. 30 ml/h be- 4 »responder«: Verwundete, die auf die Volu-
nötigt [35], oder es werden in regelmäßigen Abstän- mengabe mit Zustandsverbesserung (Wieder-
den (etwa alle 10 min) wenige Milliliter Volumen erlangen des Bewusstseins oder Radialispulses)
gegeben. Alternativ können die Zugänge mit Man- reagieren.
drins abgestöpselt werden. Leichtverwundete mit 4 »transient responder«: Verwundete, die
geringen Verletzungen und niedrigem Blutverlust vorübergehend mit einer Zustandsverbesse-
benötigen vor Erreichen einer Behandlungseinrich- rung reagieren
tung meist nicht unbedingt die Anlage eines i.v. 4 »non-responder«: Verwundete, die keine
Zugangs [27]. Zustandsverbesserung zeigen.
Verwundete mit kontrollierten Blutungen und
Hinweis auf ein Schockgeschehen profitieren dage- Das Verhalten von »respondern« weist in der Regel
gen im Regelfall von einer Infusionstherapie. Ver- darauf hin, dass derzeit keine stärkeren Blutungen
wundete, die deutliche Zeichen einer verminderten mehr bestehen. Je nach Verletzungsmuster kann
Organperfusion (fehlender Radialispuls, Bewusst- ihre Evakuierung ggf. zugunsten anderer Patienten
seinstrübung) zeigen, sollen Flüssigkeitsboli bis zur oder besserer taktischer Rahmenbedingungen ver-
Wiederherstellung der Mikrozirkulation (tastbarer zögert werden. Bei »transient respondern« und
Radialispuls, Wiedererlangung des Bewusstseins) »non-respondern« ist dagegen eine weiter beste-
erhalten [7]. Stehen ausreichend Ressourcen zur hende Blutung zu vermuten und somit eine
Verfügung und liegen keine nichtkontrollierbaren schnellstmögliche Evakuierung mit dem Ziel der
Blutungen vor, kann durchaus eine Anhebung des chirurgischen Blutstillung anzustreben. Ist diese
Blutdrucks auf normotone Werte (RRsys: 100– nicht möglich, ist ihre Prognose vergleichsweise
120 mmHg) erfolgen und eine Infusionstherapie schlecht. Gleiches gilt für Patienten, bei denen die
auch bei Patienten erwogen werden, die noch keine Applikation von 1.000 ml kolloidaler Lösung nicht
Zeichen einer verminderten Organperfusion auf- ausgereicht hat, um sie aufklaren zu lassen und
weisen (. Abb. 9.38). einen peripheren Puls wiederherzustellen. In bei-
Bei Verwundeten mit Schädel-Hirn-Trauma den Fällen ist die Nutzung weiterer vorhandener
ist eine Anpassung des Zielblutdrucks auf höhere Infusionslösungen von der Lage abhängig zu
Werte unter Umständen sinnvoll (s. unten). machen. Möglicherweise ist eine Triagierung der
174 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung
Verwundeten mit anschließender Zuteilung der sich das einfache Abstöpseln des liegenden Zugangs
medizinischen Ressourcen an die hoffnungsvolle- mit einem Mandrin. Durch die Einführung moder-
ren Fälle sinnvoll [8, 27]. ner i.o. Systeme ist diese prophylaktische Anlage
eines Zugangs jedoch nicht mehr zwingend not-
Zugangswege wendig. Intraossäre Zugänge lassen sich auch beim
Die frühestmögliche Anlage eines i.v. oder i.o. Zu- Schockpatienten unabhängig von schlechten Ve-
gangs ist beim Notfallpatienten grundsätzlich von nenverhältnissen erheblich einfacher legen, auf-
großer Bedeutung, um Infusionen, Analgetika und grund des höheren Gewichts und Packmaßes ist die
Antibiotika verabreichen zu können. verfügbare Anzahl jedoch meist klein. Ihre Anwen-
dung sollte in diesem Fall unter Berücksichtigung
jIntravenöse Zugänge (. Abb. 9.39) der vorhandenen Ressourcen erfolgen.
Ist ein Volumenersatz (noch) nicht indiziert, sollte Die durch erfahrene Anwender durchschnitt-
kann wegen der möglichen Verschlechterung des lich benötigte Zeit zur präklinischen Anlage eines
peripher-venösen Status bei fortschreitendem peripher-venösen Zugangs wird mit 10–12 min bei
Schock trotzdem ein peripher-venöser Zugang zur einem Anteil von 10–40 % erfolgloser Punktionen
Sicherung des Venenzugangs erfolgen, insbesonde- angegeben [39, 49]. Gerade unter den erschwerten
re bei Patienten mit Verletzungen im Bereich von Bedingungen der taktischen Medizin wird dieser
Hals und Körperstamm. Um Ressourcen zu sparen Zeitbedarf regelmäßig erreicht und überschritten.
und die Handhabung des Patienten durch ein Infu- Da Material, Personal und Zeit im taktischen Um-
sionssystem nicht unnötig zu erschweren, empfiehlt feld in der Regel Mangelressourcen sind, sollte da-
9.3 · »Tactical Field Care«
175 9
her keine wahllose Anlage von peripher-venösen Knochen oder Extremitäten mit Gefäß- oder größe-
Zugängen bei Patienten ohne Notwendigkeit einer rem Weichteildefekt darf aufgrund der unsicheren
Volumentherapie erfolgen. Da gewöhnlich aufgrund Resorption aber keine Punktion erfolgen (lokale
medizinischer und logistischer Gründe im Feld eher Kontraindikation). Bei erfolgloser Anwendung soll-
eine restriktive Volumentherapie zu bevorzugen ist, te ein zweiter Punktionsversuch an einem anderen
ist die Anlage eines 18-G-Zugangs im Regelfall aus- Knochen stattfinden [22, 38].
reichend: 500 ml sind in ca. 5 min als Druckinfusion Dosierung, Anschlagzeit und Wirkdauer von
infundierbar. Größere Flexülen sind bei den erfor- Medikamenten entsprechen denen bei i.v. Applika-
derlichen Fließgeschwindigkeiten nicht notwendig, tion [22].
führen aber gerade beim Unerfahrenen häufig zu Grundsätzlich sind alle gebräuchlichen Notfall-
frustranen Punktionsversuchen [27]. medikamente auch intraossär applizierbar. Insbe-
Die Fixierung von Zugängen ist bei der meist sondere der sternale i.o. Zugang mit dem F.A.S.T.-
schweißnassen, staubigen oder verschmutzten Haut 1-System ist durch den Hersteller für die Applikati-
der Verwundeten problematisch. Handelsübliche on aller gängigen Notfallmedikamente und -infusi-
Flexülenpflaster erweisen sich häufig als nicht adhä- onslösungen freigegeben. An manchen Stellen ist in
siv genug. Etablierte Alternativen sind die Fixierung der Literatur die Empfehlung zu finden, dass hyper-
mit 2–3 Streifen Sporttape und das Umwickeln mit tone Kochsalzlösung (z. B. HyperHAES) wegen der
einer Mullbinde oder Haftbinde. Auch klare Klebe- Gefahr einer Ausbildung von Kompartmentsyndro-
folie oder Tapete/Fixiervlies (z. B. Omnifix elastic, men intraossär nur verdünnt verabreicht werden
Fa. Hartmann) haben sich bewährt, die durchsich- sollte [22]. Dies stellt das Wirkprinzip der Gabe
tige Folie (z. B. Tegaderm, Fa. 3M erlaubt dabei im hochkonzentrierter Kochsalzlösungen in Frage und
Anschluss die Sichtkontrolle des Zugangs. dürfte sich ohnehin eher auf Zugänge in Tibia und
Humerus beziehen. Der Stellenwert dieser Ein-
jIntraossäre Zugänge schränkung ist für die taktische Medizin daher als
Intraossäre Zugänge sind indiziert, wenn kritisch gering einzuschätzen.
verwundete Patienten zügig einen Zugang benöti- Als Anlageorte der ersten Wahl gelten beim Er-
gen und ein intravenöser Zugang nicht angelegt wachsenen die proximale und distale Tibia sowie
werden kann [38]. Im taktischen Umfeld sprechen das Sternum, als zweite Wahl der Oberarmkopf und
im Vergleich zum intravenösen Zugang v. a. die er- der Innenknöchel (. Abb. 9.40). Die Nutzung von
heblich kürzere Anlagezeit und die hohe Erfolgs- i.o. Systemen für einen sternalen Zugang bietet den
quote auch bei schwierigen Venenverhältnissen im Vorteil, dass ihre Anwendung bei der Verletzung
Schock für die Nutzung intraossärer Zugänge als von Extremitäten weiter möglich bleibt. Da Extre-
ideale Alternative [27]. Auch bei Minderung von mitätenverletzungen im militärischen Umfeld sehr
Tastempfinden und Geschicklichkeit (z. B. bei kal- häufige Verletzungsmuster darstellen, kommt die-
ten Fingern) sind sie leicht anzuwenden. Sie lassen sem Gesichtspunkt besondere Bedeutung zu. Das
sich in mindestens 80–90 % der Fälle beim ersten Sternum ist durch Schutzwesten meist gut geschützt,
Versuch innerhalb von ca. 1–2 min erfolgreich plat- und schwere Verletzungen in diesem Bereich sind
zieren. Halbautomatische Systeme (z. B. EZ-IO) er- häufig ohnehin unmittelbar tödlich. Das F.A.S.T.-
reichen primäre Erfolgsquoten von annähernd 1-System ist speziell für die Anlage am Sternum
100 % und sind noch schneller erfolgreich platzier- konstruiert worden. Die Technik ist einfach zu er-
bar, aber im Vergleich sehr groß und schwer [22, lernen und durchzuführen. Das F.A.S.T.-1 ist auf-
38]. Intraossäre Zugänge haben in der taktischen grund seines niedrigen Profils und dem abdecken-
Verwundetenversorgung alternative Gefäßzugänge den Plastikdom das nach Anlage am sichersten in
wie ZVK-Anlage (»zentraler Venenkatheter«) oder Position bleibende System [38]. Dies ist im takti-
die chirurgische Freipräparation von Venen fast schen Umfeld mit seinen meist rauen Transportbe-
vollständig verdrängt. dingungen besonders vorteilhaft. Nachteilig ist,
Absolute Kontraindikationen gibt es für die dass es ein relativ großes und schweres Packmaß
Anlage von i.o. Zugängen nicht. An gebrochenen aufweist. Die Nachfolgegeneration (F.A.S.T.-X) ver-
176 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung
nung für den Einsatz im taktischen Umfeld auch von kristalloiden Lösungen ist bei hypertoner
andere Aspekte berücksichtigt werden. Kolloide Kochsalzlösung bei einmaliger Applikation nicht zu
bringen nämlich in logistischer Hinsicht klare Vor- befürchten, da die hypertone Lösung umso mehr
teile mit sich: Im Vergleich mit kristalloiden Lösun- verdünnt wird, je größer das intravasale Volumen
gen vervierfacht sich bei gleichem Gewicht und ist. Der Flüssigkeitseinstrom ins Gefäßbett redu-
Packmaß der erzielbare Volumeneffekt. Das im ziert sich damit entsprechend [42].
Rucksack mitführbare Volumen an Infusionslösun- Die in HyperHAES vorliegende Kombination
gen beschränkt sich ohnehin meist auf wenige Liter, von hypertoner Kochsalzlösung und MMW-HES
da die Belastungsgrenze der Soldaten durch Schutz- beeinträchtigt die Gerinnselfestigkeit in experimen-
weste, Bewaffnung, Trinkwasser, medizinische und tellen Untersuchungen weniger stark als die sehr
sonstige Ausrüstung mit Lasten von insgesamt nebenwirkungsarmen LWM-HES-Präparate. Ob
30–50 kg bereits nahezu erreicht ist. Die geringen sich dies klinisch auswirkt, ist aber noch nicht ge-
Nachteile der modernen kolloidalen Lösungen klärt [36, 37].
rücken aus Sicht der Autoren mangels Alternativen Angesichts der Tatsache, dass die Lösungen
in den Hintergrund, bis bessere Optionen verfügbar rasch als Druckinfusion appliziert werden müssen,
geworden sind [27, 49]. um ihre Wirkung zu entfalten, ist eine Steuerung
des Blutdruckanstiegs über Titration schlechter
jHyperton-hyperonkotische möglich. Die Anwendung kann aus eher theoreti-
Infusionslösungen schen Erwägungen somit im taktischen Umfeld
Hyperton-hyperonkotische Infusionslösungen problematisch sein. Gerade bei unkontrollierten
9 (HyperHAES) enthalten eine stark hypertone Koch- Blutungen und der Indikation zur permissiven
salzlösung (7,2 %) mit 6 % HES 200/0,5. Durch Hypotonie sollte ihr Einsatz daher gut abgewogen
rasche Infundierung der Lösung kommt es zu einer werden [42].
deutlichen Erhöhung der Plasmaosmolalität, die Insgesamt war die Studienlage zum Stellenwert
zu einem schnellen Flüssigkeitseinstrom aus dem von HyperHAES nicht einheitlich. Die positiven
Extra- in den Intravasalraum führt [42]. Die ent- Anfangserfahrungen, ersten größeren Studien und
haltenen HES-Moleküle binden den Großteil der klinischen Anwendungsbeobachtungen wiesen je-
eingeströmten Flüssigkeit anschließend im Gefäß- doch auf einen hohen Nutzen der Lösungen für die
bett. Dadurch können teilweise auch Patienten im taktische Medizin hin. Selbst eine in den USA noch
sonst therapierefraktären Schock stabilisiert wer- nicht zugelassene hyperton-hyperonkotische Koch-
den. Die Überlebenswahrscheinlichkeit im Schock salz-Dextran-Lösung wird trotz des enthaltenen
kann erhöht, die Organperfusion verbessert werden nebenwirkungsreichen Dextran sehnsüchtig er-
[42]. Die rasche Verbesserung der Mikrozirkulation wartet und könnte dort als neue Standardinfusions-
scheint nach der derzeitigen Studienlage insbeson- lösung das derzeit eingeführte Kolloid Hextend 6 %
dere bei SHT und penetrierenden Verletzungen die in den TCCC-Leitlinien ablösen [45].
Überlebenswahrscheinlichkeit zu erhöhen [49]. Durch die bereits angesprochene Diskussion
Ob die Kombination mit hyperton-hyperonko- rund um das Risikoprofil von HES wurde auf Betrei-
tischen Kochsalzlösungen einer Therapie nur mit ben des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medi-
herkömmlichen Kristalloiden oder Kolloiden hin- zinprodukte auch die Überarbeitung der Zulassung
sichtlich des Patientenoutcome wirklich überlegen für HyperHAES gefordert. Der Hersteller verzichtete
ist, ist aber noch nicht klar und wurde bisher inten- leider darauf und zog die Zulassung zurück. Das Pro-
siv untersucht [49]. Die zur hämodynamischen Sta- dukt ist damit nicht mehr am Markt erhältlich. Es ist
bilisierung notwendige Flüssigkeitsmenge konnte zu vermuten, dass hier weniger ein schlechtes Risiko-
bei der Anwendung von HyperHAES aber deutlich profil die Ursache war, als vielmehr wirtschaftliche
gesenkt werden [42]. Dies bringt neben dem Be- Abwägungen. Eine Neuzulassung mit dem moder-
handlungserfolg auch erhebliche logistische Vortei- nen niedermolekulargewichtigen HES 130/0,4 hätte
le hinsichtlich Packmaß und Gewicht mit sich. Eine für dieses notfallmedizinische Nischenprodukt
akute Volumenüberladung wie bei der Anwendung wahrscheinlich unverhältnismäßig hohe Kosten
9.3 · »Tactical Field Care«
181 9
verursacht. Gerade für den Bereich der taktischen Orale Flüssigkeitszufuhr
Medizin hinterlässt der Wegfall von HyperHAES Die im zivilen Bereich übliche Praxis, dass Verletzte
eine spürbare Lücke, da die Infusionslösung ein sehr zur Minderung des Risikos bei der Narkoseinleitung
gutes Verhältnis zwischen Packmaß und Gewicht zu grundsätzlich nüchtern gelassen werden sollen,
intravasaler Volumenwirkung geboten hat. kann nicht unkritisch auf den militärischen Bereich
Als hyperton-hyperonkotische Infusionslösung übertragen werden. Patienten sind durch die körper-
steht alternativ RescueFlow zur Verfügung. Dessen liche Anstrengung im Gefecht, das Tragen der
hyperonkotische Wirkung basiert auf einem Zusatz schweren Ausrüstung und aufgrund der klimati-
von Dextran anstelle von HES und weist damit des- schen Bedingungen meist schon vor der Verwun-
sen ungünstigeres Nebenwirkungsspektrum auf. dung dehydriert. Bei längeren Evakuierungszeiten
und limitierter Verfügbarkeit von Infusionslösun-
jBalancierte Infusionslösungen gen, insbesondere von Kristalloiden, kann dies die
Da die meisten kristalloiden und kolloiden Lösun- Entstehung eines Schocks fördern. Orale Flüssig-
gen unphysiologisch sind, leisten sie einer Azidose keitsaufnahme kann helfen, Infusionen einzusparen.
durch Verdünnung häufig Vorschub (s. o.) und för- Sie wird daher für alle Patienten empfohlen, die
dern so die letale Trias des Schocks [37, 64]. nicht bewusstseinsgetrübt sind und schlucken kön-
Lösungen, die im Elektrolytmuster, Osmolalität nen [45]. Bei Patienten mit Abdominaltrauma sollte
und Säure-Basen-Status die Charakteristik des die Indikation lageabhängig enger gefasst werden.
Plasmas aufweisen, werden als »balanciert« be-
zeichnet. Sie können (mit Ausnahme einer Volu- Plasma
menüberladung) keine wesentlichen Störungen des Blut- und Plasmaprodukte stellen in vielen Fällen
Säure-Basen- und Elektrolythaushaltes auslösen den derzeit besten verfügbaren Volumenersatz bei
[63]. Daher sollten grundsätzlich balancierte Infu- hämorrhagischem Schock dar. Plasma bietet im
sionslösungen eingesetzt werden, und unbalan- Gegensatz zu Infusionslösungen den Vorteil, dem
cierte Lösungen (z. B. NaCl, RiLac) auf ein Mini- Körper Flüssigkeit in physiologischer Konzentra-
mum reduziert werden [7, 35, 62, 64]. tion mit allen Elektrolyten und Proteinen inkl. der
In der Gesamtschau aller Infusionslösungen Gerinnungsfaktoren zur Verfügung zu stellen [24,
weisen LMW-HES-Präparate mit niedrigem Substi- 51]. Es ist daher als Volumenersatz gerade bei Pa-
tutionsgrad (z. B. 130/0,42) in isotoner, balancierter tienten mit drohenden oder manifesten Gerinnungs-
Lösung mit physiologischem Kalziumgehalt (z. B. störungen hervorragend geeignet, da es verloren
Tetraspan, Fa. Braun) somit ein sehr günstiges gegangene Gerinnungsfaktoren ersetzen kann und
Nebenwirkungsprofil auf und dürften damit die Verdünnungseffekte vermeiden hilft. Es konnte bis
derzeit beste vorhandene Option für einen präklini- in jüngste Zeit allerdings nur durch Einfrieren halt-
schen Volumenersatz beim Traumapatienten dar- bar gemacht werden (»Fresh Frozen Plasma«, FFP),
stellen [4, 62, 63]. sodass es aufgrund der notwendigen Kühlung für
den präklinischen Einsatz kaum geeignet war [59].
Vorteile von 250-ml-Infusionsbeuteln Bereits im 2. Weltkrieg wurde als deutlich ein-
gegenüber den üblichen 500-ml-Beuteln facher zu handhabende Variante gefriergetrockne-
5 Sie lassen sich leichter verstauen. tes Plasma genutzt, das unmittelbar vor Anwendung
5 Bei Anfall einer größeren Anzahl Ver- wieder in Flüssigkeit gelöst werden konnte. Auf-
wundeter kann die verfügbare Infusions- grund von damals nicht beherrschbaren Problemen
menge bei Bedarf auf mehr Patienten durch die mögliche Übertragung von Infektions-
aufgeteilt werden. krankheiten wurde die Produktion verlassen [1].
5 Die Überwachung des infundierten In Konsensus-Konferenzen der amerikanischen
Volumens wird erleichtert. Streitkräfte wurde gefriergetrocknetes Plasma 2010
als vielversprechendste Flüssigkeit im Rahmen von
prolongierter präklinischer Volumentherapie be-
wertet [10]. Auch in den britischen Streitkräften
182 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung
wird die Verwendung von Plasma auf dem Ge- Einen besonderen Stellenwert hat dabei die
fechtsfeld angestrebt [10]. Eine Studie über die prä- Gabe von Fibrinogen. Die o. g. Trauma-induzierte
klinische Anwendung von Plasma als Volumen- Koagulopathie führt neben einer Hyperfibrinolyse,
ersatz der ersten Wahl bei nichtkontrollierbaren die mittels Tranexamsäure therapiert werden kann,
Blutungen unter militärischen Einsatzbedingungen auch zu einem massiven Verbrauch von Fibrinogen.
steht noch aus, könnte aber gefriergetrocknetes Dieser Verbrauch tritt schon kurz nach einem Trau-
Plasma als feste Behandlungsoption im präklini- ma auf, noch bevor eine Behandlung im Schock-
schen Bereich etablieren. raum möglich ist. Bereits 1992 konnte eine Vermin-
Entsprechende Produkte sind in den USA in der derung der präklinischen Fibrinogenkonzentration
Erprobung, und ihrer Zulassung in den nächsten an polytraumatisierten Patienten gezeigt werden
Jahren wird hoffnungsvoll entgegengesehen [59]. [78]. Aktuelle Studien aus 2012 bestätigen diese
In Deutschland und Frankreich steht dagegen frühe Abnahme der Fibrinogenkonzentration [79].
schon gefriergetrocknetes lyophilisiertes Plasma Hinzu kommt, dass eine niedrige Fibrinogenkon-
(LyoPlas N-w) zur Verfügung, das hinsichtlich der zentration mit einer erhöhten Sterblichkeit verge-
Lagerungsbedingungen mit einem zulässigen Tem- sellschaftet ist [80]. Darum ist auch eine frühzeitige
peraturbereich von 2–25 °C relativ unempfindlich präklinische Gabe von 2–4 g Fibrinogen bei hämor-
ist [14]. Nach Lösen in Wasser kann es unmittelbar rhagischem Schock und unkontrollierbaren Blu-
verabreicht werden. Es wird in großem Umfang er- tungen zur Förderung der Blutstillung zu empfeh-
folgreich in Auslandseinsätzen der Bundeswehr ge- len. Um diese Menge an Fibrinogen mittels ge-
nutzt, allerdings bisher lediglich in der stationären friergetrocknetem Plasma zu verabreichen, müssten
9 Versorgung [10]. dem Patienten 2.000–4.000 ml Plasma infundiert
Auch wenn Plasma ein nahezu ideales Volumen- werden. Dies entspricht 10–20 Glasflaschen
ersatzmittel ist, bietet sich Lyoplasma in der Präklinik Lyoplasma, deren Mitführung und Vorbereitung
nur eingeschränkt für diesen Verwendungszweck an. einen erheblichen logistischen Aufwand darstellen
Es ist nicht nur teuer und nicht in beliebigen Mengen würde.
produzierbar, sondern auch nur als Trockensubstanz
Tipp
in Glasflaschen verfügbar und muss erst mit Wasser
für Injektionszwecke aufgelöst werden. Pro Flasche
Fibrinogen ist als Trockensubstanz in 1 g
stehen dann 200 ml Plasma zur Verfügung, so dass
Konzentrationen in einer Glasflasche ver-
die bei relevantem Trauma notwendigen Mengen an
fügbar. Diese muss mit 50 ml Wasser für Injek-
Volumenersatz nicht nur schlecht mitgeführt werden
tionszwecke aufgelöst werden, was im Einsatz
können, sondern auch eine erhebliche Vorberei-
auf logistische Probleme stoßen kann. Die
tungszeit vor Applikation brauchen.
Durchstechflaschen dürfen nicht über +25 °C
Zur Schockraumbehandlung in medizinischen
gelagert werden.
Behandlungseinrichtungen ist Lyoplasma deutlich
geeigneter, da hier mehr Helfer und Lagerungsmög-
lichkeiten zur Verfügung stehen. In der Regel wird
es aber aufgrund der eingeschränkten Verfügbarkeit Prokoagulanzien
auch hier vor allem dazu genutzt, bei Blutungen und Als präklinisches Prokoagulanz der Wahl bei nicht
Gerinnungsstörungen zusätzlich Gerinnungsfakto- beherrschbaren Blutungen konnte sich mittlerweile
ren zu substituieren und wird mit anderen Blutpro- Tranexamsäure (Cyklokapron, Quixil) etablieren
dukten kombiniert. Grundsätzlich ist ein Verhältnis und ist für diese Anwendung auch in die TCCC-
Lyoplasma : Erythrozytenkonzentrat von 1:1 zu Leitlinien aufgenommen worden [10, 70]. Tran-
empfehlen. In einer leistungsfähigen medizinischen examsäure (TXA) hemmt die Auflösung bestehen-
Behandlungseinrichtung kann die kalkulierte Subs- der Blutgerinnsel (Fibrinolyse) und begünstigt da-
titution von einzelnen Gerinnungsfaktoren aller- durch die Blutgerinnung. Sie vermindert nachge-
dings im Vergleich dazu mehr erreichen und ist wiesenermaßen das Risiko zu verbluten, ist relativ
logistisch einfacher. kostengünstig und weist angesichts der Lebensge-
9.3 · »Tactical Field Care«
183 9
fahr ein vertretbares Nebenwirkungsspektrum auf wendung noch ausreichend Gerinnungsfaktoren
[11]. Es gibt sogar erste Hinweise darauf, dass Tran- vorhanden sein müssen, macht eine Nutzung im
examsäure auch die Prognose von Patienten mit präklinischen Bereich aber nur in einer frühen Pha-
einer traumatisch bedingten intrakraniellen Blu- se des Traumas Sinn, in der der kritische Verlauf
tung günstig beeinflussen kann [71]. Bei Verwunde- meist noch schlecht vorhersehbar ist. Da im Ver-
ten mit signifikantem Blutverlust (z. B. bei hämor- gleich zu Tranexamsäure eine erhöhte Rate von
rhagischem Schock, Amputationsverletzungen, pe- Thromboembolien als Komplikation nachgewiesen
netrierendem Thoraxtrauma) kann standardisiert worden ist, ist rVIIa eher keine Option mehr für den
innerhalb der ersten Stunde nach der Verwundung, präklinischen Einsatz. Seine Anwendung sollte
spätestens aber innerhalb von 3 h, 1 g Tranexam- daher vornehmlich auf den klinischen Bereich be-
säure als Kurzinfusion verabreicht werden. Nach schränkt bleiben [36].
Infusionstherapie mit Kolloiden kann dann eine
zweite Kurzinfusion mit gleichem Wirkstoffgehalt Posttraumatische Reanimation
durchgeführt werden [70]. Reanimationsversuche sollten bei traumatisch be-
Eine weitere Option ist die Anwendung von Des- dingten Herz-Kreislauf-Stillständen in taktischen
mopressin (Minirin). Es verstärkt die Thrombozy- Lagen im Regelfall im Sinne einer Triagierung un-
tenadhäsion an die Gefäßwande im Bereich von terbleiben. Sie binden massiv Material und Perso-
Verletzungen und fördert so die Entstehung belast- nal, haben aber eine sehr schlechte Prognose [45].
barer Blutgerinnsel. In Laboruntersuchungen konn- In entsprechend günstigen Lagen (z. B. Polizeiein-
te Desmopressin die bei auf 32 °C gekühltem Blut satz, einzelner Verwundeter ohne aktuelle Bedro-
erheblich verschlechterte Gerinnung wieder deut- hung) ist der Versuch aber durchaus sinnvoll und ist
lich verbessern [62]. Eine Begleittherapie mit Des- gerade bei eigenen Verwundeten wichtig für die
mopressin kann daher gemäß Stellungnahme der Moral und die psychische Verarbeitung (»es wurde
Bundesärztekammer bei der Therapie schwerer Blu- alles versucht«). Ist ein Spannungspneumothorax
tungen bei Hypothermie indiziert sein [36]. Bei Ha- als Ursache des Herz-Kreislauf-Stillstandes nicht
sen mit unkontrollierten Blutungen nach Verletzung sicher auszuschließen, sollte vor Abbruch der Re-
der Aorta zeigte sich bei einer Gruppe, die normo- animationsmaßnahmen unbedingt eine beidseitige
tensiv und mit Desmopressin behandelt worden ist, Nadelentlastung durchgeführt werden [70].
eine ähnliche Überlebenswahrscheinlichkeit wie bei
der Kontrollgruppe mit permissiver Hypotension
[50]. Für Patienten mit SHT und unkontrollierten 9.3.5 Disability
Blutungen, bei denen zurzeit der Spagat zwischen
Minimierung von Blutverlusten und optimaler Neurologischer Status (. Abb. 9.42)
Hirnperfusion kaum zu bewerkstelligen ist, könnte Bei der Erhebung des neurologischen Status ist ins-
das Medikament daher in Zukunft eine entscheiden- besondere der Bewusstseinszustand aufgrund sei-
de Prognoseverbesserung bedeuten [76]. ner Bedeutung für die Atemwegssicherung und als
Der Einsatz von rekombinantem Faktor rVIIa Maßstab der Organperfusion im Rahmen der
(NovoSeven) zeigte bei Verwundeten mit unstillba- Schockbehandlung wichtig. In Verbindung mit der
rer Blutung in Studien teilweise Überlebensvorteile. Pupillenreaktion liefert er darüber hinaus auch An-
rVIIa aktiviert die intrinsische und extrinsische Ge- haltspunkte zur Beurteilung der Schwere eines
rinnungskaskade und fördert dadurch die Throm- Schädel-Hirn-Traumas.
benbildung. Damit könnte es zur Verminderung Zur Vereinfachung ist in der taktischen Medizin
von präklinisch sonst nicht kontrollierbaren Höh- eine Einteilung in AVPU (englisch) bzw. WASB
lenblutungen beitragen [51]. Verschiedene US-Spe- (deutsch) üblich (. Abb. 9.43). Die Einteilung »alert«
zialeinheiten hatten versuchsweise mit der präklini- (wach), »verbal« (antwortet), »pain« (Schmerz-
schen Anwendung von NovoSeven begonnen, seit reaktion) und »unresponsive« (bewusstlos) deckt
die neueste Generation des Medikaments nicht sich dabei mit der traditionellen deutschen Ein-
mehr kühlpflichtig ist. Da für eine erfolgreiche An- teilung der Bewusstseinszustände (wach, somno-
184 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung
. Abb. 9.43 Darstellung der typischen Befunde im Rahmen der AVPU-Einstufung. In der ersten Spalte sind die Werte des
Glasgow-Coma-Scale (GCS) zum Vergleich aufgeführt
9.3 · »Tactical Field Care«
185 9
Schädel-Hirn-Trauma
lent, soporös, komatös). Durch die Nutzung der An- Optimierung der zerebralen Perfusion und der Ge-
fangsbuchstaben lässt sich ein Befund gut dokumen- webeoxygenierung sicherstellen. Unter adäquater
tieren und übergeben. Als Gedächtnisstütze zum Beatmung oder Oxygenierung ist die Anwendung
Untersuchungsablauf der Pupillen und Dokumenta- von Ketamin beim SHT indiziert. Es gibt erste
tionsmöglichkeit hat sich »PERRLA« (pupils equal, Hinweise, dass Ketamin ebenso wie HyperHAES
round, reactive to light, accommodate: Pupillen iso- einen neuroprotektiven Effekt beim SHT haben
kor, rund, lichtreagibel, Akkomodation) etabliert. kann [49]. Die Therapie des SHT ist ausführlich in
Eine grobe Überprüfung von Durchblutung, 7 Kap. 18 dargestellt.
Motorik und Sensibilität der Extremitäten sollte
durchgeführt werden, um später den Verlauf beur- Schmerzbekämpfung (. Abb. 9.45)
teilen zu können und Hinweise auf eine ggf. vor- Im taktischen Umfeld kann eine große Bandbreite
liegende Wirbelsäulenschädigung zu erhalten. von Schmerzen auftreten. Neben schweren Ver-
wundungen, die in der Regel eine Therapie mit
Schädel-Hirn-Trauma (. Abb. 9.44) Opiaten oder Ketamin erfordern, sind leichtere Ver-
Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma sollten zur wundungen mit geringeren Schmerzen häufig auch
Minderung des Hirndrucks mit erhöhtem Ober- durch orale Einnahme niedrigpotenterer Medika-
körper (idealerweise 30°) und in der Körperachse mente ausreichend versorgt. Auch bei eher banal
gerade liegendem Kopf (Verbesserung des venösen erscheinenden Erkrankungen, wie z. B. starken
Abflusses) gelagert werden. Eine Halskrause darf Kopfschmerzen, kann nur die Verfügbarkeit geeig-
daher auch nicht zu fest angelegt werden. Neben der neter Schmerzmittel die volle Einsatzfähigkeit des
Sauerstoffgabe soll ein normal hoher Blutdruck die Soldaten erhalten.
186 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung
Analgesie
Schmerz ist eine äußerst subjektive Empfindung Weil die intravenöse Schmerztherapie zwar
und korreliert nicht zwangsläufig mit der Schwere schnell und gut wirksam ist, aber auch mit einem
der Verwundung. Insbesondere im Gefecht wer- hohen Aufwand verbunden ist, kommt aufgrund
den Verletzungen häufig nicht richtig wahrge- der Besonderheiten des taktischen Umfeldes alter-
nommen. In diesen Fällen ist eine Analgesie nicht nativen Applikationsformen (z. B. bukkal, intra-
zwingend indiziert, bis Schmerzen auftreten oder nasal, intramuskulär) eine besondere Bedeutung
die Lage es erlaubt. Verwundete profitieren durch zu. Auch die voraussichtliche Dauer der Schmerz-
Minderung der schmerzbedingten Aktivierung therapie im Feld muss hinsichtlich der notwendigen
des Sympathikotonus aber generell von einer An- Überwachung, wie auch der Aufrechterhaltung der
algetikagabe. Analgesie durch Repetitivdosen, bedacht werden.
9.3 · »Tactical Field Care«
187 9
S - Ketamin - Anwendung
Penetrierende Augenverletzungen
(. Abb. 9.50)
Penetrierende Augenverletzungen resultieren im-
mer in einer hohen Infektionsgefahr, die auch bei
Bagatellverletzungen das Augenlicht gefährdet.
Kann der Patient schlucken, ist die orale Gabe von
Gyrasehemmern (z. B. Ciprofloxacin, Moxifloxa-
cin) sinnvoll. Je nach Einsatzland können teils er-
hebliche Abweichungen bei den Erregerresistenzen
bestehen, die bei der Wahl des Antibiotikums be-
rücksichtigt werden sollten. Nach Möglichkeit soll-
te die Wahl mit der für andere Verwundungen iden-
tisch sein, um die Handhabung zu vereinfachen.
Soll keine systemische Analgosedierung er-
folgen, ist die örtliche Betäubung durch lokalanäs-
thetische Augentropfen (z. B. Ophtacain-N) mög-
. Abb. 9.48 Die Binde, mit der die Schiene am Unterarm be- lich. Sind diese nicht verfügbar, können auch nor-
festigt wird, kann auch für eine improvisierte Trageschlaufe
male, zu Injektionszwecken bestimmte Lokalanäs-
genutzt werden. (Foto: Dr. C. Neitzel)
thetika ins Auge getropft werden. Diese lösen im
Regelfall ein nicht unerhebliches Brennen aus, das
Bei großflächigen Verbrennungen hat sich die aber nach Minuten abklingt. Bevor das verletzte
Nutzung von Rettungsdecken bewährt. Verbren- Auge abgedeckt wird, sollte die verbliebene Seh-
nungsverletzte haben häufig einen hohen Anal- fähigkeit überprüft werden. Das andere Auge sollte
getikabedarf und sind besonders hypothermie- dabei geschlossen sein oder zugehalten werden.
gefährdet. Bei Verbrennungen im Gesichts-/Hals- Orientierend kann geprüft werden, ob Schrift lesbar
bereich oder Inhalation von heißer Luft kann ist (z. B. Verwundetenanhängekarte nutzen), die An-
es zu einer akuten Verlegung der Atemwege zahl gezeigter Finger erkannt wird, Bewegung mit
durch Zuschwellen kommen. Dadurch kann eine der Hand vor dem Auge gesehen wird oder zumin-
Koniotomie unumgänglich werden. Verbrennungs- dest die Unterscheidung zwischen hell und dunkel
patienten erhalten präklinisch häufig erheblich möglich ist.
zu viel Volumen. In der ersten Stunde sollten Das Abdecken sollte mittels einer starren Au-
daher max. 1.000 ml kristalloide Lösung infundiert genklappe erfolgen, um Druck auf das Auge zu
werden, sofern der Patient hämodynamisch stabil verhindern (. Abb. 9.51). Dieser könnte zu weiterer
ist. Verletzung und dem Herauspressen von Augenin-
halt führen. Ersatzweise kann auch eine Schutzbril-
Tipp le genutzt werden. Nur das Abdecken beider Augen
stellt das verletzte Auge bestmöglich ruhig, resul-
Die »10er-Regel« gibt einen vereinfachten tiert aber auch in völliger Hilflosigkeit und häufig
Anhalt zur initialen Infusionstherapie für resultierenden Angstreaktionen des Patienten. Der
normalgewichtige Patienten (40–80 kg): In- für ihn nötige Aufwand erhöht sich somit erheblich,
fusionsvolumen pro Stunde= 10 ml pro % und der Verwundete kann sich im Notfall nicht
II–III° VKOF. Für schwerere Patienten erhöht mehr am Gefecht beteiligen. Die Maßnahme ist
sich der Volumenbedarf je 10 zusätzliche kg daher im Wesentlichen von der Lage abhängig zu
um 100 ml/h. machen. Die Versorgung von Augenverletzungen
wird in 7 Kap. 16 näher beschrieben.
190 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung
Verbrennung
Penetrierende Augenverletzung
a b
. Abb. 9.51a,b Augenklappe. a »Eye shield« (starre Augenklappe) aus SanAusstg BAT. b Improvisierte Augenklappe aus
SAM-Splint
Hypothermie1
Hypothermie (. Abb. 9.52) ca. 10 % senkt [31]. Die Hypothermie beim Trauma-
Eine Hemmung der Gerinnung durch Hypothermie patienten (akzidentelle Hypothermie) ist wesentlich
erhöht den Blutverlust nachweislich, da eine Ver- bedrohlicher als eine einfache Unterkühlung. Sie
ringerung der Körperkerntemperatur (KKT) um hat schwerwiegende Auswirkungen auf das Ge-
1 °C die Effektivität der Gerinnungsfaktoren um rinnungssystem und verschlechtert die Prognose
192 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung
Antibiotika
Anaphylaxie
Anaphylaxie (. Abb. 9.54) tungsmittels in aller Regel den Patienten bis zur
Allergische Reaktionen können auch im taktischen Aufnahme im Krankenhaus. Die erhobenen Befun-
Umfeld auftreten und durchaus lebensbedrohliche de, Diagnose und durchgeführte Therapie lassen
Formen annehmen. Neben Medikamentenapplika- sich daher auch während des Transportes schriftlich
tion können auch anaphylaktische Reaktionen auf dokumentieren und im Zweifelsfall in Notaufnah-
Insektengifte etc. auftreten. me oder Schockraum persönlich übergeben. Diese
Möglichkeit besteht im taktischen Umfeld grund-
Überwachung der Vitalfunktionen sätzlich nicht. Meist erfolgt eine lang andauernde
(. Abb. 9.55) Versorgung im Rahmen der erweiterten Selbst- und
Während der Phase TFC sollten Bewusstseinszustand, Kameradenhilfe mit teilweise umfassenden not-
Atmung und Kreislauf regelmäßig kontrolliert wer- fallmedizinischen Maßnahmen. Im Regelfall wird
den. Sie sind nicht nur von Bedeutung für das frühzei- der Patient dann im Verlauf an sanitätsdienstliche
tige Erkennen von Verschlechterungen, sondern auch Elemente vor Ort und von diesen wiederum an
um den Erfolg eigener Maßnahmen beurteilen zu Hubschrauber übergeben. Durch Lärm, Dreck, die
können [55]. Auch eine regelmäßige Kontrolle der er- umfangreiche Kleidung und Ausrüstung, Feind-
folgten eigenen Maßnahmen (Durchbluten von Ver- und Zeitdruck gehen dabei zwangsläufig alle nicht
bänden, Dichtigkeit von »chest seals«, Wiederholung schriftlich dokumentierten Befunde verloren. In
einer Entlastungspunktion etc.) sollte erfolgen. den US-Streitkräften wurden 2007 weniger als 10 %
der Verwundeten beim Erreichen einer Behand-
Dokumentation (. Abb. 9.56) lungseinrichtung durch eine schriftliche Dokumen-
In der zivilen Notfallmedizin begleitet das Personal tation begleitet [45]. Dies kann Patienten erheblich
des als erstes beim Patienten eintreffenden Ret- gefährden, wenn Verwundungen später zunächst
9.3 · »Tactical Field Care«
195 9
Dokumentation
Ein einfaches, auf das Wesentliche reduzierte Doku- (»casualty evacuation«) in normalen Fahrzeugen
mentationssystem ist dabei wichtig. Die TREMA der Truppe mit oder ohne Begleitung durch medi-
e.V.-Verwundetenanhängekarte ist von ähnlichen zinisch ausgebildetes Personal (. Abb. 9.59).
bei Spezialkräften eingesetzten Karten abgeleitet Die verfügbaren und sinnvollen Maßnahmen
und hat sich vielfach bewährt (. Abb. 9.57). Sie sind dabei bei allen Möglichkeiten im Prinzip iden-
eignet sich zur Dokumentation von Befund, Diag- tisch. Neben dem meist besseren Stand von Ausbil-
nosen und Therapie, bietet auf der Rückseite ein dung und Erfahrung erleichtern die auf Sanitäts-
Verlaufsprotokoll und weist Felder für die Ein- fahrzeugen verfügbaren Vorrichtungen zum Lie-
stufung der Transport- und Behandlungspriorität gendtransport, die bessere Zugänglichkeit des Pa-
auf. Letztere können mittels Stift oder durch Ein- tienten, die vorhandenen medizinischen Geräte und
schneiden einer Kerbe in den Rand markiert wer- die verfügbaren Ressourcen an Verbrauchsmaterial
den. Bei einer Nachsichtung bzw. Änderung der aber den Transport erheblich. Grundsätzlich sollte
Transportkategorie können dann zwei bzw. drei MEDEVAC daher immer bevorzugt werden, wenn
Kerben zur Aktualisierung genutzt werden (Down- die Lage dies erlaubt. Müssen Sanitätsfahrzeuge erst
load unter http://www.tremaonline.info/download. auf dem Landmarsch herangeführt werden, tritt
html). Sie sollte gut sichtbar am Patienten ange- häufig ein nicht unerheblicher Zeitverzug ein und
bracht werden. dem Gegner wird eine weitere Bewegung als Ziel
Eine Vorbereitung der Karten mittels Einlami- geboten. Transportiert ein vor Ort verfügbarer
nieren oder Ausdrucken auf wasserfestem Papier, Rettungstrupp oder BAT (beweglicher Arzttrupp)
Anbringen eines Loches an einer Ecke (z. B. mit den Patient in ein Feldlager, wird das medizinische
9 handelsüblichem Bürolocher) und Durchfädeln Versorgungsniveau der Einheit verschlechtert.
einer großzügigen Schlinge aus Schnur oder eines Außerdem muss dem Fahrzeug eine angemessene
Kabelbinder zur schnellen und sicheren Befesti- Sicherungskomponente mitgegeben werden, was
gung verbessert die Wetterfestigkeit und erleichtert die Kräfte vor Ort reduziert. Beides kann die weite-
die Handhabung unter Stress. Eine Befestigung re Auftragserfüllung gefährden. Aus diesen Grün-
durch Umhängen am Hals kann im schlechtesten den stellt bei Verfügbarkeit der sehr zeitsparende
Fall zur Strangulation des Patienten führen und Lufttransport nahezu immer die ideale Option dar
sollte daher unterbleiben. Im Idealfall wird jeder (. Abb. 9.60). Gelände und Feindlage müssen den
Soldat mit einer bereits mit seinen Personalien und Einsatz aber erlauben. Erfolgt ein Transport mittels
Allergien beschrifteten und anschließend laminier- CASEVAC, ist bei fehlender Verfügbarkeit von
ten Karte ausgestattet, die er bei seiner persönlichen Fachpersonal eine Begleitung durch einen Ersthel-
Sanitätsausstattung trägt. Wenn die Lage das Aus- fer mit erweiterter Ausbildung sinnvoll, z. B.
füllen dieser Karte verzögert, ist das Festhalten der EH B (Einsatz-Ersthelfer B), CFR A/B/C (»Combat
wichtigsten Befunde (mit Uhrzeit) auf einem Tape- First Responder A/B/C«). Dieser fällt dann aber für
Streifen, z. B. am Arm des Patienten, eine schnelle die weitere Auftragserfüllung aus und kann seine
Übergangslösung. Funktion (z. B. Führer, Fahrer, Hauptwaffenbedie-
ner) nicht mehr wahrnehmen. Entsprechend quali-
fiziertes Personal sollte daher nicht in Schlüsselver-
9.4 Tactical Evacuation Care wendungen eingesetzt werden, und es muss eine
(. Abb. 9.58) entsprechende Eventualfallplanung vor Missions-
beginn durchgeführt werden.
Die Phase TCF beschreibt die medizinischen In der Phase TFC getroffene Maßnahmen müs-
Maßnahmen während des Transportes von Ver- sen vor Transportbeginn kontrolliert werden. Ins-
wundeten. Die Bandbreite der Evakuierung umfasst besondere i.v. Zugänge, Atemwegssicherung und
dabei MEDEVAC (»medical evacuation«) durch Blutungskontrolle müssen überprüft werden. Die
mit Fachpersonal besetzte und entsprechend ausge- im Vorfeld erfolgte Versorgung von Verwundungen
stattete Sanitätsfahrzeuge und -luftfahrzeuge mit lässt sich durch das qualifizierte Personal und mit
Liegendtransportkapazität bis hin zu CASEVAC der guten Verfügbarkeit von Material auf Sanitäts-
9.4 · Tactical Evacuation Care
197 9
fahrzeugen meist noch verbessern. So sind im Re- fechts- und Transportfahrzeugen ein Behältnis mit
gelfall Beatmungsgeräte, Überwachungsmonitore, zusätzlichem medizinischem Material vorgehalten,
erweitertes Material zur Hypothermieprophylaxe können Verwundete während eines Transports auf
und Immobilisierung, Thoraxdrainagesets und grö- diesen besser versorgt werden. Gleichzeitig wird ein
ßere Mengen an Verbrauchsmaterial (z. B. Infusio- wertvoller Materialpool für den Fall eines Massen-
nen) verfügbar. Wird auch auf allen normalen Ge- anfalls von Verwundeten geschaffen.
9.4 · Tactical Evacuation Care
199 9
a b
. Abb. 9.60 Bei der Landung von Luftfahrzeugen wird viel Dreck aufgewirbelt. Insbesondere der Gesichts-/Atemwegsbe-
reich sollte hier so gut wie möglich geschützt werden. (Foto: Bundeswehr)
. Abb. 9.62 Improvisierter Transport eines Verwundeten an Bord eines UH-60 D-Transporthubschraubers. Die Maßnahmen
zum Wärmeerhalt an Oberkörper und insbesondere Kopf sind nicht optimal. (Foto: K. Ladehof )
schung, z. B. mittels chemischer Sauerstofferzeuger Schienungen etc. sollten daher regelmäßig kontrol-
(z. B. emOx von emOx international), und bieten liert und ggf. gelockert werden.
somit eine einfache und weniger gefährliche Alter- Bei Einsatz in abgelegenen Szenarien ohne zeit-
native gegenüber der Mitführung von druckbetrie- gerecht erreichbare Hilfe kann es sinnvoll sein, auch
benen Beatmungsgeräten. nichtärztliches Personal in der Durchführung von
Escharotomien (7 Kap. 15) und Fasziotomien zu
Berechnung des O2-Volumens schulen. Bei Explosionsverletzungen und einer lan-
Das in Druckflaschen enthaltene O2-Volumen gen Tourniquet-Liegedauer kann es insbesondere
lässt sich wie folgt berechnen: an Unterarm und Unterschenkel zur Ausbildung
O2-Volumen bei normalem Luftdruck = Druck von Kompartmentsyndromen kommen. Dabei
(bar) ∙ Flaschenvolumen (l) steigt der Druck innerhalb den von derben Binde-
Der minütliche O2-Verbrauch des Beatmungs- gewebsschichten (Faszien) umschlossenen Muskel-
gerätes beträgt: logen durch Blutergüsse oder Ödembildung an, was
Atemminutenvolumen (l/min) = Atemzug- letztlich zum Absterben des betroffenen Gewebes
volumen (l) ∙ Frequenz (1/min) durch Minderdurchblutung führen kann. Es han-
Teilt man das vorhandene O2-Volumen in den delt sich um einen chirurgischen Notfall, der in die-
Flaschen durch das Atemminutenvolumen, sem Fall nur durch Spaltung der Faszien behandelt
erhält man die maximale Beatmungsdauer: werden kann. Die Technik muss unter Anleitung
Maximale Beatmungsdauer (min) = O2-Volu- erlernt werden [24].
men (l) : Atemminutenvolumen (l/min)
9 Die Berechnung geht davon aus, dass die
Flaschen vollständig ohne Restdruck geleert 9.5.4 Merkwort STAUSEE
werden. Bei Geräten, die 50 % Raumluft zu-
mischen können (z. B. Weinmann Medumat: Um die umfangreichen Maßnahmen in der Phase
»Air Mix«), verlängert sich die Beatmungsdauer »Prolonged Field Care« systematisch abarbeiten zu
dann auf ca. das Doppelte. können, kann das Merkwort STAUSEE angewandt
werden (. Tab. 9.4).
Schmerz
Die initial begonnene Analgesie sollte bedarfsorien-
9.5.3 Circulation tiert fortgeführt werden. Neben der generellen
Schmerzlinderung für den Patienten ist ohne
Bleiben Tourniquets länger als 2 h angelegt, besteht Analgesie eine Wundbehandlung häufig nicht
ein erhöhtes Risiko für zusätzliche Schädigungen der möglich. Darüber hinaus aktivieren Schmerzen den
Extremität, z. B. ein Kompartmentsyndroms. Diese Sympathikotonus, verschlechtern die Immunant-
müssen bei einer verlängerten Versorgungsphase von wort auf Infektionen und erhöhen das Risiko der
den Helfern vor Ort kontrolliert werden können, was Ausbildung einer PTBS (posttraumatische Be-
zumeist an Ausbildungsstand und Ausrüstung schei- lastungsstörung) [24].
tert. Daher ist gerade in Szenarien mit verzögerter Neben den bereits im Vorfeld angesprochenen
Evakuierung ein Wechsel von Tourniquet auf Ver- Analgetika bietet sich für den Fall einer verlänger-
bände (ggf. in Kombination mit Hämostyptika) an- ten Versorgungsdauer die Anwendung von Morphin
zustreben [51], allerdings nur, wenn eine Liegezeit an, da es im Gegensatz zu Fentanyl und Ketamin
von 2 h noch nicht überschritten worden ist und der eine deutlich längere Wirkdauer zeigt. Dies dient
Patient sich nicht im Schock befindet. Nach Öffnen letztlich auch der Reduktion des Packmaßes der für
des Tourniquets bei längerer Liegedauer ist mit eine länger dauernde Analgesie notwendigen Medi-
einem deutlichen Anschwellen der Extremität durch kamente. Eine subkutane Injektion kann die
das einströmende Blut und die Ausbildung von Ge- Resorption über einen längeren Zeitraum verteilen
webeödemen zu rechnen. Angelegte Druckverbände, und damit die Wirkdauer strecken.
9.5 · Prolonged Field Care
205 9
. Tab. 9.4 Auflistung der im Rahmen von »Prolonged Field Care« relevanten Aspekte der Patientenversorgung
A ufzeichnung und Regelmäßige Kontrolle und Aufzeichnung der Vitalparameter, Dokumentation durch-
Kontrolle geführter Maßnahmen
Die Anwendung von nicht verschreibungspflich- verband wesentlich zur Schmerzreduktion bei und
tigen oralen Schmerzmedikamenten verringert den sollte spätestens in dieser Phase sorgfältig erfolgen,
Bedarf an Opiaten und ist für leichtere Schmerzen wenn die Voraussetzungen gegeben sind [24].
häufig ausreichend. Sind verlängerte Behandlungs-
zeiten zu erwarten, kann die Mitführung von Temperatur
Schmerzpflastern (transdermales therapeutisches Maßnahmen zur Hypothermieprophylaxe sind von
System, TTS) sinnvoll sein. Im Gegensatz zur häufig besonderer Wichtigkeit. Sie müssen fortgeführt und
notwendigen Dosisrepetition bei i.v. Analgetika, lie- intensiviert werden. Bei längerer Stehzeit vor Ort
fern Fentanylpflaster (z. B. Durogesic) über mehrere können die bereits getroffenen Maßnahmen durch
Tage gleichbleibende Wirkstoffspiegel bei minima- den Bau von Schutzeinrichtungen gegen Wind und
lem Packmaß und Gewicht. Intravenöse Analgetika Wetter, Wärmefeuer etc. ergänzt werden. In war-
können dann zum Durchbrechen von Schmerzspit- men Klimazonen und starker Sonneneinstrahlung
zen genutzt werden. Die Wirkung setzt allerdings erst muss auch ein Überwärmen des Patienten verhin-
nach 6–8 h ein, so dass sie nur überlappend mit ande- dert werden.
rer Schmerzmedikation eingesetzt werden können.
Bei Patienten im Schock ist durch die Zentralisation Aufzeichnung und Kontrolle
die transdermale Resorption meist stark einge- Die regelmäßige Bestimmung der Vitalparameter
schränkt, so dass hier keine effektiven Wirkstoff- (Bewusstseinszustand, Herzfrequenz, Blutdruck, Sät-
spiegel zuverlässig erreicht werden können [24]. tigung, Urinproduktion, Temperatur) ist wichtig, um
Zunehmend wird nichtärztliches Personal, ins- Verschlechterungen des Zustands frühzeitig zu er-
besondere im Bereich der Spezialkräfte, in der kennen und nach der Ursache suchen zu können. Sie
Durchführung einfacher Regionalanästhesiever- dient gleichzeitig als Maß für den Erfolg eigener
fahren geschult. Sie sind eine hervorragende Mög- Maßnahmen. Pulsoxymeter sollten dabei generell
lichkeit, um unter Einsparung wertvoller i.v. An- nur kurzzeitig und gezielt eingesetzt werden, um eine
algetika für mehrere Stunden Schmerzfreiheit zu vorzeitige Batterieentladung zu vermeiden. Eine
erzielen, ohne Bewusstseinseinschränkungen oder Zyanose (Blaufärbung von Haut und Schleimhäuten)
Atemdepression zu riskieren [24]. Die Verfahren ist ein klinisches Zeichen für eine akute Hypoxämie,
sollten sich auf technisch einfach durchführbare wird aber nur bei einem Hämoglobingehalt > 5 g/ml
Nervenblöcke beschränken und unter möglichst sichtbar. Sie kann daher bei massiven Blutverlusten
sterilen Bedingungen durchgeführt werden. trotz niedriger Sättigung nicht vorhanden sein [45].
Auch eine Immobilisierung von Frakturen trägt Herzfrequenz, Blutdruck, Bewusstseinszustand
ebenso wie der Wechsel von Tourniquet auf Druck- und Urinproduktion können gut zur Beurteilung
206 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung
Ulkus
9 Werden bewusstlose oder immobilisierte Patienten
. Abb. 9.63 Narbe am Hinterkopf als Resultat eines Druck-
auf hartem Untergrund gelagert, kann es schon
geschwüres nach mehrstündiger Lagerung auf einem Spine-
nach etwa einer Stunde zu Druckgeschwüren kom- board bei verzögerter Evakuierung im Afghanistaneinsatz.
men (. Abb. 9.63). Wird ein Verwundeter nicht Ein weiteres Druckgeschwür bestand im Kinnbereich durch
zeitnah evakuiert, sollten die Auflagestellen gerade den angelegten Stifneck. (Foto: Dr. C. Neitzel)
auf harten Unterlagen (Spineboard, Skedco) unter-
polstert werden. Bei Lagerung auf einer Trage o. ä.
kann durch Wechsellagerung (abwechselnde Erhö- Steht eine Absaugung nicht zur Verfügung, kann im
hung der rechten oder linken Tragenseite für ca. Notfall mit einem Blasenkatheter eine Reinigung
30 min) eine improvisierte Dekubitusprophylaxe versucht werden. Dazu wird der Katheter nach Ent-
durchgeführt werden. Alternativ kann der Patient fernung des Tubuskonnektors in den Tubus einge-
regelmäßig umgelagert werden (z. B. wechselseitige führt und der Ballon vorsichtig leicht aufgeblasen.
Seitenlagerung). Auch bei Immobilisationen der Beim langsamen Zurückziehen wird im Schlauch
Extremitäten sollte eingehend geprüft werden, ob befindliches Sekret dann entfernt. Bei Patienten, die
diese ausreichend gepolstert sind und bei Bedarf spontan durch einen Tubus atmen (z. B. Konioto-
entsprechend nachgebessert werden. Bei Bewusst- mie), kann die Atemluft durch Vorlegen einer
losen ist darauf zu achten, dass die Augen geschlos- dünnen, mit etwas Wasser oder Elektrolytlösung
sen sind, da andernfalls ein Kornealulkus droht. Bei benetzten Kompresse angefeuchtet werden.
Bedarf können die Augenlider mittels Tape-Streifen Bestehen im Bereich von Punktionsstellen Ent-
in geschlossener Position fixiert werden. zündungszeichen, sollten die liegenden Katheter
nach Möglichkeit entfernt und an anderer Stelle neu
Schläuche gelegt werden. Bei intraossären Zugängen sollte auf-
Alle Tuben, Schläuche und Drainagen sollten regel- grund des Risikos einer Osteomyelitis die Nadel
mäßig auf Funktion geprüft und gesäubert werden. nicht länger als 24 h belassen werden. Die Mehrzahl
Die Eintrittsstellen in den Körper sind dabei sorg- der in 0,6–0,7 % vorkommenden Infektionen tritt
fältig auf Entzündungszeichen zu überprüfen. Ein- nach diesem Zeitpunkt auf [38]. Die Nadel ist unter
gelegte Endotrachealtuben (inkl. Koniotomiezugän- möglichst sterilen Bedingungen zu entfernen, die
gen) sollten bei Verschmutzung abgesaugt werden. verbleibende Hautwunde zu desinfizieren und steril
9.5 · Prolonged Field Care
207 9
abzudecken. B.I.G.- und EZ-IO-Nadeln lassen sich sollte nach Möglichkeit gesüßt und salzhaltig sein
relativ einfach durch Aufschrauben einer Spritze (7 Kap. 36). Bei bewusstlosen Patienten kann über
mit Luer-Lock-Anschluss fassen und aus dem eine Magensonde eine Flüssigkeitssubstitution er-
Knochen herausziehen. Aus diesem Grund ist das folgen (max. 150–250 ml/15 min), um wertvolle In-
Mitführen von Spritzen mit entsprechendem An- fusionslösungen einsparen zu können [24]. Bei
schlussgewinde sinnvoll. Zur Entfernung der 1. Ge- großlumigen Magensonden kann auch dünnflüs-
neration F.A.S.T.-1 muss das beiliegende Entfer- sige Nahrung zur Kalorienzufuhr verabreicht wer-
nungswerkzeug genutzt werden. Die 2. Generation den. Beim bewusstseinsgetrübten Patienten ist die
des F.A.S.T.-1 wird am Schlauch herausgezogen. Sie Nahrungsaufnahme immer gegen ein Aspirations-
ist an einer blauen Markierung am Schlauch er- risiko abzuwägen. Im Zweifelsfall kann auch hier
kennbar (»new = blue«). Dafür ist es wichtig, den die Zufuhr über eine Magensonde erfolgen.
Schlauch unmittelbar am Hautniveau fest zu ergrei-
fen und mit einem beherzten Ruck entgegen der Ausfuhr
Insertionsrichtung die Nadel zu entfernen. Dabei Die Urinausscheidung als Zeichen der renalen Per-
reißt der Schlauch manchmal ab. Dies ist unpro- fusion ist neben der Bewusstseinslage und der peri-
blematisch während der präklinischen Phase, die pheren Durchblutung eines der »drei Fenster« zur
Nadel kann im Zweifelsfall im Knochen belassen Beurteilung der Mikrozirkulation. Eine Miktion
und die Punktionsstelle desinfiziert und steril abge- von mehr als 40–50 ml/h ist ein Zeichen für eine
deckt werden. ausreichende Organperfusion [55]. Verwundete
sollten daher so viel Flüssigkeit oral oder parenteral
Einfuhr und Ausfuhr aufnehmen, dass Harnbildung in diesem Umfang
Einfuhr stattfindet. Erfolgt über einen Zeitraum von 2 h eine
Bei Verwundeten besteht ein erhöhter Kalorien- geringere Urinausscheidung als 20 ml/h (Oligurie),
bedarf, der zur Optimierung der Prognose und der sollte eine aggressive Flüssigkeitstherapie durchge-
Vermeidung von Hypoglykämien bestmöglich ge- führt werden [8]. Stehen Infusionslösungen nicht
deckt werden sollte. Bei Patienten ohne abdominel- zur Verfügung, können normale Flüssigkeiten über
les Trauma oder Bewusstseinseinschränkungen Magensonde verabreicht werden. Beim Schwerver-
sollte bei einer zu erwartenden verlängerten Vers- wundeten oder bewusstlosen Patienten sollte zur
orgungszeit eine orale Flüssigkeits- und Nahrungs- Erleichterung der Bilanzierung ein Dauerkatheter
aufnahme angestrebt werden. Trinkflüssigkeit gelegt werden. Der Ballon sollte in Erwartung eines
208 Kapitel 9 · Leitlinien zur Verwundetenversorgung
Blasenpunktion
Alternativ zum suprapubischen Katheter kann als
9 Option im Notfall die Punktion der Blase mit einer
b
Venenverweilkanüle erfolgen (mindestens 5 cm
Länge). Die Technik darf nur bei tastbar prall gefüll-
ter Blase erfolgen und ist dann technisch einfach
und relativ komplikationslos möglich (. Abb. 9.65).
Nach sorgfältiger Desinfektion wird 1–2 Querfinger
oberhalb der Symphysenoberkante (je nach Körper-
größe des Patienten) in der Mittellinie (zwischen
Bauchnabel und Schambein) senkrecht zur Hautflä-
che eingestochen und die Flexüle unter Aspiration
vorgeschoben, bis Urin in die aufgesetzte Spritze
einströmt. Dann wird der Plastikkatheter so weit
wie möglich vorgeschoben. Die metallene Nadel
darf dabei nach erfolgreicher Blasenpunktion nicht
weiter vorgeschoben werden, um eine mögliche
Verletzung der hinteren Blasenwand und anderer c
Organe zu vermeiden. Der Urin kann anschließend
. Abb. 9.65a–c Technik der suprapubischen Blasenpunk-
entweder mittels Spritze abgezogen werden oder ein
tion im Notfall. a Aufsuchen der Schambein-Oberkante.
leerer Infusionsbeutel wird mit Infusionssystem an b Punktionsstelle 1–2 Querfinger kopfwärts davon auf-
die Flexüle angeschlossen, unter dem Höhenniveau suchen. Die prall gefüllte Blase muss unter der Haut gut zu
der Blase platziert und läuft dann voll. Er dient als tasten sein! c schematische Darstellung der Punktion.
improvisierter Harnbeutel, mit seiner Hilfe ist somit (Fotos: Dr. C. Neitzel)
Warmblutspenden haben eine lange militäri- Das deutsche Transfusionsrecht und die lebens-
sche Tradition und können gute Erfolge aufweisen. gefährlichen Auswirkungen bei Transfusionszwi-
Sie werden insbesondere durch Alliierte genutzt, schenfällen machen Warmblutspenden gerade in
sind im Auslandseinsatz aber auch in deutschen Be- der Hand von nichtärztlichem Personal zu einem
handlungseinrichtungen für Massenanfälle von hochproblematischen Thema. Sie sind aber nach
Verwundeten vorgesehen. Der logistische Aufwand wie vor die einzige verfügbare Option, noch auf
zur Mitführung von Transfusionssets und Blut- dem Gefechtsfeld bei Verwundeten die Sauerstoff-
gruppenbestimmungskarten ist gerade bei aufge- transportkapazität im schweren hämorrhagischen
sessenen Operationen relativ gering. Schock zu verbessern. In bestimmten Einsatzszena-
Es besteht das Risiko von lebensbedrohlichen rien kann ihre Anwendung daher sinnvoll und
Transfusionsreaktionen und Infektion mit Krank- alternativlos sein [35, 59]. Ihre Durchführung sollte
heiten des Spenders. In der Literatur sind allerdings unter qualifizierter fachlicher Aufsicht erlernt
selbst bei Warmblutspenden in Irak und Afghanis- werden, daher wird hier auf eine nähere Darstellung
tan, bei denen die Blutgruppen nur anhand der des praktischen Ablaufs verzichtet [9]. Eine detail-
Eintragungen auf den Erkennungsmarken ohne lierte Handlungsanleitung zur Warmblutspende der
Bedside-Test identifiziert worden sind, keine Trans- US-Streitkräfte findet sich unter [77].
fusionsreaktionen beschrieben worden [35, 59].
Rhesus-Inkompatibilitäten sind ohnehin bei le-
bensrettenden Transfusionen von sekundärer Be- Literatur
deutung [8]. Die Sicherheit von Warmblutspenden
9 (»buddy-buddy-transfusion«) kann durch Mitfüh- 1. Alam HB, Koustova E, Rhee P (2005) Combat Casualty
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213 10
Analgesie im Einsatz
F. Josse, F. Spies
Literatur – 219
. Tab. 10.1 Vergleich von Wirkdauer, Dosierung und Nebenwirkungen von Fentanyl, Morphin und S-Ketamin.
Der Beginn des Wirkungseintritts und die Wirkungsstärke hängen im Wesentlichen von der Applikationsart ab
Fentanyl 20–40 min 1,5–3 μg/kg KG i.v. Atemdepression, Sedation, Übelkeit, Pruritus, Kreis-
50–100 μg/Sprühstoß nasal laufdepression (i.v. Gabe), Bronchospasmus
Actiq 800 μg oral
Literatur – 247
Das vorliegende Kapitel behandelt gleichermaßen seits würde der große Aufwand für die Versorgung
polizeiliche, zivile und militärische Massenanfälle. dieses Menschen in einer MASCAL-Situation be-
Die unterschiedlichen Terminologien und Organisa- deuten, dass mehrere andere Patienten gar nicht be-
tionsstrukturen werden parallel aufgezeigt. In den handelt werden können. Natürlich muss diese Situa-
ersten beiden Abschnitten dieses Kapitels werden Be- tion ständig überprüft werden, insbesondere wenn
griffe, theoretische und konzeptionelle Grundlagen neue Kräfte oder Mittel eintreffen.
und Systeme erläutert, im dritten Abschnitt wird > Oberstes Ziel wird es sein, schnellstmöglich
dann die konkrete Herangehensweise dargestellt. zur Individualmedizin zurückzukehren.
Die Grundsätze für Führung und Einsatz des Sani- Terrain, Schadensausmaß etc.) und die Sicherheit
tätsdienstes liefern neben diesem klaren Auftrag, (Gefährdungen, Spezialkräfte erforderlich?) stehen
der auch argumentativ genutzt werden kann, um für beide Aufgaben im Vordergrund, dazu gehört
den Aufwand für diese Vorbereitung zu rechtferti- eine (gemeinsame) kurze Abstimmung mit dem
gen, weitere Arbeitsgrundlagen. Als Anlage 14 [1] (Gesamt-)Einsatzleiter (GEL)/militärischen Füh-
findet sich dort ein vollständiger MASCAL-Muster- rer (MilFhr) und anderen Kräften vor Ort (7 Abschn.
befehl. Gleiches gilt für die entsprechenden NATO- 11.1.3). Im zivilen Regelfall liegt die GEL bei der Feu-
Dokumente [3, 8]. erwehr und sie wird auch als Technische EL (TEL)
Analog dazu haben mittlerweile zahlreiche Ret- bezeichnet. Bei Geisel-, Amok- oder anderen polizei-
tungsdienstbereiche, Kreise oder auch Bundeslän- lichen Lagen liegt die Führung beim Polizeieinsatz-
der MANV-Konzepte erstellt, die sich oft auch im leiter. Im militärischen Einsatz hat jederzeit der mili-
Internet finden. Zusätzliche Unterlagen, gerade tärische Führer vor Ort die Leitung inne. Sanitäts-
auch im Hinblick auf die Katastrophenmedizin, dienstliche Elemente beraten dabei fachlich (7 Kap. 6).
sind über das Bundesamt für Bevölkerungsschutz Im Schwerpunkt der organisatorischen Leistun-
und Katastrophenhilfe (BBK) erhältlich (meist auch gen steht der Aufbau der Einsatzstellenstruktur und
zum kostenfreien Download [9]). der Transportorganisation, für die medizinische La-
geentwicklung sind die Ermittlung des Personal-,
Material- und Transportmittelbedarfes und die Ord-
11.1.1 Führungsstrukturen/Aufgaben nung der Patientenversorgung die maßgeblichen
Punkte. Beide Aufgaben sollten im Idealfall abhän-
Vorplanungen, Konzepte und Weisungen oder Be- gig von der Größe des Ereignisses und der Lage von
fehle sowie wiederholte Übung sind Voraussetzung ausgebildeten Spezialisten wahrgenommen werden:
für den reibungslosen Aufbau von Führungsstruk- Der Organisatorische Leiter (ORGL) durchläuft ei-
turen. Nach der grundlegenden Lagefeststellung nen Verwendungsaufbau auf verschiedenen Füh-
hinsichtlich Ereignis und Opfern (»Feindlage«) rungsebenen und eine auf die Strukturierung von
11 muss ermittelt werden, welche nutzbaren Kräfte be- Schadensereignissen ausgerichtete Ausbildung
reits vor Ort sind. (»Ambulance Incident Commander«, AIC). Die
Im günstigen Fall sind Funktionen und Aufga- fachliche Führung und medizinische Koordination
ben bereits klar, andernfalls müssen jetzt Bedarf und – insbesondere der Sichtung – wird vom Leitenden
Möglichkeiten festgestellt werden (Lagebeurtei- Notarzt (LNA) wahrgenommen (»Medical Incident
lung). Nach Klärung dafür grundlegender Entschei- Officer«, MIO). Dieser ist in der Regel erfahrener
dungen (ist überhaupt eine Annäherung der vorhan- Notarzt mit guter Kenntnis der regionalen Struk-
denen Kräfte möglich, müssen/können Einsatzab- turen und Besonderheiten und hat ebenfalls eine
schnitte gebildet werden, werden Spezialisten benö- spezifische Fortbildung betreffs MANV-Lagen. In
tigt) erfolgt eine Einweisung der Kräfte und die Deutschland gibt es deutliche föderale Unterschiede
Aufgabenverteilung (Entschluss). Grundlegend in der Ausbildung und v. a. der Inübunghaltung.
sind hier die eindeutige Übernahme der Führungs- Je nach Abgelegenheit des Einsatzortes oder bei
rollen (Sanitätseinsatzleitung, SanEL), die abge- entsprechender Bedrohungslage werden diese
stimmte Aufgabenverteilung sowie die transparente Spezialisten u. U. spät, möglicherweise gar nicht
Kommunikation. Sind allen Beteiligten ihre Aufga- rechtzeitig eintreffen. In der Praxis ist es jedoch un-
ben klar? Es wird sich unvermeidlich rächen, wenn verzichtbar, dass beide Aufgaben nach Möglichkeit
man versucht, die Zeit für eine erforderliche Abstim- bereits von den zuerst eintreffenden Kräften kom-
mung einzusparen (»3C« – »command, control, missarisch wahrgenommen werden. Wenn nicht als
communicate«). Die klare Raumordnung und der eine der ersten Maßnahmen die An- und Abfahrts-
parallele Aufbau von organisatorischen und medizi- wege (bzw. die geplante Evakuierungsroute) und
nischen Strukturen ermöglichen die zügige Einbin- Koppelungspunkte (»Rendezvous Point« RVP) bzw.
dung weiterer Kräfte und die zunehmende Aufga- Pufferzonen für nachrückende Kräfte festgelegt
benverteilung. Der Lageüberblick (Infrastruktur, werden, kann die Einsatzstelle »zulaufen« oder eine
11.1 · Hintergründe und Prinzipien
225 11
ungünstige Position für die Verwundetenversor- bahntunnel). Sie werden dementsprechend unter-
gung gewählt werden. Beides kann den Abtransport schiedliche oder gemeinsame Gefahrenbereiche
aller Verwundeten dramatisch verzögern. und Einrichtungen haben. Die in 7 Kap. 8 beschrie-
Je sicherer die Umgebung und je größer die benen Zonen, heiße, warme und kalte, werden ab-
Anzahl der – medizinisch – Betroffenen ist, umso hängig von der Sicherheitslage existieren und in
mehr muss sich die SanEL auch bei einem militäri- der Raumordnung durch Absperrmaßnahmen
schen oder polizeilichen Einsatz auf die Übernahme und eine angepasste Führungsstruktur abgebildet
von Führungsaufgaben einstellen. Wenn es z. B. im (. Abb. 11.1). In Großbritannien spricht man von
Zuge einer Geiselbefreiung zu einem MASCAL »cordons« und »areas«.
gekommen sein sollte und das Objekt »klar und ge- Im inneren Ring (»inner cordon«) liegt der Ge-
sichert« ist, werden auch die organisatorischen Auf- fahrenbereich der eigentlichen Schadens- bzw.
gaben zum größeren Teil bei den sanitätsdienst- Einsatzstelle. Dort werden die auf die Bedrohung
lichen Einsatzkräften liegen. Lediglich bei einer rein spezialisierten Kräfte der Polizei, Feuerwehr oder
medizinischen Gefahrenlage (z. B. durch Infek- sinngemäß kämpfende Truppe nur mit geeigneter
tionserreger oder eine Massenvergiftung) wird die persönlicher Schutzausstattung und ausreichender
Sanitätseinsatzleitung auch die GEL innehaben. In Ausbildung für die jeweilige Lage eingesetzt werden
jedem Fall ist neben den Funktionen LNA und OrgL können. (Dieser Bereich wird auch »Bronze Area«
ein Unterstützungselement sinnvoll, das Aufgaben genannt, die Führung liegt beim »Bronze«, »for-
wie Gewährleistung der Kommunikation, Führen ward« oder »operational commander«). Die Maß-
von Lagekarten, logistische Zuarbeit u. ä. überneh- nahmen, die dort für die Betroffenen erforderlich
men kann. Diese Verstärkung wird meist in Form sind, müssen durch notfallmedizinisch weitergebil-
eines Einsatzleitwagens (ELW-San) ausgeplant sein. dete Einsatzkräfte der jeweils »zuständigen Organi-
Militärisch gibt es kein entsprechendes sanitäts- sation« geleistet werden [11]. Wenn es sich um ei-
dienstliches Element, sodass man im Zuge der nen MASCAL handelt, wird die nach Dringlichkeit
MASCAL-Planung über Kräfte für eine analoge Un- gestaffelte Versorgung und Evakuierung entschei-
terstützung nachdenken sollte. dend für die Prognose sein, sodass diesbezügliche
> Der Aufbau einer effektiven Führungs- Grundkenntnisse vorhanden sein sollten (Vorsich-
struktur ist der Schlüssel für die bestmögliche tung 7 Kap. 11.2.1). Die folgende, primäre Sichtung
Bewältigung eines Massenanfalls/Schadens- (im Regelfall durch einen Arzt) sollte soweit vorge-
ereignisses [10]. schoben stattfinden, wie dies hinsichtlich der Ge-
fährdung vertretbar ist. Dies wird spätestens am
Übergabepunkt (der Verwundeten durch aktiv im
11.1.2 Raumordnung Gefecht stehende Teile bzw. der Schnittstelle zur
(»structure the incident«) technischen Rettung, Brandbekämpfung) bzw. im
Bereich einer Patientenablage (PA) der Fall sein.
Die Kernaufgabe der Raumordnung ist es, die Ein- Patientenablage
satzstellenstruktur so aufzubauen, dass bei Gewähr- Eine Stelle an der Grenze des Gefahrenberei-
leistung größtmöglicher Sicherheit ein geordneter ches, an der Verletzte oder Erkrankte gesam-
Patientenfluss aus dem eigentlichen Gefahrenbe- melt und soweit möglich erstversorgt werden.
reich zu den Transportmitteln stattfindet. Dazu Dort werden sie dem Rettungsdienst zum
müssen die Gefahren- und Einsatzschwerpunkte Transport an einen Behandlungsplatz oder
identifiziert werden. Auf dieser Basis können bzw. weiterführende medizinische Versorgungsein-
müssen ggf. (Unter-)Einsatzabschnitte gebildet richtungen übergeben (DIN 13050).
(mehrere Kfz eines Konvois, Bus vorne und hinten)
oder verschiedene Einsatzstellen koordiniert wer-
den (als extreme Beispiele ein angegriffener Konvoi, Sie hat in UK/US keine echte Entsprechung [10, 12],
der auf zwei Seiten eines Dorfes oder einer Furt ge- sondern hier würde der auch im Militär übliche
bunden wird oder ein Zugunglück in einem Eisen- Begriff des »casualty collection points« (CCP,
11
226
Kapitel 11 · Triage und MASCAL/MANV
. Abb. 11.1 Aufbauorganisation und Einsatzstellenstruktur beim MASCAL/MANV. Abhängig von der Lage (z. B. Anschlag im Einsatzland, Zugunglück oder Amoklauf im Inland)
werden die Aufgaben von unterschiedlichen Kräften wahrgenommen (z. B. Fallschirm- oder Feldjäger vs. Polizei), die Gesamteinsatzleitung liegt beim militärischen Führer, Feuer-
wehr- oder Polizei-Einsatzleiter und es werden weitere Spezialkräfte benötigt. Der »Gefahrenbereich« entspricht der heißen und warmen Zone.
BHP Behandlungsplatz, RMHP Rettungsmittelhalteplatz, BR Bereitstellungsraum. (Weitere Erklärungen/Übersetzungen 7 Text)
11.1 · Hintergründe und Prinzipien
227 11
. Tab. 11.1 Sichtungsziele nach Sichtungsort. (Nach Scheuermann et al. in Katastrophenmedizin, Kap. 4 [9])
7 Kap. 11.3.3) verwendet. Er bezeichnet Strukturen ßen Ereignissen für die übergreifende, strategisch-
wie ein Verwundetennest oder einen strukturierten politische Führung eingerichtet (z. B. als nationaler
Verwundetensammelpunkt (VwuSP), die sich Krisenstab). Um die Einsatzstelle nicht zu blockie-
vor einer ausgeplanten Behandlungseinrichtung ren und Aufenthaltsdauer und damit Risiko für die
(»medical treatment facility«, MTF) befinden eingesetzten Kräfte vor Ort zu verringern, werden
(. Tab. 11.1). Beispiele für MTF sind eine Rettungs- Bereitstellungsräume (BR) oder Reservesammel-
station, ein Rettungszentrum oder ein Feldlazarett. punkte festgelegt. Diese liegen also als erste Anlauf-
In der Zone außerhalb des inneren Rings (»sil- stelle für nachrückende Kräfte in deutlichem
ver area«) befindet sich die taktische Einsatzfüh- Abstand zur Gefahrenzone. Sie sollten groß genug
rung mit GEL und SanEL (»silver command« oder gewählt werden, um die Einsatzmittel von dort in
»tactical level«). (Achtung: die Staffelung »opera- beliebiger Reihenfolge abrufen zu können.
tional – tactical – strategic« in Großbritannien ent- Beispielsweise bildet sich durch Deckung
spricht der auch in der Wirtschaft gebräuchlichen suchende Verwundete spontan ein VwuSP/eine PA.
Abfolge. Im Gegensatz dazu ist die militärische ope- Lage- und ortsabhängig kann es vorteilhaft sein,
rative Führungsebene zwischen dem taktischen und diese direkt zu einer strukturierten PA auszubauen
strategischen Level angesiedelt (NATO AAP-6, (ggf. nach Verschiebung in einen sichereren Be-
2005).) Außerdem liegt hier der Bereich für sekun- reich) und von dort die Transportorganisation un-
däre Sichtung und Behandlung (Behandlungsplatz, mittelbar anzusprechen. Sind z. B. in einem Bal-
BHP; »casualty clearing station«, CCS) sowie der lungsraum ausreichend Kräfte verfügbar, um einen
Übergabepunkt an die Transportmittel (Rettungs- MASCAL abzuarbeiten, kann ggf. auf die Einrich-
mittelhalteplatz (RMHP) oder »ambulance loading tung eines Behandlungsplatzes verzichtet werden.
point«) sowie die Transportorganisation (TrspOrg). Im Winter in einer abgelegenen Gegend wird er
Diese »silver area« ist wiederum von einem wiederum ausschlaggebende Bedeutung für die ge-
äußeren Ring oder äußeren Absperrung (»outer schützte Versorgung der Patienten haben.
cordon«) umgeben, über den die Zugangskontrolle Neben der bestmöglichen Verteilung der Res-
und damit Sicherung der Gesamteinsatzstelle er- sourcen vor Ort und Gewährleistung des nach
folgt. Das »gold command« wird nur bei sehr gro- Dringlichkeit gestaffelten Transportes der Patienten
228 Kapitel 11 · Triage und MASCAL/MANV
muss vermieden werden, den Massenanfall »ins einer »gemeinsamen Sprache«. Damit sind sowohl
Krankenhaus zu verlagern«. (Bei entsprechender einheitliche Bezeichnungen und Abkürzungen als
Vorbereitung, wie in Israel, kann dies bei kurzen auch funktionierende Kommunikationsmittel ge-
Transportwegen wiederum ein alternativer Ver- meint. Selbst bei vorhandener Funkverbindung
sorgungsansatz sein. In Deutschland könnte diese sollte bei Einsatzbeginn bzw. Eintreffen am Scha-
Verlagerung evtl. noch im Rahmen des Konzep- densort die persönliche Kontaktaufnahme mit an-
tes sogenannter Erstversorgungskliniken bewältigt deren, beteiligten Kräften erfolgen (Einheitsführer
werden. Das primäre Ziel dieser Konzepte ist jedoch und Spezialisten, wie z. B. Entschärfer, Pioniere,
die Nutzung von Krankenhausinfrastrukturen und ABC; andere BOS (Behörden und Organisationen
-möglichkeiten bei der Versorgung bzw. Stabilisierung mit Sicherheitsaufgaben), insbesondere Feuerwehr
großer Zahlen von Schwerstverletzten [13, 14]). und Polizei). Das Lagebild muss kurz abgeglichen
In der Regel muss versucht werden, die Patien- und die geplanten Maßnahmen und insbesondere
ten optimal auf die verfügbaren Krankenhaus- und der dafür benötigte Platzbedarf abgestimmt werden.
dabei im Schwerpunkt Operationskapazitäten zu Sinnvollerweise wird der Zeitpunkt für die nächste
verteilen. Es wird eben einem Patienten mit einer Kontaktaufnahme vereinbart.
inneren Blutung auch nicht helfen, statt an der Un- Die sorgfältig koordinierte Einsatztaktik
fallstelle vor einem Operationssaal zu liegen, wenn (Sicherungskräfte und Sanität, medizinische und
der einzige Saal belegt oder das bisher einzig ver- technische Rettung) ist unverzichtbare Basis für
fügbare Team bereits gebunden ist. Die nächstgele- sicheres Vorgehen und zügige Rettung. Außerdem
genen Krankenhäuser werden in der Regel von müssen Schnittstellen definiert und evtl. die An-
Leichtverletzten, die selbstständig versuchen Hilfe forderung weiterer Spezialisten und zusätzlicher
zu finden, »überrannt« und sollten erst nach vorhe- Kräfte besprochen werden (schweres Räumgerät,
riger Abfrage für kritische Patienten genutzt wer- Rettungshunde, Betreuung, Sprachmittler, aber z. B.
den. Ansonsten muss angestrebt werden, die Patien- auch Bedarf an »schlichten Trägern«).
ten gleichmäßig auf die umliegenden Häuser (oder Vor allem die Entscheidung über die Bitte um
11 analog die vorhandenen ROLE-2–4-MTF – »medi- überregionale Hilfe oder Unterstützung von Koali-
cal treatment facilities«) zu verteilen. Die dortigen tionskräften muss frühzeitig getroffen werden.
Strukturen werden bei einem großen Ereignis (und Aus diesen Absprachen und evtl. weiterer Er-
möglichst schneller Alarmierung und Aktivierung kundung resultiert die abgestimmte (wer spricht
der hoffentlich erprobten Krankenhausalarmpläne) mit wem?) Lagemeldung an die Führungsstruktu-
sukzessive aufwachsen. Wenn die Verteilung auf der ren (Leitstelle; »Patient Evacuation Coordination
Basis einer vorher ermittelten, realistischen Abfrage Center«, PECC – früher auch »Rescue Coordina-
der abhängig von Tageszeit und Wochentag vorhan- tion Center«, RCC), ggf. auch unmittelbar an die
denen Kapazitäten geschieht, kann eine zeitrauben- Folgeversorgung/aufnehmenden Einrichtungen. In
de Abfrage entfallen und die Patienten können op- regelmäßigen Abständen oder bei wichtigen, neuen
timal an die vorhandenen Ressourcen angepasst Erkenntnissen muss die Lagemeldung wiederholt
verteilt werden. Beispiele dafür sind das Ticket- werden.
System des Main-Kinzig-Kreises [15] oder das > Die schönste Einsatzplanung und Raumordnung
Münchner Wellenmodell [16]. hilft nicht, wenn die anderen Einsatzkräfte sie
nicht kennen – »keep your friends informed«.
11.1.3 Zusammenarbeit
. Tab. 11.2 Merkhilfen für das Vorgehen zur Strukturierung einer Gefahrenlage
GEMAESS (Gefahr erkennen, Eigenschutz beachten, Meldung machen, Ausbreitung verhindern, Eintritt unterbinden,
Spezialkräfte abwarten, Sondermaßnahmen ergreifen, z. B. Dekon) wurde insbesondere für CBRN-Lagen entwickelt,
sodass Eigenschutz und Meldung mehr betont werden und die Menschenrettung etwas in den Hintergrund tritt.
Menschenrettung nicht auch ein kalkuliertes Risiko lichst als Vermutung gekennzeichnet) sollte im
eingegangen werden kann bzw. muss. Lebenswichtig Zweifel lieber zu früh gegeben werden. Bei der La-
ist es, die Annäherung trotz Hilfswillen und Stress gebeurteilung sind »klassische« (Feuer, Einsturzge-
nicht zu überstürzen. Gültige Verfahren (SOP, fährdung, Strom, Atemgifte etc.) und besondere
»standard operating procedures«) und Sicherheits- Gefahren z. B. Heckenschütze, Zweitanschlag,
maßnahmen müssen durchgängig eingehalten wer- CBRN (»chemical, biological and radio-nuclear«)
den. Abstand kann Schutz bedeuten und den etc. zu berücksichtigen. Dies gilt natürlich umso
Überblick kann man nicht mit einer Nahaufnahme mehr, wenn die Zerstörungskraft des (ersten) An-
gewinnen. schlages bereits ausgereicht hat, um einen MASCAL
Die Gefahrenbeurteilung muss bereits vor der auszulösen.
Annäherung beginnen: handelt es sich um einen Speziell muss die Aufmerksamkeit dabei auf
besonders gefährdeten Bereich (»lohnendes Ziel«, Eigenheiten der Einsatzstelle und ihre Konse-
Ort mit Symbolcharakter, frühere Anschläge etc.), quenzen gerichtet werden. Es handelt sich sozusa-
gab/gibt es Drohungen, Hinweise oder z. B. auffäl- gen um eine vorgezogene Beurteilung des Unfall-
lige Zusammenhänge zwischen Ort und Zeit (»Jah- mechanismus, der Kinematik: welche Wirkung
restag«)? Wenn ein Verdacht auf eine besondere hätte z. B. eine weitere Explosion aufgrund der
Lage besteht, sollten ggf. Erkundungseinheiten Druckwellenausbreitung oder der Schrapnellwir-
(inkl. Dekon) vorausgeschickt und die weitere, kungen an einem bestimmten Punkt (. Tab. 11.2)?
gestaffelte Aktivierung von Kräften vorbereitet wer- Nach Identifikation einer Bedrohung muss diese
den. Das Bewusstsein, die Achtsamkeit (»aware- nach Möglichkeit beseitigt werden oder die Absper-
ness«) hinsichtlich Gefährdungsindikatoren ist rung und Zugangskontrolle des Gefahrenbereiches
entscheidend: Sind bei der Annäherung Auffällig- wird erforderlich. Ein wichtiger Punkt in der Mel-
keiten oder ein »Bruch im Bild« feststellbar (z. B. dung an die Führung/Einsatzleitung ist die Bewer-
ungewöhnliche oder seltsame Objekte wie ein zu tung der wahrscheinlichsten weiteren Lageentwick-
tief liegendes Fahrzeug, eine ungewöhnliche Stille lung: handelt es sich um eine statische oder dynami-
oder auffallend gleichförmige Symptome (Toxidro- sche Lage? Bei einer statischen Lage ist es durch ein
me 7 Kap. 41)? Die Bedeutung von Erfahrung und Ereignis zu einer bestimmten Anzahl von Verwun-
Intuition (»Bauchgefühl«!) darf nicht unterschätzt deten gekommen, die sich aller Wahrscheinlichkeit
werden. Können Betroffene oder Beobachter Hin- nicht erhöhen wird (z. B. ist ein Fahrzeug in eine
weise geben? Auf dieser Basis muss insbesondere Schlucht gestürzt, in dem sich 6 Personen befanden).
entschieden werden, ob die derzeitigen Mittel und Die maximale Anzahl an Opfern und von damit im
dabei v. a. die persönliche Schutzausstattung aus- ungünstigsten Fall erforderlichen Mitteln für Ver-
reicht, um überhaupt weiter in Richtung Einsatz- sorgung und Transport steht bereits fest. Brennen
stelle vorzugehen. Eine Warnung an andere (mög- bereits mehrere bewohnte Gebäude und das Feuer
230 Kapitel 11 · Triage und MASCAL/MANV
ist noch nicht kontrolliert, kann sich die Anzahl der schriebenen Überlegungen kann man wenigstens
Opfer kontinuierlich erhöhen und es handelt sich die Erfolgschancen für »die Gegenseite« verringern.
um eine dynamische Lage.
Gute Hinweise für Bedrohungen und Gefähr- Sekundäranschlag-Verdacht
dungsindikatoren nach einem Anschlag (ein- 5 An die Gefahr eines Sekundäranschlages
schließlich CBRN) geben die Handlungsempfeh- (»second hit«) denken (einschließlich »dirty
lungen zur Eigensicherung im Katastrophenschutz bomb«/CBRN-Gefahren)!
des BBK (HEIKAT) [17]. 5 Minimierung der Aufenthaltsdauer am
Einsatzort
5 Möglichst wenig Ziele »sammeln«
11.1.5 Sekundäranschlag – Wenig Kräfte im gefährdeten Bereich und
auf einem Punkt (Sekundärzielaspekt)
Das bevorzugte Ziel eines 2. Angriffes mit Spreng- – Leichtverletzte in Sicherheit schicken –
stoffen wird eine größtmögliche Anzahl von Helfern Abstand!
aus dem Bereich des Militärs, der Polizei oder ande- 5 Schadenstelle aus Sicht der Gegenseite
rer Rettungskräfte sein. Einerseits sollte also ver- betrachten
sucht werden, möglichst wenige Personen in einem – Andere sinnvolle Sekundärziele in der
Bereich in unmittelbarer Nähe des ersten Anschlags- Nähe? (Evtl. auch aus diesem Grund
ortes zusammenzuziehen, andererseits muss die nächstgelegenes Krankenhaus »über-
Verweildauer vor Ort möglichst kurz gehalten wer- springen«)
den. Ein Konzept ist es, die Lage aus Sicht eines At- – Strukturen (CCP/PA) gerade nicht dort
tentäters zu betrachten: einerseits ist zu überlegen, einrichten, wo es naheliegend wäre (da-
wo sich offensichtliche Plätze zur Zusammenzie- bei jedoch wiederum nicht den (Trage-)
hung von Kräften anbieten und ob es »lohnende Kräftebedarf unterschätzen, den ein
Ziele« in der Umgebung gibt, andererseits eröffnen
11 sich vielleicht erst durch den ersten Anschlag Mög-
größerer Abstand mit sich bringt!)
– Dislozierung und Absicherung aller
lichkeiten für einen Sekundäranschlag. So kann es kritischen Strukturen (Einsatzleitung,
beispielsweise aufgrund der Bebauung vor einer an- PA/CCP etc.)
gegriffenen Polizeistation nur eine einzige freie Flä- 5 Alternative An-/Abfahrtwege (»kleinere
che zum Auffahren von Fahrzeugen geben – diese Seitenstraßen zum Marktplatz«)
sollte dann möglichst nicht oder nur durch einzelne 5 Strukturen, die in Richtung eines möglichen
Kräfte so kurz wie unbedingt erforderlich genutzt Zieles Schutz bieten würden (Hausecke,
werden. Senke – letztere nicht bei CBRN-Gefahr)?
Ein anderes Beispiel: der Bereich vor einem Mi-
nisterium kann nur nach sorgfältigen Kontrollen
befahren werden. Nach einem ersten Anschlag
durch einen Selbstmordattentäter mit Sprengstoff- 11.2 Triage
gürtel werden jetzt Rettungsmittel ohne Kontrollen
in den betroffenen Bereich durchgelassen, von > Sichtung: Die ärztliche Beurteilung und Ent-
denen eines mit Sprengstoff beladen sein kann. Als scheidung über die Priorität der Versorgung
Konsequenz aus solchen Erfahrungen werden in von Patienten hinsichtlich Art und Umfang
Israel z. B. auch Ambulanzen mit Sonderrechten im der Behandlung sowie über Zeitpunkt, Art
Zufahrtsbereich zu Krankenhäusern kurz kontrol- und Ziel des Transportes (DIN 13050 3.52) [2].
liert. 2010 erfolgte in Pakistan in zwei Fällen der
Zweitanschlag im Eingangsbereich der Notaufnah- 4 Sichtung dient der Erkennung und Erfassung
me des nächstgelegenen Krankenhauses. Letztlich der Art und Schwere der Verwundung und
wird es immer einfacher sein, einen Anschlag zu bildet die Grundlage für Behandlungsdring-
begehen, als ihn zu verhindern, aber mit den be- lichkeit und Transportpriorität.
