5 Dynamik Des Kristallgitters

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5 Dynamik des Kristallgitters

Im vorangegangenen Kapitel haben wir die Reaktion des Kristallgitters auf eine von außen
wirkende Kraft diskutiert. Dabei haben wir das Gitter als ein Kontinuum behandelt, dessen
elastische Eigenschaften wir mit dem Elastizitätsmodul beschrieben haben. In diesem Kapi-
tel wollen wir unsere Betrachtung erweitern und die diskrete Struktur des Kristallgitters in
unsere Betrachtungen mit einbeziehen. Wir werden uns mit der Bewegung der Gitteratome
um ihre Ruhelage beschäftigen, wobei wir für die auf die Atome bei einer Auslenkung wir-
kenden Kräfte einen sehr allgemeinen Ansatz wählen werden. Um die Betrachtung einfach
zu halten, werden wir die so genannte adiabatische und harmonische Näherung benutzen,
die wir in Abschnitt 5.1 näher erläutern werden.
Die dynamischen Eigenschaften des Kristallgitters sind von zentraler Bedeutung für eine
Vielzahl von Festkörpereigenschaften wie zum Beispiel

∎ die spezifische Wärme, die thermische Ausdehnung und die Wärmeleitfähigkeit von Iso-
latoren,
∎ die Temperaturabhängigkeit des elektrischen Widerstands von Metallen,
∎ die Supraleitfähigkeit von Metallen,
∎ die dielektrischen Eigenschaften von ionischen Kristallen und
∎ die inelastische Licht- und Neutronenstreuung.

Die in diesem Kapitel gemachten Betrachtungen sind deshalb von grundlegender Bedeu-
tung.
Nach der Diskussion der grundlegenden Näherungen in Abschnitt 5.1 werden wir in
Abschnitt 5.2 zunächst Gitterschwingungen im Rahmen einer klassischen Betrachtung
diskutieren. Wir werden dort den Zusammenhang zwischen Frequenz und Wellenvektor
(Dispersionsrelation) anhand einfacher Modellsysteme ableiten. Wir werden dann in Ab-
schnitt 5.4 das Konzept der quantisierten Gitterschwingungen einführen und schließlich in
Abschnitt 5.5 experimentelle Methoden zur Untersuchung der Gitterdynamik vorstellen.

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178 5 Gitterdynamik

5.1 Grundlegendes
Die allgemeine Beschreibung der Schwingungen eines komplizierten Systems aus vielen Ato-
men ist sehr anspruchsvoll, so dass wir zu seiner einfachen Beschreibung Näherungen ein-
führen müssen. Wir werden im Folgenden im Wesentlichen zwei wichtige Näherungen be-
nutzen, nämlich

∎ die adiabatische Näherung,1 die von Max Born2 und Julius Robert Oppenheimer3 ein-
geführt wurde, und
∎ die harmonische Näherung.

Wir wollen diese Näherungen und ihre physikalische Motivation in den folgenden Abschnit-
ten besprechen.

5.1.1 Die adiabatische Näherung


Generell müssen wir Festkörper genauso wie Atome, Moleküle und andere Formen kon-
densierter Materie im Rahmen einer Quantentheorie beschreiben. Dies schließt nicht aus,
dass manche Eigenschaften kondensierter Materie mit der klassischen Mechanik bzw. Sta-
tistik qualitativ, bisweilen sogar quantitativ beschreibbar sind. Da wir bei der Diskussion der
Bindungskräfte (siehe kovalente Bindung in Abschnitt 3.4) gesehen haben, dass selbst die
Stabilität der Materie erst durch Quanteneffekte bewirkt wird, ist die Quantentheorie not-
wendiger Ausgangspunkt einer umfassenden Theorie der Festkörper. Man wird sich dann
gegebenenfalls klarmachen, warum manchmal klassische Überlegungen ausreichen.
Wie in der Atomphysik, und anders als etwa in der Kernphysik, ist man in der Festkörper-
physik in der zunächst glücklichen Lage, den Hamilton-Operator, der die Dynamik und die
Statistik des Systems bestimmt, genau zu kennen. Jeder Festkörper besteht aus Elektronen
der Masse m und der Ladung e sowie aus Kernen der Masse M und der Ladung Ze. Die
Wechselwirkung zwischen diesen Teilchen ist rein elektromagnetisch. Der weit überwiegen-
de Anteil dieser Wechselwirkung ist die Coulomb-Wechselwirkung. Andere Anteile – etwa
die Spin-Bahn-Wechselwirkung – müssen gelegentlich für eine quantitative Beschreibung
hinzugefügt werden. Wenn wir der Einfachheit halber solche relativistischen Korrekturen
ignorieren, lautet der Hamilton-Operator
P2k p2 e2 e2 Z2 e2 Z
H=∑ +∑ i +∑ +∑ −∑ . (5.1.1)
k 2M i 2m i< j ∣r i − r j ∣ k<l ∣R k − R l ∣ i,k ∣r i − R k ∣

Dabei bezeichnen wir die Orte und Impulse der Elektronen durch kleine Buchstaben r und p,
die der Kerne durch große Buchstaben R und P. Um den Einfluss der verschiedenen auftre-
tenden Naturkonstanten ħ, e, m, und M überblicken zu können, gehen wir zu atomaren
1
M. Born, R. Oppenheimer, Zur Quantentheorie der Molekeln, Ann. Phys. (Leipzig) 84, 457 (1927).
2
Max Born, siehe Kasten auf Seite 179.
3
Julius Robert Oppenheimer, geboren am 22. April 1904 in New York, gestorben am 18. Februar
1967 in Princeton, New Jersey.

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5.1 Grundlegendes 179

Max Born (1882–1970), Nobelpreis für Physik 1954


Max Born wurde am 11. Dezember 1882 in Breslau gebo-
ren. Nach Studium in Breslau, Heidelberg und Zürich wech-
selte Born 1904 an die Universität Göttingen. Dort ergaben
sich sofort enge Beziehungen zu Hilbert und Minkowski.
Als Physiker wurde sein Vorbild Albert Einstein, mit dem
er seit etwa 1914 befreundet war. Nach Einsteins Ansatz von
1907 begründete Born zusammen mit Theodore von Karman
(gleichzeitig mit und unabhängig von Peter Debye) die Quan-
tentheorie der spezifischen Wärme. Die ebenfalls 1912 er-
folgte Entdeckung der Röntgeninterferenzen durch Max von
Laue lieferte dabei ein nachträgliches Argument für Borns Quelle Wikimedia Commons.
Methode.
Born arbeitete nun daran, eine einheitliche Kristallphysik auf atomistischer Grundlage auf-
zubauen. In seinem Buch „Dynamik der Kristallgitter“ (1915) und in einem Artikel in
der Mathematischen Enzyklopädie, der als selbstständige Monographie unter dem Titel
„Atomtheorie des festen Zustandes“ 1923 erschien, fasste er das Gebiet der Gitterdynamik
in einheitlicher und klarer Weise zusammen und legte damit einen der Grundsteine für
die Festkörperphysik. Im Jahr 1921 wurde Born auf den Lehrstuhl des Zweiten Physikali-
schen Instituts in Göttingen berufen. Angeregt von den „Bohr-Festspielen“, einem großen
Vortragszyklus von Niels Bohr in Göttingen 1922, beteiligte sich auch Born an der Suche
nach einer neuen Atomtheorie. Einige Ergebnisse seiner Kristallphysik hatten ihn schon
länger überzeugt, dass das Bohrsche Atommodell nur einen begrenzten Wert besitzt. 1925
formulierte Werner Heisenberg (damals 24-jähriger Assistent Borns) einen Ansatz, an den
anknüpfend Max Born in Zusammenarbeit mit Pascual Jordan und Werner Heisenberg
eine geschlossene mathematische Theorie der Quantenmechanik entwickeln konnte. Im
Jahr 1926 konnte Born seine Vermutung, dass die neue Quantentheorie eine statistische Be-
schreibung der Natur beinhaltet, am Beispiel der Stoßvorgänge beweisen. Diese Leistung
trug wesentlich zur „Kopenhagener Deutung“ bei. Um Born versammelten sich in Göt-
tingen hervorragende Schüler und Mitarbeiter aus der ganzen Welt. Zum Göttinger Kreis
gehörten unter anderen: Max Delbrück, Maria Göppert-Mayer, Werner Heisenberg, John
von Neumann, J. Robert Oppenheimer, Wolfgang Pauli, Edward Teller, Victor F. Weißkopf
und Eugen P. Wigner.
Im Jahr 1933 wurde Born in die Emigration gezwungen. Er ging nach Cambridge, dann
nach Edinburgh, wo er nochmals 17 Jahre theoretische Physik lehrte. Nach seiner Emeri-
tierung 1953 kehrte er wieder nach Deutschland zurück und lebte zuletzt zurückgezogen
in Bad Pyrmont. Er hat ein gewaltiges Lebenswerk hinterlassen: Zwanzig wissenschaftliche
und wissenschaftsphilosophische Bücher, über 300 Aufsätze in Fachzeitschriften, die von
ihm allein stammen oder in Zusammenarbeit mit Schülern und Freunden entstanden sind.
Er blieb bis ins hohe Alter aktiv tätig. Als sein Name durch die Verleihung des Nobelpreises
1954 weiten Kreisen bekannt geworden war, trug er engagiert dazu bei, auf die Gefahren
des Atomzeitalters aufmerksam zu machen. Später verfasste er aus der Erinnerung zahlrei-
che historische Aufsätze und gab seinen Briefwechsel mit Albert Einstein heraus.
Max Born starb am 5. Januar 1970 in Göttingen.