11.2 · Triage
231 11
4 Ihr Ziel ist die Organisation der bestmöglichen unbedingt benötigen, verursacht auch sie eine
Versorgung für viele Verletzte, die Versorgung schlechtere Gesamtversorgung [19].
des Einzelnen tritt demgegenüber in den Hin- Die Festlegung dieser Prioritäten basiert dabei
tergrund. sonst ausschließlich auf dem medizinischen Zu-
4 Es geht primär nicht um die Entscheidung ob, stand des Verwundeten, andere individuelle Fakto-
sondern nur um die Reihenfolge, in der be- ren spielen in der Theorie keine Rolle. In der Praxis
handelt und transportiert wird. Sie muss daher stellt sich dies nicht ganz so einfach dar. Beim ein-
immer wieder wiederholt werden, um sie zu deutig nicht rettbaren Kind oder der vergleichen-
präzisieren und den Veränderung des Pati- den Sichtung des schwer verletzten Täters/gegneri-
enten und der Situation anzupassen. schen Verwundeten gegenüber einem nur leicht
verletzten Kollegen oder Kameraden wird diese
Sie muss zweifelsfrei nach jeder Verlagerung des Entscheidung wohl noch »regelgerecht« ausfallen.
Patienten bzw. beim Eintreffen in einem neuen Ver- Mit der Diskussion über Zweifelsfälle könnte man
sorgungsbereich oder -einrichtung, aber auch in jedoch medizinethische Bücher füllen. Der aus-
regelmäßigen Abständen (zustandsabhängig ggf. schließlich für die Katastrophensituation entwickel-
alle paar Minuten) sowie nach Maßnahmen wieder- te SAVE-Algorithmus (»Secondary Assessment of
holt werden. Dies setzt sich bis in die aufnehmende Victim Endpoint«) bezieht z. B. Vorerkrankungen
Einrichtung bzw. zur endgültigen Versorgung fort. und Alter in die Triage-Entscheidungen mit ein
Im Extremfall kann bei unveränderter Ressourcen- [20]. Die Triage berücksichtigte im militärischen
knappheit in einer MASCAL-Situation noch auf Kontext noch Erwägungen wie die potenzielle
dem Operationstisch die Entscheidung gefällt Kampffähigkeit, was tatsächlich zur bevorzugten
werden, einen Eingriff abzubrechen (»on-the-table Behandlung von Leichtverletzten führte. Dies ist
triage«) [18]. jedoch auch beim Militär mehr als 150 Jahren her.
Triage hängt damit neben den vorhandenen Bereits das Sichtungsprinzip des russischen Militär-
Ressourcen von der Umgebung, den voraussicht- chirurgen Pirogow (1810–1881) enthielt in ähnli-
lichen Versorgungs- und Transportzeiten (den cher Form alle heutigen Kategorien und staffelte
»medical timelines« – NATO ACO Directive 83-1) nach der Dringlichkeit unter Berücksichtigung der
und damit auch dem Auftrag ab [7, 18]. (»Umge- Ressourcen. Die seit der Konsensuskonferenz 2002
bung« kann z. B. bedeuten, dass der Verwundete [21] in Deutschland gültigen Sichtungskategori-
aufgrund der Feindlage nicht erreicht werden kann, en (SK) basieren auf der NATO-Klassifikation (T).
eingeklemmt oder kontaminiert ist.) Es gibt in Deutschland die Argumentation, dass
Es geht um die optimierte Nutzung des vorhan- man die Begriffe Sichtung und Triage (als ethisch
denen Personals, Materials und der Kapazitäten in bedenkliche, »historisch-militärische Variante«)
Transportmitteln und aufnehmenden Einrichtun- differenziert einsetzen sollte [9]. Dies ist jedoch bei
gen. Nur wenn die Einstufung in eine Dringlichkeits- zunehmender Internationalisierung mit Über-
stufe möglichst präzise erfolgt, können die vorhande- nahme englischer Begriffe zur Standardisierung
nen Mittel tatsächlich rechtzeitig den Patienten zuge- und Verwendung des Begriffes Triage sowohl im
ordnet werden, die sie am dringendsten benötigen englischen als auch im französischen Sprachraum
und die am meisten davon profitieren werden. Un- weder praktikabel noch zielführend.
tertriage liegt vor, wenn z. B. ein dringend behand-
lungsbedürftiger Patient in die Kategorie spätere Be-
handlung eingestuft wird. Dies wird den einzelnen 11.2.1 Arten
Patienten möglicherweise unmittelbar schädigen, da
er z. B. nicht rechtzeitig den Operationstisch erreicht. Der Begriff Sichtung trifft streng genommen auf
Übertriage bedeutet, dass der Schweregrad einer Ver- jede Festlegung einer Behandlungsreihenfolge zu,
letzung überschätzt wird. Für den betroffenen Ver- es bedarf also nicht einmal eines »echten« MASCAL.
wundeten ist dies eher ein Vorteil. Da sie aber knappe Es gibt jedoch zwei grundlegend unterschiedliche
Ressourcen auf Verwundete verlagert, die sie nicht Triage-Situationen:
232 Kapitel 11 · Triage und MASCAL/MANV
. Tab. 11.3 Sichtungskategorien. (Ergänzt nach [17]. Ergebnis der Konsensuskonferenz, Ahrweiler 2002 und NATO
AJP 4.10, 2006 [3])
SK I/T1 Akute, vitale Bedrohung Sofortbehandlung vor Akute Atemnot; manifester Schock;
»immediate treatment« Ort (evtl. Frühtransport) Bewusstlosigkeit
4 Viele Verletzte, jedoch ausreichende Ressour- sieren, ermöglicht einen guten Überblick [24]: Es
cen: Anzahl und Art der Verwundeten über- können physiologische (Erhebung der Vitalwerte, s.
steigen nicht die Möglichkeiten der vorhan- unten) oder anatomische Befunde (z. B. definierte
denen Kräfte (MANV) o schnellstmöglich Verletzungen wie Rippenserienfraktur, penetrie-
11 Verletzungen und Behandlungsbedarf ermit- rende Rumpfverletzung, Beckenfraktur) erhoben
teln und bestgeeignete Ressourcen zuord- sowie der Unfallmechanismus (MOI) als Hinweis
nen. Es wird bei dieser Lage insbesondere auf den Schweregrad betrachtet werden (z. B. Nähe
keine Sichtungskategorie IV genutzt. zum Explosionsort, Sturz aus großer Höhe). Außer-
4 Anzahl und Art der Verwundeten übersteigen dem werden in »step four« spezielle Überlegungen
die Möglichkeiten der vorhandenen Kräfte o hinsichtlich etwaiger Besonderheiten des Patienten
nur unzureichende Ressourcen (Großscha- berücksichtigt (Verbrennungen, Schädel-Hirn-
den/Katastrophe): Verteilung nach dem »grea- Trauma, gravierende Vorerkrankungen). Natürlich
test good for the greatest number«-Prinzip. Die gibt es auch Kombinationen dieser Möglichkeiten
SK IV ist zulässig und sinnvoll (. Tab. 11.3). und Verfahren, die durch Scoring-Systeme eine prä-
zisere Vergleichbarkeit ermöglichen.
Häufig gibt es unterschiedliche Systeme für die
Sichtung hinsichtlich Behandlungs- und Transport- Vorsichtung
priorität (s. unten). In jedem Fall werden sich Grund Es gibt zahlreiche Publikationen und Diskussionen
und Ziel der Sichtung abhängig von ihrem Ort än- zur Qualifikation desjenigen, der die Sichtung
dern (. Tab. 11.1). durchführt. Sicher werden anatomische oder MOI-
Des Weiteren können unterschiedliche Parame- basierte Sichtungsverfahren mit zunehmender Er-
ter erhoben und Verfahren genutzt werden, um die fahrung und Qualifikation präziser werden [22].
Triage den jeweiligen Bedürfnissen bzw. Zielsetzun- Das entscheidende Kriterium ist jedoch insbeson-
gen anzupassen. Das »4-Stufen-Modell« des »field dere bei taktischen Lagen die Anwesenheit: wenn
triage decision scheme«, das vom American College z. B. nur Polizei- oder Feuerwehrkräfte innerhalb
of Surgeons entwickelt wurde, um die Auswahl der des inneren Ringes oder in einem atemgerätepflich-
richtigen Zielklinik zu verbessern und zu standardi- tigen Bereich eingesetzt werden können, werden
11.2 · Triage
233 11
entweder diese eine Priorisierung der Reihenfolge ausreichender Personalstärke und Zeit u. U. präzisere
der Rettung aus dem Gefahrenbereich vornehmen »secondary triage instruments« (s. unten) zur An-
oder sie erfolgt ungezielt. Studien hinsichtlich der wendung kommen. Ziel ist es, entweder die Entschei-
Ausbildung nichtärztlicher Kräfte einschließlich dung über die Verteilung unzureichenden Transpor-
Polizeibeamten aus Kent zeigten, dass durch eine traumes auf einer möglichst aussagekräftigen Basis
kurze und zielgerichtete Ausbildung Über- und Un- zu treffen oder bei ausreichender Transportkapazität
tertriage deutlich reduziert werden können [23]. die bestgeeignete Zielklinik zuzuweisen.
Die DIN 13050 [2] definiert Sichtung als ärztliche
Maßnahme. Die erste, hinsichtlich der Prognose
wahrscheinlich wichtigste Einstufung des Patienten 11.2.2 Kategorien
wird also Vorsichtung (auch Pre-Triage oder Ber-
gungssichtung) genannt. In der Stellungnahme der In der NATO gibt es unterschiedliche Systeme für
Bundesärztekammer vom 24.04.2009 wird die Not- die Sichtung hinsichtlich Behandlungs- und Trans-
wendigkeit dieser ersten, nichtärztlichen Zustands- portpriorität. In Deutschland wird Letztere erst
beurteilung betont und der Begriff definiert [25]. zeitlich gestaffelt bzw. nach erfolgter Sichtung und
Die Lage ist zu Beginn eines Ereignisses bzw. in Erstbehandlung durch Ergänzung der SK durch
einer Gefahrenzone chaotisch und komplex. Daher einen Kennbuchstaben festgelegt:
ist es hier unbedingt erforderlich, ein einfaches, a. hohe oder
schnelles, gut reproduzierbares und damit stress- b. niedrige Transportpriorität
sicheres Verfahren einzusetzen. Ziel ist es, die Pa-
tienten zu kennzeichnen, nach Priorität schnellst- Die ständige Wiederholung der Sichtung ist unver-
möglich in Sicherheit zu bringen und unbedingt zichtbar, insbesondere wenn es um die Zuteilung
notwendige, aber sehr schnell durchführbare Maß- einer kritischen Ressource, nämlich den Transport-
nahmen durchzuführen (CuF, primär Tourniquet raum geht.
und stabile Seitenlage oder die Nutzung von Hel-
fern, z. B. um direkten Druck auf eine Wunde aus- Behandlungspriorität
zuüben); Zeitbedarf 30 s bis 1 min. In der Praxis lassen sich die Patienten der Katego-
rie 1 – sofortige oder ganz dringende Behandlung
Primäre (ärztliche) Sichtung mit höchster Priorität – und der Kategorie 3 – »hat
Ihr Ziel ist es, die Behandlungs- oder ggf. Frühtrans- noch Zeit« – leicht identifizieren (. Tab. 11.3). Die
portpriorität zu ermitteln, um personelle und Patienten »dazwischen« haben eine verzögerte Be-
materielle Ressourcen zuzuordnen. Abhängig von handlungspriorität (SK II).
der Lage (Patientenanfall und Zeitdruck) und den Die SK IV oder T4 wird nur bei massiv einge-
gültigen SOP/Leitlinien wird hier erneut eine aus- schränkten Ressourcen verwendet. Dies sollte im
schließlich physiologische Triage (Schritt 1 des zivilen Bereich eigentlich nur in einer Katastrophe
mSTART; s. unten) oder eine kurze, orientierende der Fall sein. Das genaue Verfahren und die Diskus-
Untersuchung des Verwundeten durchgeführt (»in- sion über die ethische Dimension könnten ein eige-
itial assessment«) (bis 3 min). nes Buch füllen. In militärischen Einsätzen kann
> Es müssen die Patienten herausgefunden
eine Ressourcenknappheit leider mit reellem Risiko
werden, denen mit einer sofortigen Behand-
auftreten. In diesem Fall kann ihre sorgfältig ab-
lung oder nur mit einem schnellstmöglichen
gewogene Verwendung anderen verwundeten Ka-
Transport effektiv geholfen werden kann.
meraden das Leben retten. In Einsätzen wird der
Medic/Sanitäter den Verwundeten im Regelfall per-
sönlich kennen. Die Angst vor einer zu schnellen
Sekundäre Sichtung (Transportpriorität/ Einstufung in diese Kategorie ist daher sicher unbe-
Scoring) gründet.
Die sekundäre Triage wird in der Regel spätestens Unglücklicherweise ist »Aktion T4« eine Be-
als Transportsichtung durchgeführt. Hier sollten bei zeichnung, die erst in der Nachkriegszeit für die
234 Kapitel 11 · Triage und MASCAL/MANV
. Tab. 11.4 Originalauszug aus »Emergency AirMedEvac Request (»9-Liner«) »Line 3«. NATO STANAG 2087 (2008) [27]
A – URGENT; to be at hospital facility (R2 or R3) B – PRIORITY; to be at hospital facility (R2 or R3) within 4
within 90 minutes of first notification (P1) hours of notification by »9-line« (P2)
Behandlungseinrichtung gebracht werden können. sind zwar entscheidend für die erfolgreiche Imple-
Auf der Übersichtsdokumentation sollte die Evaku- mentierung eines Systems, sie erlauben jedoch sicher
ierungsreihenfolge anhand von Name oder Identifi- keine eindeutig auf einen realen MASCAL übertrag-
kationsnummer des Patienten bereits vorbereitet baren Aussagen. Der entscheidende Vorteil einer
werden. Nach kurzer Rücksprache mit den jeweils physiologischen Triage ist eine schnelle (<30‘‘),
zugeordneten Kräften kann sie dann mit der richti- leicht reproduzierbare Erhebung des Ist-Zustandes
gen Priorität erfolgen. Ein weiteres Hilfsmittel wäre des Patienten [30]. Es ist eben nicht ausschlag-
hier die MANV-Koordinationskarte (. Abb. 11.4). gebend, wie viele Wunden ein Verwundeter hat,
sondern wie schnell diese versorgt wurden bzw. wie
viel Blut er verloren hat. Ebenso kann ein Patient mit
11.2.3 Algorithmen einem schweren, primären Explosionstrauma (»blast
lung«) äußerlich völlig unverletzt aussehen. Damit
Triage muss schnell, dynamisch, möglichst objektiv besteht bei einer anatomischen Triage ein größeres
und damit reproduzierbar sein. Obwohl sie unter Risiko seinen Schweregrad zu unterschätzen, als
anderen Rahmenbedingungen leicht veränderte wenn als maßgebliches Kriterium seine erhöhte
Ziele verfolgt (s. oben), sollte sie einem leicht ver- Atemfrequenz gewertet wird. Natürlich macht spä-
ständlichen und erinnerbarem Schema folgen. Ein ter (zusätzlich) die anatomische Triage Sinn, gerade
MASCAL wird immer ein belastendes Ereignis sein um zwingende Frühtransporte zu identifizieren.
und unter hohem Zeitdruck unterschiedlichste Der START-Algorithmus (»simple triage and
Leistungen erfordern. Grundvoraussetzung für die rapid treatment«) wird in den USA, der Triage
erfolgreiche Bewältigung ist die zielgerichtete Zu- SIEVE v. a. in Großbritannien verwendet. Letzterer
sammenarbeit bei möglichst geringem Abstim- beinhaltet die Prüfung des Bewusstseinszustandes
mungsbedarf. Diesem Zweck dient ein einheitli- nur durch die Ableitung der gehfähigen Verwunde-
ches, schematisches Vorgehen auf der Basis eines ten. Eine bewusstlose Person mit einer Atemfre-
Algorithmus. quenz zwischen 10 und 30 und einem Puls unter
120 wird »Priority 2« (gelb) gesichtet. Außerdem
Physiologiebasierte Algorithmen wird die Durchführung jeglicher Maßnahmen auf-
(mSTART/tacSTART – BASIC – SIEVE – grund der dadurch bedingten Verzögerung der
CareFlight) Sichtung abgelehnt [31].
Die Algorithmen mit der größten Verbreitung basie- »Care Flight« wiederum kommt aus Australien
ren auf physiologischen Befunden (Vitalwerten). Sie und prüft die gleichen Parameter. Die Fähigkeit
haben sich teilweise parallel in verschiedenen Re- einfache Befehle zu befolgen wird jedoch als erster
gionen entwickelt oder streben an, ein zugrundelie- Vitalparameter geprüft. Dadurch wird das Befolgen
gendes System zu verbessern. Die Unterschiede zwi- des Algorithmus komplexer.
schen ihnen sind minimal und es existieren wenig In Deutschland setzt sich präklinisch wiederum
Studien, die eingeschränkt Aussagen über eine ob- der mSTART zunehmend durch, der durch die
jektive Überlegenheit eines Systems ermöglichen Ludwig-Maximilian-Universität mit der Berufs-
[28, 29]. Übungen mit möglichst allen Beteiligten feuerwehr München entwickelt wurde. Basierend
236 Kapitel 11 · Triage und MASCAL/MANV
. Abb. 11.2 tacSTART-Algorithmus, basierend auf dem mSTART-Algorithmus. (Adaptiert nach [32]). Algorithmus zur Sichtung
und Erstversorgung bei MASCAL/MANV nach tacSTART. * Der »9-Liner« (7 Kap. 4), insbesondere »Line 3«, sollte schnellstmög-
lich abgesetzt und ggf. bei der späteren Vervollständigung um »MIST« (MOI, »injury sustained, symptoms and vital signs, treat-
ment«) ergänzt werden. CAS »close air support«; PECC »patient evacuation coordination center«; CCP »casualty collection point«
238 Kapitel 11 · Triage und MASCAL/MANV
Erklärung Gehfähige ableiten, andere zum Weitere Sichtung/Unter- Lebensrettende Nach Priorität ins
»Winken« auffordern suchung der T1-Patienten Maßnahmen Krankenhaus
Im günstigen Fall ist die Lage bei der Annäherung Nach Absetzen der ersten, orientierenden Lagemel-
bereits als MASCAL zu erkennen. Nach Möglich- dung muss durch Koppeln mit anderen Kräften
keit sollte dann die ungefähre Anzahl und der (milFhr, BOS, GEL) oder – wenn die Lage es erlaubt
Schweregrad der Verwundeten geschätzt werden. – eigenständige Erkundung der Lageüberblick ge-
Außerdem sollte die Art des Ereignisses identifi- wonnen bzw. vertieft werden. Weitere Gefahren
ziert und auch daraus ggf. abgeleitet werden, in wel- müssen identifiziert und geeignete Maßnahmen ein-
chem Umfang schwere Verletzungen zu erwarten geleitet werden. Diese reichen vom schnellstmögli-
sind und ob bereits bei der Erstmeldung Spezialis- chen Anlegen der PSA und Einleitung der Rettung
ten nachgefordert werden können. Der Begriff über die Absperrung, Warnung und Zugangskon-
»windshield report« macht den wichtigen Punkt trolle bis zur zügigen Entfernung aus dem Gefahren-
deutlich, dass diese Meldung noch vor Verlassen des bereich. Grundlage für diese Phase ist die klar er-
Fahrzeuges und näherer Erkundung abgesetzt wer- kennbare Übernahme der Führung und der Aufbau
11 den muss. Dennoch sollte z. B. auch die Möglichkeit von Führungsstrukturen (7 Abschn. 11.1). Auf dieser
einer kurzen Befragung Auskunftsfähiger genutzt Basis wird dann nach Abstimmung die weitere
werden. Die Meldung an die Führung/Leitstelle ist Raumordnung (7 Abschn. 11.1 und 7 Kap. 2) vorge-
nur eine grobe Vorinformation bevor man in der nommen. Kritisch ist dabei die frühzeitige Festle-
Einsatzstelle »verschwindet«. Trotzdem sollte bei gung von An- und Abfahrtswegen, sicherer und
der Meldung klar gesagt werden »was man weiß« günstig gelegener CCP/PA und von Punkten für die
und »was man glaubt« (Beispiel: »Eine Explosion Aufnahme von Verstärkungskräften bzw. Evakuie-
hat die Fassade des XY-Hotels vollständig zerstört. rungsmitteln. Dazu müssen ggf. Pufferzonen ge-
Es liegen etwa 20 Personen auf der Straße vor dem schaffen werden, um eine gestaffelte Nachführung
Gebäude, etwa 40 weitere helfen oder entfernen sich zu ermöglichen (Bereitstellungsraum).
aus dem Bereich. Es scheinen sich zahlreiche weite- Alle Maßnahmen sind darauf ausgerichtet, die
re Menschen im Gebäude zu befinden. Erste Sicher- organisatorischen Grundlagen für die zügige Be-
heitskräfte treffen gerade ein«). handlung und den Abtransport der Patienten zu
schaffen. Die Zweitmeldung muss unbedingt Infor-
c Herangehensweise SICK in Reaktion auf mationen über Gelände und Gefahren sowie die
einen MASCAL (Lagefeststellung/ »scene resultierende und die geplante Einsatzstellenstruk-
size-up«) tur enthalten. So schnell wie möglich werden die
S = »Scene Safety«/Sicherheit o Überblick vorläufigen Verwundetenzahlen nach Schweregrad
(10-for-10): statische oder dynamische Lage gemeldet. Außerdem werden der Status der Kräfte
I = »Impression«/erster Eindruck o Anzahl vor Ort mitgeteilt und alle erforderlichen Nachfor-
Verwundete/Anzahl Helfer? derungen gestellt. In regelmäßigen Abständen und
bei jeder Lageänderung wird die Meldung an die
Führung aktualisiert.
11.3 · Vorgehensweise bei MASCAL/MANV: SICK + SICK2
241 11
Die aufnehmenden Behandlungseinrichtungen Das »Wegschicken« der Leichtverwundeten/ »Grü-
werden in Absprache ggf. unmittelbar kontaktiert, nen« ist der ausschlaggebende Schritt, um für sie
um frühzeitig Informationen über Verwundete wei- die Gefährdung zu verringern und um die Über-
terzugeben. sichtlichkeit der Lage zu erhöhen. Auf keinen Fall
Bestehende SOP (MASCAL-Befehl/MANV- darf vergessen werden, ihnen ein unter den Aspek-
Konzept) und Arbeitshilfen (Checklisten, Aufgaben- ten Sicherheit und Hypothermievermeidung gut
beschreibungen (»action cards«), Verzeichnisse der gewähltes Ziel zu benennen. Außerdem muss vor-
Aufnahmeeinrichtungen) sollten verfügbar sein und her bedacht werden, ob sie noch als Helfer oder z. B.
genutzt werden. Eine präzise Einteilung der Kräfte Sicherer benötigt werden (und auf diese Weise
vor Ort, die eindeutige Zuweisung von Aufgaben gleichzeitig überwacht werden). Im Idealfall kann
(unter Beachtung von »10-for-10« und sinnvollem ein T3-Verwundeter identifiziert werden, der »auf
Team-Einsatz (»crew resource management«, CRM) die anderen aufpasst«, einfachste Maßnahmen
7 Kap. 8) und die klare und kontinuierliche Kommu- durchführt und eine Verschlechterung des Zustan-
nikation vor Ort schaffen die erforderliche Arbeits- des eines »Grünen« meldet. Sonst muss daran ge-
grundlage für die medizinische Versorgung. dacht werden, dass sobald Ressourcen dafür eintref-
fen bzw. wieder verfügbar sind, jemand zum Auf-
d SICK2 ORG bei MASCAL: »structure the enthaltsort der T3 geschickt wird, um auch diese
incident« o Führung und Raumordnung Verletzten zu versorgen, ggf. ihre höhere Einstufung
S = Struktur (Erkundung, Führung, Raum- und »Verlagerung« zu veranlassen und eine Rück-
ordnung) (nach SERVA, GAMS oder 4C – meldung zu geben.
7 Abschn. 11.1) Sicherheit (Rettung, Ab- Im Anschluss an die Ableitung der »Grünen«
sperrung, Kontrolle) müssen schnellstmöglich die »Roten« (T1)-Patien-
I = Information »nach oben« o qualifizierte ten gefunden werden (. Abb. 11.3).
Zweitmeldung (z. B. »9-Liner«) (nach Identi- Diese werden dann lageabhängig versorgt (CuF
fikation von weiterer Gefahren, Maßnah- und Rettung oder TFC), gekennzeichnet und mit
men und Bedarf: Nachforderung) höchster Priorität weiterversorgt und abtranspor-
C = Checklisten – strukturiertes Abarbeiten im tiert. Der Umfang der durchführbaren Maßnahmen
Detail (und Aufbau Transportorganisation) ist bei einem größeren, »echten« MASCAL klar de-
K = Kommunikation und Koordination der finiert: kritische Blutungen stillen und in stabile
Kräfte vor Ort Seitenlage bringen oder Wendl-Tubus nutzen (falls
vorhanden, z. B. bei einem eingeklemmten Patien-
ten), um dann zum nächsten Verwundeten zu ge-
hen. Nur so kann schnellstmöglich ein Überblick
11.3.3 SICK2 MED – Sichtung/
e gewonnen werden und es wird kein »Roter« überse-
Erstversorgung/Transport hen bevor individualmedizinische Maßnahmen an
weniger dringlichen Patienten durchgeführt wer-
Parallel zum Aufbau der organisatorischen Struktu- den. Häufiger wird jedoch nicht diese klassische
ren wird die »medizinische Lage abgearbeitet«. Vor- Situation bestehen, sondern mehrere Helfer versor-
sichtung oder primäre Sichtung sollten sobald und gen bereits »ihre« Patienten (TFC) und es muss sich
so patientennah (»weit vorne«), wie die Gefahren- ein Koordinator aus der Individualbehandlung zu-
lage es erlaubt, durchgeführt werden. rückziehen, um eine Gesamtlagemeldung abzuset-
zen, Ressourcen zu verschieben und das weitere
> Trotz der Fokussierung auf die Verwundeten Vorgehen zu koordinieren. Spätestens die Entschei-
sollte auch in der Phase, in der Sichtung und dung über die Transportreihenfolge innerhalb der
medizinische Maßnahmen im Vordergrund P1-Patienten (bzw.« T1 mit Transportpriorität«)
stehen, nicht vergessen werden, die Sicher- basiert auf einer erneuten Sichtung. Sie dient außer-
heitslage und die organisatorischen Maßnah- dem dazu, die bestgeeignete »Zielklinik« auszu-
men ebenfalls regelmäßig zu überprüfen! wählen.
242 Kapitel 11 · Triage und MASCAL/MANV
C A B C D
Kritische Fehlende auch in stab. Unfähig,
Patient Atemfrequenz Fehlender Puls
Blutung Spontan- Seitenlage? einfache Befehle
gehfähig? über 30/min? am Handgelenk?
behandeln atmung? Tödl.Verletzung? zu befolgen?
Kann die im Kasten gestellte Frage mit »Ja« beantwortet werden, fällt der Patient in die Sichtungskategorie in der Farbe
des Kastens. (Es muss nicht weiter untersucht werden, er wird nicht »noch roter«.)
Bei »Nein« wird in Richtung des Pfeiles der nächste Vitalwert geprüft. Werden alle Kästen mit »Nein« beantwortet,
wird der Patient »gelb« kategorisiert.
. Abb. 11.3 tacSTART. Kurzform des Anteils Vor- bzw. Erstsichtung. (Adaptiert nach [32])
Nachgeordnet werden die »Gelben« (T2) Ver- am jeweiligen Vwu.) Bei »klassischer« Sichtung
wundeten aus dem Gefahrenbereich gerettet, stabi- (mSTART) kann das Ergebnis in den Reihen <C>-D
lisiert und zum CCP/BHP gebracht. festgehalten werden. Bei einer großen Anzahl von
Sobald genug Kräfte eingetroffen sind, um bei Verletzten (oder Zusammentragen von Meldungen
allen Verwundeten die Durchführung lebensretten- verschiedener Einsatzabschnitte) können ggf. nur
der, stabilisierender Maßnahmen zu gewährleisten, noch die »Abstreich«-Listen T1–T5 genutzt werden.
sollte mit dem (Früh-)Transport begonnen werden. In der Statuszeile können eingeklemmte oder
Maßnahmen sind auch während des Transportes dekontaminierte Patienten gekennzeichnet werden
durchführbar, es ist nur schwieriger [43]. und z. B. Eigene (E), Täter (T), Unbeteiligte (U)
oder »COAL Civ« (9-Liner, Line 8, . Tab. 4.1) ver-
merkt werden.
e SICK2 MED bei MASCAL: »sort the
Bei T4 oder 5 kann die Nummer durchgestrichen
patients« o Triage, Behandlung und
(/) oder angekreuzt werden. Über den Nummern ist
Transport (tacSTART)
Platz für die endgültige Transportreihenfolge. Beson-
S = Sichtungsbeginn: schreien und selbst-
dere Transportziele können ebenfalls auf dem Männ-
11 ständig Gehfähige (»Grüne«) in Sicherheit
chen markiert werden. Neurochirurgie z. B. durch
schicken (»send green to safety«)
SHT-X (Kreuz) bzw. * (Stern) auf dem Kopf.
I = identifiziere »immediate« (SK1/T1-Verwun-
dete) »Rote finden und stabilisieren« ID-me
C = CuF-Maßnahmen (<C> und andere
lebensrettende Notfallmaßnahmen)
11.3.4 Verwundetensammelpunkt/
K = Krankenhaus (»Knackpunkte« Transport:
»casualty collection point« (CCP)
TrspOrg stärken, ungerichtete Transporte
bzw. Patientenablage
verhindern l Frühtransport ermöglichen,
»richtige« Behandlungseinrichtung wählen)
Ortswahl CCP
5 Außerhalb des unmittelbaren Gefahren-
Zur Unterstützung dieser Aufgabe wurde die bereiches/in einer adäquaten Deckung
MANV-Koordinationskarte entwickelt (. Abb. 11.4) (Feindwaffen, erneuten Angriff, »2nd hit«
Abhängig von der Größe des Ereignisses bietet die etc. bedenken).
Karte unterschiedliche oder sich ergänzende Berei- 5 Übersicht und Ausweichmöglichkeit.
che zur Dokumentation der Patienten, ggf. ihrer 5 Nähe zu möglichem Übergabepunkt/An-
Befunde, und für Vermerke hinsichtlich der Trans- näherung von Kfz möglich/Landeplatz
portpriorität. Bei einem kleineren MASCAL (bis 20 einsehbar.
Patienten) können die Männchen in Kombination o Personal- und Zeitbedarf für die Verlage-
mit (ungefährem) Alter und Geschlecht die »Patien- rung von Vwu nicht unterschätzen!
tentaufe« und damit den Gesamtüberblick erleich- 5 Ausreichend Platz (»Materialachse«) bei
tern. (Sammlung der Informationen – und einge- bestmöglichem klimatischem Schutz.
schränkt des Verlaufes – von den Primärversorgern
11.3 · Vorgehensweise bei MASCAL/MANV: SICK + SICK2
11
4 Klare Regelung und Delegation von Kompe- 4 Kommunikation/Verbindung vor Ort ermögli-
tenzen chen und aufrechterhalten
5 Entscheidungsbefugnisse müssen an die 4 Funkdisziplin einhalten/Priorisierung der
Führung vor Ort und an die Handlungs- Nachrichten/alternative Informationsüber-
ebene abgegeben werden, um flexibel rea- mittlung nutzen (einschließlich Meldern)
gieren zu können 4 Regelmäßige Lageberichte an die Führung
4 Immer wieder die Bedrohung und Siche- (und ggf. aufnehmende Einrichtungen) (»keep
rungen bzw. Absperrungen überprüfen, Wahr- your friends informed«)
nehmungen kommunizieren, Gefahren nicht 4 Raumordnung ausplanen und abstimmen
unterschätzen (»second hit«!) 5 Blockieren von An-/Abfahrt verhindern
4 Rechtzeitige Nachforderung von Ressourcen/ 5 Ausreichende Sicherheitsabstände gewähr-
vorhandene Ressourcen erfassen leisten
5 Spezialisten nicht vergessen (z. B. Rettungs- 5 Pufferzonen schaffen/gestaffelte Nachfüh-
hundestaffel), . Abb. 11.4 rung von Verstärkungskräften)
5 Frühzeitig an Primärbedürfnisse (Verpfle- 4 Behandlung am Ort der Verwundung auf CuF
gung!) und Reservebildung denken beschränken o zügiger Transport zu Verwun-
detensammelpunkt bzw. PA
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247 11
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249 III
Spezielle Verletzungs-
muster und Notfälle
Kapitel 12 Schussverletzungen – 251
C. Neitzel, E. Kollig
Schussverletzungen
C. Neitzel, E. Kollig
Literatur – 268
. Tab. 12.1 Typische Laborierungen gängiger Patronen im Vergleich: Geschossmasse (m), Mündungsgeschwindig-
keit (v0), Geschwindigkeit nach 100 m (v100), Mündungsenergie (E0), Energie nach 100 m (E100)
grund der schlechten Wirkung und hohen Um- Während des Fluges wird die Geschwindigkeit
feldgefährdung durch Ausschüsse erfolgte in den des Geschosses vor allem durch den Luftwiderstand
neunziger Jahren eine Umstellung auf Deforma- fortwährend abgebremst und somit die kinetische
tionsgeschosse für Kurz- und Langwaffeneinsatz. Energie verringert.
Die Konstruktion von moderner Polizeieinsatz- Trifft das Geschoss auf Gewebe, wird es auf-
munition ist letztlich ein Kompromiss und ähnelt grund der höheren Dichte wesentlich stärker als
stark der von Jagdmunition, teilweise werden iden- durch Luft abgebremst. Die kinetische Energie wan-
tische Geschosse verwendet (z. B. Styx von SwissP delt sich in Druck-, Verformungs- und Wärmeener-
identisch mit Norma Vulcan). gie um, die Gewebe verdrängt, zerquetscht oder
Sportgeschosse sind für eine möglichst präzise zerreißt. Je größer die Frontfläche oder Quer-
Schussleistung optimiert (z. B. Benchrest). Ihr Ver- schnittsfläche des Geschosses ist, umso mehr Ener-
halten im Ziel ist nicht relevant, so dass eine Viel- gie wird punktuell übertragen: Ein an der Spitze
zahl verschiedener Konstruktionen Verwendung stumpf und breit aufgebautes Projektil erzeugt mehr
findet. Meist handelt es sich um Vollmantel- oder lokalen Widerstand im Zielmedium als ein schlan-
Hohlspitzgeschosse, regelhaft mit dünnen Ge- kes, spitzes Geschoss. Somit wird es initial stärker
schossmänteln. abgebremst, d. h. es überträgt hier mehr Energie ins
Eine strenge Einteilung in Militär-, Jagd-, Sport- Gewebe. Die Querschnittsfläche des Geschosses
und Polizeigeschosse ist nicht möglich. Deutlich hängt ab von
abgrenzbar sind lediglich die im Waffengesetz als 4 der Geschossform,
»verbotene Gegenstände« bezeichneten oder dem 4 dem Deformationsverhalten,
Kriegswaffenkontrollgesetz unterliegenden hoheit- 4 Taumelbewegungen und
lich genutzten Hartkern-, Leuchtspur-, Brand- und 4 einer möglichen Geschosszerlegung
Explosivgeschosse. (Fragmentation).
. Abb. 12.2 Schematische Darstellung einer Wundhöhle. SDW Schalldruckwelle. (Graphik: M. Neitzel)
Energieabgabe konstruierten Niedriggeschwindig- Länge ist stark von Geschossform und -konstrukti-
keitsgeschossen eine relevante Größe. on, Auftreffgeschwindigkeit und Gewebewider-
Das durch die Bildung der temporären Wund- stand abhängig. Vollmantelgeschosse erzeugen ty-
höhle verdrängte Gewebe wird nicht zwingend irre- pischerweise einen relativ langen »narrow channel«
versibel geschädigt. Nur wenn es nicht genügend auf, der im muskelähnlichen Gewebe meist über
Elastizität aufweist, um der Kinematik problemlos 10 cm lang ist. Bei Deformationsgeschossen ist er
zu folgen, wird es strukturell geschädigt und behält hingegen wenige Zentimeter lang oder noch kürzer.
bleibende Gewebeschäden. Diese Gewebezer- Anschließend vergrößert sich die Frontfläche des
störungen stellen um den unmittelbar durch das Geschosses in der Regel durch Drehung, Zerlegung
Geschoss verursachten eigentlichen Schusskanal oder Deformation. Die erhöhte Energieübertragung
herum die permanente Wundhöhle (permanente erzeugt eine größere Wundhöhle. Verringert sich
Kavitation) und deren Randbereiche dar. Sie ist die Energieabgabe des Geschosses im Anschluss
umso größer, je stärker und abrupter eine Energie- wieder, sinkt der Durchmesser der Wundhöhle er-
übertragung verläuft und je weniger elastisch das heblich ab.
betroffene Gewebe ist. Um die permanente Wund-
höhle herum liegt eine Zone, in der es durch
Überdehnung zu einer Vasokonstriktion kommt, 12.2.3 Schockwelle/Schalldruckwelle
die das Gewebe vorübergehend avital erscheinen
lässt. Im äußeren Bereich der temporären Wund- Dem Geschoss voraus eilt im Gewebe eine Schall-
höhle wird Gewebe verdrängt, aber nicht irreversi- druckwelle (»Schockwelle«) mit einer Geschwindig-
bel geschädigt. keit von ca. 1400–1550 m/sec und Druckspitzen von
Die permanente und temporäre Wundhöhle bis zu 117 bar. Da sie aber nur wenige Millisekunden
weisen charakteristische Verläufe auf. Zu Beginn anhält und eine geringere Amplitude als z. B. thera-
des Wundkanals bildet sich ein wenig mehr als peutische Ultraschallanwendungen hat, kommt es
kalibergroßer »narrow channel« (. Abb. 12.2). Die zu keiner wesentlichen Gewebeschädigung.
256 Kapitel 12 · Schussverletzungen
Auftreffgeschwindigkeit
Schussverletzungen werden im theoretischen
Modell in Verletzungen durch Projektile mit hoher
(>600–650 m/s) und niedriger (<600–650 m/s) Ge-
schwindigkeit unterteilt (. Abb. 12.3).
Geschosse mit niedriger Geschwindigkeit ver-
ursachen meist keine großen Wundhöhlen. Diese
Verletzungen sind im Regelfall durch Kurzwaffen
(Pistolen, Revolver) oder durch entsprechend lang- a b
sam gewordene Langwaffengeschosse bei sehr gro- . Abb. 12.3a,b Vergleich typischer Schussbrüche mit hoher
ßen Schussentfernungen verursacht. Die Gewebe- (a) und niedriger (b) Auftreffgeschwindigkeit: a 5,56×45 mit
zerstörung reicht als Faustregel nicht deutlich über Hartkerngeschoss, b 9×19 mm mit Vollmantelgeschoss
12 den Geschossdurchmesser hinaus.
Hochgeschwindigkeitsverletzungen verur-
sachen meistens durch die Bildung einer größe- Die Auftreffgeschwindigkeit beeinflusst auch
ren Wundhöhle starke Gewebeschädigungen. Da maßgeblich Deformationsverhalten und Zerle-
sich die Auftreffgeschwindigkeit stärker auf die gungsneigung von Geschossen.
kinetische Energie des Geschosses auswirkt als das
Geschossgewicht, haben Hochgeschwindigkeitsge- Widerstand des Zielmediums
schosse zumeist rechnerisch eine deutliche größere Gewebe von hoher Dichte (z. B. Muskel, Knochen,
kinetische Energie als Niedriggeschwindigkeitsge- Leber, Niere) bremsen Geschosse stark ab. Der gro-
schosse. ße Energieübertrag bewirkt eine stärkere Zerstö-
Dieser Grundsatz berücksichtigt aber nicht die rung von Gewebe. Je höher der Widerstand des
teilweise erheblichen Einflüsse anderer maßgebli- Zielmediums ist, desto grösser sind auch die auf das
cher Faktoren. Die effektive Gewebeschädigung Geschoss wirkenden Biege- und Druckspannun-
wird nicht primär durch VZiel bzw. Geschoßenergie, gen. Sie können eine Verformung oder Zerlegung
sondern durch den tatsächlichen Verlauf des Ener- des Geschosses bewirken. Vereinfacht dargestellt
gietransfers ins Gewebe bedingt. Eine Schusswunde verändert auch die Erhöhung der Auftreffgeschwin-
durch ein Deformations- oder Hohlspitzgeschoß digkeit den Widerstand des Zielmediums. Man
aus einer Kurzwaffe kann also durchaus größere Ge- kann dies mit einer Hand vergleichen, die mit gerin-
webezerstörungen bewirken, als ein richtungsstabil ger oder sehr hoher Geschwindigkeit auf eine Was-
das Gewebe durchdringendes Vollmantelgeschoss seroberfläche schlägt, und die so als weich oder sehr
aus einer Langwaffe. hart empfunden wird.
12.3 · Geschosskonstruktionen
257 12
. Abb. 12.4 Eigenbewegung eines drallstabilen Geschosses: 1 ist die Flugrichtung, 2 die Geschossachse, a der Gierwinkel.
Die Geschossachse dreht um die Flugrichtung (Präzession) und der Anstellwinkel schwankt zwischen einem minimalen und
einem maximalen Wert (Nutation). (Graphik: M. Neitzel, adaptiert nach [4])
12
. Abb. 12.6 Typische Wundkanäle verschiedener Geschosstypen und Büchsenpatronen. a Extremitätendurchmesser (Ober-
schenkel), b Rumpfdurchmesser (quer). (Graphik: M. Neitzel, adaptiert nach [3])
12.3 · Geschosskonstruktionen
259 12
12.3.1 Vollmantelgeschosse das Heck als Schwerpunkt des Geschosses nach
vorne drängt: Das Geschoss taumelt über die
Geschosse, deren Kern vollständig ummantelte Querachse. Dadurch vergrößert sich während der
oder lediglich am Heck offen ist, werden als Voll- Drehung die Frontfläche erheblich, es kommt zur
mantelgeschosse bezeichnet. Sie sind aufgrund der deutlichen Größenzunahme der temporären und
völkerrechtlichen Einschränkungen Standardge- permanenten Wundhöhle. Taumeln tritt häufig erst
schosse im militärischen Bereich, wurden bis in die nach Strecken auf, die z. B. bei Extremitätentreffern
1990er Jahre aber auch durch die Polizei genutzt. kaum gegeben sind.
Für den Mantel werden Tombak, Stahl oder Für die vollständige Wendung bis zur Geschoss-
Flusseisen genutzt. Besteht der Kern aus Blei, spricht lage mit Heck voraus werden ca. 30–40 cm Penetra-
man von Weichkerngeschossen. Ist der vordere tionstiefe in muskelähnlichem Gewebe benötigt.
Teil des Bleikerns durch einen die Durchschlagleis- Ausreichend lange Schusskanäle sind nur in Aus-
tung erhöhenden Stahlpenetrator ersetzt, handelt es nahmefällen zu erreichen (z. B. bei Quer- oder
sich um ein Doppelkerngeschoss. Ein panzerbre- Längsdurchschüssen des Rumpfes). Das Geschoss
chender Kern, meist aus Wolfram, wird als Hart- durchdringt das restliche Gewebe dann meist mit
kerngeschoss bezeichnet. Am Heck können Brand- dem Heck voran. Dabei treten geringe Pendelbe-
sätze verbaut sein, die eine Leuchtspur erzeugen wegungen um die Längsachse auf. Je nach Lage des
und somit den Flug des Geschosses besser verfolg- Geschosses beim Austritt aus dem Zielmedium
bar machen. Alle Vollmantelgeschosse wirken im entstehen unterschiedlich große Ausschüsse. Bei
Sinne der Wundballistik grundsätzlich ähnlich. Querlage werden große Ausschusswunden ver-
> Brandsätze in Leuchtspurgeschossen sind
ursacht, bei Austritt mit Heck voran eher
nicht auf externe Sauerstoffzufuhr ange-
kleine. Hierdurch wird die große Bandbreite an
wiesen und brennen nach dem Verschießen
Ausschusswunden bei Vollmantelgeschossen ver-
über einen Zeitraum von 1 s auch im Körper-
ständlich.
inneren vollständig ab. Es ist daher mit Ver-
Die Geschossverzögerung im Gewebe erreicht
brennungen im Bereich des Schusskanals zu
bei 90° Drehung ihr Maximum. Dementsprechend
rechnen, insb. bei Steckschüssen.
ist bei einer entsprechenden Penetrationstiefe durch
die große Stirnfläche die Fragmentation am wahr-
Vollmantelgeschosse können drei charakteristische scheinlichsten. Das zur Vietnamkriegs-Zeit in der
Wirkmuster im Gewebe zeigen: 5,56×45 verwendete M193-Geschoss zerlegte sich
4 richtungsstabile Penetration, z. B. bei ausreichender Geschwindigkeit relativ
4 Taumeln und zuverlässig nach Penetration von 15 cm Muskel-
4 Fragmentation. gewebe (nicht formstabil).
. Abb. 12.7 Deformation bzw. Zerlegung des 5.56×45-Geschosses M193 in Abhängigkeit von der Auftreffgeschwindigkeit.
(Adaptiert nach [4])
12 klärt die sehr unterschiedlichen, häufig stark abwei- Ein weiterer wesentlicher Faktor für die Anfäl-
chenden Verwundungsmuster. ligkeit des Geschosses für Fragmentierung ist die
Die Geschwindigkeit des Geschosses im Gewebe Dicke des Geschossmantels. Kleine, schnelle Ge-
zum Zeitpunkt des Querstellens ist maßgeblich für schosse mit dünnem Mantel sind besonders anfällig
die wirkenden Kräfte und wichtigster Parameter für für Zerlegung. So fragmentierte das zur Zeit des
die Wahrscheinlichkeit einer Geschossfragmentie- kalten Krieges in Deutschland hergestellte Vollman-
rung. Die durch den Geschossaufbau bedingte Struk- telgeschoss im Kaliber 7,62 schon bei niedrigeren
turstabilität ist ein weiterer wesentlicher Faktor Geschwindigkeiten als der NATO-Standard, da der
(dünnmantelige Geschosse platzen schneller als Mantel insbesondere im Bereich der Kneifrille dün-
starkmantelige), nicht aber Kaliber oder Form. Gän- ner gehalten war.
gige militärische Weichkerngeschosse, also Vollman- Ein hoher Widerstand des Zielgewebes erhöht
tel-Bleikerngeschosse, fragmentieren fast nie unter die Wahrscheinlichkeit einer Zerlegung. Trifft ein
einer Auftreffgeschwindigkeit von 600 m/s, aber »dünnhäutiges« Vollmantelgeschoss beim Eindrin-
meist bei über 800 m/s im Zielmedium (. Abb. 12.7). gen in den Thorax mit ausreichender VZiel z. B. auf
Erste Einflüsse bei niedrigeren vZiel sind Deformatio- eine Rippe, zerlegt es sich regelhaft.
nen des Geschosses, teils mit Tubeneffekt, also Blei-
austritt am offenen Heck. Bei höheren Auftreffge- Die Patrone 5,56 mm × 45
Die zivil als .223 Remington bezeichnete Patrone ist ver-
schwindigkeiten kommt es dann zum Zerbrechen
gleichsweise leistungsschwach. In Deutschland ist sie daher
des Geschosses, was meist im Bereich der Kneif- oder zivil – trotz der gut wirksamen Jagdgeschosse – nur für die
Crimp-Rille als Sollbruchstelle geschieht. Doppel- Jagd auf das ca. 20 kg schwere Rehwild zugelassen. Beim
kerngeschosse verhalten sich ähnlich. Menschen ist durch formstabile Vollmantelgeschosse außer-
12.3 · Geschosskonstruktionen
261 12
halb direkt tödlicher Trefferzonen nur eine geringe zielballis- durchmessers. Das verformte Projektil durchdringt
tische Wirkung zu erwarten. In direkten, intensiven Gefech- das Treffermedium aufgrund des nach vorne verla-
ten in Afghanistan hat sich diese Beobachtung bestätigt. Bei
gerten Schwerpunkts und der Schulterstabilisierung
deutlich über 100 m betragenden Kampfentfernungen errei-
chen die Geschosse kaum noch die kritische Geschwindig-
(eine nach vorne wanderende Kante der Frontfläche
keit, um fragmentieren zu können. Durch eine zunehmende erzeugt einen höheren Widerstand und wird da-
Einführung des verkürzten G36K mit niedrigerer Mündungs- durch verzögert) relativ richtungsstabil und taumelt
geschwindigkeit verschärft sich die Problematik: Beim G36 selten. Die Wundhöhle wird dabei durch das lang-
wird die für eine relativ verlässliche Fragmentierung notwen-
samer werdende Geschoss und den resultierenden
dige Geschwindigkeit von 800 m/s ab einer Schussentfer-
nung von 110 m unterschritten, beim G36K dagegen schon
niedrigeren Energieübertrag keilähnlich immer
bei 50 m. kleiner.
Die US-Streitkräfte führten bereits zu Beginn der Kriege im Deformationsgeschosse zeigen das gewünschte
Irak und Afghanistan als Konsequenz ähnlicher Erfahrungen Deformationsverhalten nur innerhalb eines be-
Hohlspitzgeschosse (z. B. Mk 262) zur Verwendung in Sturm-
stimmten VZiel-Bereiches. Liegt die Auftreffge-
gewehren ein. Durch die offene Spitze deformiert oder frag-
mentiert das Geschoss bei geringeren Geschwindigkeiten
schwindigkeit darüber, verformt das Geschoss sich
einfacher. Die Verwendung ist nach der – von den USA aller- stark und führt damit zu größerer Gewebeschädi-
dings nicht ratifizierten – Haager Landkriegsordnung von gung, aber auch einer deutlich verringerten Penetra-
1899 allerdings völkerrechtswidrig. tionstiefe. Dies kommt insbesondere bei extrem
kurzen Schussentfernungen vor. Liegt die Auftreff-
geschwindigkeit unter dem vorgesehenen Bereich
12.3.2 Deformationsgeschosse (z. B. durch weite Schussentfernungen), deformiert
das Geschoss nur schwach, der Geschossquerschnitt
Deformationsgeschosse sind so konstruiert, dass sie erhöht sich nicht in dem erwünschten Maße und der
sich im Gewebe an der Spitze aufpilzen und da- Energietransfer bleibt entsprechend kleiner.
durch bereits nach kurzer Penetrationsstrecke viel
Energie auf das Zielgewebe übertragen. Sie sind
größtenteils als Jagdgeschosse konstruiert, aber 12.3.3 Hohlspitzgeschosse
auch die neueren Generationen von Polizeigeschos-
sen sind Deformationsgeschosse. Bei Hohlspitzgeschossen befindet sich an der Ge-
Bei klassischen Deformationsgeschossen, den schoßspitze eine Öffnung, die den Bleikern in der
Teilmantelgeschossen, umhüllt der Mantel die Tiefe freilegt. Aufgrund der guten Präzision wird es
Spitze des Geschosses nicht. Der Bleikern liegt vor- häufig beim Präzisionsschießen genutzt. Besonders
ne frei. Moderne Deformationsgeschosse haben im HV-Bereich weisen Hohlspitzprojektile kon-
häufig eine Plastikspitze, die die Aerodynamik be- struktionsbedingt eine Neigung zu einer sofortigen
günstigt und die Verformung einleitet. Teilweise und unkontrollierten Deformation bzw. Fragmen-
werden Mantel und Kern chemisch verbunden tation. Hohlspitzgeschosse mit kleinen Öffnungen
(»bonding«), um die Trennung von Mantel und und starkem Mantel verhalten sich häufig wie
Kern zu verhindern und so mit hohem Restgewicht Vollmantelgeschosse. Letztlich besteht eine große
eine tiefe Penetration oder einen Ausschuss zu er- Bandbreite beim zielballistischen Verhalten von
zielen. Abhängig vom Widerstand des Zielmediums Hohlspitzgeschossen je nach ihrer spezifischen
und der Auftreffgeschwindigkeit kommt es bei na- Konstruktion, der Auftreffgeschwindigkeit und
hezu allen Teilmantelgeschossen meist zur Abtren- dem Widerstand des Zielmediums.
nung von Splittern.
Bereits nach einem sehr kurzen »narrow chan- Dum-Dum-Geschosse
nel« (nur wenige cm) wird durch den hohen Ener- Die ersten in der Patrone .303 British eingeführten Voll-
mantelgeschosse zeigten im englischen Chitral-Feldzug in
gietransfer eine Wundhöhle verursacht, deren ma-
Afghanistan keine befriedigende Wirkung. Auf der Suche
ximaler Durchmesser nahe des Einschusses liegt. nach wirksamerer Munition wurden die ersten Hohlspitz-
Bei Experimenten in Versuchsmedien betrug ihr geschosse 1895 im Auftrag der britischen Kolonialtruppen in
Durchmesser bis zum 30-fachen des Geschoss- der Munitionsfabrik der indischen Stadt Dum Dum gefertigt.
262 Kapitel 12 · Schussverletzungen
Das Geschoss zeigte eine erheblich bessere Wirkung beim oder in besonders empfindlicher Umgebung (z. B.
Gegner. Die mit den »Dum-Dum-Geschossen« gemachten durch Sky Marshals in Flugzeugen) eingesetzt.
wundballistischen Erfahrungen führten aus ethischen Grün-
Geschosse, die in ihrer Flugbahn Hindernisse
den aber letztlich zum Verbot von sich verformenden Ge-
schossen in der Haager Landkriegsordnung von 1899.
berühren, Deckung durchschlagen oder als Quer-
schläger abgelenkt werden, deformieren oder frag-
mentieren dabei meist oder weisen bei Auftreffen
im Ziel hohe Gierwinkel auf.
12.3.4 Vollgeschosse > Abhängig von der kinetischen Restenergie
kann es auch bei Vollmantelgeschossen auf-
Voll- oder Monoblockgeschosse sind durchgehend grund der von Beginn des Gewebekontakts
aus einem Material (meist Kupferlegierungen) ge- an erhöhten Querschnittfläche zu erheblichen
fertigte Geschosse. Besonders stabile Geschosse Gewebezerstörungen schon nach kurzer Ein-
(»solids«) deformieren im Ziel nicht und werden dringtiefe kommen. Besonders schnelle,
z. B. zur Großwildjagd eingesetzt. leichte Geschosse zerlegen sich häufig schon
Daneben gibt es auch Vollgeschosse aus Kupfer- beim Kontakt mit minimalen Hindernissen,
legierungen, die abhängig von der Zähigkeit des wie z. B. Grashalmen oder kleinen Zweigen.
Metalls und der Konstruktion deformieren oder
sich zerlegen. Sie sind dann sinngemäß den Defor-
mations- oder Zerlegungsgeschossen zuzuordnen.
Häufig weisen sie eine Hohlspitze auf, die diese Pro- 12.3.6 Flintenmunition
zesse einleitet. Sie verfügen zumeist durch ein hohes
Restgewicht über hohes Penetrationsvermögen. Aus Flinten wird meist Schrot verschossen, also
Vollgeschosse mit kontrollierter Deformation stel- eine Vielzahl kleiner Kugeln. Diese bestehen tradi-
len zurzeit den Standard im Bereich der Polizeimu- tionell aus Blei, neuerdings aus Umweltschutz-
nition dar (z. B. QD P.E.P., Action 4). Gründen auch aus anderen, reaktionsträgeren Me-
Eine im Sportschützenbereich gebräuchlich Va- tallen, und haben einen Durchmesser von 1–9 mm
riante sind Vollgeschosse aus Blei ohne Mantel, die (. Abb. 12.8). Verletzungen mit Schrot weisen trotz
12 insbesondere aus älteren, leistungsschwachen der geringen Geschwindigkeit (und der theoreti-
Kurzwaffen verschossen werden. Sie neigen auf- schen Klassifizierung als Niedriggeschwindigkeits-
grund des weichen Materials zu starken, aber un- verletzung) auf kurze Entfernungen in der Regel
kontrollierten Verformungen. schwere Gewebezerstörung auf (. Abb. 12.9, . Abb.
12.10). Die Schrotkugeln verfügen zusammen über
eine große Stirnfläche und verformen sich aufgrund
12.3.5 Zerlegungsgeschosse des zumeist weichen Materials im Körper zusätz-
lich. Das größte Zerstörungspotenzial ist unmittel-
Splittergeschosse sind im Aufbau speziell so kons- bar im Bereich des Einschusses und wird in der
truiert, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Tiefe rasch geringer. Die Penetrationstiefe ist im
bei normalen Auftreffgeschwindigkeiten zumindest Regelfall gering, Ausschüsse sind nicht häufig.
partiell fragmentieren. Der Wundmechanismus Auf Entfernungen von 3–5 m dringt die noch
entspricht dem im Abschnitt Fragmentation erläu- kompakt fliegende Schrotladung meist relativ tief
terten. Ähnlich den Deformationsgeschossen öffnet ein. Frontale Schrotkörner werden beim Eindrin-
sich die Wundhöhle bereits direkt hinter dem Ein- gen in den Körper teilweise von nachfolgenden
schuss. im Sinne eines Billardeffekts zur Seite gedrängt,
Splittergeschosse werden meistens jagdlich ge- wodurch sich die Wundhöhle vergrößern kann.
nutzt. Besonders zerlegefreudige Geschosse mit Über 10 m Schussdistanz kommt es durch das Aus-
sehr geringer Penetrationstiefe und minimaler Ge- einanderweichen der Schrotkörner zu multiplen
fährdung durch Querschläger (»frangibles«) wer- Einschüssen mit geringerer Penetrationstiefe. Auf
den aber auch beim Übungsschießen auf Hartziele weitere Entfernungen verursacht Flintenmunition
12.3 · Geschosskonstruktionen
263 12
. Abb. 12.8a,b Flintenpatronen: a Schrotpatrone und . Abb. 12.9 Wundprofile von Flintenmunition. FLG Flinten-
Schrotladung im Plastikbecher. b Patrone mit Brenneke- laufgeschoss. (Graphik: M. Neitzel)
Flintenlaufgeschoss. (Aus [4])
. Abb. 12.11 Vergleich von Kurzwaffenpatronen. Bemerkenswert ist die erheblich größere temporäre und permanente
Wundhöhlenbildung beim Hohlspitzgeschoss im Vergleich zum Vollmantelgeschoss. a Extremitätendurchmesser (Ober-
schenkel), b Rumpfdurchmesser (quer). (Graphik: M. Neitzel)
12.4.1 Extremitäten
besser toleriert. Große Blutgefäße verhalten sich hoher Geschwindigkeit getroffen, kann es zu töd-
grundsätzlich ähnlich. Enthalten Hohlorgane Luft, lichen Organzerreißungen führen. Diese ist im
wie es bei Darm und Magen häufig der Fall ist, ab- Wesentlich auf die fehlende Komprimierbarkeit des
sorbiert diese durch ihre Komprimierbarkeit einen Blutes zurückzuführen, das die auftretenden Druck-
Teil der Druckwelle. Die Luft erweist sich somit ge- wellen explosionsartig weiterleitet. In der Diastole
meinsam mit der hohen Elastizität des Magen- kann es dagegen auch bei direkten Treffern eher zu
Darm-Traktes als »Retter« und bedingt häufig er- umschriebener Gewebezerstörung kommen, weil
heblich geringere Schädigungen im Vergleich zu das entspannte, wenig gefüllte Herz Dehnungsre-
flüssigkeitsgefüllten Organen, wie der Harnblase. serven aufweist. Myokardtreffer mit geringer Gewe-
Schussverletzungen im Abdominalbereich ha- bezerstörung tamponieren sich teilweise während
ben eine sehr unterschiedliche Letalität. Werden der Systole selbst. Der unmittelbare Blutverlust ist
größere Blutgefäße getroffen, ist eine präklinische dann kurzfristig überlebbar, es droht aber eine Peri-
Stabilisierung bis zum Erreichen chirurgischer Ver- kardtamponade.
sorgung meist nicht mehr möglich. Auch die meist > Grundsätzlich haben Patienten mit ausge-
gut durchbluteten Organe können bei Verletzung zu dehnten Thoraxverletzungen unter Beteili-
lebensbedrohlichen intraabdominellen Blutverlus- gung großer Gefäße eine schlechte Prognose
ten führen. Häufig sind diese Strukturen bei abdo- und versterben häufig vor Erreichen einer
minellen Treffern aber nicht unmittelbar beteiligt, chirurgischer Versorgung.
so dass die Patienten auch Intervalle von teils deut-
lich mehr als einer Stunde bis zur chirurgischen
Versorgung überleben können.
12.4.5 Kopf
12.4.4 Thorax Dringt ein Projektil in den Kopf ein, entsteht auf-
grund des inflexiblen knöchernen Schädels eine
Der Brustkorb enthält neben Atemwegen und Kompressionswirkung über die verursachten
Lunge auch Herz und große Gefäße sowie den Druckwellen. Häufig wird durch die Beteiligung des
12 Ösophagus als Teil des Gastrointestinaltraktes. Die Hirnstamms ein Atemstillstand ausgelöst. Bei einer
Lunge ist bezogen auf das Volumen zu erheblichen ausreichend hohen übertragenen Energie kann der
Teilen luftgefüllt. Trifft die Druckwelle Lungenge- Schädel durch die hydrodynamische Sprengwir-
webe, wird die darin befindliche Luft komprimiert. kung zerbersten. Geschosse mit niedriger Energie
Sie absorbiert so einen Teil der übertragenen Ener- können häufig keinen Ausschuss mehr erzielen und
gie und begrenzt die Größe der Wundhöhle. In prallen innerhalb des Schädels mehrfach ab oder
Kombination mit der hohen Elastizität des Lungen- gleiten an der Innenseite des Schädels entlang. Hier-
gewebes ergeben sich somit meist deutlich geringe- durch wird ein erheblicher Schaden im Bereich der
re Wundprofile im Lungengewebe als in allen ande- stark vaskularisierten Hirnhäute verursacht. Der
ren Gewebearten. Trifft das Projektil allerdings Effekt tritt insbesondere bei sog. Kleinkaliberpatro-
beim Einschuss auf Rippe oder Schulterblatt, nen auf, z. B. .22 lfB.
kommt es meist zu einer erheblich größeren Ener- Schussverletzungen im Bereich des Gehirn-
gieübertragung auf das dahinter liegende Gewebe. schädels haben eine schlechte Prognose. Bei
Bedeutsamer als die unmittelbare Verletzung Schussverletzungen im Mittelgesichtsbereich
von Lungengewebe ist die Beeinträchtigung der ohne zerebrale Beteiligung und im Halsbereich ste-
Atmung durch Verursachung eines Pneumothorax hen meist Blutungen und Beeinträchtigungen der
oder Spannungspneumothorax. Gerade die Ver- Atemwege im Vordergrund. Darüber hinaus kommt
letzung von Gefäßen an der Thoraxinnenwand es bei Halstreffern häufig zu einer Mitbeteiligung
kann zu erheblichen Blutverlusten in den Brustkorb der HWS.
hinein führen. Werden Herz oder große Gefäße bei
praller Füllung mit Blut von einem Geschoss mit
12.5 · Letalität von Schussverletzungen
267 12
12.4.6 Infektion tizität der Haut meist kleiner als der Geschoss-
durchmesser. Letztlich ist die Unterscheidung zwi-
Durch den bei der Bildung der temporären Wund- schen Ausschuss und Einschuss für die präklinische
höhle entstehenden Unterdruck werden Fremd- Versorgung ohne wirkliche Relevanz.
körper mit entsprechender Besiedelung durch Desweiteren sind Ein- und Ausschuss nicht un-
Krankheitserreger in den Schusskanal hineingezo- bedingt durch einen geraden Schusskanal verbun-
gen (Kleidungsfetzen, Schmutz, Hautpartikel). den. Geschosse oder Fragmente können von der
Auch die Geschossoberfläche ist grundsätzlich kon- eigentlichen Schussachse stark abweichen. Insbe-
taminiert, eine Sterilisation im Lauf durch Rei- sondere bei Knochentreffern können das Geschoss
bungshitze und Druck erfolgt nicht. oder seine Splitter die Richtung bis zu 180° ändern.
Krankheitserreger aller Art finden im avitalen Formstabile, schwere Geschosse neigen weniger zu
oder minderperfundierten zerklüfteten Gewebe mit Richtungsänderungen im Körper als schnelle frag-
zahlreichen Wundtaschen optimale Wachstumsbe- mentierende Geschosse. Mit irregulär verlaufenden
dingungen. Neben den üblichen Haut-, Feucht- und Schusskanälen sollte gerechnet werden und die kör-
Erdkeimen sind insbesondere Gasbranderreger perliche Untersuchung entsprechend sorgfältig er-
aufgrund des rasch fortschreitenden dramatischen folgen. Bei Verletzungen oberhalb des Bauchnabel-
Krankheitsverlaufes und der schwierigen Therapie Niveaus ist immer auch eine thorakale Verletzung
gefürchtet (7 Kap. 9.3). Perforationsverwundungen auszuschließen, bei Verletzungen unterhalb der
von Gastrointestinal- und Urogenitaltrakt führen Brustwarzen liegt in 70 % der Fälle auch eine Betei-
zu einer Verschleppung der Fäkalflora in die Bauch- ligung der abdominellen Höhle vor.
höhle mit nachfolgender Peritonitis.
Explosionsverletzungen
M. Di Micoli, D. Bieler
Literatur – 280
13.1 Grundlagen
Charakteristikum Hochgeschwindigkeitsdruckwelle
. Abb. 13.2 Unmittelbare physikalische Folge einer . Abb. 13.3 Multiple Wunden durch Clusterbombe.
HE-Explosion (Aus Gering 2005)
stärkt werden. Eine Person in einem geschlossenen zündet wird und detoniert. Das Aerosol kann in
Raum kann dann durch eine entsprechend verstärk- Gebäude, Höhlensysteme und ungepanzerte Fahr-
te Druckwelle mehrfach aus verschiedenen Rich- zeuge eindringen und (nach Zündung durch die
tungen in kürzester Zeit getroffen werden. Eine zweite Explosion) entsprechend wirken. Es kann so
Explosion in einem geschlossenen Raum führt da- zu einer deutlich verlängerten und größeren Ab-
her zu einer höheren Anzahl von getöteten und gabe von Energie und somit zu potenziell mehr
schwerverletzten Opfern. Opfern und Verbrannten, verglichen mit konven-
> Die Hochgeschwindigkeitsdruckwelle
tionellen HE gleicher Sprengkraft, kommen. EBW
bei HE-Explosionen ist für die primären
besitzen einen starken Vakuumeffekt nach der ini-
Explosionsverletzungen ursächlich.
tialen Schockwelle und generieren einen ausge-
dehnten Unterdruck. Die heiße, brennende Luft
Der Überdruckwelle folgt der so genannte »blast wird quasi zum Explosionsort zentripetal eingeso-
wind«, der die Splitter und Projektile sowie die hei- gen mit entsprechender thermischer Schädigung.
ßen Explosionsgase transportiert (. Abb. 13.3).
Dieser »blast wind« ist für die sekundären, tertiären
und quartären Explosionsverletzungen ursächlich. 13.2 Verletzungsformen
Die Temperaturen können über 3.000 °C erreichen.
Je nach Expositionsdauer und Entfernung zum Ex- Bei Explosionsverletzungen (syn.: Sprengverletzun-
plosionsort kommt es zu unterschiedlich schweren gen, »blast injury«) liegt klassischerweise eine Kom-
Verbrennungen (7 Kap. 15). bination von mechanischem (Barotrauma, Sturz,
Eine Sonderform von HE-Sprengmitteln stellen Splitter, Verschüttung) und thermischem Trauma
im militärischen Bereich so genannte »enhanced- vor. Bei der mechanischen Traumakomponente ist
blast weapons« (EBW, explosionsverstärkende eine Kombination aus perforierenden und stump-
Waffen) dar. Dies sind z. B. Aerosolbomben (»fuel- fen Verletzungen typisch. Die thermomechanischen
air bomb«) und thermobare Waffen. Diese EBW Kombinationsverletzungen machen die Diagnostik
produzieren zwar initial eine geringere Überdruck- und Therapie von Explosionsverletzungen sowohl
welle als konventionelle HE, haben jedoch eine ver- in der Initialphase, als auch in der meist sehr langen
längerte Überdruckdauer und -reichweite mit einer Rekonvaleszenz sehr komplex. Für Verletzungen
größeren letalen Zone um den Explosionsort. Fuel- durch Explosionen mit entsprechender Druckwelle
air-Bomben verteilen typischerweise zuerst durch sind typische Verletzungsmuster beschrieben, die
eine kleine Explosion ein brennbares Gas in der sich aus dem zeitlichen Verlauf und den unmittel-
Luft, welches dann durch eine zweite Explosion ge- baren Folgen der Detonation ergeben und in 5 Ver-
272 Kapitel 13 · Explosionsverletzungen
Sekundär Fragmentation in Form von Splitter, Projektile Penetrierende Verletzungen gesamter Körper
Tertiär Ak- und Dezeleration durch Sturz, größere Vorwiegend stumpfe Verletzungen des gesamten
Trümmer, Verschüttung (Gebäudekollaps) Körpers
. Tab. 13.3 Verletzungsschwere in Abhängigkeit vom Explosionsort bei terroristischen Bombenanschlägen in Israel
(Kluger 2003). Ein ISS-Wert >15 Punkte wird mit einem schwerverletzten Patienten gleichgesetzt
Raum, Wasser, Wände) ist die zu erwartende Ver- verdichten sich die Hinweise auf mögliche primäre
letzungsschwere und die Anzahl der Verletzten un- Explosionsverletzungen am Hirn mit verzögerter
terschiedlich (. Tab. 13.3). Symptomatik beim leichten SHT (»mild traumatic
brain injury«, mTBI) (7 Kap. 18).
> Gerade bei der Versorgung von Sprengver-
Perforierende Verletzungen im Gesichtsbereich
letzungen gilt der notfallmedizinische
besitzen eine besondere psychologische Wirkung
Grundsatz, sich nicht von offensichtlichen
auf die Einsatzkräfte. Entstellende Verletzungen
und beeindruckenden Verletzungen ab-
dürfen jedoch nicht von der abzuarbeitenden Prio-
lenken zu lassen, sondern den Verwundeten
ritätenliste (<C>ABCDE) abhalten. Aufgrund der
aufgrund der physikalischen und physio-
sehr guten Durchblutung im Kopf- und Gesichtsbe-
logischen Kenntnisse von Explosionsver-
reich kann es zu starken Blutverlusten kommen
letzungen zu behandeln.
(Skalpierungsverletzung), die mit Verbänden zu
stoppen sind. Bei Aspirationsgefahr oder Zer-
störung der stabilisierenden Strukturen im Unter-
13.3.1 Kopf – Hals – Wirbelsäule kieferbereich mit Verlegung der Atemwege ist eine
sofortige Intubation oder Koniotomie erforderlich
Es kommen alle Schweregrade eines geschlossenen (7 Kap. 9.3). Bei Gesichtsverletzungen sind Zugänge
und offenen Schädel-Hirn-Traumas (SHT) vor. durch die Nase zu vermeiden.
Hauptsächlich werden diese durch sekundäre und
tertiäre Explosionsverletzungen verursacht. SHT
im Rahmen einer Explosion haben naturgemäß 13.3.2 Thorax
eine hohe Mortalität (71 % der sofort Getöteten und
52 % der sekundär Verstorbenen wiesen ein schwe- Der Thorax und die intrathorakalen Organe
res SHT auf). Bei Dezelerationen, Stürzen und können durch alle Arten von Explosionsverlet-
Verschüttungen ist eine Wirbelsäulenverletzung zungen geschädigt werden. Stumpfe und perfo-
möglich, die, sofern es die taktische Lage zulässt, rierende Verletzungen werden nach den üblichen
entsprechend zu versorgen ist (Immobilisierung, Versorgungsgrundsätzen (O2-Gabe, ggf. Intuba-
achsgerechte Lagerung/Transport, Zervikalstütze, tion, Analgosedierung, Thorax-Nadel-Dekom-
Vakuummatratze, Spine-Board, Schaufeltrage). pression, Thoraxdrainage, Verbände, Volumenthe-
Dies ist regelhaft erst ab der Phase »Tactical Field rapie) versorgt. Bei nicht kontrollierbaren Blutun-
Care« möglich. Aufgrund von Dezelerationen, gen muss schnellstmöglich unter Beachtung des
Stürzen und bei Insassen von angesprengten Fahr- Grundsatzes der permissiven Hypotension (systoli-
zeugen durch IED kommt es häufig zu Verletzungen scher Blutdruck ca. 90 mmHg) in die nächste geeig-
der thorakolumbalen Wirbelsäule. Hier ist gezielt nete chirurgische Notfalleinrichtung verlegt werden
nach diesen Verletzungen zu suchen. In letzter Zeit (7 Kap. 9).
276 Kapitel 13 · Explosionsverletzungen
. Tab. 13.4 Parameter der lungenprotektiven Beatmung bei »blast lung injury«. Ziel ist eine ausreichende Oxygenie-
rung (pSaO2 >95 %) und Ventilation bei möglichst niedrigen pulmonalen Druckunterschieden (Δpund O2-Konzentra-
tionen zur Vermeidung einer sekundären Lungenschädigung durch iatrogenes Barotrauma und O2-Toxizität. Eine
Volumenüberladung sollte vermieden werden
Eine »blast lung« manifestiert sich meist früh- ! Im militärischen und taktischen Bereich sind
zeitig (mitunter nach Minuten) mit Hämoptyse, Thorax und Abdomen weitgehend durch
Luftnot, Husten und Thoraxschmerzen. Bei einem ballistische Westen geschützt. Diese schützen
Pneumothorax oder Mediastinalemphysem zeigen jedoch nicht gegen primäre Explosionsverlet-
sich die typischen klinischen Zeichen. Aufgrund zungen, sie können sie unter ungünstigen
der Situation am Notfallort sind jedoch nicht alle Umständen sogar verstärken. Trotz äußer-
diagnostischen Möglichkeiten sinnvoll, durchführ- licher Unversehrtheit können schwere und
bar oder aussagekräftig (Auskultation bei Lärm, schwerste intrathorakale und -abdominale
obere Einflussstauung bei Volumenmangelschock Verletzungen vorliegen.
oder Dehydratation). Die Indikation zur Thorax-
13 entlastung mittels Entlastungspunktion und Tho- Eine Schwachstelle im ballistischen Bereich besteht
raxdrainage sollte großzügig gestellt werden. Eben- im Bereich der Axilla. Hier ist eine perforierende
so profitiert der Verletzte von einer frühzeitigen Verletzung thorakaler und abdominaler Organe
lungenprotektiven Beatmung mit niedrigen pulmo- trotz Schutzweste möglich.
nalen Druckunterschieden (. Tab. 13.4).
13.3.4 Becken
13.3.3 Abdomen
Beckenverletzungen entstehen hauptsächlich durch
Analog zu Thoraxverletzungen sind auch im Abdo- sekundäre und tertiäre Explosionswirkung. Perfo-
men alle Arten von Explosionsverletzungen mög- rierende Verletzungen sind nach Durchführung der
lich. Die Therapie von abdominellen Verletzungen blutstillenden Maßnahmen (7 Kap. 9) schnell einer
erfolgt nach sterilem Abdecken etwaiger Wunden chirurgischen Versorgung zuzuführen, da es hier
und Eviszerationen symptomatisch. Größere in- durch Verletzung der Iliakal- und Femoralgefäße zu
traabdominelle Verletzungen und Blutungen sind starken Blutverlusten kommen kann.
präklinisch kaum zu beherrschen und müssen Bei stumpfen Verletzungen kann es zur Spren-
schnellstmöglich einer chirurgischen Einrichtung gung und Instabilität des Beckenringes (auch in
zugeführt werden, wenn möglich mit permissiver vertikaler Ebene) mit Verletzung der intrapelvinen
Hypotension. Organe kommen. Bei Zerreißung des präsakralen
13.3 · Therapie von Sprengverletzungen
277 13
Gefäßplexus kommt es zu einer schweren, meist ve-
nösen, Blutung. Durch den zerstörten Beckenring
fehlt das Widerlager und trotz starker Blutung
kommt es zu keiner Selbsttamponade und persistie-
rendem Blutverlust (bis zu 6 l). Als einfache, überall
durchführbare und schnell erlernbare Maßnahme
hat sich hier das pelvic sheeting erwiesen (Hinter-
grund und Durchführung 7 Kap. 9.3). Diese einfa-
che und schnelle Methode behindert weder den
Transport noch die weitere klinische und apparative
Diagnostik. Laparotomien können mit angelegtem
. Abb. 13.5 »Umbrella«-Mechanismus durch Anti-Personen-
Pelvic Sheeting problemlos durchgeführt werden.
Landmine
. Tab. 13.5 Mögliche Gefährdungszone bei Terroranschlägen: Die Zahlen beziehen sich auf ausgewertete Attentate.
Je nach verwendetem Sprengmittel, Ort der Explosion und Beimischung sind andere Entfernungen möglich. Bei
hoher Sprengkraft (untere drei Zeilen) ist durch den zu erwartenden und beabsichtigten Gebäudeeinsturz eine hohe
Opferzahl zu erwarten
. Abb. 13.6 Durch IED angesprengtes gepanzertes KFZ (12 t). Der Motorblock fand sich 150 m entfernt. Alle Insassen
wurden schwer verwundet
13.4.3 »Angesprengte« Fahrzeuge dem initialen Impuls der Druckwelle auf das Fahr-
zeug mit stumpfen, selten perforierenden Verletzun-
Die Einsatzrealität durch asymmetrische Konflikte gen durch das Anschlagen der Verwundeten gegen
zeigt zunehmend das Problem von »angesprengten« die Innenseite der Karosserie. Bei sitzender Position
Fahrzeugen in Krisengebieten. Regelmäßig werden und Explosion von unten, kommt es häufig zu Stau-
IED hoher Sprengkraft verwendet (. Abb. 13.6) die chungsverletzungen der Wirbelsäule mit Frakturen
durch Kontakt (Druckplatte) oder ferngezündet un- der thorakolumbalen Wirbelsäule. Wird das Fahr-
ter dem Fahrzeug explodieren. Das Ausmaß der zeug umgeworfen und fällt zusätzlich einen Abhang
Schädigung von KFZ und Insassen wird durch die herunter verstärkt sich naturgemäß das Verletzungs-
Sprengladung, die Panzerung und durch die Siche- muster. Je nach Panzerung ist es möglich, dass das
rung der Insassen (Sicherheitsgurt, mit der Fahr- Material auch die Druckwelle durchlässt, wobei es
zeugwanne verschraubte Sitze mit Impulsfortlei- dann zu allen Formen von Explosionsverletzungen
tung) bestimmt. Die Verletzungen resultieren aus kommen kann (7 Abschn. 13.1). Auch eine nicht
280 Kapitel 13 · Explosionsverletzungen
Literatur
Bissverletzungen
S. Hentsch, J. Sahm
Literatur – 285
14.3.1 Desinfektion
durchgeführt werden muss. Dies umfasst die klassi- biniert mit Clindamycin (3×600 mg oral) aus-
sche Wundausschneidung nach Friedrich (Aus- zuweichen.
schneiden der Wundränder bei lokal umschriebe-
nen Wunden ohne Beteiligung tieferliegender Im Falle des »Prolonged Care« sollte neben anderen
Strukturen). Ein Wundverschluss mittels Naht soll- Maßnahmen zwingend eine zeitnah zum Biss (mög-
te präklinisch nicht erfolgen. Wird sie vom chirur- lichst innerhalb der ersten Stunde nach Verletzung)
gisch Erfahrenen dennoch im Sinne einer Wundad- durchzuführende kalkulierte Antibiotikagabe erfol-
aptation durchgeführt, ist die Einlage einer Lasche gen. In Ermangelung anderer Maßnahmen sollte
bzw. Drainage dringend anzuraten. dies mindestens bis zum Erreichen einer chirurgi-
schen Versorgung fortgeführt werden, danach liegt
Tipp
es in der Entscheidung des Weiterbehandelnden,
die Therapie fortzuführen.
Im Falle von Defektwunden (Wunden, deren
Ränder sich nicht problemlos aneinander
! Eine lokale Applikation von antibiotika-
legen lassen) sollten nur Desinfektion/Wund-
haltigen oder »Zug«-Salben ist nicht in-
spülung und Verband/Blutstillung erfolgen.
diziert! Sie erschwert die Beurteilung der
Der Wundverschluss kann erst unter Opera-
Wunde durch Nachbehandler und schafft
tionsbedingungen sinnhaft erfolgen.
keine Wirkspiegel in dem schlecht durch-
bluteten Gewebe.
Im Falle einer Wundinfektion muss mit Mischin- Im Falle einer Bisswunde an einer Extremität, muss
fektionen mit häufig mehr als 5 verschiedenen Er- diese nach Erstversorgung zwingend ruhiggestellt
regern gerechnet werden. Exemplarisch seien hier werden, um eine Weiterverbreitung der Keime im
die folgenden Erreger erwähnt: Weichteilverbund über Lymphgefäße und kleine
4 Aerobier: Pasteurella mulocida, Pasteurella Venen zu vermeiden. Dabei sollten mindestens die
ganis, Pasteurella stomatis, Capnocytophaga beiden angrenzenden Gelenke immobilisiert wer-
canimorsus, Wecksella zoohelium, Eiknella den. Unter taktischen Bedingungen können hier
corrodens, Bartonella haensele (Katzebisse), anpassbare Splints oder auch provisorische Schie-
14 Francisella tularensis oder Spirilium minus nen zur Anwendung kommen – der immobilisie-
(Rattenbisse), Staphylokokken, Streptokokken rende Effekt ist entscheidend. Idealerweise erfolgt
4 Anaerobier: Fusobakterien, Porphyromonas, an der häufig betroffenen oberen Extremität die
Prevotella, Clostridium perfringens, Propioni- Ruhigstellung im Handgelenk in Funktionsstellung
bakterien, Bacteroides-Arten. und der Finger in »Intrinsic-plus-Stellung«, um
Spätschäden durch narbenbedingte Gewebe-
Bei primär unbekannter Erregersituation wird fol- schrumpfung zu vermeiden (. Abb. 14.2).
gende initiale Antibiotikaprophylaxe empfohlen:
4 Amoxicillin und Clavulansäure (2×875 mg plus
125 mg oral pro 24 h). 14.4 Impfschutz und Antisereneinsatz
4 Eine Alternative stellt die Kombination von
Metronidazol (3×400 mg oral) und Cefuroxim > Jeder potenziell Expositionsgefährdete sollte
(2×500 mg oral; alternativ Ceftriaxon 1×2 g in diesem Gesamtzusammenhang auch über
intravenös) pro 24 h dar. einen umfassenden Impfschutz verfügen.
4 Bei Penicillinallergie ist auf ein Chinolon (z. B. Dies beinhaltet neben der Tetanus-Impfung
2×500 mg Ciprofloxacin oral pro Tag) kom- auch eine Immunisierung gegen Tollwut.
Literatur
285 14
kg KG einmalig durchzuführen, wobei die Hälfte
des Serums um die Verletzungsstelle herum, die
70°–80°
zweite Hälfte intramuskulär verabreicht werden
muss. Simultan muss die aktive Immunisierung mit
Rabies-Vakzin (an Tag 0, 3, 7, 14 und 28) durchge-
führt werden. Besteht ein Impfschutz, so kann ggf.
auf die passive Impfung verzichtet werden, jedoch
ist die aktive Immunisierung (dann an Tag 0 und 2)
30°–40°
angeraten und sollte immer binnen Stunden verab-
reicht werden. Zusätzlich ist eine ausgiebige Lavage
. Abb. 14.2 Intrinsic-plus-Stellung. Die längerfristige Ru- der Wunde ohne anschließenden Wundverschluss
higstellung einer Hand sollte in dieser Stellung erfolgen, um
durchzuführen.
eine Schrumpfung von Gelenkkapseln und Bändern der Fin-
gergelenke zu vermeiden In jedem Falle ist der Tetanus-Impfschutz zu
eruieren, im Zweifel muss eine Impfung (ggf. als
aktiv-passive Simultanimpfung) erfolgen.
Die Tollwut nimmt im Bereich der Bissverletzungen Bei Giftexposition ist neben der Immobilisati-
eine Sonderstellung ein. Durch die Übertragung der on und zeitnahen Wundrevision die Anwendung
Rabies-Viren kommt es ohne Schutz und Behand- von Antiseren (spezifisch und unspezifisch) zu er-
lung unweigerlich zu einem qualvollen Tod. Es wer- wägen (7 Kap. 37).
den im Speichel des Tieres befindliche Viren in die In jedem Falle muss bei allen Expositionsge-
Bisswunde übertragen. Entlang der Nervenzellen fährdeten auf einen umfassenden Impfschutz ge-
gelangt das Virus in Richtung des zentralen Nerven- achtet und dieser aufrechterhalten werden.
systems und breitet sich von dort wieder nach peri-
pher aus. In dieser Weise gelangt es auch in die Spei- Zusammenfassung
cheldrüsen, von wo aus dann eine Übertragung er- Der Hauptfokus der Versorgung von Bissverletzun-
folgen kann. Bei Bissverletzungen, die nahe am ZNS gen liegt unter den Gesichtspunkten der taktischen
lokalisiert sind, ist dieser Zeitraum aufgrund der Medizin auf der Blutstillung. In Folge ist eine mög-
vom Virus »zurückzulegenden Strecke« entspre- lichst zeitnahe chirurgische Wundkontrolle und ggf.
chend kürzer und geht mit einem schnelleren To- Versorgung anzustreben. Sollte diese notwendig,
deseintritt einher. aber nicht verfügbar sein, ist eine Desinfektion,
Wundexploration und Lavage und im Einzelfall ein
! Zeigt ein Tier ein auffälliges Verhalten mit
Débridement durchzuführen. In jedem Fall sollte,
Überaggression, Übererregung, Schaum vor
wenn eine Extremität betroffen ist, zwingend eine
dem Maul (als Zeichen der vermehrten Spei-
Ruhigstellung erfolgen. Wenn möglich und ver-
chelbildung durch die krankheitsbedingte
fügbar, ist mit einer breitbandigen Antibiose zu be-
Schluckstörung) oder Scheuverlust bei Wild-
ginnen. Besteht Verdacht auf eine Übertragung von
tieren, um hier nur einige Anzeichen zu nen-
Tollwutvirus, ist mit einer simultanen Impfung bzw.
nen, muss vorrangig an Tollwut gedacht wer-
Auffrischung zu reagieren.
den. Unglücklicherweise kann eine Übertra-
gung auch ohne das Fehlen dieser Anzeichen
stattfinden, da ein infiziertes Tier bereits Vi-
ren über den Speichel ausscheiden kann, be- Literatur
vor klinische Symptome auftreten.
1. Aigner N et al. (1996) Bissverletzungen und Ihre be-
Bei Verdacht auf eine mögliche Exposition mit dem sondere Stellung in der unfallchirurgischen Versorgung.
Unfallchirurg 99:346–350
Tollwut-Virus, gilt es, schnellstmöglich lokal und
2. Callaham M et al. (1988) Controversies in antibiotic
systemisch Antikörper im Sinne einer passiven Im- choices for bite wounds. Ann Emerg Med 17:1321–1330
munisierung zu verabreichen. Die passive Immuni- 3. Eberlin M et al. (2009) Infections de la main. Mono-
sierung ist mit Immunglobulin von insgesamt 20 IE/ graphie de Société Francaise de la Chirurgie de la Main.
286 Kapitel 14 · Bissverletzungen
14
287 15
Verbrennungen
M. Di Micoli, S. Hentsch
Literatur – 294
15.1 Definition, Grundlagen, Ursache und damit Verlust von Flüssigkeit und kleinmole-
kularen Proteinen vom intravasalen in den extrava-
Bei einer Verbrennung kommt es zur Schädigung salen Raum. Hierdurch entsteht ein interstitielles
von Körpergewebe durch thermische, chemische, Ödem aufgrund von Änderungen im osmotischen
physikalische oder elektrische Einwirkung. Das Gefälle. Es kommt zusätzlich zu einer Mikrozirku-
Ausmaß der Schädigung ist abhängig von Einwirk- lationsstörung auf Kapillarebene (Leukozyten- und
dauer und Temperatur. Bei einer Einwirkdauer von Thrombozytenaggregation) mit entsprechender
1 h können so schon ab 45 °C Zellschäden auftreten. zellulärer Schädigung. Aufgrund des Verlustes der
Bei Explosionen kommt es zu Temperaturen von bis Schutzfunktion der Haut verliert der Körper somit
zu über 3.000 °C innerhalb von Millisekunden die Möglichkeiten der Thermo- und Flüssigkeitsre-
(7 Kap. 13). gulation und seine antibakterielle Barriere.
Nach 48–72 h beginnt die allmähliche Rückre-
jUrsachen sorption des Ödems. Diese Phase dauert je nach
Als Ursache von thermischen Verletzungen gelten Schädigungsausmaß 1–3 Wochen.
im zivilen Bereich überwiegend offenes Feuer
(51 %) und Verbrühung (28 %) mit Flüssigkeiten.
Andere Ursachen (Explosion, Strom, sonstige) sind 15.2 Beurteilung
seltener, treten im militärischen und taktischen Be- der Verbrennungsschwere
reich aber deutlich in den Vordergrund. Gerade in
diesen Bereichen ist im Rahmen von Explosions- Zur Beurteilung der Verletzungsschwere ist die Ein-
verletzungen zusätzlich zu Verbrennungen mit zu- schätzung der Verbrennungstiefe und des Ausma-
sätzlichen schweren Verletzungen im Rahmen der ßes der Körperoberfläche (KOF) erforderlich. Die
thermomechanischen Kombinationsverletzungen Verbrennungstiefe wird im deutschsprachigen
zu rechnen (7 Kap. 13). Raum nach unten stehender Tabelle eingeteilt
(. Tab. 15.1). Im angloamerikanischen und interna-
jPathophysiologie tionalen Bereich wird gewöhnlich zwischen »partial-
Ein Verbrennungstrauma führt zum Integritätsver- thickness burns« (I° und II°) und »full-thickness
lust der Haut mit entsprechendem primärem Flüs- burns« (III° und IV°) unterschieden (. Abb. 15.1).
sigkeitsverlust. Durch Mediatorenausschüttung (die Zur schnellen Orientierung über das Ausmaß
Haut ist das größte Organ des Immunsystems und der verbrannten KOF wird die Neuner-Regel nach
das größte Flächenorgan des Menschen) kommt es Wallace (. Abb. 15.2) angewendet. Als grobe Richt-
zu einer Permeabilitätsstörung auf Kapillarebene linie gilt, dass die Handfläche eines Patienten
(»capillary leak«) mit entsprechendem Übertritt 1 % KOF entspricht.
15
. Tab. 15.1 Einteilung der Verbrennungstiefe
II°a Oberflächlich dermal Blasenbildung, roter Wundgrund, stark Konservativ Ausheilung ohne
schmerzhaft Narben
II°b Tief dermal Blasen, heller Wundgrund, schmerzhaft Meist Operativ Meist Narbenbildung
15.3 Inhalationstrauma . Abb. 15.3 Schwere Verbrennung (II° bis IV°) mit Inhala-
tionstrauma
Eine Besonderheit beim Verbrennungstrauma ist
das Inhalationstrauma (IHT). Bei Bränden und
Rauchentwicklung in geschlossenen Räumen sowie und Thoraxbereich (. Tab. 15.2, . Abb. 15.3). Bei
bei Explosionen (»blast wind«, 7 Kap. 13) ist bis zum der Inspektion des Pharynx und Larynx (Laryngo-
Beweis des Gegenteils von einem IHT auszugehen. skopie) ist auf eine auffallend gerötete oder blasse
Klinische Anhaltspunkte sind verbrannte Haare im Schleimhaut und Rußauflagerungen zu achten.
Kopfbereich sowie verbrannte Haut im Kopf-, Hals- Symptome wie Dyspnoe, Husten, Würgen, Stridor
290 Kapitel 15 · Verbrennungen
Thermisch Gas, Dämpfe Oberer und unterer Würgen, Husten, O2-Gabe, Intubation
Respirationstrakt Larynxödem
und Giemen müssen ebenfalls als mögliches IHT Bei Bränden oder Explosionen kommt es, je
identifiziert werden, ohne dass auf die Genese des nach verbranntem Stoff, zur Freisetzung von Brand-
IHT geschlossen werden kann (. Tab. 15.3). Ebenso gasen (heterogene Substanzgemische) und ent-
15 ist bei Bewusstlosen in entsprechender Umgebung sprechender Schädigung im Respirationstrakt, im
an ein IHT als alleinige Ursache oder als zusätzliche Alveolarbereich oder auch systemisch. Brände ver-
Verletzung zu denken. ursachen auch die Freisetzung toxischer Verbren-
Das Vorliegen eines IHT, v. a. in Kombination nungsprodukte wie Aldehyde, Stickoxide, Nitrose-
mit Explosionsverletzungen, geht mit einer deutli- Gase, Chlorwasserstoff, Schwefeldioxid, Ammoni-
chen Steigerung der Morbidität und Letalität einher. ak, Phosgen (Abbrand von PVC!), u. a. Dabei kommt
Bei dem IHT handelt es sich um ein heterogenes es besonders in geschlossenen Räumen (Gebäude,
Krankheitsbild. Ursächlich ist eine thermische, KFZ) zur Abnahme der O2-Konzentration und zu
chemisch-toxische Schädigung des Respirations- einem Anstieg der CO- und CO2-Konzentration.
traktes vom Pharynx bis zu den Alveolen. Je nach Neben der O2-Armut sind CO2, CO und Cyani-
Schädigungsort kommt es zur Zerstörung von Pha- de für die hohe Frühletalität beim IHT verantwort-
rynxmukosa bis zu den Pneumozyten mit Verlust lich. Bei Inhalation von Reizgasen können Sympto-
von Surfactant (Schadenshauptlokalisation in Ab- me auch mit einer Latenz von mehreren Stunden
hängigkeit von der Wasserlöslichkeit der Toxine). auftreten.
15.4 · Therapie
291 15
15.4 Therapie Kleidungsbereiche von den haftenden ab-
schneiden.
Grundsätzlich ist die Versorgung von Brandverletz- 4 Verbrannte Hautareale mit sterilen, saufähigen,
ten analog der Richtlinien der Traumaversorgung nicht verklebenden Materialien verbinden.
durchzuführen, da gerade im taktischen Bereich Salben, Puder, färbende Flüssigkeiten und das
häufig eine thermomechanische Kombinations- Eröffnen von Blasen sind im Rahmen der Erst-
verletzung vorliegt, z. B. nach einer Explosion. Die versorgung zu unterlassen. Industriegefertigte
äußerlich deutlich sichtbare Verbrennung darf nicht Verbandspäckchen, u. a. mit Gelauflagen sind
davon abhalten, nach verborgenen Verletzungen bei der Primärversorgung nicht erforderlich.
(z. B. Pneumothorax) zu fahnden und diese entspre- Gerade bei großflächigen Verbrennungen ber-
chend zu therapieren. In der Regel hat, gerade im gen sie das Risiko der andauernden Unterküh-
taktischen Bereich, die Versorgung der mechani- lung.
schen Verletzungen (Blutung) Vorrang vor den Ver-
Tipp
brennungsverletzungen. Nach initialem Überleben
der mechanischen Traumakomponente gewinnt in
Im Rucksack können allein aus Platzgründen
der weiteren Behandlung die Verbrennungskrank-
kaum ausreichend Brandwundenverband-
heit nach einigen Stunden immer mehr an Be-
päckchen mitgeführt werden, um einen oder
deutung.
sogar mehrere Patienten mit großflächigen
Verbrennungen zu versorgen. Als zweckmäßi-
jTherapie bei Verbrennungen
ge Lösung bietet sich in taktischen Lagen das
4 Crash-Rettung und Löschen unter Beachtung
Einhüllen des Patienten in eine handelsübliche
des Eigenschutzes (Hitze, Brandgase, Explo-
Rettungsdecke an. Sie ist als Wundabdeckung
sionsgefahr)!
ausreichend keimarm, verklebt nicht, fördert
4 An HWS-Immobilisierung und achsgerechte
den Wärmeerhalt und lässt sich durch ihr
Lagerung bei entsprechendem Traumamecha-
kleines Packmaß und Gewicht gut mitführen.
nismus denken, wenn es die taktische Lage er-
laubt.
4 Kühlung (z. B. Leitungswasser) der verbrann- 4 Zwei großvolumige periphere Zugänge. Wenn
ten Haut (Richtwert 20 °C für maximal 30 s), nicht anders möglich, sind Zugänge auch
aber nur wenn innerhalb von 2 min nach Ver- durch verbrannte Hautareale zulässig (inkl. in-
brennung durchführbar. traossären und zentralvenösen Zugängen).
> Aufgrund einer gestörten Thermoregulation
4 Zur Volumentherapie reichen bei reinen Ver-
und der gestörten Isolationsfunktion der
brennungen in der Initialphase (24 h) in den
Haut sind Verbrennungspatienten erheblich
meisten Fällen Kristalloide (NaCl 0,9 %, Ringer-
durch Unterkühlung mit entsprechendem
lösung) aus. Kolloide (z. B. Haes) können ggf.
Anstieg von Morbidität und Letalität gefähr-
aufgrund des »capillary leak« intravasal nicht
det. Die großflächige, zu späte und zu lang
gehalten werden, strömen in den Extravasal-
anhaltende Kühlung ist daher kontraindi-
raum und können so das Verbrennungsödem
ziert! Die Abdeckung größerer Flächen ver-
bzw. den Lungenschaden (ARDS/ALI) verstär-
brannter KOF (>10–20 %) mit kühlenden
ken. Gesicherte Daten bei thermomechanischen
Wundauflagen (z. B. WaterJel) sollte ebenfalls
Verletzungen bzgl. hypertonen und hyperonko-
zurückhaltend erfolgen.
tischen Infusionslösungen (HyperHAES) liegen
nicht vor. Bei thermomechanischen Verlet-
4 Entkleidung. Muss so konsequent wie (unter zungen erscheint die Gabe von HyperHaes
Einsatzbedingungen) möglich durchgeführt sinnvoll. Im taktischen Bereich sollen Verwun-
werden, da die Gefahr des »afterburning« be- dete Flüssigkeit (Wasser, isotone Flüssigkeiten)
steht. Als Kompromiss an der Haut haftende auch oral in kleinen Schlucken zu sich nehmen,
Kleidung ggf. belassen, evtl. nicht haftende sofern sie wach und orientiert sind.
292 Kapitel 15 · Verbrennungen
4 Die Berechnung des Volumenbedarfes erfolgt hydrophil. Klinische Apparenz auch erst
z. B. nach dem Parkland-Baxter-Schema: nach 36 h möglich! Bei klinischer Sympto-
4 ml/% verbrannte KOF/kg KG in 24 h, davon die matik (Husten, Würgen, Dyspnoe, tro-
Hälfte in den ersten 8 h. Die errechnete Menge ckene/feuchte RGs) symptomatische Thera-
sollte möglichst gleichmäßig auf den entspre- pie mit β2-Sympathomimetika (inhalativ
chenden Zeitraum verteilt werden. Es wird nur und systemisch) und Bronchodilatatoren
II° bis IV°ig verbrannte Haut berechnet. (z. B. Theophyllin). Met-Hb- und CO-Hb-
> Faustregel: 1 l/h kristalloide Infusionslösungen
Bildung möglich. Nur als ultima ratio inha-
bei 50 % KOF und 80 kg.
lative und systemische Kortikoide erwägen.
5 Inhalation von Erstickungsgasen (CO, CO2,
Als Zielgrößen der Volumentherapie beim Verbren- Cyanide, Phosgen): Bei Bränden in ge-
nungstrauma gelten ein RRsyst >100 mmHg, eine schlossenen Räumen mit entsprechender
Herzfrequenz <100/min und eine Urinproduktion Rauchentwicklung und bei Verbrennen von
von 1 ml/h/kg KG. Kunststoffen. Abnahme der O2-Transport-
Bei Begleitverletzungen wie Explosionsver- kapazität bzw. Blockierung der inneren (in-
letzungen oder einem IHT besteht ein zum Teil tramitochondrialen) Atmung mit konseku-
deutlich höherer Volumenbedarf. tiver Asphyxie. Die übliche Pulsoxymetrie
> Lässt sich der Kreislauf mit der Gabe von
kann nicht zwischen O2-Hb und CO-Hb
kristalloiden Infusionslösungen nicht stabili-
unterscheiden und zeigt falsch hohe Werte
sieren, können auch kolloidale zur Anwen-
an. Bei klinischem Verdacht auf schwere
dung kommen. Bei hohem Volumenbedarf
CO- und CO2-Intoxikation frühestmögliche
eines Verbrennungspatienten ist eine Be-
Intubation und Beatmung mit FiO2 von 1,0
gleitverletzung wahrscheinlich!
und moderatem PEEP (HBO-Therapie
(Druckkammer) meist nicht in adäquater
4 Katecholamine (v. a. Noradrenalin) können in Zeit verfügbar). Bei Cyanidintoxikation
der Frühphase (bis 36 h) zu einer Verminde- Gabe von Hydroxocobalamin (Cyanokit).
rung der Hautdurchblutung führen und die 4 »Tactical Evacuation Care«: Als Schutz vor
Verbrennungstiefe verschlimmern. Wenn weiterer Auskühlung, auch im Sommer, z. B.:
möglich sollten daher bei Verbrennungen in- 5 Einwickeln in Metalline-Folie
itial keine Katecholamine gegeben werden. 5 Heizen des Transportmittels
4 Oxygenierung mit frühzeitiger Intubation/ 4 Zielklinik: Thermische Verletzungen >20 %
Beatmung, v. a. bei Inhalationstrauma/»blast KOF ab II°a, Verbrennungen an Gesicht, Hand,
lung«. Fuß, Genitale, Inhalationstraumen, Verät-
4 Bei zugeschwollenem Pharynx und Larynx zungen und Stromverletzungen sollten, wenn
15 Koniotomie durchführen. möglich, frühzeitig in ein Verbrennungszen-
4 Adäquate Analgosedierung (z. B. Opiate, trum verbracht werden.
Ketanest, Benzodiazepin). 4 »Prolonged Care«: Wenn innerhalb der ersten
4 Inhalationstrauma: 24 h keine Evakuierung und chirurgische
5 Inhalationstrauma (thermisch): Verdacht Wundbehandlung möglich ist, sollten die
z. B. bei versengter Gesichts-/Nasenbehaa- Wunden vorsichtig mit sterilem Wasser und
rung, Rußauflagerung der Glottis, rußge- antimikrobiellen Substanzen (z. B. Octenisept,
schwärztem Sputum, kloßige Stimme. Früh- Lavasept) gereinigt und mit Salben (z. B. Flam-
zeitige Intubation und PEEP-Beatmung mazine, Jodsalbe, Lavasept-Gel) verbunden
(PEEP = »positive endexspiratory pressu- werden. Große und bereits eröffnete Blasen
re«). Symptomatische Therapie. Keine inha- können abgetragen werden. Ein Tetanusschutz
lative oder systemische Kortikoidgabe. kann bei Einsatzkräften vorausgesetzt werden.
5 Inhalationstrauma (toxisch): Durch Reiz- Im Zweifel muss eine entsprechende Simultan-
gase verursacht, sowohl lipophil als auch impfung erfolgen. Gegebenenfalls sollte eine
15.5 · Besonderheiten beim Kind
293 15
Sonderform Phosphorverbrennung
Im militärischen und taktischen Bereich wird Phosphor z. B. in
Phosphorbomben und Nebelmunition verwendet. Weißer
Phosphor (farblos bis gelblich, wachsartig, stechender Ge-
ruch) ist in feinverteiltem Zustand bereits bei Raumtempera-
tur selbstentzündlich und bei Dosen über 50 mg für einen
. Abb. 15.4 Escharotomie bei tief dermalen Verbren-
Erwachsenen tödlich.
nungen
Nach dem Löschen mit Decken, Sand oder Wasser müssen
sämtliche sichtbaren Phosphorstücke, auch aus Wunden,
komplett entfernt werden. Damit verbliebene Phosphorreste
Escharotomie (Inzision der verbrannten Cutis) nicht weiterbrennen oder erneut beginnen zu brennen, muss
an Extremitäten, Thorax und Hals bei entspre- die Wunde luftdicht (Sauerstoff ) und feucht abgedeckt
chender Durchblutungsstörung bzw. redu- werden (z. B. nasses Tuch). Bewährt haben sich dafür als ein-
zierter Lungen-Compliance mit entsprechend fach zu handhabende und sehr wirkungsvolle Hilfsmittel die
WaterJel-Wundauflagen.
hohen Beatmungsdrücken bei zirkulären Ver-
Vor dem Verwundetentransport mit Fahrzeugen, insbeson-
brennungen durchgeführt werden (. Abb. 15.4 dere Hubschraubern, muss durch diese Maßnahmen sorg-
und . Abb. 15.5). Bei Schwerstverbrannten fältig eine spontane Entzündung ausgeschlossen werden!
kann dies am Thorax (beidseits seitlich, vorde- Auf den Eigenschutz (schwer löschbare Flammen, Dämpfe
re Axillarlinie, ggf. auch sternal) auch präkli- und Hautkontakt) ist zu achten!
nisch notwendig werden. Ein möglicher neuer
Therapieansatz ist die enzymatische Escharo-
tomie mit lokaler Applikation von Enzymen 15.5 Besonderheiten beim Kind
der Ananas einer israelischen Arbeitsgruppe
(NexoBrid der Fa. MediWound; europäische Verbrennungen bei Kindern werden im zivilen Set-
Zulassung im Dezember 2013 für Verletzungen ting häufig durch Verbrühung mit heißem Wasser
bis 15 %, im Rahmen von Studien Behandlung (Küche, Bad) oder durch offenes Feuer (Wohnungs-
bei >30 % KOF erfolgt). Die Anwendung einer brand, Grillen) verursacht. Bei Auslandseinsätzen
im Rahmen einer verlängerten, präklinischen wird man häufig mit Kindern, die schwere Verbren-
Versorgung unter Einsatzbedingungen er- nungen erlitten haben, konfrontiert.
scheint als einfach durchführbare, nahezu blu- Wegen der unterschiedlichen Verteilung der
tungsfreie (!) Frühnekrektomie möglich und Körperoberfläche bei Kindern wird die Neunerregel
sinnvoll, hier müssen entsprechende weiter- nach Wallace, je nach Alter des betroffenen Kindes,
führende Studien erfolgen. zugunsten des relativ größeren Kopfes modifiziert.
294 Kapitel 15 · Verbrennungen
Augennotfälle
H. Gümbel
Literatur – 300
16.1 Einleitung lege (Notarzt oder Chirurg), der nun gefordert ist,
seine Kenntnisse aus dem Lehrgang oder Studium
Augennotfälle sind häufig okuläre Traumen als Fol- in die Praxis umzusetzen. Dieser kleine Ratgeber
ge von Kopfverletzungen, die speziell den Gesichts- soll Erstmaßnahmen vermitteln, die den Verletzten
schädel betreffen und direkt oder indirekt (z. B. stabilisieren und die Schmerzen während des Trans-
»Contre-coup-Effekt«) das Organ Auge, die Augen- ports möglichst minimieren.
höhle (Orbita) und seine Anhangsgebilde, die Lider
und Tränenwege betreffen. In diesem Zusammen-
hang ist es wichtig, dass bei augennahen Verletzun- 16.2 Analgesie und Erstversorgung
gen jedes Auge von einem Augenfacharzt gesehen
wird, um durch Untersuchung, Funktionsprüfung Die sensible Versorgung des Auges mit peripheren
und die Anordnung von bildgebenden Verfahren Nervenfasern aus dem Versorgungsgebiet des
(CT, Ultraschall) eine Verletzung auszuschließen N. ophthalmicus ist sehr gut und bedingt bei Ver-
oder fachgerecht zu versorgen. letzungen oder Verätzungen der Hornhaut, aber
Neben den physikalischen Traumen durch di- auch der Bindehaut eine extreme Schmerzempfind-
rekte Kontusion oder Fremdkörper, aber auch elek- lichkeit auch bei kleinen Hornhautverletzungen.
tromagnetische Strahlung (z. B. Laser), sind die Der Schmerzreiz führt ohne Schmerztherapie durch
chemischen Verletzungen (z. B. Säuren/Basen, CS- lokale Lokalanästhetika zu einem Spasmus der
Gas) ebenfalls als Organschädigung zu beachten. Lider, d. h. eine Inspektion des Augapfels und der
Ebenso können augenferne Traumen, speziell Lider ist nicht möglich.
Polytraumata zu Gefäßschäden der Netz- und Die häufig mangelnde Ausstattung mit Lokalan-
Aderhaut führen, die jedoch nur durch einen Fach- ästhetika für Augen (z. B. Konjucain, Tetracain) in
arzt diagnostiziert werden können. Hier sollte spe- Rettungswagen und Rettungskits kann durch die
ziell bei ausgedehnten Thoraxtraumen im Ret- Verwendung von intravenösen Xylocain- oder Scan-
tungszentrum auf eine mögliche Augenschädigung dicain-Lösungen umgangen werden. Einige Tropfen
hingewiesen werden (Purtscher-Syndrom). In fast aus der Ampulle bewirken nach kurzem Brennen
allen Fällen eines okulären Traumas ist es nicht der eine etwa 10–20 min andauernde Oberflächen-
Augenarzt, der die Verletzung zuerst inspiziert, son- anästhesie. In dieser Zeit besteht die Möglichkeit,
dern ein Rettungsassistent oder fachfremder Kol- das Auge zu untersuchen. Ein Nachtropfen von
16
Nach seitlicher Beleuchtung des Augapfels Fremdkörper auf der Hornhaut Ja/nein
Augeninnendruck (vergleichende Palpation = Tasten eigener Augapfel mit Palpation im Ver- Erhöht/zu niedrig
gleich zu Patientenbulbus)
– Hoher Druck = hart wie eine Glasmurmel, Verdacht auf hoher Augeninnendruck >30 mmHg
– Niedriger Druck = weicher Luftballon, Verdacht auf Penetration des Augapfels
* Tropfen von Lokalanästhetikum (Xylocain oder Scandicain) auf die Wunde oder Hornhaut erlaubt die Anhebung der
Lider ohne schmerzhaftes Kneifen oder Spülen mit PVP-Jodlösung
. Tab. 16.1 gibt einen Überblick über die wichtigs- 16.4 Arterielles Retrobulbärhämatom
ten Punkte der Augenuntersuchung. (arterielle Blutung in die Augen-
höhle)
16.3 Augenprellung (Contusio bulbi) 4 Akuter Sehverlust nach Verletzung der Aug-
apfelhöhle durch arterielle Blutung
Die direkte (Schlag, Stoß) oder indirekte Einwir- 5 Lider sind nicht selbstständig zu öffnen,
kung (Druckwelle) auf den Augapfel und Orbita Bindehaut geschwollen
wird als Contusio bulbi bezeichnet. Mit einer 4 Augapfel fühlt sich so hart wie eine Glas-
Checkliste, einer Taschenlampe und einem Lokal- murmel an
anästhetikum zur subkutanen Infiltration, z. B. 5 Hautregion antiseptisch (mit PvP-Jod) ab-
16 Xylocain 1 % oder 2 %, das zur lokalen Betäubung in wischen
die Augen getropft werden darf, kann in kurzer Zeit 5 Anästhesie mit Gelanästhesie (Xylocain-
die Schwere der Verletzung ermittelt werden. Gel) auf die Lider
4 »Veilchen« = Monokelhämatom ohne Augen- 5 Stichinzision (2 cm tief) mit Skalpell oder
innendruckerhöhung ist meist harmlos. scharfen Taschenmesser durchführen
4 »Rotes Auge« = unterblutete Bindehaut (. Abb. 16.4)
(Hyposphagma) ohne Seheinschränkung ist 5 anschließend Überprüfung des Augen-
auch harmlos. innendruckes (. Tab. 16.1) wiederholen
4 »Rotes Auge« mit Einblutung in die Augenvor-
derkammer (Pupille nicht mehr oder nur zum
Teil zu sehen) ist dem Facharzt vorzustellen.
16.7 · Laserlichtexposition
299 16
Die geächteten chemischen Kampfstoffe sind 4 Abdeckung von schweren, offenen Augenver-
leider immer noch in den Arsenalen verschiedener letzungen erst nach Tropfanästhesie, Spülung
Armeen vorhanden und können bei ungeschütztem mit PvP-Jodlösung und lokalen Antibiotika-
Kontakt zu schweren Augenveränderungen und tropfen (z. B. Ophthaquix) sowie systemischer
Blindheit führen. Speziell der Kampfstoff Dichlor- Abdeckung mit Antibiotika (z. B. Tavanic
ethylsulfid (C4H8Cl2S), auch Senfgas genannt, zeigt 1-mal 500 mg oral). Einäugiger Verband aus-
erst 5 h nach Exposition typische Symptome wie reichend, große Splitter stecken lassen. Kein
tränenende Augen, Fremdkörpergefühl, Bindehaut- Druckverband, sondern stabiler »hardcover
schwellung und Hornhauttrübung. patch« (. Abb. 16.2).
Bei Exposition von Senfgas sind folgende Erst- 4 Chemische Verletzungen (Verätzungen) sofort
maßnahmen zu treffen: permanent durch Spüllösung (Previn) und ge-
4 Spülung mit Flüssigkeit und möglichst neu- tropftes Lokalanästhetikum bis zum Eintreffen
tralem pH-Wert (Wasser, Bier, NaCl-Lösung) beim Facharzt behandeln.
oder wenn vorhanden Diphoterin-Lösung 4 Unfallanamnese und Verdachtsdiagnose
(Privin) dem weiterbehandelnden Augenfacharzt mit
4 Hohe Gabe von Antioxidanzien wie z. B. Vita- Meldezettel mitteilen [1].
min C (Citix 500 mg per os)
4 Sterile Abdeckung und Antibiotikagabe per os
als sekundärer Infektionsschutz, z. B. Tavanic Literatur
500 mg
1. Lang GK (Hrsg.) (2008) Augenheilkunde. Thieme,
Stuttgart New York, S. 500
Ein Kampfgas der neueren Generation, der Nerven-
2. Wilhelm H (2003) Traumatologie des Sehnerven. In:
kampfstoff Sarin ist, ebenso wie Tabun , ein hoch- Rohrbach JM, Steuhl KP, Knorr M, Kirchhof B (Hrsg.)
16 giftiger Phosphorsäureester, der die Cholinesterase Ophthalmologische Traumatologie, Textbuch und Atlas.
im Körper blockiert und neben einem Lungenödem Schattauer, Stuttgart New York, S. 149
und Lähmung der Atemmuskulatur zu starken 3. Gümbel H, Schnaudigel OE (1991) Kampfgasverletzungen
Augenschwellungen, Tränen und Miosis führt. Hier am Auge. Der Augenspiegel, S. 15–21
Akustisches Trauma
F. Hohenstein
Literatur – 307
Dieser Abschnitt richtet sich insbesondere an die Bei der Bundeswehr sind zwei verschiedene Gehör-
Träger der präklinischen Versorgung, wenn keine schutzstöpsel in Verwendung, die für jeweils eine
Hörtestanlage verfügbar ist. Es werden jedoch auch Lärmart zugelassen und empfohlen sind. Hier sei
die weiteren therapeutischen Möglichkeiten für ausdrücklich noch einmal die Verwendung von Ge-
Einrichtungen dargestellt, die nicht ohne Weiteres hörschutz bei Dauerlärm auch im Einsatz empfoh-
in der Lage sind, einen HNO-Arzt persönlich zu len. Die Israelische Armee (IDF) verwendet densel-
Rate zu ziehen, aber mit einer Hörtestanlage ausge- ben Gehörschutz wie die Bundeswehr (die gelben
stattet sind (ROLE 1+ und ROLE 2+). EAR Classic II für Dauerlärm, die grauen Impuls-
schall-Gehörschutzstöpsel (ISGS) für Impulslärm).
Gehörschutzstöpsel oder Kopfhörer können le-
17.1 Einführung diglich die Luftleitung dämpfen, die Knochenleitung
dagegen nicht. Die Knochenleitungsschwelle liegt
»Akustisches Trauma« ist ein Überbegriff. Bei aber 50 dB über der Luftleitungsschwelle. In Hör-
einem akustischen Trauma wird das Sinnesorgan testanlangen ist dieser Aspekt »eingerechnet«, so-
Ohr durch die auftreffende Schallenergie verletzt dass im normalen Hörtest die Knochenleitungskur-
(unsichtbare Verletzung, »invisible injury«). Bei ve und Luftleitungskurve übereinander zu liegen
einer akustischen Beschädigung der Kochlea (der kommen. Das bedeutet für Gehörschutz, dass maxi-
Hörschnecke) sind die ultrastrukturellen Verlet- mal etwa 50 dB abgedämpft werden können. Die
zungen wahrscheinlich bei allen Formen des akus- EAR Classic II dämpfen im Durchschnitt 26 dB ab.
tischen Traumas dieselben, jedoch in unterschiedli- Diese Schutzmaßnahme ist aufgrund der logarith-
cher Ausprägung: metabolische Entgleisung, Ischä- mischen Dezibelskala für Dauerlärm ausreichend.
mie, Abfall des Sauerstoffpartialdruckes, Verände- Akustische Traumata können mit folgenden
rungen der Mikrozirkulation, toxische Metabolite Beschwerden einhergehen:
und freie Radikale, Verletzung oder Degeneration 4 Subjektiver Hörverlust
der Haarzellen, der Stützzellen und der Nervenen- 4 Objektiver Hörverlust, auch asymmetrisch
digungen bis hin zur Zerreißung der Rundfenster- 4 Schmerzen
membran und der Basilarmembran. Kleine trauma- 4 Subjektiv zugefallenes oder verstopftes Ohr
tische Veränderungen wie die metabolische Entglei- (mit normalem Spiegelbefund)
sung können repariert werden, das Gehör erholt 4 Ohrgeräusch (Rauschen, Pfeifen, Klingeln etc.)
sich. Schwerere Verletzungen bringen einen irrever- 4 Blutung aus dem Gehörgang
siblen, mitunter nach Jahren noch zunehmenden 4 Sekretion einer klaren Flüssigkeit aus dem
Hörverlust mit sich. Gehörgang. In diesem Fall ist an eine Liquor-
Der wirksamste Schutz vor dem Verlust des rhö oder an eine Perilymphfistel zu denken
Sinnesorgans »Ohr« ist die Lärmkarenz; wenn das (entweder wegen des Explosionstraumas des
nicht möglich ist, sollte ein mechanischer Gehör- Ohres oder einer Felsenbeinfraktur).
schutz getragen werden (Stöpsel oder Kopfhörer).
Die Mitarbeit zum Selbstschutz der von Lärm
betroffenen Personen ist weltweit verbesserungs- 17.2 Krankheitsformen
bedürftig. Bei der Auswahl des Gehörschutzes sind
17 die Spezifikationen der Hersteller zu beachten. Des »Akustisches Trauma« ist ein Überbegriff und bein-
Weiteren ist zu beachten, dass ein Unterschied haltet:
zwischen Dauerlärm (Maschinenlärm, Heimwer- 4 Knalltrauma
kertätigkeiten, Baulärm auch bei Pionierarbeiten, 4 Akutes Lärmtrauma
Motorsport, Musik, anderer Freizeitlärm etc.) und 4 Explosionstrauma
Impulslärm (Schießen, Explosionen etc.) besteht. 4 Chronisches Lärmtrauma
! Ab 85 dB Dauerlärm (etwa mittlerer Straßen- 4 Akustischer Unfall
lärm) ist Gehörschutz zu tragen. 4 Stumpfes Schädeltrauma
17.2 · Krankheitsformen
303 17
17.2.1 Knalltrauma Daher ist zunächst bei jedem Verdacht auf eine
akute lärmbedingte Hörstörung ein Innenohrsche-
Verursacht durch Schallimpulse bis 2 ms Dauer mit ma zu verabreichen. Wenn nach dem verabreichten
einer Schalldruckspitze über ca. 150 dB. Ob dieser Innenohrschema eine Normalisierung des Hör-
Schalldruck erreicht wird ist abhängig von vermögens eintritt, ist auch nachträglich eine even-
4 den einzelnen Umständen, tuelle »Sinnlosigkeit« des Innenohrschemas nicht
4 der Quelle und nachzuweisen (Placeboeffekt).
4 der Entfernung. Hier liegt der Grenzfall zwischen Knalltrauma
und akutem Lärmtrauma! Bei einem intakten
Klinik Schmerzen, Vertäubungsgefühl, Ohrge- Trommelfell muss ein Soldat nicht zwingend sofort
räusch. einer Einrichtung mit Hörtestanlage zugeführt
werden. Es kann eine Kortisontherapie begonnen
Befund Ohrspiegelung unauffällig. werden (Innenohrschema) und 5 Tage unter Thera-
pie abgewartet werden. Wenn der Patient dann
Reintonaudiogramm Senke bei 4 kHz (c5-Senke) noch über eine Hörstörung klagt, sollte ein Audio-
typisch, es kann jedoch auch zu Hochtonabfall oder gramm angefertigt werden. Unnötige Repatriierun-
anderen Messungen kommen. gen oder nächtliche Verlegungsflüge in eine ROLE
2+ sind zu vermeiden.
Prognose Die kurzfristige Prognose ist zunächst un-
gewiss (s. unten). Eine Besserung lässt sich schwer
vorhergesagen, weil das Ausmaß der Schädigung und 17.2.3 Explosionstrauma
die genaue Knallstärke und -dauer nicht bekannt ist.
Bei Lärmkarenz nimmt die Hörstörung auch über die Ein Explosionstrauma kann bei der Einwirkung von
Jahre jedenfalls nicht zu. Schallimpulsen länger als 2 ms mit Schalldruck-
spitze über ca. 150 dB entstehen. Dabei werden das
Behandlung Innenohrschema (. Tab. 17.1). Mittel- und das Innenohr mechanisch beschädigt.
Verletzungen des runden und des ovalen Fensters
sind möglich, des Weiteren die Zerreißung der Ba-
17.2.2 Akutes Lärmtrauma silarmembran des Innenohres. Zusätzlich werden
Anteile des Mittelohres verletzt (Trommelfell, Ge-
Lärmbelastung, die länger anhält als Knall oder Ex- hörknöchelchenkette etc.). Diese Zerstörung der
plosion und nicht ganz so laut ist wie diese, z. B. Mittelohrstrukturen hat andererseits einen schüt-
mehrere Schüsse in einiger Entfernung, Lärmarbeit, zenden Effekt auf das Innenohr, da die Weiter-
Disco, Rockkonzert. leitung der kompletten Schallenergie an die Kochlea
verhindert wird.
Klinik Ohrspiegelung unauffällig. Die alte Regel, eine explosionsbedingte Trom-
melfellperforation träte meist zusammen mit ande-
Reintonaudiogramm Senke bei 4 kHz (c5-Senke) ren Verletzungen auf (Polytrauma, »blast injury«
typisch, es kann jedoch auch zu Hochtonabfall oder der Lunge oder des Abdomens), ist nach den Erfah-
anderen Messungen kommen. rungen und Untersuchungen aus Israel und dem
Irak nicht aufrecht zu erhalten. Vielmehr ist die
Prognose Spontanremission nach 10–12 h (bis zu Trommelfellperforation nach einem Explosions-
5 Tagen). ereignis ausdrücklich kein Marker für ein okkultes
primäres Explosionstrauma von Lunge oder Abdo-
> In den ersten 10 h bis 5 Tagen ist ein akutes men. Intakte Trommelfelle können ein primäres
Lärmtrauma nur audiologisch, d. h. durch die Explosionstrauma weder ausschließen noch be-
Spontanremission im Hörtest, von einem stätigen. Aufgrund der neueren Datenlage wird für
Knalltrauma zu unterscheiden! Patienten mit einem explosionsbedingten Trom-
304 Kapitel 17 · Akustisches Trauma
NMDA-Rezeptor-Antagonisten (Caroverin, Me- Die Therapie kann sofort eingeleitet werden, unter
mantin, und andere) haben im Tierversuch einen Einsatzbedingungen auch nur aufgrund der klinisch-
protektiven Effekt gezeigt, jedoch keinen therapeu- anamnestischen Beschwerden (subjektive Hör-
tischen. Ebenso N-L-Acetylcystein. minderung). Es sollte dann aber recht bald (inner-
Analog zum Hörsturz kann eine intratympana- halb von 5 Tagen) ein Hörtest angefertigt werden,
le Kortisontherapie vom HNO-Arzt erwogen wer- um ein echtes Knalltrauma von einem akuten Lärm-
den (1 Amp 4 mg Dexamethason durchs Trommel- trauma zu unterscheiden. Wegen der zwei verschie-
fell ins Mittelohr gespritzt und den Patienten 20 min denen Wirkmechanismen des Kortisons ist eine
auf der gesunden Seite ruhen lassen). Hier liegen höhere Dosis an den ersten beiden Tagen gerecht-
aber keine Daten für das akustische Trauma vor. fertigt. Eine Vorstellung beim HNO-Arzt ist in An-
Ein protektiver Effekt des Magnesiums auf das betracht des Transportaufwandes im Einsatzland
lärmbelastete Gehör wurde zunächst in zahlreichen nur in begründeten Fällen gerechtfertigt. Der Soldat
Tierversuchen gezeigt. In der Folge konnte in einer mit Knalltrauma darf eine Tätigkeit ohne Lärmbe-
Untersuchung an 200 israelischen Rekruten in einer lastung ausüben, dabei soll sich das Gehör erholen.
zweimonatigen Grundausbildung mit Magnesium Das bedeutet, dass ein Aufenthalt im Lager empfeh-
die Wahrscheinlichkeit gesenkt werden, ein akusti- lenswert ist, eine stationäre Aufnahme aber nicht
sches Trauma zu erleiden. Die Probanden erhielten nötig. Bei einem akuten Lärmtrauma wäre der Hör-
während der 2 Monate täglich 6,7 mol Magnesium test nach 3–5 Tagen wieder normal, in diesen Fällen
zusätzlich. Der Magnesiumspiegel war in den ist die Kortisontherapie abrupt zu beenden. Auch
mononukleären Zellen signifikant erhöht, nicht im bei einer späteren Remission ist das Schema zu be-
Serum. Die Placebogruppe hatte häufiger und enden und der Soldat wieder einsatzfähig. Eine klei-
schwerere Hörverschlechterungen als die Magne- ne bleibende isolierte Hochtonsenke ist am ehesten
siumgruppe. Die Nebenwirkungsrate war nicht sig- ein altes Trauma.
nifikant erhöht. In einer weiteren Studie konnte der Nach Ablauf des Schemas kann die ZDv 46/1
Schutzeffekt von Magnesium und die beschleunigte zugrunde gelegt werden (GNr.: 28 Anlage 3/29), ggf.
Rückbildung von Hörstörungen im Reintonaudio- unter Hinzuziehung (auch telefonisch) des HNO-
gramm gezeigt werden. In beiden Studien wurde Arztes im Einsatz (Mazar-i-Sharif).
ausschließlich Magnesium als Verum verwendet.
Ein Serummagnesiumspiegel, gemessen Jahre nach
Häufige Neben-/Wechselwirkungen
dem akustischen Trauma, korreliert wohl nicht mit
5 Bei bekanntem Bluthochdruck diesen
einer lärmbedingten Hörverschlechterung. Die Er-
häufiger kontrollieren
gebnisse von Studien an 24 Piloten der Israelischen
5 Bei Diabetes mellitus häufige Blutzucker-
Air Force und 68 Soldaten der US-Army sind unein-
kontrollen!
heitlich.
5 Neben- und Wechselwirkungen von
Der Autor empfiehlt bei jeder akuten subjekti-
Prednisolon: gesteigerte Erregbarkeit,
ven (wenn ein Hörtest nicht angefertigt werden
Schlafstörungen, Hautveränderungen
kann) oder audiometrisch nachgewiesenen Hörstö-
5 Vorsicht bei gleichzeitiger Einnahme von
rung die Durchführung des in . Tab. 17.1 dargestell-
Digitalispräparaten oder Marcumar
ten Schemas (angelehnt an das »Koblenzer Innen-
17 ohrschema«, das im Bundeswehrzentralkranken-
5 Wechselwirkungen von Pantozol: Vorsicht
bei gleichzeitiger Einnahme von Diazepam,
haus (BwZK) Koblenz verwendet wird).
Schlafmitteln, Digitalispräparaten
> Modifiziertes Koblenzer Innenohrschema:
absteigende Gabe von Prednisolon unter Ma-
genschutz (z. B. Protonenpumpeninhibitor),
zusammen mit Zink, Vitamin E und Magnesi-
um. Es wird die ausschließliche orale Gabe
empfohlen.
Literatur
307 17
. Tab. 17.1 Innenohrschema. (Angelehnt an das Koblenzer Innenohrschema). Das Schema wird auch zivil ein-
gesetzt!
17.4 Empfehlungen bei sollte vor weiterem Lärm geschützt werden, ein
asymmetrischer Hörstörung Innenohrschema erhalten und das Gehör nach
6 Monaten erneut geprüft werden.
4 Bei einer Luftleitungsschwerhörigkeit von über
25 dB bei 0,5 oder 1 kHz in einem Ohr oder
einer Seitendifferenz der Luftleitungsschwer- Literatur
hörigkeit von mehr als 10 dB bei 0,5 oder 1
kHz sollte eine HNO-Untersuchung in einer 1. Agarwal L, Pothier DD (2009) Vasodilators and vasoactive
substances for idiopathic sudden sensorineural hearing
ROLE 2+ zum Ausschluss eines retrokochleä-
loss. Cochrane Database of Systematic Reviews 2009,
ren Prozesses erfolgen. Issue 4. Art. No.: CD003422. DOI: 10.1002/14651858.
4 Bei einer plausiblen Anamnese, z. B. Waffen- CD003422.pub4
lärm, ist auch bei einer Seitendifferenz von 2. Attias J et al. (1994) Oral Magnesium intake reduces
mehr als 10 dB in den Prüffrequenzen eine ab- permanent hearing loss induced by noise exposure. Am J
wartende Haltung gerechtfertigt. Der Soldat Otolaryngol 15-1: 26–32
308 Kapitel 17 · Akustisches Trauma
Schädel-Hirn-Trauma (SHT)
M. Di Micoli
Literatur – 314
Befolgt Aufforderung 6
18 Orientiert Gezielte Abwehr auf Schmerz 5
18.4 Klinik und Diagnostik > Ziel der präklinischen Therapie des mittel-
schweren und schweren SHT ist die Ver-
> Ein SHT ist insbesondere in der Akutphase meidung von Sekundärschäden durch
ein dynamisches Geschehen und bedarf ei- steigenden Hirndruck und sinkenden CPP.
ner engmaschigen Kontrolle, um eine Ver-
schlechterung des neurologischen Status zu
Hirndrucksteigerungen durch Husten, Würgen o. ä.
bemerken und adäquat zu therapieren.
sind zu vermeiden (ausreichende Analgosedie-
rung). Analgetika und Sedativa senken zwar nicht
Die präklinische Diagnostik beim SHT besteht nach direkt den Hirndruck, durch Vermeidung von
der immer zuerst durchzuführenden Basisdiagnos- Unruhezuständen und verbesserter (Be-)Atmung
tik (<C>ABCDE) aus der Erhebung der (Fremd-) werden Sekundärschäden jedoch durch eine ver-
Anamnese und des GCS (so früh wie möglich, mög- besserte Oxygenierung reduziert. Ketamin ist auf-
lichst vor Medikamentengabe) sowie einer grob grund seiner therapeutischen Breite, Applikations-
312 Kapitel 18 · Schädel-Hirn-Trauma (SHT)
GCS So früh wie möglich erheben, dann auch im weiteren Verlauf, unter Berücksichtigung ggf.
verabreichter Medikamente
Pupillomotorik Prompt, verzögert, reagibel, lichtstarr, seitengleich, Größe (Mydriasis in der Regel auf der
Seite mit steigendem Hirndruck). Fehlermöglichkeit z. B. bei Bulbustrauma, vorbestehender
Augenerkrankung, Katecholaminen, Ketamin
Grob neurologische Prüfung der sensomotorischen Funktion jeder Extremität unter Berücksichtigung möglicher
Untersuchung peripherer oder spinaler Läsionen und Frakturen
Einklemmungs- Progrediente Bewusstseinstrübung bis zur Bewusstlosigkeit, Mydriasis (zuerst ein-, dann
zeichen beidseitig), Streckkrämpfe, Bradykardie
möglichkeit (i.v., i.m.) und seiner vasopressorischen verlassen haben und sich im geschädigten Gebiet
Komponente gerade im taktischen Bereich und (z. B. Parenchymeinblutung) anreichern. Daher ist
beim mehrfach verletzten SHT-Patienten zu emp- die präklinische Therapie mit Mannitol/HyperHA-
fehlen. ES nur bei drohender Einklemmung indiziert.
Wenn die taktische Lage und Ressourcen es er- . Tab. 18.4 gibt einen Überblick über die präkli-
lauben, ist bei entsprechender Erfahrung eine Rela- nische Therapie des mittelschweren und schweren
xierung sinnvoll, um Hirndruckspitzen zu vermei- Schädel-Hirn-Traumas.
den. Zur Aufrechterhaltung einer ausreichenden
Hirndurchblutung soll der systolische Blutdruck
über 110 mmHg gehalten werden, ggf. auch mit 18.6 Taktische Besonderheiten
Katecholaminen (außer bei permissiver Hypotonie
beim (aus-)blutenden Patienten – in diesen Einzel- Schutz- und Gefechtshelme haben bei Splittern
fällen individuelle Risikoabschätzung notwendig). und Geschossen mit kleinem Kaliber und niedriger
Eine hirnprotektive Wirkung von hypertonen Geschwindigkeit eine gute Schutzwirkung, ab-
und hyperosmolaren (HyperHAES-) Lösungen hängig vom Aufprallwinkel (7 Kap. 12). Sie schützen
konnte noch nicht bewiesen werden, ist aber patho- in gewissem Maße vor sekundären Explosions-
physiologisch, analog zu Mannitol, zumindest kurz- verletzungen. Wie in 7 Kap. 13 erläutert, besteht
fristig denkbar. Aufgrund der medikamentös indu- insbesondere bei Explosionsverletzungen die Mög-
zierten intravasalen osmotischen Druckerhöhung lichkeit der Reflexion der Schockwelle an der In-
soll es zu einer »Ausschwemmung« von Flüssigkeit nenseite des Helmes mit dem Hirn im Zentrum. Die
18 im Hirn und der verletzten Areale perifokal kom- Schädelkalotte bietet hier einen gewissen Schutz,
men. Durch die Volumenreduktion im Gewebe über deren Ausmaß und Überlastungsgrenze je-
sinkt konsekutiv der Hirndruck. Nach Beendigung doch keine Daten existieren. Trotz nicht vorhande-
der Medikamentenwirkung ist jedoch, zumindest ner sichtbarer Verletzungszeichen ist ein relevantes
theoretisch, derselbe Mechanismus in die andere SHT denkbar.
Richtung möglich (Rebound-Phänomen), wenn os- Es gibt Hinweise auf einen Zusammenhang
motisch wirksame Bestandteile den Intravasalraum zwischen einem erlittenen leichten Schädel-Hirn-
18.6 · Taktische Besonderheiten
313 18
Lagerung 30° Oberkörper hoch in gerader, fixierter Kopfstellung (venöser Abfluss), wenn RR >90 mmHg, sonst
Flachlagerung. Hilfsmittel: Zervikalstütze, Spine-board, Schaufeltrage (Wirbelsäulenverletzung)
Atmung/ Atemwegssicherung, O2-Gabe. Intubation bei GCS <9. PEEP <10 mbar. Normoventilation an-
Beatmung streben, bei verfügbarer Kapnometrie pCO2 von 35 mmHg. Vorsicht bei nasaler Intubation und
Wendeltubus bei Mittelgesichts-und Schädelbasisverletzung (Via falsa)
Analgosedierung Ausreichend! Opiate, Benzodiazepine, Etomidat, Ketamin. Barbiturate bei isoliertem SHT möglich
– cave RR-Abfall! Bei ausreichender Analgosedierung ist eine Relaxierung meist nicht erforderlich
Drohende Kurzfristige Hyperventilation, Mannitol 0,5 g/kg (z. B. 200 ml Mannitol 20 %) alle 1–2 h
Einklemmung (cave Hypernatriämie und bei Hypotension, Rebound-Phänomen)
HyperHAES (Therapieversuch: keine gesicherte Datenlage, fragliche Vorteile bei gleichzeitigem
Volumenmangelschock)
Zerebraler Prognostisch sehr ungünstig. Gabe von Benzodiazepinen, in verzweifelten Fällen Barbiturat-
Krampfanfall narkose (cave RR-Abfall!)
Keine Gabe von Glukokortikoide außer beim spinalen Trauma mit neurologischem Defizit
(NASCIS-II-Schema: 30 mg/kg als Bolus, 5,4 mg/kg/h über 23 h)
Trauma und einer posttraumatischen Belastungs- nisstörungen, Müdigkeit u. ä. besitzen und nicht
störung (PTBS) bei Soldaten in Kampfeinsätzen. zwingend die Notwendigkeit sehen sich deswegen
Die Symptome eines leichten SHT, einer akuten beim medizinischen Personal vorzustellen. Auch
Stressreaktion und eines PTBS sind teilweise unspe- wenn im Einzelfall eine Unterbrechung des Diens-
zifisch, ähnlich und machen eine Differenzierung tes nicht möglich ist, ist die Identifikation dieser
schwierig. Symptome können sofort, aber auch erst Patienten wichtig, um sie taktisch entsprechend
deutlich verspätet auftreten. Gerade in aktiven ihrer eingeschränkten Verwendungsfähigkeit ein-
Kampfeinheiten ist die Identifizierung dieser Perso- setzen zu können.
nen wichtig, um eine Aussage bezüglich ihrer mo- Zur Identifizierung von Patienten mit einem
mentanen Einsatzfähigkeit treffen zu können. Man subklinischen leichten SHT wurde von den ameri-
kann davon ausgehen, dass Angehörige von Kampf- kanischen Streitkräften der MACE-Test entwickelt
einheiten und Spezialkräften eine hohe Duldungs- (Military Acute Concussion Evaluation), der kogni-
toleranz bzgl. mutmaßlich unwichtigen Befindlich- tive und mnestische Fähigkeiten prüft. Dieser Test
keitsstörungen wie Schwindel, Übelkeit, Kopf- sollte nach einem fraglichen leichten SHT oder
schmerz, leichte Benommenheit, leichte Gedächt- einem mutmaßlichen Blast verwendet werden um
314 Kapitel 18 · Schädel-Hirn-Trauma (SHT)
Literatur
18
315 19
Hängetrauma
R. Lechner, T. Lobensteiner
Literatur – 321
Freies bewegungsloses
Hängen
+ verminderte Muskelpumpe
Blutansammlung in den
(Erschöpfung, Hypothermie,
abhängenden Körperpartien
andere Verletzungen,
(orthostatischer Mechanismus)
Hypoglykämie)
Kompression der
Femoralgefäße durch
+ Beinschlaufen und erhöhter
Verminderter venöser intrathorakaler Druck durch
Rückstrom schlecht sitzenden oder
alleinigen Brustgurt
Bezold-Jarisch Reflex
Kardiale Minderperfusion
(vasovagaler Mechanismus)
+ Volumenmangel anderer
Reduziertes Herzzeitvolumen Genese (Dehydratation,
Blutung)
Hypotension
Minderdurchblutung und
Synkope / Bewusstlosigkeit Schädigung von Organen
(Muskulatur, Niere)
19 Elektrolytentgleisungen
Tod (Hyperkaliämie) und
(Multi)Organversagen
. Abb. 19.1 Die multifaktorielle Pathogenese des Hängetraumas. + Verstärkung. (Adaptiert nach [2])
19.4 · Behandlung
319 19
im Internet als auch in Lehrbüchern noch häufig 19.4 Behandlung
vorzufinden.
Aktuelle Veröffentlichungen widersprechen ! Da seilgesicherte Manöver überwiegend in
dieser Lehrmeinung [1–3, 7]. Dies liegt zum einen Geländeabschnitten mit erhöhter Absturz-
daran, dass die Hypothese, eine initiale Flachlage- gefahr durchgeführt werden, ist auf eine Ab-
rung erhöhe das Risiko für einen Bergungstod, in sturzsicherung der Rettungskräfte und
Studien und Fallbeschreibungen nicht belegt wer- Schutz vor herabfallenden Gegenständen zu
den konnte, und zum anderen daran, dass sich Per- achten.
sonen mit experimentell erzeugten Hängetraumata
bei Flachlagerung schnell und ohne Nebenwirkun- Erste Priorität ist es, den Patienten schnellstmöglich
gen erholten [1–3, 7]. Außerdem erhöht eine verzö- aus der hängenden Position zu befreien [2, 3].
gerte Flachlagerung das Risiko für Folgeschäden
Tipp
wie Elektrolytentgleisungen und Nierenversagen,
da sie die Volumenumverteilung als Ursache der
Um die Muskelpumpe bereits während des
Bewusstseinseinschränkung (verminderter zereb-
Hängens zu aktivieren, sollten ansprechbare
raler Blutfluss) und Kreislaufdysregulation (ver-
Patienten zur aktiven Bewegung der Beine
minderte Herzdurchblutung, vermindertes zirku-
animiert werden (»Fahrrad fahren«, Hoch-
lierendes Blutvolumen) unnötig aufrecht erhält [3].
drücken der Beinen an Fels-, Spalten- oder
Es existieren zahlreiche Fallberichte, in denen die
Hauswand). Dies kann, vor allem beim freien
oben aufgeführten Spätfolgen eines Hängetraumas
Hängen, durch Anbringen einer Trittschlinge
(Rhabdomyolyse, Nierenversagen, Multiorganver-
unterstützt werden (. Abb. 19.2 links) [1, 3].
sagen) beobachtet wurden und teilweise Stunden
bis Tage nach der Rettung zum Tode geführt haben
[3]. Für die sehr wenigen dokumentierten Fälle Eine Verbesserung des venösen Rückflusses aus den
eines Versterbens innerhalb von Minuten nach er- abhängenden Körperpartien kann durch Anheben
folgter Rettung werden mittlerweile andere Ursa- der hängenden Beine durch einen Retter oder das
chen wie Herzrhythmusstörungen durch Hypoxie Anbringen einer (Band)schlinge in den Kniekehlen
oder Hyperkaliämie und ein nicht mehr aufzuhal- erreicht werden (. Abb. 19.2 rechts) [2]. Ist der Ver-
tender, zufällig im zeitlichen Zusammenhang zur letzte nicht am Seilende fixiert, so kann er durch
Rettung stehender Sterbeprozess durch Schock oder zweifache Wicklung des herabhängenden Seiles um
Erschöpfung, für wahrscheinlicher erachtet [3]. Ins- den eigenen Fuß gegen den Widerstand des Seiles
gesamt sind die pathophysiologischen Prozesse des das Bein ausstrecken und seinen Körper hoch-
Hängetraumas und des Bergungstodes nach Hänge- drücken. Das nicht umwickelte Bein kann auf dem
trauma jedoch nicht zufriedenstellend geklärt [2, 8]. anderen Fuß abgestützt werden, so dass in beiden
Bei den wenigen dokumentierten Fällen und Beinen die Muskelpumpe aktiviert wird.
einer insgesamt dünnen experimentellen Studienla- Prinzipiell gilt die Versorgung nach dem
ge zur Pathophysiologie und Therapie überwiegt <C>ABCDE-Schema mit besonderer Bedeutung der
derzeit international die Empfehlung nach dem un- Wiederherstellung eines adäquaten Kreislaufs. Hier-
veränderten <C>ABCDE-Algorithmus (7 Kap. 8) zu zu ist der Patient flach zu lagern und die Standard-
therapieren [1–3, 7]. Dies wurde von der US-ameri- maßnahmen der präklinischen/taktischen Verwun-
kanischen Bergrettung und den Arbeitsschutzorga- detenversorgung anzuwenden (7 Kap. 8) [3]. Zusätz-
nisationen in den USA und Großbritannien in den lich sollte ein EKG-Monitoring erfolgen, um mögli-
letzten Jahren bereits vollzogen [2, 9, 10]. Es gibt che Herzrhythmusstörungen zeitnah zu erkennen
keine klaren wissenschaftlichen Hinweise, dass eine und therapieren zu können (7 Kap. 37) [3].
Flachlagerung das Risiko für einen Bergungstod er- Generell sollten Patienten, die aus hängender
höht [1]. Position gerettet werden mussten, in eine medizini-
sche Versorgungseinrichtung eingeliefert werden,
bei passivem Hängen über zwei Stunden auf Grund
320 Kapitel 19 · Hängetrauma
. Abb. 19.2 Links: Aktivierung der Muskelpumpe durch wiederholtes Hochdrücken des Körpers in einer Trittschlinge. Dazu
kann eine 5 mm Reepschnur zu einem Ring geknotet und mittels Prusikknoten am Seil fixiert werden. In der so entstan-
denen Trittschlinge können die Beine gegen Widerstand gestreckt werden. Rechts: Verbesserung des venösen Rückflusses
durch Anheben der Beine. Dies kann manuell durch einen Retter geschehen oder beispielsweise durch U-förmige Fixierung
einer 120 cm Bandschlinge mittels Karabiner am Seil auf Höhe des Anseilknotens
des möglichen Nierenversagens in eine Versor- raum gezogen werden (+ beispielsweise 25 g Manni-
gungseinrichtung mit Dialysemöglichkeit [3]. Bei tol in 1 l 5 % Glukoselösung und 100 mval Natrium-
Verdacht auf einen hochgradigen Muskelschaden/ bikarbonat 8,4 % über 4 h unter laborchemischer
Rhabdomyolyse sollte eine Therapie zur Prävention pH und Elektrolytwertkontrolle). Medikamente
eines »Crush-Syndroms« mit Nierenversagen und sollten bei Niereninsuffizienz dosisangepasst nach
Hyperkaliämie durchgeführt werden (Diagnose: Packungsbeilage verabreicht werden.
Myoglobinurie in Verbindung mit Oligurie/Anu- Ob und wie der Gurt eines Patienten entfernt
rie). Deutlich erhöhte Myoglobinwerte können über wird, sollte von den Transporterfordernissen, der
nicht vollständig geklärte Mechanismen ein akutes Notwendigkeit zur Selbstsicherung des Patienten
Nierenversagen, die sog. »Crush-Niere«, auslösen. und dem Patientenkomfort abhängig gemacht wer-
Ein Hinweis hierfür ist durch Myoglobin bierbraun den.
verfärbter Urin. Myoglobin kann zudem laborche- Eine Hypothermieprophylaxe und -behand-
misch direkt im Urin quantifiziert werden oder lung hat durch das erhöhte Risiko des Auskühlens
durch einen für Erythrozyten positiven U-Stix, bei bei passivem Hängen einen hohen Stellenwert [3].
fehlendem Nachweis von Erythrozyten in der Licht-
mikroskopie, nachgewiesen werden. Therapeutisch
19 sind eine elektrolytarme Flüssigkeitszufuhr und 19.5 Prävention
eine Alkalisierung des Blutes und Urins anzustre-
ben, um das darin freigesetzte Myoglobin besser zu Jede Person, die potenziell ein Hängetrauma erlei-
lösen und auszuscheiden. Zusätzlich kann durch den kann, sollte sich des Risikos, der Therapie und
Mannitol Flüssigkeit osmotisch in den Intravasal- der Präventionsmöglichkeiten bewusst sein, damit
Literatur
321 19
diese selbstständig und ohne zeitliche Verzögerung Literatur
durchgeführt werden können. Ein seilgesichertes
Arbeiten im absturzgefährdeten Gelände sollte nie- 1. Pasquier M, Yersin B, Vallotton L, et al. (2011) Clinical
update: suspension trauma, Wilderness Environ Med
mals allein erfolgen [1]. 22:167–171
Zur Rettung eines Patienten mit Hängetrauma 2. Adisesh A, Robinson L, Codling A, et al. (2009) Evidence-
sind je nach Situation umfangreiche Berg- bzw. Based Review of the Current Guidance on First Aid Mea-
Höhenrettungskenntnisse notwendig, die an dieser sures for Suspension Trauma. Health and Safety Execu-
Stelle nicht in der gebotenen Ausführlichkeit darge- tive, Norwich, UK
3. Mortimer RB (2011) Risks and management of prolonged
stellt werden können. In der Regel ist aber eine Ver-
suspension in an Alpine harness. Wilderness Environ Med
bringung nach unten mit weniger Aufwand und Zeit 22:77–86
verbunden, als eine Verbringung nach oben. Die 4. Lee C, Porter KM (2007) Suspension trauma. Emerg Med J
Notwendigkeit der generellen Beherrschung von 24:237–238
Rettungstechniken und die Auseinandersetzung mit 5. Orzech M, Goodwin M, Brickley J, et al. (1987) Test
Program To Evaluate Human Response to Prolonged
Rettungsoptionen vor der Durchführung eines Seil-
Motionless Suspension in Three Types of Fall Protection
manövers, vor allem in speziellen taktischen Situa- Harnesses. In: Armstrong HG (ed) Aerospace Medical
tionen, kann nicht genug betont werden. Ein Mit- Research Laboratory. Wright-Patterson Air Force Base, OH
führen von Bandschlingen und/oder Reepschnüren 6. Hsiao H, Turner N, Whisler R, et al. (2012) Impact of
zur Verwendung als Tritt-/Unterstützungsschlinge harness fit on suspension tolerance, Hum Factors 54:-
ist abhängig vom Einsatzszenario zu erwägen. 346–357
7. Thomassen O, Skaiaa SC, Brattebo G, et al. (2009) Does
! Die Sicherung einer Person mit alleinigem the horizontal position increase risk of rescue death
Brustgurt, Anseilgürtel und direktem Ein- following suspension trauma? Emerg Med J 26:896–898
binden in das Seil ist obsolet [1]. 8. Paal P (2014) Hängetrauma – Suspension Syndrome. Flug
und Reisemedizin 21: 86–87
Es sollten nur passende und auf die Körperpropor- 9. OSHA (2011) Suspension Trauma/Orthostatic Intolerance.
Edited by US Department of Labor OSaHA 2004, updated
tionen eingestellte Sitzgurte verwendet werden, um
2011
eine mögliche Gefäßkompression durch den Gurt 10. Glatterer S (2011) Harness Suspension Trauma. MERID-
zu vermeiden. Hierzu ist das freie schmerzlose und IAN, The Quarterly Publication of the Mountain Rescue
bewegungslose Hängen im Gurt mit vollständiger Association 14
Ausrüstung für mindestens 10 Minuten zu erproben
[6]. Ein Gurtsystem ist annäherungsweise richtig
eingestellt, wenn man an jeder Stelle des Gurtes vier
Finger nebeneinander zwischen Gurtsystem und
Körper schieben kann und der Gurt dann straff auf
der Hand aufliegt. Wird eine Brust-Sitzgurt-Kom-
bination verwendet, so muss das Seil so eingebun-
den werden, dass das Körpergewicht beim freien
Hängen auf dem Sitzgurt lastet und der Brustgurt
lediglich ein Abkippen des Oberkörpers nach hin-
ten verhindert.
> Patienten, die mit einer Trage verbracht
werden müssen, sollten horizontal transpor-
tiert werden. Ist eine vertikale Aufhängung
der Trage zur Evakuierung unumgänglich, so
sollte der Patient die Möglichkeit haben, sich
mit den Füßen abzustützen, um die Muskel-
pumpe und damit den venösen Rückstrom zu
aktivieren.
323 20
Versorgung unter
Nachtsichtbedingungen
C. Neitzel, J. Gessner
Bei Dämmerung und Dunkelheit ist in Situationen hungen. Binokulare Systeme sind teilweise nur für
mit besonders hoher Gefährdung, in der Nähe be- Mindestfokussierungsabstände von 1–2 m ein-
findlichem Gegner oder in Gelände ohne Deckung gerichtet und damit für die Arbeit am Patienten nur
insbesondere in der Frühphase von Gefechten die bedingt brauchbar.
Verwendung von sichtbarem Licht meist gefährlich,
weil es Feuer auf sich zieht.
Somit ist eine Versorgung von Patienten unter 20.1.3 Einfarbigkeit
Verwendung von Nachtsichtgeräten häufig un-
umgänglich. Dies bringt eine Reihe von Nachteilen Gebräuchliche Restlichtverstärker erzeugen ein
mit sich und stellt hohe Anforderungen an die monochromatisches grünes Bild. Dies lässt Blut
Helfer. grünlich in einer grünlichen Umgebung aussehen
und macht Blutungen damit schwerer zu erkennen.
20.1 Restlichtverstärker
20.1.4 Periphere Sicht
20.1.1 Räumliches Sehen
Durch die optischen Systeme der Nachtsichtgeräte
Nachtsichtgeräte, die nicht für jedes Auge über eine geht der natürliche Weitwinkelblick des Auges ver-
separate Lichtverstärkerröhre mit eigener Optik ver- loren, es entsteht ein Tunnelblick.
fügen (z. B. LUCIE der Bw), verursachen einen Ver-
lust des räumlichen Sehens. Entfernungen können
damit weniger gut abgeschätzt werden, die Hand- 20.2 Wärmebildgeräte
Auge-Koordination wird schlechter. Alle Tätigkeiten
am Patienten, vom Legen intravenöser Zugänge Die Verwendung von Wärmebildgeräten, die unter-
über das Verbinden von Wunden bis hin zum Schlie- schiedliche Temperaturen verschiedenfarbig oder
ßen von Schnallen oder Reißverschlüssen, werden in Graustufen darstellen, ist für die Versorgung von
damit erheblich erschwert und das Tastempfinden Verwundeten aufgrund der geringen Auflösung
gewinnt an Bedeutung. Binokulare Nachtsichtgeräte beim derzeitigen Stand der Technik meist nicht
(Nachtsichtbrillen, die ähnlich eines Fernglases über sinnvoll. Sie können aber gerade bei niedrigen Um-
separate Optiken für jedes Auge verfügen) weisen gebungstemperaturen sehr effektiv für die Suche
diese Nachteile teilweise nicht auf. nach Verwundeten eingesetzt werden.
a 20.3.2 Restlicht
. Abb. 20.3 Für farbkodierte (und damit unter Restlichtver- . Abb. 20.4 Leichtere Identifizierung der oberflächlichen
stärker oder Rotlicht nicht nutzbare) Systeme, z. B. Blocker- Venen aufgrund von Schattenwurf durch IR-Lichtquelle.
spritzen für Larynxtuben LTS, kann eine Kerbe oder Tape- (Foto: Dr. C. Neitzel)
Markierung auf der entsprechenden Höhe des Stempels den
Gebrauch in Dunkelheit ermöglichen
eine IR-Lichtquelle genutzt werden. Einfacher an- ohne Gefährdung eigener Teile anwendbar sein,
zuwenden sind supraglottische Atemwegshilfsmit- bringt seine Verwendung deutliche Vorteile bei der
tel, z. B. der Larynxtubus. Bei entsprechender Vor- Versorgung, beeinträchtigt aber die Nachtsehfähig-
bereitung des Materials lassen sie sich in völliger keit der Anwesenden für ca. 15–30 min (7 Kap. 34.4).
Dunkelheit anwenden (. Abb. 20.3). Häufig macht die Einrichtung von Verwundeten-
> Eine »blinde Vertrautheit« mit der eigenen
nestern in Gebäuden oder Innenhöfen das Arbeiten
Ausrüstung und der der Partner ist bei der
mit Licht möglich. Im Freien kann notfalls eine Ver-
Versorgung unter Nachtsichtbedingungen
sorgung mit Licht auch unter einer lichtdichten Ab-
zwingend erforderlich. Die Aufteilung und
deckung (z. B. Poncho) erfolgen. Hierbei sollte ein
Bestückung der Packgefäße sollte möglichst
Sicherer dazu eingeteilt werden, von außen auf eine
intuitiv sein und auswendig gelernt werden.
vollständige Abdunkelung zu achten.
Eine gute Leistung bei der Behandlung unter
Wird mit Fahrzeugen operiert, ist eine vorberei-
Nachtsicht erfordert intensive Übung und
tete Möglichkeit zur Abdunkelung vorhandener
Ausbildung!
Scheiben oder Luken sinnvoll, um im Inneren eine
Versorgung mit Licht zu erlauben. Die Displays
elektronischer Medizingeräte sollten abgedunkelt
werden. Manche Produkte für den militärischen
20.4 Versorgung mit sichtbarem Licht Bereich verfügen über entsprechende Optionen,
teilweise sogar mit einstellbarem IR-Display.
Die Versorgung unter Nutzung von Nachtsichtgerä- Behelfsmäßig kann ein Abkleben mit dunkelroter
ten ist schwierig. Wo immer in der taktischen Lage Folie sinnvoll sein. Nicht unbedingt notwendige
möglich, sollte daher mit sichtbarem Licht gearbeitet Displayteile und Alarmleuchten können mit Gewe-
werden. Rotlicht hat den Vorteil, dass die Dunkelad- beband lichtdicht überklebt werden.
aption der Netzhaut nicht beeinträchtigt wird, so- Für diffizile Arbeiten, z. B. die Anlage venöser
dass die volle Nachtsehfähigkeit nach Abschalten Zugänge, haben sich verschiedene Techniken als
der Lichtquelle nach ca. 1–2 min wieder erlangt hilfreich erwiesen. Da oberflächlich laufende Venen
wird. Da Blut sich aber im Rotlicht nicht mehr ein- unter Nachtsichtgeräten schlecht sichtbar sind,
wandfrei von der Bekleidung abhebt, wird das Auf- kann durch ein seitlich gehaltenes IR-Knicklicht ein
finden von Wunden erschwert. Sollte Weißlicht Schattenwurf bei größeren Gefäßen erzeugt werden
328 Kapitel 20 · Versorgung unter Nachtsichtbedingungen
20
329 21
Zahnärztliche Notfälle
W. Kretschmar
Literatur – 334
Allgemeine Schmerzbekämpfung –
21.2.1 Anamnese im Vorfeld analgetische Medikation
Der empfohlene Wirkstoff Ibuprofen zeichnet sich
Idealerweise erhebt das Sanitätspersonal im Vorfeld durch seine analgetische, antiphlogistische, antipy-
des Einsatzes bei den Teilnehmern eine Anamnese, retische und antirheumatische Wirkung aus und
um Allergien und Unverträglichkeiten der verwen- besitzt in therapeutischen Dosen keine narkoti-
deten Notfallmedikamente ausschließen zu können. schen, euphorisierenden und suchterzeugenden
21.3 · Einzelschritte der zahnärztlichen Notfalltherapie
331 21
Nebenwirkungen. Die Wirkdauer von Ibuprofen
400 mg beträgt ca. 4–6 h und die tägliche Höchst-
dosis für Erwachsene sollte 2.400 mg nicht über-
schreiten.
Lokale Schmerzbekämpfung –
Lokalanästhesie
jLokalanästhetikum
Bupivacain 0,5 % ist ein therapeutisches Lokalanäs-
thetikum mit langer Wirkdauer (6–8 h) und somit
in der Gruppe der am stärksten wirksamen Lokal-
anästhetika. Allerdings besitzt Bupivacain 0,5 %
eine sehr hohe Toxizität, die vor allem bei un-
bemerkter intravenöser Injektion, aber auch bei
verstärkter Resorption aus dem Injektionsgebiet,
. Abb. 21.1 Schematische Darstellung der Infiltrationsan-
bedeutsam werden kann (z. B. Herzrhythmusstö-
ästhesie. Während Lippe und Wange mit dem Mundspiegel
rungen). Die tägliche Höchstdosis für Erwachsene (beim Abhalten mit dem Finger besteht Verletzungsgefahr)
von Bupivacain 0,5 % beträgt 1,3 mg/kg. abgehalten werden, wird die Nadel parallel zur Zahnachse in
der Umschlagfalte eingestochen und das Lokalanästheti-
jAnästhesietechniken kum möglichst langsam in Höhe der Wurzelspitze abgege-
ben. (Adaptiert nach [2])
Infiltrationsanästhesie Die Umspritzung des be-
treffenden Zahns mit einem Lokalanästhetikum
wird v. a. im Oberkiefer durchgeführt. Der Einstich v. a. bei der Verwendung von Bupivacain durch
erfolgt in der Umschlagfalte im Mundvorhof in Aspiration darauf zu achten, dass nicht intravasal in
Höhe der Wurzelspitze. Das Anästhetikum diffun- die A. alveolaris inferior injiziert wird. Aufgrund
diert durch den Knochen, der vestibulär vergleichs- der anatomischen Lage wird meistens auch der
weise dünn und porös ist. Die Nadelspitze sollte in N. lingualis anästhesiert. Die Zeit bis zum Wirkungs-
Knochennähe und in axialer Richtung zur Wurzel- eintritt bei der Leitungsanästhesie am Foramen
spitze hin eingeführt werden (. Abb. 21.1). Neben mandibulae beträgt ungefähr 3–5 min. In diesem
dem betreffenden Zahn wirkt die Lokalanästhesie Zeitraum sollte die Unterlippe der betroffenen Seite
auch bei den Nachbarzähnen. Die Wirkung der An- taub werden.
ästhesie setzt innerhalb von 2 min ein und erreicht
nach ca. 20 min ihr Maximum. Bei Injektionen im
posterioren Bereich des Oberkiefers sollte der Pa- 21.3.2 Vermeidung der Ausweitung
tient den Mund nicht zu weit öffnen, da die an- des Entzündungsgeschehens
gespannte Muskulatur die Sicht auf die Injektions-
stellung verdeckt. Antibakterielle Therapie
Die antibakteriellen Maßnahmen sollen pathogene
Leitungsanästhesie Im Unterkiefer behindert im Keime auf der Schleimhaut des Patienten abtöten
Gegensatz zum Oberkiefer die dicke und kompakte bzw. in ihrer Entwicklung hemmen, sodass eine
Außenkortikalis im Prämolaren- und Molaren- Wund- bzw. einer Allgemeininfektion verhindert
bereich die Diffusion der in die Umschlagfalte inji- werden kann. CHX-Spülung besitzt die Eigenschaft,
zierten Lösung. Deshalb wird normalerweise eine die bakterielle Zellmembran zerstören zu können,
Leitungsanästhesie des N. alveolaris inferior am und hat weiterhin den Vorteil, lange auf Zähnen
Foramen mandibulae gesetzt (. Abb. 16.2). Der Pa- und Mundschleimhaut zu haften, ohne durch die
tient sollte seinen Mund soweit wie möglich öffnen, Schleimhäute in den Körper einzudringen.
damit der Behandler die anatomischen Strukturen
gut erkennen kann. Bei der Leitungsanästhesie ist
332 Kapitel 21 · Zahnärztliche Notfälle
Dosierung
5 Tagesdosis für Erwachsene: 3-mal 600 mg
Clindamycin (z. B. 06.00 – 14.00 – 22.00 Uhr)
5 Therapiedauer: ca. 7 Tage
Untersuchung Therapie
Blutung im Zahninneren/»Sonde fällt ins Loch« Desinfektion mit CHX, Abdeckung mit Ledermix-Paste
(Eröffnung der Nervenhöhle) und Cavit
Zähne passen beim Schließen nicht zusammen, Provisorische Ruhigstellung mit Dreieckstuch schnellst-
Verdacht auf Kieferbruch mögliche Weiterbehandlung
21.4.2 Entzündungen in
21.4 Überblick über die zahnärzt- der Mundhöhle
lichen Krankheitsbilder »Zahn-
trauma« und »Entzündungen Leitsymptome (Schmerzhafte) Schwellung, akute
in der Mundhöhle« zahnbezogene Schmerzen (klopfend, pochend, vor
allem nachts und in Ruhephasen), extrem schmerz-
! Infektionen, ausgehend von der Mundhöhle haftes Zahnfleisch, gelblicher Belag auf Zahnfleisch,
(z. B. Mundbodenraum oder Bereich der Unter- Mundgeruch (. Tab. 16.2).
kieferweisheitszähne), können sich über
den Halsbereich nach oben und unten aus-
breiten und lebensbedrohlich werden; bei
Verdacht ist eine hochdosierte Antibiotikum-
gabe (s. oben) und schnellstmögliche Evaku-
ierung notwendig.
334 Kapitel 21 · Zahnärztliche Notfälle
(Schmerzhafte) Schwellung: weich und ödematös Analgetische Medikation, Desinfektion mit CHX,
Antibiotikatherapie
Schmerzhafte Schwellung: hart und fluktuierend Lokalanästhesie (nicht direkt in Schwellung), Inzision
(verschieblich), Verdacht auf Abszess (cave: N. mentalis, A. palatina)
Schmerzhafte Schwellung im Bereich der Weisheits- Mechanische Reinigung unter der Zahnfleischkappe
zähne mit evtl. Schluckstörung, Verdacht auf Dentitio mit Sonde/Heidemann-Spatel; Desinfektion mit CHX
difficilis (3-mal tgl.), Antibiotikatherapie
Zahn extrem klopfempfindlich (Schmerzen auch nachts Analgetische Medikation, bei Bedarf Lokalanästhesie,
und in Ruhephasen), Verdacht auf irreversible Pulpitis, bei Schwellung Antibiotikatherapie
periapikale Parodontitis
Extrem gerötetes und geschwollenes Zahnfleisch, Desinfektion mit CHX (3-mal tgl.), grobe Entfernung der
gelbliche Beläge, Verdacht auf akute nekrotisierende Plaque, Antibiotikatherapie
ulzeröse Gingivitis (ANUG)/akute nekrotisierende
ulzeröse Parodontitis (ANUP)
Mehrere Zähne einseitig im Oberkiefer und Unterkiefer Analgetische Medikation, Aqualizer, bei Verdacht auf
oder beidseitig im Oberkiefer klopfempfindlich (Ver- Sinusitis, Antibiotikatherapie
dacht auf Sinusitis)
Literatur
Psychotraumatologie
J. Ungerer, P. Zimmermann
Literatur – 344
bedeutet nach ICD-10 (»International Statistical schah, erschien mir wie unwirklich, wie in Zeitlupe,
Classification of Diseases and Related Health Pro- als ob ich in einem Traum sei, es war alles so dumpf.«
blems«) eine seelische Verletzung, hervorgerufen Die Wahrscheinlichkeit, den traumatischen
22 durch ein Ereignis außergewöhnlicher Bedrohung Stress nicht verarbeiten zu können, ist erhöht, wenn
(z. B. gewalttätiger Angriff auf die eigene Person, der Betroffene bereits vor dem kritischen Ereignis
Zeuge des gewaltsamen Todes anderer Personen, psychisch vulnerabel war. Zu denken ist z. B. an
schwerer Unfall, Naturkatastrophe etc.), das bei einen Hochstresszustand, der nicht abgebaut wer-
Menschen tiefgreifende Verzweiflung auslösen den konnte, an nichtverarbeitete traumatische Vor-
kann. erfahrungen und/oder chronifizierte berufliche
In der Alltagssprache wird häufig davon gespro- sowie familiäre Belastungen. Bei Sdt, die eine feh-
chen, dass der auf eine außergewöhnliche Situation lende soziale Unterstützung durch die nationale
reagierende Mensch unter Schock steht. In der Wis- Bevölkerung wahrnehmen (»homefront«), lässt
senschaft wird von akuten Belastungsreaktionen sich ebenfalls eine erhöhte Vulnerabilität auf ein-
(ABR) gesprochen (bis zu 72 h nach dem kritischen satzbedingte psychische Traumastörungen erken-
Ereignis). nen. Es werden protektive Effekte in Hinblick auf
eine PTBS, Depressionen und Alkoholmissbrauch
Akute Belastungsreaktionen beschrieben.
5 Hilflosigkeit Eine Zusammenfassung individueller Risiko-
5 Angst, Todesangst faktoren ist aus der 7 Übersicht zu entnehmen [9].
5 Übererregbarkeit
5 Panik Individuelle Risikofaktoren
5 Erstarren (»freezing«) 5 Jugendliches oder hohes Lebensalter
5 Gefühlstaubheit (»numbing«) 5 Zugehörigkeit zu einer sozialen Randgruppe
5 Keine Handlungskontrolle 5 Niedriger sozioökonomischer Status
5 Heftige affektive und körperliche 5 Mangelnde soziale Unterstützung
Reaktionen (Weinen, Schreien) 5 Psychische oder körperliche
5 Ekel- und Schamempfinden Vorerkrankungen
5 Familiäre Vorbelastungen mit
traumatischen Erfahrungen
Allgemein reagiert der Menschen in einer akuten
traumatischen Stresssituation mit folgenden Ver- Aber: Unabhängig von diesen Faktoren kann
haltensmustern: es jeden treffen!
Es kommt zum Anstieg der Herzfrequenz und
Ausschüttung von Stresshormonen (Aktivierungs-
zustand). Diese sollen den Organismus auf Kampf Befindet sich z. B. ein Sdt in einer akuten traumati-
oder Flucht vorbereiten. Extreme traumatische Si- schen Stressphase, die beispielsweise durch einen
tuationen zeichnen sich nun dadurch aus, dass heftigen Feuerkampf mit Toten und Verletzten her-
Kampf oder Flucht objektiv oder subjektiv gar nicht vorgerufen wurde, dann kann dieses außergewöhn-
oder nur eingeschränkt möglich sind. Dies führt liche Ereignis krankheitserzeugend wirken. Eine
zum Erleben von Ohnmacht und Hilflosigkeit bei explodierende Handgranate, eine abgerissene
jedoch gleichzeitig erhöhtem physiologischem Er- Hand, ein zerberstender Kopf u.v.m. werden zwar
regungszustand. Weil diese Erregung nicht in Akti- aufgenommen, aber mangels gespeicherter Infor-
onen des Angriffs oder der Flucht umgewandelt mation über ähnliche Situationen von dem Betrof-
werden kann, sucht sich der Organismus andere fenen nicht verarbeitet. Die massive Ausschüttung
Wege. Sie äußern sich z. B. durch Veränderungen in von Stresshormonen führt zu einer Fehlfunktion
den Wahrnehmungs- und Handlungsfunktionen der Informationsverarbeitung. Das Ereignis wird
(peritraumatische Dissoziation). Zitat eines Sdt im Gedächtnis nur abgelegt. Damit sind die Voraus-
nach dem Busanschlag (2003) in Kabul: »Was ge- setzungen erfüllt, dass sich das bedrohliche Ereignis
22.4 · Psychologische Krisenintervention
339 22
verselbstständigt und im psychovegetativen System ker spezialisierte Fachkräfte vonnöten, um die In-
des Betroffenen kontextlos »herumvagabundiert«. terventionsziele zu erreichen. Die angewendeten
Daraus entstehen dann die typischen Belastungs- Hilfsmöglichkeiten orientieren sich weiterhin an
symptome (s. oben). Die Episoden wirken ohne der Beziehung zum Betroffenen, am aktuellen An-
Vorwarnung. Die Betroffenen wissen nicht so recht, lass, dem emotionalen Zustand und den Interven-
was mit ihnen geschah bzw. geschieht. Sie gingen tionstechniken.
anders in die Lage hinein als sie dann herauskamen. Die Präventions- und Behandlungskonzepte
»I’ m not the same person I was before – something der Bundeswehr bei bzw. nach »critical incidents«
broke inside of me« [10, S. 164]. haben sich im Rahmen der Auslandseinsätze be-
Nicht der Betroffene ist verrückt, sondern das währt und sollen im Folgenden als allgemeingülti-
schlimme Ereignis bzw. das »Bild« hat sich im Ge- ges Modell der Krisenintervention verstanden wer-
dächtnis ver-rückt. Das kann jeden treffen. Zur den. Es kann insbesondere auch bei Einsatzkräften
Verarbeitung der extremen Situation gibt es ver- der Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienste und des
schiedene Möglichkeiten, um das »Bild« wieder an Zolls Anwendung finden, wobei die unterschied-
den richtigen Platz zu bringen. lichen Rahmenbedingungen der Einsatzarten zu
Eine sehr wichtige Komponente zur Unterstüt- berücksichtigen sind. Eine interdisziplinäre Stan-
zung der Verarbeitung eines kritischen Ereignisses dardisierung ist aufgrund unterschiedlicher Orga-
ist die psychologische Krisenintervention (psycho- nisationsstrukturen nur bedingt möglich.
logische Erste Hilfe, Akutintervention, psychologi-
sche Aufarbeitung, Nachsorge).
22.4.2 Akutphase
(psychologische Erste Hilfe)
22.4 Psychologische
Krisenintervention Direkt während oder unmittelbar nach einem kriti-
schen Ereignis ist es nur realistisch, dass Vorgesetz-
22.4.1 Grundlagen te, Einsatzkräfte, Kameraden bzw. Kollegen und
notfallmedizinisches Fachpersonal vor Ort die Erst-
Im Rückgriff auf die Erfahrungen befreundeter versorgung übernehmen. Es ist sehr unwahrschein-
Streitkräfte hat die Bundeswehr umfassende Prä- lich, dass z. B. nach einem IED (»improvise explosiv
ventions- und Behandlungskonzepte entwickelt, die device«)-Anschlag außerhalb eines Feldlagers ein
die organisatorischen Grundlagen für eine effektive Psychologe oder Psychiater anwesend ist oder wäh-
psychosoziale Unterstützung stressbelasteter Perso- rend eines schweren Zwischenfalls bei einem Poli-
nengruppen liefern: zeieinsatz ein Notfallseelsorger im Akutstadium die
4 Ebene 1 (Akutphase) bezieht sich auf Maßnah- Betreuung eines Betroffenen übernehmen kann.
men, die durch Vorgesetzte oder Kameraden Im Folgenden steht der Fokus auf der psycholo-
und Kollegen des Betroffenen erfolgen können. gischen Ersten Hilfe (PEH) vor Ort. Die PEH ist
4 Ebene 2 (Stabilisierungsphase) betrifft Psy- sehr wichtig, um der Gefahr einer posttraumati-
chologen, Ärzte, Seelsorger und Sozialarbeiter, schen Erkrankung präventiv entgegenzuwirken.
die an der primären gesundheitlichen Versor- Ziel jeder Maßnahme ist, den Betroffenen zu stabi-
gung beteiligt sind. lisieren, Sicherheit zu geben und möglichst schnell
4 Auf Ebene 3 (Weiterbetreuung) werden Psy- wieder seiner eigentlichen Aufgabenerfüllung zu-
chiater sowie ärztliche und psychologische zuführen.
Psychotherapeuten in den Krankenhäusern Für den psychologischen Ersthelfer ist un-
und Fachsanitätszentren tätig. abdingbar, sich ein Bild der Lage zu verschaffen,
insbesondere um Gefahrenlage und Sicherheit ab-
Das »Vorrücken« des Betroffenen in den Ebenen (1 zuschätzen. Es liegt kein Sinn darin, sein eigenes
bis 3) hängt vom Schweregrad seiner Belastung ab. Leben aufs Spiel zu setzen und als Helfer unbrauch-
Dementsprechend sind in Ebene zwei und drei stär- bar zu werden.
340 Kapitel 22 · Psychotraumatologie
SAFER-Modell
5 Stimulusreduktion (Reduktion der unmittel- 22.4.3 Stabilisierungsphase (Akut-
baren Sinneseindrücke) intervention und psychologische
5 Akzeptieren der Krise (Ereignis, Empfin- Aufarbeitung)
dungen schildern lassen)
5 Falsche Bewertungen der Reaktionen korri- In der Regel bis ca. 24 h nach einem kritischen
gieren (verständlich und normal) Ereignis ist auch eine Intervention im Gruppen-
5 Erklären von Stress und Stressreaktionen rahmen möglich (angelehnt an das sog. psycholo-
5 Rückführung in die Tätigkeit/Aufgabe oder gische »defusing«) [7] (7 Übersicht). Diese Metho-
Einleitung weiterer Maßnahmen de kann aber auch als Einzelintervention durch-
geführt werden. Das Vorgehen erinnert an ein »hot-
debrief« nach einer militärischen Operation und ist
Jeder Mensch reagiert unterschiedlich auf trauma- anzuwenden, solange emotionale Reaktionen noch
tische Situationen. Dementsprechend können auch deutlich überwiegen und man zum ersten Mal zum
unterschiedliche Maßnahmen hilfreich sein. Strik- »durchschnaufen« kommt. Die Maßnahme sollte in
tes Handeln nach Richtlinien ist hier kontraproduk- einer sicheren Umgebung stattfinden und nicht
tiv. Wenn auf die Reaktionen des Betroffenen mit mehr direkt am Ort des Geschehens.
Fingerspitzengefühl geachtet wird, kann das »pro-
fessionelle Bauchgefühl« deutlich hilfreicher sein,
als Checklisten abzuarbeiten.
Das folgende, sehr einfache Fallbeispiel aus dem
1. Weltkrieg zeigt, dass schon damals »Zunftwissen«
342 Kapitel 22 · Psychotraumatologie
22.5 Zusammenfassung und Ausblick 4. Kulka RA, Schlenger WE, Fairbank JA et al. (1990) Trauma
and the Vietnam war generation. Report of findings from
the National Vietnam Veterans Readjustment Study.
Der Umgang mit außergewöhnlichen und extremen Brunner & Mazel, New York
22 psychischen Situationen stellt für Einsatzkräfte der 5. Hannich H-J, Kiekbusch S, Busch P (2001) Kriseninterven-
BOS und Sdt der Bundeswehr eine große Heraus- tion und Notfallseelsorge. In: Maerker A, Ehlert U (Hrsg.)
forderung dar. Von großer Bedeutung ist die Prä- Psychotraumatologie. Hogrefe, Göttingen
6. Maerker A, Forstmeier S, Wagner B, Glaesmer H, Brähler E
vention psychischer Erkrankungen. Dabei ist die
(2008) Posttraumatische Belastungsstörungen in
akute Krisenintervention eine wirksame Option. Deutschland. Der Nervenarzt 5:577–586
Dazu wurden in diesem Kapitel pragmatische psy- 7. Mitchell JT, Everly GS (1997) Critical Incident Stress
chologische Interventionstechniken »in action« Debriefing. An Operations Manual for the Prevention of
vorgestellt, die von jedem angewendet werden Traumatic Stress Among Emergency Services and Disas-
können. Hauptziel ist es, den Betroffenen zu stabili- ter Workers. Ellicott City, MD, USA: Chevron Publishing
Corporation
sieren, Sicherheit zu geben und möglichst schnell 8. Shlosberg A, Strous RD (2005) Long-term follow-up (32
wieder in seine eigentliche Aufgabenerfüllung zu- years) of PTSD in Israeli Yom Kippur War Veterans. The
rückzuführen. Reichen diese Maßnahmen nicht Journal of Nervous and Mental Disease 193:693–696
aus, sollte immer professionelle Hilfe in Anspruch 9. Siol T, Flatten G, Wöller W (2004) Epidemiologie und
genommen werden. Dazu gehören Psychologen, Komorbidität der Posttraumatischen Belastungsstörung.
In: Flatten G et al. (Hrsg.) Posttraumatische Belas-
Ärzte, Notfallseelsorger, Psychiater und Sozial-
tungsstörung. Schattauer, Stuttgart
arbeiter. 10. Solomon Z (1993) Combat Stress Reaction. Plenum Press,
> Neben der professionellen Betreuung ist je- New York
11. Ungerer D (2003) Der militärische Einsatz. Miles-Verlag,
doch entscheidend, dass man auf sich und
Potsdam
auf seine Kameraden bzw. Kollegen achtet. 12. Ungerer D, Ungerer J (2008) Lebensgefährliche Situa-
Eine ehrliche und vertrauensvolle soziale tionen als polizeiliche Herausforderungen. Verlag für
Unterstützung (Kameradschaft) ist eine sehr Polizeiwissenschaft, Frankfurt
effektive Form, um einer Chronifizierung 13. Ungerer J Zimmermann P (2010) Psychische Grenzbelas-
tungen am Hindukusch: Wie geht die Bundeswehr damit
psychischer Grenzbelastungen möglichst
um? – Standortbestimmung und Perspektiven. In: Ham-
früh entgegenzuwirken. merich HR, Hartmann U, Rosen C von (Hrsg.) Jahrbuch
Innere Führung 2010. Miles-Verlag, Potsdam
Zukünftig wird es noch mehr darum gehen, die Er- 14. Wagner D, Heinrichs M, Ehlert U (1998) Prevalence of
fahrungen verschiedener Dienstleistungsangebote symptoms of PTSD in German professional firefighters.
auszutauschen. Auf diesem Weg kann ein gegensei- American Journal of Psychiatry 155(12):1727–1732
tiges Lernen und eine Verbesserung der unter- 15. Zimmermann P, Hahne HH, Biesold KH, Lanczik M (2005)
schiedlichen Methoden ermöglicht werden. Dabei Psychogene Störungen bei Deutschen Soldaten des
Ersten und Zweiten Weltkrieges. Fortschritte der Neuro-
stellt der interdisziplinäre Austausch eine wichtige
logie/Psychiatrie 73(2):91–102
Voraussetzung dar.
Weiterführende Literatur
Literatur Kreim G, Bruns S, Völker B (Hrsg.) (2014) Psychologie für
Einsatz und Notfall. Bernard & Graefe, Bonn
1. Dunker S (2010) Prognose und Verlauf der Posttrauma-
tischen Belastungsstörung bei Soldaten der Bundeswehr.
Längsschnittsstudie zur Neuvalidierung des Kölner
Risikoindex – Bundeswehr (KRI-Bw). http://kups.ub.
uni-koeln.de/volltexte/2010/3021/
2. Fischer G, Riedesser P (1998) Lehrbuch der Psychotrau-
matologie. München: Ernst Reinhardt (UTB für Wissen-
schaft)
3. Hoge CW, Castro CA, Messer SC (2004) Combat Duty in
Iraq and Afghanistan, Mental Health Problems, and
Barriers to Care. The New England Journal of Medicine
1:13–25
345 23
Literatur – 358
Internationale Erfahrungen aus Einsatzgebieten mit fallmedizinischen Personals ein Beißkorb oder eine
militärischen Konflikten zeigen, dass es für Kampf- provisorische Schnauzenbinde angelegt werden
truppen mittlerweile die Realität darstellt, als Dienst- (. Abb. 23.1).
hundführer, Combat First Responder und human- > 4 Hund und Hundeführer möglichst nicht
medizinisches Sanitätsfachpersonal medizinische trennen
Basisversorgung und taktische notfallmedizinische 5 Andere Hundeführer als Helfer einteilen
23 Behandlungen am Diensthund durchzuführen. Be- 5 Verletzten Hunden grundsätzlich Beiß-
sonders außerhalb der Feldlager, im abgesetzten Ein- korb oder Schnauzenbinde anlegen
satz, ist veterinärmedizinisches Personal bislang im
Regelfall nicht zeitnah verfügbar. Dieses Kapitel soll
Tipp
dem am Menschen ausgebildeten Spezialisten einen
ersten Überblick über die Besonderheiten im Um- Eine provisorische Schnauzenbinde kann aus
gang mit erkrankten und verletzten Hunden sowie einer Mullbinde hergestellt werden. Der erste
über die speziesspezifischen Erfordernisse in der Knoten wird auf dem Oberkiefer, der zweite
medizinischen Versorgung geben und ein Anreiz unter dem Unterkiefer gelegt. Die Enden der
sein, die eigenen Kenntnisse und Fähigkeiten in Mullbinde werden im Nacken verknotet und
Theorie und Praxis um das Gebiet der taktischen am Halsband befestigt, um ein Abstreifen
veterinärmedizinischen Notfallversorgung zu er- durch den Hund zu verhindern.
weitern.
23.2 Untersuchungsgang
und Vitalfunktionen
Hunde atmen überwiegend mit dem Brustkorb und kerntemperaturen über 40,5 °C erreichen können.
eher flach. Tiefe, schnelle Atemzüge weisen häufig Die Normaltemperatur liegt beim Diensthund zwi-
auf Atemnot und/oder schmerzhafte Prozesse schen 38,3 °C und 39,2 °C.
hin. Die normale Atemfrequenz in Ruhe beträgt
zwischen 10 und 30 Atemzüge/min. Von patholo-
gischen Ursachen erhöhter Atemfrequenz wie 23.2.3 Puls
z. B. Blutungen und Pneumothorax ist das physiolo-
gische Hecheln zur Temperaturregulation oder Zur Beurteilung des Pulses wird auf der Innenseite
bei Aufregung abzugrenzen. Die Auskultation der des Oberschenkels im femoralen Dreieck die
Lunge zur Beurteilung der Atemgeräusche und zur A. femoralis auf dem Oberschenkelknochen ertas-
Feststellung örtlichen Fehlens von Lungenge- tet (. Abb. 23.3). Die Pulsfrequenz großer erwach-
räuschen ist aufgrund des Fells akustisch anspruchs- sener Hunde liegt in Ruhe zwischen 70 und
voller als beim Menschen. Beim hechelnden Hund 100 Schlägen/min. Hierbei ist die physiologische
wird sie durch Schließen des Fanges möglich Sinusarrhythmie der Hunde, die sich in einem
(. Abb. 23.2). schnelleren Puls während der Inspiration und ei-
nem verlangsamten Puls während der Exspiration
äußert, zu beachten. Sie muss von pathologischen
23.2.2 Körperkerntemperatur Arrhythmien abgegrenzt werden. Am einfachsten
lässt sich die Herzfrequenz durch gleichzeitiges Pal-
Die Körperkerntemperatur wird beim Hund rektal pieren des Femoralispulses und Auskultation der
ca. 3 cm tief im Enddarm gemessen und ist nur in Herztöne messen. Die Auskultation des Herzens
Ruhe aussagekräftig, da aufgeregte Hunde bzw. erfolgt hierfür kaudal des linken Ellenbogens an der
Hunde in Arbeit physiologisch kurzfristig Körper- unteren seitlichen Brustwand (. Abb. 23.2).
348 Kapitel 23 · Versorgung von Diensthunden
Dehydratationsgrad Untersuchungsbefund
Mittelgradig Maulschleimhaut trocken, Hautturgor leicht vermindert bis deutlich verzögert, kapilläre
Wiederauffüllungszeit ≥2 s
Hochgradig (akut Maulschleimhaut trocken, Hautfalte bleibt stehen, kapilläre Wiederauffüllungszeit >2 s, stark
lebensbedrohlich) eingesunkene Bulbi, schwacher fadenförmiger Puls, beginnende Bewusstseinstrübung, Schock
23
. Abb. 23.8 Lagerung des Diensthundes für die Tracheo- . Abb. 23.9 Verteilungsmuster von Schussverletzungen bei
tomie US-Diensthunden im Auslandseinsatz (nach Schlanser 2009)
Punktionsstelle
Punktionsstelle
Punktionsstelle
Vena saphena
Vena cephalica
a b
. Abb. 23.11 Venenpunktion vorne bzw. innen am Vorderlauf und außen am Hinterlauf
23.3 · Tactical Combat Casualty Care nach MARCH/CABC
353 23
. Abb. 23.12 Lagerung des Diensthundes zur Platzierung . Abb. 23.13 Platzierung der intraossären Punktionsnadel
eines intraossären Zugangs am Femur im Femur, Ansicht von kaudal
Hypothermie: Wärmeerhalt
Rettungsdecken, Wärmeschutzdecken und Wärme-
decken mit Wärmeelementen können am Dienst-
hund eingesetzt werden.
. Abb. 23.14 Diensthund mit geblähtem Magen und
Magendrehung. (Mit freundlicher Genehmigung von
Dr. Wawrzyniak)
23.5 · Dosierungsempfehlungen für Notfallmedikamente
355 23
so dass die chirurgische Derotation des Magens für mit Klebeband fixiert. Häufig verstopft die Kanüle
einen sehr begrenzten Zeitraum aufgeschoben wer- durch Mageninhalt oder verrutscht und muss bei
den kann. Der Diensthund muss innerhalb weniger erneutem Aufgasen ersetzt werden.
Stunden chirurgisch weiterversorgt werden kön-
nen. Ist dies nicht möglich, und schlagen Maßnah-
men zur Magenentleerung fehl, indiziert der Tier- 23.4.3 Magensonde
schutz unbedingt die Euthanasie des Hundes.