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180 5 Gitterdynamik

Einheiten über. Wir messen alle Längen in Bohrschen Radien a B = 4πє 0 ħ 2 /me 2 = 0.529 Å
und alle Energien in Einheiten der zweifachen Rydberg-Energie 2E H = me 4 /(4πє 0 )2 ħ 2 =
27.2 eV (vergleiche (3.1.5) und (3.1.6)). Wir ersetzen damit r durch r/a B , R durch R/a B und
H durch H/2E H und erhalten den Hamilton-Operator in normierten Größen

1 m 1 1 Z2 Z
H = − ∑ ∇2k − ∑ ∇2i + ∑ +∑ −∑ . (5.1.2)
2 k M 2 i i< j ∣r i − r j ∣ k<l ∣R k − R l ∣ i,k ∣r i − R k ∣

Die einzigen Parameter, die sich durch die Skalentransformation nicht eliminieren lassen
und von denen die Eigenschaften der Materie nicht-trivial abhängen, sind also die Kernla-
dungszahlen Z und die Massenverhältnisse m/M.
Für unsere weitere Diskussion ist entscheidend, dass die Massenverhältnisse m/M sehr klein
sind (zwischen 1/1836 und etwa 1/500 000). Deshalb bieten sich diese als Entwicklungs-
parameter an. Wir können den Hamilton-Operator als einen ungestörten, adiabatischen
Hamilton-Operator

1 1 Z2 Z
Ha = − ∑ ∇2i + ∑ +∑ −∑ (5.1.3)
2 i ∣r
i< j i − r j ∣ k<l ∣R k − R l ∣ i,k ∣r i − Rk ∣

und die kinetische Energie der Kerne als Störung


1 m
T = − ∑ ∇2k (5.1.4)
2 k M

aufspalten, so dass

H = Ha + T . (5.1.5)

In der kinetischen Energie der Kerne T sind die Kernpositionen nicht mehr enthalten.4 Um
zu klären, wie sich der Einfluss der kleinen Störung T für Systeme bemerkbar macht, die
sich in der Nähe der Gleichgewichtskonfiguration befinden, stellen wir eine einfache klas-
sische Überlegung an.5 Hierzu vergleichen wir die Beschleunigungen, die auf Elektronen
und Kerne wirken. Wegen des Reaktionsprinzips sind die Kräfte, die Elektronen und Ker-
ne aufeinander ausüben, entgegengesetzt gleich und wir können die qualitative Beziehung
M R̈ ≃ mr̈ aufstellen. Wir erkennen sofort, dass die schweren Kerne sich viel langsamer als
die leichten Elektronen bewegen. Aus dieser Einsicht ergibt sich die Idee der adiabatischen
Näherung: Wir nehmen an, dass sich die schnellen Elektronen der langsamen Bewegung
der Kerne zu jedem Zeitpunkt adiabatisch anpassen können, so dass sie (in guter Näherung)
immer in dem mit Ha bestimmten Grundzustand bleiben. Daraus folgt eine beträchtliche
4
Die Tatsache, dass die Kernorte in 0-ter Ordnung bezüglich der Störung T Erhaltungsgrößen sind,
erklärt, weshalb Materie bei tiefen Temperaturen eine räumliche Struktur hat, d. h. wieso Kerne in
Festkörpern feste Relativpositionen einnehmen.
5
Um über diese klassische Betrachtung hinaus eine Aussage über die Größe der quantenmecha-
nisch bedingten Auslenkungen machen zu können, müssen wir die Quantenmechanik des har-
monischen Oszillators benutzen. Wir wissen, dass die Nullpunktsenergie ħω/2 sich zu gleichen
Teilen aus einem kinetischen Anteil ∝ P2 und einem potenziellen Anteil ∝ (R − R0 )2 zusam-
mensetzt und dass beide Anteile proportional zur Frequenz sind. Daraus lesen wir das folgende

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5.1 Grundlegendes 181

Vereinfachung der Beschreibung, weil die Bewegungen der Elektronen und der Kerne ent-
koppelt werden.6
Bei Auslenkung aus seiner Ruhelage R0 erfährt ein Kern eine rücktreibende Kraft, die in
atomaren Einheiten in harmonischer Näherung durch die klassische Bewegungsgleichung
M
m
R̈ ∝ (R − R0 ) beschrieben wird. Daher skalieren die Frequenzen ω der Kernbewegung
mit dem Massenverhältnis wie

m
ω∝ . (5.1.6)
M
Die Kernbewegung ist deshalb um mehrere Größenordnungen langsamer als die Elektro-
nenbewegung. Wir können deshalb die Energie des elektronischen Systems separat als Funk-
tion der Kernposition berechnen. Die Gesamtenergie des Systems als Funktion der Auslen-
kung ΔR aus der Ruhelage der Ionen erhalten wir dann entsprechend (5.1.5) als Summe der
potenziellen Energie des Elektronensystems U el und der kinetischen Energie der Kerne Tion
zu
P2
E tot = U el + Tion = U el + . (5.1.7)
2M
Der Nutzen der adiabatischen Näherung ist evident: Wir können die potenzielle Energie der
Elektronen für jede Konfiguration der Ionen im Verlauf ihrer Bewegung um die Ruhelage
berechnen. Sie entspricht gerade derjenigen Energie, die wir für die entsprechende statische
Anordnung der Ionen erhalten würden. Als Beispiel ist in Abb. 5.1 die Variation von U el
als Funktion des Atomabstands für die Van der Waals Wechselwirkung von zwei Atomen
gezeigt. Falls sich die Atome gegeneinander bewegen, so können wir mit Hilfe der adiabati-
schen Näherung aus der U el (R)-Kurve für jeden momentanen Abstand der Atome die po-
tenzielle Energie angeben. Wir sehen sofort, dass bei einer Abweichungen der Atome von ih-
rem Gleichgewichtsabstand R 0 auf die Atome eine Rückstellkraft proportional zu −dU el /dR
wirkt.

Skalierungsverhalten für die quantenmechanischen Nullpunktsschwankungen ab:

m 1/4
ΔR ∝ ( )
M
m −1/4
P∝( )
M
m 3/4
Ṙ ∝ ( ) .
M
Wir haben damit das Skalierungsverhalten der quantenmechanischen Nullpunktsbewegung der
Kerne in dem Entwicklungsparameter m/M gewonnen. Interessant ist, dass die Ortsunschärfe der
Kerne nur proportional zur vierten Wurzel aus m/M klein ist. Dies macht verständlich, warum die
Nullpunktsschwingungen in besonderen Fällen die Ausbildung einer räumlichen Struktur verhin-
dern können (z. B. beim Helium).
6
Die adiabatische Näherung wurde mit dem gleichen Argument auch bei der Berechnung der Ener-
gie-Abstandskurve bei der kovalenten Bindung zwischen zwei Atomen verwendet, vergleiche Ab-
schnitt 3.4.

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182 5 Gitterdynamik

0.01

'R = R – R0

Uel (eV)
harmonische
0.00
Näherung
Abb. 5.1: Zur adiabatischen und
harmonischen Näherung. Ge- R0
zeigt ist die Potenzialkurve für ei-
ne Van-der-Waals-Wechselwirkung -0.01
von zwei Atomen (durchgezoge-
ne Linie) und die harmonische 1.0 1.2 1.4 1.6 1.8
Näherung (gestrichelte Linie). R / V

5.1.2 Die harmonische Näherung


Der Verlauf der Potenzialkurve U el (R) kann recht kompliziert sein. Wir wollen zu einer
weiteren Vereinfachung der Beschreibung das Potenzial um die Ruhelage (R = R0 bzw. ΔR =
0) der Atome durch ein harmonisches Potenzial annähern (siehe Abb. 5.1).
Die Position eines Atoms in einer Gitterzelle n können wir nach Abb. 5.2 durch

rnα = Rn + rα + unα (5.1.8)

beschreiben. Hierbei gibt Rn = n 1 a1 + n 2 a2 + n 3 a3 den n-ten Punkt des Bravais-Gitters,


rα die Gleichgewichtsposition des α-ten Atoms in der n-ten Gitterzelle und unα die Aus-
lenkung des α-ten Atoms in der n-ten Gitterzelle aus dieser Gleichgewichtsposition an. In
Kapitel 3 haben wir das Paarwechselwirkungspotenzial ϕ für verschiedene Bindungstypen
abgeleitet. Die gesamte potenzielle Energie erhielten wir immer durch Aufsummieren der
Paarwechselwirkung über alle Atom- bzw. Ionenpaare im betrachteten Festkörper:

U el = 1
2 ∑
ϕ(rnα − rmβ ) = 1
2 ∑
ϕ(Rn − Rm + rα − r β + unα − umβ ) . (5.1.9)
n,m,α,β; n,m,α,β;
nα≠mβ nα≠mβ

Im Rahmen der harmonischen Näherung werden wir dieses Potenzial um die Ruhelage der
Atome als harmonisches Potenzial annähern. Diese Näherung ist immer dann gut, wenn wir
nur kleine Auslenkungen aus der Ruhelage betrachten. Wir wollen hier sofort anmerken,

Abb. 5.2: Zur Indizierung bei


der Bezeichnung der Atomposi- unD
tionen. Rn gibt die Position der n-te
n-ten Gitterzelle, rα die Position rD Einheitszelle
der α-ten Atoms in der Gitterzelle
und unα die Auslenkung des α-ten
(0,0,0)
Atoms in der n-ten Gitterzelle an.

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5.1 Grundlegendes 183

dass bei Raumtemperatur die Auslenkung u durchaus 10% der Gitterkonstanten a betragen
kann (siehe Abschnitt 2.2.7). Wir erwarten deshalb bei Raumtemperatur Abweichungen von
den mit der harmonischen Näherung erhaltenen Ergebnissen, die wir später noch diskutie-
ren werden. Effekte, die nur durch Einbeziehung von Abweichungen vom harmonischen
Potenzial erklärt werden können, bezeichnen wir als anharmonische Effekte.
Die zu (5.1.9) gehörende harmonische Näherung erhalten wir durch eine Taylor-Entwick-
lung des Potenzials um seine Ruhelage:7

U el = 1
2 ∑
ϕ(r0nα − r0mβ ) + 1
2 ∑
(unα − umβ ) ∇ϕ(r0nα − r0mβ )
n,m,α,β; n,m,α,β
nα≠mβ
2
+ 1
4 ∑
[(unα − umβ ) ⋅ ∇] ϕ(r0nα − r0mβ ) + . . . . (5.1.10)
n,m,α,β

Hierbei ist r0nα − r0mβ = Rn − Rm + rα − r β der Gleichgewichtsabstand der Atome α und β


in den Gitterzellen n und m. Der erste Term in diesem Ausdruck ist nichts anderes als die
Gleichgewichtsenergie, die uns hier nicht interessiert und die wir durch Verschieben unseres
Energienullpunkts gleich null setzen können. Der in (unα − umβ ) lineare Term verschwin-
det. Durch Umformen können wir nämlich schreiben
∑ (unα − umβ )∇ϕ(rnα − rmβ )
0 0

n,m,α,β

= ∑ unα ∑ ∇ϕ(r0nα − r0mβ ) − ∑ umβ ∑ ∇ϕ(r0nα − r0mβ ) . (5.1.11)


n,α m,β m,β n,α

Wir sehen, dass dieser Ausdruck verschwindet, da

∑ ∇ϕ(rnα − rmβ ) = ∑ ∇ϕ(rnα − rmβ ) = 0 .


0 0 0 0
(5.1.12)
n,α m,β

Dies muss so sein, da in diesem Ausdruck über alle Kräfte aufsummiert wird, die alle
Atome auf ein bestimmtes Atom ausüben. Diese Kraft muss für den Gleichgewichtszu-
stand rnα = r0nα gerade verschwinden. Brechen wir die Taylor-Entwicklung nach dem in
(unα − umβ ) quadratischen Term ab, so erhalten wir unser harmonisches Potenzial zu

2
U elharm = U 0 + 1
4 ∑
[(unα − umβ ) ⋅ ∇] ϕ (r0nα − r0mβ ) . (5.1.13)
n,m,α,β

Die Konstante U 0 ist für die weitere Diskussion ohne Bedeutung und wird weggelassen.
Die 2. Ableitungen des Potenzials an der Gleichgewichtsposition

mβ j ∂ 2 U elharm
C nα i = . (5.1.14)
∂r nα i ∂r mβ j

bezeichnen wir als Kopplungskonstanten. Sie haben die Dimensionen von Federkonstanten
und stellen eine Verallgemeinerung der Federkonstante eines harmonischen Oszillators auf
7
Es gilt f (r + a) = f (r) + a∇ f (r) + 12 (∇ ⋅ a)2 f (r) + . . .

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184 5 Gitterdynamik

Gitterzelle n

rD
Gitterzelle m
Rn = n1a1 + n2a2 + n3a3

rE umE

Rm = m1a1 + m2a2 + m3a3

(0,0)

Abb. 5.3: Zweidimensionales Gitter mit zweiatomiger Basis. Die Auslenkung des Atoms β in der Git-
terzelle m um umβ resultiert über das Federnetzwerk in einer Kraft Fnα auf das Atom α in der Git-

terzelle n. Die Größe der Kraft wird durch die Kopplungskonstanten C nα bestimmt. Zur Berechnung
der effektiven Gesamtkraft auf das Atom α in der Zelle n muss über alle Kraftkomponenten durch die
Auslenkungen der Atome in allen anderen Gitterzellen aufsummiert werden.

ein System mit vielen Freiheitsgraden dar. Die Indizes i, j = x, y, z geben hierbei die Kom-
ponenten der Vektoren in x, y und z-Richtung an. Die Größe
mβ j
Fnα i = −C nα i u mβ j (5.1.15)
gibt uns die Kraft auf das Atom α in der Einheitszelle n in Richtung i an, die durch die
Auslenkung des Atoms β in der Gitterzelle m in Richtung j verursacht wird. Die Situation
ist in Abb. 5.3 veranschaulicht.
Die Kopplungskonstanten müssen eine Reihe von Bedingungen erfüllen, die aus der Isotro-
pie des Raumes sowie der Translationsinvarianz und der Punktsymmetriegruppe des Gitters
folgen. Ohne die Diskussion vertiefen zu wollen, weisen wir darauf hin, dass die Translati-
mβ j
onsinvarianz des Gitters erfordert, dass die Größe C nα i nur von der Differenz zwischen m
und n abhängt:
mβ j (m−n)β j
C nα i = C 0α i . (5.1.16)

5.2 Klassische Theorie


5.2.1 Bewegungsgleichungen
Wir verwenden nun die Gesetze der klassischen Mechanik, um mit Hilfe des Potenzi-
als (5.1.13) den Zusammenhang zwischen Schwingungsfrequenz und Wellenvektor der
Gitterschwingungen abzuleiten. Für die Auslenkung u eines Atoms α in der Gitterzelle n in
Richtung i muss nach Newton die Summe der Kopplungskräfte und Trägheitskräfte gleich
null ergeben:
∂ 2 u nα i mβ j
Mα + ∑ C nα i u mβ j = 0 . (5.2.1)
∂t 2 m,β, j

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5.2 Klassische Theorie 185

Haben wir in unserem Festkörper N Einheitszellen mit r Atomen vorliegen, so erhalten wir
3rN Differentialgleichungen, die die Bewegung der Atome beschreiben. Die Lösung dieses
Differentialgleichungssystems scheint wegen der Größe von N eine unlösbare Aufgabe dar-
zustellen. Glücklicherweise können wir für periodische Strukturen einen Ansatz wählen, der
zu einer weitgehenden Entkopplung führt. Der Ansatz beinhaltet, dass wir die Auslenkun-
gen u nα i als ebene Wellen hinsichtlich der Zellkoordinaten schreiben:
1
u nα i = √ A α i (q)e ı(q⋅R n −ωt) . (5.2.2)

Im Gegensatz zu normalen ebenen Wellen ist diese Welle nur an den Gitterpunkten Rn de-
finiert. Setzen wir den Ansatz in (5.2.1) ein, so erhalten wir
1 mβ j ıq⋅(R m −R n )
−ω 2 A α i (q) + ∑ ∑ √ C e A β j (q) = 0 . (5.2.3)
β, j m M α M β nα i

Aufgrund der Translationsinvarianz hängen die Terme in der Summe nur von m − n ab.
Führen wir die Summation über m aus, so erhalten wir die Größe

βj 1 mβ j ıq⋅(R n −R m )
D α i (q) = ∑ √ C e , (5.2.4)
m M α M β nα i

die unabhängig von n ist. Dies rechtfertigt die Tatsache, dass wir in obigem Ansatz die Am-
βj
plituden ohne den Index n geschrieben haben. Die Größen D α i (q) bilden die so genannte
dynamische Matrix. Das Gleichungssystem

βj
−ω 2 A α i (q) + ∑ D α i (q) A β j (q) = 0 (5.2.5)
β, j

stellt ein lineares homogenes Gleichungssystem der Ordnung 3r dar. Falls wir nur eine ein-
atomige Basis haben, ist r = 1 und wir haben für jeden Wellenvektor q nur ein System von
3 Gleichungen zu lösen. Die Vereinfachung, die wir durch die Translationsinvarianz erhalten
haben, ist also riesig.
Aus der Mathematik ist uns bekannt, dass ein homogenes, lineares Gleichungssystem nur
dann nicht-triviale Lösungen besitzt, wenn die Koeffizientendeterminante

βj
det {D α i (q) − ω 2 1} = 0 (5.2.6)

verschwindet. Diese Gleichung hat genau 3r Lösungen ω(q) für jeden Wellenvektor q. Die
Abhängigkeit ω(q) nennen wir Dispersionsrelation. Die 3r unterschiedlichen Lösungen be-
zeichnen wir als Zweige der Dispersionsrelation.
Wir werden unsere allgemeine Diskussion hier abschließen, und die bisherigen Ergebnisse
dazu benutzen, die Dispersionsrelation für einige einfache Beispiele abzuleiten.

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186 5 Gitterdynamik

5.2.2 Kristallgitter mit einatomiger Basis


5.2.2.1 Longitudinale Gitterschwingungen
Wir wollen unsere allgemeine Diskussion jetzt anwenden, um die Dispersionrelation eines
Kristallgitters mit einer einatomigen Basis herzuleiten. Dabei untersuchen wir den einfa-
chen Fall, dass sich die Netzebenen eines Kristalls in Richtung ihrer Normalen zueinan-
der verschieben (longitudinale Schwingung, siehe Abb. 5.4a). Bei Ausbreitung der Welle
in eine Kristallrichtung hoher Symmetrie (z. B. [100]-Richtung) wird die Situation beson-
ders einfach. Dies können wir uns anhand von Abb. 5.4a klar machen. Lenken wir die Ato-
me einer bestimmten Netzebene horizontal aus, so wirken auf die Atome der benachbarten
Netzebenen Kräfte, die generell sowohl eine horizontale als auch eine vertikale Komponen-
te haben. Aus Symmetriegründen kompensieren sich aber gerade alle vertikal wirkenden
Kräfte und es bleiben nur die horizontalen Komponenten übrig. Das heißt, die resultierende
Kraft wirkt ausschließlich in Ausbreitungsrichtung. Wir haben es dadurch mit einer Wellen-
ausbreitung mit rein longitudinalem Charakter zu tun, wodurch wir es effektiv mit einem
eindimensionalen Problem zu tun haben.8 Die Auslenkung der durch den Index n gekenn-
zeichneten Gitterebene ist u n , sie lässt sich also durch eine einzige Koordinate beschreiben.
Eine völlig analoge Überlegung können wir für den Fall einer transversalen Welle machen.
Lenken wir die Atome einer Netzebene in vertikaler Richtung aus, so kompensieren sich ge-
rade alle horizontalen Kraftkomponenten und es bleiben nur die vertikal wirkenden Kompo-
nenten übrig. Bei einer Wellenausbreitung in eine beliebige Richtung wird die Behandlung
schwieriger. In diesem Fall sind die wirkenden Kräfte nicht mehr rein parallel oder senkrecht
zur Ausbreitungsrichtung, wodurch die resultierende Wellenausbreitung einen gemischten
longitudinalen und transversalen Charakter hat. Wir sprechen dann von einer gemischten
Polarisation der Wellen. Wir werden im Folgenden aber nur den einfachen Fall einer rein
longitudinalen Wellenausbreitung betrachten.

(a) (b)

un-2 un-1 un un+1 un+2 un+3


un-2 un-1 un un+1 un+2 un+3

n-2 n-1 n n+1 n+2 n+3 n-2 n-1 n n+1 n+2 n+3

Abb. 5.4: Schematische Darstellung der Auslenkung der Netzebenen bei einer longitudinalen (a) und
transversalen Gitterschwingung (b). Die gestrichelten Linien geben die Gleichgewichtslage, die Pfeile
die Auslenkung an.