Ist eine zeitnahe Evakuierung des Diensthundes mit
kurzer Transportdauer zur unverzüglich einsatzbe-
23.4.1 Differenzialdiagnose reiten chirurgischen Behandlungseinheit möglich,
Magenüberladung kann der Hund sediert und der Versuch unter-
nommen werden, über eine Magensonde einen Teil
Zur Absicherung der Diagnose der Magendrehung des Mageninhalts (insbesondere Gas und Flüssig-
sollte dem Diensthund eine größere Menge Flüssig- keit) abzuführen. Der sedierte Diensthund wird
keit eingeflößt werden. Kann der Diensthund die in Seitenlage verbracht. Nach endotrachealer In-
Flüssigkeit einbehalten, so handelt es sich wahr- tubation wird eine Magensonde mit Mindest-
scheinlich um eine Magenüberladung oder eine ge- durchmesser 1 cm mit Gleitmittel unter Nutzung
ringere Teildrehung des Magens. Bei einer Teildre- eines Maulsperrers langsam und ohne Druck über
hung des Magens kann eine Trokarisierung des die Speiseröhre eingeführt. Als Längenmaß für die
Magens Erleichterung verschaffen. Schlägt die Tro- Sonde kann die Strecke von Nasenspitze bis zur
karisierung des Magens in diesem Fall fehl, sollte letzten Rippe herangezogen werden. Die ermittelte
nur bei auf lange Sicht fehlender Evakuierungsmög- Länge der Sonde wird mit medizinischem Klebe-
lichkeit aufgrund der taktische Lage als ultima ratio band o. ä. markiert. Bei einer Teildrehung kann
das Herbeiführen von Erbrechen mittels Apomor- Mageninhalt entweichen, ggf. kann sogar eine
phin unter Inkaufnahme des Risikos einer mögli- Magenspülung durchgeführt werden. Kann die
chen Magenruptur eingeleitet werden. Bei Auftre- Sonde nicht ohne Druck eingeführt werden, so
ten einer Magenruptur (erfolgloses Erbrechen, da- handelt es sich um eine komplette Magendrehung
für aber sehr rasch zunehmende Verschlechterung und der Sondierungsversuch muss abgebrochen
des Allgemeinzustandes) indiziert der Tierschutz werden.
dann unbedingt die unverzügliche Euthanasie des
Tipp
Diensthundes.
Als behelfsmäßige Magensonde kann jede
Art von flexiblem Schlauch passenden Durch-
23.4.2 Trokarisierung des Magens messers ohne scharfe Kanten herangezogen
werden.
Kann der Diensthund die Flüssigkeit nicht einbe-
halten, so handelt es sich wahrscheinlich um eine
vollständige Magendrehung und der Magen muss
so weit als möglich abgegast werden. Keinesfalls
darf Apomorphin verabreicht werden, da dies un- 23.5 Dosierungsempfehlungen
vermeidlich zur Magenruptur führen würde. Die für Notfallmedikamente
Trokarisierung des Magens erfolgt in Seitenlage des
Hundes mittels großlumiger intravenöser Verweil- Eine individuell auf den jeweiligen Diensthund und
kanüle (z. B. 14 G, Farbcode orange), ca. 2 cm hinter die zur Verfügung stehenden Medikamente ab-
der letzten Rippe auf der linken oder rechten Kör- gestimmte Verwundetenanhängekarte erleichtert
perseite nach Perkussionsbefund (Trommelschall, notfallmedizinischem Personal und Weiterbehan-
Position . Abb. 23.10). Nach Entfernen des Mand- delnden die Entscheidungsfindung und Kommuni-
rins entweicht idealerweise Gas. Die Kanüle wird kation. Die folgenden Dosierungsempfehlungen
356 Kapitel 23 · Versorgung von Diensthunden
geben Informationen zum Einsatz von Medikamen- Anwendung unterhalb der therapeutischen Dosis
ten wieder, die Trägern präklinischer notfallmedizi- auslöst.
nischer Versorgung in der Regel zur Verfügung Da diagnostische und therapeutische Verfahren
stehen, sowie von veterinärspezifischen Medika- durch Forschung und klinische Erfahrung einem
menten (V), deren Mitführung aus fachlicher Sicht fortwährenden Entwicklungsprozess unterliegen,
sinnvoll ist. können alle Angaben nur dem derzeitigen Wissen-
23 Die »freihändige« Umwidmung humaner Arz- stand entsprechen. Jeder Nutzer ist aufgefordert,
neimittel für den Hund kann zu Unter- oder Über- Beipackzettel und Fachinformationen der Medika-
dosierung bis hin zur massiven Gesundheitsschädi- mentenhersteller heranzuziehen, da jede diagnosti-
gung führen. Nicht am Hund angewendet werden sche oder therapeutische Applikation, Medikation
darf z. B. Ibuprofen, da es lebensbedrohliche gastro- und Dosierung in der Verantwortlichkeit des Nut-
intestinale Blutungen häufig bereits bei einmaliger zers und Durchführenden liegt.
Metoclopramid Zentrales/peripheres Erbrechen 0,1–0,3 (–0,5) mg/kg i.v., i.m., s.c., p.o. 3-mal täglich
Wirkstoff Dosierung
Wirkstoff Dosierung
23.5.4 Empfehlungen zur Sedierung zusammenstellung allein ist für den Diensthund
und Anästhesie des Dienst- nicht geeignet und sollte daher nur in Kombination
hundes (. Tab. 23.6) mit Medetomidin (V) appliziert werden.
Medetomidin kann mit gleicher Menge Ati-
Der Monoeinsatz von Midazolam oder Diazepam pamezol (V) intramuskulär antagonisiert werden.
kann beim Hund zu exzitatorischen Erscheinungen Wurde Medetomidin mit Ketamin angewendet,
führen und ist nur beim Status epilepticus ange- ist zwischen Ketamin- und Atipamezolinjektion
zeigt. mindestens 45 min zeitlicher Abstand zu wah-
Die beim Menschen übliche Verabreichung von ren, um ketamininduzierte Exzitationen zu ver-
Ketamin zusammen mit Midazolam führt insbe- meiden.
sondere bei Diensthunden der Rasse Malinois er- Beim Diensthund kann zur Sedierung und
fahrungsgemäß häufig zu gesteigertem Muskel- Analgesie notfalls der Morphin-Autoinjektor ein-
tonus, unkoordinierten Muskelbewegungen und gesetzt werden. Morphin wirkt bei Hunden stark
hochgradigen Exzitationen. Diese Medikamenten- sedativ-hypnotisch, bei Wirkungseintritt allerdings
358 Kapitel 23 · Versorgung von Diensthunden
auch stark emetisch. Daher ist eine Kombination Lassen die Rahmenbedingungen (taktische Lage,
mit Neuroleptika sinnvoll. Hunde sind sehr hista- Schwere der Verwundung/Erkrankung des Hundes)
minempfindlich. Zur Vermeidung anaphylakti- dies nicht zu, so kann es erforderlich sein, den
scher Reaktionen darf Morphin beim Hund daher Diensthund aus Tierschutzgründen an Ort und Stel-
nicht intravenös verabreicht werden. Die Verabrei- le zu euthanasieren. Für diesen Zweck sind verschie-
chung des Morphins erfolgt idealerweise in die dene veterinärspezifische Medikamente erhältlich,
Schulterblattmuskulatur (. Abb. 23.10), im Notfall die per Injektion verabreicht werden und das Tier
auch in die Oberschenkelmuskulatur. Zu beachten schnell und schmerzlos töten. Stehen veterinärspe-
ist, dass Morphin beim Hund in Dosierungen zwi- zifische Medikamente nicht zur Verfügung, kann die
schen 0,1–2,0 mg/kg eingesetzt werden kann, ab- Überdosierung von Morphin angedacht werden, um
hängig von der Indikation der Anwendung. den Gebrauch der Schusswaffe zu vermeiden.
Literatur
23.5.5 Euthanasie des Diensthundes
1. Erhardt W, Henke J, Haberstroh J (2004) Anästhesie und
Ziel der taktischen Medizin bei Diensthunden soll es Analgesie beim Klein- und Heimtier sowie bei Vögeln,
sein, bei vorhandenen personellen und materiellen Reptilien, Amphibien und Fischen. Schattauer, Stuttgart
Ressourcen ein überlebensfähiges Tier unter Beach- 2. Ford RB, Mazzaferro EM (2006) Diagnostic and therapeu-
tung des Tierschutzes der nächstmöglichen tierme- tic procedures. In: Kirk and Bistner´s Handbook of Veteri-
nary Procedures and Emergency Treatment. 8. Auflage.
dizinischen Versorgungseinrichtung zuzuführen, so Saunders Elsevier, St. Louis, USA
dass dort durch tierärztliches Fachpersonal über die 3. Hedlund CS (2009) Obere Atemwege. In: Welch Fossum T,
weitere Vorgehensweise entschieden werden kann. Chirurgie der Kleintiere. 2. Auflage. Elsevier, München
Literatur
359 23
4. Hughes D, Beal MW (2000) Emergency Vascular Access.
In: Veterinary Clinics of North America: Small Animal
Practice. Emergency Surgical Procedures 30 (3): 491–507
5. Kraft W (2010) Dosierungsvorschläge für Arzneimittel
bei Hund und Katze. MemoVet. 5. Auflage. Schattauer,
Stuttgart
6. Mazzaferro EM (2010) Blackwell´s Five-Minute Veterinary
Consult Clinical Companion. Small Animal Emergency
and Critical Care. Blackwell Publishing, Ames, USA
7. Olsen D, Packer BE, Perrett J, Balentine H, Andrews CA
(2002) Evaluation of the bone injection gun as a method
for intraosseous placement for fluid therapy in adult
dogs. Vet Surg (31): 533–540
8. Riedel K (2013) Taktische Medizin. Notfallmedizin und
Einsatzmedizin für den Diensthund. Masterarbeit aus
dem Masterstudiengang Small Animal Science der FU
Berlin. Mensch und Buch Verlag, Berlin
9. Riedel K (2013) Muster K9-Verwundetenanhängekarte.
http://www.k9vet.de/downloads.html. Datenstand
24.08.2014
10. Rozanski EA, Rush JE (2007) A Colour Handbook of Small
Animal Emergency and Critical Care Medicine. Manson
Publishing, London, UK
11. Schlanser J (2009) Canine combat trauma management:
lessons learned in point-of-injury and enroute care from
the special operations community 2003-2009. Präsen-
tation im Rahmen der U.S. Army Center for Health Pro-
motion and Preventive Medicine (CHPPM) Force Health
Protection Conference 2009, Albuquerque/USA, 14.-
21.08.2009
12. Schrey CF (2009) Notfalltherapie in der Kleintierpraxis.
MemoVet. 2. Auflage. Schattauer, Stuttgart
361 IV
Polizei
Kapitel 24 BOS – 363
R. Bohnen
BOS
R. Bohnen
Einsatzleitung
Unterunterabschnitt Unterunterabschnitt
Verteilung + Rettungsmittel-
Dokumentation halteplatz
. Abb. 24.1 Beispiel für eine Besondere Aufbauorganisation (BAO) von Feuer und Rettungsdienst bei einem Großschadens-
ereignis
so den Sonderbedarf. Analog zur Feuerwehr wird der Die Struktur der Polizei ist sehr vielschichtig und
Rettungsdienst grundsätzlich von vorne geführt. Das reicht bei uniformierten Polizeivollzugsbeamten
heißt, die verantwortliche Einsatzleitung, bestehend (PVB) vom Streifendienst bis hin zu geschlossenen
aus organisatorischem Leiter Rettungsdienst und Einheiten der sog. Bereitschaftspolizei und bei zivi-
Leitendem Notarzt, befindet sich am Einsatzort und len Beamten von Ermittlungsbeamten und Obser-
fügt sich als »Einsatzabschnitt Rettungsdienst« in die vationskräften über zivile Fahnder bis hin zu Perso-
Struktur der örtlichen Einsatzleitung ein. So sind nenschutzkräften. Die täglich anfallende Arbeit und
Feuerwehr und Rettungsdienst bei einem Großscha- kleinere Einsatzlagen werden aus dieser Allgemei-
densereignis optimal miteinander verzahnt. Der Ein- nen Aufbauorganisation (AAO) heraus bewältigt.
satzabschnitt Rettungsdienst befindet sich außerhalb Bei komplexeren Einsatzlagen oder Großereignis-
des Gefahrenbereiches und wird in die Bereiche Pa- sen wird eine Besondere Aufbauorganisation (BAO)
tientenablage, Behandlungsplatz, Transportorganisa- gebildet und die eingesetzten Kräfte einheitlich ge-
tion und Betreuung/psychosoziale Unterstützung führt. Ein Polizeiführer leitet den gesamten Einsatz
unterteilt (. Abb. 24.1). und wird dabei von einem Führungsstab unter-
stützt. Die zugeordneten Kräfte werden in sog. Ein-
satzabschnitte (EA) gegliedert. Ein EA kann über
24.4 Polizei mehrere Unterabschnitte (UA) verfügen und eine
weitere Untergliederung in Unter-Unterabschnitte
> Die Polizei in Deutschland hat die Gefahren- (UUA) ist möglich. Dabei befindet sich der Polizei-
abwehr und Verfolgung von Straftaten und führer in der Regel nicht am Einsatzort sondern
Ordnungswidrigkeiten zur Aufgabe. Auch unter Umständen viele Kilometer entfernt z. B. in
Verkehrssicherheitsarbeit (Straße, Schiene, einem Polizeipräsidium. Das heißt, dass die Polizei
Schifffahrt und Luftfahrt), Personenschutz im Gegensatz zu Rettungsdienst und Feuerwehr
und polizeiliche Auslandsmissionen sind von hinten führt. Ein direkter Kontakt der jeweils
Beispiele für das umfangreiche Aufgaben- eingesetzten Führer findet also nicht statt. Dies er-
spektrum der Polizei. fordert den Einsatz von Verbindungsbeamten oder
366 Kapitel 24 · BOS
Fachberatern, um Informations- und Kommunika- SanG) verabschiedet, das am 01. Januar 2014 in
tionsprobleme zu minimieren. Kraft getreten ist und das RettAssG ablöst. Die Aus-
Für besondere Einsatzlagen, bei denen mit hoher bildungsdauer wird nun 3 Jahre betragen.
Gewaltbereitschaft oder Waffen- bzw. Sprengstoffe- Bei der Polizei erhält jeder Polizeivollzugsbe-
insatz gerechnet werden muss, sowie bei terroristi- amte (PVB) in der polizeilichen Basisausbildung
schen Aktionen, verfügen die Bundesländer über eine Erste-Hilfe-Ausbildung, die insgesamt 30 Stun-
Spezialeinsatzkommandos (SEK) und der Bund den beträgt und anschließend alle 2 (längstens 3)
über die GSG 9 der Bundespolizei. Diese unter- Jahre mit jeweils 8 Stunden wieder aufgefrischt wer-
24 scheiden sich vom sonstigen Polizeivollzugsdienst den soll. Inhaltlich richtet sich die Ausbildung nach
durch eine zusätzliche spezielle Ausbildung und der Erste-Hilfe-Breitenausbildung in Deutschland,
Ausstattung. die von der in der Bundesarbeitsgemeinschaft Erste
Hilfe (BAGEH) zusammenarbeitenden deutschen
Hilfsorganisationen erarbeitet und mit dem Deut-
24.5 Medizinische Ausbildung schen Beirat für Erste Hilfe und Wiederbelebung
bei der Bundesärztekammer abgestimmt wurde.
Die medizinische Ausbildung oder auch Erste-Hil- Damit wird auch den Forderungen des Arbeits-
fe-Ausbildung in den einzelnen Organisationen ist schutzes Genüge getan, wo im § 10 Arbeitsschutzge-
sehr unterschiedlich. setz (ArbSchG) der Arbeitgeber zu einer geeigneten
Bei der Feuerwehr ist jede Einsatzkraft in Erster Organisation von Erste-Hilfe- und sonstigen Not-
Hilfe ausgebildet und frischt diese Ausbildung regel- fallmaßnahmen verpflichtet ist. In der Realität ist es
mäßig auf. Hauptamtliche Feuerwehranwärter wer- jedoch häufig so, dass nach der Erste-Hilfe-Ausbil-
den in allen Bundesländern zu Rettungssanitätern dung während der polizeilichen Basisausbildung
ausgebildet – selbst wenn die Feuerwehr nicht im dieses Thema kaum noch oder gar nicht mehr ge-
Rettungsdienst arbeitet. Hauptamtliche Feuerwehren schult wird. Die Aufgabenvielfalt des täglichen Po-
und Berufsfeuerwehren, die Aufgaben im Rettungs- lizeidienstes ist so vielschichtig und komplex, dass
dienst wahrnehmen, bilden zum Rettungsassistenten für eine Erste-Hilfe-Auffrischung oft gar keine Zeit
aus. Bei der Mehrzahl dieser Feuerwehren sind alle ist. Wird sie dann trotzdem angeboten, können vie-
Einsatzkräfte auch Rettungsassistenten, um eine hohe le Beamte wegen Schichtdienst, Urlaub oder Krank-
Flexibilität in der Personalplanung zu erhalten. heit nicht teilnehmen und so ist es durchaus nicht
Im gewerblichen Rettungsdienst ist die Aus- selten, dass ein Polizist mehrere Jahre keinen Erste-
bildung zum Rettungssanitäter die Minimalvoraus- Hilfe-Unterricht mehr hatte. Außerdem werden
setzung. Die Ausbildungsdauer beträgt im Durch- durch die Ausrichtung auf Erste-Hilfe-Breitenaus-
schnitt 520 Stunden und beinhaltet neben theoreti- bildung spezielle Aspekte der im Polizeidienst häu-
schen Lehrinhalten auch ein Krankenhaus- und ein fig vorkommenden Krankheiten oder Verletzungs-
Rettungswachenpraktikum. In einigen Bundeslän- muster nur unzureichend berücksichtigt.
dern existiert, insbesondere bei den ehrenamtlichen Im regulären Erste-Hilfe-Kurs liegt der Schwer-
Kräften und im Katastrophenschutz, auch noch die punkt auf Erkrankungen, dies spiegelt auch die zivi-
deutlich kürzere Ausbildung (160–320 Stunden) le Realität wider. Im polizeilichen Einsatz liegt der
zum Rettungshelfer oder Rettungsdiensthelfer. Die Schwerpunkt aber bei den Verletzungen (stumpf
höchste nichtärztliche Qualifikation im Rettungs- und spitz). Die Versorgung dieser Verletzungen un-
dienst stellt der Rettungsassistent dar. Diese Berufs- ter taktischen Bedingungen wird hier nicht unter-
ausbildung existiert seit 1989, geregelt durch das richtet. Dies könnte durch Lehrinhalte aus der takti-
Rettungsassistentengesetz (RettAssG), und dauert schen Medizin ausgeglichen werden. Hierzu sind
2 Jahre. Sie soll den Rettungsassistenten sowohl auf jedoch viele Länderpolizeien erst am Beginn einer
die selbstständige Tätigkeit im Rettungsdienst vor- Entwicklung und schulen einzelne Elemente der tak-
bereiten als auch auf seine Rolle als Assistent des tischen Medizin, jedoch überwiegend nur bei den
Notarztes. Inzwischen wurde durch den Bundestag Spezialeinheiten oder im Vorfeld polizeilicher Aus-
und Bundesrat das Notfallsanitätergesetz (Not- landsmissionen.
24.6 · Absperrmaßnahmen
367 24
24.6 Absperrmaßnahmen
Faustfeuerwaffen
H&K P8 9 mm × 19 50 1500
Walther P1 9 mm × 19 50 1600
Maschinenpistolen
Maschinengewehre
Sturmgewehre
27200
180
2200
13600
140
4550 2000
90
1200
200
200
15
30 380
4–5
0,06
Wirkreichweite (m)
letaler Bereich bzw. schwerste Verletzungen
Splitterwirkung
. Abb. 24.3 Beispiel für den Gefahrenbereich bei verschiedenen Sprengmitteln
fliegen und dementsprechend auch Schaden anrich- Die o. g. Absperrungen bzw. Zonen gibt es aber
ten kann. auch bei Demonstrationen, Veranstaltungen und
Ähnlich verhält es sich bei Sprengmitteln. Be- Ansammlungen von Menschenmassen. Kommt es
trachtet man z. B. eine Handgranate, so muss man hier zu Ausschreitungen, Paniken oder Unfällen
nach einem Wurf vom Täter (durchschnittlich müssen auch hier Gefahrenbereiche eingehalten
30–40 m) bei der Explosion der Handgranate in werden. Eine Versorgung von z. B. mehreren ver-
einem Umkreis von 5 m mit schwersten oder sogar letzten Polizeibeamten bei einer gewaltsamen
tödlichen Verletzungen rechnen und eine Splitter- Demonstration, direkt am Ereignisort, kann sich
verletzung ist in einem Umkreis von bis zu 15 m zu ein ziviler Rettungsdienst sicher nicht vorstellen.
erwarten. Bei größeren Mengen Sprengstoff, die Somit sind nicht nur Spezialeinheiten, sondern
z. B. in Kraftfahrzeugen verbaut sind, beträgt der auch Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten
gefährliche Bereich bis über 2000 m (. Abb. 24.3). und geschlossene Einheiten sowie der polizeiliche
Häusliche Bebauung, Mauern oder ähnliche sta- Einzeldienst gefordert, eine der Lage angepasste
bile Bauteile schränken die Reichweite des Geschos- Versorgung in der inneren und vor der äußeren Ab-
ses zwar ein und können einen gewissen Schutz sperrung zu ermöglichen. Die taktische Medizin
bieten, führen jedoch zu Ablenkung und Reflexion zeigt, wann und wo welche Maßnahme ergriffen
von Geschossen und Splittern, so dass die Gefahr werden kann.
von Querschlägern besteht. Ein PKW bietet allen-
falls Sichtschutz und ist ansonsten als Deckung völ-
lig ungeeignet. All dies sollte bei der Planung von
Absperrungen oder Errichtung von Behandlungs-
plätzen sowie Übergabestellen von Verletzten an
den zivilen Rettungsdienst in einen sicheren Be-
reich berücksichtigt werden. Um Unfälle zu vermei-
den, sollte die maximale Reichweite von Geschos-
sen als Grenze des Gefahrenbereichs gelten.
371 25
Erstversorgung
im Polizeieinsatz
R. Bohnen
Bei allen Polizeieinsätzen und insbesondere bei Alle rechtlichen Vorschriften in Bezug auf Poli-
besonderen polizeilichen Lagen wie z. B. Geiselnah- zeieinsätze bezeichnen die medizinische Erstver-
men, Bedrohungslagen oder Zugriffsmaßnahmen sorgung als einen Bestandteil der polizeilichen Auf-
auf bewaffnete oder gewaltbereite Personen, steht gabe. Ziel ist u. a. die körperliche Unversehrtheit der
die Abwehr von Gefahren für Personen und Eigen- eigenen Einsatzkräfte, aber auch von Opfern, Tä-
tum im Vordergrund der Polizeiaufgaben. Dies geht tern oder sonstigen Personen. Gegenüber den eige-
alleine schon aus der für Bund und Länder gemein- nen Polizeivollzugsbeamten steht der Dienstherr
samen PDV 100 hervor. Danach gehört der Schutz zudem durch das Bundesbeamtengesetz in der
von Leben und körperlicher Unversehrtheit (Art. 2 Pflicht (§ 78 BBG Fürsorgepflicht des Dienstherrn),
Grundgesetz) zu einer der Hauptaufgaben der denn der Dienstherr hat im Rahmen des Dienst-
25 Polizei. Als daraus resultierende organisatorische und Treueverhältnisses für das Wohl der Beamtin-
Maßnahme wird explizit das Sicherstellen der me- nen und Beamten und deren Familien zu sorgen
dizinischen/ärztlichen Versorgung genannt. In den und sie bei ihrer amtlichen Tätigkeit und in ihrer
weiteren Ausführungen zur PDV 100 geht der Leit- Stellung zu schützen.
faden 150 konkret auf die Versorgung der Polizei im Hinzu kommt noch die Verpflichtung eines je-
Einsatz ein. Dabei ist bei Einsätzen mit erhöhtem den Bürgers, in Notsituationen Hilfe zu leisten
Verletzungs- bzw. Erkrankungsrisiko eine medizi- (§ 323c Strafgesetzbuch StGB), die natürlich auch
nisch/ärztliche Versorgung zu gewährleisten. Um den Polizeivollzugsbeamten im Einsatz nicht aus-
noch konkreter zu werden wird im Weiteren gefor- schließt.
dert, dass der Einsatz eigener medizinischer/ärztli- Aufgrund all dieser rechtlichen Vorschriften ist
cher Spezialkräfte der Inanspruchnahme medizini- es verständlich, dass die Polizeien von Bund und
scher Fachdienste vorzuziehen ist. Ländern in ihren Organisationsstrukturen sog.
In weiteren Dienstvorschriften, die z. B. die Polizeiärztliche Dienste aufweisen. In diesen Diens-
Maßnahmen bei Geiselnahmen oder im Personen- ten beschäftigen sich Ärzte und entsprechendes me-
schutz regeln, wird sogar die medizinische Erstver- dizinisches Fachpersonal (u. a. Rettungsassistenten,
sorgung als direkte Aufgabe der Polizei genannt. Rettungssanitäter, medizinische Fachangestellte)
Danach wird bei der entsprechenden besonderen neben der kurativen, arbeits- und sozialmedizini-
Aufbauorganisation für den Einsatz ein eigener schen Betreuung der Polizeivollzugsbeamten ins-
Unterabschnitt »medizinische Erstversorgung« er- besondere auch mit der medizinischen Erstversor-
wähnt, der als Aufgabe die Vorbereitung und gung im Polizeieinsatz. Sie begleiten die Polizeivoll-
Durchführung des Ersthelfereinsatzes und der not- zugsbeamten bei Großeinsätzen wie Demonstratio-
ärztlichen Versorgung sowie die Koordinierung des nen, Kundgebungen, Sportveranstaltungen oder
Rettungsdiensteinsatzes hat. In einem weiteren Un- ähnlichen und auch bei besonderen polizeilichen
terabschnitt »ärztliche Betreuung« wird zudem die Lagen und sichern so die Versorgung im Notfall.
medizinische, psychologische und seelsorgerische Darüber hinaus unterstützen sie bei polizeilichen
Betreuung von Einsatzkräften, Freigekommenen Übungen und Ausbildungen und organisieren die
und sonstigen Personen gefordert. Erste-Hilfe-Ausbildung aller Polizeivollzugsbeam-
Auch im Gesetz über den unmittelbaren Zwang ten, die auch arbeitsschutzrechtlich gefordert ist.
bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugs- Die personelle und materielle Ausstattung,
beamte des Bundes (UZwG) ist in § 5 die Hilfeleis- Qualifikation und Gewichtung der einzelnen Auf-
tung für Verletzte genannt. Demnach ist Verletzten, gabenbereiche wie Kurativmedizin, Arbeitsmedi-
wenn unmittelbarer Zwang angewendet wird, so- zin, Sozialmedizin, Aus- und Fortbildung etc. ist in
weit es nötig ist und die Lage es zulässt, Beistand zu den einzelnen Polizeiärztlichen Diensten von Bund
leisten und ärztliche Hilfe zu verschaffen. Als Ver- und Ländern allerdings teilweise sehr unterschied-
gleich zu den Bundesländern ist hier beispielhaft lich. Häufig überwiegen gutachterliche, arbeits-
der gleichlautende Artikel 63 des Polizeiaufgaben- schutzrechtliche, gesundheitspräventive und admi-
gesetzes (PAG) in Bayern zu nennen. nistrative Aufgaben. Dies fällt auch bei Stellenanzei-
25 · Erstversorgung im Polizeieinsatz
373 25
gen für Polizeiärztinnen und Polizeiärzte auf, wo die
ärztliche Versorgung der Polizei im Einsatz oft erst
an letzter Stelle der Aufgabenbeschreibung genannt
wird. Dabei ist dies die ureigenste Aufgabe eines
Polizeiärztlichen Dienstes.
Mitverantwortlich an diesem Zustand ist u. a.,
dass in den letzten Jahrzehnten durch Einsparmaß-
nahmen bei Bund und Ländern die ärztlichen und
auch Assistenzstellen oft nur noch im Angestellten-
verhältnis oder Verwaltungsbeamtenstatus besetzt
werden und nicht mehr im Polizeivollzugsdienst.
Dadurch haben diese Kräfte keine polizeilich-takti-
sche Ausbildung und auch keine Schutzausrüstung
wie ein Polizeibeamter. Auch sind sie dienstunfall-
rechtlich nicht abgesichert wie ein Polizeivollzugs-
beamter. Aber genau dies sind Voraussetzungen,
um im Gefahrenbereich eingesetzt werden zu
können.
Dies führt vielfach auch dazu, dass die Not-
wendigkeit für taktische Notfallmedizin von den
Entscheidungsträgern nicht ausreichend erkannt
wird und somit nur schleppend oder teilweise auch
gar nicht Einzug findet in die Aus- und Fortbildung
der Polizeikräfte bzw. in die ergänzende Beschaf-
fung von Material. Die Erste-Hilfe-Ausbildung ist
ausgerichtet an der Breitenausbildung in Deutsch-
land (7 Kap. 24) mit Hilfe des Auto-Verbandkastens.
Zusätzliches Material aus der taktischen Notfall-
medizin wie z. B. Tourniquets oder spezielle Ver-
bandpäckchen (7 Kap. 3) werden, z. T. auch aus Un-
kenntnis und genereller Ablehnung, gar nicht zur
Verfügung gestellt oder ihre Anwendung gelehrt.
Oftmals beschaffen sich Einsatzkräfte diese Materi-
alien selbst und besuchen privat Fortbildungskurse.
Das Interesse seitens der Polizeibeamten ist groß, da
sie den Bedarf im täglichen Einsatz erleben. Es fehlt
jedoch an einheitlichen Standards und Empfehlun-
gen zur taktischen Notfallmedizin, der dazugehöri-
gen Aus- und Fortbildung und oftmals auch der
Ausrüstung. Hier sind die Polizeiärztlichen Dienste
gefordert, Konzepte zu entwickeln und umzusetzen.
Denn eines muss klar sein: die Hauptaufgabe der
Polizeiärztlichen Dienste ist die medizinische Erst-
versorgung im Polizeieinsatz, um so die Lücke zum
zivilen Rettungsdienst zu schließen, der im Gefah-
renbereich nicht arbeiten kann und teilweise auch
nicht darf.
375 26
Schnittstellenproblematik
R. Bohnen
26.1 Rechtliche Situation Schutz oder die Rettung von Menschenleben. Le-
diglich die originären Aufgaben bzw. der Blickwin-
Die Bundesrepublik Deutschland ist mit den einzel- kel sind jeweils unterschiedlich, was manchmal zu
nen Bundesländern föderal aufgestellt und jedes Konflikten führen kann. Während der Rettungs-
Bundesland führt die staatlichen Befugnisse und die dienst sich schnellstmöglich um die Überprüfung
Erfüllung staatlicher Aufgaben grundsätzlich selbst von Vitalfunktionen und Behandlung von lebens-
aus. Dies ergibt sich aus Artikel 30 Grundgesetz. gefährlichen Verletzungen oder Erkrankungen
Das führt dazu, dass es hinsichtlich Aufbau, Orga- kümmert, sichert die Polizei den Einsatzort, nimmt
nisation, Struktur und Zusammenarbeit von Ret- Täter fest, befragt Zeugen oder sichert Beweismittel
tungsdienst, Feuerwehr und Polizei keine einheitli- für eine mögliche Strafverfolgung. Durch jahrelan-
che Regelung gibt. Hinzu kommen unterschiedliche ge Erfahrung und häufig wiederkehrende Einsatz-
Zuständigkeiten dahingehend, dass Gefahrenab- muster hat sich in den meisten Fällen in der Zusam-
wehrbehörden in den Bundesländern beispielsweise menarbeit zwischen Polizei und Rettungsdienst/
26 dem Landesinnenministerium, Sozialministerium Feuerwehr eine gewisse Routine entwickelt und
oder Ministerium für Arbeit und Gesundheit unter- eventuell auftretende Konflikte werden direkt nach-
stellt sind. Teilweise sind für die Aufgaben nach geregelt und besprochen.
Weisung auch die Kommunen örtlich und sachlich Anders ist dies bei besonderen Einsatzlagen
zuständig. Dies ergibt sich aus Artikel 28 II Grund- oder Großlagen bzw. Naturkatastrophen, die nicht
gesetz. so häufig auftreten, sehr individuelle Verläufe neh-
Für die Polizei besteht u. a. die gesetzliche Auf- men können und schon von vorneherein eine ande-
gabe der Gefahrenabwehr und damit der Schutz der re Einsatzführungsstruktur mit sich bringen. Hier
öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Dabei um- können sich Zuständigkeiten überschneiden, und
fasst öffentliche Sicherheit sowohl die gesamte es gibt keine gesetzliche Regelung, wer in diesen
Rechtsordnung, die verfassungsmäßige Ordnung Fällen weisungsbefugt ist. Die Polizei ist nicht be-
und der Schutz von Individualrechtsgütern, zu de- fugt, in die öffentlich-rechtliche Tätigkeit anderer
nen neben Leben und Gesundheit auch Vermögen Behörden einzugreifen und umgekehrt. Lediglich
und Sachgüter sowie Freiheit und Ehre zählen. Die gegenseitige Empfehlungen können ausgesprochen
öffentliche Ordnung umfasst die Gesamtheit der werden und entsprechende fachliche Beratungen
ungeschriebenen Regeln für das Verhalten des ein- stattfinden. Dies ist auch in den Landesteilen der
zelnen in der Öffentlichkeit. Dienstvorschriften der einzelnen Behörden im
Die Hauptaufgabe des zivilen Rettungsdienstes Sinne von Grundsätzen für die Zusammenarbeit
ist die sachgerechte Hilfe bei medizinischen Not- von Polizei, Rettungsdienst und Betreuungsdienst
fällen aller Art und die Rettung von Menschen- in besonderen Lagen dargestellt. Dabei wird eine
leben. Sie ist in entsprechenden Ländergesetzen abgestimmte Zusammenarbeit gefordert, eine
geregelt, genauso wie die Aufgaben der Feuerwehr. leistungsfähige Organisation auf allen Seiten, eine
Sehr häufig kommt es bei Einsätzen zu einem rechtzeitige Information und angepasste Koordina-
gleichzeitigen Handeln von Polizei und Rettungs- tion der Einsatzabläufe. Dazu soll ein Fachberater
dienst bzw. Feuerwehr. So wird z. B. beim Erstein- des Rettungsdienstes oder der Feuerwehr in den
treffen der Polizei bei Verkehrsunfällen, Schläge- Führungsstab der Polizei integriert werden. Auf-
reien oder anderen Gewalttaten mit Auftreten von gabe ist z. B. die Festlegung von Bereitstellungs-
verletzten Personen der Rettungsdienst nachalar- räumen, Gefährdungsbereichen, Übergabestellen
miert. Bei Rettungsdiensteinsätzen durch unkon- von Verletzten und medizinischen sowie psycholo-
trollierbare Situationen, z. B. durch alkoholisierte gischen Versorgungs- und Betreuungsbereichen.
oder aggressive Patienten oder sonstige beteiligte Dies soll in gemeinsamen Übungen trainiert wer-
Personen oder bei Verdacht auf Straftaten, wird die den, um Verhaltenssicherheit in der Zusammenar-
Polizei im Rahmen der Amts- oder Vollzugshilfe beit zu gewährleisten und mögliche Schnittstellen-
hinzugerufen. In der Regel verfolgen die beteiligten probleme zu erkennen und entsprechend nachzu-
Behörden ein gemeinsames Ziel, nämlich den bereiten.
26.3 · Problemfelder bei gemeinsamen Einsatzlagen
377 26
26.2 Eigenschutz In der Realität wird dem Rettungsdienst daher
ein Bereitstellungsraum außerhalb des Gefahren-
An manchen Einsatzstellen ist eine rasche medizi- bereiches (kalte Zone) zugeteilt. Ein Einsatz inner-
nische oder technische Hilfe erforderlich, um die halb der inneren Absperrung (heiße Zone) erfolgt
Überlebenschance von verletzten Personen zu er- immer nur nach Absprache mit der Polizei. Ein der-
höhen und mögliche Sekundärschäden abzuwen- artiger rettungsdienstlicher Einsatz kann jedoch
den. Trotz dieses Zeitdrucks hat das Rettungsdienst- nur freiwillig erfolgen, da eine Eigengefährdung
personal an jedem Einsatzort das Risiko der Eigen- nicht ausgeschlossen werden kann und es keine
gefährdung immer genau abzuschätzen. Als mögli- rechtliche Grundlage dafür gibt, das Rettungs-
che Merkregel für das Verhalten bei Eintreffen an dienstpersonal zu zwingen, in einem solchen Ge-
Einsatzstellen wird bereits in der Ausbildung die fahrenbereich zu arbeiten. Auch die Ausbildung,
sog. GAMS-Regel gelehrt. Diese gilt zwar primär für Ausrüstung und berufliche Verpflichtung befähigt
Gefahrgutunfälle, ist aber auch generell für die Be- nicht zu Aktionen in einem Gefahrenbereich. Da-
urteilung jeder Einsatzstelle nützlich. Teilweise wird her müssen verletzte Personen dem Rettungsdienst
bereits bei der Anfahrt auf Gefährdungen und Risi- an einen sicheren Behandlungsplatz zugeführt wer-
ken am Einsatzort hingewiesen, oder es erfolgt eine den. Diese Menschenrettung aus der Gefahrenlage
Lageerkundung vor Ort, um Gefahren zu erkennen, obliegt aufgrund gesetzlichem Auftrag bei polizeili-
erste abwehrende Maßnahmen zu ergreifen oder chen Lagen der Polizei und bei nicht polizeilichen
Spezialkräfte nachzualarmieren. Lagen der Feuerwehr. Erst danach erfolgen die ret-
tungsdienstliche Versorgung und der Transport in
GAMS-Regel eine geeignete medizinische Einrichtung.
5 G = Gefahr erkennen Zu diesem Sachverhalt gibt es auch bei den ver-
5 A = Absperrung errichten antwortlichen Personen in Polizei und Rettungs-
5 M = Menschenrettung durchführen dienst sehr unterschiedliche Einstellungen. Zumal
5 S = Spezialkräfte anfordern es für die Polizei bedeutet, eine irgendwie definierte
medizinische Erstversorgung in einer heißen Zone
einschließlich Evakuierung, Transport und Über-
Dabei gilt für jeden Rettungsdienstmitarbeiter und gabe an den Rettungsdienst in einem sicheren Be-
die Feuerwehr, dass ein Einsatz mit Gefährdung reich mit eigenen Kräften durchführen zu müssen,
für das eigene Leben oder die Gesundheit grund- wenn sich keine Freiwilligen aus dem Rettungs-
sätzlich abzulehnen ist. Zwar beschreibt die Feuer- dienst finden lassen. Die Polizei ist per Gesetz ver-
wehrdienstvorschrift 100 (FwDV 100) das Retten, pflichtet, Hilfe auch im Gefahrenbereich zu leisten
In-Sicherheit-bringen und Schützen von Menschen bzw. Gefahren abzuwehren, welche die öffentliche
als primäres Einsatzziel. Aber in vielen Fällen ist Sicherheit gefährden. Dies verdeutlicht noch einmal
die Rettung nur möglich, wenn zuvor vorhandene die Notwendigkeit der Ausbildung und Anwendung
Gefahren beseitigt oder zumindest eingegrenzt von taktischer Notfallmedizin durch die Polizei.
werden. Schon in der Laufbahnausbildung werden
z.B. bei der Feuerwehr als Leistungsspektrum die-
jenigen Gefahren gelehrt, die sie kennen und 26.3 Problemfelder bei gemeinsamen
bekämpfen können. Hierzu gehören sicher nicht Einsatzlagen
polizeiliche Lagen, bei denen durch Bedrohung
mit Schusswaffen oder Explosivstoffen durch das Die Schnittstelle zwischen Polizei und Rettungs-
polizeiliche Gegenüber mit direkter Gefahr für das dienst/Feuerwehr kann in besonderen polizeilichen
eigene Leben gerechnet werden muss. Feuerwehr Lagen wie z. B. Geiselnahmen, Amokläufen oder
und Rettungsdienst sind nicht verpflichtet, in sonstigen Bedrohungslagen mit bewaffneten Tätern
einem solchen Gefahrenbereich zu arbeiten und für die Rettung von Menschenleben von entschei-
teilweise ist es ihnen sogar per Dienstanweisung dender Bedeutung sein. Kommt es hier durch Un-
untersagt. kenntnis oder Wissensmangel zu Informations-
378 Kapitel 26 · Schnittstellenproblematik
verlusten, kann dies die medizinische Versorgung Rettungsdienst von einer Patientenablage oder
von verletzten Personen verzögern oder behindern einem Behandlungsplatz, während die Polizei für
und so eventuell zu vermeidbaren gesundheitlichen die gleiche Struktur den Begriff Verletztensammel-
Schäden und im schlimmsten Fall zum Tod führen. stelle verwendet. Alleine schon durch diesen unter-
Ein Hauptmangel ist sicherlich, dass die Behör- schiedlichen Sprachgebrauch kann es zu Missver-
den untereinander wenig von den jeweilig anderen ständnissen kommen und das Kommunikations-
Strukturen und Handlungsweisen wissen. So weiß problem ist vorprogrammiert.
die Polizei z. B. wenig über die Fahrzeugzusammen- Für die meisten Einsatzlagen hat jede Behörde
stellung bei Feuerwehreinsätzen und kann so nicht für sich ein Einsatzkonzept mit entsprechenden
abschätzen, wie viel Bereitstellungsplatz an der Ein- Handlungsanweisungen erstellt. Nur in den seltens-
satzstelle zur Verfügung gestellt werden muss bzw. ten Fällen werden diese Konzepte miteinander ab-
welche An- und Abfahrtswege geeignet sind und gestimmt oder gemeinsam erarbeitet. So können
freigemacht werden müssen. Auch weiß die Polizei Schwachstellen im Vorfeld nicht erkannt und be-
26 in vielen Fällen wenig über Sondereinheiten bei seitigt werden und im Falle eines realen Einsatzes
Feuerwehr und Rettungsdienst wie z. B. Höhenret- erst in Erscheinung treten, wenn es eventuell schon
tung, Hundestaffeln, Tauchergruppe, Spezialfahr- zu spät ist, darauf zu reagieren.
zeuge oder -ausrüstung. Im Rahmen der Laufbahn- In den letzten Jahren ist es in Deutschland durch
ausbildungen oder Fortbildungen werden die be- Häufung von Amokläufen, insbesondere an Schu-
nachbarten Behörden in der Einsatzlehre zwar be- len, zu ersten Ansätzen gekommen, gemeinsame
nannt, aber nicht vertiefend behandelt. Auch Einsatzkonzepte zu erarbeiten und in ihnen die Be-
gegenseitige Hospitationen oder Praktika erfolgen lange der jeweilig anderen Behörde bereits in der
in der Regel nicht, sodass man über die Fähigkeiten Planung ausreichend zu berücksichtigen. Dabei
und Strukturen der jeweilig anderen Behörde zeigen sich sehr unterschiedliche Lösungsansätze
meistens kein fundiertes Wissen hat. Dies kann zu deren Erfolge erst in der Zukunft beurteilt und ggf.
falschen Vorstellungen führen, die im Einsatz feh- angepasst werden können. Fakt ist aber, nur wenn
lerhafte Beurteilungen verursachen. In der Aus- man etwas ausprobiert hat, weiß man ob es funk-
bildung bei Rettungsdienst und Feuerwehr wird tioniert und erkennt was nicht funktioniert.
wesentlich mehr Einblick über die Organisation
und Aufgaben der Polizei gegeben, weil man im
Rahmen der Amts- und Vollzugshilfe häufig auf die
Unterstützung der Polizei angewiesen ist.
An gemeinsamen Einsatzstellen bei Großlagen
wird von Polizei und Rettungsdienst jeweils ein
eigener Führungsstab getrennt voneinander einge-
richtet. Lediglich ein Verbindungsbeamter vom
Rettungsdienst soll in den Führungsstab der Polizei
integriert werden. Dies ist insofern nachzuvoll-
ziehen, als dass polizeitaktische Konzepte nicht in
der breiten Öffentlichkeit eines gemeinsamen
Führungsstabes preisgegeben werden können. Den-
noch kommt es bei zwei getrennten Führungsstäben
durch Kommunikationsdefizite unweigerlich zu
Informationsverlusten und so u. U. auch zu Fehlent-
scheidungen.
Hinzu kommt, dass in den einzelnen Behörden,
insbesondere in der Einsatztaktik, unterschied-
liches Fachvokabular benutzt wird, obwohl man
eigentlich das Gleiche meint. So spricht etwa der
379 27
TEMS
R. Bohnen
Literatur – 387
Umgebung Einsatz erst nach Herstellen einer Einsatz in warmer und heißer Zone
sicheren Lage (kalte Zone)
Zugang zum Einfach zugänglich durch Erschwerter Zugang durch Schutzweste, Helm, Einsatz-
Patienten normale Kleidung ausrüstung etc.
27
Zeitfaktor Kurze Phase der präklinischen Häufig verlängerte Phase der präklinischen Versorgung
Versorgung durch fortlaufende taktische Operation
Massenanfall von Zieht automatisch Alarmierung Häufig keine weiteren Ressourcen vorhanden
Verletzten (MANV) von weiterem Personal nach sich
nach festem Schema
Patientensichtung Durch leitenden Notarzt (LNA) Unter Umständen durch taktischen Ersthelfer vor Ort
durch z. B. Stürze oder Verkehrsunfälle. Der Erst- tungsstabile medizinische Erstversorgung in einer
helfer im taktischen Umfeld eines Polizeieinsatzes, warmen oder heißen Zone ermöglicht. Dadurch soll
speziell auch bei Einsätzen von Spezialkommandos, nicht der zivile Rettungsdienst ersetzt werden, son-
dagegen ist mit Schuss- oder Explosionsverletzun- dern nur die medizinische Versorgung zeitlich frü-
gen konfrontiert. Es kann nicht auf ein komfortabel her und örtlich näher an den Zeitpunkt der Verlet-
ausgestattetes Rettungsmittel oder die Nachalar- zung gebracht werden, um so eine Brücke zum zivi-
mierung eines Notarztes zurückgegriffen werden len Rettungsdienst herzustellen und im Sinne eines
und die Evakuierungs- oder auch Transportzeiten besseren Behandlungsresultates für den Verletzten
in eine Einrichtung mit höhergradiger Versor- die Versorgungslücke zu schließen, die sonst entste-
gungsmöglichkeit sind limitiert. Dabei kommt man hen würde, da der zivile Rettungsdienst aus Eigen-
bei polizeilichen Einsätzen den Bedingungen bei sicherungsgründen nicht in warmen oder heißen
militärischen Einsätzen nahe und unterscheidet Zonen eingesetzt werden kann. Die therapiefreie
sich hier im Wesentlichen nur durch den Auftrag. Zeit wird erheblich verkürzt.
Während Polizei sich auf Gewaltkriminalität und
Terrorismusbekämpfung fokussiert, stehen beim
Militär Friedensmissionen, Stabilisierung in kriegs- 27.5 Vorteile des TEMS-Konzeptes
ähnlichen oder Konfliktlagen und humanitäre Ein-
sätze im Vordergrund. Auch in der heutigen Zeit wird von den verantwort-
Diese Unterschiede und die für die taktische lichen Personen in Führungspositionen von Polizei
Notfallmedizin erforderlichen Lösungsmöglichkei- und auch Politik der Sinn und Zweck der Imple-
ten sind im TEMS-Konzept berücksichtigt. Durch mentierung eines TEMS-Konzeptes oder der Aus-
besondere medizinische Fähigkeiten und Fertigkei- bildung von medizinischen Ersthelfern leider häu-
ten (sog. »skills«) und intensivem lagenbasiertem fig in Frage gestellt, insbesondere im Hinblick auf
Training wird eine handlungssichere und belas- die Zeit, das Geld und den Arbeits- und Ausbil-
27.7 · Medizinische Grundversorgung
383 27
dungsaufwand, den man dafür investieren muss. diensteten abzuwenden, trägt die Implementierung
Dabei lassen sich die Vorteile und Ziele eines sol- eines TEMS-Konzeptes als eine Möglichkeit Rech-
chen Konzeptes sehr vielfältig darlegen. Das haupt- nung.
sächliche Ziel ist die Erhöhung der Erfolgswahr- Dabei beinhaltet TEMS nicht nur den Aspekt
scheinlichkeit für die Gesamtbewältigung der Poli- der taktischen Notfallmedizin im Einsatz, sondern
zeioperation. Die Bereitstellung einer limitierten spiegelt sich in zahlreichen weiteren Aufgaben wie-
medizinischen Ressource wird gemessen an der der wie z. B. Prävention, medizinische Grundver-
Auswirkung auf die Gesamtsituation und nicht nur sorgung in Alltag, Training und Einsatz und Ein-
auf den individuellen Verletzten. Oftmals scheint es satzplanung. In allen Teilbereichen ist das Hauptziel
für Außenstehende befremdlich, dass ein Einsatz- die Gesunderhaltung und Fitness des Teams, was
leiter Entscheidungen fällen kann oder auch muss, schlussendlich zum Einsatzerfolg mit beiträgt.
die dazu führen, dass ein Verletzter zunächst nicht
oder verspätet erst behandelt wird. Der Ersthelfer
im Team kann den Leiter zwar beraten, aber die 27.6 Prävention
letztendliche Entscheidung trifft der Einsatzleiter
im Hinblick auf das Gesamtgelingen des Einsatzes. Die Prävention beinhaltet neben Vorsorgeuntersu-
TEMS beinhaltet also mehr als nur das medizini- chungen auch Aspekte von Ernährung, Fitness- und
sche Problem. Im Ernstfall kann die bestmögliche Trainingsprogrammen. Außerdem wird die Immu-
medizinische Versorgung unter Vernachlässigung nisierung der Teammitglieder überwacht und Auf-
des operativ taktischen, polizeilichen Auftrages klärung und Vorbeugung betrieben zu Hygiene,
noch weitere Verletzte oder sogar Tote verursachen. Lebensmittel- und Trinkwasserbedingte Erkran-
> Jede medizinische Entscheidung muss im
kungen und Besonderheiten bei Einsätzen unter
taktischen Gesamtkontext abgestimmt
extremen klimatischen Bedingungen, was ins-
werden und für diese Beratung ist das medi-
besondere für polizeiliche Auslandslagen oder
zinisch geschulte Teammitglied ein entschei-
-missionen von Bedeutung ist. Zudem beschäftigt
dender Faktor.
man sich im Präventionsbereich mit Themen wie
Dehydrierung, Auswirkungen von Hitze und Kälte
Als weiterer Vorteil eines TEMS-Konzeptes für spe- oder Auswirkungen des Schlaf-Wachrhythmus auf
zielle polizeiliche Lagen ist die Reduzierung von die Leistungsfähigkeit.
Mortalität und Morbidität für Polizeikräfte, aber Ebenfalls zur Prävention gehört das Mitwirken
auch für Täter und unschuldig Beteiligte. Schutz bei der Auswahl von Schutzausrüstung wie z. B.
von Leben und Sachgütern sind eine Hauptaufgabe ballistischer Schutzhelm und -weste oder Splitter-
der Polizei im Kontext von Schutz der öffentlichen schutzbrillen.
Sicherheit und Ordnung. Die Sensibilisierung für spezielle medizinische
Hinzu kommt die Reduzierung von Dienstun- Themen wie Wundballistik oder Wundmanage-
fällen und Arbeitsunfähigkeitskosten durch Prä- ment wird in Form von Ersthelfertraining oder
vention und bei eingetretener Verletzung durch Schulungen in Selbst- und Kameradenhilfe durch-
rechtzeitige, adäquate Behandlung. Dadurch entste- geführt.
hen auch geringere Dienstausfallzeiten und der Ebenso erfolgen nach Einsätzen entsprechende
hoch qualifizierte Spezialbeamte steht für nächste Debriefings zur Vorbeugung von posttraumati-
Einsätze schneller wieder zur Verfügung. schen Belastungsstörungen.
Die Wertschätzung und Fürsorge, die das
Team durch eine verbesserte Gesundheitsvorsorge
und -versorgung erfährt, resultiert in eine gesteiger- 27.7 Medizinische Grundversorgung
te Moral im Team was auch für die Bereitschaft,
kalkulierte Risiken und gefährliche Situationen ein- Die medizinische Grundversorgung beinhaltet die
zugehen, nicht ganz unerheblich ist. Der Verant- adäquate Behandlung von typischen Alltagserkran-
wortung des Dienstherrn, Schaden von den Be- kungen und -verletzungen und, falls erforderlich,
384 Kapitel 27 · TEMS
die notwendige Weiterleitung an entsprechende Tätern eine Herauslösung dieser Person erwirkt
Fachärzte. Diese Erkrankungen und Verletzungen werden.
treten nicht nur im Alltag auf sondern bezüglich der Der Einsatzleiter wird insgesamt beraten
Verletzungen insbesondere im Training. Hier wer- 4 zur medizinischen Erstversorgung, falls es
den neue Einsatzkonzepte erprobt und in Worst- während des Zugriffs zu Schusswechsel oder
case-Szenarien für spezielle Einsätze simuliert, was Explosionen kommt,
selbstverständlich häufig zu Verletzungen führen 4 zur Kräfteverteilung und
kann. Diese gilt es umgehend medizinisch und/oder 4 zur Festlegung von Verletztensammelstellen
sport- oder physiotherapeutisch zu behandeln, um und Übergabebereichen an den zivilen Ret-
die Einsatzfähigkeit des Beamten schnellstmöglich tungsdienst.
wieder herzustellen. Auch soll vermieden werden,
dass kleinere Verletzungen bagatellisiert werden Die Identifizierung von heißer und warmer Zone
und unbehandelt bleiben, was ggf. später zu Folge- und die Festlegung der kalten Zone gehören ebenso
schäden führen kann. zur Aufgabe des TEMS-Sanitäters oder Arztes, um
In einem Einsatz, der über mehrere Tage dauert, die Kräfte des zivilen Rettungsdienstes davor zu
27 z. B. wenn ein Täter sich mit Geiseln in einem Ge- schützen, sich einer gefährlichen Situation auszu-
bäude verschanzt hat, kommt die medizinische setzen.
Grundversorgung ebenso zum Tragen, um die Ge- Im Vorfeld werden die lokalen Krankenhäuser
sundheit des Teams während des Einsatzes aufrecht und Traumazentren sowie die kürzesten Fahrtwege
zu erhalten und nicht kurzfristig erkrankte Team- und auch Alternativrouten aufgeklärt. Außerdem
mitglieder auswechseln zu müssen. wird die Möglichkeit des Lufttransportes von
Schwerstverletzten überprüft und generell die
Transportmittel organisiert und koordiniert.
27.8 Einsatzplanung Mit der Rettungsleitstelle vor Ort wird Kon-
takt aufgenommen, Kommunikationswege geklärt
Vor jeder polizeilichen Spezialoperation spielt die und am Einsatzort wird ein sicherer Bereitstellungs-
Einsatzplanung eine wichtige Rolle und beinhaltet raum für den Rettungsdienst festgelegt und die
auch immer Aspekte der medizinischen Erstversor- Kräfte der Lage entsprechend eingewiesen und
gung und der Evakuierung. Dabei geht es nicht nur koordiniert.
um die eigenen Kräfte sondern auch um die körper- Ebenfalls berät der TEMS-Sanitäter oder -Arzt
liche Unversehrtheit von Geiseln oder unbeteiligten den Einsatzleiter über verschiedene Evakuierungs-
Dritten, aber auch von Tätern. Daher gilt es im möglichkeiten und -alternativen, falls ein geordne-
Rahmen der Einsatzplanung Erkenntnisse über den tes Verlassen des Einsatzraumes wegen plötzlicher
Zustand oder die Vorerkrankungen von Beteiligten Ereignisse (Ausbruch von Feuer, Explosion etc.)
zu gewinnen, um den Einsatzleiter über mögliche nicht mehr möglich ist.
Komplikationen während der weiteren Lageent-
wicklung beraten zu können, was unter Umständen
Einfluss auf das taktische und zeitliche Gesamt- 27.9 Medizinische Erstversorgung
konzept haben kann. Diese Ferneinschätzung von
möglichen gesundheitlichen Entwicklungen bei Das Herzstück des TEMS-Konzeptes ist jedoch die
Geiseln und Dritten wird im Bereich der taktischen effektive Behandlung eines Verletzten noch wäh-
Medizin unter dem Begriff »medicine across the rend einer fortlaufenden Operation, die taktische
barricade« geführt und gehört immer mit in die Notfallmedizin. Die Kontrolle lebensbedrohlicher
Einsatzplanung und die damit verbundene Aufklä- Blutungen und die Behandlung von Atemwegs-
rung. Dadurch können z. B. bei bestimmten Erkran- obstruktion oder Spannungspneumothorax profi-
kungen von Geiseln entsprechende Medikamente tieren nachweislich von der zeitnahen Behandlung,
besorgt werden, spezielle Kliniken vorinformiert die nicht abschließend sein muss oder nach Lehr-
werden oder sogar über die Verhandlung mit den buch, wie es vielleicht im Schockraum oder Opera-
27.10 · Ausbildung
385 27
tionssaal eines Krankenhauses möglich ist, aber nische Notfälle dokumentiert und die Ereignisse
lebenserhaltend. Es sind die wichtigsten und dring- analysiert um ggf. Rückschlüsse und vorbeugende
lichsten Behandlungsindikationen während eines Maßnahmen für zukünftige Einsätze zu treffen. In
Polizeieinsatzes von Spezialeinheiten und nicht wie der Nachbereitung kann zusätzlich die Rehabilitati-
z. B. im zivilen Rettungsdienst die Immobilisierung on verletzter Beamten durch eine geeignete Koordi-
der Wirbelsäule und Überprüfung von Herz-Kreis- nation zwischen Ärzten, Krankenhäusern und
lauf-Parametern. Reha-Einrichtungen optimiert werden und gleich-
Die Entscheidung einer schnellen Evakuierung zeitig die Familie und Dienststelle in die Wiederein-
zu einem Ort der definitiven Versorgung gegenüber gliederung mit eingebunden werden.
einer Durchführung erweiterter medizinischer Das TEMS-Konzept ist somit extrem vielseitig
Maßnahmen noch am Einsatzort kann nur von und beinhaltet neben den genannten Bereichen des
einem medizinisch Erfahrenen getroffen werden, Teams Health Managements (mit Prävention,
der den Einsatzleiter dahingehend berät. Allerdings Grundversorgung und Regeneration) auch alle
unterliegt er der gesamt taktischen Entscheidung Aspekte der Aus- und Weiterbildung, Inübunghal-
und muss in der Lage sein, eventuelle Verzögerun- tung, Weiterentwicklung, Qualitätsmanagement, Be-
gen bis zur endgültigen Evakuierung überbrücken schaffung und Pflege von medizinischer Ausrüstung
zu können. Dabei kann es wichtig sein, den Verletz- und die gesamte Einsatzplanung und taktische Not-
ten aus dem Schussfeld in eine sichere Deckung zu fallmedizin zum Zweck der bestmöglichen medizini-
verbringen, um dort weitere medizinische Maßnah- schen Versorgung und damit zur Gewährleistung des
men vornehmen zu können. Gesamterfolges der taktischen Operation.
Beim Auftreten mehrerer Verletzten muss eine
Sichtung erfolgen und die Priorität der Behand-
lung an die vorhandenen Ressourcen angepasst 27.10 Ausbildung
werden.
Bei der Übergabe an den Rettungsdienst kön- Für die vielseitigen Aufgaben und Besonderheiten
nen wichtige Aspekte der Anamnese eines eigenen des TEMS-Konzeptes ist eine entsprechende Aus-
Kameraden wie z. B. Allergien oder Medikamenten- und Weiterbildung von großer Bedeutung. Hiermit
einnahme als wichtige Information an die weiter- ist nicht nur die Schulung aller Teammitglieder in
behandelnden Ärzte in der Klinik weitergegeben Basismaßnahmen der Ersten Hilfe und taktischen
werden. Medizin gemeint, sondern insbesondere der Ein-
Auch kann es psychologisch von Vorteil sein, satzsanitäter und -ärzte. Durch die Unterschiede
wenn bei der Information an die Familienange- zur zivilen Notfallmedizin bedarf es zusätzlicher
hörigen eines im Einsatz verletzten Beamten ein Aus- und Weiterbildung speziell in taktischer Medi-
TEMS-Sanitäter oder Arzt anwesend ist und zwi- zin. Dazu gibt es heute entsprechende Kurse durch
schen Familie und Krankenhaus vermitteln kann. Militär, Polizei und kommerzielle Anbieter.
Ein weiterer Aspekt während des laufenden Ein- Die ersten Kurse fanden 1989 in Los Angeles
satzes stellt die Beweissicherung dar. Hier könnten statt und waren initiiert von einem SWAT-Team-
für die späteren Ermittlungen wichtige Indizien für leiter, der zuvor als Sanitäter in einer US Army
die Beweiskette durch die erfolgten medizinischen Spezialeinheit tätig war und einem Sanitätsbeamten
Maßnahmen vernichtet werden und somit verloren der medizinischen Unterstützungseinheit des Los
gehen. Durch entsprechende forensische Schulung Angeles County Sheriff`s Department. Die Kurse
kann dies verhindert werden. fanden unter der Schirmherrschaft des Gründers
Am Einsatzende wird durch die Mitwirkung bei der »National Tactical Officers Association«
»Stress-Incident-Management-Programmen«, die (NTOA) statt, eines Verbandes amerikanischer
psychische Belastung des Einsatzes beleuchtet, um Polizisten, und fanden sehr rasch reges Interesse.
entsprechende Belastungsreaktionen frühzeitig zu Dadurch wurde 1990 die amerikanische Militäruni-
erkennen und so einer Belastungsstörung entgegen- versität mit ihrem 1989 gegründeten Forschungs-
zuwirken. Außerdem werden aufgetretene medizi- zentrum für Verwundetenversorgung (»Casualty
386 Kapitel 27 · TEMS
Care Research Center«) auf die Kurse aufmerksam und führen schon zu Problemen bei der Zuweisung
und man entwickelte unter dem Dach des Verteidi- von erweiterten Maßnahmen für Rettungsassisten-
gungsministeriums den sog. »Counter Narcotics ten im zivilen Rettungsdienst. Erheblich kompli-
Tactical Operations Medical Support Course« zierter wird es dann natürlich erst recht für Nicht-
(CONTOMS). In diesem Kurs wird Rettungsdienst- Sanitätspersonal. Aber es gilt dringend diese Prob-
personal speziell geschult sowohl in taktischer leme zu beseitigen und für die Thematik zu sensibi-
Medizin aber insbesondere auch in allgemeiner lisieren. Denn im Ernstfall hängt davon das Leben
Einsatztaktik, Waffentechnik oder Wundballistik. eines Beamten oder Zivilisten ab.
Etwa 10 Jahre später nahmen auch Kurse zu, in Neben den Aus- und Fortbildungsprogrammen
denen Polizeibeamte von Spezialeinheiten in spe- bei der Bundeswehr und einigen Polizeibehörden
ziellen medizinischen Basismaßnahmen trainiert fassen auf dem wachsenden Gebiet der taktischen
wurden (SAEMT, »Special Agent Emergency Medizin auch zunehmend kommerzielle Anbieter
Medical Technician Program«) und dann zusätz- Fuß. Diese Firmen entstehen meist durch ehemalige
lich zu ihrer polizeilichen Arbeit die Aufgaben des Soldaten oder Polizisten von Spezialeinheiten mit
TEMS-Konzeptes wahrnahmen. Spätestens seit der zusätzlicher medizinischer Weiterbildung, die ihr
27 Veröffentlichung der Richtlinien der taktischen Wissen und ihre Erfahrungen weitergeben wollen.
Verwundetenversorgung (»Tactical Combat Casu- Im Vordergrund stehen Verletzungsszenarien, die
alty Care«, TCCC) für den militärischen Bereich im in eine taktische Gesamtsituation eingebaut wer-
Jahr 1996 hat die Anzahl der angebotenen Kurse den, so dass der Trainingseffekt sowohl die taktische
zugenommen und wesentliche Inhalte und Erfah- als auch die medizinische Komponente berücksich-
rungen aus diesen Richtlinien fließen auch in die tigt. Die Trainings finden sowohl mit Laiendarstel-
Ausbildung für Spezialeinheiten der Polizei mit ein. lern als auch mit Patientensimulatoren statt, um das
Seit den Ereignissen des 11. Septembers 2001 Szenario so realitätsnah wie möglich darstellen zu
und der Zunahme von terroristischer Bedrohung können. Bei besonderen medizinischen Techniken
und Anschlägen insgesamt nimmt die Bedeutung wie z. B. intraossären Zugängen, der Koniotomie,
und Notwendigkeit von medizinischer Erstversor- der Anwendung von Hämostyptika oder Tourni-
gung nicht nur im militärischen Bereich, sondern quets wird gelegentlich auch auf Leichen, die sich zu
speziell auch bei Behörden und Organisationen mit Lebzeiten der Wissenschaft zur Verfügung gestellt
Sicherheitsaufgaben zu. Während zunächst jedoch haben, Tierkadaver oder lebende Tiere (im Rahmen
nur Sanitätspersonal geschult wurde, geht die Er- der Tierschutzgesetze) zurückgegriffen. Ziel ist es,
kenntnis heutzutage so weit, dass bei zunehmend die jeweilige Technik in der Anwendung im Vorfeld
komplexen Einsatzlagen jedes Teammitglied in der so gut zu erlernen, dass es im Ernstfall am Verletz-
Lage sein muss, lebenserhaltende Basismaßnahmen ten zu einem sicheren Handeln beiträgt.
durchführen zu können, bis der Sanitäter hinzu-
kommt und die weitere Versorgung übernimmt.
Dieses Umdenken findet bei der Bundeswehr 27.11 Fazit
aktuell durch die Einführung von sanitätsdienstli-
cher Ausbildung für Nicht-Sanitätspersonal statt; TEMS ist ein Gesamtkonzept, dass die Phasen vor,
entsprechende Ausbildungskonzepte liegen vor. Bei während und nach dem Einsatz beinhaltet. TEMS
den meisten Strafverfolgungsbehörden wird dieser hat zum Ziel, die therapiefreie Zeit beim Patienten
Bereich leider noch sehr restriktiv verfolgt, zum so kurz wie möglich zu halten und den Patienten so
einen aus Gründen von Kosten und Arbeitsauf- schnell wie möglich an zivile Strukturen weiterzu-
wand und zum anderen aus unklaren rechtlichen geben. Die Polizei hat per Gesetz die Aufgabe, in der
Gründen heraus. Denn verschiedene Aspekte wie heißen und warmen Zone Gefahren für das Leben
Notkompetenz, unterlassene Hilfeleistung, Körper- und die Gesundheit abzuwehren. Andere Organisa-
verletzung, rechtfertigender Notstand, Heilberufs- tionen sind hierfür nicht vorgesehen, ausgebildet
gesetze oder Ordnungsverschulden sind nach der und ausgerüstet. Dass die Polizei den Täter fasst,
gültigen Rechtsmeinung nicht abschließend geklärt wird von der Öffentlichkeit erwartet. Gemessen
Literatur
387 27
wird die Polizei aber an der Zahl der Verletzten und
Toten, die bei einem Einsatz entstanden sind. Die
taktische Notfallmedizin kann nachweislich Verlet-
zungen und sogar Todesfälle vermeiden bzw. mini-
mieren.
Literatur
Personalaspekte
R. Bohnen
Literatur – 396
Polizeivollzugsbeamter
in Schutzausstattung
Sicherungsrichtung
Rettungsdienstfachpersonal
Notarzt/Rettungsassistent
28
Hauptvorgehensrichtung
sehen und haben Akzeptanzprobleme. Zudem bin- das fehlende Training entsteht fehlendes Vertrauen
den sie Einsatzkräfte, da sie sich nur unter dem und auch ein falscher Eindruck von den Belastun-
Schutz und der Begleitung von Polizeikräften in der gen, physisch und psychisch, denen man sich aus-
warmen und heißen Zone bewegen können. Als Mo- setzt. Außerdem müssen für die medizinische Ver-
dell hat sich hier in der Vergangenheit die sog. sorgung im taktischen Umfeld spezielle Materialien
Schildkrötentaktik etabliert, bei der Rettungs- besorgt werden, z. B. sind Notfallkoffer für einen
dienstkräfte, ausgestattet mit Schutzwesten, durch solchen Einsatz völlig ungeeignet. Sie sollten bei-
eine Rundumsicherung durch Polizeikräfte ge- spielsweise durch Notfallrucksäcke ersetzt werden.
schützt werden (. Abb. 28.1). Gelegentlich wird die- Auch der Inhalt muss lageangepasst sein und nicht
se Taktik auch als Diamantformation beschrieben. unbedingt nach DIN-Rettungsdienst. All dies be-
Sollte sich beim Vorgehen einer der Polizeibeamten deutet zusätzliche Kosten und Arbeitsaufwand
verletzen und ausfallen, müssten die Rettungsdienst- durch Lagerung, Pflege und Wartung des Materials.
kräfte sich selber schützen und z. B. in einen Raum Auf keinen Fall sollte es vorkommen, dass sich
flüchten und die Türe verriegeln. Die Formation (über-?)engagierte Kräfte von Feuerwehr oder Ret-
funktioniert auch nur, wenn man sehr eng zusam- tungsdienst privat Unterziehschutzwesten kaufen,
mensteht und vorgeht, was bei der notwendigen und so meinen, für eine Unterstützung bei einem
Ausrüstung gar nicht einfach ist. Hinzu kommt, dass Polizeieinsatz gerüstet zu sein. Hier ergeben Un-
das Rettungsdienstpersonal nicht gewohnt ist, mit kenntnis und mangelnde Erfahrung über Waffen-
einer Schutzweste, die die Bewegungsfreiheit ein- kunde, Geschosswirkung und Schutzklassen von
engt, zu arbeiten, und auch die physische Belastung Schutzwesten und Helmen ein völlig falsches Sicher-
unterschätzt, die mit dem hohen Gewicht und der heitsgefühl, das im Einsatz gravierende Folgen
mitunter langen Tragezeit der Weste einhergeht. haben könnte. In 7 Kap. 24 wird auf die Reichweite
Häufig wird es schwierig sein, die Rettungs- von Geschossen und Explosionssplittern hingewie-
dienstkräfte regelmäßig mit den Teams und der voll- sen. Betrachtet man die Energie von Geschossen
ständigen Ausrüstung trainieren zu lassen. Durch (. Tab. 24.1) und berücksichtigt gleichzeitig, dass
28.3 · Rettungskräfte
393 28
bereits eine Energie von 80–100 Joule ausreicht, um Bei der Weichballistik trifft das Geschoss auf eine
menschliche Haut zu durchdringen, so wird einem mehrschichtige Netz- oder Folienstruktur aus
klar, wie wichtig Schutzausrüstung für Polizeiein- einem reißfesten Gewebe, das häufig aus Aramid-
sätze ist. Allerdings trügt der häufig fehlerhaft ver- fasern (z. B. Kevlar) oder einem anderen Kunststoff
wendete Begriff der schusssicheren Weste. besteht. Die durchschusshemmende Wirkung ist
hier jedoch begrenzt und kann nur durch die Kom-
! Eine schusssichere Weste gibt es nicht.
bination mit Hartballistikplatten (z. B. Oxidkera-
Eine Schutzweste oder auch ein Helm können allen- mik- oder Polyethylenplatten) erhöht werden.
falls beschusshemmend sein, also die kinetische Abgesehen von den hohen Kosten für derartige
Energie eines Geschosses aufnehmen und auf eine Schutzkleidung und der nur eingeschränkten
möglichst große Fläche verteilen, so dass das Ge- Schutzwirkung muss der Feuerwehr- oder Rettungs-
schoss in optimaler Weise die Weste nicht durch- dienstmitarbeiter auch noch das hohe Gewicht (je
dringt. Der Impuls des Geschosses wird jedoch auf nach Schutzklasse bis zu 20 kg und auch mehr) be-
den Träger der Weste weitergeleitet und auch durch rücksichtigen, dass er dann zusätzlich zu seiner ori-
die Verformung des Westenkörpers bei der Aufnah- ginären Ausrüstung noch tragen muss. Dies bedeu-
me der kinetischen Energie können Kräfte auf den tet eine noch höhere physische Belastung und auch
Träger der Weste wirken, die zumindest zu stump- Einschränkung seines Bewegungsspielraumes, die
fen Verletzungen führen werden. Je nach Ge- entsprechend trainiert werden muss. Sich »mal
schosstyp kann es aber auch sein, dass das Geschoss eben« eine Schutzweste überziehen und dann mit
von der Weste nur »abgebremst« wird und so nur der Polizei in einen Gefahrenbereich gehen sollte
noch mit geringer Energie und Tiefe in den Men- also sehr kritisch bewertet werden. Jedem Rettungs-
schen eindringt und das Verletzungsbild dadurch dienstmitarbeiter sollte auch bewusst sein, dass eine
minimiert wird. Somit ist die Schutzwirkung von Schutzweste nur 1/3 bzw. 1/4 seines Körpers schüt-
ballistischer Schutzweste und -helm limitiert und je zen, dies nur in der jeweiligen Schutzklasse und nur
nach verwendetem Material und Konstruktion in bei geradem Beschuss. Bei Beschuss von schräg oben
unterschiedliche Schutzklassen einzuteilen. Dies oder schräg unten verringert sich die Fläche er-
geschieht in Deutschland anhand der Ergebnisse heblich.
von sog. Beschusstests, die nach der Technischen Im Gegensatz zur externen Lösung eignet sich
Richtlinie für Schutzwesten der Polizei [1] bzw. der die »Stand-by-Methode«, wie oben beschrieben,
Technischen Richtlinie Gesamtsystem »Ballisti- allenfalls für kurze Lagen. Bei komplexen Einsatz-
scher Helm« [2] durch die staatlichen Beschussäm- szenarien ist die Verzögerung bis zum Nachrücken
ter durchgeführt werden. des Rettungsdienstes oder bis zum Schaffen eines
Grundsätzlich unterscheidet man beim ballisti- sicheren Bereiches u. U. zu lange, was im schlimms-
schen Schutz zwischen Hart- und Weichballistik. ten Fall den Tod des Verletzten zur Folge haben
394 Kapitel 28 · Personalaspekte
kann. Die Methode setzt außerdem die Bereitwillig- wenige Einheiten können sich einzelne Rettungsas-
keit des Rettungsdienstes voraus und ist mit Kosten sistenten erlauben, weil diese Ausbildung zu lange
verbunden, denn einen vorsorglichen Einsatz aus und kostenintensiv ist und der Beamte für diese Zeit
der Regelvorhaltung gibt es eigentlich nicht. dem regulären Dienst nicht zur Verfügung steht.
Die neue Gesetzgebung mit der Ausbildung zum
Notfallsanitäter, die das Rettungsassistentengesetz
28.3.2 Interne Rettungskräfte abgelöst hat, wird diese Situation für die Polizei
noch weiter erschweren. In zwei Bundesländern
Bei der internen Lösung werden aus den Reihen der sind Ärzte des Polizeiärztlichen Dienstes einem
Spezialeinsatzkräfte einzelne Beamte ausgewählt SEK zugeordnet und werden bei Bedarf alarmiert
und erhalten eine zusätzliche medizinische Grund- und in den Einsatz miteinbezogen. In einigen Bun-
lagenausbildung und Ausbildung in taktischer Me- desländern stehen zivile Notärzte freiwillig als Un-
dizin. Dies hat zur Folge, dass sie im Einsatz zwei terstützer zur Verfügung und kooperieren mit der
verschiedene Aufgaben erfüllen müssen, was ggf. zu Polizeibehörde. Nur bei einer Spezialeinheit ist ein
einem Rollenkonflikt führen kann. Auf der einen Arzt als Polizeivollzugsbeamter fest eingestellt und
Seite müssen sie ihrem taktischen Auftrag nachge- steht für jeden Einsatz zur Verfügung. Auf dieser
hen und sind in erster Linie Polizeibeamte, auf der Basis besteht dann auch die Möglichkeit der Imple-
anderen Seite fühlen sie sich durch ihre medizini- mentierung eines TEMS-Konzeptes, da der Arzt
28 sche Ausbildung beim Auftreten von Verletzten für zugleich die fachliche Aufsicht führen kann und
eine sofortige Hilfeleistung zuständig. Außerdem aufgrund der medizinisch höchsten Qualifikation
sind sie durch die nicht regelmäßige Teilnahme am dem Polizeiführer, aber auch dem zivilen Rettungs-
Rettungsdienst in ihren praktischen Fähigkeiten li- dienst, ein adäquater Berater ist.
mitiert, was nur durch ausreichendes Training eini-
germaßen kompensiert werden kann. Dagegen sind
sie im Team voll integriert und akzeptiert, können 28.3.3 Versicherung
sich selber sichern und haben alle Befugnisse eines
Polizeivollzugsbeamten. Sie können sicher mit Aus- Wählt man das Modell mit externen Kräften, müs-
rüstung und Waffe umgehen und haben das erfor- sen auch Versicherungsfragen geklärt werden. Hier
derliche taktische Grundverständnis. geht es nicht nur um Haftungsfragen, falls der Ret-
Unabhängig davon, welches Modell eine Behör- tungsdienstmitarbeiter bei einer Tätigkeit einen
de favorisiert, stellt sich auch immer die Frage, wel- Fehler macht, der zu schwerwiegenden Folgen
chen Qualifizierungsgrad man haben möchte und führt, sondern auch um die Absicherung von Be-
ob dieser Wunsch auch realisierbar ist. In Amerika rufsunfähigkeit und Tod durch einen Einsatz. Die
variiert die medizinische Qualifikation von sog. Versicherung des Rettungsdienstträgers wird dies
EMT(»Emergency Medical Technician«)-Basics, für einen Polizeieinsatz wahrscheinlich nicht mit
vergleichbar mit deutschen Rettungssanitätern, abdecken und eine private Versicherung wird nur
über sog. Paramedics, vergleichbar mit Rettungsas- mit Risikozuschlägen gewährt werden.
sistenten, bis hin zu Ärzten. Die Entscheidung trifft > Personen, die bei Unglücksfällen oder ge-
jede Behörde individuell nach einer Kosten-Nut- meiner Gefahr oder Not Hilfe leisten oder
zen-Analyse. Die Ausbildungskosten und -zeiten, einen anderen aus erheblicher gegenwärtiger
aber auch die Personalkosten spielen hier eine wich- Gefahr für seine Gesundheit retten, sind Kraft
tige Rolle. Gesetzes über das Sozialgesetzbuch VII ver-
Bei den meisten Spezialeinheiten in Deutsch- sichert.
land werden ausgewählte Polizeibeamte zu Ret-
tungssanitätern qualifiziert. Darüber hinaus wer- Bei der internen Lösung stellt sich diese Problema-
den alle Teammitglieder in Basismaßnahmen der tik nicht, da der Polizeibeamte durch das Landes-
Ersten Hilfe geschult oder zum sog. qualifizierten oder Bundesbeamtengesetz in Verbindung mit dem
Ersthelfer oder Rettungshelfer ausgebildet. Nur sehr Beamtenversorgungsgesetz abgesichert ist. Anders
28.4 · Fazit
395 28
verhält es sich bei Polizeiärztlichen Diensten, in ten Rettungsdienstkräfte nach einer taktischen Aus-
denen die Mitarbeiter in der Regel als Verwaltungs- bildung in einem offiziell anerkannten Lehrgang
beamte oder Angestellte beschäftigt sind. Hier ge- zum Teil als staatlich vereidigte Hilfspolizisten er-
hört es nicht zur versicherten Tätigkeit, in einem nannt werden und somit legal eine Waffe tragen
Gefahrenbereich zu agieren. Sollte es hier zu einer und auch einsetzen dürfen. Für eine solche Lösung
Gesundheitsschädigung kommen, kann diese nicht gibt es in Deutschland keine Voraussetzungen, und
im Sinne eines Arbeitsunfalls gewertet werden. die Gesetzeslage lässt dies nicht zu.
Dennoch gibt es in einigen Bundesländern den
sog. »Freiwilligen Polizeidienst« (Baden-Württem-
28.3.4 Bewaffnung externer berg, Hessen) bzw. die »Sicherheitswacht« (Bay-
Rettungskräfte ern, Sachsen). Hierbei handelt es sich um freiwillige
Bürgerinnen und Bürger, die ehrenamtlich, stun-
Eine weitere Frage, die sich im Zusammenhang mit denweise und gegen eine Aufwandsentschädigung
der Einbindung externer Kräfte immer wieder er- die Polizei unterstützen. Dabei handelt es sich je-
gibt, ist die der Bewaffnung. Als Hauptargument für doch nicht um einen Beruf und die Mitarbeiter ha-
eine Bewaffnung wird genannt, dass man Rettungs- ben auch keinen Vollzugsstatus. Die Befugnisse sind
dienstkräfte nicht in Umstände bringen soll, in der in den einzelnen Bundesländern sehr unterschied-
sie sich selbst oder den Patienten nicht schützen lich definiert. Die Mitarbeiter sind zum Teil unifor-
können. Beim Militär ist es selbstverständlich, dass miert oder auch nur mit einer Armbinde gekenn-
die Sanitätssoldaten bewaffnet sind, obwohl sie kei- zeichnet und sind zu Fuß oder per Fahrrad unter-
nen Kombattantenstatus haben und an der Kampf- wegs, sind aber zum Teil auch berechtigt, einen
handlung nicht aktiv beteiligt sind. Streifenwagen zu führen. Die Ausbildung dauert in
Ist die Rettungsdienstkraft bewaffnet, kann sie der Regel 2 Wochen. Die Eigensicherung geschieht
sich unabhängiger bewegen und selber schützen überwiegend mit Pfefferspray, jedoch gestattet das
und muss nicht zwingend durch andere Kräfte Land Baden-Württemberg das Tragen einer Dienst-
geschützt werden. Hierzu bedarf es jedoch einer waffe (Walther P5). Dies ist sicher unter Berück-
Trageberechtigung und vor allen Dingen eines re- sichtigung des Status dieses Personenkreises und
gelmäßigen Trainings, um den sicheren Umgang der geringen Ausbildungszeit als sehr fragwürdig
mit der Waffe gewährleisten zu können. Dieser Auf- einzustufen und ermöglicht es den Personen noch
wand dient den Gegnern der Bewaffnung als ein lange nicht, eine Spezialeinheit im Gefahrenbereich
Gegenargument. Außerdem wird auch hier ein Rol- zu unterstützen.
lenkonflikt befürchtet, da die bewaffnete Rettungs- > Wenn man sich also für die externe Lösung
dienstkraft sich eventuell nun auch taktisch gefor- entscheidet, muss einem bewusst sein, dass
dert fühlt, obwohl das nicht ihre Aufgabe ist. Die dies nur ohne Bewaffnung geht und somit im-
Bewaffnung darf auch nicht als Argument genutzt mer eigene Polizeikräfte vom eigentlichen
werden, um im Team besser akzeptiert zu werden taktischen Auftrag abgezogen werden müs-
und sich als »Einer von ihnen« zu fühlen. sen, um die Rettungsdienstkräfte zu schützen.
> Die Rettungsdienstkraft besitzt durch das
Tragen einer Waffe keine Vollzugsbefugnisse,
sondern nur eine Möglichkeit zur Eigensiche-
rung.
28.4 Fazit
Bei Polizeikräften, die als Sanitäter ausgebildet wer- Egal für welchen Lösungsweg man sich entscheidet,
den, stellt sich diese Problematik nicht, da sie an der wichtig ist, dass man überhaupt etwas initiiert und
Waffe ausgebildet sind und der sichere Umgang mit nicht wartet, bis ein gravierendes Ereignis mit
ihr Teil ihrer täglichen Arbeit ist. Schwerverletzten oder sogar Toten eintritt und man
In Amerika wird dieses Problem in manchen sich dann fragt: »warum haben wir nicht früher
Bundesstaaten dadurch gelöst, dass die ausgewähl- …?« Beide Modelle haben Vor- und Nachteile.
396 Kapitel 28 · Personalaspekte
Literatur
Materialressourcen
R. Bohnen
Unabhängig davon ob eine externe oder interne ten Kameraden, der bewusstlos oder nicht mehr
Lösung gewählt wird, sollten die Sanitätskräfte in einsatzfähig ist, benutzt er dessen Material und hat
einer Spezialeinheit immer die gleiche Uniform anschließend beim weiteren Vorgehen immer noch
oder Overall tragen damit es beim Zusammen- sein eigenes Material vollständig zur Verfügung.
wirken mehrerer unterschiedlicher Polizeikräfte Natürlich darf man sich selbst oder das Team wäh-
nicht zur Konfusion kommt und die Zugehörigkeit renddessen nicht in Gefahr bringen. Falls noch eine
nicht erkannt wird, so dass unbeabsichtigt ein direkte Bedrohung besteht, ist ggf. zunächst eine
Feuergefecht (»friendly fire«) entsteht. Auch sollte Deckung aufzusuchen und das Feuer zu erwidern
die entsprechende Schutzausstattung mit Helm, bevor eine medizinische Behandlung stattfindet
Weste, Splitterschutzbrille, Sicherheitsschuhen und (»Care under Fire«).
Handschuhen getragen werden. > Ziel ist eine schnellstmögliche Behandlung
Die Auswahl der medizinischen Ausrüstung oder/und das Verbringen in einen schon
ist nicht nur von der Qualifikation der jeweiligen gesicherten Bereich.
Einsatzkraft abhängig, sondern insbesondere von
den individuellen Gegebenheiten jeder einzelnen Das ausgewählte Material muss sich vorrangig an
Lage. So wird das erforderliche Material bei einem den zu erwartenden Verletzungen und deren mögli-
Einsatz in einem Mehrfamilienhaus anders ausse- chen, lebensbedrohlichen Folgen orientieren, näm-
hen als auf einem Fährschiff mit über 1000 Geiseln. lich Verbluten, Atemwegsobstruktion und Span-
Auch wird man seine Ausrüstung nach Fernbeurtei- nungspneumothorax. Auf weiterführende Instru-
lung von Geiseln hinsichtlich deren Vorerkrankun- mente wie z. B. Blutzuckermessgerät oder Otoskop
29 gen durch gezielte Medikamente oder Geräte erwei- und besondere Wundauflagen kann im ersten An-
tern und anpassen müssen. So würde z. B. für eine satz verzichtet werden, da die umfangreiche sonsti-
herzkranke Geisel sicherheitshalber z. B. ein auto- ge Ausrüstung nur begrenzte Möglichkeiten für
matisch externer Defibrillator (AED) mitgenom- zusätzliches medizinisches Material lässt.
men oder für einen Diabetiker entsprechende
Tipp
Medikamente gegen Hypo- oder Hyperglykämie.
Die Transportgegenstände sollten so gewählt
Jeder Einsatzbeamte sollte in seinem individu-
werden, dass sie die Handlungsfreiheit beider
ellen Erste-Hilfe-Set (IFAK, »individual first-aid
Hände zulassen, um z. B. zunächst vorrangig die
kit«) zumindest ein Tourniquet, einen Druck-
Waffe nutzen zu können. Erst beim Auftreten von
verband, einen Wendl-Tubus, ein Beatmungs-
Verletzten wird die medizinische Ausrüstung ge-
tuch, eine Rettungsdecke und Einmalhand-
braucht und sollte dann modular so gestaffelt sein,
schuhe haben und daran ausgebildet sein. Un-
dass der Zugriff auch abhängig von der Dringlich-
ter Umständen kann es durch einen Okklusiv-
keit unterschiedlich schnell möglich ist d. h. z. B. das
verband (»chest seal«) ergänzt werden.
das Tourniquet unmittelbar in oder an der Weste
getragen wird. Die Einsatzkoffer aus dem Rettungs-
dienst z. B. sind daher ungeeignet. Medics von Spe- Dieses Erste-Hilfe -Set ist bei allen Einsatzkräften
zialeinheiten bevorzugen Beintaschen, Rucksäcke an der gleichen Stelle zu tragen, damit im Ernstfall
oder spezielle Taschensysteme, die sich an die durch Suchen von Material nicht unnötige Zeit ver-
Schutzweste adaptieren lassen oder als Weste über loren geht. Die Medics im Team führen zusätzliches
die Schutzweste getragen werden. Sie können mit Material wie z. B. Hämostyptika, Larynxtubus,
einem Schnellabwurfsystem auch rasch wieder ent- chirurgisches Atemwegsset, Okklusivverband für
fernt werden, wenn die Lage das erfordert. Brustkorbwunden, Entlastungspunktionsnadeln,
Jede Einsatzkraft sollte in der Lage sein, gewisse Materialien zum aktiven und passiven Wärme-
Behandlungsmaßnahmen im Falle einer eigenen erhalt, intravenöse und intraossäre Zugänge, Infu-
Verletzung an sich selber durchzuführen, z. B. ein sionen und Medikamente mit, je nach Ausbildungs-
Tourniquet anzulegen ohne dafür die Hilfe eines stand. Hierfür sind dann zusätzliche Rucksäcke
Kameraden zu benötigen. Trifft er auf einen verletz- oder Taschen erforderlich, die vom jeweiligen Sani-
29 · Materialressourcen
399 29
täter individuell gepackt werden. Ein Polizeiarzt und dem Rettungsdienst übergeben kann. Diese
wird darüber hinaus noch weitere Materialien und eingeschränkten Materialressourcen kommen
Medikamente mitnehmen. umso mehr zum Tragen, wenn es mehrere Verletzte
Alle Materialien werden auch bei Übungen und gibt. Dann werden nicht nur die personellen, son-
Situationstrainings benutzt, um die Handhabung dern insbesondere auch die materiellen Ressourcen
für den Ernstfall immer wieder zu üben und jeder schnell an ihre Grenzen kommen und ausgeschöpft
Handgriff klar ist, ganz nach dem Grundsatz: »train sein. Hier gilt es, eine gute Sichtung vorzunehmen
as you fight«. und eine Behandlungspriorität festzulegen. Und die
Einen weiteren Aspekt stellen Materialien zur größte Gabe heißt: Improvisation! Mit taktischer
Evakuierung dar. Hier sind besondere Bergetücher Medizin kann man keinen Schönheitspreis gewin-
oder Stecktragen im Gebrauch, weil sie sich relativ nen, aber Leben erhalten!
leicht verstauen lassen. Selbstverständlich können
nicht mehr gehfähige Verletzte auch mit speziellen
Tragegriffen durch ein oder zwei Personen ohne
weitere Hilfsmittel getragen werden. Verschiedene
Alternativen (7 Kap. 3 und 5) sind also denkbar und
sollten flexibel vorgehalten und eingesetzt werden,
je nachdem was die Lage zulässt. Jedenfalls muss es
klar sein, das die Evakuierung eine nicht zu unter-
schätzende Belastung für die Einsatzkräfte bedeutet
und nicht nur Zeit, sondern auch personelle Res-
sourcen kostet, die dann für andere Maßnahmen
nicht mehr zur Verfügung stehen.
> Es hat sich gezeigt, dass Patienten schneller
geholfen werden kann, wenn sichere Be-
reiche geschaffen werden, in denen der
Rettungsdienst arbeiten kann, als zeit- und
personalintensiv jeden Patienten zum
Rettungsdienst zu tragen.
Notkompetenz
R. Bohnen
Im zivilen Rettungsdienst gibt es bis heute keine zu- zen. Damit kann man sich auf diejenigen
verlässige Rechtssprechung zur Aufgabenweisung Maßnahmen berufen, die man im Rahmen
oder Delegation ärztlicher Aufgaben an nichtärzt- seiner Aus- und Fortbildung erlernt hat und
liches Fachpersonal. Stellungnahmen und Veröf- sicher beherrscht.
fentlichungen der Berufsverbände und einschlägi-
ger Juristen betrachten auch immer ausschließlich Mit der Übernahme eines Einsatzes zur medizini-
den Rettungsassistenten als anerkanntes Berufsbild sches Erstversorgung bei einer laufenden Polizei-
und nicht den Rettungssanitäter, der durch seine aktion entsteht für diesen Polizeisanitäter die sog.
deutlich kürzere Ausbildung und die fehlende An- Garantenstellung, d. h. er geht die Verpflichtung
erkennung als Ausbildungsberuf mit noch viel ein, dafür zu sorgen, dass ein bestimmtes Rechts-
weiteren Einschränkungen seiner Tätigkeitsbreite gut, hier das Leben, vor Schäden geschützt wird. Da-
zu rechnen hat. durch ergibt sich auch die Pflicht, die erforderlichen
Maßnahmen vorzunehmen, die in der Ausbildung
vermittelt wurden und die man sicher beherrscht.
30.1 Rechtsgrundlage Wird diese Pflicht nicht erfüllt oder versucht zum
Erfolg zu bringen, macht er sich strafbar durch
Betrachtet man jedoch den Ist-Zustand in deutschen Unterlassen (§ 13 Abs. 1 Strafgesetzbuch, StGB).
Spezialeinheiten, so handelt es sich überwiegend um Übernimmt der Polizeisanitäter seine Funktion
Polizeibeamte mit einer zusätzlichen Qualifikation als medizinischer Erstversorger jedoch, obwohl er
als Rettungssanitäter. Nur selten kommen Beamte diese Funktion aufgrund fehlender Kenntnisse und
mit zusätzlicher Rettungsassistentenausbildung Fähigkeiten nicht erfüllen kann und dies auch hätte
oder Polizeiärzte zum Einsatz. Die Rechtsgrundlage erkennen können, dann muss er sich ein Über-
30 für Rettungssanitäter und -helfer ist in den einzelnen nahmeverschulden vorwerfen lassen und handelt
Ländergesetzen geregelt, in Nordrhein Westfalen fahrlässig. Außerdem muss die Polizeibehörde oder
z. B. über die Ausbildungs- und Prüfungsverord- ein von ihr beauftragter Polizeiarzt die individuelle
nung für Rettungssanitäter und Rettungshelfer Qualifikation der Polizeisanitäter regelmäßig über-
(RettAPO). Danach ist die Ausbildung von Ret- prüfen und dahingehend geeignete Qualitätssiche-
tungssanitätern auf die Patientenbetreuung beim rungsmaßnahmen einführen, um dem Vorwurf
Krankentransport ausgerichtet und auf die Fahrer- des Organisationsverschuldens vorzubeugen, wenn
und Helferfunktion in der Notfallrettung. Das wäre der Polizeisanitäter Notfallpatienten im Einsatz
natürlich für die medizinische Erstversorgung im schädigt.