8
Die Problemstellung ist zu der einer einatomigen Kette äquivalent.

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5.2 Klassische Theorie 187

Wir betrachten zunächst die Kraft, die auf ein Atom in der Netzebene n durch die Netz-
ebene mit Index n + p ausgeübt wird. Sie ist in harmonischer Näherung proportional
zu (u n+p − u n ). Die Kraft, die insgesamt auf ein Atom der Netzeben n einwirkt beträgt dann

Fn = ∑ C p (u n+p − u n ) . (5.2.7)
p

Hierbei haben wir die Kopplungskonstante C nm zwischen den Netzebenen n und m durch C p
mit p = m − n ersetzt (p durchläuft alle positiven und negativen ganzen Zahlen). Dies kön-
nen wir tun, da die Kopplung nur vom Abstand der Netzebenen abhängt. Setzen wir diese
Kraft der Trägheitskraft gleich, erhalten wir die Bewegungsgleichung

∂2 u n
M − ∑ C p (u n+p − u n ) = 0 . (5.2.8)
∂t 2 p

Als Lösungsansatz wählen wir

u n+p = Ae ı(q pa−ωt) , (5.2.9)

wobei q der Wellenvektor und ω die Frequenz der fortschreitenden Welle ist und a der Netz-
ebenenabstand. Setzen wir diesen Ansatz in (5.2.8) ein, so erhalten wir

−ω 2 MAe−ı ωt − ∑ C p (Ae ı q pa e−ı ωt − Ae−ı ωt ) = 0


p

−ω 2 M − ∑ C p (e ı q pa − 1) = 0 . (5.2.10)
p

Da aus Symmetriegründen C−p = C p gelten muss, können wir diesen Ausdruck zu


∞ ∞
−ω 2 M = ∑ C p (e ı q pa + e−ı q pa − 2) = 2 ∑ C p [cos(qpa) − 1] (5.2.11)
p=1 p=1

umschreiben und erhalten schließlich die Dispersionsrelation

2 ∞
ω2 = ∑ C p (1 − cos qpa) . (5.2.12)
M p=1

Berücksichtigen wir nur die Wechselwirkung der Gitteratome mit ihren unmittelbaren
Nachbarn, so ist nur C 1 ≠ 0 und wir erhalten

2C 1 4C 1 qa
ω2 = (1 − cos qa) = sin2 . (5.2.13)
M M 2

Die Dispersionsrelation (5.2.13) ist in Abb. 5.5 gezeigt. Die Dispersionsrelation ist erstens
periodisch, ω(q) = ω(q + n 2π/a) und ist zweitens invariant gegenüber dem Vorzeichen des
Wellenvektors, ω(q) = ω(−q). Hierbei entspricht die Periode n 2π/a gerade der Länge eines
reziproken Gittervektors G. Eine Deutung dieser Eigenschaften erfolgt weiter unten bei der
Diskussion der Bedeutung der 1. Brillouin-Zone.

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188 5 Gitterdynamik

1.0 1. Brillouin-Zone

0.8

1/2
Z/ (4C1/M)
0.6

0.4

0.2

Abb. 5.5: Dispersionsrelation 0.0


-1.0 -0.5 0.0 0.5 1.0 1.5 2.0
der Gitterschwingungen für ein
Kristallgitter mit einatomiger Basis. qa /S

5.2.2.2 Gruppengeschwindigkeit
Wir wollen als erstes die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Gitterschwingungen diskutieren.
Ganz allgemein ist die Ausbreitungsgeschwindigkeit eines Wellenpakets durch die Gruppen-
geschwindigkeit

vg = ∇q ω(q) (5.2.14)

gegeben. Aus der Dispersionsrelation (5.2.13) ergibt sich deshalb



C1 a2 1
vg = cos qa . (5.2.15)
M 2

Grenzfälle: Wir wollen nun einige Grenzfälle der Dispersionsrelation (5.2.13) diskutieren:

1. q = π/a:
Die Gruppengeschwindigkeit verschwindet für q = π/a, d. h. am Rand der 1. Brillouin-
Zone. Wir haben es √hier mit einer stehenden Welle zu tun. Die maximale Schwingungs-
frequenz ist ω max = 4C 1 /M.
2. Langwelliger Grenzfall: q ≪ 1/a bzw. λ ≫ a:
Für q ≪ 1/a, d. h. für große Wellenlängen λ = 2π/q ≫ a können wir den Sinus durch
sein Argument annähern und wir erhalten

C1 a2
ω= q. (5.2.16)
M

Wir erhalten also eine lineare Dispersionsrelation ω =v long q mit v g =v long = C 1 a 2 /M =
const. Den Grenzfall λ ≫ a haben wir bereits in Kapitel 4 ausführlich behandelt. In
diesem Grenzfall dürfen wir das Kristallgitter als ein Kontinuum annähern und der
Ausdruck für die Gruppengeschwindigkeit liefert gerade die Ausbreitungsgeschwindig-

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5.2 Klassische Theorie 189

keit v long einer longitudinalen Schallwelle in dem betreffenden Festkörper. Die Wel-
lengleichung für Schallwellen können wir ableiten, indem wir die Auslenkungen u n (t)
im langwelligen Limes durch kontinuierliche Funktionen einer reellen Variablen x
auffassen:

u n (t) → u(x, t) , u n±p (t) → u(x ± pa, t) . (5.2.17)

Eine Taylor-Entwicklung ergibt

∂u(x, t) p2 a 2 ∂ 2 u(x, t)
u n±p (t) = u(x ± pa, t) = u(x, t) ± pa + ±...
∂x 2! ∂x 2
(5.2.18)

und durch Einsetzen in die Kraftgleichung (5.2.8) erhalten wir, wenn wir nur Wechsel-
wirkungen zwischen nächsten Nachbarn berücksichtigen, im langwelligen Grenzfall die
eindimensionale Wellengleichung

∂ 2 u(x, t) C 1 a 2 ∂ 2 u(x, t) 2
2 ∂ u(x, t)
= = v s . (5.2.19)
∂t 2 M ∂x 2 ∂x 2
Diese Gleichung entspricht der Wellengleichung (4.6.9), die wir in Abschnitt 4.6 aus ei-
ner kontinuumsmechanischen Betrachtung hergeleitet haben, wobei wir für das hier be-
trachtete eindimensionale System in (4.6.9) alle Terme weglassen können, in denen die
elastischen Konstanten C 12 und C 44 auftreten. Die Größen C 1 /a und M/a 3 in (5.2.19)
entsprechen dem Elastizitätsmodul C 11 und der Massendichte ρ in (4.6.9).
Die Tatsache, dass ω ∝ q für qa ≪ 1, folgt unmittelbar auch aus (5.2.12), gilt also nicht
nur für die Näherung, in der wir nur nächste Nachbarwechselwirkungen berücksichti-
gen. Zwar hat dann die Proportionalitätskonstante einen anderen Wert, aber der lineare
Zusammenhang zwischen ω und q ist unabhängig davon, ob wir nur die Wechselwir-
kung zwischen unmittelbar benachbarten Netzebenen berücksichtigen oder auch den
Effekt von weiter entfernten Netzebenen mit einschließen.

Mit der Näherung



ω max ≃ v long (5.2.20)
a
erhalten wir mit a ∼ 2 Å und v long ∼ 4000 m/s die maximale Schwingungsfrequenz zu ∼ 2π ×
1013 s−1 .

5.2.2.3 Die erste Brillouin-Zone


Wir wollen uns nun überlegen, welcher Bereich der Wellenvektoren q überhaupt physika-
lisch sinnvoll ist. Wir sehen, dass die Dispersionsrelation ω(q) periodisch in q mit einer Pe-
riode q = 2π/a ist. Das heißt, die Periodenlänge im reziproken Raum entspricht gerade der
minimalen Länge eines reziproken Gittervektors. Dies gilt nicht nur für unseren speziellen
βj
Fall, sondern ganz allgemein. Gleichung (5.2.4) zeigt, dass in die Koeffizienten D α i (q) der

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190 5 Gitterdynamik

dynamischen Matrix Summen über die Phasenfaktoren e ıq⋅(R m −R n ) eingehen. Da Rm und Rn


Vektoren des Bravais-Gitters sind, folgt sofort, dass
βj βj
D α i (q) = D α i (q + G) , (5.2.21)

da für jeden reziproken Gittervektor G die Beziehung G ⋅ Rm = 2πn gilt. Die Lösungen
von (5.2.6) müssen deshalb die Bedingung

ω(q) = ω(q + G) (5.2.22)

erfüllen. Ferner muss

ω(−q) = ω(q) (5.2.23)

gelten, da u(−q) eine Welle repräsentiert, die identisch zu u(q) ist, allerdings in die entge-
gengesetzte Richtung läuft. Da die vor- und zurücklaufenden Wellen durch die Zeitumkehr
miteinander verbunden sind, müssen die Eigenfrequenzen für q und −q gleich sein.
Gleichung (5.2.22) verdeutlicht, dass es völlig ausreichend ist, die Dispersionsrelation im
Bereich eines reziproken Gittervektors zu betrachten. Es ist üblich, hierfür die 1. Brillouin-
Zone zu verwenden. Für unser eindimensionales System können wir uns also auf
π π
− ≤q≤+ (5.2.24)
a a
beschränken. Aufgrund von Gleichung (5.2.23) reicht es sogar aus, die Dispersionsrelation
nur in einem Oktanten der 1. Brillouin-Zone anzugeben.
Eine anschauliche Erklärung dafür, dass es völlig ausreicht, die Dispersionsrelation in der
1. Brillouin-Zone anzugeben, ist in Abb. 5.6 gezeigt. Es ist sofort einsichtig, dass die gestri-
chelte Kurve, die zu einem Wellenvektor aus einer höheren Brillouin-Zone gehört, keine
andere Information liefert als die durchgezogene Kurve. Physikalisch ist es nämlich völlig
irrelevant, wie der Wellenverlauf zwischen den Atomen aussieht, es interessieren lediglich
die Auslenkungen der Gitteratome.

Abb. 5.6: Auslenkung der Gitteratome in ei-


ner transversalen Welle mit der kleinstmögli-
chen Wellenzahl (durchgezogene Linie). Eben-
falls gezeigt ist eine Welle mit einem größe-
ren Wellenvektor (gestrichelter Wellenzug). O = 2S / G = a

5.2.2.4 Transversale Gitterschwingungen


Für transversale Gitterschwingungen (siehe Abb. 5.4b) erhält man analoge Ergebnisse. In
der Dispersionsrelation (5.2.12) haben dann natürlich die Kopplungskonstanten C p andere

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5.2 Klassische Theorie 191

Werte. Die Ausbildung rein longitudinal und transversal polarisierter Wellen ist nur bei einer
Ausbreitung der Welle in Richtung einer Symmetrieachse möglich. Bei einem kubischen
Kristall ist dies z. B. die [100]-, [110]- oder die [111]-Richtung. Diese Tatsache haben wir
bereits in Abschnitt 4.6 im Rahmen der Kontinuumsbeschreibung diskutiert.

5.2.2.5 Allgemeiner Fall


Im allgemeinen Fall bewegen sich die Gitteratome in der ebenen Welle weder parallel noch
senkrecht zur Ausbreitungsrichtung. Ihre Auslenkungen haben also sowohl eine longitudi-
nale als auch eine transversale Komponente. Eine solche Welle lässt sich mit dem allgemei-
nen Ansatz (5.2.2) beschreiben.

5.2.3 Kristallgitter mit zweiatomiger Basis


Wir wollen nun die Dispersionrelation eines Kristallgitters mit einer zweiatomigen Basis
herleiten. Die Massen der beiden Atome seien M 1 und M 2 . Dabei untersuchen wir wieder-
um den einfachen Fall, dass sich die Netzebenen des Kristalls in Richtung ihrer Normalen
zueinander verschieben (longitudinale Schwingung, siehe Abb. 5.7) und diese Netzebenen
jeweils nur eine Atomsorte enthalten. Dies träfe z. B. auf einen NaCl-Kristall für eine Schwin-
gung in [111]-Richtung zu. Der Abstand der Netzebenen mit gleichen Atomen sei a und die
Auslenkungen der durch den Index n gekennzeichneten Gitterebenen seien u n und v n für
die beiden Atomsorten. Die Indizes i, j können wir weglassen, da wir es mit einem eindi-
mensionalen Problem zu tun haben. Wir werden ferner der Einfachheit halber nur Wech-
selwirkungen unmittelbar benachbarter Ebenen berücksichtigen und annehmen, dass die

M1 M2 M1 M2 M1 M2 M1 M2 M1 M2
un

un+2
un-1
un-2

vn
un+1

vn+1

vn+2
vn-2

vn-1

n-2 n-1 n n+1 n+2

Abb. 5.7: Schematische Darstellung der Auslenkung der Netzebenen bei einer longitudinalen Gitter-
schwingung in einem Kristallgitter mit zweiatomiger Basis. Die gestrichelten Linien geben die Position
der unausgelenkten Netzebenen an.

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192 5 Gitterdynamik

Kopplungskonstante zwischen benachbarten Ebenen gleich ist.9 Das heißt, der Index m in
der Summe (5.2.1) kann nur die Werte n + 1, n, n − 1 annehmen. Bezeichnen wir die Kopp-
lungskonstante zwischen den benachbarten Ebenen mit f , so erhalten wir folgende Bewe-
gungsgleichungen:

∂2 u n
M1 = f (v n − u n ) + f (v n−1 − u n ) (5.2.25)
∂t 2
∂2 v n
M2 = f (u n − v n ) + f (u n+1 − v n ) . (5.2.26)
∂t 2
Hierbei stellen die Differenzen (v n − u n ), (v n−1 − u n ), usw. die relativen Auslenkungen
von benachbarten Ebenen der beiden Atomsorten dar. Sind z. B. u n und v n gleich, so wird
(v n − u n ) = 0, da die Feder, die die beiden Ebenen verbindet, dann nicht gedehnt oder
gestaucht wird.
Damit lauten die Bewegungsgleichungen

∂2 u n
M1 + f (2u n − v n − v n−1 ) = 0 (5.2.27)
∂t 2
∂2 v n
M2 + f (2v n − u n − u n+1 ) = 0 . (5.2.28)
∂t 2
Als Lösungsansatz verwenden wir entsprechend (5.2.2)
1
u n (q) = √ A 1 (q)e ı(qan−ωt)
M1
(5.2.29)
1
v n (q) = √ A 2 (q)e ı(qan−ωt) .
M2
Setzen wir diesen Lösungsansatz in (5.2.27) und (5.2.28) ein, so ergibt sich

2f 1
( − ω2 ) A1 − f √ (1 + e−ı qa ) A 2 = 0 (5.2.30)
M1 M1 M2
1 2f
−f √ (1 + e+ı qa ) A 1 + ( − ω2 ) A2 = 0 . (5.2.31)
M1 M2 M2
βj
Die dynamische Matrix D α i (q) ist folglich durch

− √ M M (1 + e−ı qa )⎞
2f f
⎛ M1
⎜ 1 2
⎟ (5.2.32)
⎜ ⎟
f +ı 2f
⎝− √ M M (1 + e
1 2
qa
) M2 ⎠

9
Ein sehr ähnliches Problem erhalten wir, wenn wir annehmen, dass die Masse der beiden Atome
gleich ist, die Kopplungskonstanten zwischen den Atomen dafür aber abwechselnd zwei unter-
schiedliche Werte annehmen, siehe hierzu Festkörperphysik, N. W. Ashcroft, N. D. Mermin, Ol-
denbourg Verlag, München (2012).

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5.2 Klassische Theorie 193

1.0 optischer Zweig


Z+
1/2

0.8 (2f/M2 )1/2


Z/ [2f (1/M1+1/M2)]

1. Brillouin-Zone
0.6 (2f/M1 )1/2
Z- M1 > M 2
0.4

0.2 akustischer Zweig

0.0 Abb. 5.8: Dispersionsrelation für ein


-1.0 -0.5 0.0 0.5 1.0 1.5 2.0 Kristallgitter mit zweiatomiger Basis
qa /S berechnet für M 1 = 2M 2 .

gegeben. Setzen wir die Determinante dieser Matrix gleich null, erhalten wir die Dispersions-
relation10
1/2
1 1 1 1 2 4 qa
ω =f(
2
+ ) ± f [( + ) − sin2 ] . (5.2.33)
M1 M2 M1 M2 M1 M2 2

Diese Dispersionsrelation ist in Abb. 5.8 gezeigt. Wir erhalten also für unser System mit
einer zweiatomigen Basis zwei Dispersionszweige ω+ (q) und ω− (q), wie wir es nach unserer
allgemeinen Diskussion in Abschnitt 5.2.1 erwarten.11

Grenzfälle:

1. Langwelliger Grenzfall: q ≪ 1/a bzw. λ ≫ a:


Für qa ≪ 1 können wir die Sinus-Funktion in√(5.2.33) durch ihr Argument ersetzen und
den Wurzelausdruck mit Hilfe der Näherung 1 − x ≃ 1 − 12 x approximieren. Wir erhal-
10
Wir erhalten:
2f 2f f2
0=( − ω2 ) ( − ω2 ) − (1 + e+ı qa ) (1 + e−ı qa )
M1 M2 M1 M2
4f 2 ω2 2 f ω2 2 f f2
= − − + ω4 − (2 + e+ı qa + e−ı qa )
M1 M2 M1 M2 M1 M2
= M 1 M 2 ω 4 − 2 f (M 1 + M 2 )ω 2 + 2 f 2 (1 − cos qa) .
Daraus erhalten wir

2 f (M 1 + M 2 ) ± f 2 (M 1 + M 2 )2 − 2M 1 M 2 f 2 (1 − cos qa)
ω = .
M1 M2

11
Im dreidimensionalen Fall erwarten wir 3r Dispersionszweige, im eindimensionalen Fall dagegen
nur 1r.

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194 5 Gitterdynamik

ten dann für den langwelligen Grenzfall

1 1 a2 f
ω+2 (q) ≃ 2 f ( + )− q2 (5.2.34)
M1 M2 2(M 1 + M 2 )

a2 f
ω−2 (q) ≃ q2 . (5.2.35)
2(M 1 + M 2 )

Für den ω− -Zweig


√ erhalten wir eine lineare Dispersionsrelation mit der Schallgeschwin-
digkeit v s = a 2 f /2(M 1 + M 2 ). Für den ω+ -Zweig ergibt sich für den Grenzfall q → 0
eine konstante Schwingungsfrequenz

1 1
ω+ (0) = 2f ( + ). (5.2.36)
M1 M2

Für das Verhältnis der Schwingungsamplituden erhalten wir für den Grenzfall q → 0
aus (5.2.30) und (5.2.31) unter Benutzung von (5.2.29) das einfache Ergebnis

A 1 (0) M2
=− für ω+ , (5.2.37)
A 2 (0) M1
A 1 (0)
=1 für ω− . (5.2.38)
A 2 (0)

Wir sehen also, dass die Atome für den ω− -Zweig mit gleicher Amplitude in Phase
schwingen, während sie für den ω+ -Zweig gegenphasig mit einem zum Massenver-
hältnis inversen Amplitudenverhältnis schwingen. Dadurch bleibt der Schwerpunkt in
Ruhe.
2. q → π/a bzw. λ → 2a:
Für M 1 > M 2 erhalten wir

2f
ω+ (π/a) = (5.2.39)
M2

2f
ω− (π/a) = . (5.2.40)
M1

Zwischen den beiden Frequenzen ω+ (π/a) und ω− (π/a) existiert eine Frequenzlücke,
die umso größer ist, je größer das Massenverhältnis M 1 /M 2 ist. In dieser Frequenzlücke
wird der Wellenvektor q imaginär, woraus eine gedämpfte Welle resultiert. Wir sehen
ferner, dass das Frequenzband ω+ umso schmäler wird, je größer M 1 /M 2 ist.