Polizeieinsatz viel zu wenig. Dennoch wird im Fol- Kommt es während eines Polizeieinsatzes zu
genden Rettungssanitäter und Rettungsassistent als Verletzten und ist kein Polizeiarzt zugegen oder
ein Tätigkeitsfeld zusammengefasst und rechtlich eine Versorgung durch den zivilen Rettungsdienst
nicht weiter differenziert. Für die polizeilichen Ret- nicht möglich, so muss der Polizeisanitäter gemäß
tungssanitäter ist somit die Grauzone bei ihrem me- seiner Ausbildung, Kenntnisse und Fähigkeiten ggf.
dizinischen Handeln noch viel größer, zumal die invasive Maßnahmen vornehmen, wenn andere
Tätigkeit als Rettungssanitäter nicht ihre Hauptauf- Maßnahmen zur Lebenserhaltung nicht ausreichen.
gabe darstellt. Gleichwohl unterliegt ein Polizeibe- Grundsätzlich unterliegen jedoch invasive Maß-
amter, der als Rettungssanitäter handelt, den glei- nahmen, und dazu zählt auch schon das Legen eines
chen rechtlichen Voraussetzungen wie ein Rettungs- peripher-venösen Zugangs, nach Heilpraktikerge-
sanitäter im zivilen Bereich. setz (HeilprG) und der Muster-Berufsordnung für
Ärzte dem Arztvorbehalt. Theoretisch verstößt also
> Nach § 3 Rettungsassistentengesetz (RettAssG) der Polizeisanitäter gegen den Arztvorbehalt bei der
ist es ausdrückliche Aufgabe, lebensrettende Ausübung der Heilkunde. Da jedoch Rettungssani-
Maßnahmen bei Notfallpatienten durchzu- täter und -assistent keine Heilberufe, sondern ärzt-
führen, ohne Art und Umfang dieser Maß- liche Hilfsberufe sind, gilt das Heilpraktikergesetz
nahmen näher zu definieren oder einzugren- für sie nicht. Dennoch machen sie sich nicht nur
30.2 · Delegation und Notkompetenz
403 30
durch unsachgemäße Versorgung, sondern auch wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder
durch bewusst veranlasste Eingriffe in die körperli- Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und
che Unversehrtheit der Körperverletzung schuldig ihm den Umständen nach zuzumuten ist, insbeson-
(§ 223 StGB) und im schlimmsten Fall auch der dere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Ver-
fahrlässigen Tötung (§ 222 StGB). Erschwerend letzung anderer wichtiger Pflichten, macht sich
kommt noch hinzu, dass es sich beim Polizeibeam- ebenfalls strafbar. Jedes Mal den rechtfertigenden
ten um eine Körperverletzung im Amt (§ 340 StGB) Notstand (§ 34 StGB) heranzuziehen ist auch nicht
handelt. legitim, denn er gilt nur im o. g. Ausnahmefall und
Die vermeintliche Rechtswidrigkeit dieser medi- kann nicht als Regelbefugnis missbraucht werden.
zinischen Erstversorgung lässt sich entkräften, Bei dem gesetzlichen Auftrag, den die Polizei hat,
wenn die verletzte Person ausdrücklich in die medi- sind die personellen und rechtlichen Rahmenbe-
zinische Maßnahme einwilligt (§ 228 StGB) oder stimmungen zu schaffen.
man bei nicht einwilligungsfähigen bzw. bewusstlo-
sen Personen von einer mutmaßlichen Einwilligung
(§ 677 BGB) ausgehen kann und dann von der be- 30.2 Delegation und Notkompetenz
rechtigten Geschäftsführung ohne Auftrag (§ 680
BGB) spricht. Hinzu kommt noch die Möglichkeit, Um den Polizeisanitäter aus dieser rechtlichen
sich auf den rechtfertigenden Notstand (§ 34 Zwickmühle annähernd zu befreien, bedarf es also
StGB) zu berufen. Dieser Paragraph sagt aus, dass klarer Richtlinien. Diese existieren jedoch noch
wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendba- nicht einmal im zivilen Rettungsdienst und erst
ren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum recht nicht innerhalb einer Polizeibehörde, in der
oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die der Polizeiärztliche Dienst in der Regel nur einen
Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, ganz kleinen Teil der Organisationsstruktur dar-
nicht rechtswidrig handelt, wenn bei Abwägung der stellt. Teilweise versucht man diese wenig zufrie-
widerstreitenden Interessen, namentlich der betrof- denstellende Situation durch Begriffe wie Delega-
fenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen dro- tion oder Notkompetenz zu entschärfen. Dabei be-
henden Gefahren, das geschützte Interesse das be- deutet Delegation, dass eine Reihe von Verrichtun-
einträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch gen, die eigentlich einem Arzt vorbehalten sind, auf
nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die entsprechend aus- oder fortgebildetes nichtärztli-
Gefahr abzuwenden. Dieser Paragraph ist allgemein ches Personal übertragen wird. Der Arzt trägt dann
gültig und nicht nur für Rettungsassistenten oder die Verantwortung für die Anordnung und das
anderes nichtärztliches Fachpersonal. Auf den Para- medizinisch geschulte Personal die Verantwortung
graph 34 kann sich jeder Bürger berufen, auch ein für die ordnungsgemäße Durchführung. Dabei
Polizeivollzugsbeamter. Er sollte allerdings nach- muss der Arzt nicht nur entscheiden ob sich die vor-
weisen können, dass er die angewendete medizini- gesehene Maßnahme zur Delegation überhaupt
sche Maßnahmen im Rahmen einer Schulung sau- eignet und das medizinische Personal auch vom
ber erlernt hat und durchführen kann, dass dies Ausbildungs- und Kenntnisstand zur Übertragung
zertifiziert wurde und einer regelmäßigen Wider- geeignet ist, sondern er muss auch die ordnungsge-
holungsschulung und Rezertifizierung unterliegt mäße Überwachung gewährleisten können. Die
und schriftlich dokumentiert ist. Verantwortung liegt hier also klar beim Arzt.
Egal für welche Maßnahmen sich der Polizei- Dagegen versteht man unter der Notkompe-
sanitäter entscheidet, solange er von seiner Behörde tenz Maßnahmen, die der Lebensrettung und der
oder einer von ihr beauftragten Stelle keine klaren Abwehr schwerer gesundheitlicher Schäden bei
Weisungen und Freigaben bekommt, bewegt er sich Notfallpatienten dienen und auch ohne ausdrück-
entweder im Bereich der Körperverletzung im Amt liche Delegation durch den Arzt in eigener Verant-
und dem Verstoß gegen das Heilpraktikergesetz, wortung durchgeführt werden. Dabei gilt der
wenn er etwas macht, oder der unterlassenen Hilfe- Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass also nur
leistung (§ 223c StGB), wenn er nichts macht. Denn dasjenige Mittel angewendet werden darf, das am
404 Kapitel 30 · Notkompetenz
wenigsten invasiv ist und trotzdem das gleiche Ziel dass bei Notfalleinsätzen das Rettungsassistenten-
erreicht. Zur Notkompetenz gibt es eine Empfeh- gesetz Vorrang vor dem Heilpraktikergesetz haben
lung der Bundesärztekammer für das Berufsbild des kann. Sofern der Rettungsassistent oder Rettungs-
Rettungsassistenten. Hier liegt auch schon wieder sanitäter im Rahmen einer Erstversorgung im Ein-
die Problematik, denn die meisten Polizeibeamten satz eine invasive medizinische Maßnahme be-
mit medizinischer Zusatzqualifikation sind keine herrscht und auch mögliche Komplikationen, die
Rettungsassistenten sondern Rettungssanitäter. damit einhergehen könnten, sicher erkennen und
Außerdem stellt diese Empfehlung für die Rechts- behandeln kann und insofern ein Notarzt nachalar-
pflege lediglich eine unverbindliche rechtliche Ein- miert wurde oder der Verletzte innerhalb einer ver-
ordnung dar. Die Berufung auf die Notkompetenz tretbaren Zeit einem Arzt zugeführt wird, sollte es
knüpft die Bundesärztekammer dabei an gewisse gesetzlich geregelt werden, dass diese Handlung
Voraussetzungen. So muss der Rettungsassistent am keinen Straftatbestand darstellt.
Notfallort auf sich alleine gestellt und ärztliche Hilfe
nicht rechtzeitig erreichbar sein. Zudem müssen die
Maßnahmen, die der Rettungsassistent aufgrund 30.3 Fazit
eigener Diagnosestelllung und therapeutischer Ent-
scheidung durchführt, zur unmittelbaren Abwehr Insgesamt betrachtet sind also die rechtlichen Rah-
von Gefahren für das Leben oder die Gesundheit menbedingungen für den medizinisch handelnden
des Notfallpatienten dringend erforderlich und das Polizeibeamten aktuell sehr schwierig. Für die me-
gleiche Ziel durch weniger eingreifende Maßnah- dizinische Erstversorgung im Polizeieinsatz und
men nicht erreichbar sein. insbesondere dann, wenn durch den besonderen
Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt und die Verlauf der Lage der Einsatz von zivilem Rettungs-
30 Hilfeleistung nach den besonderen Umständen des dienst nicht möglich ist, ist jedoch die medizinische
Einzelfalles für den Rettungsassistenten zumutbar Ausbildung von Polizeikräften oder die taktische
sind, gewährt die Bundesärztekammer dem Ret- Ausbildung von freiwilligen Rettungsdienstkräften
tungsassistenten im Rahmen der Notkompetenz zwingend erforderlich, um den Anforderungen der
4 die Durchführung der Intubation, Polizeidienstvorschriften gerecht werden zu kön-
4 die Venenpunktion, nen. Die medizinische/ärztliche Versorgung durch
4 die Gabe kristalloider Infusionen sowie eigene Spezialkräfte ist der Inanspruchnahme ande-
4 ausgewählter Medikamente und die Früh- rer medizinischer Fachdienste vorzuziehen. Daher
defibrillation. ist es unabdingbar, dass die Polizeien von Bund
und Ländern mit ihren polizeiärztlichen Diensten
Dies setzt eine adäquate Ausbildung, Fortbildung Konzepte entwickeln, Aus- und Fortbildungspro-
und Überwachung des nichtärztlichen Personals gramme festlegen, die notwendige Ausstattung be-
voraus, und ein weisungsbefugter Arzt muss dieses schaffen und insbesondere für die Spezialeinheiten
Wissen und Können regelmäßig überprüfen. verantwortliche Polizeiärzte bestimmen, die die
Für Rettungsassistenten und insbesondere auch Notkompetenz individuell für den eingesetzten Be-
für Rettungssanitäter bedeuten diese einzelnen amten bestimmen und die Qualitätssicherung über-
Feststellungen eine unzuträgliche Rechtsunsicher- nehmen. Darüber hinaus sollten auch die verant-
heit. Hier ist dringend die Gesetzgebung gefordert, wortlichen Polizeiärzte selber in die Lage versetzt
diese Unsicherheit zu beseitigen. Als ein kleines werden, bedeutende Polizeieinsätze notärztlich be-
Signal in die richtige Richtung gilt diesbezüglich gleiten zu können und die dafür erforderliche poli-
u. a. ein Gerichtsurteil des Arbeitsgerichtes Koblenz zeitaktische Ausbildung und Ausrüstung erhalten.
vom 7.11.2008 (Az 2 Ca 1567/08), wonach die frist- Dabei sollten die Polizeiärzte die zum Sanitäter fort-
lose Kündigung eines Rettungsassistenten, der im gebildeten Polizeibeamten nicht als Konkurrenz
Einsatz wiederholt eigenverantwortlich Medi- ansehen, sondern als wertvolle Unterstützung für
kamente verabreicht hatte, für unwirksam erklärt spezielle Lagen. Außerdem muss man einsehen,
wurde. Erstmals wurde hier gerichtlich entschieden, dass man selbst Laien und erst Recht Rettungssani-
30.3 · Fazit
405 30
tätern und Rettungsassistenten spezielle Maßnah-
men, die Leben retten, sicher beibringen kann und
man als Arzt, durch die höhere wissenschaftliche
Ausbildung und Erfahrung, zur Aus- und Fortbil-
dung dieser Polizeisanitäter und zur Qualitätssiche-
rung beitragen kann. Auch muss das Rad nicht neu
erfunden werden. Es gibt wissenschaftlich fundierte
Guidelines in der taktischen Medizin, die ein klares
Vorgehen und einen einheitlichen Behandlungs-
algorithmus vorgeben. Diese Guidelines und Algo-
rithmen sind national und international anerkannt.
Die TREMA e.V. bietet beides in deutscher Sprache
an.
Die Verantwortung für die medizinische Erst-
versorgung liegt ganz eindeutig bei der Polizeifüh-
rung bzw. den Leitern der Polizeiärztlichen Dienste.
Die Motivation auf Seiten der Polizeibeamten, sich
medizinisch fortzubilden und Verantwortung für
die medizinische Erstversorgung zu übernehmen,
ist vorhanden.
407 31
Internationaler Vergleich
und Ausblicke
R. Bohnen, J. Höfner
. Tab. 31.1 Definierter Standard für notfallmedizinische Basismaßnahmen, die durch jede einzelne Einsatzkraft einer
Spezialeinheit der ATLAS-Kooperation beherrscht werden können sollte. (Einzig für den Nasopharyngeal-/Wendl-
Tubus konnte kein Konsens gefunden werden, so dass die Anwendung dieses Hilfsmittels jede Nation/Spezialeinheit
für sich entscheiden muss.)
Kopf überstrecken
Schleiftechniken zur Entfernung eines Verletzten aus dem unsicheren Bereich (7 Kap. 5)
Body check
Vorsichtung
Vorsichtung (Behandlungspriorität festlegen, wenn noch kein Arzt oder Sanitäter vor Ort ist)
Basic-Life-Support
innerhalb der Polizei, und noch nicht einmal auf Hilfe-Ausbildung ausrichten. Dabei ist die bisherige
Ebene der Spezialeinheiten möglich ist, solche Stan- Erste-Hilfe-Ausbildung (7 Kap. 24.2) als Basis abso-
dards festzulegen, eine einheitliche Ausbildung und lut sinnvoll. Sie sollte aber durch die Erfordernisse
auch Angleichung der Ausrüstung zu ermöglichen, des jeweiligen Einsatzes ergänzt werden und
obwohl man immerhin die deutsche Sprache schon ggf. auch Elemente und Materialien der taktischen
einmal als gemeinsame Grundlage hat. Medizin enthalten (. Tab. 31.2).
Dabei muss man natürlich gerade im Hinblick So benötigt z. B. der Polizeibeamte im Füh-
auf Ausbildung und Ausrüstung differenzieren. rungsstab oder in einer Einsatz- und Lagezentrale
Nicht jeder Polizeivollzugsbeamte benötigt eine voll keine weiterführende Ausbildung. Der Streifenbe-
umfassende Ausbildung in taktischer Notfallmedi- amte jedoch, der als ersteintreffende Kraft jederzeit
zin. Hier sollte man sich am jeweiligen Einsatz- z. B. mit dem Thema Amok, häusliche Gewalt und
spektrum orientieren, die dabei zu erwartende Ge- Widerstandshandlungen konfrontiert werden kann,
fährdung mit den daraus resultierenden Verlet- muss eine höhere Kompetenz und Kenntnis für
zungsmustern analysieren und darauf die Erste- Schuss- und Explosionsverletzungen haben und
410 Kapitel 31 · Internationaler Vergleich und Ausblicke
31 Rettungsdecke
Ggf. »pill pack«
Verletztenanhängekarte
AED
Besondere Einsatzlagen –
Amok
J. Höfner, K. Ladehof, J. Stocker
Literatur – 431
Alle zur Evakuierung eingesetzten Kräfte müs- 32.3 Erstversorgung und Rettung
sen auch in der Lage sein, notfallmedizinische Ba-
sismaßnahmen, insbesondere Blutstillung und J. Höfner, K. Ladehof
Atemwegssicherung durch stabile Seitenlage,
durchzuführen. 32.3.1 Personelle Optionen
» »While efforts to isolate or stop the active
Bei beiden Aufträgen gibt es in Deutschland keine
shooter remain paramount, early hemorrhage
gesetzliche Verpflichtung, dass der öffentliche Ret-
control is critical to improving survival.” [2].
tungsdienst hier mitwirkt. Der Rettungsdienst ist
Ein sinnvoller Ausrüstungsumfang wird weiter un- erst zur Notfallversorgung in der kalten Zone ver-
ten (7 Abschn. 32.3.4) bzw. in 7 Kap. 29 und im De- pflichtet (7 Kap. 26), d. h. die Polizei hat eine medi-
tail in 7 Kap. 3 beschrieben. zinische Kompetenz sowohl im Abschnitt Finden
Die Kernpunkte der Vorgehensweise werden und Binden als auch im Abschnitt Evakuierung vor-
mit dem G-BEET- bzw. THREAT-Algorithmus [2, 3, 4] zuhalten, die interne Lösung (7 Kap. 28.3).
beschrieben (. Tab. 32.1). Wie dargestellt geht es beim ersten Auftrag
Abhängig von der Bewertung des Risikos durch primär um Selbst- und Kollegenhilfe bzw. die Ver-
eine potenzielle Bedrohung muss analog zu einer sorgung von Opfern erst, nachdem der Täter festge-
Care-under-Fire-Lage (7 Kap. 8) auch abgewogen nommen werden konnte – ggf. des Täters selbst,
werden, ob nicht einmal die Anlage eines Tourni- wenn er bekämpft werden musste. Es besteht
quets unmittelbar möglich ist, da sie den Retter die Möglichkeit, dass sich Rettungsdienstkräfte fin-
unverhältnismäßig gefährden würde. In diesem den, die in der warmen oder heißen Zone arbeiten
Fall wäre die Merkhilfe orthographisch korrekt würden. Diese externe Lösung (7 Kap. 28.3) beruht
»GEBET«. aber nur auf einer Freiwilligkeit des Rettungsdiens-
Unter Umständen ist nicht einmal eine Annähe- tes und bindet weitere Polizeibeamte, die die Ret-
rung an das Opfer möglich und ein »remote assess- tungsdienstmitarbeiter schützen.
ment« (7 Kap. 8) wird durchgeführt, um eine Nut- Hier wird sehr häufig diskutiert, dass mittels
zen-Risiko-Abwägung des Rettungsversuches einer Sandwich-Methode, Schildkrötentaktik oder
vornehmen zu können [5]. (Das Opfer liegt zum Diamantformation, Rettungsdienstmitarbeiter von
Beispiel im unmittelbaren Wirkungsbereich eines der Polizei geschützt in die warme Zone geführt
Täters mit einer Präzisionswaffe.) werden. Dies ist eine Kräftemischung, die generell
problembehaftet ist (. Tab. 32.2). Der Rettungs-
dienst, der für diesen Auftrag nicht vorgesehen ist,
muss gesichert werden, idealerweise nach allen Sei-
ten. Die Standardausrüstung des Rettungsdienstes
(Notfallrucksack/Notfallkoffer) ist mit Verband-
mitteln und Medikamenten für nur einen oder zu-
mindest wenige Patienten ausgestattet. Durch die
416 Kapitel 32 · Besondere Einsatzlagen – Amok
. Tab. 32.2 Beispiele für die unterschiedliche Betrachtung und Bewertung der Situation
Polizei Rettungsdienst
Einsatzort »Objekt«; Abriegeln der warmen Zone; Gefahrenzone, außerhalb des Sicht- und damit
täterorientiertes Vorgehen Wirkungsbereiches bleiben
Aufgaben in der Auftrag 1: Finden und Binden, Abriegeln/ Aufbau von (Führungs- und Aufnahme-)Struk-
Anfangsphase Schutz nach außen turen (PA/BHP); Vorbereitung Stabilisierung u.
Sobald ausreichend Kräfte für Auftrag 1 (ggf. Früh-) Transport
eingetroffen: Einsatz von Teams in der warmen Zone erwägen
Auftrag 2: Evakuierung aus dem und/oder u. mit Polizei besprechen
Verletztenversorgung im Gefahrenbereich
Weitere Aufgaben Tatortarbeit, Feststellung »Vollständigkeit«, Betreuung, Angehörige aufklären und bestmög-
Zeugen-, evtl. Beschuldigten-Vernehmung lich beruhigen, KIT/PSNV
sperrige Ausrüstung ist der Rettungsdienst langsam ren Rahmenlage und Gesetzgebung betrachtet wer-
und nicht besonders beweglich, so dass er viel An- den – z. B. hinsichtlich Waffenbesitz oder der Mög-
32 griffsfläche bietet, die personalintensiv geschützt lichkeit auch in Nebentätigkeit »sworn police of-
werden muss. Dies sollte vor dem Einsatz der exter- ficer« zu werden [4, 6, 7].
nen Lösung bedacht werden und alle Beteiligten In Reaktion auf die zunehmenden Häufigkeit
müssen sich über diese Schwierigkeiten klar sein. Ist von »active shooter events« hat 2013 eine Experten-
die externe Lösung aber in der jeweiligen Situation gruppe unter Federführung der Amerikanischen
die vermutlich bessere Variante, so kann sie nach Chirurgenvereinigung (American College of Surge-
Beurteilung durch die Führung von Polizei und Ret- ons) und der Bundespolizei (Federal Bureau of In-
tungsdienst trotz der genannten Problemfelder vestigation, FBI) und beraten durch das Militär
durchgeführt werden. (CoTCCC, 7 Kap. 1) in zwei Konferenzen in Hart-
In den USA wird diese Möglichkeit häufig um- ford, Connecticut, gemeinsame Empfehlungen zur
gesetzt, dann jedoch eben auf der Basis fester Ko- Vorbereitung auf solche Ereignisse entwickelt. Die
operationen bzw. Zuordnung von Rettungsdienst- beiden Kernpunkte sind die Befähigung aller Ein-
personal zu einzelnen Einheiten. Diese erhalten im satzkräfte zur schnellen Blutstillung und die nur
Regelfall aber auch eine mehr oder weniger um- BOS-übergreifend mögliche, erfolgreiche Bewälti-
fangreiche taktische Ausbildung sowie eine Schutz- gung der Lage [2].
ausstattung analog zu den begleiteten Kräften ein- Im zweiten »Hartford Consensus« werden de-
schließlich Schutzweste, Helm und oft auch Bewaff- tailliertere Forderungen gestellt und Vorgehenswei-
nung. Gemeinsame Übungen bzw. regelmäßige sen zur Umsetzung beschrieben. Unter anderem
Einsatzbegleitung bei entsprechendem Bedro- wird gefordert, dass »traditionelle Rollenbeschrän-
hungspotenzial festigen diese Zusammenarbeit. kungen« überdacht werden müssen und eben ange-
Dies muss jedoch vor dem Hintergrund einer ande- strebt werden muss, dass der Rettungsdienst »vor-
32.3 · Erstversorgung und Rettung
417 32
geschobener« eingesetzt werden kann (»It is no Polizei und Rettungsdienst, die versucht, analog
longer acceptable to stage and wait for casualties to zum weiter unten dargestellten Waiblinger Praxis-
be brought out to the perimeter.«) [3]. beispiel, Begrifflichkeiten zu vereinheitlichen, die
Im Idealfall sollten also beide Lösungen für den Grundmaßnahmen im Vorgehen beschreibt und
jeweiligen BOS-Bereich in gemeinsamen Konzepten die als Option (!) auch den – freiwilligen und poli-
ausgeplant, personell (Zusatzausbildung) und mate- zeigeschützten – Einsatz des Rettungsdienstes im
riell (angepasste und modulare Ausstattung) vorbe- »warmen Bereich« vorsieht. Es wurde nach gemein-
reitet und dann intensiv trainiert werden. Erst nach samer Erprobung jetzt begonnen, die Verfahren in
der erfolgreichen Erprobung der unterschiedlichen der Fläche zu schulen und gemeinsam zu üben.
Lösungen in Vollübungen können sie seriös in einer > Es ist egal, ob man einen Polizeibeamten in –
realen Lage zur Anwendung kommen. Dies wurde taktischer – Rettungsmedizin weiterbildet
bereits in der Auswertung des Einsatzes beim Co- oder Rettungsdienstmitarbeitern einsatztak-
lumbine High School Shooting 1999 als ein Kern- tische Grundkenntnisse vermittelt sowie wei-
punkt herausgestellt [8]. Lediglich die Vorhaltung tere Voraussetzungen schafft, um sie in der
einiger, zusätzlicher Schutzwesten ist vielleicht ein warmen Zone begleitet einsetzen zu können:
guter Anfang, sie wird jedoch hinsichtlich angepass- Diese Zusatz- bzw. Doppelqualifikation wird
ter Größen, sinnvoller Gewöhnung des Trägers und nur einen Vorteil bringen, wenn auch unter
konkreter Sicherstellung ihrer rechtzeitigen Verfüg- hohem Stress der Primärauftrag beherrscht
barkeit im Einsatz an ihre Grenzen stoßen. Wenn sie und nicht vergessen wird.
jedoch in ausreichender Menge und angepasst an
eine für diesen Eventualfall fest vorgesehene, freiwil- Komplexität der BOS-Zusammenarbeit
lige Gruppe beschafft werden und diese dann eben Ähnlich verhält es sich mit der Feuerwehr. Sie ist zwar ver-
auch entsprechend einsatztaktisch vorbereitet wird, pflichtet, im Gefahrenbereich zu arbeiten, jedoch ist der Ge-
fahrenbereich, für den sie »zuständig« ist, der Brand, die
kann dies ein weiterer Schritt zur möglichst lücken-
Höhe oder Tiefe, der Gefahrstoffunfall oder Ähnliches – je-
losen Versorgung in Bedrohungslagen sein – voraus- doch eben nicht der Beschuss oder der aggressive Täter. Hat
gesetzt, dass auch noch eine konstante Erreichbar- ein Täter einen Brand gelegt und ist ein Vordringen für das
keit und die schnelle Verbringung dieser Kräfte an Interventionsteam nicht möglich, so entsteht eine ähnliche
den Einsatzort gewährleistet werden kann. Situation, wie bei der Zusammenarbeit mit dem Rettungs-
dienst. Die Polizei hat entweder selbstständig, mit der Aus-
Außerdem muss es die Rahmenlage auch er-
rüstung der Feuerwehr, den Brand oder die Rauchentwick-
möglichen, die erforderliche Ausrüstung für beide lung zu beseitigen (interne Lösung) oder sie muss die Feuer-
Aufgaben mitzuführen. Selbst ein Notarzt, der bes- wehr bei ihrer Arbeit schützen, wobei auch hier nur freiwilli-
tens taktisch ausgebildet ist, aber zur Gewährleis- ge Einsatzkräfte der Feuerwehr in den Gefahrenbereich
tung hoher Beweglichkeit nur eine medizinische gehen müssen (externe Lösung).
Grundsätzlich ist zu sagen, dass ein Vordringen des Interven-
Minimalausstattung mitführen kann, wird bei einer
tionsteams nur bis zur Rauchgrenze Sinn macht. Um den
komplexeren Patientenversorgung noch immer Brand oder die Rauchentwicklung unter Eigensicherung zu
schnell an Grenzen stoßen. bekämpfen, sind z. B. das Löschen mittels positionierter
Welche Lösung »die Richtige« für solche Lagen Drehleiter oder Standlöscher sowie der Einsatz eines Über-
ist, wird immer wieder kontrovers diskutiert [9]. So drucklüfters möglich. Die Polizei muss hier von der Feuer-
wehr beraten werden, ob die interne oder die externe Lö-
reagierte z. B. die Arbeitsgemeinschaft Norddeut-
sung angewandt wird [11].
scher Notärzte (AGNN) auf einen der ersten Artikel
zur »Schildkrötentaktik« [10] mit einer Stellung-
nahme in der sie betonte, dass »Ihre Ausbildung,
ihre Ausrüstung und ihre berufliche Verpflichtung 32.3.2 Vorgehensweise im Objekt
diesen Personenkreis [Anm.: den Regelrettungs-
dienst] nicht zur Aktion in Gefahrenlagen im Sinne Beim Abschnitt Finden und Binden kommen die
einer nicht geklärten Amoklage befähigt.« Mittler- Prinzipien von »Care under Fire« zum Tragen, im
weile gibt es auch in Schleswig-Holstein eine ge- weiteren Verlauf evtl. auch »Tactical Field Care«
meinsam erarbeitete Amok-Einsatzkonzeption von (7 Kap. 8).
418 Kapitel 32 · Besondere Einsatzlagen – Amok
Den Abschnitt Evakuierung prägen dement- eine geordnete Evakuierung stattfinden. Bei dieser
sprechend die Prinzipien von »Tactical Field Care« Form der Evakuierung kann schonender und ziel-
(Stabilisierung) und »Evacuation Care«. Hier gerichteter vorgegangen werden. Dies geht natür-
müssen hinsichtlich der Evakuierung schnelle und lich zu Lasten des Faktors Zeit.
weitreichende Entscheidungen in kurzer Zeit ge- Die Vergangenheit hat gezeigt, dass sich die Po-
troffen werden. Umso wichtiger ist es, die mögli- lizei nicht nur auf den Auftrag Finden und Binden
chen Planungen und Vorbereitungen im Vorfeld beschränken und erst nach Durchsuchung des gan-
erledigt zu haben. Welche Optionen und Mittel zur zen Areals an den öffentlichen Rettungsdienst über-
Evakuierung gibt es? Es kann z. B. eine Option sein, geben kann. Hierdurch wird zu viel Zeit vergeudet,
dass die Polizei Mittel des Rettungsdienstes (z. B. was letztlich die Verschlechterung des Zustandes
Fahrtrage oder Spineboard) mitführt, auf die sie von Verletzten bis hin zum Tod bedeuten kann!
dann jedoch vorher ausreichend eingewiesen wer- Auch das alleinige Heraustragen und Hinausbe-
den sollte. gleiten der Personen in die kalte Zone, in der der
Rettungsdienst bereitsteht, ist langwierig und per-
Tipp
sonalintensiv.
Der Transport mit einer Schaufeltrage oder > Meistens ist es von Vorteil, im Areal sichere
einem Spineboard wird in engen Räumlich- Bereiche zu schaffen und sukzessive an den
keiten nicht nur patientenschonender, sondern Rettungsdienst zu übergeben. Dadurch
(bei vorheriger Übung und guter Koordination) werden Polizeibeamte wieder frei, um in der
auch schneller als mit einem Bergetuch sein. warmen und heißen Zone zu arbeiten.
Die Polizei führt den Gesamteinsatz. Sie gibt insbe- Dass die Konzeptentwicklung, Erprobung und
sondere vor, wann, wo und wie das Objekt betreten Schulung unbedingt BOS-übergreifend erfolgen
werden kann. muss, wurde bereits dargestellt. In den USA wurden
> Die Einsatzleiter der BOS müssen in jedem
Ziele und Umfang der regional notwendigen Vorbe-
Fall schnellstmöglich an der Einsatzstelle mit-
reitungen in den Hartford-Consensus-Dokumen-
einander Verbindung aufnehmen und als
ten [2, 3] beschrieben und sie werden in einem Leit-
»Minimallösung« wenigstens die telefonische
faden des Amtes für Katastrophenschutz (FEMA)
Erreichbarkeit austauschen (möglichst soll-
detaillierter dargestellt [4]. Auch in Deutschland
ten sie als unbedingt sinnvolle Entlastung
wird in den wenigen Artikeln zu diesem Thema die
einen »Funker« bei sich haben). Folgetreffen
zwingende Notwendigkeit sorgfältiger strategisch-
sollten zeitlich und örtlich fest vereinbart
planerischen Vorbereitung betont [13]. Zunehmend
sowie bei wahrscheinlich überlastetem Funk-
wird die Thematik in die Aus- und Fortbildung der
verkehr Melder eingesetzt werden.
BOS aufgenommen. So wurde sie in Bayern z. B. be-
reits 2010 sowohl in die Lehrpläne der OrgL- als
Um auf die beschriebene Dynamik der Lage auch der LNA-Fortbildung aufgenommen.
schnellstmöglich reagieren zu können, die Raum-
ordnung kontinuierlich abzustimmen und um ins-
besondere die Option eines gemeinsamen Vorge- Mindestinhalte gemeinsamer
hens in der warmen Zone abzustimmen, sollten die Einsatzkonzeptionen
Einsatzleitungen aller BOS räumlich zusammen 5 Vereinheitlichung der Begriffe bzw. Glossar
oder in unmittelbarer Nähe zueinander aufgebaut für die jeweils anderen BOS
werden. 5 Gegenseitige Information über Fähigkeiten
32 Entscheidend für die reibungslose Zusammen- und Grenzen der Organisationen
arbeit werden größtmögliche Transparenz und dar- 5 Festlegung der einzelnen Maßnahmen und
auf basierendes Vertrauen sowie eben die persön- Phasen eines Ablaufplans – mit der Mög-
liche Kenntnis durch die gemeinsame Vor- und lichkeit auf die Lage mit alternativen Vor-
Nachbereitung von Ereignissen sein. gehensweisen zu reagieren
5 Darstellung und Umsetzung angepasster
Tipp
»Tactical Emergency Casualty Care (TECC)«-
Verfahren [14]
Die Einsatzleitung sollte im Bereich Nachrich-
5 Schwerpunkt ist die schnelle Behandlung
tenauswertung unbedingt personell verstärkt
durch Ersthelfer und die Evakuierung
werden, um die große Menge eingehender In-
5 Gemeinsame Führungsstruktur und ge-
formationen von Unbeteiligten, Betroffenen
meinsamer Kommunikationsplan
und Helfern bewältigen zu können.
5 Eventualfallplanung (»contingency
management«) im Detail – Beispiele dafür
sind das Vorsehen eines »duress code«
(Nutzung, wenn der Funkende unmittelbar
bedroht wird und daher nicht frei sprechen
kann) oder eines Notfall-Stichwortes, das
z. B. bei Entdecken eines Sprengsatzes oder
Feststellen der Instabilität der Infrastruktur
32.6 · Zusammenfassung
423 32
Objekt und der möglichst verzugslose Transport in
zum verzugsfreien Verlassen des Gebäudes eine geeignete Zielklinik entscheidend. Die Kern-
auf dem kürzesten Weg führen sollte frage lautet: Wen kann ich »drinnen« stabilisieren
5 Festlegung von Umfang und Häufigkeit von und wen kann ich nur durch schnellstmögliche Eva-
Schulungen und gemeinsamen Übungen kuierung retten?
5 Formale Einsatznachbereitung und Ge-
> Für die möglichst erfolgreiche Bewältigung
währleistung der Betreuung aller Einsatz-
der Gesamtlage ist es zwingend erforderlich,
kräfte
dass insbesondere Polizei und Rettungs-
dienst eine gemeinsame Sprache und ge-
meinsam entwickelte und erprobte Konzepte
verwenden sowie einen gemeinsamen Ein-
32.6 Zusammenfassung satzstab vor Ort bilden.
J. Höfner, K. Ladehof
Checkliste Vorgehensweise bei besonderer
Entscheidend ist bei der Bewältigung einer Amok- Einsatzlage – Amok
lage die unmittelbare Reaktion auf die Bedrohung, 5 Alarm(stichwort)
die initiale Raumordnung und die möglichst schnel- 5 Weitere Informationsgewinnung bei der
le Versorgung von Verletzten. Die Gesamteinsatz- Anfahrt
leitung liegt ebenso wie die Verantwortung für die 5 Festlegung eines – sicheren – Bereitstel-
medizinische Versorgung im Gefahrenbereich klar lungsraumes
bei der Polizei, jedoch nur durch eine gute Zusam- 5 Kontaktaufnahme der Einsatzleiter vor Ort
menarbeit der BOS werden diese Aufgaben best- (unterstützt durch die Leitstelle/FLZ)
möglich erfüllt werden können. 5 Absetzen der Lagemeldungen mit Nach-
Ziel ist es, nach Abwendung oder auch bei noch forderung von Kräften und Material sowie
bestehender Gefährdung, wie immer so schnell wie Kommunikation mit beteiligten oder unter-
möglich die MANV-Lage zu beherrschen, damit stützenden Kräften (insbesondere Vorinfor-
idealerweise wieder eine Individualversorgung der mation an regionale Krankenhäuser – Akti-
Verletzten möglich ist. Dies kann, wie dargestellt, vieren der jeweiligen Notfallpläne)
auch durch Schaffung von sicheren Bereichen er- 5 Örtliche Pläne abrufen (z. B. Farbkennzeich-
reicht werden. Da in solchen besonderen Einsatzla- nung Gebäudeabschnitte) und Unterstüt-
gen in den meisten Fällen in der kalten Zone schnell zung/Informationsquellen einbinden (Haus-
genügend Kräfte des öffentlichen Rettungsdienstes meister, Sicherheitsdienst)
eintreffen werden, sollte die Polizei schnellstmög- 5 Erfassung und Identifikationsmöglichkeit
lich die Bedingungen schaffen, dass der Rettungs- aller eingesetzten Kräfte
dienst zum Patienten kann oder der Patient zum 5 Zonen festlegen, Information aller Einsatz-
Rettungsdienst kommt. Nur so können die vorhan- kräfte, kontinuierliche Lageanpassung
denen Ressourcen im Sinne der Betroffenen opti- 5 Absperrung nach außen
mal zum Einsatz kommen. In der Zwischenzeit hat 5 Einrichtung einer oder mehrerer PA im
die Polizei in der heißen und warmen Zone die Ver- gesicherten Bereich (Möglichkeit
letzten bestmöglich zu versorgen. Die Prinzipien Sprengfallen/»second hit« bedenken,
und Algorithmen der taktischen Verwundetenver- 7 Kap. 11)
sorgung bilden die Grundlage für diese Verpflich- 5 Transport/Evakuierung von Patienten in
tung der Polizei. Dementsprechend muss der den kalten Bereich (PA oder Übergabe-
Schwerpunkt auch in der Ausbildung auf der Stil- stelle), evtl. Einsatz von (geschützten)
lung schwerer Blutungen liegen. Für Patienten mit Rettungskräften im warmen Bereich
Rumpfverletzungen und daher Verdacht auf eine 5 Verschieben des BR erwägen
innere Blutung ist die schnelle Evakuierung aus dem
424 Kapitel 32 · Besondere Einsatzlagen – Amok
32.7.3 Rechtsvorschriften
32.7 Beispiel für ein BOS-
übergreifendes Trainings- Für die Polizei gibt es in Baden-Württemberg Vor-
32 und Einsatzkonzept schriften für das Einsatztraining und Konzeptionen
zum spezifischen Training für Amoklagen. Der Ret-
J. Stocker tungsdienst hat lediglich ein MANV-Konzept, dass
sich in Bezug auf Bedrohungslagen aber nur mit der
Bereits im Jahr 2007, also weit vor dem Amoklauf Abarbeitung in der kalten Zone beschäftigt.
von Winnenden am 11.03.2009, wurde im Dienst-
bereich der Polizeidirektion (PD) Waiblingen und
dem Rettungsdienst des DRK-Kreisverbandes 32.7.4 Einsatzkonzept und Training für
Rems-Murr ein gemeinsames Konzept zur »Dees- »besondere Einsatzlagen«
kalation« an Einsatzstellen entwickelt. Der Rems-
Murr-Kreis hat eine Fläche von 858 km2 mit ca. Eine Arbeitsgruppe von Polizei und Rettungsdienst
416.000 Einwohnern. Die PD mit 5 Polizeirevieren wurde auf Landkreisebene eingerichtet, in der alle
hat über 700 Beschäftigte, der Rettungsdienst ver- Funktionsebenen von Anfang an vertreten waren,
fügt über etwa 150 hauptberufliche und 100 ehren- damit ein rechtssicheres und vor allem anwendba-
amtliche Kräfte an acht Rettungswachen und einer res Konzept erstellt werden konnte. Auf Ebene der
integrierten Leitstelle (ILS, gemeinsame Disposi- Ausbildungsbeauftragten des DRK-Kreisverbandes
tion von Feuerwehr und Rettungsdienst). und der Einsatztrainer der Polizeidirektion wurde
die Konzeption zum taktischen Vorgehen in Son-
derlagen entwickelt, erprobt und trainiert.
Ziel war es ein breites Spektrum abzudecken,
angefangen vom häuslichen Streit bis hin zur
32.7 · Beispiel für ein BOS-übergreifendes Trainings- und Einsatzkonzept
425 32
Amoklage. Bei diesen unsicheren Umständen sollte Kolleginnen und Kollegen sehr ungewohnt, vermit-
ein sicheres Arbeiten des Rettungsdienstes ermög- telte aber ein zusätzliches Sicherheitsgefühl. Den
licht. Es galt dem jeweiligen Partner zu vermitteln, Weg und das Tempo gibt die Polizei vor. Durch das
welche Unterschiede in der Sichtweise auf ein und Auflegen der Hand auf die Schulter des Front- bzw.
dieselbe Situation bestehen und einen gemeinsa- Vordermanns ist es kein Problem den Bewegungen
men Sprachgebrauch zu etablieren. der Polizei zu folgen (. Abb. 32.2).
Die Polizei beurteilt die Einsatzstelle und ordnet Das Vorgehen im Sandwich machte eine Redu-
sie in verschiedene Bereiche bzw. Gefährdungsstu- zierung der Einsatzausrüstung notwendig. In An-
fen (rote, gelbe, grüne Zone). Der Rettungsdienst passung an den möglichst engen Kontakt im Team,
hält sich anfangs in der kalten Zone in einem Bereit- die schnelle Beweglichkeit und unklare Situation im
stellungsraum auf. Er sammelt Informationen, Objekt muss die Ausrüstung auf dem Rücken mit-
nimmt Kontakt zur Polizei auf und wartet auf An- führbar sein. Der schnelle Zugriff auf die entschei-
weisungen. Er nutzt die Zeit um – geführt durch das denden Ausrüstungsgegenstände (Kennzeichnung
Führungs- und Lagezentrum (FLZ) der Polizei und und Tourniquet) muss gewährleistet sein auch ohne
die ILS – eine Einsatzführung vor Ort und die wei- den Rucksack abzunehmen. Die eigentliche Ver-
tere Ablauforganisation einzurichten. sorgung der Patienten erfolgte nach PHTLS-Grund-
Der rote Bereich (entspricht der heißen Zone) sätzen.
ist für den Rettungsdienst, aufgrund der unmittel- Ein weiteres wichtiges Element des Trainings
baren Gefahr, tabu. war die schnelle Übergabe von Verletzten im gelben
Der gelbe Bereich kann in diesem Konzept un- Bereich, die von der Polizei aus dem roten Bereich
ter Sicherung der Polizei betreten werden, da er als gerettet wurden. Hierbei galt es eine, von den Ab-
bereits abgesucht und überwiegend gesichert einge- läufen des Regelrettungsdienstes abweichende,
stuft wird. Er entspricht damit nur bedingt der war- schnellere Lösung zu finden. Nach polizeilicher
men Zone (7 Kap. 8) bei der lediglich keine unmit- Einweisung oder mit Begleitung wird ein Rendez-
telbare Bedrohung mehr besteht (»erste Deckung«). vouspunkt angefahren und der Verletzte dort mit-
Ob vor Ort versorgt oder nur eine Sichtung durch- tels Tragetuch unmittelbar auf den Tragentisch in
geführt oder ob unmittelbar evakuiert werden kann das Fahrzeug übergeben, um diesen Bereich umge-
bzw. muss, ist abhängig von der Anzahl der Verletz- hend wieder zu verlassen.
ten, der Anzahl der Helfer und sichernden Polizei- Die aus dem Training heraus entstandenen
beamten sowie den örtlichen Gegebenheiten. Die Team-Checkkarten für gemeinsame Einsätze von
Entscheidung hierüber fällen die beiden Führungen Polizei und Rettungsdienst fassen übersichtlich alle
von Polizei und Rettungsdienst. Grundsätze zusammen und steht allen Mitarbeitern
Im grünen Bereich (kalte Zone) kann rettungs- in den Einsatzmitteln, dem Einsatzführungsdienst
dienstlich wie gewohnt gearbeitet werden, da hier und der FLZ bzw. ILS zur Verfügung (. Abb. 32.1
keine Gefahren von der Einsatzstelle ausgehen. und . Abb. 32.4). Bei entsprechenden Lagen kön-
Um der Lageentwicklung Rechnung tragen zu nen Verbindungsbeamte/-personen zur jeweilig
können, wird die »Farbcodierung« analog auch für anderen Leitstelle entsandt werden, um den Infor-
»Phasen« verwendet (z. B. kann in der »grünen mationsaustausch aus erster Hand zu gewährleisten.
Phase« der gesamte Einsatzraum als gesichert ein-
gestuft werden, da er vollständig abgesucht oder der
Täter festgenommen wurde).
Die intensive Umsetzung der Theorie in die Pra-
xis erfolgte in kleinen Teams und bestand aus den
wesentlichen Modulen »Sammeln und Vorrüsten
im gesicherten Bereitstellungsraum«, »Annäherung
an Objekte« und »sicheres Bewegen in Objekten«.
Die Sandwich-Methode, in der sich die Rettungs-
kräfte inmitten der Polizei bewegen, war für viele
426 Kapitel 32 · Besondere Einsatzlagen – Amok
32
32
32
Literatur
Besondere Umgebungen
Kapitel 33 Militärischer Einsatz in großer Höhe – 435
M. Tannheimer
Militärischer Einsatz
in großer Höhe
M. Tannheimer
Literatur – 450
. Tab. 33.1 Grundsätzliche Unterschiede des zivilen Bergsteigens und des militärischen Einsatzes in der Höhe (ohne
Anspruch auf Vollständigkeit)
Zivil Militärisch
Der bekannte Höhenphysiologe James Milledge gen der Höhe würde den Rahmen dieses Kapitels
beschreibt das Befinden einer AMS-Erkrankung sprengen. Die wesentlichen Punkte werden grob
sehr treffend mit »Nobody dies from a mild AMS, angerissen.
but many wish they could«. Die Zusammensetzung der Luft ist in großen
Gerade die Soldaten des KSK (Kommando Spe- Höhen und im Flachland identisch, d. h. der Sauer-
zialkräfte) wurden und werden regelmäßig in Af- stoffanteil beträgt 20,9 %. Aber: der Luftdruck
ghanistan in Höhen bis zu 4.500 m eingesetzt. Ak- nimmt mit steigender Höhe ab und die Luft dehnt
tuelle Zahlen des 274th FST (»Forward Surgical sich entsprechend den Gasgesetzen aus, sie wird
Team«), welches 90 % aller US-Kriegsopfer während »dünner«. Daher sind pro Volumeneinheit Luft
der ersten Phase (14. Oktober 01–8. Mai 02) der weniger Gas- und Sauerstoffmoleküle enthalten
»Operation Enduring Freedom« versorgte, unter- und der Mensch nimmt somit pro Atemzug weniger
streichen die große wehrmedizinische Bedeutung Sauerstoff auf. Es kommt zur Hypoxie, daraus folgt
dieser Thematik. So waren 14,3 % aller Ausfälle wäh- u. a. eine Leistungsreduktion.
rend der »Operation Anaconda« (Höhe bis 3.191 m),
welche als das heftigste Feuergefecht seit dem Viet-
namkrieg in die Geschichte einging, allein durch die 33.2.1 Mittlere Höhe
Höhenkrankheit bedingt, weitere 24,5 % der Ausfäl-
le wurden durch Unfälle im unwegsamen alpinen Bis etwa 1.500 m über Meeresniveau ist diese Leis-
Gelände verursacht [14]. Die NATO beschäftigte tungsreduktion nur geringfügig ausgeprägt. Ober-
sich aus diesem Grund mit der Höhenmedizin und halb dieser Höhe (mittlere Höhe) sind die sofort
veranlasste 2006 ein Meeting internationaler Exper- einsetzenden Kompensationsmaßnahmen (Hyper-
ten in Kirgistan [12]. In der Bundeswehr wurde auf ventilation, Tachykardie) des Organismus bei
Befehl des Inspekteurs San extra der Lehrgang maximaler Belastung nicht mehr ausreichend und
»Höhenmedizin für Sanitätspersonal« eingerichtet, die VO2max als Maß für die Ausdauerleistungsfähig-
um Sanitätsoffiziere höhenmedizinisch für den Ein- keit nimmt dann um etwa 1 % pro 100 Höhenmeter
satz auszubilden. ab. Diese Abnahme ist bei hochtrainierten Aus-
dauerathleten ausgeprägter als bei untrainierten
Personen.
33.2 Physiologische Grundlagen
und Einteilung in Höhenstufen > Auch bei vollständiger Akklimatisation
kommt es in einer Einsatzhöhe von 4.000 m
Eine umfassende Darstellung der physikalischen zu einer um 25 % reduzierten Ausdauer-
Grundlagen und der physiologischen Auswirkun- leistungsfähigkeit.
438 Kapitel 33 · Militärischer Einsatz in großer Höhe
. Abb. 33.1 Höhen-Zeit-Profil: Gängige Empfehlungen zur Steigerung der täglichen Schlafhöhe beim Höhenbergsteigen.
Der Kreis markiert den für militärische Einsätze in der Höhe relevanten Höhenbereich. (Adaptiert nach [6])
zwischen dem Unterschreiten der Schwellenhöhe Um in einer Höhe von 4.500 m Tätigkeiten wie
und dem späteren erneuten Überschreiten nicht Schweizer Flaschenzug oder das Tragen einer Per-
mehr als 7–12 Tage beträgt. Diese Zeitspanne von son im Rahmen der Selbst- und Kameradenhilfe
über einer Woche eröffnet Handlungsspielräume durchführen zu können, sind in Meereshöhe eine
beim militärischen Einsatz. Leistungsfähigkeit von 3,5 Watt/kg Körpergewicht
Der legendäre Höhenphysiologen Charles S. erforderlich. Als Minimalanforderung ist für Solda-
Houston hat folgende goldenen Regeln der Höhen- ten, die in der Höhe eingesetzt werden müssen, eine
taktik geprägt: Leistungsfähigkeit in Meereshöhe von 3 Watt/kg
4 »Don‘t go too high too fast« (nicht zu schnell Körpergewicht notwendig.
zu hoch steigen)! Die Akklimatisation erfolgt immer stufenweise.
4 »Go high enough to get acclimatized« (gehe Überschreitet man die Schwellenhöhe, erfolgt die Ak-
hoch genug, um einen Akklimatisationsreiz zu klimatisation an diese Höhe. Steigt man dann höher,
setzen)! muss an die neue Höhe erneut akklimatisiert werden.
4 »Don‘t stay too high too long« (bleibe nicht zu Idealerweise wird die Schlafhöhe täglich um 300 m
lange zu hoch oben)! gesteigert (. Abb. 33.1). Allein schon die Steigerung
4 »Go high, sleep low« (tagsüber hoch, Schlaf- der Schlafhöhe von 300 auf 400 m täglich führt zu
höhe tief)! einer nachgewiesenen 4fach erhöhten AMS-Rate
[1]. Oft zwingen unterschiedlichste Gründe (z. B.
Diese werden heute noch ergänzt durch die Emp- Gelände oder Auftrag) zu einer deutlich stärkeren
fehlung, anaerobe Anstrengungen (z. B. Zwischen- Steigerung. In diesen Fällen ist dann eine weitere
sprints, Maximalkraftanstrengungen, Tätigkeiten Nacht auf dieser neu erreichten Höhe erforderlich.
mit Pressatmung) unbedingt zu vermeiden.
Mit der schweren militärischen Ausrüstung > Die Akklimatisationsphase hat nicht die voll-
wird die anaerobe Schwelle schnell erreicht. Als kommene Symptom-/Beschwerdefreiheit
Zeitbedarf in akklimatisiertem Zustand muss von zum Ziel. Es darf und soll tagsüber durchaus
1 h pro 4 Entfernungskilometern sowie zusätzlich ein entsprechender Hypoxiereiz gesetzt
von 1 h pro 300 Höhenmetern im Aufstieg bzw. werden. Die Schlafhöhe sollte bei Sympto-
500 Höhenmetern im Abstieg ausgegangen werden. men nicht weiter gesteigert werden!
440 Kapitel 33 · Militärischer Einsatz in großer Höhe
. Tab. 33.2 Der Lake Louise Score. Punkte 1–5: . Tab. 33.3 Zusätzlich wurden für begleitende Ärzte
Selbstbeurteilungsabschnitt. Summe ≥4: Verdacht die Punkte 6–9 aufgenommen. Ab einer Gesamtsum-
auf AMS. (Nach [11]) me von = 5 besteht der Verdacht auf AMS. (Nach [11])
niedrige SaO2-Ruhewerte nicht in das klinische > Bei allen schweren Formen der Höhenkrankheit
Bild, sollte diese Person leichte körperliche Tätigkeit gilt der Abstieg bis zur letzten beschwerde-
(z. B. Herumlaufen oder 5 Kniebeugen) durchfüh- freien Schlafhöhe als kausale Therapie der Wahl.
ren und anschließend erneut gemessen werden.
Liegt diese Messung höher, wird dieser Wert ver- Ist die beschwerdefreie Schlafhöhe nicht bekannt,
wendet. Ein derartiger Befund spricht für eine be- muss zumindest auf die Höhe abgestiegen werden,
reits solide Akklimatisation. Ein weiterer Abfall der in der 2 Nächten zuvor geschlafen wurde.
SaO2 bei dieser moderaten körperlichen Belastung Bei HAPE oder HACE gelten folgende Therapie-
ist hingegen ein Alarmzeichen. maßnahmen:
4 Jegliche körperliche Anstrengung vermeiden.
4 Den Patienten mit dem Hubschrauber evaku-
33.5 Therapie der Höhenkrankheit ieren. Ist dies nicht möglich muss er getragen
werden
Bei der Höhenkrankheit kann eine leichte und eine 4 Transport muss in aufrechter Oberkörper-
schwere Form der AMS unterschieden werden. Bei position erfolgen, damit der Druck im Lungen-
der leichten Form kann man auf der jeweiligen kreislauf nicht weiter steigt.
Höhe abwarten und den Zustand des Betroffenen 4 Patient muss warm gehalten werden.
beobachten. Bei der schweren Form der AMS muss
abgestiegen werden. Als wichtigster Therapiebaustein bei der AMS gilt,
keinen weiteren Aufstieg durchzuführen, sondern
ein Ruhetag einzulegen.
444 Kapitel 33 · Militärischer Einsatz in großer Höhe
> Bei einer Befundverschlechterung muss ab- Eine immer verfügbare Therapiemöglichkeit ist
gestiegen werden. das Ausatmen gegen die Lippenbremse, auch
Auto-PEEP (PEEP = »positive endexpiratory pressu-
Neben den Sofortmaßnahmen Ruhe und Abstieg re«) genannt. Hierbei schließt der Patient die Lippen
bzw. Abtransport sind folgende Therapiemöglich- soweit, dass nur noch ein kleiner Luftstrahl unter
keiten von nachgeordneter Bedeutung und dienen Druck mit Einsatz der Bauchmuskulatur entweichen
lediglich dazu, den Patient transportfähig zu be- kann. Der Luftstrahl sollte so stark sein, dass er in
kommen bzw. die Zeit bis zu einem möglichen Ab- 30 cm am Handrücken noch gefühlt werden kann.
stieg zu überbrücken. Keinesfalls dürfen diese Maß- Nun wird streng nach Armbanduhr innerhalb 2 s ein-
nahmen den sofortigen Abstieg relevant verzögern: geatmet und innerhalb 8 s Auto-PEEP ausgeatmet.
Grundsätzlich sinnvoll ist die Gabe von Sauer- Idealerweise wird an den Patienten ein Pulsoxymeter
stoff mit einer Flussrate, um eine SaO2 von 90 % zu angeschlossen. Die Behandlung wird über 30 min
erreichen (z. B. initial 6–10 l/min, anschließend durchgeführt, anschließend 90 min Pause. Dieser
2–4 l/min). 2-h-Rhythmus wird fortgeführt. Der Betroffene soll-
Die Therapie mit Sauerstoff ist immer sinnvoll, te dabei mit erhöhtem Oberkörper liegen oder sitzen.
sie ist allerdings v. a. durch die mangelnde Verfüg- Auto-PEEP-Atmung ist anstrengend, wird aber in
barkeit von Flaschensauerstoff limitiert. Daher der Regel von höhenkranken Personen dennoch gut
muss eine Befundbesserung für den raschen Ab- toleriert, da der damit erzielte Anstieg der Sauer-
stieg genutzt werden! stoffsättigung enorm ist (. Abb. 33.2).
Eine elegante Therapie ist die Verwendung eines Medikamente werden regelmäßig im Zusam-
Überdrucksackes, in den der Patient gelegt wird. menhang mit Höhenerkrankungen eingesetzt, ob-
Durch Aufpumpen mit Umgebungsluft wird der wohl keines dieser Medikamente eine entsprechen-
Druck im Sack erhöht und so ein beachtlicher »Ab- de Zulassung hat. Eine allumfassende Beschreibung
stieg« von 2.000–2.500 m simuliert. Die Behand- und Aufzählung übersteigt auch den Rahmen dieses
lungsdauer sollte zwischen 60 und 120 min betragen. Buches. Dennoch sollen einige typische Medika-
Auch hier muss die Befundbesserung für den sofort mente vorgestellt werden, allerdings mit dem deut-
anschließenden Abstieg genutzt werden. Das Ge- lichen Hinweis, dass Medikamentenverordnung
wicht eines solchen Sacks liegt bei akzeptablen 4,8 kg eine rein ärztliche Aufgabe ist und sie nur im
(CERTEC Bag) und 6,5 kg (GAMOW Bag). Proble- Rahmen der Notkompetenz durch Laien erfolgen
33 me liegen in der Verfügbarkeit, meist ist der Sack darf. Die Medikamentengabe setzt eine korrekte
nicht am Ort des Bedarfs, und es kann immer nur Diagnose der Erkrankung und Erfahrung im Um-
ein Patient pro Sack behandelt werden. Das perma- gang mit dem Medikament und dessen Wirkungs-
nente Pumpen bindet mindestens zwei Kameraden weise voraus. Die unten aufgeführte Liste ist nicht
ein, und es ist körperlich anstrengend. So einfach das vollständig, insbesondere hinsichtlich möglicher
Prinzip klingt, die Anwendung muss zuvor intensiv Nebenwirkungen.
geschult werden. Es sind bereits Personen bei der > Als Grundsatz gilt: Muss ein Medikament
Überdrucksacktherapie verstorben, weil nicht genü- verabreicht werden, muss die Symptom-
gend Frischluft zugepumpt wurde. Platzangst oder besserung für den Abstieg genutzt werden.
Übelkeit und Erbrechen (typische Höhensympto- Ausnahme: Höhenkopfschmerz. Hier kann
me) sowie die fehlende direkte Kontaktmöglichkeit bei Symptombesserung auf der Höhe ver-
sind weitere Problemfelder. Druckausgleichsproble- blieben werden.
me können in der Regel effektiv mit abschwellendem
Nasenspray behandelt werden, der Druck darf nur Bessert sich der Kopfschmerz jedoch nicht, droht
nicht zu schnell wieder abgelassen werden. Nützlich ein HACE und es muss abgestiegen werden. Eine
sind ein am Patient angeschlossenes und durch das besondere Stellung nimmt Acetazolamid (Diamox)
Beobachtungsfenster sichtbares Pulsoxymeter sowie ein, dies wird zur Prophylaxe zeitlich befristeter
ein im Sack platzierter Höhenmesser als Minimal- Höhenexposition bei nicht ausreichender Akklima-
monitoring und zur Erfolgskontrolle. tisation eingesetzt.
33.5 · Therapie der Höhenkrankheit
445 33
. Abb. 33.2 Auto-PEEP-Atmung in 4.330 m Höhe bei einer schwer höhenkranken Person (die SaO2-Werte von <65 % liegen
in einem kritisch tiefen Bereich. Es kommt zu einem sofortigen SaO2-Anstieg von 20 %-Punkten mit einem Anstieg auf für
diese Höhe ausgesprochen hohe Werte von bis zu 95 %. Sehr interessant und noch nicht vollständig geklärt ist die im An-
schluss an die Auto-PEEP-Phase noch lang andauernde SaO2-Verbesserung (dunkle Kurve). Die erforderliche Anstrengung ist
tolerabel; Pulswerte <100/min (helle Kurve). Bereits 4 Tage später konnte der 6.198 m hohe Mt Mc Kinley erfolgreich bestiegen
werden. (Adaptiert nach [27])
Wirkmechanismus Über die Hemmung des En- Wirkmechanismus Der Wirkmechanismus ist sym-
zyms Carboanhydrase kann weniger CO2 abge- ptomatisch und nicht kausal. Grundsätzlich ist Ibu-
atmet werden. Dadurch erhöht sich der CO2-Spiegel profen in der Höhe gut verträglich.
im Blut und der wichtigste Stimulus für das Haupt- Falls sich der Kopfschmerz nicht besser, Abstieg
atemzentrum in der Medulla oblongata bleibt er- bei Gefahr für drohendes HACE.
halten. Der Atemantrieb wird erhöht und erlaubt
plakativ eine Hyperventilation ohne (mit weniger) jAcetylsalicylsäure (Aspirin)
Störung des Säure-Basen-Haushalts. Über diesen Das Medikament hat im Rahmen der Therapie der
Mechanismus wirkt das Medikament auch schlaf- Erfrierung nach wie vor einen Stellenwert und soll-
verbessernd (Erhöhung des SaO2, Reduktion te daher für Höhenaufenthalte mitgeführt werden.
der periodischen Atmung). Es greift damit als
einziges Medikament kausal in den Entstehungs- Dosierung 1-mal 100–300 mg.
mechanismus der Höhenkrankheit ein. Über die
beschriebene Enzymhemmung wirkt es auch diure- Wirkmechanismus Es hemmt das Aneinanderlagern
tisch. der Thrombozyten (Thrombozytenaggregation)
446 Kapitel 33 · Militärischer Einsatz in großer Höhe
irreversibel und bessert daher die Durchblutungs- (HACE und HAPE liegen vor) kombiniert werden.
situation in erfrorenem Gewebe Es ist zur Prophylaxe der AMS (4 mg alle 8 h) effek-
tiv, weist aber prinzipiell mehr Nebenwirkungen auf
Nebenwirkung In der Höhe deutlich erhöhtes als Diamox. Dient auch zur Therapie schwerer
Magenblutungsrisiko. Daher sollte es nicht zur The- Höhenkopfschmerzen, insbesondere in Verbin-
rapie des Höhenkopfschmerzes verwendet werden. dung mit Übelkeit.
würde den Rahmen dieses Buches sprengen und ist tiv unproblematisch im Einsatzland installierbar.
in der weiterführenden Literatur nachlesbar oder Neuere Studien [3] zeigen, dass bereits eine kurze
direkt vom Autor erhältlich. Zeitspanne von 1–4 h pro Tag (IHE) einen Akklima-
Ein anderer viel versprechender Ansatz bietet tisationseffekt bewirkt. Wenn sich diese Ergebnisse
der Aminosäureabkömmling ADMA (asymmetri- bestätigen, würde die Hypoxiekammer eine voll-
sches Dimethylarginin). Anhand dessen Verhalten kommen neue Möglichkeit der Akklimatisation und
(Anstieg oder Abfall im Blut) ist bereits nach 2 h Hö- »In-Übung-Haltung« von Soldaten ermöglichen
henaufenthalt (entsprechend 4.000 m) eine sichere [20]. Es wäre eine einsatzbegleitende Akklimatisati-
Aussage möglich, ob eine Person im weiteren Verlauf on im Schlaf möglich, oder es könnte sogar das Ein-
(nach 12 h) höhenkrank wird (Sensitivität 80 %; Spe- satz-Briefing in einem entsprechend eingerichteten
zifität 100 %) [23]. Die Laborbestimmung des Hypoxieraum bereits zur Akklimatisation genutzt
ADMA ist allerdings (derzeit noch) sehr aufwändig werden. Praktische Erfahrungen der indischen Ar-
und an ein gut ausgestattetes Labor gebunden. Wenn mee, die zahlreiche Hypoxiekammern an 16 Stand-
diese Bestimmung irgendwann einmal so einfach orten mit einer Kapazität von bis zu 500 Soldaten pro
wird wie die Blutzuckerbestimmung könnte diese Tag betreibt, lassen vermuten, dass sich körperliche
Methode vor einem geplanten Einsatz sogar drau- Betätigung in einer derartigen Kammer zusätzlich
ßen im Feld angewandt werden. günstig auf den Akklimatisationsvorgang auswirkt
Es stehen noch mehrere Testmethoden zur Ver- [20]. Eine Übersichtsarbeit im Auftrag des US-Ar-
fügung, die statistisch gesicherte Aussagen erlau- my Research Institute of Environmental Medicine
ben. Allerdings muss bedacht werden, dass keine sieht hierin einen wesentlichen Fortschritt für die in
Testmethode eine 100 %ige Vorhersagesicherheit der Höhe eingesetzten Soldaten und plädiert für die
bieten kann. Jedes Testergebnis ist letztendlich eine Anwendung [13]. Aktuell sind entsprechende Emp-
Wahrscheinlichkeitsabschätzung, wobei grundsätz- fehlungen zur Akklimatisation in einer solchen Hy-
lich Aussagen über größere Gruppen zutreffender poxiekammer veröffentlicht worden [7].
und Aussagen zu Einzelpersonen immer problema- Trotz aller Erfolge in der Früherkennung der
tischer sind. Daher besteht die Notwendigkeit, dass Höhenkrankheit oder der Höheneignung sowie in-
in der Höhe eingesetzte Soldaten vorab eigene Er- novativer Ideen, wie sogar in Feldlagern eine suffi-
fahrung in realer Höhe sammeln. Aus diesem ziente Akklimatisation erlangt und erhalten werden
Grund führt das KSK inzwischen regelmäßig ent- kann, ist die Ausbildung der in der Höhe eingesetz-
33 sprechende Expeditionen durch. Dennoch bleibt es ten Soldaten der wichtigste Punkt. Nur wer seine
ein großes Problem wie Eingreiftruppen (z. B. QRF) Höhensymptome kennt kann diese rechtzeitig auch
akklimatisiert werden sollen und wie diese Akkli- unter Einsatzstress bemerken. Auch müssen die zu-
matisation erhalten wird. sätzlichen Höhenfaktoren wie Kälte, Wetter, Trink-
Grundsätzlich wären Akklimatisationscamps wassergewinnung, Hygiene, Leidensfähigkeit, Berg-
auf z. B. 3.000 m Höhe sinnvoll, allerdings nur sehr gefahren, etc. praktisch erlernt und am eigenen Leib
schwer praktikabel. Intermittierende Höhenaufent- erfahren werden, um im Einsatz in dieser lebens-
halte sind eine eher praktikable Lösung, doch sind feindlichen Umgebung bestehen zu können.
diese im Einsatzland immer mit einer Gefährdung Wesentlich ist es, bei allen militärischen Füh-
verbunden. rern ein ausgeprägtes Problembewusstsein für den
Eine sehr vielversprechende Möglichkeit der militärischen Einsatz in der Höhe herbeizuführen.
Akklimatisation vor Ort bieten sog. Hypoxiekam- Häufig werden die Höhen von 2.000–4.500 m mas-
mern. In diesen wird die Höhe nicht durch Unter- siv unterschätzt, die Berichte und Studien v. a. der
druck, sondern durch Verringerung des Sauerstoff- amerikanischen Streitkräfte zeigen dies ganz deut-
anteils in der Luft simuliert. Diese »normalen« Räu- lich [14–16, 18]. Um derartigen leidvollen Erfah-
me können im Gegensatz zu Unterdruckkammern rungen zukünftig entgegenzuwirken, werden von
einfach durch eine Tür betreten und wieder verlas- zivilen Firmen für die Streitkräfte Extra-Lehrgänge
sen werden. Diese Technik ist auch deutlich kosten- angebotene, z. B. »mission performance at high alti-
günstiger als Akklimatisationscamps und wäre rela- tude« von DMI (»Deployment Medicine Interna-
33.7 · Tipps und Tricks
449 33
tional«), welcher ganz pragmatische Lehrgangsziele Schnee muss wegen der Gefahr kältekonservierter
verfolgt. Ausgeschrieben für militärische Führer Fäkalien ebenfalls abgekocht werden.
werden die Teilnehmer in diesem Lehrgang mit der
Höhenkrankheit konfrontiert, kombiniert mit zahl- Tipps
reichen veranschaulichenden praktischen Übungen 5 Schneller und spritsparender ist es, falls
und Erfahrungen sowie vorgeschaltetem theoreti- möglich, einen See aufzuhacken und das
schen Unterricht. Dies geschieht in einer Umge- eiskalte Wasser abzukochen, als das Eis des
bung, in der jederzeit interveniert werden könnte. Sees zu schmelzen.
In der Bundeswehr wurde der Lehrgang »Höhen- 5 Immer einen Topfdeckel verwenden.
medizin für Sanitätspersonal« eingerichtet, und es 5 Am besten das 2-Topf-Prinzip anwenden.
wird seit jeher im Rahmen des Heeresbergführer- Großer Topf zum Schnee schmelzen, kleiner
lehrgangs auch eine solide höhenmedizinische Aus- Topf, um das erhaltene Wasser abzukochen.
bildung vermittelt. 5 Waagrecht liegende 1,5 l PET-Flasche in
Zum Schluss einige Bemerkungen zu dem The- direktem Sonnenlicht ergibt Trinkwasser
ma »ausreichenden Trinkmenge« in der Höhe. Aus (SODIS: Solar Water Disinfection).
dem Sport ist bekannt, dass bereits ein Verlust an
Körperwasser von 2 % die Ausdauerleistungsfähig-
keit und bei 4 % die Kraft einschränkt. In der Höhe
kommt hinzu, dass bei einem Flüssigkeitsverlust 33.7 Tipps und Tricks
von 1 l die Sauerstofftransportkapazität des Blutes
um 5 % abnimmt – das entspricht 500 Höhenmetern 4 Buddy (Partnering)-System: Jeder achtet be-
mehr. Durch die Anstrengung und dem erhöhten sonders auf den ihm zugewiesenen Partner.
Wasserverlust in der kalten trockenen Luft kommt 4 Schlafen mit erhöhtem Oberkörper (z. B. Ruck-
dem Wasserhaushalt und damit der Trinkmenge sack unter Isomatte), dies vermindert den
große Bedeutung zu. Druck im Lungenkreislauf, verbessert die
> Viel trinken verhindert zwar keine Höhen-
Sauerstoffversorgung und beugt HAPE vor.
krankheit, ein Flüssigkeitsdefizit kann jedoch
4 Kohlenhydratreiches Essen verbessert die
die Höhenkrankheit auslösen.
Sauerstoffversorgung.
4 Tagsüber Höhenreiz zur Akklimatisation set-
Allgemein geht man von 4–5 l Flüssigkeitszufuhr zen (z. B. Materialtransport), nachts in tieferen
pro Tag aus. Diese Trinkmenge sicherzustellen, ist Lagen schlafen, damit sich der Organismus
eine große Herausforderung. Wegen des hohen Ge- wieder erholen kann
wichts ist eine Versorgung aus dem Gelände meist 4 Keine Pressatmung, keine anaeroben Belas-
unumgänglich. Grundsätzlich muss aber das Was- tungen
ser (auch Quellwasser) als kontaminiert betrachtet 4 Aufstieg mit Puls <120 d. h. mit einem Leis-
und daher entsprechend aufbereitet werden. Hierzu tungsgrad von 50–60 % (Prinzip der Unterfor-
eigenen sich z. B. Katadynfilter und die Verwen- derung)
dung von chlorhaltigen Wasseraufbereitungsmittel. 4 Atmen im Gehrhythmus:
Silberionen dienen der Haltbarmachung von aufbe- 5 über 1 Schritt einatmen, über 2 Schritte aus-
reitetem Wasser, als alleiniges Aufbereitungsmittel atmen
sind sie ungeeignet. Iod ist am wirksamsten, aber in 5 im steileren Gelände: über 1 Schritt ein-
Deutschland dafür nicht zugelassen. Bis 6.000 m ist atmen, über 1 Schritt ausatmen
das Abkochen des Wassers eine gute Möglichkeit 4 Möglichst Nasenatmung mit geschlossenem
zur Aufbereitung. Wenn das Trinkwasser aus Schnee Mund
geschmolzen wird, muss viel Zeit und Brennstoff 4 Viel trinken, fehlende Urinproduktion ist ein
eingeplant werden. Je nach Temperatur und Schnee- Warnsymptom
beschaffenheit (Sulzschnee, Eis oder Champagner- 4 Ausatmung gegen die Lippenbremse erhöht die
powder) variiert der Brennstoffbedarf erheblich. Sauerstoffsättigung
450 Kapitel 33 · Militärischer Einsatz in großer Höhe
Flugmedizin
G. Röper, J. Stier, J. Schwietring
Literatur – 471
Die Luftfahrzeuge für die Rolle des Forward AE Laparoskopische Eingriffe 10 Tage
werden als Primärrettungsmittel, ähnlich einem Pneumoperitoneum 10 Tage
zivilen Rettungshubschrauber (RTH), in einer na- Diagnostische Thorakomie 7 Tage
tionalspezifischen MedEvac-fähigen Version vorge-
Herzchirurgische Eingriffe 10 Tage
halten. Internationale Vorgaben zu Ausstattung,
Personalqualifikation etc. gibt es nicht. Geflogen Pneumozephalus Ggf. mit Drainage
wird in der taktischen Fliegerei in der sog. Two- flugtauglich
Ship-Formation, wobei das Rettungs-LFZ zur Auf- Mittelohroperationen 10 Tage
nahme der Verwundeten von einem zweiten LFZ Intraokuläre Eingriffe/penetrie- 7 Tage
(»Chaser«) aus der Luft gesichert wird. Je nach Be- rende Augenverletzung
drohungslage ist manchmal auch der Einsatz von
Periphere Gefäßoperationen 14 Tage
Kampfhubschraubern zur Sicherung der Lande-
zone (LZ) vorgesehen.
Bei der taktischen und der strategischen Luft-
verlegung (Tactical- bzw. Strategic AE) ist mit zum einer Sekundärverlegung eingehalten werden
Teil längeren Vorlaufzeiten der LFZ zu rechnen, da (. Tab. 34.1). Bei den genannten Zeitwerten handelt
diese oft kurzfristig für den medizinischen Zweck es sich um Richtwerte, wie sie für Patienten im zivi-
erst ein- bzw. umgerüstet werden müssen. Auch hier len Setting vorgesehen sind, bis eine luftgebundene
sind die Standards der verschiedenen Nationen un- Reisefähigkeit festgelegt werden kann. Letztlich
terschiedlich. Die Kategorie der Verlegung, die Art müssen im militärischen Umfeld aber immer der
des Luftfahrzeuges, das Flugprofil, die Dringlichkeit Zustand des Patienten, die Transportdringlichkeit,
der Lage müssen in die Entscheidungsfindung zur die Sicherheitslage, die beabsichtigte Flughöhe so-
Patientenverlegung einbezogen werden. Am An- wie vorab durchgeführte medizinische Maßnah-
fang steht dabei immer die Beurteilung des klini- men (Drainagen, Katheter etc.) beim Abweichen
schen Patientenzustands (stabil vs. instabil). von diesen Richtzeiten berücksichtigt werden.
Grundsätzlich gibt es beim Forward AE keine
medizinischen Kontraindikationen, weil die Vor-
teile für den Patienten im Vergleich zum Landtrans- 34.2.2 Ziviles Luftrettungssystem
port nahezu immer überwiegen. Vor einem Tacti-
cal- bzw. Strategic AE ist letztlich jeder Fall geson- Das militärische Luftrettungswesen war der Ur-
dert zu beurteilen. Die aus dem schnellen Lufttrans- sprung des zivilen Luftrettungssystems. Wesent-
port resultierenden Vorteile müssen den möglichen liche Aufgabe ist hierbei das Heranführen des Not-
Nachteilen einer Luftverlegung gegenübergestellt arztes auf direktem Wege über eine größere Distanz
werden. Auch wenn es für den Primärtransport kei- sowie das ebenso rasche Rückführen des Patienten.
ne Kontraindikation gibt, sollten für einen Sekun- Während anfänglich häufige Verkehrsunfälle mit
därtransport in Flughöhen über 1500 m adäquate einer Vielzahl an Verkehrstoten und -verletzten den
Zeitabstände zwischen operativer Behandlung und Anstoß zur Projektierung eines Hubschraubers als
454 Kapitel 34 · Flugmedizin
Rettungsmittel gaben, stellt sich das Bild heute deut- sprechend seiner Ausbildung nach JAR-OPS das
lich vielschichtiger dar. fliegende Personal beim Funken, Navigieren,
Die Bundeswehr hatte sich über viele Jahre am Luftraumbeobachten sowie zahlreichen weiteren
zivilen luftgebundenen Primärrettungssystem be- Flugsicherheits- bzw. Bergungsaufgaben (Berg-
teiligt. So waren die Maschinen vom Typ Bell UH bzw. Alpinrettung). In der infrastrukturellen Konfi-
1D mit den roten Türen, der Aufschrift SAR sowie guration bezüglich Material/Personal unterscheidet
das noch bekanntere typische Rotorengeräusch sich das arztbesetzte Rettungsmittel RTH grund-
(»Teppichklopfer«) der Garant für nahende Hilfe. sätzlich nicht von einem NEF. Diese Grundsatzrege-
Ab 1999 zog sich das staatlich-militärische Engage- lung ist in der Europäischen Norm EN 13718 fest-
ment aus der zivilen Rettungsfliegerei zurück. Die geschrieben und bindend für die Betreiberorgani-
Rolle der Bundeswehr in der deutschen Luftrettung sation.
beschränkt sich seitdem auf die alleinige Erfüllung Meist erfolgt der Einsatz eines RTH bei Trauma-
des sog. ICAO-Auftrages, also die Durchführung patienten oder in ländlichen Gebieten, kann aber im
von Such- und Rettungsoperationen (SAR) im Falle städtischen Umfeld auch als rascher Zubringer für
abgestürzter oder vermisster Luftfahrzeuge. Hierzu Rettungsdienstpersonal bei internistischen Notfäl-
ist jeder Staat, welcher der International Civil Avia- len eingesetzt werden. Häufig werden RTH zu Ver-
tion Organisation (ICAO) angehört, im Rahmen legungen zwischen einzelnen Kliniken (Sekundär-
des Chicagoer Abkommen von 1944 über die inter- einsatz) herangezogen. Hier wird aufgrund der sich
nationale Zivilluftfahrt verpflichtet. Die Bundesre- ändernden Krankenhauslandschaft (weniger Klini-
publik trat der ICAO 1956 bei. Mit dem Rückzug ken, längere Flugstrecken) zukünftig ein Anstieg zu
aus der Rettungsfliegerei der Bundeswehr folgte die erwarten sein. Heutzutage werden im zivilen Ret-
Einführung ziviler Luftrettungsmittel. tungsdienst entsprechend den seit 2009 geltenden
Neben der ADAC Luftrettung GmbH und der JAR-OPS 3 ausschließlich Maschinen mit 2 Turbi-
Stiftung DRF Luftrettung beteiligen sich noch Bun- nen eingesetzt. Gängiges Muster für den Primärein-
despolizei und das Bundesministerium des Inneren satz ist z. B. die EC135. Sie vereint ausreichendes
als Betreiber einzelner Luftrettungsstationen und Platzangebot mit der Möglichkeit, auch kleinere
stellen das fliegerische Personal. Insgesamt gibt es Landeflächen zu nutzen. In Abhängigkeit der ein-
heute in Deutschland ca. 80 Luftrettungsstütz- zelnen Betreiber wird sie in unterschiedlichen Kon-
punkte. In einigen Bundesländern kommen zudem figurationen verwendet (z. B. Bundespolizei mit
speziell ausgerüstete Polizei- oder Katastrophen- polizeitaktischer Ausrüstung wie Kamera und
schutzhubschrauber für Suchaufgaben (z. B. bei ver- Überwachungssysteme), was z. T. eine deutliche
missten Personen), Katastrophenhilfe, Evakuie- Gewichtszunahme mit sich bringt.
34 rungsaufgaben, Ersthilfe von Verletzten sowie Un- An einigen Standorten wird heute Luftrettung
terstützung in der Seuchenbekämpfung zum Ein- auf der Basis einer 24-h-Verfügbarkeit betrieben.
satz. Neben den erhöhten technischen Aufwendungen
Der klassische Rettungshubschrauber (RTH) (z. B. Nutzung NVG) ist für den Nachtflug ein zwei-
wird organisatorisch an eine Vertragsklinik ange- ter Pilot erforderlich. Wesentlich während des
bunden. In der Mehrzahl der Fälle besteht das me- Nachtbetriebes ist der höhere planerische Vorberei-
dizinische Team des zivilen RTH (HCM) aus einem tungsaufwand bezüglich Zeit und Gesamtumlauf.
Notarzt, einem Luftrettungsassistenten bzw. Auch der klinische Zustand des Patienten sowie die
Luftrettungsmeister (HEMS Crew Member) sowie Entfernung zwischen Aufnahmeort und Zielklinik
bei Bedarf einem Praktikanten. Der Notarzt wird oft sind maßgeblich für den Zeitbedarf des Gesamtein-
aus dem ärztlichen Personalpool der Vertragsklinik satzes. Oft ist aufgrund eingeschränkter Landemög-
entliehen, der Luftrettungsassistent rekrutiert sich lichkeiten (keine Sicht, keine Kenntnis des Lande-
aus einer vertraglich gebundenen Rettungsdienst- bereichs) der klassische Primäreinsatz mit direktem
organisation (DRK, Feuerwehren, Bundeswehr Anflug und unmittelbarer Landung am Einsatzort
und u. a.). Der Luftrettungsassistent unterstützt zu- nicht möglich. Hier kann eine Lösung die Übernah-
sätzlich zu seinen medizinischen Aufgaben ent- me des erstversorgten Patienten an einer Klinik
34.3 · Personal und Sicherheit
455 34
sein, oder es existieren katalogisierte Landestellen 34.3 Personal und Sicherheit
wie Parkplätze, Sportanlagen etc.
Eine Ausleuchtung des Landeplatzes kann über 34.3.1 Gesundheitliche Voraus-
die Kräfte der Feuerwehr oder des THW erfolgen. setzungen für militärisches
Auch ist nach Landung des RTH die bodengebun- AE-Personal
dene Zuführung der medizinischen Besatzung an
die Einsatzstelle möglich, um die vor Ort befind- Grundsätzlich können organische bzw. psychische
lichen Einsatzkräfte zu unterstützen. Bedingt durch Grunderkrankungen sowie eine individuell beste-
die Veränderung der Krankenhausstrukturen, der hende Disposition zur Flugunverträglichkeit bei
demographischen Entwicklung der Bevölkerung z. B. hohen Krafteinwirkungen (G-Kräfte) während
und der Dynamik des medizinischen Fortschritts ist rascher Änderungen von Flugrichtung und Flug-
jetzt schon erkennbar, dass die Zahl der Transporte höhe die Arbeitsfähigkeit eines Rettungsdienstmit-
unter Nutzung spezieller medizinischer Techniken, arbeiters stark beeinträchtigen. Übermüdung, psy-
hier insbesondere sog. Organersatzverfahren wie choaktive Substanzen am Vorabend (z. B. Alkohol,
z. B. ECMO, Novolung-Beatmung, in weiterführen- Nikotin), viszeroaktivierende Maschinenvibratio-
de Spezialkliniken zunehmen wird. nen, unbehagliche Zellentemperatur, monoton dre-
hender Rotorschatten (Flickerlight) oder Müdigkeit
Praktische Regeln sowie bereits kleinste Anzeichen von banalen grip-
5 Kritische Phase ist immer der Be- und palen Infekten können diesen Effekt zusätzlich ver-
Entladevorgang stärken oder für sich alleine eine gesundheitliche
5 Klare Absprache zwischen den Crew- Beeinträchtigung auslösen.
members > Medizinisches Personal auf fliegenden
5 Kommunikation im Hubschrauber auf ein Rettungsmitteln sollte einer gesundheitlichen
Mindestmaß reduzieren (»silent cockpit«) Eignung für den »Flugdienst« unterzogen
5 Bei fehlender Unterstützung durch Boden- werden.
rettung Mitnahme des gesamten Materials
5 Umladevorgänge bei Gesamttransportzeit Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, werden
berücksichtigen (RW <20 min oft ohne die medizinischen Mitarbeiter eines luftgebunde-
wesentlichen Vorteil) nen militärischen Rettungsmittels als Additional
5 Keine losen Gegenstände (Jacken, Taschen) Crew Member (ACM) im zivilen Hubschrauberbe-
bei Start und Landung reich: Helicopter Crew Member (HCM) betrachtet
5 Ordnungsgemäße Befestigung der medizi- und in Analogie zu anderen Nationen jährlich
nischen Geräte (MPG) an den DIN-Schienen durch einen Fliegerarzt der Bundeswehr gesund-
5 Wachen Patient ggf. in den Bordfunk mit heitlich auf eine Wehrfliegerverwendungsfähig-
»einklinken« keit (WFV) untersucht und begutachtet. Für das
5 Elternteil ggf. mitfliegen lassen Personal ziviler Rettungsdienste existieren demge-
5 Adäquate Bekleidung für HCM, abweichen- genüber keine echten medizinischen Flugtauglich-
des Temperaturbedürfnis zwischen HCM keitsvorgaben. Eine medizinische Begutachtung des
und Patient Rettungsdienstpersonals erfolgt hier allenfalls im
5 Zwischendrin immer wieder die Frage: Rahmen der üblichen betriebsärztlichen Untersu-
»everybody happy?« chung, eine arbeitsmedizinische Bewertung durch
einen Arbeitsmediziner mit flugmedizinischer und
flugphysiologischer Erfahrung wäre wünschens-
wert [2, 4, 6]. Für eine Tätigkeit im Bereich FwdAE
ist eine uneingeschränkte körperliche und psychi-
sche Belastungsfähigkeit zwingend notwendig, um
den gestellten Anforderungen in vollem Umfang
gerecht zu werden.
456 Kapitel 34 · Flugmedizin
. Tab. 34.2 Empfohlene Ausbildungsgrundlagen für den Einsatz auf militärischen und/oder zivilen Rettungshub-
schraubern
Medizinprodukteinweisung aller auf dem LFZ Medizinprodukteinweisung aller auf dem LFZ
zu nutzender Geräte und Materialien zu nutzender Geräte und Materialien
Meteorologie (A)CRM-Ausbildung
Luftfahrtrecht
34.3.2 Ausbildung von AE-Personal flügler zum Einsatz kommen, in besonderen militä-
rischen Lagen z. B. das überlebenswichtige Verhal-
34 Medizinisches Personal wird auf luftgebundenen ten in isolierten Lagen beherrscht und die Grundla-
Rettungsmitteln im Rahmen von Primär- und Se- gen des »personal recovery« (PR), verinnerlicht
kundärtransporten eingesetzt. Insbesondere die werden. Die folgenden Ausbildungsempfehlungen
Primärrettung bedingt für das medizinische Perso- sind aus Sicht der Autoren die Mindestanforderun-
nal zur Bewältigung seiner Aufgaben eine hochwer- gen, welche sich an der jeweils zuordenbaren fach-
tige und umfassende Ausbildung. Im Gegensatz lichen Ausbildungshöhe (z. B. RettAss/Notfallsani-
zum zivilen Rettungsdienst sind im militärischen täter/Intensivpfleger/Arzt) orientieren müssen
Setting zur Erfüllung des Forward-AE-Auftrages (. Tab. 34.2).
zwingend auch weitere militärische Qualifikationen
notwendig. RW sind in der Landephase und insbe-
sondere auch während der Wartephase am Boden 34.3.3 Taktischer Flug und allgemeine
ein exponiertes Ziel (»sitting duck«) für feindliche Sicherheitsaspekte
Kräfte und können so durch feindlichen Beschuss
zerstört oder fluguntauglich gemacht werden. Außer Der taktische Flug ist insbesondere unter Bedro-
dem medizinischen »Handwerk« müssen daher von hung durch Feindbeschuss sowohl für Patient als
militärischem Sanitätskräften, die auf einem Dreh- auch für das medizinische Personal eine besondere
34.3 · Personal und Sicherheit
457 34
Herausforderung. Um der feindlichen Aufklärung 34.3.4 Aeromedical Crew Ressource
zu entgehen, ist der tiefe und deckungsgebende Management (ACRM)
Konturenflug in Anpassung an das Geländeprofil
oftmals die einzige Überlebensgarantie. Schnelle In der Luftfahrt konnte festgestellt werden, dass zu-
Ausweichmanöver des Luftfahrzeugs (LFZ) in drei meist menschliches Versagen (»human factor«) ur-
Dimensionen beeinträchtigen sowohl die Arbeit am sächlich für viele schwere Un- oder Zwischenfälle
Patient als auch dessen Transporttoleranz. war. Meist waren hier mangelnde Kommunikation/
Gegebenenfalls können in größeren Hub- Kooperation, personelle Kompetenzkonflikte, redu-
schraubermodellen Stehhaltegurte den freien Fall zierte situative Aufmerksamkeit, nicht zielgerichtetes
des Personals im LFZ verhindern und Sicherheits- Führungsverhalten sowie fehlerhafte Entscheidungs-
helme gegen Kopfverletzungen innerhalb des LFZ findung ursächlich. Diese Erkenntnis machte die
schützen. Die Patienten sollten stabil auf einem Entwicklung eines »Werkzeugs« notwendig, welches
adäquaten Transportmedium wie z. B. dem Luft- die genannten Ursachen optimieren sollte. In den
transportsack gegen vertikale und horizontale 1970er Jahren schlug daher die Geburtsstunde des
Scherkräfte gesichert werden. Die Art und Weise Crew Ressource Management (CRM), welches von
der Fixierung des Patienten kann jedoch in hohem der NASA erstmals ins Leben gerufen wurde und in
Maße auch von der der Gesamtlage abhängig sein, der zivilen wie auch militärischen Luftfahrt bis heute
aus welcher der Patient ausgeflogen werden soll. erfolgreich angewendet wird.
Rettungsmittel und medizinische Geräte müssen > Ziel ist es, das Bewusstsein einer Crew so zu
gegen Eigenbewegungen im LFZ gesichert werden. steuern, dass erkannt wird, wie entscheidend
Gerade im Umgang mit medizinischem Sauer- effektive Kommunikation und die Beziehung
stoff sei erwähnt, dass es sich um Gefahrgut der der Crewmitglieder untereinander für den
Klasse 2 handelt und im Hinblick auf die Ladungs- Erfolg einer Mission ist.
sicherheit eine besondere Sorgfalt notwendig ist.
Um das Risiko von Schäden (Explosion, Brand) Da auch im medizinischen Bereich bis zu 70 % der
durch Sauerstoffflaschen zu umgehen, können Pro- Komplikationen auf den »human factor« zurückzu-
dukte zur Herstellung von medizinischem Sauer- führen sind, hat CRM inzwischen auch den Bereich
stoff aus Granulaten/Pulvern (EmOX Unit) oder der Notfall- bzw. Rettungsmedizin zunehmend
mittels Sauerstoffkonzentrierung (»oxygen concen- erobert und sich hier insbesondere im Bereich der
trators«) aus der Umgebungsluft eine Alternative Luftrettung seit 2004 als Aeromedical Crew Res-
darstellen. Eine allgemeingültige Empfehlung kann source Management (ACRM) etabliert.
hier aber nicht gegeben werden. Anders als bei der Gerade im Bereich der Luftrettung unterliegt das
zivilen Luftrettung ist während eines militärischen Handeln an Bord eines LFZ einer besonders hohen
»Forward AE« eine luftfahrtzugelassene Befesti- Dynamik und Komplexität und damit wiederum
gung der Geräte nicht immer möglich, woraus sich einer hohen Fehleranfälligkeit. Abweichende Ausbil-
eine rechtliche Grauzone ergibt. dungsstände der medizinischen Crewmitglieder,
unterschiedliche Kompetenzen und viele andere Fak-
Praktische Regeln toren haben bei der Versorgung von Verletzten einen
5 Kopfschutz tragen wesentlichen Einfluss auf die Versorgungsqualität.
5 Ggf. Sicherungsleine bzw. Stehhaltegurt an-
legen, um sich in geräumigen LFZ gegen > Insbesondere während eines luftgebundenen
Sturz zu sichern Verwundetentransports, bei dem zahlreiche
5 Patienten sichern negative Umgebungseinflüsse wie Lärm,
5 Medizinische Geräte beim Transport ggf. Lichtverhältnisse, Platzmangel, Bedrohungs-
zusätzlich durch Kabelbinder fixieren lage oder Zeitdruck einwirken, ist eine funk-
tionierende Kommunikation sowohl inner-
halb der medizinischen Crew als auch mit
den Piloten (o. ä.) aufrecht zu halten.