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5.2 Klassische Theorie 195

Wir wollen weiterhin die Grenzfälle M 1 ≫ M 2 und M 1 = M 2 betrachten:

1. M 1 ≫ M 2 :
Für M 1 ≫ M 2 erhalten wir aus (5.2.33)
f f M2 qa 1/2
ω2 = ± (1 − 4 sin2 )
M2 M2 M1 2
f f M2 qa
≃ ± (1 − 2 sin2 ). (5.2.41)
M2 M2 M1 2
Hierbei haben wir den Wurzelausdruck entwickelt, da M 2 /M 1 ≪ 1 ist.12 Wir erhalten
somit
2f 2f qa
ω+2 ≃ − sin2 (5.2.42)
M2 M1 2
2f qa
ω−2 ≃ sin2 . (5.2.43)
M1 2
Wir sehen, dass wir für den ω− -Zweig in etwa die Dispersionsrelation eines Gitters mit
nur einer Masse M 1 bekommen, was anschaulich wegen M 1 ≫ M 2 zu erwarten ist. Beim
ω− -Zweig schwingen die beiden Massen in Phase. Die kleine Masse bewegt sich dabei
quasi mit der großen mit und wir erhalten dadurch die Dispersionsrelation für ein Gitter
mit nur einer, und zwar der großen Masse. Beim ω+ -Zweig schwingen die beiden Massen
gegenphasig. Die große Masse bleibt bei der gegenphasigen Bewegung quasi in Ruhe und
wir erhalten eine Schwingungsfrequenz, die vom Wellenvektor fast unabhängig ist und
durch die leichte Masse bestimmt wird.
2. M 1 = M 2 :
Für M 1 = M 2 = M erhalten wir aus (5.2.33)
2f 2f qa 1/2 2f qa
ω2 = ± (1 − sin2 ) ≃ (1 ± cos ) . (5.2.44)
M M 2 M 2
Wir erhalten somit
2f qa
ω+2 ≃ (1 + cos ) (5.2.45)
M 2
2f qa 4f qa
ω−2 ≃ (1 − cos ) = sin2 . (5.2.46)
M 2 M 4
Wir erhalten also für den ω− -Zweig die gleiche Dispersionsrelation wie für eine einato-
mige Basis, allerdings mit halbem Gitterabstand. Dies ist einsichtig, da für M 1 = M 2 = M
das resultierende Gitter tatsächlich ein einatomiges Gitter mit Gitterkonstante a/2 dar-
stellt. Der Verlauf des ω+ -Zweiges ist genau spiegelbildlich zu dem des ω− -Zweiges. Hier-
bei müssen wir allerdings beachten, dass der ω+ -Zweig eigentlich für M 1 = M 2 gar nicht
existieren kann und die Schwingungsmode mit Wellenvektor q einer Schwingungsmode
mit Wellenvektor π/a − q des ω− -Zweiges entspricht.

12
Es gilt: 1 − x ≃ 1 − 12 x.

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196 5 Gitterdynamik

5.2.3.1 Akustische und optische Gitterschwingungen


Im Frequenzband ω− schwingen nach (5.2.38) die benachbarten Massen M 1 und M 2 in
Phase, genauso wie es bei akustischen Wellen der Fall ist. Wir bezeichnen deshalb dieses
Frequenzband als den akustischen Zweig des Frequenzspektrums. Je nachdem, ob die Ato-
me parallel oder senkrecht zur Ausbreitungsrichtung der Welle schwingen, unterscheiden
wir zwischen longitudinal akustischen und transversal akustischen Schwingungen (siehe
Abb. 5.9). Für diesen Zweig wird ferner für q → 0 die Ausbreitungsgeschwindigkeit der
Wellen konstant. Der akustische Zweig beschreibt hier die dispersionslose Ausbreitung von
Schallwellen.
Im Frequenzband ω+ schwingen die Atome nach (5.2.37) gegenphasig. Wenn die Gitterato-
me wie z. B. bei Ionenkristallen entgegengesetzte Ladung haben, so treten bei dieser Schwin-
gungsform starke elektrische Dipolmomente auf, die sich im optischen Verhalten des Kris-
talls bemerkbar machen. Wir bezeichnen deshalb dieses Frequenzband als den optischen
Zweig des Frequenzspektrums. Je nachdem, ob die Atome parallel oder senkrecht zur Aus-
breitungsrichtung der Welle schwingen, unterscheiden wir wiederum zwischen longitudinal
optischen und transversal optischen Schwingungen. Wir werden auf diese Schwingungen
im Zusammenhang mit der Diskussion der dielektrischen Eigenschaften von Festkörpern
später zurückkommen. Wir können jetzt auch das Ergebnis (5.2.36) einfach interpretieren.
Für q = 0 sind die Auslenkungen der Atome in jeder Gitterzelle identisch. Die Untergitter
der schweren und leichten Atome schwingen bei der optischen Schwingung gegeneinander.
In diesem Fall können wir das Problem auf ein System von zwei Massen mit Kraftkonstan-
te 2 f und reduzierter Masse 1/μ = 1/M 1 + 1/M 2 reduzieren. Daraus ergibt sich sofort die
Beziehung (5.2.36).

longitudinal akustisch

longitudinal optisch

transversal akustisch

transversal optisch
Abb. 5.9: Longitudinal und
transversal akustische und
optische Gitterschwin-
gungen. Die gepunkteten
Kreise geben die Ruhe-
position der Atome an.

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5.2 Klassische Theorie 197

5.2.4 Gitterschwingungen – dreidimensionaler Fall


Bisher haben wir eindimensionale Fälle diskutiert, indem wir angenommen haben, dass im-
mer ganze Netzebenen ausgelenkt werden. Wir müssen jetzt auch kurz auf den allgemeinen
dreidimensionalen Fall zu sprechen kommen.

5.2.4.1 Einatomige Basis


Für eine Welle mit Wellenvektor q können im Dreidimensionalen 3 unabhängige Schwin-
gungsformen auftreten, die sich hinsichtlich der Auslenkung der Atome bezüglich q, d. h.
bezüglich ihrer Polarisation unterscheiden. Diese drei Schwingungsformen haben im Allge-
meinen unterschiedliche Energie und wir finden für sie 3 Dispersionszweige, einen longi-
tudinal akustischen Zweig und zwei transversal akustische Zweige. Für den longitudinalen
Zweig ist q ∥ u und für die beiden transversalen Zweige ist q ⊥ u. Im Allgemeinen ist die Fre-
quenz des longitudinalen Zweiges größer, d. h. ω L > ω T . Die verschiedenen Moden können
aber auch energetisch entartet sein. So sind z. B. für einen kubischen Kristall die transversa-
len Moden für die [100] und [111] Richtung entartet (siehe Tabelle 4.3).
Wie wir bereits bei der Diskussion elastischer Wellen in Abschnitt 4.6 diskutiert haben, sind
die drei Polarisationen im Allgemeinen nicht exakt parallel oder senkrecht zu q. Dies trifft
nur für bestimmte Ausbreitungsrichtungen zu (z. B. für die [100]-, [110]- und [111]-Rich-
tung in einem kubischen Kristall).

Zonengrenze
6 [100] [110] [111]

L L
Z (10 1/s)

L
4
13

T2
[111]
L
2 * K X
* [100]

X T1 T
[110]

0
0.0 0.5 1.0 q 01.5 0.0 0.5
* X K * L
Abb. 5.10: Phononen-Dispersionsrelationen von Al. Die durchgezogenen und gestrichelten Linien stel-
len mit unterschiedlichen Methoden berechnete
√ 2π Kurven,
√ 2π die Symbole experimentelle Daten dar. Der
Wellenvektor q ist in Einheiten von 2π
a
, 2 a
und 3 a in [100]-, [110]- und [111]-Richtung aufge-
tragen (nach M. A. Coulthard, J. Phys. C: Solid State Phys. 3, 820–834 (1970)).

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198 5 Gitterdynamik

Die Disperisonskurven sind nach wie vor periodisch. Es gilt

ω(q) = ω(q + G) (5.2.47)

und ferner aufgrund der Zeitumkehrsymmetrie

ω(−q) = ω(q) . (5.2.48)

Es genügt deshalb, die Dispersionskurve in einem Oktanten der 1. Brillouin-Zone anzuge-


ben.
Als Beispiel ist in Abb. 5.10 die Dispersionskurve von Al gezeigt. Aluminium hat ein mono-
atomares fcc-Gitter. In der Praxis werden die Dispersionskurven immer entlang von be-
stimmten Richtungen im q-Raum gezeigt. Diese Richtungen werden durch Symbole Γ, X, W,
K, etc. angegeben, die bestimmte Punkte der Brillouin-Zone markieren. Zum Beispiel mar-
kiert Γ das Zentrum der Brillouin-Zone. Im gezeigten Beispiel sehen wir die Dispersionskur-
ve von Al entlang der ΓX-Richtung (entspricht [100]), der ΓK-Richtung (entspricht [110])
und der ΓL-Richtung (entspricht [111]).

5.2.4.2 Mehratomige Basis


Wir haben bereits in Abschnitt 5.2.1 gesehen, dass wir für den allgemeinen Fall einer Basis
mit r Atomen ein homogenes Gleichungssystem erhalten, das nur dann Lösungen besitzt,
wenn die Determinante
βj
det {D α i (q) − ω 2 1}

verschwindet. Diese Gleichung hat genau D ⋅ r Lösungen ω(q) für jeden Wellenvektor q, die
wir als Dispersionszweige bezeichnen. Hierbei ist D die Dimensionalität unseres betrachte-
ten Kristallsystems. Für die Zahl der akustischen und optischen Zweige erhalten wir für ein
dreidimensionales System mit r Atomen pro Gitterzelle:

3 akustische Zweige
(5.2.49)
3r − 3 optische Zweige .

Als Beispiel betrachten wir Silizium. Si besitzt eine Diamantstruktur mit einer zweiatomigen
Basis. Wir erwarten also insgesamt 6 (drei akustische und drei optische) Dispersionszweige.
Ein experimentelles Ergebnis ist in Abb. 5.11 zusammen mit Berechnungen der Dispersi-
onsrelationen gezeigt. Entlang der [100]- und der [111]-Richtung sehen wir aufgrund der
Entartung der tranversalen Zweige nicht 6 sondern nur 4 verschiedene Dispersionszwei-
ge. Entlang der [110]-Richtung haben wir 6 Dispersionszweige vorliegen. Die Übereinstim-
mung von Theorie und Experiment ist in dem gezeigten Beispiel dürftig. Durch das von
Werner Weber vorgeschlagene „adiabatische bond-charge Modell“ wurde eine erhebliche
Verbesserung der theoretischen Modellierung erreicht.13

13
W. Weber, Adiabatic bond charge model for the phonons in diamond, Si, Ge, and α-Sn, Phys. Rev.
B 15, 4789 (1977).

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5.3 Zustandsdichte im Phononenspektrum 199

[100] [110] [111]


TO
15 TO

Z (10 1/s) LO LO
Si
10
12

LA
LA
5

TA TA
0
0.0 0.5 1.0 q 1.5 0.0 0.5
* X K * L
Abb. 5.11: Phononen-Dispersionsrelationen von Si. Die Linien stellen berechnete Dispersionsrelatio-
√ 2π

√ 2πdie Symbole experimentelle Daten dar. Der Wellenvektor q ist in Einheiten von a , 2 a und
nen,
3 a in [100]-, [110]- und [111]-Richtung aufgetragen (Daten aus P. E. Van Camp et al., Phys. Rev.
B 31, 4089 (1985)).

5.3 Zustandsdichte im Phononenspektrum


Wir haben bisher immer unendlich ausgedehnte Festkörper betrachtet. Diese liegen aller-
dings in der Realität nie vor. Alle realen Festkörper sind endlich groß und besitzen eine Ober-
fläche. Eine wichtige Folge davon ist, dass nicht alle Wellenvektoren im Bereich − πa ≤ q ≤ + πa
zulässig sind. Die mit den endlichen Abmessungen des Kristalls verbundenen Randbedin-
gungen bewirken, dass nur eine bestimmte Anzahl von Wellenvektoren möglich ist. Wir
wollen hier die Frage beantworten, wie viele Wellenvektoren pro Volumen im Impulsraum
erlaubt sind. Die Beantwortung dieser Frage führt uns auf den Begriff der Zustandsdichte.
Die Tatsache, dass wir in einem endlichen System nur eine endliche Zahl von Schwingungs-
frequenzen haben, kennen wir bereits aus der klassischen Mechanik, wo wir gelernt haben,
dass in einem System aus N schwingenden Massen nur 3N Eigenfrequenzen existieren. Wir
erwarten also, dass die Zahl der Atome im Festkörper die Zahl der Schwingungsfrequenzen
bestimmt. Andererseits sollte die genaue Form der Randbedingung, mit der wir der Endlich-
keit des Systems Rechnung tragen, für einen makroskopischen Festkörper (N ist sehr groß)
keine Rolle spielen. Daraus können wir folgern, dass wir die Randbedingungen so wählen
können, dass die mathematische Beschreibung möglichst bequem wird. Dies führt uns zu
den periodischen oder zyklischen Born–von Karman Randbedingungen.

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200 5 Gitterdynamik

a
M

x0 = 0 x1 x2 x3 xN-3 xN-2 xN-1 xN = Na

Abb. 5.12: Endliche, eindimensionale Atomkette, bestehend aus N + 1 Atomen mit Abstand a und
N Federn. Das 0. und N. Atom sind fixiert, so dass nur N − 1 Atome übrig bleiben, die schwingen
können.

5.3.1 Randbedingungen
5.3.1.1 Eindimensionaler Fall: feste Oberfläche
Wir beginnen unsere Betrachtung mit der Diskussion einer eindimensionalen Kette von Ato-
men mit Abstand a, die durch Federn verbunden sind. Das erste und das letzte Atom soll
dabei, wie in Abb. 5.12 gezeigt ist, fixiert sein. Wir verwenden folgende Bezeichnungen:

Atomposition im Gleichgewicht: x n = na , n = 0, 1, 2, 3, . . . , N
Auslenkungen: un
Länge der Kette: L = Na
Anzahl der Atome: N +1

Als Lösungsansatz der Bewegungsgleichung setzen wir eine Linearkombination von nach
links und rechts laufenden ebenen Wellen an:

u n = A 1 e ı(qna−ωt) + A 2 e−ı(qna+ωt) . (5.3.1)

Die Randbedingungen lauten

u n (0) = u n (Na) = 0 . (5.3.2)

Die erste Randbedingung u 0 = u n (0) = 0 liefert uns A 1 = −A 2 . Damit erhalten wir

u n = 2ıA 1 sin(qna)e−ı ωt . (5.3.3)

Die zweite Randbedingung u N = 0 liefert

sin(qNa) = 0 oder qNa = pπ (p ganzzahlig) . (5.3.4)

Wenn wir den Wellenvektor q wie bisher auf die 1. Brillouin-Zone beschränken, finden wir
wegen q ≤ πa folgenden Satz von erlaubten Wellenvektoren:14

π p π
q= = p, p = 0, 1, 2, 3, . . . , N . (5.3.5)
a N L
Mit diesem Satz von Wellenvektoren ergibt sich nur eine beschränkte Zahl von möglichen
Schwingungsfrequenzen bzw. Schwingungszuständen, die wir auch als Schwingungsmoden
14
Hinweis: −q taucht nicht auf, da wir es mit stehenden Wellen zu tun haben.

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5.3 Zustandsdichte im Phononenspektrum 201

bezeichnen. Wir müssen nun die Anzahl der möglichen Schwingungsmoden bestimmen.
Dazu betrachten wir (5.3.3)
p=0 q=0 → ⇒ un = 0
π (5.3.6)
p=N → q= ⇒ u n = sin πn = 0 für alle n .
a
Wir sehen also, dass wir für p = 0 und p = N keinen Schwingungszustand erhalten. Damit
ist die Anzahl der Schwingungsmoden gleich N − 1, also gleich der Zahl der schwingen-
den Atome (das 0. und N. Atom sind ja fixiert). In Abb. 5.13 sind als Beispiel die möglichen
Schwingungsmoden für ein System mit N = 3, also N − 1 = 2 schwingenden und zwei fixier-
ten Atomen gezeigt.

p=3 keine Schwingung

p=2

Schwingungsmoden

p=1 Abb. 5.13: Mögliche Schwingungs-


moden für eine Atomkette aus
N + 1 = 4 Atomen. Das 0. und
p=0 keine Schwingung 3. Atom sind fixiert, so dass nur
a N − 1 = 2 Atome schwingen können.

5.3.1.2 Eindimensionaler Fall: Periodische Randbedingungen


Wir können statt der Randbedingungen (5.3.2) auch periodische Randbedingungen fordern:
u n = u n+N . (5.3.7)
Diese Randbedingung können wir uns am einfachsten anhand einer eindimensionalen Ket-
te plausibel machen. Für genügend große N ändert sich physikalisch nichts, wenn wir die
Kette zu einem Kreis biegen und an den Enden zusammenfügen. Da sich in diesem Fall alle
N Atome bewegen können, erwarten wir N Schwingungsmoden. Mit dem Lösungsansatz
u n = A e ı(q pa−ωt) = A e ı(qR n −ωt) , (5.3.8)
wobei R n = na ein Bravais-Gittervektor ist, erhalten wir aus der Randbedingung
e ı qN a = 1 ⇒ qNa = p 2π mit p = ganzzahlig . (5.3.9)
Beschränken wir wiederum q auf die 1. Brillouin-Zone, so finden wir
2π p 2π N N
q= = p mit − <p≤+ . (5.3.10)
a N L 2 2
Dies sind, wie erwartet, N mögliche Wellenvektoren.15 Falls wir statt einer einatomigen Ba-
sis eine Basis mit r Atomen vorliegen haben, so ergibt sich das obige Ergebnis für jeden
15
Hinweis: Das <-Zeichen taucht auf, da wir am Zonenrand für q = π/a stehende Wellen erhalten,
so dass die Lösungen für q = ± πa identisch sind. Für alle anderen Werte von q sind ±q anhand der
Ausbreitungsrichtung unterscheidbar.

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202 5 Gitterdynamik

einzelnen Dispersionszweig. Wir erhalten somit insgesamt r ⋅ N Schwingungsmoden, wobei


N nun die Zahl der Bravais-Gitterpunkte ist.
Wir wollen nun noch die Frage beantworten, wie viele Wellenvektoren pro Volumen des
Impulsraums erlaubt sind. Im Impulsraum erhalten wir nach (5.3.10) eine Folge von äqui-
distanten erlaubten Wellenvektoren (siehe Abb. 5.14). Im Intervall Δq = πa − −π
a
= 2π
a
liegen
offenbar N Zustände. Da diese äquidistant sind, erhalten wir die so genannte Zustands-
dichte Z(q) im q-Raum zu

Anzahl der Zustände N Na L


Z(q) = = = = . (5.3.11)
zugehöriges q-Raum-Volumen 2π/a 2π 2π

Wir sehen also, dass im eindimensionalen q-Raum jeder Zustand das Volumen 2π/L ein-
nimmt.