458 Kapitel 34 · Flugmedizin
. Tab. 34.3 Vor- und Nachteile der kontrollierten und unkontrollierten Patientenaufnahme beim Forward AE unter
Berücksichtigung der Bodenkontaktzeit (BKZ) des LFZ
Vorteile Rasche Aufnahme von Patienten Überblick der Verletzungen Überblick der Verletzungen
Wenig Zeitverlust (»trauma assessment«) Adäquate Versorgung vor
Adäquate Versorgung vor Trans- Transport möglich
port möglich Sichtung unklarer Verlet-
Planbare Workload zungskategorien möglich
Heranführen der Tragetrupps an
das LFZ
Nachteile Fehlerhafte Patientenübergabe Längere Wartezeit des RW mög- Zweimalige ggf. gefährliche
Oft unklarer Verwundetenstatus lich Landeverfahren des LFZ
durch vorab unzureichende Transferwege der ACM (Siche- Treibstoffsituation des LFZ
Sichtung, ggf. nicht ausreichende rung?) zum Verletzten Transferwege der ACM (Siche-
Behandlung Übergang in kontrolliert zweizei- rung?) zum Verletzten
Verletzter mit unklarem Bewaff- tig möglich Ggf. besondere Verhaltens-
nungsstatus muster am LFZ erforderlich
Tragetrupp oft ohne Einweisung (z. B. hinlegen nach Verlassen
im Umgang mit RW des LFZ)
Bei vielen Verletzten erfolgt
hoher Workload
Wann Heiße Zone, stabile/instabile Heiße Zone, nur wenn die BKZ Ergibt sich oft aus dem KEV
mache ich Patienten des LFZ (bis max.. 3 min) bei Beschuss und BKZ >3 min
was? Hohe Zuladekapazität des LFZ LFZ mit niedrigerem Rotorbo- Bei mehreren Patienten, un-
(z. B. CH47) bei MANV denabstand (UH60, NH90 etc.) klarem Verletztenstatus, redu-
LFZ mit hohem Rotorbodenab- zierter Transportkapazität und
stand (CH53, CH47 etc.) wenig Personal auf dem LFZ
> Grundsätzlich sollte bei beiden beschriebe- oder Schneelandungen (Brown- bzw. White-out).
nen Varianten der ACM den Tragetrupp des Grundsätzlich wird durch dieses Verfahren die
Verletzten zum Hubschrauber führen, die La- Bodenkontaktzeit (BKZ) des LFZ auf ein Minimum
34 detür am Helikopter sichern und den Belade- reduziert, die Gefahr eines feindlichen Treffers ver-
vorgang koordinieren. mindert und die verfügbare Arbeitszeit der ACM
verlängert. Das zweizeitige Verfahren entwickelt
Beim kontrollierten zweizeitigen Verfahren (KZV) sich häufig aus dem kontrolliert einzeitigen Vor-
verlässt der ACM zunächst das LFZ. Überschreitet gehen durch unvorhergesehene verlängerte Über-
die Bodenkontaktzeit des Helikopters in einer »Hei- gabe- bzw. Behandlungszeiten der ACM oder ist
ßen Zone« (HZ) die Zeit von maximal 2-3 Minuten aufgrund der vor Ort herrschenden Sicherheitslage
hebt er ab um den Gefahrenbereich temporär zu das Verfahren der Wahl.
verlassen. In sicherer Distanz vor feindlichem Be- Die Vorteile der kontrollierten einzeitigen Pa-
schuss befindet sich der Helikopter dann in einer tientenaufnahme überwiegen sicherlich die der un-
Warteschleife (Holding), um auf Abruf durch den kontrollierten und haben letztlich dazu geführt,
Führer der medizinischen Crew erneut die HZ an- dass die US-Soldaten dieses System bevorzugt ein-
zufliegen und die Rettungskräfte mitsamt dem Pa- setzen (. Tab. 34.3).
tienten aufzunehmen. Eine wesentliche Gefahr liegt
bei diesem Vorgehen in der damit erneut in Kauf zu
nehmenden kritischen Landephase bei z. B. Staub-
34.5 · Physikalische und psychische Einflüsse auf Patient und Personal
461 34
34.4.2 Tactical AE
5 Die Tactical/Strategic AE im Einsatz ist
Der Tac AE wird durch einen »patient movement ein komplexer, multifaktorieller Prozess,
request« (PMR) angefordert und hat eine planbare welcher neben flugphysiologischem und
Vorlaufzeit. Ein PMR sollte immer die Personalien, medizinischem Wissen auch umfangreiche
die Anamnese, sowie die Diagnosen, die erfolgten organisatorische, technische, strukturelle,
Therapiemaßnahmen, sowie die noch bestehenden taktische und nicht zuletzt kulturelle Kennt-
medizinische Erfordernisse beinhalten. Leider ist nisse erfordert.
dies nicht immer der Fall. Die PMR werden oft durch
Angehörige unterschiedlicher Nationalitäten erstellt,
die Fehlerquellen ergeben sich somit z. B. durch man-
gelndes Sprachvermögen, unterschiedliche Ausbil- 34.5 Physikalische und psychische
dungsstände, inkompatible Kommunikationsmittel Einflüsse auf Patient
und andere Faktoren. Zwingend notwendig ist es, die und Personal
sanitätsmateriellen Unterschiede verschiedener Na-
tionen zu berücksichtigen. Vor der Patientenüber- 34.5.1 Einfluss von Flughöhe
nahme muss geklärt sein, inwiefern eine Kompatibi- auf Sauerstoffpartialdruck
lität der Medizinprodukte der unterschiedlichen und luftgefüllte Räume
Nationen besteht (passen z. B. deutsche Infusionslei-
tungen an die Anschlüsse anderer Nationen?). Trotz Mit zunehmender Flughöhe nimmt der Luftdruck
aller Bemühungen um ein leitliniengerechtes und ab. Dies kann insbesondere für den taktischen wie
medizinisch einwandfreies Arbeiten müssen Reser- auch strategischen Verwundetentransport einen
ven vorgehalten und Möglichkeiten zur Improvisa- wesentlichen Einfluss auf die Gesundheit von Pa-
tion gelassen werden. Sprach- bzw. Verständigungs- tient und Personal haben. Ursächlich hierfür ist der
probleme und kulturelle Besonderheiten (Ehrbegriff, Zusammenhang von Höhe, Gesamtluft- und Sauer-
Rolle der Geschlechter etc.) können je nach Einsatz- stoffpartialdruck. Mit zunehmender Höhe bewirkt
region einen direkten und unmittelbaren Einfluss auf ein Abfall des Gesamtluftdrucks einen gleichzeitig
das weitere Vorgehen der Einsatzplanung haben. Das stattfindenden Abfall des Sauerstoffpartialdrucks.
Vorab-Telefonat mit dem behandelnden und »Patien- So herrscht am Erdboden ein atmosphärischer Ge-
ten-abgebenden« Arzt ist oft unumgänglich und samtdruck von 1 bar (ca. 1013 Hektopascal oder
dringend anzuraten. Eine Checkliste möglicher Prob- 760 mmHg), der Sauerstoffpartialdruck liegt mit
leme und deren Lösungsansatz gibt . Tab. 34.4 wieder. 21 % Sauerstoffanteil bei 1 bar × 0,21 (1013 hPa ×
0,21 bzw. 750 mmHg × 0,21) der mit zunehmender
Flughöhe abnimmt. Obwohl der Druckabfall im
Praktische Regeln Medium Luft bis in die höheren Atmosphären ex-
5 Unkontrollierte Patientenaufnahme vorab ponentiell verläuft, zeigt sich bis etwa 10.000 Fuß
mit dem Hubschrauberkommandanten (feet, ft) ein nahezu linearer Druckkurvenverlauf
koordinieren, da er die Gesamtverantwor- mit einem Abfall von etwa 1 hPa/30 ft.
tung für den Helikopter und seine Crew hat.
> Pro 5500 m Höhe halbiert sich der Sauerstoff-
5 Wann welche Verfahrensoption durchge-
partialdruck, so dass bei 18.000 Fuß Flug-
führt wird, ist nicht immer eindeutig und
höhe nur noch die Hälfte des ursprünglichen
von der Gesamtsituation abhängig.
Drucks auf Meereshöhe und somit auch nur
5 Die drei Verfahren des Forward AE müssen
noch ca. die Hälfte des Sauerstoffpartial-
vorab intensiv trainiert werden
drucks in der Atmosphäre herrscht.
5 Bei fraglich vollständigen PMR mit dem ab-
gebenden Arzt telefonieren und immer Dies hat direkte Auswirkungen auf die Sauer-
vom Schlimmsten ausgehen. stoffsättigung (SpO2), welche mit Hilfe eines Puls-
oxymeters gemessen werden kann. Während am
462 Kapitel 34 · Flugmedizin
PMR vollständig (z. B. Identi- Mangelhafte Daten zu Patient, Diagnose Rücksprache mit Rettungsleitstelle i.E,
tät, medizinische Fakten, oder Behandlung Arzt-Arzt-Gespräch (A-A-G)
Dringlichkeit)?
PMR inhaltlich: Zustand des Angaben zu kritischen Patienten oft unter- A-A-G: Vorbereitung wegweisender
Patienten, wesentliche schiedlich, Transport-Indikation bzw. Fragen, ggf. in Fremdsprache (z. B.
Befunde, Dringlichkeit? -priorität. medizinische Begriffe auf englisch)
Fristen nach operativen Zeitpunkt für Sekundärtransport u. U. Empfehlungen (z. B. . Tab. 34.1) ein-
Eingriffen? früher (Vor-/Nachteil?) halten, Gefährdung abwägen
Auswirkungen von Luft- Isolierte Lufteinschlüsse in natürlichen Entlastung (z. B. Thoraxdrainage (s. u.),
druckänderungen auf Pati- oder künstlichen Körperhöhlen Parazentese), Resorption/Zuwarten,
enten bzw. Organsysteme? Variation Zielflughöhe
Standard der jeweiligen Qualität der Behandlung in den Quell- A-A-G, ggf. zusätzliche Maßnahmen vor
bisherigen Behandlung? kliniken i.E. unterschiedlich Verlegung veranlassen
Diagnostik vor dem Luft- Für den Lufttransport notwendige Infor- z. B. CCT, (aktuelles) Rö-Thorax, BGA, Hb,
transport? mationen nicht im PMR Konsile (z. B. Augen), A-A-G
Intubations- und Beat- Unklare Informationen im PMR (Spontan, Beatmungsmodus und -parameter
mungsstatus? Lage assistiert usw.?), Dislokation ET-Tubus? erfragen, Abgleich mit Beatmungs-
ET-Tubus? optionen, regelmäßige Lagekontrolle
Drainagen vorhanden? Flugmedizinische Expertise u. U. nicht A-A-G als auch Abstimmung mit Piloten
Besondere Indikation bei vorhanden, Zustand und Funktion der wichtig (z. B. Zielflughöhe)
Lufttransport, Zielflughöhe? Drainage?
Zugänge, Katheter, Infusions- Verweildauer? Zustand? Lage? Kompatibel Genaue Absprache im A-A-G (v. a. bei
systeme, Perfusoren? mit Geräten im LFZ? Überlassung/Tausch!)
Patientenmedikation, v. a. Katecholamine, Hypnotika, Analgesie Dosierungen, evtl. Reservespritzen
welche i.v. Medikamente. usw.? Präparate anderer Nationen? aufziehen lassen, notwendige Um-
Kontinuierliche Gabe? stellungen vor Lufttransport
Noch invasive Maßnahmen Oft werden in kleineren Med. Einrich- Zugänge (peripher/zentral, Hirn-Druck-
vor Transport erforderlich? tungen eher weniger invasive Maßnah- sonden), Magensonde etc. oder Intuba-
men getroffen tion vor Aufnahme in LFZ vornehmen
Aufnahmepunkt klären Übernahmevereinbarungen werden »Komplexe« Patienten wenn möglich in
(Klinik oder Flugfeld?), missverstanden und enden in Wartezeiten. Klinik übernehmen, vorherige Sichtung,
34 Sichtung vor Übernahme? Wichtige Aspekte manchmal erst beim Besonderheiten bei Übernahme im
»Sichten« erkennbar internationalen »Setting« beachten
Nationale Besonderheiten Beispielsweise verschiedene Schraubver- Prüfung von Diskrepanzen, ggf. vor
beim Sanitätsmaterial? schlüsse bei venösen Zugängen/Infusion- Transport beseitigen
systemen
Gefährdungs-/Feindlage? Nicht immer ist es überall sicher Schutzweste an, Waffe am Mann
Flugverlauf? Flugwetter? (Bsp.) Taktisch? Turbulenzen? Arzt-Pilotengspräch
Bin ich fit? Kann ich das Eigene Fähigkeiten überschätzen Ehrlich zu sich sein
alleine? Fachlichen Defizite nicht eingestehen Spezialisten anfordern
Flug trotz Unwohlsein Gesundheitlich ungeeignete Menschen
sollten besser nicht fliegen
Nationalität des Patienten, Sprachliche und kulturelle Barrieren, Sprachmittler, kulturelle Sensitivität,
Sprache? Kinder? Begleitperson? Dosierungstabellen Kind
Patient Freund oder Feind? Freundliche/feindliche Absicht? Narkose, Fixierung, Wachpersonal
Patient (noch) bewaffnet? Auch eigene Kräfte bergen bei Delir/ Durchsuchung und Entwaffnung aller
Sedierung hohe Gefahren! Patienten (ggf. durch Militärpolizei)
Besonderheiten bei psychia- Gefährdung der Flugsicherheit z. B. durch Facharztkonsil, ggf. Sedierung oder
trischen Patienten Erregungszustände Ablehnung des Transportes
34.5 · Physikalische und psychische Einflüsse auf Patient und Personal
463 34
O2-Sättigung Flughöhe
(SO2 in %) 22000 12000 10000 Kabinendruckhöhe (ft.)
98
90
Linksverschiebung bei:
- Temp.-Anstieg
- ph-Anstieg
- CO2-Abfall Rechtsverschiebung bei:
- Temp.-Anstieg
67 - ph-Abfall
- CO2-Anstieg
50
Gefahrloser
Bereich
Kritische Schwelle
Störschwelle
27 33 55 61 103 O2-Partialdruck
(mmHg)
. Abb. 34.2 Zusammenhang von Flughöhe, Sauerstoffpartialdruck und Sauerstoffsättigung im Blut sowie die zugehörigen
Schwellenbereiche hinsichtlich Kompensierbarkeit möglicher Hypoxien (G. Röper)
Erdboden die SpO2 eines Gesunden ca. 98 % beträgt, einen »physiologischen Kabinendruck« ist bei ge-
beginnt der Körper ab ca. 10.000 ft (entspricht sunden nicht mehr möglich. Der SpO2 sinkt ab die-
3048 m) mit kompensatorischen Reaktionen wie An- ser Höhe auf 67 % ab, was einem effektiven pO2 von
stieg der Herzfrequenz um den verminderten Sauer- 33 mmHg entspricht (. Abb. 34.2).
stoffpartialdruck zu kompensieren. Durch diese Bei Intensivpatienten gelten grundsätzlich die-
Kompensation kann zumeist ein SpO2 von etwa 90 % selben physikalischen Gesetzmäßigkeiten wie beim
aufrecht erhalten werden, was einem arteriellen pO2 Gesunden, jedoch verhalten sich die Ausgangswerte
von ca. 60 mmHg entspricht. Hierbei ist immer zu instabiler. Während ein Gesunder am Boden einen
bedenken, dass ein solcher SpO2 nicht zwingend eine SpO2 von 98 % besitzt, kann ein lungenverletzter
verletzungsbedingte Hypoxie darstellt, sondern sich Patient hier mit deutlich niedrigerem SpO2 von z. B.
alleine schon aufgrund der Flughöhe erklären lässt. 80 % bei 10.000 ft im Lufttransport ein Atemnot-
Ab ca. 12.000 ft wird die Störschwelle überschritten syndrom entwickeln. Es ist daher sinnvoll entspre-
und eine vollständige Kompensation ist nicht mehr chende Patienten bereits bei niedrigeren Höhen mit
möglich. Aus diesem Grund wird in Strahlenflugzeu- Sauerstoff zu versorgen oder auf »sea level« zu ver-
gen (z. B. LearJet oder Airbus) ein künstlicher Druck bleiben. Zudem ist zu bedenken, dass in einer Flug-
(Kabinendruck) aufgebaut, der einer theoretischen höhe von 8000 ft eine Beatmung mit 100 % O2 einer
Flughöhe von ca. 2000–2400 m entspricht obwohl Beatmung mit ca. 75 % O2 in Meereshöhe entspricht,
das Flugzeug eigentlich viel höher fliegt (LearJet ca. da der Sauerstoffpartialdruck in dieser Höhe auch
12 km). Hubschraubern ist im zivilen Flugbetrieb das nur etwa 75 % des Drucks auf Meereshöhe ent-
Überfliegen einer Höhe von 10.000 ft verboten. spricht. Daher müssen Patienten mit einem O2-
Ab einer Flughöhe von etwa 22.000 ft wird die Partialdruck von 213 hPa (21 % O2) und einer inspi-
kritische Schwelle erreicht und eine respiratorische ratorischen Sauerstoffkonzentration FiO2 = 0,6,
Kompensation ohne zusätzlichen Sauerstoff oder bereits auf 8000 ft Höhe eine um den Faktor 1,35
464 Kapitel 34 · Flugmedizin
Hell-Dunkel-Adaption
5 Schnelle Anpassung an helles Licht
5 Sehr langsame Anpassung an schwache
Lichtverhältnisse 34.5.4 Kinetosen
5 Grundsätzlich nachts rotes Licht nutzen,
beim Einsatz von NVG Grünlicht einsetzen Die Kinetose umfasst als Synonymsammlung die
5 NVG haben ein eingeschränktes Sichtfeld, Reisekrankheit, die Bewegungskrankheit und die
hohes Gewicht, kein räumliches Sehens, Luftkrankheit. Sie sind alle gekennzeichnet durch
keinen Nahsichtbereich Übelkeit, Schweißausbruch, Blässe und ausgepräg-
tes Unwohlsein bis zum Erbrechen. Ursächlich für
Kinetosen sind die Diskrepanz zwischen Informati-
onen des vestibulären (Innenohr), optischen (Auge)
34 und propriozeptiven (Lageinformation der Gelenke
34.5.3 Lärm und Muskeln) Systems. So können Schwankungen,
Auf- und Abbewegungen sowie plötzliche Flugrich-
Die im taktischen Lufttransport eingesetzten RW tungswechsel eine Kinetose auslösen.
erzeugen bei normaler Reisegeschwindigkeit Laut- Aufgrund genetischer Disposition sind 10 % al-
stärken zwischen 85 und 120 dB. Bei diesen Lärm- ler Menschen sehr anfällig für die Symptome, 10 %
pegeln ist eine Kommunikation ohne Kommunika- sind immun. Kinder und ältere Erwachsene über
tionshilfen (z. B. Kopfsprechfunk) nicht durchführ- 50 Jahre erleiden deutlich seltener Kinetosen auf-
bar. Die Evaluierung eines Patienten (Auskultation, grund der noch nicht entwickelten bzw. altersbe-
Perkussion, Anamneseerhebung etc.) ist nur einge- dingten rückgebildeten Neurosysteme.
schränkt oder gar nicht möglich, so dass diese be-
reits vor Auf- bzw. Übernahme in das LFZ erfolgen Risikofaktoren Folgende Faktoren tragen zur Ent-
sollte. Akustische Warnsignale der Monitorgeräte wicklung einer Kinetose bei:
sind während des Fluges praktisch nicht wahr- 4 funktionsfähiges Vestibularorgan,
nehmbar, weshalb eine optische Kontrolle sowohl 4 Drogen (auch Alkohol und Nikotin),
der Medizingeräte als auch aller Anschlüsse und 4 Vibrationen,
34.5 · Physikalische und psychische Einflüsse auf Patient und Personal
467 34
4 starke Beschleunigungsreize und vertikale
Lagewechsel bei Ausweichmanöver oder Praktische Regeln
Turbulenzen, 5 Patienten früh antivertiginös behandeln
4 Lärm, 5 Frühzeitig Maßnahmen zur Eigenprophy-
4 wenig gesammelte Erfahrungen von laxe ergreifen
Bewegungsreizen,
4 Wärme,
4 fehlende visuelle Referenz und
4 olfaktorische Reize. 34.5.5 Vibrationen
Prävention Da ein taktischer Flug zahlreiche der Insbesondere Luftfahrzeuge mit Propeller- oder
genannten Aspekte beinhalten kann, sollten Maß- Rotorantrieb sorgen bei Start- und Landevorgängen
nahmen ergriffen werden, eine Kinetoseentwick- innerhalb der Zelle für erhebliche Vibrationen.
lung zu verhindern. Hierzu gehören das Einnehmen Wetterbedingte Einflüsse auf das Luftfahrzeug kön-
einer aufrechten Körperhaltung im Sitzen, eine um nen Vibrationen neu erzeugen oder bereits vorhan-
30° nach vorne gebeugte Kopfhaltung (oder wenigs- dene verstärken. Sie können in einem Frequenzbe-
tens aufrechte Position), im Liegen die Kopfhochla- reich zwischen 0,1 Hz und 100 Hz regelhaft (perio-
gerung, das Arbeiten im Flug auf ein Minimum zu disch) oder zufällig (stochastisch) auftreten und auf
reduzieren (lesen, am Monitor arbeiten, Infusionen den Menschen übertragen werden. Diese Übertra-
aufziehen etc.), Lagewechsel des Kopfes bei Turbu- gung wird in Abhängigkeit von Einwirkdauer, Aus-
lenzen zu vermeiden und eine optische Referenz breitungsrichtung, Einwirkstelle, Initialfrequenz
außerhalb des LFZ zu suchen (Blick aus dem Fens- sowie der Körperhaltung fortgeleitet und führt im
ter oder der Heckklappe). Körper zu unterschiedlichen Wirkungen:
> Medizinisches Personal mit der Prädisposi-
4 Der Körper reagiert auf Vibrationen reflekto-
tion zu Übelkeit und Erbrechen sollte bei ent-
risch mit statischer und dynamischer Muskel-
sprechend bevorstehendem Flugprofil eine
arbeit, was den Sauerstoffverbrach erhöht und
Prophylaxemaßnahme erwägen. Hierzu
einen vorbestehenden Sauerstoffmangelzu-
eignet sich Scopolamin oder Dimenhydrinat
stand negativ beeinflusst.
als transdermales Pflaster bzw. Kaugummi
4 Die Höhe einer Frequenzstärke kann zu einer
(z. B. Superpep).
Funktionsbeeinträchtigung von Organen führen
und z. B. Harndrang oder Übelkeit hervorrufen.
4 Bei erschütterungsempfindlichen Verlet-
Therapie Führen die genannten prophylaktischen zungen, z. B. Frakturen, kurzfristig zurücklie-
Maßnahmen nicht zum Erfolg, ist eine antivertigi- genden operativen Eingriffen oder spinalen
nöse Therapie in jedem Fall mit z. B. Ondansetron Verletzungen, kann es durch starke Horizon-
(Zofran i.v. oder Schmelztablette) oder Dimenhy- tal- oder Vertikalschwingungen (Scherkräfte)
drinat (z. B. Vomex) sinnvoll. Nach Neubewertung zu einer erheblichen Situationsverschlechte-
von Metoclopramid durch das Bundesinstitut für rung (z. B. Schmerzzunahme) kommen.
Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bzw. Schlecht geschiente oder unzureichend gepol-
der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) hat sterte Frakturenden können ausgeprägte ossäre
dieses Medikament an praktischer Bedeutung ver- Reibephänome im Bereich des Bruchspaltes
loren und sollte in Wirkstärken über 1 mg/ml keine induzieren und Schmerzen oder Schäden (z. B.
Anwendung mehr finden. Das mitfliegende medizi- an begleitenden Nerven) beim Verletzten pro-
nische Personal sollte bereits vor einem ersten Flug vozieren.
einer fliegerärztlichen Begutachtung unterzogen 4 Durch Vibrationen lösen sich Viggo-Ver-
worden sein (7 Abschn. 34.3), um die gesundheitli- schraubungen, Schutzkappen, Anschlüsse von
che Eignung für den fliegerischen Dienst sicher zu Infusionen und Perfusoren. Es dislozieren
stellen [2, 4]. Katheter, Schienen, Verbände o. ä.
468 Kapitel 34 · Flugmedizin
Besondere Vorsicht ist beim Transport von Klein- Bei der Nutzung luftbeweglicher Rettungsmittel
kindern und insbesondere Säuglingen angebracht. sind in großen Höhen oder beim Einsatz unter geo-
Zarte Gefäße im Schädelbereich neigen durch logischen, klimatischen und meteorologischen an-
starke Vibrationen dazu, zu zerreißen. Hier ist das spruchsvollen Rahmenbedingungen (z. B. Wüste,
manuelle Anheben und Fixieren des Kindskopfes Nacht, Winter, Gebirge, große Flughöhe) niedrige
neben der grundsätzlichen Positionierung des Kin- Temperaturen zu erwarten. Pro ca. 300 m (ca.
des in der Vakuummatratze ein probates Mittel, um 1.000 ft) Höhenaufstieg ist mit 2 °C Temperaturabfall
34 temporär auftretende Vibrationen zu reduzieren. zu rechnen, was sich bei offenen Türen/Heckram-
Grundsätzlich bietet der Markt viele Systeme (Va- pen, Fluggeschwindigkeiten bis 250 km/h oder dar-
kuummatratze, Traktionsschienen, Luftkammer- über und den sich hieraus ergebenden sehr hohen
schienensysteme, SAMSplints, SpineBoard, Skedco, Windgeschwindigkeiten (»wind chill«) zu einer le-
SAM PelvicSling etc.), die zur Minimierung der vi- bensbedrohlichen Situation für den Patienten
brationsbedingten Effekte beitragen können. Aus entwickeln kann. Ohne Wärmeschutz führt dies ent-
rechtlicher Sicht ist zu bedenken, dass für die Nut- sprechend dem in 7 Kap. 38 geschilderten Pathome-
zung eines Luftfahrzeugs auf die entsprechenden chanismus zu erhöhtem Sauerstoffverbrauch des
Luftfahrtzulassungen vieler Hilfsmittel zu achten Körpers, einer zunehmenden Eintrübung des Pati-
ist. Praktisch spielt dieser Aspekt, insbesondere bei enten und möglicherweise zu ausgedehnten Blutun-
militärischen Operationen mit »Forward AE-Ein- gen durch die erheblich eingeschränkte Gerinnungs-
sätzen«, oft eine untergeordnete Rolle, was jedoch funktion (pro 1 °C Abfall der Körpertemperatur ca.
das juristische Problem per se nicht weniger bedeut- 10 % Abfall der Gerinnungsfähigkeit). Diese kann
sam macht [2, 3, 4]. bei Patienten mit Schussverletzungen o. ä., insbeson-
dere im militärischen Umfeld, zu erheblichen Prob-
lemen während des Lufttransports führen.
34.5 · Physikalische und psychische Einflüsse auf Patient und Personal
469 34
! Durch das häufige »zu warm einpacken« 34.5.7 Stressprophylaxe
kann der Blutverlust maskiert und so erst
sehr spät oder gar nicht erkannt werden. Hier Jeder Mensch kann in persönlich erlebten Grenz-
muss der Patientenstatus in kurzen und situationen (physisch und psychisch) mehr oder
regelhaft durchgeführten Intervallen geprüft weniger bewusst einer Stresssituation ausgesetzt
werden. werden. Die beeinflussende Stressintensität ist ab-
hängig von den individuell zur Verfügung stehenden
Wärmeerhaltungssysteme, z. B. APLS Thermal Kompensationsmechanismen. Durch komplexe
Guard, können durch deren Konstruktionsweise Verletzungsmuster werden körpereigene bioche-
diese Patientenkontrollen erleichtern. Unter takti- mische Mechanismen in Gang gesetzt, die im Kör-
schen Flugbedingungen und starkem Wechsel der per Stressmechanismen auslösen können. Daher
Flugrichtungen ist mit dem Einschwemmen von muss versucht werden, traumatisierte Personen
kaltem Blut aus der Körperperipherie zu rechnen frühzeitig möglichst intensiv zu betreuen, um das
(»after drop«), wodurch jederzeit eine lebensbe- Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Jeder Patient,
drohliche Herzrhythmusstörung eintreten kann. an der Grenze zur psychischen Dekompensation,
Als höchste Priorität gilt deshalb, die Hypother- kann ein Flugsicherheitsrisiko darstellen. Es muss
mieprävention nicht zu vernachlässigen. Weitere daher bei entsprechenden Warnzeichen eine Sedie-
kommerzielle Systeme wie ReadyHeat-Decken, rung mit Benzodiazepinen (z. B. Diazepam, Mida-
Blizzard-Reflexcell oder silberbedampfte Rettungs- zolam oder Lorazepam als Schmelztablette) erfol-
decken können zusätzlich zu einer einfachen Woll- gen, ggf. ist die Fixierung des Patienten zu erwägen
mütze für den Kopf einen effektiven Unterküh- [2, 3, 4]. Erfahrungen der US-Streitkräfte weisen
lungsschutz darstellen. Handelsübliche Frischhalte- darauf hin, dass die frühe Gabe von Morphin bei
folien stellen im Extremfall eine einfache und im- verletzten Soldaten das Risiko für die Entwicklung
provisierte Alternative dar. Im Idealfall stehen eines PTBS reduzieren kann.
warme Infusionen bis maximal 40 °C zur Verfü- > Kritische Patienten sollten frühzeitig sediert
gung, die eine Hypothermie effektiv verhindern und ggf. fixiert werden.
können. Industrielle Geräte wie z. B. ThermalAngel
oder enFlow können einer Infusion vorgeschaltet
werden, um diese zu erwärmen. Eine Infusionstem-
peratur über 40 °C kann hämolytische Effekte aus- 34.5.8 Müdigkeit
lösen und ist daher zurückhaltend einzusetzen.
Bei länger andauernden Rettungseinsätzen ist aus-
Praktische Regeln reichender Schlaf nicht immer gewährleistet. Ein-
5 Hypothermie reduziert als dritte Kompo- sätze wie sie im Rahmen der Tsunami-Hilfe (Indo-
nente der letalen Trias (Azidose, Koagulopa- nesien 2004) stattfanden, forderten vom medizini-
thie, Hypothermie) die Überlebensfähigkeit schen Personal Dauereinsätze bis zu 35 h ohne
eines Verwundeten und muss unter allen Schlaf. Dies ist problematisch, da die mentale Ar-
Umständen verhindert werden. beitsleistung pro 24 h ohne Schlaf um ca. 25 % ab-
5 Kommerzielle Wärmesysteme nutzen oder fällt. Das Konzentrationsvermögen lässt stark nach
improvisieren (z. B. Decken, Frischhaltefolie, und erhöht die Fehleranfälligkeit. Ein Schlafdefizit
Wollmütze etc.) von 17 Stunden entspricht einem Blutalkoholspiegel
5 Bei unterkühlten Patienten heftige Bewe- von 0,5 ‰, bei 24 h Schlafentzug liegt ein Blutalko-
gungen vermeiden (»after drop«). holäquivalent von 1,0 ‰ vor. Ein Schlafminimum
5 Den Verletzten aktiv durch angewärmte von 4–5 h pro Tag sollte zur Erhaltung der Einsatz-
Infusionen erwärmen. fähigkeit eingehalten werden, die Idealschlafdauer
liegt bei etwa 6–8 h. Der Schlaf kann durch einfa-
ches Ausruhen nicht ersetzt werden, kurze »Nicker-
chen« (»combat naps«) von mindestens 10 min
470 Kapitel 34 · Flugmedizin
Tauchmedizin
C. Neitzel, N. Vortkamp
Literatur – 484
Im militärischen und polizeilichen Bereich hat gasvorrates oder für das Tarieren unter Wasser rele-
Tauchen eine herausragende Bedeutung, u. a. für vant. Füllt man auf 40 m Wassertiefe (5 bar) einen
die Annäherung an Einsatzorte und die Instandset- Luftballon mit 6 l Pressluft, hat dieser Ballon bei
zung von Material. Dem wird Rechnung getragen niedrigerem Druck an der Oberfläche (1 bar) ein
durch ein Netz von medizinisch speziell ausgebilde- 5-mal größeres Volumen von insgesamt 30 l!
tem Personal und der Vorhaltung von Druckkam-
mern, um bei Notfällen kompetent reagieren zu
können. 35.1.2 Gesetz von Dalton
Ziel dieses Kapitels ist es, eine im taktischen Be-
reich zuweilen bestehende Lücke in der notfallme- Der Gesamtdruck eines Gasgemisches ergibt sich
dizinischen Versorgung des verunfallten Tauchers aus der Summe der Teildrücke der unterschiedli-
bis zur Übergabe an tauchmedizinisches Fachperso- chen Gase:
nal schließen zu helfen und einen praxisnahen
Überblick über die Tauchmedizin zu geben. Außer- Pges = P1 + P2 + P3 +…
dem sollen die wichtigsten Punkte für die präklini-
sche Versorgung und die Relevanz für die bereits im Die Relevanz dieses Gesetzes findet sich z. B. bei
Vorfeld stattfindende Einsatzplanung herausgestellt Atemgasvergiftungen (7 Abschn. 35.3). An der
werden. Da spezifische Behandlungen (z. B. hyper- Oberfläche ungefährliche Teildrücke von Gasen
bare Oxygenierung) in einer Druckkammer erfol- können bei steigendem Gesamtdruck durchaus
gen müssen, die mit Fachpersonal besetzt ist, wer- toxische Konzentrationen erreichen. So bedingt ein
den diese nicht vertieft. sauerstoffangereichertes mit 40 % O2 (Sauerstoff-
partialdruck an der Oberfläche = 400 mbar) in einer
Wassertiefe von 40 m einen Sauerstoffpartialdruck
35.1 Gasgesetze von 2.000 mbar, was sehr schnell zu Vergiftungser-
scheinungen führt.
Grundlage fast aller Erkrankungen, die durch Tau-
chen verursacht sind, ist das Verhalten von Gasen
unter Druckveränderungen. Eine grobe Systematik 35.1.3 Gesetz von Henry
lässt die Einteilung der Erkrankungen anhand der
Tauchphase zu: Die in einer Flüssigkeit gelöste Menge eines Gases
4 Kompressionsphase: Abtauchphase ist proportional zum Teildruck eines Gases über der
4 Isopressionsphase: Verbleiben auf Tiefe Flüssigkeit. Beeinflussende Faktoren hierbei sind
4 Dekompressionsphase: Auftauchphase die Temperatur, die Art des Gases und der Löslich-
keitskoeffizient der Flüssigkeit.
35 Dabei sind alle Gase bestimmten Gesetzmäßigkei- Beim Tauchen ist dieses Gesetz für die Ent-
ten, den sog. Gasgesetzen, unterworfen. stehung der Dekompressionserkrankung von Be-
deutung (7 Abschn. 35.4). Hierbei geht es im We-
sentlichen um die Löslichkeit von Stickstoff unter
35.1.1 Gesetz von Boyle-Mariotte Änderungen des Gesamtdruckes und die Auf- und
Entsättigung der unterschiedlichen Gewebe und
Das Produkt aus Volumen und Druck für ein abge- Flüssigkeiten des menschlichen Körpers. Zur Ver-
schlossenes System ist bei gleicher Temperatur kon- deutlichung dieses Gesetzes stelle man sich das
stant, wenn eine Volumenanpassung möglich ist: Öffnen einer Mineralwasserflasche vor: Der in der
Flasche gehaltene Druck über der Flüssigkeit wird
P Â V = konstant schlagartig geringer, das Kohlendioxid perlt aus.
Ähnlich verhält es sich mit der Entstehung von
In der Praxis ist dieses Gesetz z. B. für das Entstehen Stickstoffblasen, die in der Folge zur Dekompres-
eines Barotraumas, für die Kalkulation des Atem- sionserkrankung führen können.
35.3 · Gefahren der Isopressionsphase
475 35
35.2 Gefahren der Kompressions- möglich (Taucherbrille, Magen-Darm, kariöser
phase Zahn).
reversibel, da sich der Stickstoff aus den Membra- gen und Desorientierung. Es kann jedoch auch
nen wieder herauslöst. ohne diese Vorwarnzeichen zu einem Krampfanfall
Bestimmte Faktoren können das Auftreten eines kommen. Diese mit Bewusstseinsverlust einherge-
Tiefenrausches zusätzlich begünstigen, hierzu henden generalisierten Krampfanfälle enden meist
zählen v. a. eine zu geringe Flüssigkeitsaufnahme, tödlich durch Ertrinken.
Müdigkeit, Medikamenteneinnahme, Ängstlichkeit Sämtliche ZNS-Symptome bilden sich nach Be-
und körperliche Erschöpfung. endigung der Exposition zurück, ohne dass bei
einem Sauerstoffkrampf mit einer Wiederholungs-
Vorkommen Tauchtiefen ab ca. 30 m und tiefer mit tendenz oder einem Hirnschaden, wie z. B. bei einer
Pressluft, zu schnelles Abtauchen. Epilepsie, zu rechnen ist. Es bestehen große Unter-
schiede in der Anfälligkeit gegenüber Sauerstoff-
Ursache Einlagerung von N2 besonders in lipophile krämpfen, abhängig von der Tagesform auch beim
Zellmembrananteile (Nervenzellen) mit Störung gleichen Taucher. Dabei kann die individuelle
der Reizweiterleitung. Krampfschwelle durch schwere körperliche Arbeit,
Medikamenteneinnahme und erhöhte Körpertem-
Symptome Schwindel, Euphorie, Herzrasen, Seh- peratur deutlich herabgesetzt werden.
störungen, Gedächtnisstörungen, Ideenfixation,
Größenwahn, Panik, motorische Störungen, Be- Vorkommen Tauchen mit 100 % Sauerstoff oder
wusstlosigkeit, Tod. Gasgemischen mit erhöhten O2-Anteilen.
Behandlung Aufstieg in niedrigere Tauchtiefe bei Ursache Wirkung von Sauerstoffradikalen auf das
Bemerken von ersten Symptomen. zentrale Nervensystem.
Pneumothorax
35.4 Gefahren der Dekompressions- Ein Pneumothorax entsteht, wenn ein Lungenriss
phase zu einer Verbindung zwischen Atemwegen und
Pleuraspalt führt. Er tritt häufig als Nebenbefund
35.4.1 Barotrauma einer arteriellen Gasembolie auf. Eine schwerwie-
gende Komplikation ist die Entstehung eines Span-
Während des Aufstiegs dehnt sich das Gas in luftge- nungspneumothorax.
füllten Körperhöhlen aus. Wo immer möglich, ent-
weicht die unter relativem Überdruck stehende Luft Symptome Symptomatisch für einen Pneumothorax
eigenständig, z. B. im Bereich des Mittelohres über sind ein meist einmaliges kurzes Schmerzereignis,
die Eustach-Röhre oder im Darm über das Rektum. Husten, Dyspnoe, Tachypnoe, eine seitenungleiche
Flexible Organstrukturen, wie sie z. B. im Magen- Atmung, hypersonorer Klopfschall bis hin zur
Darm-Trakt vorherrschen, können Volumenzu- Schocksymptomatik.
nahmen zumindest teilweise ausgleichen.
Kann eingeschlossene Luft nicht entweichen, Behandlung Ein Spannungspneumothorax sollte
kommt es zum Barotrauma, aufgrund des Auf- sofort entlastet werden und ebenso wie ein Pneu-
tretens in der Dekompressionsphase auch Umkehr- mothorax spätestens vor einer Druckkammerbe-
barotrauma oder inverses Barotrauma genannt. handlung durch Anlage einer Thoraxdrainage the-
Eine unmögliche Entlüftung des Mittelohres führt rapiert werden.
z. B. beim Aufstieg zum Trommelfellriss. Ein Um-
kehrbarotrauma kann der Auslöser für Panik sein Mediastinalemphysem
und durch Verhaltensfehler zu schwerwiegenden Mediastinalemphyseme werden durch eine Ruptur
Tauchunfällen führen. Insgesamt sind Barotraumen der Pleura in Hilusnähe verursacht. Das austretende
in der Dekompressionsphase sehr viel seltener als in Gas kann die im Mediastinum liegenden Strukturen
der Kompressionsphase. wie z. B. Herz, Trachea, große Gefäße und die Spei-
478 Kapitel 35 · Tauchmedizin
seröhre bedrängen und dadurch zu massiven Kom- eingespült und können arterielle Gasembolien
plikationen – von Verdrängungserscheinungen auslösen, die meistens im Gehirn erfolgen. und
über Kompression der V. cava bis hin zur Herzbeu- Schlaganfallsymptome verursachen. Es kommt
teltamponade führen. somit zu einer AGE, ohne dass ein Lungenbarotrau-
ma vorliegt. Bei bis zu 25 % der Menschen liegt
Symptome Je nach Ausmaß des Emphysems kön- ein PFO vor, eine standardisierte Abklärung im
nen die Symptome vielfältig sein: Schluckbeschwer- Rahmen von Tauchtauglichkeitsuntersuchungen
den mit Hustenreiz, Heiserkeit, Stimmlagenverän- erfolgt nicht.
derungen, obere Einflussstauung, Zyanose, Hypoto-
nie bis hin zum Schock. In einzelnen Fällen kann es Symptome Schlaganfallsymptome bis hin zur Be-
auch zu einem Hautemphysem im Bereich des wusstlosigkeit, die sich meist plötzlich beim oder
Halses kommen. unmittelbar nach dem Auftauchen ausbilden.
Behandlung Die Behandlung des Mediastinalem- Behandlung Als einzig kausale Therapiemöglich-
physems erfolgt abwartend, bis sich das Gas resor- keit ist eine schnelle Rekompression in einer Druck-
biert hat. Die Gasresorption kann durch normobare kammer anzustreben. Die Erstversorgung zur Sta-
Sauerstoffinhalation beschleunigt werden. Treten bilisierung des Verunfallten richtet sich nach
Komplikationen (z. B. Atemnot, Schock) auf, wer- 7 Abschn. 35.5.
den diese symptomadaptiert therapiert (Atem-
wegsmanagement, Beatmung, Schocktherapie gem.
notfallmedizinischer Standards). Bei schwereren 35.4.2 Dekompressionserkrankung
Verläufen kann eine Druckkammerbehandlung (DCS)
durch Reduktion des Gasvolumens eine schnelle
Besserung bewirken, darüber hinaus wird das Die Dekompressionserkrankung, auch Caisson-
Emphysem deutlich zügiger resorbiert. Sehr selten Krankheit oder »decompression sickness« (DCS)
ist in hochakuten Fällen eine kollare Mediastinosto- genannt, tritt nach längerem Aufenthalt in einer
mie (operative Eröffnung des Halses, um Gas ent- Überdruckumgebung mit entsprechender Inertgas-
weichen zu lassen) notwendig und lebensrettend. aufsättigung auf. Während des Aufstieges sinkt der
Umgebungsdruck, sodass weniger Inertgas im Ge-
Arterielle Gasembolie (AGE) webe gelöst sein kann. Das bei höherem Druck noch
Durch Einrisse entsteht eine Verbindung zwischen gelöste Gas wird vom Gewebe wieder abgegeben
luftleitendem Gewebe (z. B. Alveolen) und Blutge- und über die Atmung aus dem Körper eliminiert.
fäßen in der Lunge. Dabei kommt es zum Übertritt Verschiedene Gewebearten entsättigen aufgrund
von Gasblasen ins Blut, die dann zu einer arteriellen verschiedener Durchblutung und Stickstofflöslich-
35 Gasembolie führen. Auch zunächst kleinere Blasen keit unterschiedlich schnell, weswegen vorgegebene
können bei weiterem Aufstieg des Tauchers zu einer Aufstiegsgeschwindigkeiten und ggf. Auftauch-
AGE führen. Im Vordergrund steht häufig eine be- stopps (sog. Dekompressionspausen) eingehalten
reits während des Aufstieges oder kurz nach dem werden müssen.
Tauchgang plötzlich auftretende schlaganfallähnli- Erfolgt der Aufstieg zu schnell, perlen Gasbla-
che Symptomatik, da meist zerebrale Gefäße durch sen in Blutgefäßen und im Gewebe aus, die ab einer
die Gasblasen verschlossen werden. Eine AGE weist gewissen Anzahl oder Größe nicht mehr über die
eine hohe Morbidität und Mortalität auf. Lunge eliminiert werden können und dann eine
Bei Tauchern mit persistierendem Foramen Dekompressionskrankheit auslösen (7 Abschn. 35.1).
ovale (PFO) können Blasen, die sich während der
Dekompression in großer Anzahl im venösen Sys- Symptome Die extravasale Blasenbildung führt im
tem gebildet haben, durch ein Loch in der Herz- Gewebe über vielfältige Mechanismen zu Sympto-
scheidewand vom rechten in den linken Vorhof men: Innerhalb von Zellen entstehende Blasen zer-
übertreten. Dort werden sie in den Körperkreislauf reißen diese und führen durch die Gewebeschädi-
35.4 · Gefahren der Dekompressionsphase
479 35
gung zu lokalen Entzündungsreaktionen; Sehnen, kommt. »Bends« sind neben der reinen Schmerz-
Bänder und Gelenkkapseln werden gedehnt und symptomatik nicht hochgradig bedrohlich, weisen
verursachen so Schmerzen; der Verschluss von aber immer auf eine mögliche (venöse) Blasenbil-
Lymphbahnen führt zum Lymphödem. dung hin und können somit in eine DCS II über-
Intravasal entstandene Blasen können, abhän- gehen.
gig von ihrer Größe, zu Mikro- und Makroemboli-
en führen. Die Blasenoberfläche wird vom Immun- DCS II
system als körperfremd erkannt und löst eine Im- Die »schwere Form« der Dekompressionskrankheit
munantwort aus, die neben einem interstitiellen wird durch neurologische oder kardiopulmonale
Ödem durch Erhöhung der Gefäßpermeabilität Symptome charakterisiert.
auch eine Aktivierung des Gerinnungssystems mit
Thrombenbildung an der Blasenoberfläche verur- Symptome Das Leitsymptom der DCS II ist eine
sacht. Dadurch verfestigt sich die Gasembolie zur neurologische Symptomatik, die sich vielfältig of-
Thromboembolie. Dieser Vorgang läuft über meh- fenbaren kann. Da Nervengewebe aufgrund seines
rere Stunden ab und ist neben einer durch Minder- Fettgehaltes viel gelösten Stickstoff aufnehmen
perfusion bereits eingetretene Gewebeschädigung kann, ist es bei rascher Dekompression von Blasen-
eine der Ursachen, warum eine verzögerte Druck- bildung besonders stark betroffen. Während die
kammerbehandlung schlechtere Ergebnisse als eine Beschwerden bei der DCS I durch Blasenbildung im
frühzeitige erzielt. betroffenen Gewebe direkt entstehen, führt bei der
Die Dekompressionskrankheit tritt typischer- DCS II eine Blasenentstehung im Nervengewebe
weise erst Minuten bis Stunden nach Ende des selber oder in den die Nerven versorgenden Blut-
Tauchgangs auf, teilweise werden Symptome aber gefäßen zu einer Symptomatik, die in das Versor-
erst nach 24–48 h wahrgenommen. Symptome einer gungsgebiet des betroffenen Nerven projiziert wird.
schweren DCS werden im Regelfall ohne adäquate Häufig besteht eine Beteiligung des Rücken-
Therapie in einer Druckkammer im Verlauf stärker. marks, insbesondere im unteren BWS- und LWS-
Bereich, die hinsichtlich der Symptome eine große
Behandlung 7 Abschn. 35.5. Bandbreite von leichten Parästhesien bis hin zur
vollständigen Querschnittslähmung aufweist. Klas-
DCS I sische Merkmale sind Gefühlsstörungen in den un-
Die »milde Form« der Dekompressionskrankheit teren Extremitäten, tiefer Rückenschmerz, subjektiv
wird als DCS I bezeichnet. Sie fasst alle Manifesta- »schwere« Beine und ggf. Inkontinenz.
tionen im Bereich der Haut, des Lymphgewebes und Eine pulmonale Symptomatik ist im Wesentli-
des muskuloskelettalen Systems zusammen. chen durch eine massive pulmonale Gasembolie
bedingt. Im venösen Schenkel des Körperkreislau-
Taucherflöhe fes entstehende Blasen aller Größen werden in den
Diese zeigen sich meist als Hautrötung, fleckige zunehmend enger werdenden arteriellen Gefäßen
Marmorierungen und Juckreiz. Manchmal können der Lunge abgefangen und embolisieren die Lun-
orangenhautartige Veränderungen durch Lymph- genstrombahn. Sind querschnittlich mehr als 10 %
ödeme beobachtet werden. der Lungenstrombahn verschlossen, kommt es zu
einer kardiozirkulatorischen Symptomatik bis hin
Symptome Das Leitsymptom der DCS I sind dump- zum kardiogenen Schock. Im Tierversuch traten bei
fe, drückende muskuloskelettale Schmerzen. Am hochgradiger DCS II massive Blasen- bzw. Schaum-
häufigsten treten diese in den großen Gelenken, ins- bildung in Pulmonalarterie und rechtem Herzen
besondere Schulter, Ellbogen, Knie und Hüften oder auf.
in den während der vorhergegangenen Aktivität be-
sonders belasteten Muskelgruppen auf. Diese wer- > Die unterschiedlichen Krankheitsbilder sind
den auch als »bends« (engl. »to bend«: biegen) be- nicht immer streng voneinander abzugren-
zeichnet, da es schmerzbedingt zu Schonhaltungen zen. Ein schwerer Verlauf einer DCS II kann
480 Kapitel 35 · Tauchmedizin
Aufenthalt
unter Wasser?
Schwere Symptome:
Schmerzen, ausgeprägte Schwäche, Haut-
flecken/-veränderungen, Taubheitsgefühl,
»Ameisenlaufen«, Atembeschwerden, Seh-/Hör-/
Sprachstörungen, Schwindel, Übelkeit, Lähmungen,
eingeschränktes Bewusstsein, Bewusstlosigkeit,
Koma
35
Hierunter fallen Hauterscheinungen und inad- Lagerung Der Patient sollte flach gelagert werden
äquate Müdigkeit. (. Abb. 35.2). Früher wurde eine Schocklagerung
empfohlen, um Gasblasen in die Beine statt ins Ge-
Behandlung Normobare 100 %ige Sauerstoffgabe, hirn steigen zu lassen. Zerebrale Gasembolien
Flüssigkeitsgabe, Flachlagerung, Neurocheck. Falls konnten so allerdings nicht vermieden werden. Die
der Patient nach 30 min Therapie symptomfrei ist, Lagerung begünstigt aber die Entstehung eines
sollte die Sauerstofftherapie so lange wie möglich Hirnödems und beeinträchtigt Atemmechanik und
fortgeführt und der Patient für 24 h überwacht wer- Oxygenierung.
den. Eine taucherärztliche Vorstellung wird emp-
fohlen. Persistieren die Symptome nach 30 min Flüssigkeitsgabe Bei erfolgter Taucherdiurese und
Therapie oder verschlechtert sich der Befund des der Gefahr von Gerinnungsaktivierung an Blaseno-
Neurochecks (s. oben), ist die Versorgung wie bei berflächen sollte zur Hämodilution 1 l kristalloide
schweren Symptomen fortzuführen. oder kolloide Infusionslösung verabreicht werden.
Ist kein medizinisches Fachpersonal vor Ort, ist
482 Kapitel 35 · Tauchmedizin
35.5.3 Tauchgangsprofil
35.6 Ertrinken
Warme Klimazonen
C. Neitzel, I. Ostfeld
Literatur – 500
36.1.1 Sanitätsmaterial
36.2 Physiologie warmer Klimazonen noch etwa 1 l/h [3]. Flüssigkeitsverluste bis zu 15 l/
Tag sind möglich [12]. Je höher die Luftfeuchtigkeit
36.2.1 Thermoregulation des Körpers ist, desto gesättigter ist sie mit Wasserdampf und
nimmt weniger zusätzlichen Wasserdampf auf: die
Wärmegleichgewicht Verdunstung wird deutlich erschwert [3]. Dies er-
Die Aufrechterhaltung einer Körperkerntempera- klärt, warum feuchte Wärme, wie sie in den Tropen
tur nahe 37 °C ist wichtig, da jede Abweichung über herrscht, als belastender empfunden wird als tro-
42 °C hinaus massive Auswirkungen auf den Stoff- ckenes Wüstenklima [3]. Herrscht Wind, wird die
wechsel hat, Proteine schädigt und zu Multiorgan- Wärmeabgabe über Schweißbildung verbessert, da
versagen und Tod führt. Thermoregulatorische Re- die Verdunstung erleichtert wird [3].
zeptoren sind über den gesamten Körper verteilt Kopf und Oberkörper sind für die Schweißpro-
(insbesondere in Haut, Bauchorganen, Rücken- duktion am wichtigsten, die Beine tragen nur etwa
mark, Hirnstamm). Die peripheren und zentralen 25 % zur Gesamtschweißproduktion bei [5]. Kopf-
Messungen werden im Hypothalamus, dem Kont- bedeckungen bzw. Helme scheinen im besonderen
rollzentrum der Körpertemperatur, verglichen. Maße für die Entstehung von Hitzekrankheit ver-
Manche Thermorezeptoren können dabei von wei- antwortlich zu sein [5]. Da gerade Kopf und Ober-
teren Reizen beeinflusst werden, insbesondere von körper durch wenig schweißdurchlässige Schutz-
Hitze und Ischämie. Dies führt dazu, dass ein An- ausrüstung bedeckt sind, führt dies zu erheblichen
stieg der Körperkerntemperatur bei hochgradiger Einschränkungen in der physiologischen Wärme-
körperlicher Belastung zu einer Fehlfunktion des kompensation bei Soldaten.
Hypothalamus führen und so die Entstehung eines
Hitzschlags weiter fördern kann [8]. Akklimatisierung
Der Körper versucht, überschüssige Hitze durch Hitzeakklimatisation erleichtert körperliche Arbeit,
eine stärkere Hautdurchblutung an die Körperober- da sie eine ausreichende Wärmeabgabe gewähr-
fläche zu transportieren, um sie an die Umgebung leistet und den Körper hämodynamisch weniger
abzugeben. Dies führt zu einer erhöhten Belastung belastet. Sie ist nach 1–2 Wochen Aufenthalt und
des kardiozirkulatorischen Systems und äußert sich Belastung in Hitze abgeschlossen, bei regelmäßi-
in einer erhöhten Herzfrequenz [3]. Die Mechanis- gem Aufenthalt in klimatisierten Räumen kann sie
men des Wärmeaustausches an der Körperober- sich auf 3–6 Wochen verlängern [3].
fläche (Konduktion, Konvektion, Strahlung und Akklimatisierung bewirkt vor allem Folgendes
Verdunstung) werden in 7 Kap. 38.2 erläutert. [3]:
4 Abnahme der Elektrolytkonzentration in
Schweißbildung Schweiß und Urin auf bis zu 10 % des Ausgangs-
Um die Wärmeabgabe an der Haut zu maximieren, wertes, wodurch der tägliche Salzbedarf sinkt
produziert der Körper aus Wasser und Elektrolyten [2]. Ein niedriger NaCl-Gehalt des Schweißes
bestehenden Schweiß, der unter Entstehung von erhöht die erzeugte Verdunstungskälte [5].
36 Kälte verdunstet [16]. In normalem Klima kann bei 4 Zunahme der Schweißsekretion an den
mittlerer körperlicher Aktivität 50 % der produzier- Extremitäten, wodurch sich die Gesamt-
ten Körperwärme über andere Wege als Schweiß schweißmenge und somit die erzeugbare Ver-
abgegeben werden. Überschreitet die Umgebungs- dunstungskälte erhöht.
temperatur aber 35 °C, ist Schweißbildung annä- 4 Steigerung der gesamten Schweißsekretion
hernd die einzige Art der Wärmeabgabe [10]. um 10–25 % im Wüstenklima und bis zu 120 %
Schweiß ist hypoton und führt daher zu hyper- im tropischen Klima.
osmolarem Plasma und verringertem Plasmavolu- 4 Herabgesetzte Schwitzschwelle.
men. Die Plasmahyperosmolarität mobilisiert ext-
ravasale Flüssigkeit ins Gefäßbett [10]. Bei einer Die notwendige Trinkmenge wird daher durch Ak-
akuten Hitzebelastung ist kurzfristig eine Schweiß- klimatisation nicht gesenkt. Meist steigt sie sogar
produktion von 4 l/h möglich, nach 8 h aber nur aufgrund der früheren und insgesamt erhöhten
36.2 · Physiologie warmer Klimazonen
489 36
Schweißproduktion [2]. Durch die bessere Ver- tion kann dabei individuell sehr unterschiedlich
dunstungskühlung der Haut muss aber im Vergleich sein, wird aber bei körperlich Belastung bis zu 70 %
zum Nichtakklimatisierten eine geringere Blutmen- der maximalen Sauerstoffaufnahme nicht wesent-
ge im Körper bewegt werden. Das Herzminutenvo- lich beeinträchtigt [10]. Bei höherer Aktivität oder
lumen sinkt, es entstehen Reserven für körperliche einer deutlichen Dehydratation von 5 % des Körper-
Belastung. Der Energieverbrauch sinkt. Auch bei gewichts, wird die Geschwindigkeit der Magenent-
mäßiger Belastung steigen Herzfrequenz und Kör- leerung um bis zu 25 % verschlechtert.
pertemperatur weniger stark an. Die Einsparung > Sobald eine deutliche Dehydratation besteht,
von Elektrolyten bei der Schweißproduktion er- ist die orale Rehydratation erschwert.
möglicht auch bei eingeschränkter Salzzufuhr ge-
nügend Verdunstungskälte ohne Störung des Was- Daher ist die Prophylaxe durch regelmäßige, über
ser-Elektrolyt-Systems [3]. den Tag verteilte Trinkmengen wichtig [13]. Dehy-
Bei körperlicher Ruhe in der Akklimatisie- drierende Getränke, wie z. B. Alkohol oder Kaffee,
rungsphase ist diese nur teilweise erfolgreich. Pha- sollten grundsätzlich gemieden werden [2]. Mode-
sen körperlicher Belastung verbessern das Akkli- rater Kaffeekonsum erzeugt aber meist keine Prob-
matisationsergebnis [14]. Dabei sollte die körperli- leme, da die geringe diuretische Wirkung durch
che Belastung schrittweise erhöht werden [2]. 2 h Wasserkonsum gut kompensiert werden kann [16].
körperlicher Belastung in Hitze pro Tag sind im
Regelfall ausreichend, um eine adäquate Akklimati- Veränderte Urinfarbe
sation in 10–14 Tagen zu erzielen. Es sind auch 5 Bernsteinfarbener Urin oder weniger als
zweimal 1 h/Tag möglich [16]. Die Hitzeakklimati- 2 Miktionen/Tag weisen immer auf eine
sierung besteht für ca. 1 Woche nach Beendigung bestehende Dehydratation hin. In diesen
der Hitzeexposition fort und sinkt dann um ca. 75 % Fällen sollte der Betroffene trinken, bis der
innerhalb von 3 Wochen ab [14]. Urin klar wird.
5 Dunkler, braun gefärbter Urin kann auf eine
Rhabdomyolyse hindeuten, die teilweise
36.2.2 Wasser-Elektrolyt-Haushalt bei Dehydratation oder Hitzschlag im Rah-
men von körperlicher Überlastung auftritt.
Wasserhaushalt
Die Wasserbilanz des Körpers wird normalerweise
±0,66 % der Norm gehalten, da Menschen unter
normalen Umständen bereits bei minimalen Ver- Elektrolythaushalt
schiebungen im Wasser-Elektrolyt-Haushalt Durst Um die Schweißproduktion des Körpers aufrecht er-
entwickeln oder die Urinproduktion erhöhen. In halten zu können, müssen ausreichend Elektrolyte
Phasen körperlicher Aktivität kann ein Wasserdefi- aufgenommen werden. Eine zu geringe Salzaufnah-
zit von bis zu 2–5 % entstehen, das in nachfolgenden me kann das Durstgefühl unterdrücken und so zur
Pausen durch Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme Dehydratation beitragen [5]. Eine regelmäßige nor-
wieder kompensiert wird [10]. Schon kleine Ver- male Nahrungsaufnahme versorgt den Körper in der
schiebungen im Wasser-Elektrolyt-Haushalt kön- Regel mit einer ausreichenden Menge von Salzen. In
nen die Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchti- Ausnahmefällen, z. B. bei extremer Schweißproduk-
gen, größere führen zum Ausfall der betroffenen tion, Durchfall oder Erbrechen, kann eine gesteigerte
Einsatzkräfte durch Hitzeschäden [10]. Salzzufuhr notwendig sein. Der früher gebräuchliche
Die orale Flüssigkeitszufuhr ist durch die Re- Konsum von Salztabletten wird aufgrund der häufig
sorptionsfähigkeit des Gastrointestinaltraktes be- folgenden gastrointestinalen Beschwerden heute
grenzt. Der Magen transportiert maximal 1000– nicht mehr empfohlen. Im Regelfall ist eine ausrei-
1200 ml/h in den Dünndarm weiter, wo das Wasser chende Zufuhr durch Salzen der Nahrung oder der
resorbiert wird [13]. Die tatsächliche Geschwindig- Aufnahme besonders salzhaltiger Nahrung (z. B.
keit von Magenentleerung und intestinaler Resorp- Fleischbrühe, Tomatensaft) zu erreichen [2].
490 Kapitel 36 · Warme Klimazonen
Der Konsum von Nahrungsergänzungsmitteln chend sind die Messwerte niemals für alle Einzelsi-
(Muskelaufbauprodukte) wie Kreatin und Amino- tuationen zutreffend und können nur Näherungs-
säuren kann eine verstärkte Diurese bedingen und werte sein. Sind keine Messwerte vor Ort verfügbar,
so zu Dehydratation führen. Da sie meist andere sollte anhand der aufgeführten Tabellen der Flüssig-
Nahrungsmittel im Tageskonsum ersetzen, fehlt da- keitsbedarf und die körperliche Belastung mit ge-
rüber hinaus noch der Elektrolyt- und Wasseranteil sundem Menschenverstand abgeschätzt werden [2].
der ersetzten Nahrung. Es sollte daher wegen der
erhöhten Anfälligkeit für Hitzeerkrankungen auf sie Anpassung der körperlichen Belastung
verzichtet werden [2]. Die Belastung und Belastbarkeit ist im Wesentli-
chen abhängig von drei Aspekten:
4 Soldat: körperliche Fitness, Hydratation, Ak-
36.2.3 Wärmebelastung klimatisierung, Gesundheitszustand, Erho-
lungszustand
Die Ermittlung der Wärmebelastung ermöglicht die 4 Klima: Umgebungstemperatur, Luftfeuchtigkeit,
Anpassung von körperlicher Aktivität an die klima- Sonneneinstrahlung und Windgeschwindigkeit
tischen Konditionen. 4 Auftrag: getragene Uniform/Schutzausrüstung,
Traglast, Gelände und körperliche Aktivität [2]
Messverfahren
Es existieren verschiedene Verfahren zur Messung Alle Aspekte müssen entsprechend beurteilt und
der Wärmebelastung: ggf. angepasst werden, um die Leistungsfähigkeit
Weltweiter Standard ist derzeit die »Wet Bulb der unterstellten Teile zu erhalten und Hitzeerkran-
Globe Temperature« (WBGT). Sie bezieht Lufttem- kungen zu vermeiden. Bei Nutzung des HDI gibt
peratur, Luftfeuchtigkeit, Wärmestrahlung und . Tab. 36.1 einen Anhalt für die notwendige Anpas-
Windgeschwindigkeit mit ein. Anhand der WBGT- sung der körperlichen Belastung. . Tab. 36.2 gibt für
Werte können praxisnahe Empfehlungen für die einen WBGT-Bereich darüber hinaus die durch-
körperliche Belastung gegeben werden. Anlagen schnittlich notwendige Trinkmenge an und kann
zur Messung der WBGT sind aufwändig und daher gut als Planungsgrundlage dienen.
nicht ohne weiteres mitführbar. Der Wert ist aller-
dings errechenbar, wenn die Einzelparameter be-
kannt sind (z. B. lokaler Wetterbericht, GeoInfo) 36.3 Hitzeschäden im militärischen
[2]. Programme, die die WBGT näherungsweise Bereich
bestimmen können, sind im Internet kostenfrei ab-
rufbar (www.srh.noaa.gov/elp/wxcalc/rh.shtml) Im militärischen Bereich entstehen Hitzeerkrankun-
Der »Heat Discomfort Index« (HDI) ist eine gen, ähnlich wie im Sport, vornehmlich aufgrund
einfach zu handhabende Alternative zum WBGT. von Störungen des Wärmeaustausches (Hitzschlag)
Als Faktoren fließen Temperatur, Luftfeuchtigkeit oder Störungen des Wasserhaushaltes (Dehydratati-
36 und Windgeschwindigkeit ein, nicht aber die Son- on) und werden meist durch körperliche Anstren-
neneinstrahlung. Der HDI kann mittels tragbarer gung verursacht (. Tab. 36.3). Ihnen liegen daher im
Wetterstationen, die häufig auch von Scharfschüt- Wesentlichen die körpereigene Hitzeproduktion
zen genutzt werden, automatisch bestimmt werden und nicht alleine die Umgebungsbedingungen zu-
(z. B. Kestrel 3000). Der Index wird in den IDF ins- grunde. Hitzeerkrankungen können durch Störun-
besondere bei Ausbildungen häufig genutzt, um die gen des Elektrolythaushaltes, insbesondere Hypona-
körperliche Belastung an die klimatischen Bedin- triämie, verschlimmert werden und zu ausgedehn-
gungen anzupassen. ten Muskelschädigungen (Rhabdomyolyse) führen
Die erhobenen Werte können sich schon auf (s. unten). Die Risikofaktoren für Dehydratation
kurze Entfernung erheblich unterscheiden, z. B. ver- und Hitzschlag sind im militärischen Bereich nicht
ändert das Aufsuchen von Schatten oder Wind- nur weitgehend deckungsgleich, sie stellen zusätz-
schatten die Hitzebelastung deutlich. Dementspre- lich noch jeweils gegenseitige Risikofaktoren dar.
36.3 · Hitzeschäden im militärischen Bereich
491 36
. Tab. 36.1 Empfehlungen der israelischen Streitkräfte zur körperlichen Belastung in der Ausbildung unter Berück-
sichtigung des HDI
24,1–26,0 Mäßig 2 15 min Pause nach jeweils 30 min körperlicher Belastung, extreme
Belastung ist untersagt
28,1–30,0 Schwer 4 Nur akklimatisierten Soldaten ist leichte körperliche Belastung erlaubt
. Tab. 36.2 Notwendiger Flüssigkeitsersatz und zeitliches Verhältnis zwischen körperlicher Belastung und Ruhepau-
sen für einen durchschnittlichen Soldaten mit abgeschlossener Akklimatisierung. KB keine Beschränkung bei Bela-
stung bis zu 4 h. Werden ballistische Schutzwesten getragen, müssen zum WBGT-Wert 5°F hinzugerechnet werden.
Der individuelle Flüssigkeitsbedarf kann um ca. 250 ml/h variieren. Das Arbeiten in praller Sonne oder im Schatten
erhöht bzw. vermindert den stündlichen Flüssigkeitsbedarf um 250 ml. Die vorgegebenen Pausenzeiten sollten ohne
Belastung im Schatten verbracht werden. (Modifiziert nach [17])
. Tab. 36.3 Vergleich von Dehydratation und Hitzschlag als bedeutendsten Hitzeschäden im militärischen Umfeld
Dehydratation Hitzschlag
36.3.2 Belastungsassoziierte
5 Im Zweifelsfall sollte so viel Flüssigkeit auf- Hyponatriämie
genommen werden, bis der Betreffende
klaren Urin produziert. Eine Dehydratation kann schwere Folgen haben.
5 Als ideales Getränk dient kühles, leicht ge- Aber auch der übertriebene Versuch, diese zu ver-
süßtes Wasser, von dem bei hoher körperli- meiden, kann gefährlich sein. Die hohe Sensibilisie-
cher Belastung 1 l/Stunde (bis zu 12 l/Tag) rung für Dehydratation kann zu einem zeitweise
getrunken werden sollte. Glukose verbes- inadäquat hohen Wasserkonsum führen, der dann
sert gegenüber ungesüßtem Wasser durch ebenfalls Gesundheitsschäden hervorruft: eine Hy-
Symport die intestinale Aufnahme von Nat- perhydratation, die sich meist als Hyponatriämie
riumionen [15]. manifestiert.
5 Ein höherer Kohlenhydratanteil in Flüssig- Im zivilen Bereich, z. B. im Rahmen von Mara-
keiten führt häufiger zu Übelkeit und Völle- thonläufen, ist die Ursache in der Regel das Trinken
gefühl [10]. von Flüssigkeitsmengen, die den Schweißverlust
5 Werden Sportgetränke angeboten, sollten erheblich übersteigen. Im militärischen Bereich
sie im Verhältnis 1:1 verdünnt werden und können ähnliche Bedingungen vorliegen: mehr-
komplexe Kohlenhydrate statt Fruktose stündige- körperliche- Aktivität bei Patrouillen und
oder Glukose enthalten [2]. längere Gefechtshandlungen oder der Durchset-
5 Kohlensäurehaltige Getränke erschweren zung von festgelegten größeren Trinkmengen ohne
die Aufnahme ausreichend großer Trink- gleichzeitige Nahrungsaufnahme. Verstärkend
mengen. wirkt hier aber häufig eine unzureichende Nah-
5 Kalte Getränke erhöhen die Compliance bei rungsaufnahme, was durch fehlende Salzzufuhr ei-
freiwilliger Flüssigkeitsaufnahme in war- nen Elektrolytmangel weiter fördert [12].
mem Klima [10]. Sie senken aber die Ge- Die entstandene Hyponatriämie kann vom Kör-
schwindigkeit der Magenentleerung und per meist nicht effektiv korrigiert werden. Durch das
können das Durstgefühl einschränken [18]. niedrige Serumnatrium wird die Rückresorption von
5 Getränketemperaturen von 15–20 °C Natrium in der Niere erhöht, was wiederum durch
scheinen daher für die Aufnahme von gro- nachströmendes Wasser die Urinproduktion verrin-
ßen Flüssigkeitsmengen ideal [10]. gert [10]. Die durch Hyponatriämie erniedrigte ex-
5 Die häufige Aufnahme kleinerer Mengen trazelluläre Osmolalität bewirkt einen Flüssigkeits-
produziert weniger Urin als die seltene Auf- einstrom in Extravasalraum und Zellen. Bei stärkerer
nahme größerer Mengen und minimiert so Ausprägung sind Gewebeschwellungen die Folge, die
den Flüssigkeitsverlust [10]. insbesondere durch Hirnödeme und kardiopulmo-
5 Schnelles Trinken großer Mengen an nale Beeinträchtigungen zum Tode führen können
Flüssigkeit kann durch eine Vagusreizung [12]. In Studien der US-Streitkräfte wurden Todes-
des überfüllten Magen-Darm-Traktes zum fälle bei der Ausbildung durch Hyponatriämie nach-
36 Kreislaufzusammenbruch bis hin zum sog. gewiesen. Auch aus den laufenden Einsätzen, insbe-
»Oasentod« führen [24]. sondere »Operation Iraqi Freedom« (OIF), wurden
einzelne Todesfälle durch Hyponatriämie berichtet
[10]. Die Dunkelziffer ist dabei möglicherweise hoch.
. Tab. 36.4 Übersicht über die Elektrolytkonzentrationen von Blutplasma, Schweiß und diversen elektrolythaltigen
Trinklösungen. (WHO-ORS World Health Organization – »oral rehydration solution«
Multiorganversagen und Gerinnungsstörungen bis Der Begriff wird in Israel nicht mehr verwendet,
hin zur disseminierten intravasalen Gerinnung weil der Übergang zum Hitzschlag fließend und
(DIC) entstehen [22]. Eine weitere Komplikation ist die Therapie deckungsgleich ist. Als praxisnahe
die hitzebedingte Rhabdomyolyse, die ebenfalls Lösung wird daher im militär- und sportmedizini-
zum Nierenversagen führen kann [2]. schen Bereich zunehmend folgende Einteilung
des belastungsbedingten Hitzschlags genutzt
Diagnose (. Tab. 36.5) [9]:
Für die Diagnose »belastungsinduzierter Hitz- 4 Hitzschlag: ist gekennzeichnet durch neuro-
schlag« müssen drei Kriterien erfüllt sein: logische oder psychische Symptome und eine
4 vorangegangene körperliche Belastung (häufig, erhöhte KKT von mindestens 40 °C. Beweisend
aber nicht zwingend in warmer Umgebung) sind typische Laborbefunde (erhöhte BSG,
4 neurologische oder psychische Veränderungen Leber- und Nierenwerte, Leukozytose, Gerin-
(Benommenheit, Aggressivität, Ruhelosigkeit, nungsstörungen) und ein positiver Hitzetole-
Krampfanfälle. Bewusstlosigkeit) ranztest (HTT).
4 KKT ≥40 °C 4 Drohender Hitzschlag: zeigt nur einige der
> Die Körperkerntemperatur sollte immer rektal
Symptome eines BHS und weist im Regelfall
oder ösophageal bestimmt werden. In der me-
auch auf eine bestehende Dehydratation hin.
dizinischen Ausrüstung sollte sich daher ein
Die KKT liegt unter 40 °C. Wird die Belastung
wasserdichtes, digitales Fieberthermometer
nicht unterbrochen und ggf. gekühlt, folgt ein
befinden. Messsonden von Überwachungs-
manifester Hitzschlag.
monitoren lassen sich sowohl rektal als auch
4 Verhinderter Hitzschlag: wird bei Vorliegen
ösophageal einführen und erlauben eine kon-
der typischen Symptome eines BHS der Patient
tinuierliche Überwachung der Temperatur.
so zeitnah und aggressiv gekühlt, dass die KKT
schnell fällt, wurde die sich zumeist selbst
unterhaltene Thermoregulationsstörung effek-
Klassifikation tiv beherrscht. Im Verlauf finden sich keine La-
Traditionell wird die Hitzeerschöpfung als Vorstufe borauffälligkeiten, und systemische Komplika-
des Hitzschlags mit einer KKT <40 °C abgegrenzt. tionen bleiben aus.
498 Kapitel 36 · Warme Klimazonen
Literatur – 519
37.1 Einführung
5 Eigene Erkundung vor Ort (z. B. Information
In den Ländern mit einer hohen Anzahl an Gifttier- von ansässigen medizinischen Ver-
verletzungen gibt es wenige zuverlässige Statistiken, sorgungsstrukturen, Gespräche mit Ein-
die eine genaue Aufschlüsselung der Häufigkeit von heimischen)
Gifttierverletzungen erlauben [11]. Vorsichtige
Schätzungen gehen von mehr als 125.000 Toten
weltweit allein in Folge von Schlangenbissen aus Die beste Therapie einer Gifttierverletzung ist die
[10]. Exakte Zahlen zur Häufigkeit solcher Vorfälle Prävention derselben. Um sich vor Gifttierverlet-
im Bereich der taktischen Einsatzmedizin existieren zungen, v. a. Schlangenbissen, zu schützen, sollten
nicht, sie stellen hier insgesamt eine seltene Ver- folgende Verhaltensregeln befolgt werden:
letzungsursache dar. Dennoch gibt es Einzelfallbe- 4 Schlecht einsehbare Wege oder Wasserflächen,
richte, die ihre Bedeutung dramatisch unterstrei- die überwunden werden müssen, mit einem
chen [6, 8]. Insgesamt ist jedoch festzustellen, dass vorangehaltenen Stock abklopfen.
bei einer umfassenden symptomatischen Therapie 4 Schützende Bekleidung tragen (lange Hosen-
die Letalität bei Gifttierunfällen gering ist. So gibt beine und Ärmel, Handschuhe, Stiefel, Gama-
es in Australien pro Jahr nur etwa fünf Todesfälle schen), die das Eindringen eines Bisses oder
durch Schlangenbisse, dagegen ist in Myanmar der Stiches vermeiden oder zumindest die Eindring-
Schlangenbiss die fünfthäufigste Todesursache. tiefe vermindern können (auch im Wasser).
Dies beleuchtet eindrucksvoll, wie wichtig eine 4 Bei Sichtung eines Gifttieres eine aktive An-
adäquate Therapie und günstige Infrastruktur ist näherung unbedingt vermeiden. Viele Schlan-
[4]. genbisse resultieren aus der Motivation, das
Ein limitierender Faktor dieser Thematik ist die Tier einzufangen oder zu töten. Der Bissradius
immens hohe Anzahl von Gifttieren und dadurch einer Schlange entspricht in etwa der Hälfte
mögliche Vergiftungen, so dass in diesem Kapitel ihrer Körperlänge, und auch tote Schlangen
hauptsächlich grundsätzliche Handlungsanweisun- können noch mehrere Stunden einen Biss-
gen wiedergegeben werden. Es ist deshalb von aller- reflex zeigen [1, 3].
größter Bedeutung, dass bei der Planung des Einsat- 4 Kleidungsstücke, Schuhe, Handtücher etc.
zes Informationen zu spezifisch in der Region vor- sollten vor dem Gebrauch ausgeschüttelt
kommenden Gifttieren, ihren Vergiftungen, örtliche werden.
Behandlungsmöglichkeiten und Antiveninlagerstät- 4 Schuhe sollten mit einem über den Schaft
ten eingeholt werden (7 Übersicht). gestülpten Socken abgestellt werden.
4 Erhöhtes Schlafen unter einem Moskitonetz
kann nachts vor Gifttieren schützen.
Informationsquellen 4 Lagerhygiene: Skorpione und Spinnen er-
5 Internetdatenbanken nähren sich von Insekten die sich vermehrt in
– Venomous snakes distribution and der Nähe von Abfällen aufhalten.
species risk categories. Antivenoms 4 Ordnung halten: Skorpione suchen in dunklen
Database, WHO. (http://apps.who.int/ Nischen und Ritzen Schutz.
37 bloodproducts/snakeantivenoms/data- 4 Licht: Skorpione sind lichtscheu.
base/default.htm) 4 Barrieren (z.B. Umzäunung aus glattem Mate-
– Munich AntiVenom INdex (MAVIN) rial (wie Plastikwasserflaschen, über die Skor-
(http://www.toxinfo.org/) pione nicht klettern können).
5 Medical Intelligence
(Kdo SanDst Bw VI-2.2) Wichtig ist zu betonen, dass eine Verletzung durch
5 Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin, ein Gifttier nicht zwangsläufig eine (relevante) Ver-
Hamburg http://www.bni-hamburg.de giftung zur Folge haben muss. Bei Schlangen kommt
es bei Verteidigungsbissen nur in ca. 75 % der Fälle
37.2 · Giftarten
505 37
zu einer Giftübertragung auf das Opfer, bei den an- Die Giftwirkung kann lokal begrenzt sein oder auf
deren 25 % handelt es sich um sog. »trockene Bisse« den gesamten Organismus wirken und so rasch le-
[1]. Eine Behandlung muss deshalb symptomorien- bensbedrohliche Ausmaße annehmen. Außerdem
tiert erfolgen. Die Mehrheit der Gifttierverletzun- gilt es zu berücksichtigen, dass die Gifteffekte zu
gen erfolgt an den Extremitäten, in den meisten unterschiedlichen Zeitpunkten auftreten können
Fällen an der unteren Extremität [1, 10]. und in ihrem Ausprägungsgrad variieren. Diese
können im Bereich von Sekunden (körpereigene
GE), über Minuten (hämatologische GE) und Stun-
37.2 Giftarten den (neurotoxische GE) bis zu Tagen (lokal zytoto-
xische GE) liegen [5].
Bei den im Tierreich eingesetzten Giften handelt es Bei jeder Vergiftung ist eine anaphylaktische
sich um komplexe Proteinmischungen, die unter- Reaktion bis hin zur Maximalausprägung, dem ana-
schiedliche Auswirkungen auf den Organismus des phylaktischen Schock, möglich. Die verschiedenen
Patienten haben. Je nach Zielorgan wird von ver- spezifischen Gifteffekte und ihre Pathomechanis-
schiedenen Gifteffekten (GE) gesprochen. Abhän- men und Klinik werden nachfolgend beschrieben
gig vom Gifttier unterscheidet sich diese Proteinzu- [3–5, 7].
sammensetzung, die zusätzlich noch körpereigene
Stoffe wie Histamin und Serotonin enthalten kann.
Histamin ist für die Symptome Hautrötung, Juck- 37.2.1 Körpereigene Gifteffekte
reiz etc. bei einer allergischen Reaktion verantwort-
lich, Serotonin wirkt als Botenstoff und Neuro- Diese GE werden durch die körpereigene Reaktion
transmitter. des Verletzten auf das zugeführte, dem Körper un-
Die Zusammensetzung des »Giftcocktails« ist bekannte Gift verursacht. Es handelt sich hierbei
nicht nur bei den verschiedenen Gifttierarten un- um eine unspezifische Reaktionen des Körpers, wie
terschiedlich, sondern auch innerhalb einzelner sie ähnlich auch bei allergischen Reaktionen vor-
Gifttierfamilien, z. B. Giftschlangen. Maßgeblichen kommt. Im Vordergrund steht die vegetative Symp-
Einfluss auf den Giftcocktail haben die Region, das tomatik, die durch körpereigene Botenstoffe wie
Alter und der Ernährungszustand des Gifttieres. Histamin und Serotonin hervorgerufen wird. Die
Somit lässt sich nach einem Biss eine bestimmte Symptomatik variiert stark und reicht von Übelkeit,
Reaktion nicht vorhersagen. Erbrechen, über die allergische Reaktion (Rötung,
Beim betroffenen Patienten kann die psychisch- Juckreiz, Quaddelbildung) bis hin zum anaphylak-
vegetative Reaktion von »keine Reaktion« bis hin zu tischen Schock. Charakteristisch ist das rasche Auf-
»maximal gestresst-panische Reaktion« reichen [4]. treten der Symptome. Alle Gifttiere lösen diese
Die Symptome setzen sich aus mehreren Kompo- Symptomatik aus.
nenten zusammen und werden in Ihrer Gesamtheit
als Toxidrom bezeichnet:
4 Reaktion auf das Gift an der Kontaktstelle (z. B. 37.2.2 Zytotoxische Gifteffekte
durch Histaminausschüttung)
4 vegetative Reaktion (kein GE!) Die meisten Gifttiere provozieren eine zytotoxische
5 kardiovaskulär: Anstieg von Herzfrequenz Wirkung. Bedingt durch spezielle Proteine kommt
und Blutdruck, Synkope es zur Zellauflösung mit lokalen Schwellungen und
5 gastrointestinal: Übelkeit, Erbrechen Schmerzen (variabel). Abhängig vom »Giftcocktail«
5 sonstige: Schwitzen, Einnässen, Einkoten kann die Reaktion von einer kleinen Nekrose bis hin
4 psychische Reaktion: Hyperventilation mit zu einer massiven Gangrän reichen. Im schlimms-
Tetanie, Panik, Angst, Bewusstlosigkeit (kein ten Falle kann dies zu einer Funktionseinschrän-
GE!) kung der Gliedmaße oder notwendigen Amputa-
4 im Verlauf Ausprägung der spezifischen Gift- tion führen. Kommt es zur Entzündung der Lymph-
effekte gefäße, findet sich an der Extremität des Patienten
506 Kapitel 37 · Vergiftungen durch Tiere
. Abb. 37.1 Einteilung der Giftschlangen nach ihrer familiären Zugehörigkeit und ihrer geographischen Verteilung
Gifttiere lassen sich hinsichtlich ihrer Wirkung auf . Abb. 37.2 Hornviper, mit dem für Vipern typischen
dreieckigen Kopf. (Mit freundlicher Genehmigung des Zoo
die Mensch- und Tierwelt in aktiv und passiv giftige
Frankfurt, Foto: M. Thieme)
Tiere einteilen. Bei passiv giftigen Tieren erfolgt die
Vergiftung durch Kontakt mit dem Gifttier selbst
oder dessen Sekret. Aktiv giftige Tiere übertragen Toxidrom geschlossen werden. Als Nachschlage-
ihr Gift durch Stich oder Biss [7]. werke für weitere Informationen zur Morphologie,
geographischen Verteilung etc. wird auf weiterfüh-
rende Literatur verwiesen [3, 9].
37.3.1 Giftschlangen > 4 Ovaler Kopf, schlitzförmige Pupillen o
Giftnatter o neurotoxisches Toxidrom
Weltweit existieren ca. 500 Arten von Giftschlan- 5 Dreieckiger Kopf, runde Pupillen oViper
gen, wovon 200 eine Giftwirkung mit medizinischer o hämatologisches Toxidrom
Relevanz besitzen. Schlangengifte sind Aggressiv-
gifte: sie werden von Verdauungsdrüsen gebildet
und vorwiegend zum Beutefang eingesetzt. Aller- Vipern
dings sind die Giftvorräte begrenzt, weshalb Gift- Vipern werden in ihrer Familie u. a. in echte Vipern
schlangen zur Verteidigung akustische (Zischen, (. Abb. 37.2; europäische Vipern wie die Kreuzotter,
Rasseln) und optische Warnsignale (Aufrichten, Sandviper und die Puffottern in Afrika) und Gru-
Färbung) einsetzen. Die Dosis des Giftes kann vari- benottern (= Crotalidae: Klapperschlangen in
ieren. Die vier Giftschlangenfamilien sind in . Abb. Nordamerika und Lanzenottern in Südamerika)
37.1 aufgeführt [4]. Madagaskar, Ozeanien, Kana- unterschieden. Wie bei allen Gifttieren ist es bei den
ren und einige Inseln der Kapverden sind frei von Vipern besonders auffällig, dass die kleinen Schlan-
Giftschlangen. gen dieser Art besonders giftig sind. Dies kann be-
Aufgrund der medizinischen Relevanz soll im sonders fatal sein, da sie schwer zu registrieren sind.
weiteren Verlauf ausschließlich auf die toxische Ihr Gift ist generell selten tödlich. Der Pathome-
Wirkung durch Bisse von Vipern und Giftnattern chanismus ist in . Abb. 37.3 aufgeführt [4].
eingegangen werden. Anhand der Kopfcharakteris- Besonderen Wert soll hierbei auf das hämatolo-
tika der Giftschlange kann auf das zu erwartende gische Toxidrom gelegt werden. Das wichtigste
508 Kapitel 37 · Vergiftungen durch Tiere
Giftnattern . Abb. 37.5 Jungtier einer Kobra mit dem für Nattern
typischen ovalen Kopf und dem für Kobras typischen spreiz-
Zu den Giftnattern werden Kobras (. Abb. 37.5) baren Nackenschild. (Mit freundlicher Genehmigung des
und Seeschlangen gezählt. Zoo Frankfurt, Foto: S. Binger)
37.3 · Spezies und ihre Identifizierung
509 37
. Abb. 37.8 Das »Spinnenbiss-/Skorpionstichsyndrom« und sein Pathomechanismus. Das Zusammenspiel der Gifteffekte ist
abhängig von der jeweiligen Spezies und Subspezies
giftigen Arten kommen weitere Gifteffekte (kardio- γ-Aminobuttersäure (GABA, ein hemmender Neu-
gene und neurotoxische) hinzu. Skorpiongifte rotransmitter) und Noradrenalin.
bestehen aus Proteinen, die Natriumkanäle offen- Als Symptome treten ein massiver Schmerz, ge-
halten oder Kaliumkanäle verschließen. Die Haupt- folgt von Muskelstarre und vielfältigen vegetativen
wirkung besteht in einer überschießenden Wirkung Symptomen, auf. Jedoch ist dieses Syndrom nur in
an Nerven- und Muskelzellen und somit einer per- wenigen Fällen tödlich. Die Symptome eines Spin-
manenten Auslösung von Aktionspotenzialen. Dies nenbisses sind in . Abb. 37.8 dargestellt. Diese unter-
bewirkt in der Endstrecke die Lähmung sämtlicher scheiden sich nicht wesentlich von den Symptomen
Muskeln mit Atemstillstand. Das Vorkommen von eines Skorpionstiches, weshalb beide in einer Abbil-
Skorptionen ist vorwiegend auf den amerikanischen dung dargestellt sind. Relevante Giftspinnen sind die
und nordafrikanischen Kontinent sowie den Nahen Schwarze Witwe (sie besitzt zusätzlich noch kardio-
Osten, Südafrika und Indien beschränkt [5, 7]. toxische Effekte), Einsiedlerspinne (ausschließlich
zytotoxische Effekte), Bananenspinne, Kamelspinne
und die in Australien vorkommende Trichterspinne.
37.3.3 Spinnen (Araneae) Entgegen der weitläufigen Meinung sind große
furchterregende Spinnen wie Vogelspinnen, Taran-
Prinzipiell sind alle Spinnen giftig. In ihren Drüsen teln oder Kamel- oder Walzenspinnen (Solifugae)
produzieren sie Gift, welche mit den Kieferklauen in bezüglich ihrer Giftigkeit eher harmlos. Trotzdem
Verbindung stehen. Allerdings sind diese häufig zu können Kamelspinnen u. a. durch ihre Bisse gefähr-
kurz bzw. zu weich, um die menschliche Haut zu lich werden. Aufgrund ihrer großen, zangenartigen
durchdringen. Spinnen nutzen ihr Gift zum Beute- Kieferklauen rufen sie klaffende Wunden hervor, die
fang. Dabei soll das Beutetier durch den Biss unbe- im weiteren Verlauf zur Sekundärinfektion neigen.
weglich gemacht werden, damit die Spinne es im Diese Spinnenart findet sich in den Wüsten von
37 weiteren Verlauf in Ruhe aufbereiten kann. Charak- Nordafrika bis nach Zentralasien [5].
teristisch ist der durch den Stich auftretende massi-
ve Schmerz. Europa gilt mittlerweile als giftspin-
nenfrei. Geographisch relevant sind Afrika, Asien 37.4 Therapie
und Amerika, wo sich die Latrodectusarten aufhal-
ten. Diese enthalten α-Latrotoxin, welches spezi- Voranzustellen ist, dass alle nachfolgend beschrie-
fisch gegen Nervenendigungen gerichtet ist. Hierbei benen therapeutischen Schritte unter dem Zwang
bindet es an einen präsynaptischen Rezeptor und des taktischen Auftrags ggf. angepasst werden müs-
provoziert so die Freisetzung von Acetylcholin, sen. Prinzipiell ist ein schneller Transport zu medi-
37.4 · Therapie
511 37
Symptome Atemnot, Zyanose, flache, ggf. verlangsamte Atmung, inverse Atmung, Atemstillstand
Hinweis durch schlaffe Lähmung anderer Muskelgruppen (z. B. tief hängende Augenlider – Ptosis),
Augenmuskellähmungen, unscharfes Sehen (Akkomodationsstörungen), Bauchatmung (Ausfall der
Brustkorbatemmuskulatur), Speichelfluss und Schlucklähmung (Bulbärparalyse)
Therapie Freihalten der Atemwege (Kopf überstrecken, stabile Seitenlage, Guedel- oder Wendeltubus, alternati-
ve Atemwegssicherung (Larynxtubus, Larynxmaske)
Assistierte, ggf. kontrollierte Beatmung. Richtwerte sind hierbei ein Atemzugvolumen 6–10 ml/kg KG,
eine Atemfrequenz von 10/min, ein PEEP von 5 mbar, ein Beatmungsspitzendruck <30 mbar und eine
FiO2 von 100 %. Bei begrenzten Sauerstoffvorräten ist es sinnvoller, die FiO2 zu reduzieren und dafür
eine durchgängige Beatmung mit einer niedrigeren FiO2 zu erreichen
Fallberichte von Patienten mit folgenloser Ausheilung einer Atemlähmung nach Beatmungszeiten von
mehr als einem Monat existieren [11]
Konsequenz: Patient bis zur Verfügbarkeit von maschinellen Beatmungsmöglichkeiten auch über
mehrere Stunden manuell beatmen!
zinischen Versorgungseinrichtungen ROLE 1 und hängig von der Tierart die nachfolgenden Maßnah-
höher, eine Verzögerung der Giftausbreitung und men durchzuführen. Ein möglicher Abtransport
die Linderung von Frühsymptomen anzustreben. sollte hierdurch aber nicht verzögert werden. Gene-
rell ist eine engmaschige Reevaluation des Gesund-
heitszustands wichtig, um auf Veränderungen
37.4.1 Erste Hilfe schnell und adäquat reagieren zu können. Empfeh-
lungen zur erweiterten ersten Hilfe bei Gifttierver-
Prinzipiell ist jeder Patient, bei dem Lebensgefahr letzungen sind detailliert in speziellen Fachbüchern
besteht oder ein Extremitäten- oder Sehverlust droht, nachzulesen [1, 2, 7, 9, 11].
mit höchster Priorität zu evakuieren (MEDEVAC
Request »urgent« mit Dringlichkeit A bei Bedrohung Stopp der Giftzufuhr
von »life, limb, eyesight«). Sollte ein Patient in akuter Entfernung von Gifttierrückständen wie Nessel-
Lebensgefahr schweben, so ist er prinzipiell nach schleim, Tentakeln und Stacheln oder des Gifttieres
dem »<C>ABCDE-Schema« zu versorgen (7 Kap. 7 selbst vom Patienten. So pumpen Bienen beispiels-
und ATLS/AMLS-Algorithmen (»Advanced Trauma weise mit ihrem Stichapparat weiter Gift in das
Life Support«/»Advanced Medical Life Support«). Bei Opfer, auch wenn der Stichapparat vom restlichen
Gifttierverletzungen wird diese in den ersten Stun- Körper getrennt ist. Dies kann bei Allergikern eine
den nach Unfall v. a. durch eine Ateminsuffizienz relevante Giftmenge ausmachen [7]. Da Seeigel-
(»Breathing« . Tab. 37.1) und Schocksymptomatik stacheln aus Kalk bestehen, können sie mit Essig
(»Circulation« . Tab. 37.2) hervorgerufen. aufgelöst werden. Quallen-/Nesseltierwunden in
Schwebt der Patient nach einer Gifttierverlet- Australien sollten ebenfalls mit Essig ausgewaschen
zung nicht in akuter Lebensgefahr, so sind unab- werden (oft Vorratslager am Strand vorhanden), bei
512 Kapitel 37 · Vergiftungen durch Tiere
Toxininduzierte Vasodilatation
Weitere klassische Schocksymptome wie Blässe, kalte Extremitäten und Kaltschweißigkeit können
durch die toxinvermittelte Vasodilatation u. U. nicht vorhanden oder sogar ins Gegenteil verkehrt sein
Therapie Flachlagerung oder Schocklagerung (Beine 30° hochlagern, bei Gifttierverletzung das betroffene Bein
flach gelagert lassen)
Mehrere großlumige Zugänge (mindestens 18G – grün); Vermeidung von zentralen Zugängen auf-
grund eines deutlich erhöhten Blutungsrisikos durch die systemische Giftwirkung [9]
Quallenarten anderer Regionen ist dies jedoch nicht Asservierung des Gifttieres
effektiv [7]. Hierbei sollte auf direkten Kontakt ver- Hierbei bietet die Photographie eine gefahrlose
zichtet und bedacht werden, dass auch tote Tiere Möglichkeit, das Tier zu identifizieren. Wenn das
einen Beiß-/Stichreflex haben können. Einige Auto- Tier selbst asserviert wird, ist ein direkter Kontakt
ren empfehlen, die Gifteintrittsstelle nicht zu mani- zu meiden. Da die Antivenintherapie letztlich selten
pulieren, um eine spätere Giftdetektion zu ermögli- indiziert ist und bei Durchführung ohnehin oft po-
chen [9]. Aufgrund von möglichen langen Evakuie- lyvalente Seren gegeben werden (s. u.), sollten die
rungszeiten im taktischen Rahmen und der gerin- Helfer nicht in unnötige Gefahr gebracht und die
gen Wahrscheinlichkeit Gift-Detektions-Sets zur Evakuierung nicht verzögert werden.
Verfügung zu haben, empfehlen die Autoren dieses
Buches Rückstände ohne große Manipulation zu Wundbehandlung
entfernen. Der Lokalbefund hängt in seiner Art und Ausprä-
gung stark von der Art des Giftes ab, ein Ödem tritt
Verzögerung der Giftausbreitung jedoch fast immer auf [10]. Eine kurze lokale Desin-
37 Beruhigendes Einwirken kann den Kreislauf des Pa- fektion und das Anbringen eines sterilen Verbandes
tienten herunterfahren. So kann der körpereigene, sind ausreichend. Weitere Manipulationen an der
vorwiegend über die Lymphbahnen erfolgende Gift- Wunde sollten vermieden werden. Sie kosten Zeit
transport, verlangsamt werden. Flache Lagerung und und können zu schweren Wundheilungsstörungen
Vermeidung von aktiven Bewegungen unterstützen führen, haben jedoch keinen nachgewiesenen posi-
dies ebenfalls durch eine Inaktivierung der Muskel- tiven Einfluss auf die Giftausbreitung (. Tab. 37.3).
pumpe. Eine Sedierung kann ergänzend durchge- Sind lokal deutliche Quaddelbildung (z. B.
führt werden, solange der Patient nicht ohnehin be- durch Nesseltiere) oder Juckreiz vorhanden, sollte
wusstseinsgetrübt ist (z. B. Diazepam 5 mg oral). zur Vermeidung einer lokalen Manipulation eher
37.4 · Therapie
513 37
. Tab. 37.3 Zu unterlassende Maßnahmen bei Gifttierverletzungen. (Zusammengefasst nach [1, 2, 7, 9, 10, 11])
Maßnahme Hintergrund
Aussaugen der Wunde mit spezieller Durch den schnellen Abtransport des Giftes über die Lymphe ist eine
Vakuumpumpe Wirkung, wenn überhaupt, nur in den ersten Minuten nach Giftapplika-
tion nützlich. Durch das Absaugen entstehen jedoch mit Sicherheit
schlecht heilende Gewebedefekte
Frühes lokales Wundmanagement (aus- Zeitaufwändig, wenig bis kein therapeutischer Erfolg bei deutlich er-
giebige Desinfektion, exzessives Kühlen, höhtem Risiko von schweren Wundheilungsstörungen
Ausbrennen, Elektrokauterisieren, Ein-
und Ausschneiden, Amputieren)
Abbinden einer Extremität Keine ausreichende Verhinderung des systemischen Gifteffektes bei
hohem Risiko des Verlustes der Extremität durch Kombination der Gift-
wirkung und der Blutabsperrung.
Richtige Maßnahme: (Kompressions-)Immobilisations-Methode
systemisch therapiert werden. Je nach Ausprägung ten (neuro- und kardiotoxische Gifte, Symptome,
der Symptomatik kann die Behandlung wie bei 7 Abschn. 37.2). Da die Verteilung des Giftes haupt-
einer anaphylaktischen Reaktion mit Antihistami- sächlich durch Transport über die Lymphbahnen
nika und Steroiden erfolgen (. Tab. 37.2). erfolgt, ist die Kompression prinzipiell eine Mög-
Bei Giftfisch- und Skorpionstichen führt eine lichkeit, die Ausbreitung zu verlangsamen. Dies ist
lokale Behandlung mit heißem Wasser (~40 °C) zu bei systemisch wirksamen Giften erwünscht, führt
einer deutlichen Schmerzreduktion. Ebenso kann bei lokal wirksamen Giften jedoch durch die Fixie-
eine Lokalanästhesie, unter sterilen Voraussetzun- rung des Giftes zu einer massiven Weichteilzerstö-
gen und bei Erfahrung auch eine Regionalanästhe- rung [1]. Bei der Vielzahl der Gifttiere wird es dem
sie, durchgeführt werden [7]. Laien in den seltensten Fällen möglich sein, anhand
der exakten Identifikation des Tieres frühzeitig das
Entfernung von eng anliegenden Gift und damit die Symptome vorherzusagen. Ein
Gegenständen Abwarten erster neuro- oder kardiotoxischer Symp-
Bei starker Schwellung können Ringe, Ketten, Arm- tome ist jedoch ebenso unzweckmäßig, da eine
bänder, etc. im weiteren Verlauf u. U. nicht mehr möglichst frühzeitige und zielgerichtete Therapie
entfernt werden, was eine dauerhafte Unterbre- Spätschäden minimieren kann. Grundsätzlich gilt,
chung der Durchblutung und damit das Absterben dass, je schmerzhafter die Bisswunde und ihre
der Extremität zur Folge haben kann. direkte Umgebung, desto wahrscheinlich ist eine
lokale zytotoxische Giftwirkung, bei der nur immo-
(Kompressions-)Immobilisations- bilisiert werden sollte. Ein Vorschlag zur Verein-
Methode fachung dieser Problematik ist die Therapieent-
Um die Auswirkung des Giftes zu minimieren, ha- scheidung anhand von Gruppenzugehörigkeit (Vi-
ben sich zwei Methoden etabliert: Die Immobilisa- pern oder Nattern, siehe 37.3.1) bzw. Region zu
tionsmethode bei hauptsächlich lokal wirksamen fällen.
Giften (zytotoxische Gifte, Symptome; 7 Abschn.
37.2) und die Kompressions-Immobilisations-Me-
thode bei hauptsächlich systemisch wirksamen Gif-
514 Kapitel 37 · Vergiftungen durch Tiere
Schlaffe Lähmung Schlaffe Lähmung (z. B. Ptosis, Augenmuskellähmung) als Hinweis auf
eine systemische Neurotoxin Vergiftung. Diese kann im Grad der Aus-
prägung nur unzureichend vorhergesagt werden
Myoglobinurie bei Rhabdomyolyse Dunkler Urin, CK (Kreatinkinase) im Serum >1.500 U/l, Urin-Stix positiv
auf Erythrozyten ohne Hinweis auf Hämaturie
Kollaps und generalisierte Krampfanfälle Hinweis für einen systemischen neurotoxischen Verlauf
Ausgeprägte lokale Schwellung Mehr als die Hälfte der Extremität betreffend, Finger und Zehen
Beteiligung, rasche Progression, auf den Rumpf übergreifend
Ausgeprägte und sehr schmerzhafte Vor allem Lymphknoten in der Abstrombahn am Übergang zum Körper-
Lymphknotenschwellung stamm
elektrolyte, Blutgerinnung und neurologischer macht werden können, es wird nur eine weitere
Status. Eine Antiveningabe ist bei zunehmender Ausbreitung verhindert [3, 9].
Verschlechterung unter maximaler supportiver Antivenine müssen generell gekühlt gelagert
Therapie in Betracht zu ziehen. Ist bereits eine An- werden und die Kühlkette darf nicht unterbrochen
tiveningabe erfolgt, sollte die Gabe einer ausrei- werden [10]. Es handelt sich um klare Flüssigkeiten,
chenden Menge geprüft werden und ggf. eine noch- sollte der Inhalt flockig sein, ist das Antivenin zu
malige Gabe erfolgen (Cave: Anaphlyaxie). verwerfen [3]. Zusätzlich erschweren eine schlechte
Marktverfügbarkeit in größeren Mengen, lange
Lieferzeiten und teilweise sehr hohe Kosten eine
37.4.3 Spezifische Antivenintherapie großzügige Bevorratung [10]. In präklinisch einge-
setzten Elementen ist ihr Einsatz somit rein logis-
37 Antivenine spielen v. a. bei Schlangenbissen eine tisch schwer zu realisieren.
Rolle, sind aber auch für Giftspinnen, Skorpione Bei der Gabe dieser Seren muss die Beherr-
und einzelne marine Gifttiere erhältlich. Prinzipiell schung einer möglichen anaphylaktischen Reaktion
sind sie die wirksamste Therapie bei Gifttierun- sichergestellt sein (. Tab. 37.2). Da es sich bei
fällen, da sie die Ursache behandeln. Um eine opti- modernen Antiveninen um hochaufgereinigte
male Wirkung zu erzielen, sollten sie so früh wie Substanzen handelt, sind lebensbedrohliche ana-
möglich, bestenfalls innerhalb der ersten Stunde, phylaktische Reaktionen oder eine Serumkrankheit
gegeben werden. Grundsätzlich gilt, dass Gifteffekte deutlich seltener geworden. Dennoch können die
durch eine Antiveningabe nicht rückgängig ge- möglichen Komplikationen einer nichtindizierten
Literatur
519 37
Applikation einem Patienten das Leben kosten, der 37.5 Zusammenfassung
ohne die Gabe überlebt hätte. Wegen des Neben-
wirkungsprofils und der insgesamt doch niedrigen Aufgrund des hohen logistischen Aufwandes und
Letalität bei adäquater symptomatischer Behand- der geringen Erfahrung in der spezifischen Behand-
lung von Gifttierverletzungen ist eine routinemäßi- lung von Gifttierverletzungen im europäischen
gen Gabe, auch im klinischen Bereich, keinesfalls zu Raum, auch im ärztlichen Bereich, sollte sich, wenn
befürworten [3, 9]. immer möglich, auf lokale Infrastruktur abgestützt
Antivenine sollten bei systemischen Vergiftun- werden.
gen und stark ausgeprägten lokalen Vergiftungssym- Die wichtigsten Behandlungsansätze sind:
ptomen gegeben werden (. Tab. 37.4). Zu unter- 4 Verhinderung der weiteren Ausbreitung des
scheiden sind monovalente Seren, die gegen ein Giftes
spezifisches Gift gerichtet sind (hierzu ist die ein- 4 Atemwegssicherung mit Beatmung
deutige Identifikation des Gifttieres unabdingbar) 4 Kontrolle und Unterstützung des Kreislauf-
und polyvalente Seren für mehrere unterschiedli- systems
che Gifttiere, z. B. Giftschlangen, einer bestimmten 4 Kontrolle und Unterstützung der Urinproduk-
Region. Prinzipiell sind für Schlangenvergiftungen tion
Gift-Detektions-Kits verfügbar, die mittels eines
ELISA-Tests (ELISA = »enzyme linked immuno sor- Eine Antivenintherapie ist in den meisten Fällen
bent assay«) das am besten geeignete Antivenin de- nicht notwendig. Eine frühe chirurgische Therapie
tektieren. Hierfür eignet sich ein Tupfer, mit dem die richtet in der Regel mehr Schaden an, als dass sie
Bissstelle abgewischt wurde. Sollte dies nicht mög- nutzt. Man sollte sich immer vor Augen halten, dass
lich sein (z. B. bereits gereinigte Wunde), kann Urin Gifttierunfälle schwere Erkrankungen sind, die bei
getestet werden [9]. Konnte das Gifttier identifiziert idealer supportiver Therapie jedoch selten tödlich
werden, ist das am besten geeignete monovalente verlaufen.
Antivenin zu wählen, in allen andern Fällen ein für
die Region spezifisches polyvalentes Antivenin.
Literatur
Prinzipiell werden Antivenine verdünnt i.v.
über 15 min bis hin zu 2 h über einen Infusion ver- 1. Boyed et al. (2007) Venomous Snakebite in Mountainous
abreicht und sind nur i.m. zu verabreichen, wenn Terrain: Prevention and Management (Official recom-
eine i.v. Gabe nicht möglich ist [3, 9]. Genaue Stan- mendations of the International Commission for Moun-
darddosierungen, Verdünnungsschemata und Infu- tain Emergency Medicine and of the Medical Commis-
sionszeiten sind der Packungsbeilage zu entneh- sion of the International Mountaineering and Climbing
Federation (ICAR and UIAA MEDCOMS). Wilderness and
men, allerdings sollte generell symptomorientiert
Environmental Medicine 18: 190–202
behandelt werden. Bei schweren Vergiftungen kön- 2. DefenceDept (US) (2010) Toxicology: Venomous Snake
nen mehrfache Mengen der empfohlenen Erstdosis Bites. In US Department of Defence (ed) Special Opera-
notwendig werden [10]. tion Forces Medical Handbook [CD-ROM], 2ed. GovtPrint-
Eine weltweite Aufstellung von Gifttieren und ing Office
3. Egan D (2007) Snakes of Arabia. A field Guide to the
Antiveninen mit Orten der Vorratshaltung ist auf
Snakes of the Arabian Peninsula and its Shores. Motivate
der Homepage der Toxikologischen Abteilung der Publishing, Dubai.
Technischen Universität München abzurufen 4. Erkens K, Boecken G (2002) Vergiftung nach Schlangen-
(7 Übersicht »Informationsquellen«). biss– Gefahr im Auslandeinsatz? Wehrmedizin und
Wehrpharmazie 01/2002: 68–73
5. Habermann E (2001) Tierische Gifte. In: Forth W,
Henschler D, Rummel W, Förstermann U, Starke K (Hrsg.)
Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie,
S. 1107–1116. Urban & Fischer, München
6. Johnson C et al. (2013) Challenges of managing snakebite
envenomation in a deployed setting. Journal of the Royal
Army Medical Corps 159: 307–311
520 Kapitel 37 · Vergiftungen durch Tiere
37
521 38
Kalte Klimazonen
U. Unkelbach, C. Neitzel, T. Schuck, E. Meister
Literatur – 543
Die Wärmeproduktion des Körpers und der Wär- Für die Beratung des Führers und die eigene Ein-
meverlust an die Umgebung müssen in einem satzplanung hat sich folgende Einteilung bewährt:
Gleichgewicht gehalten werden. Der Körper greift 4 Soldatenbezogene (Risiko-)Faktoren (»sol-
dabei im Wesentlichen auf eine Verbesserung der dier related (risk) factors«) sind Arbeitsbelas-
Isolation und eine Erhöhung der Wärmeproduktion tung, Traglast, Trainingszustand, Einsatzdauer,
524 Kapitel 38 · Kalte Klimazonen
Wind- Lufttemperatur in °C
geschwin-
digkeit
(km/h)
10 2,7 –3,3 –9,3 –15,3 –21,2 –27,2 –33,2 –39,2 –45,1 –51,1 –57,1 –63,0
15 1,7 –4,4 –10,6 –16,7 –22,9 –29,1 –35,2 –41,4 –47,6 –53,7 –59,9 –66,1
20 1,1 –5,2 –11,6 –17,9 –24,2 –30,5 –36,8 –43,1 –49,4 –55,7 –62,0 –68,3
25 0,5 –5,9 –12,3 –18,8 –25,2 –31,6 –38,0 –44,5 –50,9 –57,3 –63,7 –70,2
30 0,1 –6,5 –13,0 –19,5 –26,0 –32,6 –39,1 –45,6 –52,1 –58,7 –65,2 –71,7
35 –0,4 –7,0 –13,6 –20,2 –26,8 –33,4 –40,0 –46,6 –53,2 –59,8 –66,4 –73,1
40 –0,7 –7,4 –14,1 –20,8 –27,4 –34,1 –40,8 –47,5 –54,2 –60,9 –67,6 –74,2
45 –1,0 –7,8 –14,5 –21,3 –28,0 –34,8 –41,5 –48,3 –55,1 –61,8 –68,6 –75,3
50 –1,3 –8,1 –15,0 –21,8 –28,6 –35,4 –42,2 –49,0 –55,8 –62,7 –69,5 –76,3
55 –1,6 –8,5 –15,3 –22,2 –29,1 –36,0 –42,8 –49,7 –56,6 –63,4 –70,3 –77,2
60 –1,8 –8,8 –15,7 –22,6 –29,5 –36,5 –43,4 –50,3 –57,2 –64,2 –71,1 –78
. Abb. 38.1 »Wind chill«. Die Markierungen zeigen das Risiko für Erfrierungen an unbedeckten Hautpartien auf. Die farbige
Hinterlegung zeigt das Risiko für Erfrierungen an unbedeckten Hautpartien auf. Nasse Haut verkürzt die maximale Expositi-
onszeit bis zur Entstehung von Erfrierungen erheblich!
. Abb. 38.2 Einteilung der Hypothermiestadien nach der International Commission for Mountain Emergency Medicine
(ICAR MedCom) und die wesentlichen präklinischen Symptome (HT Hypothermie). (Adaptiert nach [5, 15])
Diese sog. akzidentelle Hypothermie wird in der bern). Die Verwundeten sind nicht nur Nässe, Kälte
zivilen Notfallmedizin bei über 50 % aller Trauma- und Wind ausgesetzt, es stehen im Regelfall auch
patienten vorgefunden und hat daher gerade im keine vorgewärmten Infusionen zur Verfügung.
taktischen Umfeld eine hohe Relevanz [14]. Dabei Neben den auftretenden Bewusstseinstrübun-
schränken das Trauma selbst, ein begleitendes gen und Herzrhythmusstörungen ist insbesondere
Schockgeschehen oder die Verabreichung von Nar- die durch Unterkühlung bedingte Gerinnungsstö-
kosemitteln die Fähigkeit des Körpers zur Regulie- rung (Hypothermie-induzierte Koagulopathie)
rung seiner Körperkerntemperatur ein [14]. Auch bei der akzidentellen Hypothermie von herausra-
bei Rückenmarksverletzten kann der Wärmeverlust gender Bedeutung. Die im Blutplasma gelösten Ge-
besonders hoch sein, da die schützende Minder- rinnungsproteine, aber auch die Thrombozyten,
durchblutung der Körperschale bei Kälte häufig funktionieren nur bei normaler KKT optimal. Mit
aufgehoben ist. Dementsprechend droht eine Un- jedem Grad sinkender KKT verschlechtert sich die
terkühlung des Traumapatienten auch bei normalen Gerinnung daher um etwa 10 %. Gleichzeitig be-
oder hohen Umgebungstemperaturen. günstigt die kältebedingte Zentralisation die Entste-
In der taktischen Medizin kommt zu dieser hung einer Azidose. Die Azidose wiederum führt
massiven Unterkühlungsgefahr beim Traumapati- auch zu einer deutlichen Verschlechterung der Ge-
enten noch eine verlängerte Versorgungs- und Eva- rinnungsfunktion, sodass ein Teufelskreis entsteht,
kuierungszeit hinzu. Transportmittel sind meist der in diesem Zusammenhang auch das tödliche
nicht geheizt oder sogar für ein weiteres Auskühlen Dreieck aus Hypothermie, Koagulopathie und Azi-
verantwortlich (z. B. offene Türen bei Hubschrau- dose, letale Trias, genannt wird. Die Auswirkungen
530 Kapitel 38 · Kalte Klimazonen
der letalen Trias sind so schwerwiegend, dass die men zur Vorbeugung zu treffen [17]. Die Behand-
Überlebenswahrscheinlichkeit von Schwerverletzten lung der primären und akzidentellen Hypothermie
bei der Unterschreitung einer KKT von 34 °C bereits unterscheidet sich nicht, ebenso sind im präklini-
unter 50 % sinkt. Unterschreitet die KKT 32 °C, so schen Bereich die Maßnahmen zum Wärmeerhalt
liegt die Sterblichkeit bei nahezu 100 %. Aufgrund weitgehend deckungsgleich mit denen zur Wieder-
dieser Bedeutung wird die Einteilung der Unterküh- erwärmung. Grundsätzlich muss zwischen aktiven
lungsstadien bei Traumapatienten modifiziert: Schon und passiven Maßnahmen unterschieden werden:
bei moderater Absenkung der KKT wird die Unter-
kühlung als schwer eingestuft. Passive Wiedererwärmung
> Ein hypothermer Schwerverletzter mit einer
Ein passiver Wärmeerhalt soll dafür sorgen, dass
Blutungsproblematik sollte aggressiv, d. h.
möglichst wenig der vom Körper produzierten
schnellstmöglich und mit allen zur Ver-
Wärme (ca. 80–250 W) an die Umwelt verloren
fügung stehenden Mitteln, erwärmt werden.
geht. Dadurch wird nicht nur ein weiteres Absinken
der KKT verhindert, sondern, abhängig vom Hypo-
thermiestadium, dem Körper auch eine langsame
Bergungstod Wiedererwärmung ermöglicht (ca. 1 °C/h bei erhal-
Durch stärkere aktive oder passive Bewegung oder tenem Muskelzittern).
eine schnelle Erwärmung der Peripherie kommt es Die passive Wiedererwärmung erfolgt im We-
bei schwereren Unterkühlungen zur Vasodilatation sentlichen durch Isolierung des Patienten. Hierfür
und zum Rückfluss des kalten Blutes in den Körper- werden zunächst alle feuchten oder nassen Klei-
kern. Hierdurch kann es trotz Wiedererwärmungs- dungsstücke entfernt. Je nach Lage kann ggf. trocke-
maßnahmen zu einem erneuten Absinken der KKT ne Ersatzkleidung angezogen werden. Abschlie-
kommen (»afterdrop«). Das kalte Blut ist außerdem ßend muss ein Wärmeverlust durch Einhüllen in
übersäuert und hyperkaliämisch. Bei schwerer Hy- Schlafsack, Decken, Poncholiner o. ä. erfolgen. Der
pothermie können daher schon geringe Bewegun- Umfang der Maßnahmen wird dabei von den Wit-
gen des Patienten zu schwersten Herzrhythmus- terungsbedingungen vorgegeben.
störungen führen. Diese sind häufig keiner Thera-
> Faustregel
pie zugänglich (Bergungstod) [15, 16]. Aus diesem
Der Patient sollte zumindest so warm einge-
Grund muss die Rettung bei moderater und schwe-
packt werden, wie ein Gesunder es bei den
rer Hypothermie äußerst schonend erfolgen. Die
Umgebungstemperaturen im Zelt für einen
horizontale Lagerung darf dabei nicht verändert
angenehmen Schlaf tun würde.
werden. Auch ein Winschen bei Hubschrauberret-
tung sollte wegen des extremen Risikos nicht mittels Die Auflagefläche des Patienten auf Boden oder
Rettungsschlinge, sondern immer mit Schleiftrage Trage muss gut isoliert werden. Hier eignen sich
o. ä. in horizontaler Lage erfolgen. Zur Untersu- Isomatten hervorragend. Sind Gefechtshandlungen
chung und Entfernung nasser Kleidungsstücke soll- wahrscheinlich, sind Schaumstoffmatten o. ä. auf-
te immer eine Schere benutzt werden, um die Bewe- grund der einfacheren Handhabung und der
gung des Patienten auf ein Minimum zu reduzieren. Robustheit den (selbstaufblasenden) Luftmatratzen
vorzuziehen. Sind Tragen vorhanden, sollten diese
Therapie grundsätzlich mit einer Isolierung versehen werden
Die Vermeidung einer schweren Hypothermie ist (z. B. Isomatte mit Klebeband darauf befestigen).
38 deutlich einfacher als ihre Behandlung. Vorbeugen- Dies stellt sicher, dass auch in Stresssituationen im-
de Maßnahmen sollten daher bei jedem Patienten mer eine Isolierung gegeben ist. Werden Tragehilfen
mit relevanter Verletzung durchgeführt werden. Da verwendet (z. B. Bergetücher), muss gerade in hek-
eine akzidentelle Hypothermie unabhängig von der tischen Situationen darauf geachtet werden, dass
Umgebungstemperatur auftritt, sind beim Schwer- diese nicht durch Maßnahmen zum Wärmeerhalt
verwundeten auch bei normalen und warmen Um- eingehüllt werden und zu jeder Zeit zum Transport
gebungstemperaturen immer geeignete Maßnah- des Patienten genutzt werden können.
38.5 · Kälteschäden
531 38
Muss eine Isolierung am Boden improvisiert 4 Eine gute Kombination aus Isolation und
werden, ist dies mit Schlafsäcken, dünner Kleidung Tragehilfe bietet das APLS Thermal Guard von
etc. kaum effektiv möglich: das Material wird durch PaperPak Industries. Ein H-förmiger, über die
das Körpergewicht zusammengedrückt und verliert gesamte Länge verlaufender Reißverschluss er-
einen Großteil seiner Isolationsfähigkeit. Besser ist möglicht eine gute Zugänglichkeit und leichte
die Unterpolsterung mit Materialien wie Tannen- Handhabung. Im Bereich der Arme und Beine
reisig, Stroh etc., das Luftpolster bildet. Wird dieses sind jeweils rechts und links mit Klett ver-
in einen Poncho, Biwaksack o. ä. eingehüllt, wird es schlossene Öffnungen vorhanden, über die bei
leichter handhabbar und die isolierende, erwärmte geringem Wärmeverlust die Extremitäten zu-
Luft besser im Material gehalten. In Ausnahmefälle gänglich sind. Es lassen sich auch ein Infusi-
kann auch eine Lagerung auf Rucksäcken hilfreich onsarm oder mittels Tourniquet kontrollierte
sein. Die Isolationsmaßnahmen sollten außen her- Extremitätenblutungen zur besseren Kontrolle
um wind- und ggf. wasserdicht abgedeckt werden. nach außen verlagern.
Ideal geeignet sind hier Biwaksäcke mit langem
Reißverschluss. Aktive Wiedererwärmung
Besondere Aufmerksamkeit sollte dem Kopf ge- Die aktive Wiedererwärmung nutzt die Zufuhr von
widmet werden, über den der Körper viel Wärme Wärme, um die KKT zu erhöhen. Die Möglichkei-
verliert. Die Verwendung einer einfachen Mütze, ten im präklinischen Bereich sind dabei sehr einge-
möglichst aus Wolle oder Kunstfaser, hat sich be- schränkt bzgl. der Menge der zuführbaren Energie.
währt. Bei sehr niedrigen Außentemperaturen oder Sie führen meist nicht zu einer echten externen
hohen Windgeschwindigkeiten muss auch die Ab- Wiedererwärmung, wie sie in stationären Einrich-
deckung des Gesichts gut abgewogen werden. Gera- tungen möglich ist. Sie sorgen allerdings dafür, dass
de bei längeren Transportwegen in arktischen Kli- durch Schaffung einer warmen Umgebungstempe-
mazonen resultiert ein freiliegendes Gesicht zumin- ratur die Wiedererwärmung des Körpers unter-
dest in Erfrierungen. Bei einem bedeckten Gesicht stützt wird und eine weitere Abkühlung, z. B. durch
ist hingegen die Möglichkeit zur Überwachung Zufuhr von kalten Infusionen, verhindert wird. Da
deutlich eingeschränkt. die nicht durchblutete Haut beim zentralisierten Pa-
An dieser Stelle kann aus Platzgründen keine tienten eine geringe Toleranz gegenüber Hitze hat,
erschöpfende Marktübersicht geboten werden. Wir sollten zur Vermeidung von Verbrennungen Wär-
möchten jedoch folgende Produkte erwähnen, die mequellen nicht direkt auf die Haut gelegt werden.
sich in der Praxis gut bewährt haben: Nachfolgende Punkte müssen in der Therapie
4 Als klein verpackte und robuste Möglichkeit der Hypothermie besonders beachtet werden:
zum Wärmeerhalt haben sich Produkte wie 4 Als Standardprodukt haben sich chemische
Survival Blanket oder Survival Bag von Bliz- Wärmeerzeuger, wie die Ready-Heat-Decke
zard gut bewährt. Sie bestehen wie Rettungsde- von TechTrade, weltweit durchgesetzt. Es han-
cken aus einer reflektierenden Folie, verfügen delt sich um eine Einmalvliesdecke, in die
aber zusätzlich über mehrere Schichten von Taschen mit chemischen Wärmeerzeugern ein-
Luftkammern. Neben einer guten Isolationslei- gearbeitet sind. Nach Kontakt mit Sauerstoff
stung bieten sie auch einen Schutz gegen Wind produzieren sie ca. 40 °C Wärme über 6–8 h.
und Regen. Wie auch die normale Rettungsde- Um diese Temperaturen zu erreichen, braucht
cke ist die Isolationsleistung an den Auflage- die Decke ca. 15–30 min. Es sind auch kleinere
flächen allerdings sehr eingeschränkt. Ein ent- Decken mit einem Wärmeelement oder in
lang der Decke bzw. des Schlafsacks laufender Westenform erhältlich, die klein und leicht
Klebestreifen ermöglicht das einfache Einbrin- genug für ein Mitführen im Rucksack sind.
gen des Patienten und erleichtert die Zugäng- Kleinste Löcher in der Vakuumverpackung
lichkeit. Eine Alternative stellt z. B. das Hypo- können bei der Ready-Heat-Decke durch vor-
thermia Prevention and Management Kit von zeitigen Sauerstoffkontakt zu Versagern führen.
North American Rescue dar. Außerdem ist es wichtig, dem Produkt vor dem
532 Kapitel 38 · Kalte Klimazonen
Ansprechbar?
Wärmezufuhr Reanimation*
Windschutz warme Infusionen
warme Getränke (Medikamente/Defibrillation
Kohlenhydratzufuhr** nur bei KKR >30 °C)
Wohlbefingen? ROSC?***
ausdauernde Reanimation
AUFTRAG FORTSETZEN bis zum Erreichen einer
medizinischer
Behandlungseinrichtung
(möglichst ROLE 4)
»Keiner ist tot, bis er wieder
erwärmt und tot ist!«
Körperkerntemperatur
stationäre Behandlungseinrichtung
38 ROLE 2/3 ROLE 4
* nach BLS/ACLS-Leitlinien
– warme Infusionen – extrakorporale
** z.B. Getränke süßen, Riegel
– Warmluftbeatmung Wiedererwärmung
*** Wiedereinsetzen eines
– warme Magen-Darm-Spülung (ECMO, Herz-Lungen-
Spontankreislaufes
– warme Pleural-/Peritoneal-Lavage Maschine)
. Abb. 38.4 Behandlungsalgorithmus der Hypothermie. ROSC »Return of Spontaneous Circulation«. (Adaptiert nach [15])
38.5 · Kälteschäden
535 38
a b
. Abb. 38.5a,b Erfrierung. a Oberflächliche Erfrierungen mit Blasenbildung. (Mit freundlicher Genehmigung von Dr. J. Klatt).
b Tiefe Erfrierungen, die auch auf Wiedererwärmung nicht ansprachen und Monate später amputiert werden mussten. Beide
Aufnahmen entstanden vor der Wiedererwärmung. (Aus [4]).
Erfrierung
Rückweg/Abstieg
MEDEVAC
zur nächsten medizinischen
(locker verbinden,
Behandlungseinrichtung
möglichst
(locker verbinden,
gepolstert)
möglichst gepolstert)
»rapid warming«
Eintauchen in 35–40 °C warmes Wasser
Auftrag ggf. (Thermometer, Ellenbogentest)
nach maximal 10 min.
fortsetzen! Temperatur durch Zugießen von
symptomfrei?
Prävention warmem Wasser konstant halten
verbessern!
. Abb. 38.6 Algorithmus zur Behandlung von Erfrierungen unter taktischen Bedingungen [5, 15]
langem Tragen von durchnässten Stiefeln häufig heitsbilder hervorrufen, z. B. den tropischen Graben-
beobachtet. Er erhielt in dieser Zeit den Namen fuß (»paddy foot«).
»Grabenfuß« (»trench foot«). Das Krankheitsbild Der zu Grunde liegende Mechanismus scheint
tritt meist gehäuft auf und hatte z. B. im Falkland- eine Reperfusionsverletzung nach längeren Phasen
krieg durch hohe Ausfallraten einen erheblichen von peripherer Vasokonstriktion zu sein [11, 12].
Einfluss auf die Operationsführung [10].
Der Immersionsfuß (längeres Eintauchen in jPathophysiologie
38 Wasser, z. B. bei Schiffbrüchigen) zeigt eine nahezu NFCI sind durch eine verlängerte Vasokonstriktion
deckungsgleiche Symptomatik, wie auch der von in gekennzeichnet. Neben Kälte sind Schmerz, Angst,
U-Bahn-Tunneln schutzsuchenden Einwohner enges Schuhwerk und Bewegungslosigkeit Fakto-
Londons im 2. Weltkrieg bekannte Bunkerfuß ren, die eine Vasokonstriktion durch Erhöhung des
(»shelter limb«). Auch in warmen Klimazonen kann Sympathikotonus verursachen oder mechanisch die
längerer Kontakt mit Nässe oder Feuchtigkeit durch Durchblutung einschränken. Periphere Nerven
deren gute Wärmeleitfähigkeit ähnliche Krank- sind besonders empfindlich gegenüber Mangel-
38.5 · Kälteschäden
539 38
durchblutung und kalten Temperaturen und wer- pulse aber kräftig tastbar. Häufig treten flohstichar-
den relativ schnell geschädigt [11]. tige (petechiale) Hautblutungen auf, gelegentlich
Die Vasokonstriktion führt zur Schädigung der auch Blutblasen. Das Gefühl kommt frühzeitig zu-
Gefäßwände mit Bildung von Endothellücken. Die rück und geht schnell in starke brennende oder po-
Lücken dienen Thrombozyten als Anhaftungs- chende Schmerzen über. Diese halten häufig länger
punkte, es bilden sich Mikrothromben, die Kapilla- als bei wiedererwärmten Erfrierungen an und errei-
ren verstopfen. Dies lässt die Sauerstoffversorgung chen nach 24–36 h meist nachts und insbesondere
des betroffenen Gewebes nahezu vollends erliegen. im Bereich der Fußsohlen ihren Höhepunkt. Erfolgt
Die Lücken im Gefäßendothel bewirken eine erhöh- keine adäquate Analgesie, können auch nach Abhei-
te Durchlässigkeit der Gefäßwand. Dies führt bei lung der Schädigung starke Schmerzen persistieren.
erneuter Durchblutung während des Aufwärmens Die posthyperäme Phase dauert über Wochen
zur Ausbildung von massiven Ödemen, wenn Plas- bis Monate an. Auch wenn die Gliedmaße wieder
ma in den Extravasalraum übertritt. Das Gewebe normal aussieht, ist trotzdem eine stark erhöhe Käl-
scheint bei Reperfusion durch sich bildende Sauer- teempfindlichkeit gegeben. In sehr schweren Fällen
stoffradikale zusätzlich geschädigt zu werden [11]. kann es auch zu bleibenden Gewebeschäden bis hin
zur Amputation kommen [11].
jVerlauf
NFCI verlaufen in vier typischen Phasen, deren jTherapie
Dauer variiert und die sich teilweise überlappen Es gibt Hinweise darauf, dass ein schnelles Wieder-
können. Die prähyperämische Phase (Stadium I erwärmen wie bei Erfrierungen das Ausmaß des
nach Ungley) stellt die vor einer Behandlung auftre- Gewebeschadens bei Grabenfuß deutlich vergrö-
tende Phase dar, mit der der Patient sich vorstellt. ßert. Es sollte daher eine langsame Wiedererwär-
Sie ist von massiver Vasokonstriktion geprägt und mung, z. B. durch Aufenthalt in einer warmen Un-
kann sich durch folgende Symptome äußern: terkunft oder passive Maßnahmen zur Wiederer-
4 Taubheitsgefühle bis hin zur Gefühllosigkeit wärmung, erfolgen [11]. Die sonstige Behandlung
im betroffenen Areal orientiert sich in der präklinischen Phase an der von
4 Gangunsicherheit Erfrierungen. Aufgrund der, analog zu den Erfrie-
4 Laufen fühlt sich an »wie auf Luft oder Watte« rungen auftretenden, massiven Ödeme, sollte auch
4 die Haut ist im Anfangsstadium häufig gerötet, beim Grabenfuß eine Erwärmung erst erfolgen,
später dann marmoriert, blass oder weißlich- wenn eine erneute Kälteeinwirkung ausgeschlossen
gelb werden kann. Der Soldat ist nach der Erwärmung in
4 Blasen treten selten auf der Regel nicht mehr einsatzfähig und muss getra-
4 ein kapillarer Reperfusionstest am Nagel ist gen werden.
verlängert Hypothermie, Grabenfuß und Erfrierungen
4 die Fußpulse sind meist schwach oder nicht können durchaus nebeneinander vorkommen. Sind
mehr tastbar verschiedene Extremitäten betroffen, kann eine dif-
ferenzierte Wiedererwärmung erfolgen (schnelle
Die zyanotische Phase (Stadium II nach Ungley) Wiedererwärmung bei den Erfrierungen, langsa-
dauert in der Regel nur wenige Minuten bis Stun- mes Erwärmen bei Zimmertemperatur beim Gra-
den. Die Haut wird durch die beginnende Durch- benfuß). Liegen Erfrierung und Grabenfuß an der
blutung blau, und die Gliedmaße fängt an zu gleichen Extremität nebeneinander vor, muss eine
schmerzen. Einzelfallentscheidung nach Ausprägung der jewei-
Innerhalb der ersten Stunden nach Erwärmung ligen Befunde getroffen werden. Wissenschaftliche
folgt die hyperäme Phase (Stadium III nach Ung- Erkenntnisse sind nicht verfügbar, ob bei der Be-
ley). Die betroffene Gliedmaße überwärmt sich, handlung Erfrierung oder Grabenfuß eine höhere
wird rot und schwillt massiv an. Das Anziehen von Priorität zukommt.
Stiefeln ist meist für Tage unmöglich. Die kapilläre Bei gleichzeitig vorhandener Hypothermie soll-
Reperfusionszeit ist weiterhin verlängert, die Fuß- te diese immer mit Priorität behandelt werden.
540 Kapitel 38 · Kalte Klimazonen
Wird im Rahmen der globalen Wiedererwärmung vermieden werden (z. B. durch Auskultation unter
die vom Grabenfuß betroffene Extremität zu schnell der Kleidung). Vor Beginn einer Untersuchung soll-
miterwärmt, können die Schäden vergrößert wer- te der Patient zum Boden hin isoliert und zugedeckt
den. Es wird daher von einigen Spezialisten die werden.
Hochlagerung der betroffenen Füße mit Kühlung Optimal ist die Untersuchung in wind- und käl-
(z. B. durch einen Ventilator) empfohlen, während tegeschützter Umgebung, wie sie auch im Feld
der Körperstamm wiedererwärmt wird [11]. Dies durch das Koppeln von zwei Schlafsäcken (notfalls
erhöht aus Sicht der Autoren aber ebenso das Risiko auch Biwaksäcken mit zusätzlicher Isolation) erfol-
eines Bergungstodes durch Autotransfusion von gen kann. Sie bieten in ihrem Inneren ausreichend
kaltem Blut und sollte daher mit Vorsicht ange- Platz für Patient und Helfer, und eine (vollständige)
wandt werden (»life before limb«). Untersuchung und Behandlung kann mittels Stirn-
lampe unter gutem Wärmeerhalt erfolgen. Auf diese
jProphylaxe Weise ist auch ein Transport des Patienten unter
Zur Prophylaxe sollte durch regelmäßige Bewegung adäquater Überwachung möglich. Gleichzeitig
und locker sitzendes Schuhwerk die Durchblutung sorgt der Helfer durch seine Körperwärme für einen
aufrechterhalten werden. Möglichst kurzfristige Ex- guten Wärmeerhalt.
position gegenüber feucht-kaltem Klima, Trocken- Große Kälte schränkt auch die Leistungsfähig-
halten der Bekleidung, Sockenwechsel mindestens keit des medizinischen Personals deutlich ein.
2- bis 3-mal/Tag und eine täglich mindestens 8-stün- Wenn dicke Handschuhe getragen werden müssen,
dige Pause zum Trocknen der Füße an der Umge- sind manuell anspruchsvolle Tätigkeiten nur einge-
bungsluft wird empfohlen. Letzteres trifft insbeson- schränkt möglich. Meist müssen die dicken Hand-
dere zu, wenn Dampfsperren genutzt werden, die schuhe ausgezogen werden, sodass die manuell an-
zwangsläufig ein feuchtes Milieu am Fuß bewirken. spruchsvollen Tätigkeiten nur für einen kurzen
Zeitraum oder in sehr großer Kälte gar nicht durch-
geführt werden können. Hier haben sich Fäustlinge
38.6 Versorgung in kalten Klimazonen mit zusätzlichen Wärmepacks zum zwischenzeitli-
chen Aufwärmen bewährt. Um ein Festfrieren an
38.6.1 Körperliche Untersuchung Metall zu vermeiden, sollten Kontakthandschuhe
getragen werden. Bei sehr niedrigen Außentempe-
Mit zunehmender Kälte steigt die Gefahr für den raturen kann eine Versorgung nur unter entspre-
Patienten durch die Untersuchung selbst, da durch chendem Witterungsschutz erfolgen (z. B. Unter-
die Kälteexposition der Hypothermie Vorschub ge- schlupf mit Wärmequelle, gekoppelte Schlafsäcke).
leistet wird und die Gefahr für Erfrierungen durch
Entblößung der untersuchten Körperregion eben-
falls deutlich ansteigt. Hier muss im Einzelfall abge- 38.6.2 Messung der Körpertemperatur
wogen werden, ob aufgrund einer möglichen Ver-
wundung eine ausführliche Untersuchung erfolgen Feldmäßig hat sich als orientierende Maßnahme
muss. Oftmals ist eine begrenzte, zielgerichtete und das Auflegen der Hand in die Region zwischen die
symptomorientierte Untersuchung ausreichend. Schulterblätter bewährt, weil sie auch in voller Aus-
Die ausführliche Untersuchung kann später in ge- rüstung gut durchführbar ist. Ist die Haut hier
schützter Umgebung erfolgen. Hier müssen Witte- warm, ist eine Hypothermie unwahrscheinlich [6].
38 rungsbedingungen vor Ort, Verletzungsmuster und Für die anfängliche Bestimmung der Körper-
Zustand des Patienten, Transportdauer und -bedin- temperatur wird die Verwendung eines elektroni-
gungen abgewogen werden. schen Thermometers empfohlen. Quecksilberther-
Bei einer Untersuchung unter widrigen Um- mometer (Bruchgefahr!) oder Ersatzbatterien soll-
weltbedingungen sollten nur die absolut notwendi- ten als »back up« verfügbar sein. Die axilläre und
gen Körperregionen einzeln nacheinander freige- sublinguale Messung liefert bei Unterkühlung auf-
legt werden. Sofern möglich, sollte eine Entkleidung grund der Zentralisation keine zuverlässigen Werte;
38.6 · Versorgung in kalten Klimazonen
541 38
In extremer Kälte kann jegliche Exposition von
Haut innerhalb von Sekunden zu schweren Erfrie-
rungen führen. Zur Medikamentenverabreichung
kann daher die intramuskuläre Injektion mit einer
langen Nadel von außen durch alle Bekleidungs-
schichten sinnvoll sein [15]. Durch die Zentralisie-
rung kann sich der Wirkungseintritt aufgrund der
verlängerten Resorptionsdauer allerdings erheblich
verzögern.
. Tab. 38.1 Auswirkungen von Temperaturextremen und alternative Applikationswege der relevantesten Notfall-
medikamente. Modifiziert nach dem deutschsprachigen Standardwerk und unserer Leseempfehlung von Küpper [15]
Noradrenalin Ja – – – –
Metamizol Ja Ja Ja Nein Ja
Midazolam Ja Ja – Ja –
Morphin Ja – Ja Nein –
Naloxon Ja Ja Ja Ja Ja
nachts im Schlafsack aufbewahrt werden. Hierfür len oder im Freien zwischengelagert werden. Kälte-
sind handelsübliche Hüfttaschen sinnvoll. Auch Bat- empfindliches Material sollte daher nur in entspre-
terien für medizinische Geräte (z. B. Laryngoskop, chend klimatisierten Behältern oder als Hand-
Pulsoxymeter) sollten am Körper getragen werden. gepäck mitgeführt werden. Im Zweifelsfall sind
Zur Mitführung von Infusionen haben sich Schul- Geräte in die Transportbehälter mit zu verpacken,
terholster bewährt (. Abb. 38.8). Sie schränken die die den Temperaturverlauf registrieren (Tempera-
Bewegungsfreiheit kaum ein, halten die Infusionen turlogger). . Tab. 38.1 stellt die Auswirkungen von
aber im Bereich der Körpertemperatur und vermei- Temperaturextremen auf die wichtigsten Notfall-
den sicher ein Einfrieren. Wird jeder Soldat so aus- medikamente dar.
gestattet, verfügt man über einen erheblichen Vorrat
an Infusionslösungen oder anderem medizinischen
Literatur
Material.
Bei feucht-kalten Temperaturen um 0 °C sollten 1. Allamel G, Vogt W, Burgkart R et al. (1997) Erfrierungen
Sanitätsrucksäcke oder ihr Inhalt wasserdicht ver- beim Bergsteigen. Sportorthopäd Sporttraumatol 13
packt werden, um ein Durchnässen und anschlie- (2):82–87
ßendes Gefrieren zu vermeiden. Bei sehr kalten 2. Auerbach P (2007) Wilderness Medicine, 5th ed. Mosby
Elsevier, Philadelphia, USA
Temperaturen kann Plastik und Gummi nicht mehr
3. British Army (2009) Cold Feet – Hot Topic. ArmyNET
zuverlässig funktionieren oder so spröde werden, http://www2.armynet.mod.uk/armysafety/features/nfci.
dass es reißt oder bricht. Insbesondere bei lebens- htm
wichtiger Ausrüstung, wie z. B. Beatmungsbeutel, 4. Cauchy E, Carron S, Verhellen R et al. (2009) Frostbite
Cuffs von Larynx- oder Endotrachealtuben, kann Injury Management in Emergency. In: Revuz J, Roujeau
dies verheerende Konsequenzen im Ernstfall haben. JC, Kerdel FA et al. (eds) Life-Threatening Dermatoses and
Emergencies in Dermatology, pp 223–233. Springer,
Auch bei der Verlegung in kalte Klimazonen
Berlin Heidelberg New York
müssen die Lagerungsbedingungen beim Mate- 5. Gieseler U (2011) Medizinische Herausforderungen bei
rialtransport bedacht werden, da Frachtpaletten Hypothermie und Erfrierungen, Berg- und Expeditions-
beim Lufttransport häufig in untemperierten Hal- medizin, FTR 18(2):65–69
544 Kapitel 38 · Kalte Klimazonen
38
545 VI
Waffenwirkung
Kapitel 39 Atomare Bedrohung (A-Bedrohung) – 547
W. Kirchinger
Atomare Bedrohung
(A-Bedrohung)
CBRN(E)-Gefahren
W. Kirchinger
Literatur – 558
39.1 Einführung
schließlicher Verwendung bis zu 10 mSv/h). 1 mSv die Umwelt (wie z. B. Tschernobyl 1986, Fukushima
entspricht in alten (bzw. im angloamerikanischen 2011) sieht in Deutschland die Errichtung von
Sprachraum auch heute noch gebräuchlichen Ein- Notfallstationen vor. In Notfallstationen (NFS), Ein-
heiten) 100 mrem. richtungen zur medizinischen Sichtung/Triage und
Erstversorgung, sollen betroffene Personen erfasst,
Unfälle beim Start oder Absturz ausgemessen, evtl. dekontaminiert und medizinisch
von Satelliten erstversorgt sowie für den Weitertransport in Klini-
Nicht ohne Grund hat die Strahlenschutzkommis- ken oder an sichere Plätze vorbereitet werden. Dazu
sion (SSK) in Deutschland auch das Szenario eines werden mit allen beteiligten Kräften in regelmäßi-
havarierten Satelliten, der Teile der Erde mit radio- gen Abständen Notfallübungen unter Einbeziehung
aktiven Bruchstücken kontaminiert, im SSK- der Aufsichtsbehörden (z. B. Landesamt für Umwelt)
Band 26 behandelt. Satelliten sind häufig zur Ener- durchgeführt. Zusätzlich hinzugezogene externe
giegewinnung mit Radionuklidbatterien ausgestat- Einsatzkräfte werden durch das Strahlenschutzper-
tet (z. B. Plutoniumbatterien). Abstürze aus den sonal vor Ort eingewiesen.
Jahren 1968 (Amerikanischer Satellit »Nimbus«) Die im Zusammenhang mit einem größeren ra-
und 1983 (UdSSR Satellit »Cosmos«) haben gezeigt, diologischen Ereignis möglicherweise notwendige
dass deren radioaktives Inventar durchaus großflä- Einnahme von Iodtabletten zur Verhinderung der
chige kostenintensive Dekontaminationsmaßnah- Aufnahme radioaktiven Iods (I-131) wird für die
men nach sich ziehen kann. Ein Szenario mit Absturz Einsatzkräfte von der Einsatzleitung bestimmt. Die-
über bewohntem Gelände ist durchaus vorstellbar. se Maßnahme stellt aber bei rechtzeitiger Einnahme
nur einen Schutz der Schilddrüse dar und wirkt
Unfälle in Kernkraftwerken (KKW) nicht als generelles Strahlenschutzmittel gegen ioni-
Ein Unfall in einem KKW kann mit oder ohne Frei- sierende Strahlung. Einsatzkräfte bis zum 45. Le-
setzung radioaktiven Inventars in die Umwelt, d. h. bensjahr nehmen 2 Tabletten à 65 mg Kaliumiodid
in den Bereich außerhalb der eigentlichen Anlage, nach Anweisung ein (Fukushima: in Japan liegt die
erfolgen. Die KKW-Mitarbeiter in Deutschland ver- Altersgrenze bei 40 Jahren). Ab diesem Alter wird
fügen über spezielle Kenntnisse und immer wieder- von der Iodideinnahme abgeraten, da das Risiko für
kehrendes Training bezüglich des Managements von etwaige Nebenwirkungen das Risiko für später auf-
unterschiedlich schwerwiegenden Unfallszenarien. tretenden Schilddrüsenkrebs übersteigt. Dies führt
Die Einsatzkräfte der betriebsinternen Feuerwehr naturgemäß zu Diskussionsbedarf. Die Einnahme
sind auf Kontaminationen und mögliche Inkorpora- muss zeitnah zur möglichen Inkorporation erfol-
tionen vorbereitet, ein professioneller Strahlen- gen, am besten noch kurz vor Inkorporation von
schutz ist personell vorhanden. Externe Einsatzkräf- I-131. Genaue alterskorrelierte Schemata liegen vor
te werden gut beraten sein, sich deren Fachwissen (www.ssk.de; Stichwort: Jodblockade).
zunutze zu machen. Der Betriebsärztliche Dienst
jedes KKW in Deutschland hat Erfahrung in der De-
kontamination von Personen, und es gibt jeweils 39.2.2 Strahlung als Waffe
mindestens einen speziell im Strahlenschutz ausge-
bildeten Arzt, den sog. Ermächtigten Arzt im Strah- Einsatz von Waffensystemen
lenschutz. Dieser muss allerdings nicht permanent mit Urangeschossen
in der Anlage anwesend sein. Es kann sich hierbei Panzerbrechende Munition mit Projektilen aus
auch um einen niedergelassenen Arbeits-/Betriebs- abgereichertem Uran (DU-Geschosse, »depleted
mediziner in der näheren Umgebung des KKW han- uranium«) verfügen über eine hohe Penetrationsfä-
deln. Es bestehen Absprachen zwischen dem Betrei- higkeit aufgrund der sehr hohen Dichte (ca. 19 g/
39 ber und den umliegenden Krankenhäusern bezüg- cm²) und mittels der ballistisch-thermischen Wir-
lich der Versorgung verletzter, kontaminierter Per- kung speziell bei massiv gepanzerten Fahrzeugen
sonen. Die Planungen für ein größeres radiologisches (Munition wird seit Mitte der 1970er Jahre weltweit
Ereignis mit Freisetzung von radioaktiven Stoffen in in Kriegen verwendet). Uran entzündet sich bei Pe-
39.2 · Szenarien
551 39
netration spontan als heißer Uranstaub (pyrophorer ca. 600 Personen an soliden strahlenbedingten Tu-
Effekt) und im Inneren der Fahrzeuge entsteht ein moren wie Darm-, Lungen-, Magentumoren etc.
Aerosol aus Uran und Uranoxidteilchen. Die Auswirkungen dieser Einmalbestrahlung
Durch den Uranstaub (Alpha-Strahler) kann es (hauptsächlich Gammastrahlung mit wenigen Pro-
zur Kontamination und Inhalation kommen. Zu- zent an besonders biologisch wirksamer Neutro-
sätzlich zur radiologischen Wirkung hat Uran eine nenstrahlung) zeigten auch die erhöhte Empfind-
hohe Chemotoxizität (Cave: Schwermetallvergif- lichkeit von Kindern und Jugendlichen sowie Unge-
tung mit Nierenschädigung). Die Komponente der borenen. Nach offizieller Lesart sind schwerwiegen-
Direktstrahlung von herumliegenden Geschossen de vererbbare Effekte jedoch nicht aufgetreten. Im
hat von der Risikobetrachtung her keine Relevanz. Laufe der Jahrzehnte hat bis heute der Stellenwert
Die Korrosion intakter Munition an der Luft ver- bzw. die Wertigkeit der möglichen Schädigung der
hindert ein dünner metallischer Schutzmantel (Ab- fortpflanzungswichtigen Zellen des Menschen
schirmwirkung). durch ionisierende Strahlung abgenommen (Emp-
> Bei der Rettung oder Bergung aus mit DU-
fehlung der Internationalen Strahlenschutzkom-
Munition beschossenen Fahrzeugen ist für
mission, ICRP 103, 2007).
die Helfer besonders an einen geeigneten In-
Würde eine 1-MT-Atombombe in der Atmo-
korporationsschutz (Atemschutz) zu denken.
sphäre gezündet, so wäre noch bis zu einem Ab-
stand von 12 km vom Hypozentrum mit Verbren-
Wegen der Inhalationsgefahr sollte geeigneter nungen 3. Grades und in bis zu 15 km mit Verbren-
Mundschutz getragen werden (mindestens FFP3- nungen 2. Grades zu rechnen.
Filtermaske). Inhalierte Alpha-Strahler können Aus juristischer Sicht interessant: nach
nach Jahrzehnten statistisch die Lungenkrebsmor- § 307 Strafgesetzbuch ist die Herbeiführung einer
talität erhöhen. Explosion durch Kernenergie dann strafbar, wenn
das Leben oder Sachgüter gefährdet werden.
Anwendung von Nuklearwaffen Der Ausdruck »improvised nuclear device«
Die Zündung von Kernwaffen wird in Deutschland (IND) steht synonym für den Bau einer Nuklear-
mehr als hypothetisches Szenario betrachtet. Die waffe mit terroristischem Hintergrund. Nach Mei-
Auswirkungen der beiden Atombombenabwürfe nung vieler Experten ist der »Eigenbau« einer funk-
über Hiroshima und Nagasaki 1945 haben damals tionsfähigen Atombombe für eine nichtstaatliche
zu ca. 300.000 akuten Todesopfern geführt. Davon Organisation derzeit auszuschließen.
sind schätzungsweise ca. 60 % durch die enorme
Hitzewelle, 20 % durch die Druck-Sog-Wirkung Terroranschlag mit radioaktivem
und 20 % durch die in Einzelbereichen extrem hohe Material
Gamma- und Neutronenstrahlung gestorben »MI5 says dirty bomb attack is inevitable« (The
(. Tab. 39.1). Die Strahlenexposition trat zusammen Guardian, 18. Juni 2003).
mit mechanischen und thermischen Traumata auf. Unter den Stichworten »schmutzige Bombe«
Die Sprengkraft der Bomben betrug ca. 15 kT (Hi- (»dirty bomb«), USBV-A (unkonventionelle
roshima) bis 20 kT (Nagasaki) TNT-Äquivalent. Spreng- und Brandvorrichtung mit radioaktiver
Moderne Sprengköpfe können zwischen 50–800 kT Beiladung), RDD (»radioactive dispersion devices«,
TNT-Äquivalent aufweisen. Radioaktiver Fallout syn. »radiological dispersal device«), versteht man
führte 1945 zu Kontamination und zur Inkorpora- eine Sprengstoffladung mit zusätzlicher Beimen-
tion radioaktiver Partikel. Bekanntermaßen zeigen gung von radioaktivem Material. Die Menge an ra-
die Überlebenden dieser Katastrophe (LSS: Life dioaktiven Stoffen ist zunächst völlig variabel. Es
Span Study, mit ca. 86.000 Personen) einen Anstieg kann sich um umschlossene radioaktive Quellen
der Krebsmortalität (stochastischer Strahlenscha- handeln, die wie kleine Geschosse wirksam werden,
den) in den Folgejahren bis heute. Laut Statistik sind oder auch um staubförmige Partikel bzw. Flüssig-
bis ins Jahr 2010 etwa 100 Personen an einer durch keiten, die sich durch die Druckwelle der Explosion
die Strahlung ausgelösten Leukämie gestorben und in die belebte Umwelt verteilen (es findet im Gegen-
552 Kapitel 39 · Atomare Bedrohung (A-Bedrohung)
. Tab. 39.1 Klinische Frühsymptomatik beim Menschen nach akuter kurzzeitiger Ganzkörperexposition. (SKK 2007,
Band 4: Medizinische Maßnahmen nach Kernkraftwerksunfällen)
Kriterium Bereiche
Prognose ohne Sehr gut Sehr gut Gut Schlecht Geringe Über- Keine Überlebens-
Behandlung lebenschance chance
Prognose mit Sehr gut Sehr gut Sehr gut Gut Unsicher Unsicher bzw.
Behandlung infaust
Frühsymptome
Abgeschlagenheit Keine Vereinzelt Mäßig Ausge- Stark ausge- Sehr schnell, stark
prägt prägt ausgeprägt
Hämatologische Diagnostik
Zusätzlich ist zu beachten, dass eine Schädigung des Embryos oder Feten möglich ist, deren Schwere von dem
Entwicklungsstadium abhängt. Bereiche unter 100 mSv werden hier nicht definiert, da bei ihnen deterministische
Schäden auch beim Embryo bzw. Feten höchst unwahrscheinlich sind. Alle Werte der Tabelle wurden aus der inter-
national bekannten Literatur zusammengestellt. Gy = Gray (absorbierte Energie/Masse, Energiedosis in J/kg).
satz zur Atombombenexplosion keine Kernspal- fahr dar, besonders nach den Ereignissen im
tung statt!). Es kann zur Hautkontamination, zur KKW Fukushima Daiichi in Japan 2011. Größere
Inkorporation und zu Einsprengungen in Gewebe- Menschenansammlungen wie in Fußballstadien,
teile (kontaminierte Wunden) kommen. auf Konzerten oder im öffentlichen Berufsverkehr
Auch bei sehr kleiner Sprengwirkung mit einer können tatsächlich oder auch nur vermeintlich be-
39 geringen Hitze-Druck-Welle kann die psychologi- troffen sein. Der Strahlenunfall im September 1987
sche Wirkung verheerend sein. Die Ängste der Be- in Goiania (Brasilien) mit einer Verteilung des Iso-
völkerung und die daraus resultierenden Panikre- tops Caesium-137 auf viele Anwohner der Millio-
aktionen stellen eine nicht zu unterschätzende Ge- nenstadt hatte dazu geführt, dass 112.000 Personen
39.2 · Szenarien
553 39
messtechnisch auf Kontamination mittels Gamma- bringen und durch Zerreißung in sehr kleine
Spektrometrie untersucht werden mussten (249 Per- Partikel zerlegen kann.
sonen zeigten positive Messergebnisse). 4 Der zweite mögliche Weg der Inkorporation,
> Bei einer großen Zahl betroffener Personen
die Ingestion, also die Aufnahme radioaktiver
wäre es nach einem Terroranschlag vor Ort
Partikel oder Flüssigkeiten über den Magen-
nur bedingt möglich, die tatsächlich Betrof-
Darm-Pfad, erscheint wenig wahrscheinlich,
fenen von den »Sich-Betroffen-Fühlenden«
da im Gegensatz zu großflächigen Kontamina-
zu unterscheiden.
tionen von Nahrungsmitteln die Personen aus
dem Gefahrenbereich gerettet und mittels un-
In Goiania waren 85 Häuser durch das bläulich belastetem Essen und Getränken versorgt wer-
phosphoreszierende Caesiumpulver kontaminiert den können (nach Räumung bzw. Evakuie-
worden. Sieben wurden vollständig abgerissen. rung)
200 Personen mussten evakuiert werden. Es gab
durch die Kontamination von Straßen, Plätzen und Den für die Terrorabwehr zuständigen Stellen ste-
Gebäuden insgesamt 3.500 m² radioaktiven Müll. hen spezielle EDV-Programme zur Verfügung (z. B.
Leider waren auch 4 Todesfälle durch Inkorporation LASAIR), welche die Ausbreitung und Aufnahme
(v. a. Ingestion) zu beklagen. Die Wirtschaft der Re- von Partikeln in den Menschen tatortangepasst
gion brauchte Jahre, um sich zu erholen. Agrarpro- simulieren können. Durch Eingabe der aktuellen
dukte aus dem Bereich wurden gemieden, das Brut- Witterungsverhältnisse lässt sich die atmosphäri-
tosozialprodukt verschlechterte sich dramatisch. sche Verteilung der Radionuklide darstellen und
Da radioaktive Stoffe weltweit sowohl in Indus- somit resultierende Strahlenexpositionen abschät-
trieanlagen, Technik, Forschung als auch Medizin zen. Wichtige modifizierbare Eingabeparameter
weit verbreitet sind, könnten sich Terrororganisati- sind:
onen ohne weiteres in den Besitz radioaktiven Ma- 4 Menge und Beschaffenheit des Sprengstoffes
terials bringen. Nach Aussage des Präsidenten des 4 Strahlenart, Menge des radioaktiven Stoffes
Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS), Wolfram 4 Aktuelles Wetter und kurzfristige Wetterent-
König, werden allerdings »die radiologischen Ge- wicklung (Hotspots durch Schneefall,
fahren einer »Schmutzigen Bombe« im Allgemei- Fukushima 2011)
nen überschätzt« (2. Berliner Fachkongress über 4 Daten über die Beschaffenheit des Geländes
Nationale Sicherheit und Bevölkerungsschutz,
Nov. 2006). Das BfS analysierte das Bedrohungspo- Die Frage, welches Radionuklid für einen Terroran-
tenzial Schmutziger Bomben für in der Nähe der schlag Verwendung findet, hängt von der Intention
Explosion befindliche Menschenansammlungen. der Täter ab. Will man einen Strahler verwenden,
Dabei lassen sich folgende Feststellungen treffen: der schnell und leicht mittels geeigneter Messgeräte
4 Das ausgebrachte radioaktive Material bleibt in zu identifizieren ist, so kommen Gammastrahler in
der näheren Umgebung des Tatortes und führt Frage. Für die Anwendung bei zerstörungsfreier
zu direkter Strahlenexposition der beteiligten Materialprüfung, bei Werkstoffprüfungen und in
Personen. Die Dosisbelastung ist dabei abhän- sog. Füllstandsmessgeräten kommen in der Indust-
gig vom Abstand zu den Quellen und der je- rie Strahler wie Iridium-192, Kobalt-60 oder
weiligen Größe der Partikel. Cäsium-137 zum Einsatz. Sie sind weit verbreitet
4 Falls die Partikelgröße kleiner als 2 μm ist, und haben bei hoher Aktivität nur geringe Abmes-
besteht die Gefahr der Inhalation bis in tiefer sungen. Die Aktivität (also die Zerfälle pro Sekunde,
gelegene Lungenareale. Somit wird neben der angegeben in der Einheit Becquerel, Bq, oder einem
Direktstrahlungskomponente ein zweiter Vielfachen davon) liegt im Giga- bis mehrere Tera-
Dosispfad eröffnet (Bestrahlung von innen, Bq-Bereich. Hier sind für die »Verwender« erhebli-
Inkorporation). Bei Explosion konventionellen che bis tödliche Gesundheitsrisiken zu befürchten,
Sprengstoffes entsteht eine Hitze-Druck-Welle, sofern unsachgemäß, z. B. ohne entsprechende Ab-
die festes radioaktives Material zum Schmelzen schirmung, mit den Strahlern hantiert wird. Das
554 Kapitel 39 · Atomare Bedrohung (A-Bedrohung)
alles dürfte aber einen Terroristen, der bereit ist, als men die glauben, dass ein »Dirty-bomb-Anschlag«
»Selbstmordattentäter« aufzutreten, nicht abhalten. für Terrororganisationen nicht attraktiv genug ist,
Er könnte sein Werk vollenden und würde, falls die da der unmittelbare Schaden durch den konventio-
effektive Dosis ausreichend ist, erst in wenigen Ta- nellen Sprengstoff zu gering ist. Bis jetzt ist weltweit
gen bis Wochen versterben. Die mittlere letale Dosis noch kein Anschlag mit einer »dirty bomb« verübt
für den Menschen beträgt ca. 4.000 mSv Ganzkör- worden (in diesem Zusammenhang wird immer
perdosis (sog. deterministischer Strahlenscha- wieder auf den Vorfall im Moskauer Ismailovsky-
den). Dabei ist allerdings nicht berücksichtigt, dass Park 1995 verwiesen, wo angeblich tschetscheni-
durch medizinische Maßnahmen, bis hin zur Kno- sche Rebellen ein Paket mit radioaktivem Material
chenmarkstransplantation bzw. peripheren Stamm- für die Einsatzkräfte deponiert hatten, um die
zellspende, das sog. hämatopoetische Strahlen- Fähigkeit zum Bau einer dementsprechenden Bom-
syndrom behandelt werden kann und relativ gute be zu demonstrieren. Die Bombe wurde nicht ge-
Aussichten bestehen, dies zu überleben, sofern kei- zündet).
ne ausgeprägten Kombinationsschäden vorliegen. Man kann sich allerdings auch Ausbringungs-
Flüssige radioaktive Stoffe, die in der Medizin szenarien radioaktiven Materials über größere Are-
Verwendung finden, wären beispielhaft neben dem ale von Städten vorstellen ohne die Zuhilfenahme
Gammastrahler Technetium-99m, die Beta-Strah- einer Sprengladung. Dabei ist der Phantasie im Hin-
ler Rhenium-88, Yttrium-90 und auch Iod-131. blick auf das verwendete Transportvehikel keine
Häufig verwendete Beta-Strahler aus der Industrie Grenze gesetzt. Ein solches Szenario auf eine Groß-
(v. a. zur Dichte- und Dickenmessung) sind Stronti- stadt wie Frankfurt projiziert, würde zu massiven
um-90, Promethium-147 und Krypton-85. Ängsten bei der Bevölkerung führen, später an
Man kann sich natürlich auch sehr exotische Krebs zu erkranken und zu versterben. Auch wären
Strahler als USBV-A-Komponente vorstellen, bei evtl. großflächige Dekontaminations- und Evakuie-
der auch professionelle Messtechnik aufwändig und rungsmaßnahmen (ab 100 mSv in 7 Tagen) notwen-
schwierig wird. dig, welche die beteiligten Strukturen des Katastro-
Das Beispiel des Mordes an dem ehemaligen phenschutzes schnell an die Grenzen der Machbar-
KGB-Mitarbeiter Litvinenko (2007) in England keit bringen und zu infrastrukturellen bzw. volks-
mittels Polonium-210 zeigt eindringlich, dass z. B. wirtschaftlichen Verwerfungen führen könnten, bis
Alpha-Strahler eine gezielte Tötung mit kleinsten hin zum Zusammenbruch z. B. ganzer Finanzzen-
Mengen an radioaktivem Material ermöglichen und tren wie Frankfurt.
relativ lange unerkannt sowohl transportiert als Modellrechnungen des Nationalen Labor Spiez
auch »benutzt« werden können. Der Vor- und (Fachinstitut am Bundesamt für Bevölkerungs-
Nachteil von Alpha-Strahlern für die Einsatzkräfte schutz, Schweiz) aus dem Jahr 2005 zeigen, dass am
besteht darin, dass sich die Strahlung (eigentlich Ort der Explosion der »dirty bomb« je nach Aus-
Heliumatomkerne) schon durch ein Blatt Papier na- gangslage mit Dosisleistungen von bis zu 10 mSv/h
hezu vollständig abschirmen lässt. Der Transport in gerechnet werden kann. Nach 100 h Aufenthaltszeit
Gefäßen aus Glas oder anderen Materialien lässt an diesem Ort wäre eine Ganzkörperdosis von 1 Sv
sich, sofern nicht wie bei Gemischen zusätzlich erreicht. Etwa 5 % der Betroffenen müssten bei die-
noch Gammastrahlenkomponenten abgegeben ser Gesamtdosis nach 3–6 h die Symptome von
werden, als sichere Tarnung nutzen. Übelkeit und Erbrechen zeigen (sofern nicht durch
Entscheidend für die Frage, welches Radionuk- Panikreaktion bedingt!). Das hypothetische Krebs-
lid verwendet wird, dürfte die Schwierigkeit der sterblichkeitsrisiko wäre mit ca. 5–10 % zusätzli-
Beschaffung und die Intention des Attentäters sein, chen Todesfällen neben der natürlichen Krebsster-
ob ein Anschlag sofort als ein A-Szenario erkennbar berate erhöht und die Wahrscheinlichkeit an einer
39 sein soll (Aufmerksamkeit, Panikwirkung) oder ob Leukämie zu sterben, läge bei zusätzlich 1 %. Bei
möglichst viele Personen bis zur Aufdeckung eines Erwachsenen beträgt die Latenzzeit für das Auftre-
»Strahlenszenarios« körperlich geschädigt werden ten einer strahlenbedingten Leukämie mindestens
sollen. Es gibt durchaus ernst zunehmende Stim- 2 Jahre. Bei soliden Tumoren sind viele Jahre bis
39.3 · Schutzmaßnahmen
555 39
mehrere Jahrzehnte anzusetzen (für Kinder gelten ABC-Abwehr, Zentrale Unterstützungsgruppe
andere Latenzzeiten). Bund (ZUB), Nukleare Gefahrenabwehrkräf-
> Faustformel der ICRP: Eine Dosisbelastung
te (NGA), Sonderdienste der Polizei, Kerntech-
von 1 Sv sorgt für eine Zunahme der Krebs-
nische Hilfsdienst GmbH (KHG), Regionales
mortalität an soliden Tumoren (zusätzlich zur
Strahlenschutzzentrum (RSZ) etc.
natürlichen Krebssterblichkeitsrate) um 5 % > Spezielle medizinische Fachkompetenz durch
und eine Zunahme der Leukämiesterberate Strahlenschutzärzte, welche die Einsatzkräfte
um 1 %. vor Ort oder die Katastrophenschutzleitung
beraten können, sind oftmals nur an Regio-
nalen Strahlenschutzzentren (RSZ) zu finden.
satzkräften verhalten, die, wie etwa bei den Über- versorgung kontaminierter Personen kann auch ein
schwemmungen in New Orleans (Hurrikan Katrina Spritzschutzanzug mit Haube und Füßlingen sowie
2005), ihr Heil in der Flucht suchen und eben nicht eine FFP-3-Filtermaske (notfalls auch FFP2), Augen-
»ihren Job tun«. schutzbrille (Laborbrille) und doppeltes Paar Hand-
schuhe nebst geeignetem Schuhwerk sein.
> Die externe Strahlenbelastung die von
39.3.2 Überlegungen vor Eintreffen kontaminierten Patienten ausgeht, ist für die
an der Gefahrenstelle Helfer bei einem »Worst-case-Szenario«
(Patient ist vollständig mit flüssigem radio-
Die Einsatzkräfte sollten im günstigsten Fall vor aktivem Material kontaminiert) maximal im
Eintreffen an der Gefahrenstelle über die aktuelle Bereich weniger Millisievert (mSv) effektive
radiologische Lage informiert sein, um angemessen Dosis.
handeln zu können. Dabei sind folgende Szenarien
denkbar: Handelt es sich um Explosionstraumata oder Atten-
täter? Bei verwundeten Patienten mit radioaktiven
Handelt es sich bei der Strahlenquelle um ein tech- Splittern (Schrapnellen) oder bei absichtlicher In-
nisches Gerät das strombetrieben ionisierende korporation von höher aktiven umschlossenen
Strahlung erzeugt? Wenn Ja, ist durch Abschalten Quellen oder absichtlich am Körper getragenen
bzw. Unterbrechung des Stromkreises die Gefahr Strahlenquellen, können die Helfer einer mäßigen
einer Strahlenexposition gebannt. Der Zugriff auf bis erheblichen Strahlenbelastung ausgesetzt sein
verletzte Personen ist ohne spezielle persönliche (Szenario: Selbstmordattentäter). Aber auch hier ist
Schutzausrüstung möglich. die Aufenthaltszeit in der Nähe der »Strahlenquelle«
> Der durch externe Bestrahlung exponierte
(in diesem Fall zum »Patienten«) entscheidend. Die
und aus dem Gefahrenbereich gerettete
optisch/akustische Alarmschwelle eines am Körper
Patient stellt keinerlei Gefahr für die Helfer
getragenen sofort ablesbaren elektronischen Per-
dar, weil er selbst keine ionisierende Strah-
sonendosimeters (EPD) ist in geeigneter Weise
lung aussendet.
einzustellen (Warnschwelle für Dosisleistung und
Dosis). Dadurch würde rechtzeitig vor einer über-
Handelt es sich um umschlossene oder offene radio- mäßigen Exposition der Einsatzkräfte gewarnt.
aktive Stoffe (Strahler)? Im Fall von Großbestrah- Feuerwehren verwenden oft Alarmdosimeter, die
lungsanlagen oder sonstigen hochaktiven radioak- keine direkt ablesbare Anzeige haben.
tiven Quellen besteht im ungünstigsten Fall akute
Lebensgefahr für die Helfer. Gelingt es, den Patien-
ten aus dem Bestrahlungsbereich einer umschlos- 39.3.3 Maßnahmen vor Eintreffen
senen radioaktiven Quelle zu retten (Quellenum- an der Einsatz-/Gefahrenstelle
hüllung ist dicht), so ist dieser Patient selbst nicht
radioaktiv (Ausnahme: Neutronenstrahlenquelle).
Tipp
Er kann in diesem Fall vom Rettungsdienstpersonal
ohne besondere Schutzausrüstung versorgt werden.
Die mitgeführten Ortsdosisleistungsmess-
Der Patient strahlt selbst nicht.
geräte (ODL-Messgeräte) sollten schon wäh-
Im Falle der Rettung aus einem Bereich mit of-
rend der Anfahrt an die Einsatzstelle einge-
fenen radioaktiven Stoffen ist immer auch an eine
schaltet werden.
Kontamination und ggf. Inkorporation des Patien-
ten zu denken. In diesem Fall ist geeignete Schutz-
39 ausrüstung des Rettungsdienstpersonals notwen- Dadurch ist der Wert der natürlichen Hintergrund-
dig. Das heißt aber nicht, dass eine Behandlung nur strahlung bekannt und bei Annäherung an eine
im Chemikalienschutzanzug möglich ist. Eine ge- Gammastrahlenquelle wird ein zusätzlicher Mess-
eignete persönliche Schutzausrüstung für die Erst- wertanstieg erkennbar bzw. löst eine vorher einge-
39.3 · Schutzmaßnahmen
557 39
stellte Alarmschwelle ein optisch/akustisches Signal feuerwehrtechnischen und polizeilichen Gefahren-
aus. Sofern vorhanden, sollte ein kombiniertes abwehrmaßnahmen und Einsatztaktiken vertraut
Gamma-Neutronen-Ortsdosisleistungsmessgerät sein und sollten wie Ersteinsatzkräfte alarmierbar
mit NBR-Sonde (»Natural Background Rejection«) sein.
benutzt werden, um künstliche Radionuklide anzu- Feuerwehren und Rettungsdienst dürfen als
zeigen und gleichzeitig die natürliche Hintergrund- Richtwert der Ganzkörperdosis für einen lebensret-
strahlung auszublenden. tenden Einsatz einmalig in ihrem Berufsleben eine
> Die Alarmschwelle für Absperrmaßnahmen
effektive Dosis von 250 mSv erhalten (FwDV 500).
ist laut Feuerwehrdienstvorschrift (FwDV 500)
Nur in Ausnahmefällen und bei absoluter Freiwil-
25 μSv/h.
ligkeit sowie vorheriger spezifischer Aufklärung
(sinnvoll wären hier Strahlenschutzärzte) darf die-
Ist die Absperrgrenze noch nicht festgelegt, halten ser Wert überschritten werden. Die internationale
anfahrende Einsatzkräfte einen Mindestabstand Strahlenschutzkommission (ICRP) geht sogar noch
von 50 m zur Gefahrenstelle ein (Absperrbereich weiter und lässt bei lebensrettenden Einsätzen den
mindestens 100 m). Dosisrichtwert für Einsatzkräfte nach oben offen.
Ebenso frühzeitig (schon bei Anfahrt) evtl. not- Die mittlere tödliche Dosis für einen Menschen ist
wendige Fachberater alarmieren. Bei zivilen Einsät- bei etwa 4.000 mSv Ganzkörperdosis anzusetzen
zen geschieht dies durch die Leitstelle des Rettungs- (sofern keine medizinische Intervention erfolgt).
dienstes bzw. die Integrierte Leitstelle. Natürlich soll die Strahlenexposition auch für
Ärzte/Notärzte und Rettungsdienstpersonal im die Helfer so niedrig wie möglich gehalten werden
Strahlenschutzeinsatz sind keine beruflich strahlen- (Minimierungsgebot, ALARA-Prinzip(»as low as
exponierten Personen nach Röntgen- und/oder reasonable achievable«) der Internationalen Strah-
Strahlenschutzverordnung. Somit gelten auch keine lenschutzkommission), um auch die Wahrschein-
Dosisgrenzwerte für beruflich strahlenexponierte lichkeit für das Risiko einer tödlichen Tumorer-
Personen (z. B. Ganzkörperdosisgrenzwert 20 mSv/a krankung so gering wie möglich zu halten.
für beruflich strahlenexponierte Personen der Kate-
gorie A und B). Dennoch ist im Strahlenschutzein-
satz eine amtliche Personendosimetrie durchzufüh- 39.3.4 Maßnahmen für medizinisches
ren, d. h. ein Strahlenschutzdosimeter ist zu tragen Personal an der Einsatz-/
(Gleitschattendosimeter, Glasdosimeter etc.). Be- Gefahrenstelle
rufsfeuerwehren und gut ausgestattete freiwillige
Feuerwehren führen diese in ausreichender Anzahl
mit. Hilfreich sind auch sofort ablesbare EPDs (teil- GAMS-Regel
weise als amtliche Dosimeter zugelassen). 5 Gefahr erkennen
Der häufig verwendete Satz: »Lebensrettende 5 Absperren/Sichern unter Eigenschutz
Maßnahmen haben absoluten Vorrang vor Strah- 5 Menschenleben retten
lenschutzüberlegungen« ist für die Helfer in der 5 Spezialkräfte alarmieren
emotional schwierigen Situation eines Strahlenun-
falls mit Personenbeteiligung nur sehr schwer zu
akzeptieren. Nur die permanente Messung der 4 Die Feuerwehr sperrt ab einer ODL von
Ortsdosisleistung und, sofern nötig, die persönliche 25 μSv/h den Gefahrenbereich ab.
Schutzausrüstung gegen Kontamination, die auch 4 Geregelte Zugangswege sind auszuweisen.
gleichzeitig eine Inkorporation verhindert, gibt 4 Rettungskräfte, die keinen umluftunabhän-
Sicherheit für überlegtes Handeln am Verunfallten. gigen Atemschutz (Pressluftatmer) bzw.
Anerkannte, unabhängige Fachberater vor Ort (in Chemikalienschutzanzug tragen dürfen (keine
geeigneter Einsatzkleidung!) erhöhen die Akzep- gültige G26-III-Untersuchung), gehen mit
tanz für die Einsatzkräfte und vermitteln ein gewis- Kontaminationsschutzanzug, besser Spritz-
ses Maß an Sicherheit. Die Fachberater müssen mit schutzanzug, doppeltem Paar Handschuhen,
558 Kapitel 39 · Atomare Bedrohung (A-Bedrohung)
geeignetem geschlossenem Schuhwerk bzw. als möglich, gezielt und hautschonend er-
zusätzlich Füßlingen, Schutzbrille und minde- folgen. Tragbare Kontaminationsmonitore
stens FFP-3-Filtermaske, besser aber mit ermöglichen die Erfolgskontrolle der Maßnah-
filtrierender Halbmaske mit ABEK-P3-Filter men. Anschließend erfolgt der Transport des
vor (eine G26 II Untersuchung ist notwendig). Verletzten unter Voranmeldung mit Hinweis
Übergänge vom Schutzanzug zu peripheren auf »kontaminierter Patient« in ein Zentrum
Teilen sollten so gut wie möglich abgeklebt für Strahlenverunfallte (Adresse über die
werden, um eine Kontamination der Haut mit Rettungsleitstelle erfragen).
radioaktiven Partikeln zu verhindern. > Ein Fachberater mit Kontaminationsmonitor
4 Wegen Inkorporationsgefahr am Einsatzort sollte, wenn möglich, den Transport begleiten
nicht Essen, Trinken, Rauchen oder Schmin- und das ärztliche Personal der Klinik beraten.
ken. Keine Gegenstände in die Kleidung ein-
stecken (Edelstahlkapsel mit radioaktivem 4 Alle kontaminierten Materialien sammeln und
Material etc.). eindeutig kennzeichnen. Wiederverwendung
4 Es gibt speziell für medizinische Einsatzkräfte von Ausrüstung und Fahrzeug erst nach Frei-
Einmalanzüge mit Filtersystem und geringem messung durch die länderspezifisch zuständige
Überdruck, die erstmals für die Fußball- Behörde. Einsatzkräfte bei Verdacht auf Inkor-
WM 2006 bei Hilfsorganisationen wie dem poration oder Dosisbelastung unverzüglich
Roten Kreuz vorgehalten wurden und keine einem ermächtigten Arzt im Strahlenschutz
Atemschutztauglichkeit voraussetzen. vorstellen. Dies sollte nach den einschlägigen
4 Amtliche Dosimeter sind unterhalb der Verordnungen ab einer Ganzkörperdosis von
Schutzanzüge zu tragen. Zusätzlich dazu ein 50 mSv auf jeden Fall erfolgen.
Alarmdosimeter. 4 Einsatznachbesprechung mit Spezialisten des
4 Schnelles überlegtes Handeln ist dosissparend. RSZ durchführen.
> Lebensrettende Sofortmaßnahmen am
Patienten haben Vorrang vor Strahlenschutz-
überlegungen (Voraussetzung ist vernünftiger
Literatur
Eigenschutz).
1. BfS Rede König W (2006) 2. Berliner Fachkongress über
Nationale Sicherheit und Bevölkerungsschutz. http://
4 Einige Millisievert effektive Dosis müssen auch
www.bfs.de/de/ion/papiere/SchmutzigeBombe.html
Rettungskräfte in Ausübung Ihrer Tätigkeiten 2. Egger E, Münger K, Labor Spiez (2005) Dirty Bomb: Wie
akzeptieren. Für die eigene Risikobewertung gross ist die Bedrohung? Hintergrundinformationen,
kann der Vergleich mit einer Computertomo- www.labor-spiez.ch
graphieuntersuchung (CT) herangezogen wer- 3. Gespräche mit Verantwortlichen im Fall Litvinenko (2007)
den: Nach Veröffentlichung des Bundesamt für 4. Luiz T, Lackner C K, Peter H, Schmidt J (Hrsg.) (2009)
Medizinische Gefahrenabwehr. Elsevier Urban und
Strahlenschutz (BfS) von 2008 erzeugt ein Ab-
Fischer, München
domen-CT eine effektive Dosis (ED)von ca. 5. Scholz J, Sefrin P, Böttiger WB et al. (2008) Notfallmedizin.
15–20 mSv beim Patienten, das sind immerhin Thieme, Stuttgart
15.000–20.000 μSv! 6. Schutzkommission beim Bundesministerium des Innern
4 Kontaminierte Patienten sind, sofern medizi- (2010) Katastrophenmedizin Leitfaden für die ärztliche
Versorgung im Katastrophenfall. Bonifatius GmbH,
nisch vertretbar, zu dekontaminieren. Das Ab-
Druck-Buch-Verlag, Paderborn
legen der Kleidung dieser Personen (trockene 7. SSK Heft 61 (2009) Radiologische Grundlagen für Ent-
Dekontamination) führt schon zu erheblicher scheidungen über Maßnahmen zum Schutz der Be-
Verminderung der Strahlenbelastung des Pa-
39 tienten. Eine gewisse Kontamination der Ein-
völkerung bei unfallbedingter Freisetzung von Radio-
nukliden. H. Hoffmann GmbH-Fachverlag, Berlin
satzmittel des Rettungsdienstes ist zu akzeptie-
ren (auch des Transportfahrzeuges). Die nasse
Dekontamination des Patienten soll so rasch
559 40
Biologische Bedrohung
D. Frangoulidis
Literatur – 566
Seuchen und Massenerkrankungen, die durch Mik- Seit den früheren staatlichen Biowaffenprogram-
roorganismen oder Gifte entstehen können, be- men der USA und der ehemaligen Sowjetunion
einflussen seit dem Altertum die Entwicklung von existieren verschiedene Übersichten, welche Erre-
Gesellschaften oder den Ausgang von Kriegen. Dies ger bzw. deren Produkte (Toxine) für die Anwen-
spiegelt sich in Kapiteln des Alten Testaments (Apo- dung als Waffe geeignet sind. Eine Übersicht, die
kalypse, zehn Plagen) oder in der Literatur (Bocac- sowohl die historischen Anwendungen der o. g. Bio-
cio: »Das Dekameron«, während der Pestpandemie waffenprogramme, die Erregereigenschaften als
im 14. Jh. geschrieben) wieder. auch Ausbruchserfahrungen der letzten Jahrzehnte
Trotz der sicherlich langen Beziehung zwischen berücksichtigt, gibt die Klassifizierung der amerika-
Krankheitserregern und Menschen liegt der Beginn nischen Seuchenkontrollbehörde (Centers for
der modernen Mikrobiologie/Infektiologie nicht Disease Control and Prevention, CDC) in Atlanta
sehr weit zurück. Mitte des 19. Jh. begannen so be- (7 Übersicht). Diese Liste beinhaltet Agenzien bzw.
kannte Forscher wie beispielsweise Louis Pasteur, Erkrankungen, die prinzipiell ein bioterroristisches
Robert Koch, Friedrich Loeffler, die Grundlagen für Potenzial beinhalten und gliedert diese von A–C,
unser heutiges Verständnis von Infektionskrankhei- absteigend nach ihrem Schädigungspotenzial.
ten zu legen. Wissenschaft und Technik haben seit-
dem dazu beigetragen, dass z. B. Infektionskrankhei-
ten wie Pocken, Pest, Poliomyelitis oder Diphtherie Bioterroristische Agenzien bzw.
und ihr früher gefürchtetes epidemisches Auftreten Infektionskrankheiten [13])
mit großer Zahl an Erkrankten und Verstorbenen 5 Kategorie A
mittlerweile in den entwickelten Ländern der Ver- – Eigenschaften
gangenheit angehören. Aber auch im Zeitalter der – leichte Verbreitungsmöglichkeiten
modernen Medizin mit den Möglichkeiten einer oder Mensch-zu-Mensch-Übertrag-
antimikrobiellen Therapie spielen Infektionserreger barkeit
weiterhin eine Rolle. Nicht nur die zunehmenden – hohe Mortalitätsrate und potenziell
Resistenzen der Erreger gegenüber Therapeutika, große Beeinträchtigung des öffent-
sondern auch das Auftreten neuer bzw. bereits zu- lichen Gesundheitswesens
rückgedrängter oder ausgerotteter Infektionskrank- – kann öffentliche Unruhen/Panik und
heiten (z. B. »Polio«) werden regelmäßig beobachtet. Störungen der öffentlichen Ordnung
Sofern es sich dabei um gefährliche, d. h. lebensbe- verursachen und
drohliche, hoch ansteckende Infektionskrankheiten – erfordert spezielle Vorsorgemaß-
handelt, kommen diese vorwiegend in sog. Entwick- nahmen des öffentlichen Gesundheits-
lungsländern in sub- und tropischen Gebieten vor. wesens.
Sie können aber über den internationalen Reise- und – Agenzien/Infektionen
Handelsverkehr importiert werden. Darüber hinaus – Anthrax/Milzbrand
könnten die Erreger solcher Infektionskrankheiten (Bacillus anthracis)
möglicherweise von kriminellen bzw. terroristischen – Botulismus (Clostridium botulinum
Gruppierungen für Anschläge als biologische Waf- toxin)
fen missbraucht werden. Eine Bedrohung durch – Pest (Yersinia pestis)
staatlich betriebene Biowaffenprogramme gilt heut- – Pocken (Variola major)
zutage dagegen als wenig wahrscheinlich. – Tularämie/Hasenpest (Francisella
In diesem Kapitel wird auf die Besonderheiten tularensis)
von Krankheitserregern eingegangen, die beson- – virale hämorrhagische Fieber (Filoviren
ders im Bereich der sog. Ersthelfer/»First Respon- wie z. B. Ebola, Marburg und
40 der« sowohl auf militärischer als auch ziviler Seite Arenaviren, z. B. Lassa, Machupo)
zu beachten sind.
40.3 · Aspekte für Einsatzkräfte vor Ort
561 40
In der 7 Übersicht sind die wichtigsten Aspekte und
5 Kategorie B Besonderheiten von Infektionskrankheiten bzw. de-
– Eigenschaften ren Erreger genannt. Neben der eigentlichen klini-
– mäßige Verbreitungsmöglichkeiten schen Symptomatik bzw. dem Erkrankungsverlauf
– mittlere bis geringe Mortalitätsraten spielen die Übertragung und speziell die Weiterver-
und breitungsmöglichkeiten eine große Rolle. Alle Fakto-
– erhöhte Anforderungen an diagnost- ren haben natürlich auch Einfluss auf die primären
ische Laborkapazitäten und Infektions- und nachgeschalteten Ebenen und Bestandteile des
überwachung medizinischen Versorgungssystems. So sind in der
– Agenzien/Infektionen höchsten Gefährdungskategorie A alle Erreger vor-
– Brucellose (Brucella species) handen, die ein hohes Ansteckungs- und Weiterver-
– Epsilon-Toxin von Clostridium breitungspotenzial, verbunden mit einer z. T. hohen
perfringens Sterblichkeitsrate aufweisen, wie das z. B. die Pest und
– Bedrohungen der Lebensmittelsicher- die Pocken in der Geschichte bereits sehr eindrucks-
heit (z. B. Salmonella species, E. voll gezeigt haben. Aber auch ein Agens wie Bacillus
coli O157:H7, Shigella) anthracis, das nicht primär von Mensch zu Mensch
– Rotz (Burkholderia mallei) übertragen werden kann, ist aufgrund seiner hohen
– Melioidose/Pseudorotz (Burkholderia Letalität und der Ausbringungsmöglichkeit als feine,
pseudomallei) hoch angereicherte, sporenhaltige Pulverpräparation
– Psittakose (Chlamydia psittaci)
in seinen Auswirkungen enorm. Die 2001 in den
– Q-Fieber (Coxiella burnetii)
USA versandten Briefe zeigen dies deutlich [4].
– Ricin, Toxin von Ricinus communis
Allen Kategorien ist das Potenzial gemein, enor-
(gemeine Castorbohne)
me psychologische, strukturelle und organisato-
– Staphylokokken Enterotoxin B
rische Wirkungen auf das öffentliche und wirt-
– epidemisches Fleckfieber (Rickettsia
schaftliche Leben bzw. die medizinische Versorgung
prowazekii)
im Allgemeinen und Speziellen nehmen zu können.
– virale Enzephalitiden (Alphaviren wie z. B.
Eine weitere Besonderheit von Infektionskrank-
die Venezolanische Pferdeenzephalitis)
heiten ist auch das zeitlich häufig stark verzögerte
– Bedrohungen der Trinkwassersicher-
Auftretensereignis. Im Gegensatz zu z. B. chemisch-
heit (z. B. Vibrio cholerae, Cryptospori-
dium parvum)
toxischen Agenzien, können bei Infektionserregern
5 Kategorie C
zwischen Infektion und Ausbruch von Symptomen
– Eigenschaften (sog. Inkubationszeit) z. T. mehrere Tage oder sogar
– neu oder wieder auftretende Agenzien Wochen vergehen. Dies erschwert natürlich die Er-
bzw. Infektionskrankheiten, die sich mittlung einer zugrundeliegenden Quelle bzw. die
zur Massenausbreitung eignen, auf- Rückverfolgung von Infektionen enorm. Das ge-
grund ihrer fürchtetste Szenario stellen dabei Infektionen dar,
– Verfügbarkeit die noch vor Ausbruch von Symptomen eine
– leichten Herstellung und Verbreitungs- Mensch-zu-Mensch Ansteckungsfähigkeit besitzen.
möglichkeiten sowie Ausbreitung und
– potenziellen hohen Morbidität und
Mortalität und starken Beeinträchtigung 40.3 Aspekte für Einsatzkräfte vor Ort
des öffentlichen Gesundheitswesens
– Agenzien Folgende Punkte, Abläufe bzw. Fragestellungen sind
– neu bzw. wieder auftretende Infektion- für Einsatzkräfte vor Ort von entscheidender Be-
skrankheiten bzw. Erreger, z. B. Nipah- deutung:
viren, Hantaviren, SARS, Influenza A 4 Lagebeurteilung/Gefahrenerkennung
(H1N1), EHEC 0104:H24, MERS-CoV 4 Entscheidung über Eigen- und ggf. Fremd-
schutz
562 Kapitel 40 · Biologische Bedrohung
4 Meldung bzw. Informationsweitergabe für ggf. stand, Lymphknoten-, Milz- und Leber-
notwendige Unterstützungen, weitere Maß- schwellung, Kollaps/Schock
nahmen 4 Hämorrhagische Fieber-Symptomatik
4 Entscheidung über Vor-Ort-Maßnahmen 5 Hohes Fieber mit äußeren Blutungen und
Hinweisen auf innere Blutungen bzw. Gerin-
nungsstörungen (Hauteinblutungen/Pete-
40.3.1 Lagebeurteilung/ chien, Ekchymosen, Purpura, Nasenbluten,
Gefahrenabschätzung/ blutiger Auswurf, Magen-Darmblutungen)
Gefahrenerkennung 4 Neurologischer Symptomenkomplex
5 Fieber mit Kopfschmerz, Nackensteifigkeit,
Für ein Einsatzteam ist eine der schwierigsten Auf- Übelkeit, Erbrechen, Bewusstseinsstö-
gaben, die Gefahrenlage korrekt einzuschätzen. rungen, Krämpfe, Lähmungen und als Be-
Wann und wie beginnt das sog. »daran Denken«? sonderheit hiervon
Die Hinweise bzw. Verdachtsmomente auf das Vor- 5 das sog. paralytische Syndrom, das typisch
liegen eines Infektionsgeschehens bzw. einer Infek- für Vergiftungen ist: Schwächegefühl, Übel-
tionskrankheit sind äußerst heterogen: Fieber, keit, Schluck-, Sprach- und Sehstörungen
Schüttelfrost, Muskel-, Kopf- und Gliederschmer- (z. B. Doppelbilder)
zen, Nackensteifigkeit, Bewusstseinsstörungen, 4 Exanthematöse Symptomatik
Krämpfe, Lähmungen, Übelkeit, Erbrechen, Durch- 5 Fieber mit En- und/oder Exanthem
fall, Schluck-, Sprach- und Sehstörungen, Hautver- 4 Magen-Darm-Syndrom
änderungen (lokal, systemisch, flächig), Husten mit 5 Übelkeit, Durchfall, Erbrechen, ggf. mit
oder ohne Auswurf, Anzeichen für innere und Fieber
äußere Blutungen (z. B. Nasenbluten, Hauteinblu-
tungen), Abgeschlagenheit/Apathie, Atemnot, Weitere Hinweise, die für ein (ungewöhnliches) In-
Brustschmerzen, Rasselgeräusche, Lymphknoten- fektionsgeschehen sprechen können:
schwellungen, Kollaps/Schock. 4 Kranke oder tote Tiere oder sichtbare Ver-
Hinweisend sind eine hohe Anzahl Betroffener haltensauffälligkeiten
mit gleichen Beschwerden in einem räumlichen Zu- 4 Ungewöhnliche Umstände bzw. Gegenstände
sammenhang, gehäuftes Vorkommen von Betroffe- (z. B. weißes Pulver, Kanister, Sprühvorrich-
nen mit Fieber, Erkrankungen der Atemwege oder tungen)
des Magen-Darm-Traktes, Reiseanamnese, Ver- 4 Bekennerschreiben u. ä. Dokumente (Droh-
wandtenbesuch, auffälliges Verhalten bei Tieren briefe)
(oder plötzliche Todesfälle). Besonders folgende 4 Viele Betroffene mit ähnlichen Symptomen an
klinische Symptomkomplexe geben Anlass zu einem Ort
höchster Vorsicht [9]: 4 Lokalität (Restaurant, Bar, Disco, Kino, Schule,
4 Grippe-ähnliches Syndrom öffentliche Einrichtungen, Firma)
5 Hohes Fieber, Schüttelfrost, Atemnot,
schmerzhafte Atmung, Kopf-, Glieder-,
Rücken- und Muskelschmerzen, allgemeine 40.3.2 Entscheidung über Eigen-
Abgeschlagenheit bis hin zur Apathie und ggf. Fremdschutz
4 Akutes Atemnotsyndrom (ARDS = »Acute
Respiratory Distress Syndrom«) Grundsätzlich sollte ein ausreichender Immun-
5 Fieber, Abgeschlagenheit, Husten mit/ohne schutz durch Impfungen bei allen eingesetzten Per-
Auswurf, Atemnot, Stridor, Zyanose, Brust- sonen vorhanden sein. Neben dem Basisimpfschutz
schmerzen, Rasselgeräusche (Tetanus, Diphtherie, Masern, Mumps, Röteln,
4 »Sepsis«-Syndrom Polio, Hepatitis B) sollte auch Pertussis, Influenza,
40 5 Fieber mit/ohne Hautausschlag, Schüttel- Hepatitis A, Meningokokken (möglichst tetravalen-
frost, Apathie, sehr schlechter Allgemeinzu- ter, konjugierter Impfstoff) vorhanden sein. Je nach
40.3 · Aspekte für Einsatzkräfte vor Ort
563 40
Einsatzform bzw. Einsatzgebiet können auch Imp- gen sollten besonders zu Reinigungs-/Dekontami-
fungen gegen FSME, Typhus, Gelbfieber, japanische nationszwecken Mittel vorhanden sein, die auch
Enzephalitis und Tollwut sinnvoll sein. Für ganz resistentere Dauerformen (wie Sporen) ausreichend
spezielle Indikationen ist auch an Impfungen gegen- inaktivieren können (Aldehyde, Perchloratverbin-
über Milzbrand und Pocken zu denken (ein Pocken- dungen, Peressigsäure, Wasserstoffsuperoxid). Die-
impfstoff ist jedoch in Deutschland nicht zugelassen se können auch z. T. erst im Bedarfsfall hergestellt
bzw. verfügbar). werden.
Die zweite wichtige Säule ist die sog. Postexpo- Das Team vor Ort muss ggf. nach der notwendi-
sitionsprophylaxe (PEP). Hier kann bei einem star- gen lebensrettenden Sofortversorgung auch weitere
ken Verdacht auf ein ansteckendes Infektionsge- direkte Kontaktpersonen mit Schutzmaßnahmen
schehen die nachträgliche Gabe von Impfstoffen, versorgen (Atemschutz, PEP).
Immunglobulinen, Antibiotika (z. B. Doxycyclin, Ansteckungsverdächtige Personen (alle poten-
Ciprofloxacin) und antiviralen Substanzen (z. B. ziell Exponierten und Kontaktpersonen, einschließ-
Neuraminidasehemmer) sinnvoll sein. lich ungeschützt exponiertes medizinisches Perso-
Die persönliche Schutzausstattung (PSA) um- nal, Rettungs- und Ordnungskräfte) werden wie
fasst in der Routine mindestens die Verwendung folgt eingeteilt:
von Handschuhen. Bei Hinweisen auf ansteckende 4 »Gesunde« Personen: Absonderung (zu Hau-
Infektionserreger sind weitere Ausstattungsgegen- se, in Kohorten, stationär) bis zum Ausschluss
stände empfehlenswert: einer lebensbedrohlichen Infektion, dabei
4 Schutzanzug als Overall (mindestens mit ein- medizinische Beobachtung, ggf. PEP
gearbeiteter Kapuze) und ggf. mit eingefügten 4 Personen mit Fieber und anderen Sympto-
Fußanteilen men (z. B. Durchfall, Exanthem): Isolierung
4 FFP3-Masken (partikelfiltrierende Halb- bis zum Ausschluss lebensbedrohlicher Infek-
masken) mit Ausatemventil. So genannte tion, symptomatische und kalkulierte Chemo-
Operationsmasken (= FFP1) sind nicht aus- therapie.
reichend 4 Personen mit wahrscheinlicher/bestätigter
4 Sterile Operationshandschuhe verwenden ansteckungsfähiger Infektionskrankheit:
(besserer Sitz, höhere Dichtigkeit), doppelt, mit Isolierung nach epidemiologischer Indikation,
Klebeband am Anzug abgedichtet stationäre Behandlung, symptomatische und
4 Schutzbrille oder Gesichtsschild kausale Therapie.
4 Einwegschürzen/-Operationskittel
4 Überziehschuhe
4 Abfallbeutel für Müll der Gruppe C, flüssig- 40.3.3 Meldung und Einleitung weiterer
keitsdicht, möglichst mit Kabelbindern ver- Maßnahmen
schließen. Gegebenenfalls »Beutel-in-Beutel«-
System anwenden (= höhere Auslaufsicher- In der Unfallmeldung wird sich nur selten bereits
heit), ideal sind spezielle Kunststoffbehälter ein offensichtlicher Hinweis auf eine ansteckende
(sog. Medibins), die nach Befüllung dicht ver- Infektionskrankheit finden. Normalerweise werden
schlossen werden können. dort Informationen zu Ort, Art der Situation, An-
> Patienten mit Verdacht auf eine ansteckende
zahl der Betroffenen, Schwere der Symptomatik/
Infektionskrankheit sollten, wenn es der
Erkrankung und ggf. noch Hinweise zum Umfang
Zustand erlaubt, ebenfalls eine FFP3-Maske
der Gesamtsituation und weiteren betroffenen Per-
erhalten, diese darf jedoch nicht über ein Aus-
sonen gemacht. Die oben genannten Symptome
atemventil verfügen.
können aber schon für die Leitstelle wichtige Hin-
weise auf ein ungewöhnliches Geschehen liefern.
Natürlich ist auch an ausreichende Mengen wirksa- Hier ist der Dialog mit dem Personal vor Ort ent-
mer Desinfektionsmittel zu denken. Neben den scheidend. Idealerweise wird in gemeinsamer Ab-
üblicherweise vorhandenen alkoholischen Lösun- stimmung ein Verdacht auf ein Infektionsgeschehen
564 Kapitel 40 · Biologische Bedrohung
definiert und koordiniert das weitere Vorgehen ab- derung oder Quarantäne. Diese Maßnahmen sind
gestimmt. für die Dauer der erregerspezifischen Inkubations-
Beim geringsten Verdacht muss sofort ein ent- zeit durchzuführen. Je nach Umfang des Infektions-
sprechender persönlicher Schutz des Personals her- geschehens und/oder der betroffenen Region kann
stellt und allen Beteiligten ein entsprechender Hin- es notwendig werden, provisorische Behandlungs-
weis mit Angaben zum weiteren Vorgehen gegeben und Isoliereinrichtungen aufzustellen (Krankenwa-
werden. Je nach Schweregrad der Symptomatik und gen, Zelt, Geschäft, Gebäude, Turnhalle, Stadion,
Umfang des Geschehens muss mit der Leitstelle ge- Schulen, Kantine, Kino usw.).
klärt werden, inwieweit das Team in die nächste Die Einteilung erfolgt in drei Zonen:
medizinische Versorgungseinrichtung verlegen 4 Rot: primärer kontaminierter Bereich.
kann oder auf Unterstützung vor Ort warten muss. 4 Gelb: dieser ergibt sich u. a. aus der möglichen
Eine entscheidende Rolle kommt hier der Kommu- Ausbreitungsrichtung (hier kann z. B. auch die
nikation und Leistungsfähigkeit der zuständigen Windrichtung eine Rolle spielen. Üblicher-
Leitstelle zu! weise halten sich in der gelben Zone alle
Besteht der Verdacht auf eine Exposition meh- primär Betroffenen auf (Exponierte/Kranke
rerer Personen und Bereiche, muss mit ersten ent- und Krankheitsverdächtige).
sprechenden antiepidemischen Maßnahmen vor 4 Grün: diese stellt den »reinen«, dekontami-
Ort begonnen werden. nierten Bereich dar, der über ein Dekontami-
nationsregime den gelben Bereich »ver- bzw.
entsorgt«. Hier wird auch möglichst zügig eine
40.3.4 Entscheidung über Leitstelle/Operationszentrale eingerichtet, die
Vor-Ort-Maßnahmen in Abstimmung mit den übergeordneten Be-
hörden und Institutionen (Gesundheitsämter,
Ist primär von einem Einzelfall auszugehen, sollte Rettungsdienste, Feuerwehr, Polizei, LKA,
der betroffene Bereich vor Beginn des Kranken- BKA, Robert-Koch-Institut, Kompetenz-/Be-
transportes auf jeden Fall für eine spätere eingehen- handlungszentren) den Einsatz koordiniert.
de Untersuchung gesperrt bzw. gesichert werden
(z. B. durch Polizeibeamte). Wichtig ist, dass die Leitstelle möglichst frühzeitig
Besteht jedoch ein starker Verdacht auf ein Ge- den Austausch des meist nichtspezialisierten ersten
schehen mit einer hoch ansteckungsfähigen Infek- Teams vor Ort plant und durchführt. Dadurch wird
tionskrankheit (z. B. mehrere Betroffene mit ähnli- u. a. gewährleistet, dass alle weiteren notwendigen
cher Symptomatik) muss mit ersten koordinieren- Vor-Ort-Maßnahmen fach-, sach- und zeitgerecht
den Maßnahmen vor Ort vom Einsatzteam begon- durchgeführt werden. Während die primäre medi-
nen werden. zinische Notfallbehandlung meistens noch vom zu-
> Das erste Ziel muss sein, eine weitere
erst eingetroffenen Team geleistet werden kann,
Ausbreitung der Erkrankung zu verhindern!
stellt die Isolierung und weitere Sichtung von Er-
krankten bereits eine sehr zeitaufwändige und um-
Hierzu werden Gefahrenbereiche definiert, die gegen fangreiche Maßnahme dar, die vom Erstteam allen-
unerlaubtes Verlassen bzw. Betreten zu sichern sind. falls begonnen werden kann.
Alle neuen bzw. bereits vorhandenen Unterstüt- Alle weiteren Schritte wie Absonderungs-/Iso-
zungskräfte werden, wenn möglich, mit den oben lierungsmaßnahmen, patientennahe und umge-
beschriebenen PSA-Bestandteilen ausgestattet. Es bungsbezogene Probennahmen, Probenverpackung
werden Dekontaminationsregularien für den Wech- und entsprechend gesicherter Transport, Dekonta-
sel zwischen den eingeteilten Bereichen festgelegt. mination und komplette Dokumentation, Anamne-
Entscheidend ist die Erfassung aller Personen, seerhebung, Auswertung, Meldevorgänge und ggf.
die ohne Schutz dem Infektionserreger ausgesetzt Einleitung weiterer antiepidemischer Maßnahmen
40 waren. Je nach Erreger und Grad der Exposition er- werden von den nachrückenden Einsatzkräften
folgt eine PEP, Überwachung/Beobachtung, Abson- durchgeführt und koordiniert.
40.4 · Hygiene-/Dekontaminationshinweise
565 40
40.4 Hygiene-/ Neben den Maßnahmen unter C-I (idealerweise er-
Dekontaminationshinweise gänzt durch Overalls, Vollgesichtsmasken und abge-
klebte, doppelte Handschuhe) sollte das Transport-
Alle potenziell exponierten Oberflächen/Gegen- fahrzeug; wenn möglich; nur die absolut notwen-
stände werden gereinigt, desinfiziert bzw. dekonta- digste Ausstattung enthalten, die Kabine vom Fah-
miniert und anschließend, wenn möglich, direkt in rerhaus getrennt bleiben, die Klimaanlage oder
entsprechende Abfallbehältnisse entsorgt. Das sonstige Belüftung ausgeschaltet sein und alle In-
Personal muss beim Wechsel von der gelben Zone nenflächen wo möglich mit Einwegmaterialien ab-
in den grünen Bereich äußerlich komplett dekonta- deckt werden. Nach Einsatzende erfolgt das Ausklei-
miniert (ggf. einschließlich Duschen) werden den in einer entsprechenden provisorischen Dekon-
und führt einen kompletten Bekleidungswechsel taminationszone mit anschließender Entsorgung
durch. aller Gegenstände. Das Fahrzeug ist unter entspre-
Anschließend erfolgen ggf. notwendige Prophy- chender Schutzbekleidung gründlich zu reinigen, zu
laxe- (Impfung, Antibiotikagabe) und Über- desinfizieren und komplett zu dekontaminieren
wachungsmaßnahmen. (idealerweise Formalinbegasung des Innenraumes).
Für den Sonderfall, dass ein Einsatz in Regionen In der 7 Übersicht und . Abb. 40.1 sind noch-
stattfindet, die nur über eine eingeschränkte logisti- mals die wichtigsten Aspekte, Abläufe und Maßnah-
sche und fachliche Infrastruktur zum Management men für das Vor-Ort-Team bei Verdacht auf ein an-
einer solchen Krisensituation mit ansteckungsfähi- steckendes Infektionsgeschehen zusammengefasst.
gen Patienten verfügen, sollten die Ersteinsatzkräfte
folgende Punkte beachten:
Abgeleitet von den fünf Transportkategorien im Synopsis für »First Responder«
Rettungsdienst können zwei relevante Kategorien 5 Erster Kontakt zum Erkrankten/Betroffenen
betrachtet werden: – Primär Sicherung der Vitalfunktionen und
4 C-I Ermittlung von Gesundheits- und Allge-
5 Alle ansteckungsfähigen Erkrankungen, die meinzustand, Symptomatik, Anzahl der
aber primär kein lebensbedrohliches Poten- Betroffenen bzw. ggf. weiterer Beteiligter,
zial besitzen bzw. gut und ausreichend be- Trigger für Verdacht auf Infektionsge-
handelbar sind (z. B. akute Durchfallerkran- schehen (s. oben)
kungen durch Noroviren, offene Tuberkulo- – Überlegungen zu Differenzialdiagnosen
se, Meningokokkeninfektion). und Suche nach Hinweisen (speziell zu
5 Hier ist die Standardhygiene mit Handschu- Verstrahlung und Vergiftung z. B. durch
hen, Augenschutz, Mundschutz (möglichst Chemikalien, Kampfstoffe, bakterielle
immer mit FFP3-Maske und Ausatemventil Toxine, Pflanzengifte)
– im Rettungsdienst sollten für das Personal – Eigene Schutzmaßnahmen, Schutz für
grundsätzlich keine anderen Masken Ver- Patienten, Exponierte, ggf. Einleitung wei-
wendung finden → höhere generelle Sicher- terer Seuchenbekämpfungsmaßnahmen
heit), Mund-Nasen-Schutz für den Patien- – Sonstige epidemiologisch relevante Über-
ten ausreichend. legungen/Entscheidungen/Informationen
5 Das Einsatz- bzw. Transportfahrzeug muss 5 Informationsverhalten
anschließend gründlich gereinigt und des- – Weitere Benachrichtigungen, z. B. Leiten-
infiziert werden. der Notarzt (LNA), Ämter, Behörden,
4 C-II Krankenhäuser, Feldlazarett, Labore,
5 Hierunter fallen alle Erkrankungen, die Desinfektions-/Dekontaminationsspezia-
primär lebensbedrohlich verlaufen können listen, Presse, Kommandeur Sanitätsein-
und hoch ansteckend sind (z. B. virale satzverband, Leitstellen
hämorrhagische Fieber, Lungenpest, – Anforderung von Unterstützung
SARS).
566 Kapitel 40 · Biologische Bedrohung
Literatur
5 Grundsätzliche Checkliste/Vorgehens-
1. Centers for Disease Control and Prevention (Atlanta):
weise bei Verdacht auf Infektionsge-
http://www.bt.cdc.gov/agent/agentlist-category.asp
schehen (. Abb. 40.1) 2. Fock R, Koch U, Finke EJ, Niedrig M, Wirtz A, Peters M et al.
– Eigen-/Fremdschutz (2000) Schutz vor lebensbedrohenden importierten
– Ansteckungsfähig? Infektionskrankheiten: Strukturelle Erfordernisse bei der
Behandlung und anti-epidemische Maßnahmen. Bun-
– Prophylaktische Antibiotikagabe/PEP
desgesundheitsbl Gesundheitsforsch Gesundheitsschutz
– Ursachen-/Quellenidentifizierung 42: 891–899
– Erste Absperr-/Isolierungs-/Quarantäne- 3. Franz D et al. (1996) Medical Management of Biological
maßnahmen einleiten (betrifft alle an- Casualties. US Army Medical Research Institute of Infec-
tious Diseases. Frederick, Maryland, Fort Detrick
steckungsverdächtigen Personen), ggf.
4. Jernigan DB, et al. (2002) National Anthrax Epidemiologic
vor Ort bleiben, um Weiterverbreitung zu Investigation Team Investigation of bioterrorism-related
unterbinden – provisorische Isolierein- anthrax, United States, 2001: Epidemiologic findings.
richtung (Krankenwagen, Zelt, Geschäft, Emerg Infect Dis 8:1019–1028
5. United States Army Institute of Infectious Diseases: www.
Gebäude, Turnhalle, Stadion, Kantine,
usamriid.army.mil/education/bluebook.html
Kino etc.) errichten 6. World Health Organization: www.who.int/health-topics/
5 Folgemaßnahmen bioterrorism/en/
– Weitere Patientenversorgung (vor Ort/ 7. Kekulé et al. (2008) Hochpathogene Erreger und Biologi-
sche Kampfstoffe. MiQ 26-29 – Qualitätsstandards in der
Klinik)
mikrobiologisch-infektiologischen Diagnostik. Band 1–4.
– Eigenes Personal (unterstützen, München. Elsevier, Amsterdam
Entlastung/Austausch andenken) 8. Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophen-
– Ggf. gezielte Therapie einleiten, hilfe (BBK), Robert-Koch-Institut (RKI) (2007) Biologische
Dekontamination, Desinfektion Gefahren Bd. I u. II, Handbuch zum Bevölkerungsschutz.
3. Aufl. Bon, Berlin
– Forensik einschließlich Anamneseer- 9. Domres BD, Finke E-J, Kekulé A (2010) Großschadens-
fassung und -auswertung (besonders lagen durch biologische Agenzien. In: Schutzkommission
wichtig bei längerer Inkubationszeit einer beim Bundesministerium des Innern. Leitfaden für die
Infektion), Probennahme/-sicherung ärztliche Versorgung im Katastrophenfall. 5. völlig neu
überarbeitete Aufl., München, S. 266–302
veranlassen, Vektorenerfassung 10. Finke EJ, Tomaso H, Frangoulidis D (2006) Bioterroris-
mus-Infektiologische Aspekte. In: Darai G, Handermann
M,. Sonntag HG, Tidona CA, Zöller L (Hrsg.) Lexikon der
Infektionskrankheiten des Menschen – Erreger, Symp-
tome, Diagnose, Therapie und Prophylaxe, 3. Aufl. Sprin-
ger, Berlin Heidelberg
11. Finke E-J, Frangoulidis D (2009) B-Gefahren. In: Sefrin
et al. (Hrsg.) Notfallmedizin, 2. Aufl. Thieme, S. 623–627
12. Frangoulidis D, Meyer H (2005) Measures undertaken in
the German Armed Forces Field Hospital deployed in
Kosovo to contain a potential outbreak of Crimean-
Congo hemorrhagic fever. Mil Med 170(5):366–9
13. CDC, Atlanta, USA: http://www.bt.cdc.gov/agent/agent-
list-category.asp
. Abb. 40.1 Algorithmus für die präklinische Versorgung Infektionskranker. 1 Vorsichtung und Dokumentation durch 7
Leitenden Notarzt/Sichtungsarzt/Sichtungsarztgruppe. Kommunikation mit Leitenden Notärzten der festgelegten Kranken-
häuser zur Aufnahme der Patienten. 2 Erste antiepidemische Maßnahmen zur Kontrolle, Begrenzung und Untersuchung des
biologischen (Ausbruchs-)Herdes durch Amtsarzt, gemäß IfSG, ggf. Einbindung von Amtstierarzt bei Ausbrüchen in Tierbe-
ständen, epidemiologischer Task Force des RKI, BfR, Bundeskriminalamt (Spurensicherung) oder Bundeswehr (Task Force
40 Med ABC Schutz). * Meldepflichtige Ereignisse gemäß Internationalen Gesundheitsvorschriften (§12 IfSG). ** Kategorien der
Kontaktpersonen gemäß BBK Handbuch Teil I. I-KTW Infektionskrankentransportwagen, PSNV Psychosoziale Notfallversor-
gung. (Adaptiert nach [9])
40.3 · Aspekte für Einsatzkräfte vor Ort
567 40
569 41
Chemische Bedrohung
K. Kehe, D. Steinritz, H. Thiermann
Literatur – 580
41.1 Einführung
. Tab. 41.1 Einteilung der chemischen Kampfstoffe
41 nach Art und Wirkung
Chemische Kampfstoffe (C-Kampfstoffe) sind zu
Zwecken der Kriegsführung produzierte toxische C-Kampfstoffgruppe Beispiele
Chemikalien, die zu einer temporären Handlungsun-
fähigkeit, Dauerschädigung oder Tod führen kön- Nervenkampfstoffe VX, Sarin, Cyclosarin, Tabun,
Soman
nen. Ein C-Kampfstoff, der mit einem Einsatzmittel
kombiniert wird, ist ein C-Kampfmittel. Als Einsatz- Hautkampfstoffe S-Lost, N-Loste, Lewisit
mittel im militärischen Bereich werden Raketen, Blutkampfstoffe Blausäure, Chlorcyan
Bomben und Granaten verwendet. Bei terroristi-
Lungenkampfstoffe Phosgen, Diphosgen,
schen Aktionen ist auch eine Ausbringung durch Chlorpikrin
Agrarflugzeuge, Gartenspritzen, Druckbehälter oder
Psychokampfstoffe Chinuklidinylbenzilat
Klimaanlagen denkbar. Zu den Vergiftungssympto-
men können durch die Ausbringungsart (z. B. Explo-
sion) mechanische oder/und thermische Verletzun-
gen hinzukommen (Kombinationsverletzung). Die Prinzipien der Therapie von Vergiftungen mit
Zu bedenken ist auch, dass Gemische verschie- hoch toxischen oder weniger toxischen Vertretern
dener C-Kampfstoffe oder von C-Kampfstoffen mit einzelner Gruppen unterscheiden sich nicht wesent-
Radionukliden bzw. B-Kampfstoffen eingesetzt lich. Zur Wahrung der Übersichtlichkeit werden im
werden könnten, um Diagnostik und Therapie zu Folgenden nur die als besonders wichtig erachteten
erschweren. Gifte besprochen.
C-Kampfstoffe werden nach Art und Ort der
Wirkung klassifiziert (. Tab. 41.1). Diese Einteilung
ist wissenschaftlich nicht exakt und kann irreführen 41.2 Indikatoren für den Einsatz
sein. Als Beispiel sei der sog. »Blutkampfstoff« Blau- chemischer Kampfstoffe
säure genannt. Angriffspunkt der Blausäure ist die
in den Mitochondrien lokalisierte Atmungskette. Der Einsatz von C-Waffen oder die Freisetzung von
Blutbestandteile werden hingegen nicht attackiert, hochtoxischen Chemikalien kann ohne Vorzeichen
sondern das Blut bewirkt eine systemische Vertei- oder Warnungen erfolgen. Daher ist es bedeutsam,
lung. Ein anderes Beispiel sind die »Hautkampfstof- typische Hinweise für den Einsatz von C-Kampf-
fe«. Sie führen nach Hautkontakt an der Aufnahme- stoffen oder hochtoxischen Chemikalien zu kennen
stelle zu den ersten sichtbaren Symptomen. Nach und abrufbar im Bewusstsein zu haben:
der Aufnahme durch die Haut in den Blutkreislauf 4 Massenanfall von Patienten mit ähnlichen
werden sie im gesamten Körper verteilt so dass Vergiftungssymptomen (z. B. unerklärliche,
alle anderen Gewebe betroffen sein können. Daher plötzliche schwere Erkrankungen, Erbrechen,
ist neben den typischen Hauterscheinungen mit Desorientiertheit, Verhaltensauffälligkeiten,
schweren systemischen Symptomen zu rechnen. Krämpfe, Bewusstlosigkeit)
Chemische Kampfstoffe weisen eine sehr hohe 4 Gehäuftes Auftreten typischer Symptomkom-
Toxizität auf. Weniger giftige Vertreter der jeweiligen plexe, z. B.:
Gruppen finden oft zivile Verwendung. Beispiele sind 5 Augenrötung, Tränenfluss, leichte Seh-
4 Insektizide (phosphororganische Verbin- störung, Übelkeit, Haut- oder Atemwegs-
dungen wie Nervenkampfstoffe), irritationen
4 Tumortherapeutika (alkylierende N-Loste 5 Hautrötungen (Erythemen), Blasen und
analog den Hautkampfstoffen), Quaddeln (Urtikaria)
4 Cyanidlösungen in der Edelmetallgewinnung 4 Gehäufte Erkrankung, die mit dem Aufenthalt
(Blausäure wie Blutkampfstoff) in bestimmten Gebieten verbunden sind (alle
4 Syntheseausgangsstoffe in der chemischen Erkrankungen auf freiem Feld oder umschlos-
Industrie (Phosgen wie Lungenkampfstoff) senem Raum)
41.3 · Physikalisch-chemische Eigenschaften
571 41
41.6 Gefahr der Therapiefehler 10. Worek F, Eyer P, Aurbek N, Szinicz L, Thiermann H (2007)
41 Recent advances in evaluation of oxime efficacy in nerve
Atropingabe ohne Vergiftung mit AChE-Hemmern agent poisoning by in vitro analysis. Toxicol Appl
Pharmacol 219(2-3):226–34
kann behandlungsbedürftige Symptome verursa- 11. Willems JL (1989) Clinical management of mustard gas
chen (Schluckbeschwerden, Hitzestau, Tachykardie, casualties. Ann Med Milit Belg 3: 1–61
Halluzinationen). Kinder sind besonders gefährdet. 12. http://www.bbk.bund.de/SharedDocs/Downloads/BBK/
Physostigmin kann dem entgegenwirken. Wegen DE/Publikationen/Broschueren_Flyer/ATF.html
kurzer Halbwertszeit sind u. U. wiederholte Gaben
Weiterführende Literatur
erforderlich (7 Übersicht).
Thiermann H, Worek F, Kehe K. Limitations and challenges
Mehr als 3 mg/kg KG 4-Dimethylaminophenol in treatment of acute chemical warfare agent poisoning.
kann zu überschießender Methämoglobinbildung Chem Biol Interact. 2013 Dec 5;206(3):435–43.
führen. Eine beschleunigte chemische Reduktion doi: 10.1016/j.cbi.2013.09.015. Epub 2013 Sep 30. Review.
des dreiwertigen Eisens im Hämoglobin lässt sich Worek F, Eyer P, Thiermann H. Determination of acetylcholin-
esterase activity by the Ellman assay: a versatile tool for
mit Toluidinblau erreichen (7 Übersicht).
in vitro research on medical countermeasures against
organophosphate poisoning. Drug Test Anal. 2012
Therapiefehler bei der Gabe von Antidoten Mar-Apr;4(3-4):282-91. doi: 10.1002/dta.337. Epub 2011
Oct 13. Review.
5 Atropinvergiftung: Physostigmin, 2 mg i.v.
Thiermann H, Zöller L, Szinicz L (2013) Chemische und biolo-
ggf. wiederholen gische Kampfstoffe. In Marquardt H, Schäfer SG, Barth H
5 Methämoglobinbildnervergiftung (4-DMAP): (eds)Toxikologie. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
Toluidinblau 4 %-ig 2–4 mg/kg KG i.v. Stuttgart, pp. 915–954.
Literatur
. Abb. 42.1 Munitionsfund an einer Talsperre im Sauerland im Jahr 2012, u. a. 700 g militärischer Sprengstoff, mehr als 50
Sprengkapseln, 2 Brandhandgranaten und etliche Meter Sprengschnur. Das Ganze wurde bis zur Abholung in einem Büro
eines Ordnungsamtes im Schreibtisch aufbewahrt. (Foto: T. Enke)
42.2 · Aufbau eines IED
583 42
42.2.1 Verpackung schaltet, ist es möglich über den Achsabstand ein
Zielfahrzeug genau zu definieren. Somit können
Die Verpackung hat verschiedene Aufgaben. Sie (z. B. zivile) Fahrzeuge ohne Auslösung des IED
dient als Transportmittel (Autobombe), Tarnung über den Sensor hinweg rollen, während militäri-
(Geschenkpaket) und Lagerort (Einbau in Fahr- sche Fahrzeuge mit passendem Achsabstand bei
bahndecke einer Straße). Hier ist der Fantasie keine gleicher Fahrzeugmasse das IED auslösen. Auch
Grenze gesetzt, auch nicht in der Größe des IED. Personen können als Sensor wirken und bei Sicht-
Daher ist es auch nicht möglich, einen Hinweis auf kontakt zum Ziel das IED per (Mobil-)Funk aus-
spezielle Taschen mit rotem Griff oder gelbe Kanis- lösen. Die Initiierung per Laser-Beamer ist zur Zeit
ter zu geben. Vielfach nimmt der Attentäter alltäg- noch nicht verbreitet, aber das Schließen eines elek-
liche und allgebräuchliche Verpackungsmöglich- trischen Schalters durch einen Schuss aus einem
keiten, um beim Verbringen des IED nicht aufzufal- Scharfschützengewehr war eine Spezialität der IRA.
len. Man denke hier an den »gelben Toyota Corolla« Andere Möglichkeiten sind zum Beispiel eine hitze-,
in Kabul, das allgebräuchliche Taxi. Ein geparktes geräusch- oder lichtempfindliche Auslösung.
Taxi wird nur in ungewöhnlichen Situationen auf-
fallen.
42.2.4 Zündvorrichtung
42.2.5 Hauptladung
42.2.3 Sensor
Die Hauptladung kann wenige Gramm (Briefbom-
Der einfachste Sensor ist somit ein berührungs- be) bis einige Tonnen (LKW) betragen. Je nach Be-
empfindlicher Sprengstoff, allerdings mit dem schaffungsmöglichkeiten werden zivile, militäri-
Nachteil eines risikoreichen Transportes. Auch die sche oder selbsthergestellte Sprengstoffe genutzt.
Auswahl eines definierten Zieles ist schwierig. Ein Während oder nach einem Krieg ist es einfach,
einfaches, irgendwo abgelegtes IED kann ggf. von militärische Sprengstoffe zu beschaffen, die in der
einem streunenden Hund ausgelöst werden und Regel leistungsfähiger und sicherer sind. Minen,
wird somit die Zielperson nicht erreichen. Ein guter Blindgänger, verlassene Munitionslager bieten ge-
Sensor wird das Risiko eines fehlschlagenden An- nügend Chancen, Sprengstoffe zu gewinnen oder
schlages stark minimieren. Bei Straßenbomben zur Erhöhung der Sprengwirkung Artilleriege-
haben sich Druckplatten (»pressure plates«) be- schosse als Hauptladung zu nutzen. Im befriedeten
währt. Eine Druckplatte wirkt wie ein elektrischer Europa muss ein Attentäter Sprengstoffe ggf. über
Schalter in einem Stromkreis. Durch Federn kann Diebstähle beschaffen. In diesem Falle ist ein Ein-
man die Masse des zu treffenden Zielfahrzeuges bruch in das Sprengstofflager eines Steinbruches
einstellen. Wenn man zwei Druckplatten in Reihe oder auf einer Baustelle mit einem geringeren Risi-
584 Kapitel 42 · Aufbau und Einsatz von Sprengfallen
ko behaftet als ein Einbruch in eine militärische 4 Wirtschaftlich und politisch wichtige Objekte
Einrichtung. Falls er das Risiko scheut, bleibt nur und Einrichtungen wie zum Beispiel Um-
die eigene Herstellung von Sprengstoffen, den so spannwerke, Polizeiwachen, Zeitungsverlage,
42 genannten »homemade explosives« (HME). An- militärische Einrichtungen
leitungen hierfür gibt es im Internet reichlich. Viele
davon sind lebensgefährlich und führen oft zu einer Natürlich darf auch der psychische Zustand des
vorzeitigen Auslösung des Sprengstoffes, teilweise Attentäters sowie sein Motiv nicht vernachlässigt
schon bei der Mischung der Ausgangsstoffe. werden. In einigen ländlichen Gebieten ist es üblich,
Die Hauptladung kann in einer entsprechenden das im Wald liegende geschlagene Holz mit in Boh-
Verpackung (Abflussrohr, Fahrzeug) untergebracht rungen eingelassenen Schrotpatronen zu sichern.
sein oder auch als lineare Hohlladung in einer Leit- Ein klassisches IED, das, wenn es in einem Wohn-
planke am Straßenrand. Für eine Verstärkung der zimmerkamin zur Wirkung kommt, schwere Schä-
Wirkung können je nach Anschlagsziel und der den anrichten kann. Mindestens die Lokalpresse
Möglichkeiten des Attentäters Splitter (Nägel, wird darüber berichten und das Ziel des Attentäters
Schrott), brennbare Pulver, Flüssigkeiten oder Gase ist erreicht.
(Propangasflaschen) sowie jegliche Art von giftigen > Eine der wichtigsten Fragen ist die Suche
Industrieprodukten (chemisch, biologisch und ra- nach einem Motiv und den Möglichkeiten
diologisch/nuklear) in die Hauptladung integriert eines Attentäters. Die Antwort ist ein
werden. Eine besondere Bauausführung des IED ist wichtiger Bestandteil für den Eigenschutz
der »explosively formed penetrator« (EFP), eine vor einem Anschlag.
Sonderform der Hohlladung, bei der aus einem
Kochtopfboden sprengtechnisch ein Projektil er-
zeugt wird, das bis zu einer Entfernung von 30 m
formstabil fliegt und Panzerungen durchschlägt. 42.4 Verbringung eines IED
Ein EFP kann mit Gips kaschiert als Bauschutt prak-
tisch unsichtbar irgendwo neben der Straße einge- Jeder Anschlag hat eine Vorgeschichte, die sich ge-
baut werden. mäß dem französischen Wissenschaftler Dr. Eric
Pouliquen in sechs Abschnitte unterteilen lässt:
4 Unterstützung durch Geld-, Personal- und
42.3 Mögliche Ziele eines Anschlags Sachleistungen
4 Planung des Anschlages
Im Prinzip kann jeder Opfer eines Anschlages wer- 4 Transport und Zwischenlagerung von Material
den, abhängig von den Motiven und den Möglichkei- 4 Bauausführung
ten eines Attentäters. Es kann den Fahrgast in einem 4 Verbringung an den Anschlagsort
Eisenbahnzug in Europa treffen, weil ein Attentäter 4 Schulung und Einsatz des Personals
eine Eisenbahngesellschaft erpresst. Es kann den Op-
positionspolitiker in einem Entwicklungsland tref- Die Beschaffung der einzelnen Baumaterialien ist
fen, der die Ziele einer korrupten Regierung vereiteln vom verfügbaren Geldrahmen und dem Knowhow
will. Es gibt aber eine Gemeinsamkeit. Ein Attentäter eines Bombenbauers abhängig, für ein IED kann fast
wird versuchen, einen möglichst hohen materiellen alles verwendet werden. Kaffeepulver erreicht nach
oder gesellschaftlichen Schaden anzurichten, um vor entsprechender chemischer Behandlung die Spreng-
allem Angst zu verbreiten. Nur so kann er sicher sein, kraft militärischer Sprengstoffe. Allerdings sind für
genügend Aufmerksamkeit für seine Ziele zu erlan- die erfolgreiche Ausführung eines Anschlags immer
gen. Somit sind besonders gefährdet: mehr fundierte technische Kenntnisse nötig, vor al-
4 Große Menschenmengen, wie z. B. in Konvois, lem, wenn es darum geht, durch Elektronik und Pan-
Marktplätzen oder Verkehrsmitteln zu finden, zerung geschützte Fahrzeuge zu zerstören. Mit Hilfe
4 Herausragende Persönlichkeiten (Journalisten, von elektronischen Störsendern (Jammern) lassen
Politiker, allgemein eben VIPs) sich die meisten Zündeinrichtungen von IED mit
42.6 · Sonderformen des IED
585 42
einer Auslösung per Funkkommando (»radio-con- 4 gute Möglichkeiten für eine Übermittlung des
trolled« IED) stören. Die Nutzung von Richtfunk- Auslöseimpulses (z.B. per Kabel) bieten.
strecken, das Senden digitaler Datenpakete, sowie
vom IED abgesetzte Empfangseinrichtungen lassen Überhöhte Berghänge mit guter Sicht auf Vulnera-
einen Schutz durch Jammer immer weniger zu. Auf- ble Points eignen sich genauso wie Hochhaussied-
grund der gut organisierten terroristischen Netz- lungen mit Blick auf eine nahegelegene Autobahn.
werke lässt sich ein Technologietransfer von terroris- Durch den Einsatz von elektronischen Gegenmaß-
tischen Brennpunkten (Irak) an andere, neue An- nahmen sind Mobiltelefone als Zündimpulsgeber
schlagsschwerpunkte (Afghanistan) verfolgen. Dies weitgehend wirkungslos, so dass es sich anbietet,
funktioniert sogar über ideologische Grenzen und mehradrige Kabel (ggf. mit einer Stromabfallschal-
rivalisierende Gruppen hinweg. Für den Transport tung gesichert) im Zuge von Gräben, Hecken und
und die Zwischenlagerung der Baumaterialien gel- anderen linearen Geländeformationen zu verlegen.
ten ähnliche Bedingungen. Die Verbringung und Sofern sich das Opfer mit einem Fahrzeug be-
der Einsatz der Attentäter am Anschlagsort sind die wegt, darf diese Bewegung nicht zu schnell sein. Ein
kritischen Bereiche. Der menschliche Faktor ist nur in der Leitplanke eingebautes IED (Anschlag auf
bedingt einschätzbar, da sich der Auslöser eines IED Herrhausen 1989) kann elektronisch über einen
(Triggerman), ob Selbstmordattentäter oder Serien- Schleifenkontakt (Ampelschaltung für »grüne Wel-
täter, in einer Stresssituation befindet. Hier arbeitet le«) in der Fahrbahn ausgelöst werden. Allerdings
eine Terrororganisation in der Regel mit einem darf dieser Kontakt erst direkt vor dem Zielfahrzeug
Backup, so dass z. B. der Selbstmordattentäter bei geschärft werden. Somit ist es für den Attentäter
einem »psychischen Versagen« von außen fernge- wichtig, Bereiche mit reduzierter Geschwindigkeit
zündet wird und somit nur als Verpackung und zu nutzen, bzw. diese durch künstlich ausgebrachte
Transportmittel dient. Hindernisse (Fahrzeug am Straßenrand) zu schaf-
Die einzelnen Abschnitte überlappen sich, kön- fen. Weiterhin ist ein Zielpunkt nötig, da das IED in
nen im zeitlichen Rahmen bereits mehr als ein Jahr der Regel, weil eingegraben oder sonstig versteckt,
vor dem Anschlag beginnen und sich über mehrere nicht sichtbar ist. Diese sogenannten Marker kön-
Monate erstrecken. Für die Abwehr eines vermute- nen gekennzeichnete Laternenmasten, einzeln ste-
ten Anschlages ergeben sich vielfältige Möglichkei- hende Bäume, größere Steinhaufen oder andere
ten. Geldmittel und die Beschaffung der Baumate- weithin sichtbare Zeichen sein. Sie haben meist
rialien sind erste Ansatzpunkte. Wenn es gelingt, eines gemeinsam: sie fallen auf – allerdings dem
zum Beispiel die Beschaffung von Zeitzündern Opfer meist zu spät.
(Wecker) zurückzuverfolgen, kann ggf. im Kauf- Neben dem Triggerman, dem Auslöser des IED,
haus über Videoaufnahmen der Käufer identifiziert kann am Anschlagsort ein Spotter zugegen sein,
werden. Durch Veränderung der Inhaltsstoffe von der den Triggerman über das Herannahen des
frei verkäuflichen Chemikalien kann die Nutzung Opfers informiert und ggf. den Anschlag mit einer
als Ausgangsprodukt von Sprengstoffen verhindert Videokamera filmt. Der Film dient außer zu Propa-
werden. Regelmäßige Absuche und Überwachung gandazwecken zur Auswertung des Anschlags, um
von gefährdeten Objekten und anschlagsgünstigen ggf. die eigene Vorgehensweise für zukünftige An-
Punkten (»vulnerable points«) kann abschrecken schläge zu verbessern, aber auch, um das Vorgehen
und das Risiko eines Anschlages verringern. der Eingreif- und Rettungskräfte zu dokumentieren
und deren Taktik bei zukünftigen Anschlägen zu
berücksichtigen.
42.5 Durchführung eines Anschlags
Gegenmaßnahmen. Durch die immer weiter ver- ters in der Innenstadt von Hamburg wäre technisch
besserten Möglichkeiten, ein IED aufzuspüren und einfach durchführbar und würde bei günstigen Be-
zu entschärfen, sind in den letzten Jahren vermehrt dingungen (Wetter, Ort, Personenansammlungen)
42 Entschärferfallen entwickelt worden, die in erster zu einer großen Zahl an Opfern führen.
Linie darauf abzielen, den Entschärfer zu treffen. Im Gegensatz dazu ist die Verwendung von
Deswegen wird davor gewarnt, vermeintlich ein- Flüssiggas als IED sehr problematisch, da ein zünd-
fach aufgebaute IED selbst zu entschärfen. Ausbau- fähiges Gemisch nur schwer herzustellen ist. Die
sperren, zum Beispiel durch versteckte zweite bisherigen militärischen Erfolge mit Flüssiggas-
Zündeinrichtungen funktionieren auch noch dann, bomben (»mother of all bombs«) sind zweifelhaft
wenn bereits die erste Zündeinrichtung erfolgreich und auf einzelne schwer nachzuprüfende Ereignisse
entschärft wurde. beschränkt.
> Eigenschutz ist vor und nach einem
Anschlag besonders wichtig und über
jegliche Rettungsaktion zu stellen.
42.7 Weitere Gefahren nach einem
Anschlag bzw. Unfall mit
Wie bereits erwähnt ist eines der Ziele bei einem Munition oder Explosivstoffen
Anschlag die Maximierung der Opferzahlen. Durch
die Platzierung eines weiteren oder mehrerer IED Selbst nach einem Anschlag oder Unfall sind die
(»second IED«) auf dem wahrscheinlichsten An- Gefahren für die Rettungskräfte erheblich. Zum
marschweg zum Anschlagsort oder an den für Ret- einen durch die bereits beschriebenen Come-On-
tungskräfte wichtigen Haltemöglichkeiten kann IEDs, aber darüber hinaus durch eine Vielzahl von
dieses Ziel leicht erreicht werden, da psychologisch anderen Gefahren. An erster Stelle sind Sprengstoff-
bedingt, der Wille zum Helfen das Gespür für wei- reste zu nennen, die sich bilden, wenn der Spreng-
tere Gefahren herabsetzt. Direkt am Anschlagsort stoff in dem IED nicht ausreichend verdichtet war
eingesetzte so genannte Come-On-IED sind immer (Risse, Lunker). Dies führt zwar zu einer geringeren
sehr wirkungsvoll, da sie im Chaos nach einem An- Wirkung, gefährdet aber die Rettungskräfte im
schlag vor den Augen der zumeist auch schon vor- Nachhinein durch weitere spontane Explosionen.
handenen Medien zur Wirkung kommen. Somit Umweltgifte werden nicht nur durch den Explosiv-
werden die bereits geschilderten Ziele eines An- stoff gebildet, gravierender ist die Bildung von gifti-
schlages noch einmal in ihren Auswirkungen maxi- gen und teilweise explosiven Gasen durch zerstörte
miert (7 Kap. 11). Gasleitungen in urbanen Bereichen, abgerissene
Eine weitere Form des Eigenschutzes ist bei Stromleitungen und eventuell auslaufende Kühl-
Konvoi-Fahrten ein Sicherheitsabstand zwischen mittel (Halogenkohlenwasserstoffe) und deren Ver-
den einzelnen Fahrzeugen, so dass die Anzahl der brennungsprodukte. Wichtig sind daher eine ge-
Opfer gering gehalten werden kann. Dagegen wur- naue Kenntnis der Umgebung sowie eine mögliche
de das Daisy-Chain-IED entwickelt, eine Spreng- Heranziehung von Fachpersonal für eine Abschal-
falle, die aus mehreren IED besteht, die im Abstand tung aller Versorgungs- und Hilfsleitungen.
von 15m bis 20m über eine Länge von bis zu 200m
eingebaut und gleichzeitig gezündet werden.
Zu erwarten sind zukünftig auch »schmutzige« 42.8 Bevor man zu einem Einsatz
IED, die Zusätze von radioaktiven oder chemischen fährt!
Produkten enthalten. Hier ist allerdings anzumer-
ken, dass das Risiko für den Bombenbauer bei dem Während eines Anschlages ist man durch die
Bau eines solchen IED beträchtlich ist. Daher gab es Druck- und die Brandwirkung des Sprengstoffes
in der Vergangenheit nur einzelne Anschläge, bei massiv gefährdet. Dessen Wirkung nimmt aller-
denen Kampfstoff eingesetzt wurde, z. B. Sarin dings mit der Entfernung vom IED quadratisch sehr
durch die japanische Aum-Sekte in den Jahren 1995 schnell ab. Somit ist bei einem Abstand von 5 m zum
und 1996. Die Sprengung eines Chlorgastranspor- IED die Wirkung schon beträchtlich herabgesetzt
42.9 · Eigenschutz am Vorfallsort
587 42
und bei einem Abstand von 25 m hat man gute schlagsort anhielten. Vor jedem Halt stellt sich da-
Überlebenschancen, sofern man sich in einem ge- her die Frage, ob ein Halt an dieser Stelle unbedingt
schützten Fahrzeug befindet. nötig ist und ob es nicht bessere Möglichkeiten gibt.
Aber auch ein geschütztes Fahrzeug und die Be- Eine schlechte Wahl ist immer der Stopp auf einem
satzung müssen auf den Einsatz vorbereitet werden. Kanaldeckel, neben einem Haufen Unrat oder ei-
Gegenstände, die im Fahrzeug nicht befestigt, oder nem Schrottfahrzeug. Muss man anhalten, ist die
in Staufächern untergebracht sind, werden bei nähere Umgebung im Umkreis von ca. 5 m aus dem
einem Anschlag zu tödlichen Geschossen. Gefahr- Fahrzeug systematisch und vor allem sorgfältig ab-
güter (Druckgasflaschen, Munition) sind geschützt zusuchen. Fahrer, Beifahrer und sonstige Personen
aufzubewahren, so dass bei einer Explosion von im Fahrzeug teilen dazu Beobachtungsbereiche un-
ihnen keine zusätzliche Gefahr ausgeht. Personen ter sich auf und suchen diese überlappend ab. Erst
haben sich grundsätzlich durch Anschnallen zu wenn diese Bereiche vermeintlich frei von verdäch-
sichern, um bei einem Auffahren auf ein Kampf- tigen Gegenständen sind, darf das Fahrzeug verlas-
mittel (Mine oder IED) nicht selbst im Fahrzeug sen (Motor wird nicht abgestellt) und die Gegend
umhergeschleudert zu werden. Hier sind sonst vor um das Fahrzeug im Umkreis von 25 m abgesucht
allem Genick- und Schulterbrüche zu befürchten. werden.
Auch die Bekleidung spielt eine wesentliche Rolle. Falls man einen verdächtigen Gegenstand
Sie muss flammabweisend sein und den Körper vermutet, ist es wichtig, unauffällig alle Beteiligten
möglichst vollständig bedecken. Handschuhe, her- zu warnen (Codewort) und Abstand zu gewinnen.
abgerollte Ärmel und eine Schutzbrille helfen, Auf keinen Fall sollte der Gegenstand näher unter-
Brandverletzungen zu mindern und Verletzungen sucht werden. Mehrfach wurden diese Gegenstände
durch umherfliegende Glassplitter zu vermeiden. offen hingelegt, um Einsatzkräfte über einen ent-
Schutzwesten halten Splitter ab und schützen be- sprechend mit Kampfmitteln präparierten Weg zu
dingt beim Aufschlagen von größeren Gegenstän- dem Objekt zu locken.
den auf den Oberkörper. Fenster und Luken sind Geeignete Plätze zur Erstversorgung der Ver-
soweit möglich geschlossen zu halten und die Türen letzten müssen vor einer Nutzung ebenfalls sorgfäl-
zu sichern. tig abgesucht und abgesichert werden. Es muss je-
derzeit damit gerechnet werden, dass diese Plätze
Tipp
durch einen Gegner bewusst in das Anschlags-
szenario einbezogen wurden und das hier ggf. wei-
Zusätzlich ist es wichtig, vor einer Fahrt zu
tere IED platziert sind.
einem Einsatzort möglichst viele Informationen
Es ist verständlich, dass die psychologische Be-
über die Fahrstrecke zu erhalten: Engstellen,
lastung für die Rettungskräfte enorm ist. Hilfe-
bisherige Anschläge auf der Strecke, Art der
suchende Personen, ggf. Brände, Rauch und weitere
Anschläge, Umfahrungsmöglichkeiten (keine
Beeinträchtigungen werden diesen Eigenschutz be-
Verhaltensmuster bilden), bisherige Ziele der
hindern und ggf. diesen für Außenstehende als
Anschläge (Personen oder auch Einrichtungen)
nutzlos und überflüssig erscheinen lassen. Dem ist
und Art des IED.
aber entgegenzuhalten, dass eine wirkungslose, weil
durch Sprengwirkung eines weiteren IED außer
Kraft gesetzte Rettungskette niemandem nutzt.
Konventionelle Bedrohung
und Schutzausrüstung
P. Früh
Literatur – 601
Beim Auftreffen der Druckwelle auf einen Ge- delt, die im Bereich der äußeren Extremitäten deto-
genstand findet eine Impulsübertragung mit dem niert, ist von schwersten bis tödlichen Verletzungen
anschließenden Durchlaufen einer Schockwelle auszugehen.
durch die gesamte Struktur statt. Je nach Aus- Eine Besonderheit des menschlichen Körpers ist
prägung der Druckwelle und des beaufschlagten die besondere Empfindlichkeit gegenüber geringen
Gegenstands treten verschiedene Effekte auf. Dies Druckdifferenzen zum umgebenden Luftdruck.
43 können, ansatzweise nach dem Schweregrad der Dies ist mit Ausnahme des besonders empfindli-
Auswirkungen geordnet, sein: chen Gehörs auf die mit Gasen gefüllten Organe,
4 Zerstörung des Gegenstands insbesondere die Lunge, zurückzuführen. Die reine
4 Teilzerstörung mit dem Abriss von Teilen Angabe von Druckspitzenwerten genügt jedoch
(innen oder außen) nicht zur Beschreibung bzw. Abschätzung einer
4 Elastische und plastische Verformung möglichen Überdruckwirkung auf den menschli-
4 Beschleunigung des gesamten Gegenstands chen Körper. Die Dauer und der zeitliche Verlauf
von Druckschwankungen spielen eine wesentliche
Das gesamte Objekt bzw. Teile können als Sekun- Rolle. Um diese Größen mit einfließen zu lassen,
därsplitter auftreten. Im Bereich der elastischen wurde das Instrument des »chest wall velocity pre-
Verformung sowie des Abrisses von Teilen im Inne- dictors« (CWVP) geschaffen, um vergleichbare
ren können auch ohne sichtbare äußere Schäden Aussagen über die Gefährlichkeit einer Druckwelle
Zerstörungen im Inneren vorkommen. Am Beispiel treffen zu können. Der Druckverlauf an einem
eines mit einer IED angesprengten Fahrzeugs Ort über die Zeit wird hierzu mit Hilfe einer Be-
würden sich die oben benannten Effekte wie folgt rechnung bewertet und mit der Einheit (m/s) als
auswirken: Vergleichswert für eine mögliche Schädigung aus-
4 Weitestgehender Aufriss der Fahrzeugstruktur gegeben.
mit Eintritt der Druckwelle ins Fahrzeug In den Vorgaben zur Bewertung der Schutz-
4 Abriss von Bauteilen und Baugruppen wirkung von Fahrzeugen gegen Minenansprengun-
5 Außen: Räder, Waffenstationen, Funkaus- gen der NATO wurde ein Grenzwert von 3,6 m/s
rüstung etc. mit den Folgen »mobility, festgelegt, bei dessen Unterschreiten von keinen
firepower oder communication kill« Verletzungen auszugehen ist. In diesem Bereich gel-
5 Innen: Handwaffen, Rüstsätze, persönliche ten übliche Gehörschutzstopfen und Headsets, wie
Ausrüstung als Sekundärsplitter mit mög- sie bei Funkausstattungen Verwendung finden, als
licher Gefährdung der Insassen ausreichend, um eine Schädigung des Gehörs zu
4 Verformung des Fahrzeugbodens oder der verhindern [9]. Für Werte über 12,8 m/s wird eine
Seitenwand in den Innenraum als Ursache Sterblichkeitsrate von mehr als 50 % angeben [9].
kritischer Belastungen auf Insassen Eine Sterblichkeitsrate von 50 % wird bei den typi-
4 Globalbewegung des Fahrzeugs mit einem schen Druckverläufen nach Sprengstoffdetonatio-
nachfolgenden Szenario ähnlich eines Ver- nen einer Druckspitze von ~9 bar bis ~12,5 bar zu-
kehrsunfalls geordnet [10].
Neben der direkten Wirkung des Drucks auf
Hierbei ist zu beachten, dass bereits niedrige Ver- den menschlichen Organismus besteht auch bei
formungsgeschwindigkeiten von wenigen m/s oder splitterfreien Sprengkörpern immer eine Gefähr-
entsprechende Sekundärsplittergeschwindigkeiten dung durch Sekundärsplitter. Daneben kann es in
ausreichen können, um Verletzungen bei Insassen Abhängigkeit vom verwendeten Sprengstoff, dem
hervorzurufen. Abstand zur Detonation und des umgebenden Ma-
Wenn eine solche Druckwelle auf einen Men- terials zu einer sehr unterschiedlich ausgeprägten
schen trifft, treten bei entsprechend geringem Ab- Brandwirkung kommen, was ggf. zu Verbrennun-
stand Verletzungen auf, die den oben beschriebenen gen führen kann. Wird ein Mensch durch die
Schäden an anderen Objekten gleichen. Sofern es Druckwelle zu Boden oder gegen ein Hindernis ge-
sich nicht um eine kleinere Sprengstoffmenge han- worfen, kann es ebenfalls zu Verletzungen kommen.
43.2 · Kinetische Energie – Handwaffengeschosse
593 43
Die Auswirkungen einer Sprengstoffdetonation, dung. Bei der Detonation einer typischen Artillerie-
insbesondere auf den menschlichen Organismus, sprenggranate entstehen zum großen Teil kleine
lassen sich nur statistisch vorhersagen. und leichte Splitter, um eine hohe Trefferwahr-
scheinlichkeit gegen in der Fläche verteilte Weich-
ziele zu erreichen. Schwere Splitter sind hierbei
43.2.2 Splitterladungen nicht notwendig, da die primären Ziele nicht oder
kaum geschützt sind. Bei vorgeformten Splittern
Aufgrund der raschen Abnahme der Wirksamkeit entfällt der Vorgang der Splitterbildung. Es wird le-
reiner Sprengladungen mit dem Abstand vom diglich ein gegebenenfalls vorhandenes Gehäuse
Detonationsort wurden Wege gesucht, eine Wir- zerlegt, um die Splitter frei zu setzen.
kung auf größere Entfernung zu erzielen. Eine Mög- Die Fragmente werden durch den detonieren-
lichkeit, dies zu erreichen, ist die Verwendung von den Sprengstoff beschleunigt. Sie erreichen Ge-
Splittern. Die Splitter kommen dabei als natürliche schwindigkeiten von wenigen hundert bis weit über
oder vorfragmentierte Bestandteile einer sich zerle- tausend Metern pro Sekunde. Die Beschleunigung
genden Sprengstoffumhüllung oder als vorgeformte der Splitter schwächt die Druckwelle der Detona-
Splitter vor. Der typische Werkstoff ist Stahl. Typi- tion ab.
sche Fälle von natürlichen Splittern sind Artillerie- Die Abgangsrichtung und damit die räumliche
sprenggranaten, bei denen die Geschosshülle in Splitterverteilung ist durch die konstruktive Ausle-
Splitter zerlegt wird. Vorfragmentierte Umhüllun- gung der Ladung bestimmt. Bei der Schützenab-
gen finden sich vielfach bei Handgranaten, während wehrverlegemine DM 31 sind die Splitter auf der
vorgeformte Splitter, die meist an der Oberfläche Mantelfläche der zylindrischen Ladung angeordnet,
der Sprengladung angeordnet sind, bei Schützenab- um bei einer Auslösung die gesamte Umgebung mit
wehrverlegeminen (Beispiel: deutsche Schützenab- Splittern zu belegen. Bei Richtminen, wie der sow-
wehrverlegemine DM 31) oder Splitterrichtminen jetischen MON-Serie, werden die Splitter in eine
(Beispiele: US-amerikanische Claymoreminen oder Richtung fokussiert, wodurch nur eine kleine Ziel-
Minen der sowjetischen MON-Serie) vorkommen. fläche abgedeckt wird, auf der jedoch zahlreiche
Letzteres findet sich meist auch bei Splitter-IED, de- Splittertreffer zu erwarten sind.
ren Herstellung durch Aufständische in zahlreichen Im Nahbereich um eine Splitterladung tritt eine
Videos im Internet gezeigt wird. zusammengefasste Wirkung der Splitter und der
Unabhängig von den Konstruktions- oder Druckwelle auf. Dies kann dazu führen, dass eine
Erscheinungsformen der Splitterladungen ist der Struktur, die den Splittern oder der Druckwelle
Mechanismus der Nutzung des Sprengstoffs im standzuhalten vermag, trotzdem versagt, da die
Wesentlichen identisch. Splitter die Struktur vorschädigen, was bei der Be-
Die Detonation des Sprengstoffs zerlegt dessen lastung durch die Druckwelle dann zum Versagen
Umhüllung, wodurch die natürlichen oder vorfrag- führt.
mentierten Splitter gebildet und beschleunigt wer- Im Fernbereich dominiert die Splitterwirkung.
den. Die Splitter haben auch bei vorfragmentierten Die Splitter folgen wie Geschosse außenballisti-
Hüllen oftmals eine sehr unterschiedliche Ausprä- schen Flugbahnen. Deren Verlauf ist jedoch schwer
gung hinsichtlich Gestalt und Masse. Je nach Ein- vorhersagbar, da Splitter, mit Ausnahme der vorge-
satzzweck der Munition oder des Kampfmittels ist formten, keine klar definierte geometrische Gestalt
man bestrebt, diese Splitterbildung auf das vorgese- und Masse aufweisen und nicht stabilisiert sind,
hene Zielspektrum abzustimmen. Die wesentlichen wodurch sich ihre Lage im Raum beständig ändert.
Forderungen sind eine ausreichende Splitteranzahl Wichtige außenballistische Einflussgrößen wie
zur Erzielung einer ausreichenden Splitterdichte Widerstandsbeiwert, Querschnittsflächenbelastung
und eine ausreichende Wirksamkeit des Einzelsplit- und angeströmte Fläche sind daher unbekannt.
ters, um beim Auftreffen auf das Ziel eine Schädi- Allgemein lässt sich jedoch festhalten, dass Splitter
gung herbeiführen zu können. Hierbei kommen mit zunehmender Flugzeit an Geschwindigkeit ver-
unterschiedliche Wirksamkeitskriterien zu Anwen- lieren. Je leichter, weniger kompakt und schneller
594 Kapitel 43 · Konventionelle Bedrohung und Schutzausrüstung
1.000 m/s ab. Der Stößel, der kein Strahlbestandteil 43.3 Schutz
mehr ist, ist noch einige 100 m/s schnell. Wegen der
großen Unterschiede wirken starke Zugkräfte im Der Schutz von Zielen möglicher Waffen- und
Material. Es wird stark in Längsrichtung gedehnt, Kampfmittelwirkung basiert auf verschiedensten
was nach einer gewissen Flugstrecke schließlich physikalischen Grundprinzipien. Im Gegensatz zu
zum Zerfall des Strahls in einzelne Partikel führt. den Wirkmitteln sind diese schwer in nur wenige
43 Da der Strahl einerseits eine gewisse Wegstrecke zu Kategorien zu fassen und für den Anwender in der
seiner Bildung benötigt (Stichwort: Abstandsrohr Praxis umzusetzen. Nachfolgende Abschnitte glie-
bei der Gefechtsmunition der Panzerfaust 3), ande- dern sich daher nach den in derzeitigen Einsätzen
rerseits auf seinem weiteren Flugweg zerfällt, ist die häufigen Schutzausrüstungen. Zum einen sind dies
günstige Einsatzentfernung einer Hohlladung auf solche für Personengruppen (Fahrzeuge und Feld-
ein enges Abstandsfenster begrenzt. Dies macht sie lager/Feldbefestigungen), zum anderen handelt es
im Gegensatz zur projektilbildenden Ladung zum sich um solche für Einzelpersonen (Schutzwesten,
Einsatz als IED ungeeignet. Die Hauptbedrohung in Helme und Schutzbrillen). Es werden die wesentli-
den derzeitigen Szenarien ergibt sich daher aus chen Schutzmöglichkeiten, deren Ausprägungen
ihrer Nutzung in der Munition von Panzerabwehr- und Einschränkungen dargestellt.
handwaffen.
Der Hohlladungsstrahl dringt in einem dünnen
Tunnel tief in Panzerstahl ein. Die Eindringtiefe 43.3.1 Fahrzeuge
oder Durchschlagsleistung wird im Wesentlichen
durch die Strahllänge und die Genauigkeit, mit der Einen wesentlichen Raum bei der Schutzdiskussion
sich die Strahlteile auf einer gemeinsamen Achse in den Einsätzen nehmen geschützte Fahrzeuge ein.
bewegen, bestimmt. Letzteres erfordert die präzise Die Bandbreite reicht von leichteren Radfahrzeugen
Fertigung einer Hohlladung. Dies macht sie als bis zu den schweren Gefechtsfahrzeugen der Pan-
selbst gefertigte IED im Vergleich zum EFP eben- zer- und Panzergrenadiertruppe. So unterschied-
falls ungeeignet. Weitere Einflussgrößen sind das lich die Einsatzzwecke dieser Fahrzeuge sind, so
Dichteverhältnis von Einlagenmaterial zu Panze- unterschiedlich zeigen sich auch die Schutzkon-
rungsmaterial sowie die Strahlgeschwindigkeit. zepte. Es erfolgt daher die Konzentration auf die
Klassische Werkstoffkennwerte wie Festigkeit oder Klasse der leichteren geschützten Fahrzeuge.
Oberflächenhärte spielen eine untergeordnete In der Vergangenheit waren die meisten Fahr-
Rolle. zeuge mit Ausnahme der Gefechtsfahrzeuge unge-
Bereits ältere Hohlladungskonstruktionen der schützt. Der Schutz der gepanzerten Fahrzeuge ori-
Munitionen der PG-7-Familie, die mit der Panzer- entierte sich stark an Bedrohungen wie direktem
abwehrhandwaffe RPG-7 verschossen werden, er- Beschuss, Panzerabwehrwaffen und Artillerie-
zielen in homogenem Panzerstahl Eindringtiefen beschuss. Die Bedrohung durch Minen aller Art
von mehreren 100 mm. Für viele geschützte Fahr- wurde kaum priorisiert. Inzwischen hat sich dies
zeuge stellt dies eine erhebliche Bedrohung dar. geändert. Dies führte u. a. zur Verabschiedung der
Wenn ein Hohlladungsstrahl eine Panzerung STANAG 4569, die NATO-weit einheitliche Be-
durchschlägt, dringen Strahlpartikel und Sekundär- drohungslevel definiert. Daraus resultieren Schutz-
splitter in den geschützten Raum ein. Die genaue klassen bezüglich des direkten Beschusses (inkl.
Wirkung im Ziel lässt sich nicht vorhersagen, da Artilleriesplitter) und der Ansprengung durch
diese stark davon abhängt, was von ihnen getroffen Minen [6]. Im nachgeordneten AEP-55 sind die
wird. Die gesamte Bandbreite von keinerlei Wir- Prüfverfahren für geschützte Fahrzeuge festgelegt.
kung mit Ausnahme des Durchschlags durch die Im Fokus dieser Vorschriften steht nicht der Schutz
Panzerung bis zum Totalausfall eines Fahrzeugs des Fahrzeugs im Sinne einer weiteren Durch-
oder einer Feldbefestigung einschließlich der Be- führung des Auftrags sondern der Schutz der In-
satzung ist möglich. sassen [7].
43.3 · Schutz
597 43
Derzeit umfasst die STANAG 4569 fünf Klassen der Klasse Auftreff- Detonations- Detonations-
Schutzwirkung von Fahrzeugen gegen den direkten winkel abstand höhe (m)
horizontal horizontal
Beschuss und das Auftreffen von Artilleriesplittern.
(°) (m)
Sie erstrecken sich vom Handwaffenbeschuss
(Klasse 1–3) bis zu schweren Maschinengewehren 1 0–360 100 Bis zu 30
(Klasse 4) und Maschinenkanonen (Klasse 5). Die
2 80
Bedrohungen durch direkt gerichtete Waffen sind
in . Tab. 43.2 dargestellt. 3 60
doch nicht unverwundbar. Das Unterschreiten von wegungen, die zu einem Anschlagen des Körpers an
Mindestabständen wurde hier bereits erwähnt. Da- Fahrzeugstrukturen führen können, zu verhindern.
rüber hinaus wird ein Mindestschutzabdeckungs- Dies ist auch mit Hinblick auf das nach der An-
grad gefordert. Dies kann bedeuten, dass Teile eines sprengung meist folgende Unfallgeschehen (Kippen
Fahrzeugs keinen vollständigen Schutz der Besat- oder Überschlagen des Fahrzeugs oder Aufprall
zung gegen eine entsprechende Bedrohung aufwei- auf Hindernisse neben oder auf der Fahrbahn) un-
43 sen. Für die weitere Durchführung des Auftrags mit erlässlich.
Hinblick auf Mobilität oder Einsatz der Bewaffnung An dritter Stelle gilt es, gefährliche Sekundär-
bietet ein Schutz gemäß STANAG 4569 keinerlei Ge- splitter im Fahrzeuginneren zu vermeiden. Dies
währleistung, da Fahrzeugkomponenten, Rüstsätze bedingt z. B. die ausreichende Befestigung aller Ein-
und Bewaffnung nicht zwingend zu schützen sind. bauten und Rüstsätze. Alle Gegenstände, die nicht
ausreichend fixiert sind, werden mit oftmals hoher
Geschwindigkeit durch den Innenraum geschleu-
43.3.3 Schutz gegen Sprengladungen dert. Sie können schwere Verletzungen verursachen.
Alle konstruktiven Maßnahmen eines Fahrzeugs
Beim Schutz gegen Sprengladungen wird zwischen schützen aus diesen Gründen nur dann ausreichend,
verschiedenen Einsatzszenarien unterschieden. Auf wenn sich die Insassen entsprechend verhalten.
der einen Seite stehen Sprengladungen, die im Un-
tergrund unter dem Fahrzeug detonieren. Die typi-
Verhaltensregeln für Insassen
schen Beispiele hierfür sind klassische Panzerab-
5 Fußablageflächen nutzen
wehrverlegeminen und ähnlich platzierte IED. Auf
5 Verriegelungssysteme wie »Minenriegel«
den Sonderfall der tief vergrabenen Ladungen, so
an den Türen schließen
genannte »culvert mines«, wird an dieser Stelle
5 Ausrüstung, Waffen und Munition an den
nicht eingegangen. Auf der anderen Seite stehen La-
vorgesehenen Orten mit den Verzurrmitteln
dungen, die in der Mehrzahl als IED seitlich neben
befestigen
einem Fahrzeug zur Umsetzung gebracht werden.
5 Rüstsätze nur in den mitgelieferten
Um den Schutz der Insassen zu gewährleisten,
Halterungen im Fahrzeug einbauen
muss ein Fahrzeug mehrere Aufgaben erfüllen. An
5 Nicht an die Fahrzeugstruktur wie die
erster Stelle muss der durch die Detonation verur-
B-Säule oder die Seitenwand anlehnen
sachte Überdruck aus dem Fahrzeuginneren fern
gehalten werden. Die Schutzhülle darf nicht aufge-
rissen werden. Die Schutzwirkung von Fahrzeugen ist in der
In Abhängigkeit von Einflussgrößen wie der STANAG 4569 bisher gegen Minenbedrohungen
Sprengstoffmasse und dem Ansprengabstand kön- definiert. Im Gegensatz zum ballistischen Schutz
nen große Verformungen der äußeren Schutzhülle gibt es nur vier Bedrohungs- und Schutzklassen,
auftreten. Die Verformung erfolgt dabei sehr wobei es sich bei der ersten Klasse um eine Bedro-
schnell. Dies spiegelt sich in den hohen Verfor- hung mit kleinen Splitterladungen (gebräuchlich ist
mungsgeschwindigkeiten wider. Die zweite Anfor- die Schützenabwehrverlegemine DM31), die unter
derung an den Schutz ist daher die Verhinderung dem Fahrzeug zünden, handelt. Bei den übrigen
des Einwirkens dieser Verformung auf die Insassen. drei Bedrohungen handelt es sich um Panzer-
Zum Schutz gegen Minendetonationen werden abwehrverlegeminen mit unterschiedlichen Spreng-
hierzu beispielsweise vom Dach oder der Seiten- stoffmassen. In den Klassen 2–4 steigert sich die
struktur abgehängte Sitze, doppelte Böden oder Sprengstoffmasse von 6 kg auf 10 kg. Die Mine ist
vom Boden abgekoppelte Fußauflagen verwendet. entweder unter einem Rad bzw. einer Kette oder
Bei Seitenansprengungen ist ein ausreichender Ab- unter dem Fahrzeug positioniert. Dies wird durch
stand der Insassen von der Seitenwand notwendig. den Zusatz »a« oder »b« angegeben [7].
In beiden Fällen werden Gurtsysteme eingesetzt, Die Ansprengorte unter dem Fahrzeug stellen
um die Insassen zu fixieren und unkontrollierte Be- eine wesentlich schwerwiegendere Bedrohung dar.
43.3 · Schutz
599 43
Für den Anwender ist daher wichtig zu erfahren, in 43.3.4 Schutz gegen Splitterladungen
welchem Umfang ein Fahrzeug getestet wurde. Die
beispielhafte Aussage »Geprüft nach STANAG Gepanzerte Fahrzeuge bieten grundsätzlich auch
Level 2« ist nicht ausreichend. einen Schutz gegen Splitterladungen mit ihrer kom-
Die Bedrohungen durch seitliche Ansprengun- binierten Wirkung aus Splittern und Druckwelle.
gen sind bisher nicht einheitlich definiert. Ähnlich wie bei den IED-Sprengladungen gibt es
Die Schutzwirkung der Fahrzeuge nach STA- bisher jedoch keine einheitliche Normierung der
NAG 4569 wird bezogen auf die Insassen im Wesent- Bedrohungen und Prüfvorschriften. Es ist daher
lichen an Grenzen der Belastbarkeit des mensch- schwierig, eine Aussage über die Schutzwirkung
lichen Körpers festgemacht. Im Test werden Dum- von Fahrzeugen zu treffen. Ein direkter Vergleich
mies wie in Autocrashtests verwendet. von Fahrzeugen ist damit ebenfalls nicht möglich.
Anhand von Grenzwerten für die folgenden Die erste Aufgabe des Schutzes ist das Aufhalten
Körperregionen wird der Schutz der Insassen be- der Splitter, wobei die Struktur bei einer ausreichend
wertet: nahen Ansprengung anschließend noch die Fähigkeit
4 Nacken/Halswirbelsäule (Kompressionskraft/ zum Schutz gegen die Druckwelle aufweisen muss.
Moment) Gelingt dies, so gelten für den Insassenschutz die glei-
4 Lenden-/Brustwirbelsäule (Berechnung eines chen Vorgaben und Vorgehensweisen wie für die Be-
Vergleichswertes aus der Beckenbeschleuni- lastung des Fahrzeugs durch eine reine Sprengladung.
gung) Dies gilt auch für das Verhalten der Besatzung.
4 Unterschenkel (Kompressionskraft im In den bisherigen Vorschriften zur Schutz-
Schienbein) wirkung von Fahrzeugen werden nur sehr kleine
4 Gasgefüllte Organe (CWVP) Ladungen bis zum Niveau der Schützenabwehrver-
legemine DM 31 berücksichtigt. Dies ist die Bedro-
Die Grenzwerte sind bei den Unterschenkeln und hung, gegen die Fahrzeuge der Schutzklasse 1 gemäß
der Lenden- bzw. Brustwirbelsäule so gewählt, dass STANAG 4569 Schutz bieten. Die weiteren Minen-
eine Verletzungswahrscheinlichkeit von 10 % für schutzklassen 2–4 umfassen ebenfalls diesen Schutz.
Verletzungen des Schweregrades AIS 2+ besteht. Im Falls es zu einem Versagen des Schutzes kommt,
Bereich der Halswirbelsäule sind bei Einhaltung sind die genauen Auswirkungen nicht vorhersagbar.
der Grenzwerte Verletzungen der Schweregrade Sie können zwischen den Extremen eines einzelnen
AIS 2/3+ unwahrscheinlich. Für die gasgefüllten Splitterdurchschlags mit Gefährdung derer, die sich
Organe sind bei einem CWVP unterhalb des Grenz- in der Splitterflugbahn befinden, bis zum vollstän-
werts keine Verletzungen zu erwarten. Die Grenz- digen Strukturversagen der Schutzhülle mit Eintritt
werte sind bei den Unterschenkeln auf eine Verlet- von Splitterwolke und Druckwelle ins Fahrzeug-
zungswahrscheinlichkeit von 10 % ausgelegt. Es ist innere liegen.
mit Verletzungen des Schweregrades AIS 2+ zu
rechnen [9].
Da sich die Ansprengbedingungen für Minen 43.3.5 Schutz gegen projektilbildende
am militärischen Umfeld orientieren und die Daten Ladungen und Hohlladungen
frei zugänglich sind, ist es im Gegensatz zum Be-
schuss für einen Angreifer einfach, durch Erhöhung Geschützte Fahrzeuge können auch Schutz gegen
der Sprengmasse in einer IED die Bedrohung für projektilbildende Ladungen und Hohlladungen aus-
die Insassen in einem Fahrzeug über das geprüfte gelegt werden. Wie bei vielen anderen Bedrohungen
Maß hinweg zu steigern. Die Fahrzeuge bieten mit Ausnahme des Beschusses und der konventionel-
in gewissen Grenzen auch hier einen Schutz. Die len Minenbedrohungen sind hier weder die Bedro-
Verletzungsrisiken und die Schwere der Verletzun- hung noch die Schutzniveaus vereinheitlicht. So las-
gen nehmen dann jedoch zu. Wie sich dies im Ein- sen sich nur einige grundsätzliche Aussagen treffen.
zelfall darstellt, ist von zahlreichen Parametern ab- Wegen der großen Wirksamkeit dieser Bedro-
hängig und lässt sich an dieser Stelle nicht darstellen. hungen in Bezug auf die Durchschlagsleistung sind
600 Kapitel 43 · Konventionelle Bedrohung und Schutzausrüstung
Serviceteil
Stichwortverzeichnis – 604
Stichwortverzeichnis
A Amoxicillin 284
Amphetamine 496
Atemwegsmanagement 39, 134, 136,
200, 203, 326
Abarbeitungsphase 223 Amputationsverletzungen 161, 277 ATLAS-Verbund 408
ABCDE-Schema 123 Analgesie 204, 213 ATLS-Maßnahmen 511
ABC-Gefahren 548 – Augenverletzung 296 Atropin 357, 515, 575, 576
Abdominal Aortic Junctional Tourniquet – prozedurale 217 Aufstiegsgeschwindigkeit 436
34 – Verbrennung 292 Auge
Abdominalverband 162 Analgetika 204, 537 – Kampfgasexposition 300
Abdominalverletzungen 162 – Augenverletzungen 297 – Laserlichtexposition 299
Absaugung, endotracheale 40 – beim Hund 357 Augennotfallbesteck 297
Absperrmaßnahmen 367 – niedrig-potente 218 Augenprellung 298
Absperrung Analytische Task Force 573 Augenuntersuchung 298
– äußere 367 Anämie 167 Augenverletzungen 94, 295
– innere 367 Anaphylaxie 194, 487 – notfallmäßige 295
Abwehrstadium 528 Anästhesie, dissoziative 217 – penetrierende 60, 189, 299
Acetazolamid 445 Angiocath-Nadel 43 Ausbildung 6, 87
Acetylcholin 575 animal lab 104 Ausbildungsbedarf 89
Acetylcholinesterase 575 Anisokorie 312 Ausbildungshöhe 89, 96
Acetylsalicylsäure 218, 445 Anschlag Ausbildungsinhalte 90
ACLS-Maßnahmen 533 – biologischer 560 Ausbildungskonzept 92
ACRM 457 – Durchführung 585 Ausbildungsverfahren 98, 104
Actiq 216 – Erstmaßnahmen 75 Ausrüstung 91
acute lung injury 272, 291 – Ziel 584 – medizinische 398
acute respiratory distress syndrome Anthrax 560 – spezielle 29
178 Antibiotikatherapie 192, 209, 332 Ausschuss 267
ADAC-Luftrettung 454 – beim Hund 357 Autobombe 583
ADMA 448 – Gifttierverletzungen 517 AVPU-Schema 123, 183
Adrenalin 166, 357, 515 – intravenöse 193 Azidose, metabolische 167
adult respiratory distress syndrome – kalkulierte 284
272, 291 – prophylaktische 284
Aeromedical Crew Ressource
Management 457
Anticholinergika 516
Antidotautoinjektoren 573
B
aeromedical evacuation 60, 452 Antikoagulanzien 537 Ballistik 254, 264, 393
afterdrop 530 Antivenintherapie 517, 518 Bandschlinge 66
AIRMEDEVAC 22, 58 APLS Thermal Guard 531 Barotrauma 272, 475, 477
Akklimatisation 438, 448, 488 APLS-Trage 45 – pulmonales 477
Akrinor 168 A-Probleme 50 – Therapie 481
Aktivschutzsysteme 600 ARDS 178, 272, 291 BATLS 124
akute Belastungsreaktion 338 ARK bag 71 Battlefield Advanced Trauma Life
ALARA-Prinzip 557 Arsenvergiftung 578 Support 124
Algorithmen 7 Arterenol 168 Bauchschuss 265
Alkalose, respiratorische 438, 445 Aspiration 483 Bauchverletzungen 265, 276
Alkylanzien 577 Atemgasvergiftungen 475 Beatmung 41, 93, 140, 203
Alpha-Medic 97 Ateminsuffizienz 511 Beckenfraktur 208
Alpha-Strahlung 548 Atemnot 574 – instabile 165
AmbuTwin 40 Atemnotsyndrom, akutes 562 Beckenschlinge 46, 165
Amiodaron 515 Atemschutzmaske 572 Beckenschussbruch 265
AMLS-Maßnahmen 511 Atemwege Beckenstabilisierung 46
Amnesie 312 – Freimachen 40 Beckenverband 46
Amok 413 – Verlegung 119, 136 Beckenverletzungen 165, 276
– Annäherung 422 Atemwegshilfsmittel – instabile 165
– materielle Vorbereitung 423 – pharyngeale 140 Bedrohung
Amoklauf 6 – supraglottische 136, 145, 203 – atomare 547
605 A–D
Stichwortverzeichnis
I K Konvektion 522
Kopfverletzungen 266, 296
Ibuprofen 330, 445 Kalorienbedarf 207 Körperkerntemperatur 488, 492, 497,
ICAO-Auftrag 454 Kälte 17, 521 522, 529
IED 74, 122, 591 Kältebrand 537 Körpertemperaturmessung 540
– Aufbau 582 Kältediurese 523 Körpertemperaturregelung 488, 523
– Auslösung 585 Kälteschäden 525, 527 Kortisontherapie 306
– schmutzige 586 – lokale 535 Kraftfahrzeug 7 Fahrzeug
– Sonderformen 585 – nicht-erfrierungsbedingte 537 Kragenschleiftechnik 66
– Verbringung 584 Kälteschutz 526 Kreislaufmanagement 43
IFAK 49 kalte Zone 367, 377, 384 – Hund 352
Immobilisation 46, 147 Kamelspinne 517 Kreislauftauchgerät 476
Immobilisationsmethode 513 Kampfgasexposition 300 Kriegsführung, asymmetrische 114
Impfung 284 Kampfstoffe 18 Kriegszitterer 336
improvised explosive device 7 IED – chemische 300, 570 Krisenintervention, psychologische
improvised nuclear device 551 Kanthotomie 299 339
IND 551 Kaolin 37 KSK 447
Indikatorpapiere 572 kapilläre Reperfusionszeit 167 Kühlung 498
individual first-aid kit 326, 398 Kapnometer 140 Kulissenphanömen 326
Individualmedizin 6 Kapnometrie 48, 202 Kurzwaffen 252
Inertgasnarkose 475 Kardioversion 515 Kurzwaffenmunition 263
Infektionskrankheiten 19, 560 Karotismassage 515
Infiltrationsanästhesie 331 Katastrophe 223, 232
Infrarotlicht 325
Infusionen 168
Katecholamine 166, 292, 312
Katheter
L
Infusionslösungen 177 – suprapubischer 208 Lagebeurteilung 128, 224, 239
– balancierte 181 – zentralvenöser 175 Lagefeststellung 16, 122
– hyperton-hyperonkotische 180 Kavitation Lake Louise Score 442
– kolloidale 178 – permanente 255 Laktatazidose 168
– kristalloide 178, 292, 542 – temporäre 254 Lärmbelastung 466
– warme 532 Kendrick-Extraction-Device 70 Lärmschwerhörigkeit 304
Infusionstherapie 202, 541 Kerlix 37, 158 Lärmtrauma
Inhalationstrauma 136, 289, 292 Kernkraftwerke 550 – akutes 303
– Therapie 292 Ketamin 186, 217, 311 – chronisches 304
– toxisches 292 kill zone 128 Laryngospasmus 483
initial assessment 135 Kinetose 466 Larynxmaske 145
Innenohrschema 305 Knalltrauma 303 Larynxtubus 40, 136, 145, 327
Innenohrschwerhörigkeit 304 Knochenleitungsschwelle 302 Lebensmittelhygiene 487
Insektenschutzmittel 487 Koagulopathie 168 Ledermix 330, 332
Intra-Theatre Tactical Medical – Hypothermie-induzierte 529 Leistenblutungen 161
Evacuation 59 Koblenzer Innenohrschema 306 leitender Notarzt 224
Intrinsic-plus-Stellung 284 Kochsalzlösung, hypertone 495 Leiter, organisatorischer 224
Intubation Koffein 470 Leitstelle 228
– endotracheale 136 Kohlendioxidvergiftung 476 Leitungsanästhesie 331
– Hund 350 Kohlenmonoxid 290 Lernzielstufe 95
Iodtabletten 550 Kombitubus 145 Leuchtspurgeschosse 590
Ischämieschmerz 156 Kommando Spezialkräfte 437 Levofloxacin 274
Isolation 523 Kommunikation 22 Lewisit 570, 578
itClamp 50 35 Kompartmentsyndrom 133, 204, 464, Lichtschutzfaktor 487
517 Lidocain 357
Kompressionsmethode 513 Liegendtransport 196
J Konduktion 522
Koniotomie 40, 136, 140, 163, 275,
9-Line MEDEVAC Request 60
9-Liner 60
joint operations area 59 292, 326 Lippenbremse 444
Jugularvenenstauung 152 – Durchführung 141 Lokalanästhesie 331
Junctional Emergency Treatment Tool – Hund 350 LUCIE 324
34 Kontamination 548 Luftembolie 60
Junctional Tourniquet 34, 158 Kontaminationsschutzanzug 557 Luftlanderettungsstation 57
609 I–P
Stichwortverzeichnis
Luftlanderettungszentrum 57
Luftleitungsschwelle 302
Monokelhämatom 298, 312
Morphin 214
O
Luftrettung 364 – Applikation 215 Oasentod 494
Luftrettungsstützpunkt 454 – Autoinjektoren 215 Obidoxim 576
Luftrettungssystem – Nebenwirkungen 214 Ödem 464
– militärisches 452 – Wirkung 214 Okklusivverband 41, 150
– ziviles 453 Moxifloxacin 189, 193 OLAES Modular Bandage 37
Lungenkampfstoffe 570, 579 mSTART 235 Oligurie 207
Lungenkontusion 155, 272 mSTART Trauma und Intox 236 Ondansetron 214, 467
Lungenödem 178 Mückennetze 487 Operating Base 57
– alveoläres 290 Müdigkeit 469 Operationsplan 14
– toxisches 574 Mundhöhlenentzündung 333 Opiate 214
Munition 252 Organisationsphase 223
Murphy-Tubus 144 Organisatorischer Leiter 224
M Muskelzittern 523 Organophosphate 575, 577
Oropharyngealtubus 140
MACE-Test 313 Ortsdosisleistungsmessgerät 548
Magill-Tubus 144
Malariaprophylaxe 19
N OTD-Schiene 46
Otitis externa 484
MANV 222 Nachbrennen 289, 291
MANV-Koordinationskarte 242, 419 Nachtsehfähigkeit 327
MARCH 124
Marineeinsatzrettungszentrum 57
Nachtsichtgeräte 324, 465
Nadeldekompression 152
P
MASCAL 114, 122, 222 Nagelbettprobe 167 Panzerabwehrverlegemine 591,
– Vorgehensweise 239 Narkoseeinleitung 140 598
MASS 236 narrow channel 255, 261 Paracetamol 218
mass casualty 13, 114, 122, 222 Nasopharyngealtubus 140 paralytisches Syndrom 562
Massenanfall 57, 114, 210, 222 NATO-Tourniquet 33 Parkland-Baxter-Schema 292
Master-Medic 97 Naturkatastrophe 376 Parodontitis 334
Maulsperrer 350 Neostigmin 516 Patientenablage 225, 245, 422
Mechanical Advantage Tourniquet Nervenkampfstoffe 570, 576, 577 Patientenaufnahme
33 Neuner-Regel 288 – kontrollierte 459
MEDEVAC 59, 196 Neurotoxidrom 509 – unkontrollierte 459
MEDEVAC-Anforderung 60 Neutronenstrahlung 548 Patiententransport 542
Mediastinalemphysem 276, 477 NeXsplint-Plus-Halskrause 46 Patiententransporteinheiten 60
Mediastinalflattern 149 Nichtsanitätspersonal 54 patient movement request 461
Medic 5, 97, 408 Nifedipin 446 Paul-Bert-Effekt 476
medical evacuation 59 N-Lost 570, 577 PECC 228
– Koordination 62 Noradrenalin 166, 515 PEEP-Beatmung 292
medical footprint 20 Notarzt, leitender 224 peer 342
medical timelines 231 Notfall pelvic sheeting 165, 277
medical treatment facility 20, 227 – ophthalmologischer 295 Pendelatmung 149
Membrana cricothyroidea 142 – psychischer 335 Perfusion, renale 207
Meningitis 310 – zahnärztlicher 329 Perfusionsdruck, zerebraler 310, 311
Metamizol 218 Notfallkoniotomie 40 Perikardtamponade 155, 266
METHANE-Schema 60 Notfallmedikamente periodische Atmung 438
Metronidazol 193, 274, 284 – Applikationswege 543 Peritonitis 267
Mikrozirkulationsstörung 167 – Aufbewahrungstemperatur 543 Permethrin 487
Milzbrand 563 – Diensthunde 355 PERRLA 185
Mini-Medic-System 48 Notfallsanitäter 394 personal protective equipment 121
Minirin 183 Notkompetenz 403 Pfefferspray 300
5-Minuten-Neurocheck 480 Notstand, rechtfertigender 403 Phosgen 290, 292, 570, 579
Mobilität 76 Notverband 36, 161 phosphororganische Verbindungen
Modafinil 470 NovoSeven 183 575
MOLLE-System 49 NTOA 385 Phosphorverbrennung 293
Monaldi-Position 43, 153, 201 Nuklearwaffen 551 PHTLS 55
Monitoring 47 numbing 338 Plasma 181
– erweitertes 48 Nutation 257 – gefriergetrocknetes 181
610 Serviceteil
Tränengas 300
Tranexamsäure 182
V Vollmantelgeschoss 259
Volumenmangelschock 276
transdermales therapeutisches System Valsalva-Manöver 465 Volumentherapie 168, 291
205 vapor barrier liner 527 Vorflug-Triage 459
Transportmittel 21 Vektorenschutz 487 Vorsichtung 227, 232
Transportpriorität 233, 234 Venenkatheter, zentraler 175 VX 570
Transportreihenfolge 62 Venenverweilkanüle 43
Trauma Verband 161
– akustisches 301
– dentales 333
Verbandstoffe 35
Verbluten 129
W
Traumatherapie 343 Verbrauchskoagulopathie 508 Waffen 252
Traumazentrum 384 Verbrennung 288 – explosionsverstärkende 271
Trennschleifer 82 – bei Kindern 293 – radioaktive 550
Triage 230, 459 – Therapie 291 Waffengeschoss 368
– Algorithmen 235 Verbrennungen 188 Warmblutspende 209
– geographische 245 Verbrennungstiefe 288 Wärmebelastung 490
– praktisches Vorgehen 238 Verbrennungstrauma 288 Wärmebildgeräte 324
Trias, letale 529 Verbrühung 288 Wärmeerhalt 45, 94
Trinkmengen 493 Verbundsicherheitsglas 81 Wärmeerhaltungssysteme 469
Trinkwasserversorgung 17 Verdünnungsazidose 178 Wärmegleichgewicht 488, 522
Trommelfellverletzung 272, 475 Verdunstung 523 Wärmeproduktion 522
Tubusfehllage 140 Verfügungsraum 422 Wärmestrahlung 523
Two-Ship-Formation 453 Vergiftung Wärmeverlust 522
Typhus 563 – Behandlung 574 warme Zone 367, 384
– durch Tiere 503 Warmluftbeatmung 532
Verletztendarsteller 105 Warmluftgeräte 532
U Verletztensammelstelle 378
Verletztenübergabe 427
WASB 183
Wasser-Elektrolyt-Haushalt 489,
Überdrucksack 444 Verletztenversorgung 123 496
Übergabepunkte 418 Verletzung Wasserversorgung 487
Übergangszone 573 – in Bereich TCCC 118 Weg des Verwundeten 5
Übernahmeverschulden 402 – thermomechanische 291 Wehrfliegerverwendungsfähigkeit
Übertriage 231 Verletzung, Definition 4 455
Überwachung 202 Verletzungsmuster 118 Weichkerngeschosse 259
– Vitalfunktionen 194 Versorgungsangebot 20 Weichteilverletzungen 277
Übungs-Verletzte 105 Versorgungsbedarf 17 Weißlicht 327
Ulkus 206 Verwundetenanhängekarte 196 Wendl-Tubus 136, 140, 326, 410
Umbrella-Mechanismus 277 Verwundetennest 227, 327 Wet Bulb Globe Temperature 490
Umgebungsfaktoren 16 Verwundetenrettung 63 Wiedererwärmung 530, 536
Umkehrbarotrauma 477 Verwundetensammelpunkt 227, 245 Wiederholungsausbildung 96
Unfall, radioaktiver 549 Verwundetentransport 21, 58, 64, 94 wind chill 468, 523, 524, 525
Unterkühlung 291 – bodengebundener 60 windshield report 223
Untersuchung – luftgebundener 22, 60, 452 Wirbelsäulenstabilisierung 46, 70
– erste 135 – qualifizierter 470 Wirbelsäulenverletzungen 275,
– körperliche 135 – Reihenfolge 62 311
Untertriage 231 Verwundetentransportmittel 62 – penetrierende 147
Urangeschosse 550 Verwundetenversorgung wound packing 158
Urin – Amok 414 Wundballistik 254, 264
– bernsteinfarbener 489 – Analgesie 214 Wundbehandlung
– bierbrauner 517 – Leitlinien 127 – Analgesie 204
– dunkelbrauner 489 – mit Nachtsichtgeräten 324 – chirurgische 292
– roter 516 – Priorität 385 – Gifttierverletzung 512
Urinausscheidung 207 – taktische 4, 55, 112, 386 Wunddébridement 7 Débridement
Urinteststreifen 500 Verwundetenzahl 240 Wundhöhle 254
Verwundung, Definition 4 – Bildung 256
Vibrationsbelastung 467 – permanente 255, 259, 264
Vipern 507 – Tamponade 37
Vollgeschoss 262 – temporäre 165, 254
613 T–Z
Stichwortverzeichnis
Wundkleber 151
Wundtamponade 37, 158
Wundversorgung 209
X
Xylocain 299
Z
zahnärztliche Notfälle 329
Zahnavulsion 333
Zahnfraktur 333
Zahnintrusion 333
Zahnschmerz 464
Zentralisation 167
Zeolith 38
Zerlegungsgeschoss 262
Zone
– gelbe 564
– grüne 564
– heiße 115, 367, 377, 384, 459
– kalte 117, 367, 377, 384
– rote 564
– warme 115, 367, 384
Zugang
– intraossärer 175, 206, 326, 352, 541
– intravenöser 174
Zweimanntragetechnik 66
Zwiebelschalenprinzip 526