Abb. 5.14: Zustände im ein- q


dimensionalen Impulsraum. -S/a 2S/L 0 +S/a

5.3.1.3 Dreidimensionaler Fall: periodische Randbedingungen


Wir betrachten jetzt einen Kristall mit den primitiven Gittervektoren a1 , a2 und a3 und den
Seitenlängen N 1 ∣a1 ∣, N 2 ∣a2 ∣ und N 3 ∣a3 ∣. Die Zahl der Gitterpunkte ist dann N = N 1 ⋅ N 2 ⋅ N 3 .
Betrachten wir ein Gitter mit einer einatomigen Basis, so können wir die Positionen der Ato-
me mit den Bravais-Gittervektoren R angeben. Ist die Auslenkung des Atoms an der Posi-
tion R durch u(R) gegeben, so können wir die periodischen Randbedingungen schreiben
als

u(R) = u(R + N i a i ) i = 1, 2, 3 . (5.3.12)

Mit dem Lösungsansatz

u(R) = Ae ı(q⋅R−ωt) (5.3.13)

erhalten wir dann

u(R + N i a i ) = Ae ıq⋅R e ıq⋅a i N i e−ı ωt = u(R) e ıq⋅a i N i . (5.3.14)

Es muss also gelten

N i a i ⋅ q = 2πp i , i = 1, 2, 3 und p i = ganzzahlig . (5.3.15)

Da N i a i ein Bravais-Gittervektor ist, folgt aus dieser Beziehung sofort, dass q ein reziproker
Gittervektor sein muss (vergleiche hierzu (2.1.16)). Wir können dann q durch die primitiven
reziproken Gittervektoren b1 , b2 und b3 ausdrücken:

q = hb1 + kb2 + ℓb3 . (5.3.16)

Da

a i ⋅ b j = 2πδ i j (5.3.17)

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5.3 Zustandsdichte im Phononenspektrum 203

gilt, folgt aus (5.3.15)


p1 p2 p3
h= , k= , ℓ= (5.3.18)
N1 N2 N3
und damit für die erlaubten Wellenvektoren
p1 p2 p3
q= b1 + b2 + b3 . (5.3.19)
N1 N2 N3

Beschränken wir uns wiederum auf die 1. Brillouin-Zone, so ergibt sich (für ungerades N i )

Ni − 1
p i = 0, ±1, ±2, . . . , ± . (5.3.20)
2
Dies ergibt N 1 ⋅ N 2 ⋅ N 3 = N Schwingungsmoden.
Dehnen wir die obige Betrachtung auf ein dreidimensionales Gitter mit einer aus r Atomen
bestehenden Basis aus, so erhalten wir das allgemeine Ergebnis:

In einem dreidimensionalen Gitter mit einer aus r Atomen bestehenden Basis sind 3r ⋅ N
Schwingungsmoden möglich. Dies entspricht genau N Schwingungsmoden pro Disper-
sionszweig.

5.3.2 Zustandsdichte im Impulsraum


Um die Zustandsdichte für ein dreidimensionales System abzuleiten, benutzen wir, dass das
Volumen der 1. Brillouin-Zone durch
(2π)3 (2π)3
Ω BZ = = (5.3.21)
a1 ⋅ (a2 × a3 ) VWS

gegeben ist, wobei VWS = a1 ⋅(a2 ×a3 ) das Volumen der Wigner-Seitz-Zelle ist. Nach (5.3.20)
liegen in Ω BZ genau N = N 1 ⋅ N 2 ⋅ N 3 Zustände, die wiederum äquidistant sind (pro Rich-
tungen b i ). Das q-Raum Volumen eines einzelnen Zustands ist damit

Ω BZ (2π)3 (2π)3
= = (5.3.22)
N N ⋅ VWS V
und wir erhalten die Zustandsdichte im q-Raum zu

V
Z(q) = . (5.3.23)
(2π)3

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204 5 Gitterdynamik

5.3.3 Zustandsdichte im Frequenzraum


Wir werden später sehen, dass wir häufig Summen der Form

∑ F[ω r (q)] = ∑ ∫ d q Z(q) F[ω r (q)]


3
(5.3.24)
q,r r
1. BZ

berechnen müssen. Dabei läuft der Index r über alle Dispersionszweige und wir haben die
Summation über q bereits durch eine Integration über die 1. Brillouin-Zone ersetzt. Dies ist
immer dann möglich, wenn wir es mit großen Festkörpern (also großen N) zu tun haben, so
dass die Zustände im q-Raum sehr dicht liegen (∝ 2π/L i ). Häufig möchte man die Summa-
tion über alle q-Zustände in eine Summation bzw. Integration über Frequenzen überführen.
Dazu schreiben wir, was wir immer tun können, formal
ω max

∑ ∫ d q Z(q) F[ω r (q)] = ∫ dω F(ω) D(ω)


3
(5.3.25)
r ω min
1. BZ

Dabei gilt, wie wir leicht durch Einsetzen überprüfen können

D(ω) = ∑ ∫ d 3 q Z(q) δ(ω − ω r (q)) . (5.3.26)


r
1. BZ

Wir wollen uns zunächst die Bedeutung der Zustandsdichte im Frequenzraum anhand ei-
ner eindimensionalen Dispersion ω(q) klarmachen (siehe hierzu Abb. 5.15). Die konstante
Zustandsdichte im q-Raum übersetzt sich über eine nichtlineare Dispersionskurve ω(q) in
eine Zustandsdichte D(ω), wobei
Z(q)dq = D(ω)dω (5.3.27)
gilt. Offenbar ist D(ω) nicht konstant. Wir sehen, dass D(ω) groß ist, wo ω(q) flach verläuft
und umgekehrt. Wir wollen ferner darauf hinweisen, dass immer
ω max

N = ∫ d 3 q Z(q) = ∫ dω D(ω) (5.3.28)


1. BZ ω min

gelten muss.

Z
Zmax
D(Z)
groß dZ

dZ
Abb. 5.15: Zur Veranschau- D(Z)
lichung der Ableitung der klein
Zustandsdichte im Fre- dq dq
quenzintervall mit Hilfe der Zmin q
Dispersionsrelation ω(q). 0 2S/L S/a

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5.3 Zustandsdichte im Phononenspektrum 205

qy

Z +'Z = const

dq
qx Z = const
dSq
erlaubte
Zustände

Abb. 5.16: Links: Erlaubte Zustände im zweidimensionalen q-Raum sowie q-Raumvolumen (schat-
tiert) zwischen zwei Flächen konstanter Frequenz. Rechts: Zur Herleitung der Zustandsdichte der
Schwingungsmoden im Frequenzintervall zwischen ω(q) und ω(q) + Δω(q).

Wir wollen nun einen allgemeinen Ausdruck für die Zustandsdichte D(ω) ableiten. Hier-
zu betrachten wir nur einen Dispersionszweig ω(q). Wir bestimmen zuerst die Anzahl der
Schwingungszustände im Frequenzintervall zwischen ω und ω + Δω für diesen einzelnen
Dispersionszweig. Für genügend große N sind die Zustände im q-Raum dicht gepackt, so
dass wir von einer quasi-kontinuierlichen Verteilung ausgehen können. Wir können dann
die Zahl der Zustände in einem Frequenzintervall dω dadurch bestimmen, indem wir über
das Volumen des q-Raumes, das von den beiden Flächen ω(q) und ω(q) + Δω(q) begrenzt
wird (in Abb. 5.16 würde dies der schattierten Fläche entsprechen), integrieren und mit der
Zustandsdichte Z(q) des q-Raumes multiplizieren. Wir erhalten
ω(q)+Δω(q) q(ω+Δω)
V
∫ D(ω)dω ≃ D(ω)Δω = ∫ d3q . (5.3.29)
(2π)3
ω(q) q(ω)

Die genaue Form der Fläche ω(q) = const wird dabei durch die Dispersion ω(q) bestimmt.
Im einfachsten Fall einer linearen Dispersion ω(q) = v s ∣q∣ erhalten wir eine Kugeloberfläche.
Zur Ausführung der Integration in (5.3.29) setzen wir d 3 q = dS q dq⊥ , wobei dS q ein
Flächenelement der Fläche ω(q) = const und dq⊥ der jeweilige Abstand der Fläche
ω(q) + Δω(q) = const von der Fläche ω(q) = const ist (siehe hierzu Abb. 5.16). Mit
Δω = ∣∇q ω(q)∣dq⊥ können wir d 3 q schreiben als16
dS q
d 3 q = dS q dq⊥ = Δω (5.3.30)
∣∇q ω(q)∣
und erhalten damit

V dS q
D(ω) = ∫ . (5.3.31)
(2π)3 ∣∇q ω(q)∣
ω=const

Dies ist der gewünschte allgemeine Ausdruck für die Zustandsdichte. Das Integral erstreckt
sich hierbei im q-Raum über die Fläche ω(q) = const. Wir können die Zustandsdichte D(ω)
16
Man beachte, dass ∣∇q ω(q)∣ die Änderung von ω senkrecht zur Fläche ω = const darstellt.

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206 5 Gitterdynamik

berechnen, falls wir die Dispersionsrelation ω(q) kennen. Wir sehen, dass die Zustandsdich-
te für diejenigen Frequenzwerte besonders hoch ist, für die die Gruppengeschwindigkeit
∇q ω(q) klein ist. Für ∇q ω(q) = 0 tritt im Integrand von (5.3.31) eine Singularität auf. Diese
wird als van Hove Singularität bezeichnet.

Zustandsdichte eines isotropen Mediums: Als Beispiel berechnen wir die Zustandsdichte
eines isotropen Mediums mit einer einatomigen Basis (nur akustische Zweige) mit Schallge-
schwindigkeit v L für die londitudinalen und v T für die beiden transversalen Moden. Da wir
ω L = v L q bzw. ω T = v T q vorliegen haben, ist für jeden Dispersionszweig die Fläche ω(q) =
const eine Kugel mit Radius q und es gilt ∣∇q ω i (q)∣ = v i für die drei Dispersionszweige. Das
Oberflächenintegral in (5.3.31) ist deshalb gerade 4πq 2 und wir erhalten für jeden Disper-
sionszweig
V q2 V ω2
D i (ω) = = . (5.3.32)
2π 2 v i 2π 2 v i3
Für die gesamte Zustandsdichte der 3 Zweige ergibt sich
V 1 2
D(ω) = ( + ) ω2 . (5.3.33)
2π 2 v L3 v T3
Wir sehen, dass die Zustandsdichte proportional zu ω 2 zunimmt. Dieses Ergebnis gilt auch
für nicht-isotrope Festkörper im Bereich kleiner q, wo die Dispersionsrelation gut durch
eine lineare Beziehung angenähert werden kann.

Zustandsdichte niederdimensionaler Systeme: Bei der Herleitung von (5.3.31) sind wir
von einem dreidimensionalen Festkörper ausgegangen. Wir können dieses Ergebnis aber
leicht auf den zweidimensionalen Fall erweitern. Wir gehen wieder von
ω(q)+Δω(q) q(ω+Δω)
(2) (2) A
∫ D (ω)dω ≃ D (ω)Δω = ∫ d2q (5.3.34)
(2π)2
ω(q) q(ω)

aus, wobei D(2) (ω) die Zustandsdichte im Frequenzraum eines 2D-Systems ist und wir
Z (2) (q) = A/(2π)2 benutzt haben. Wir schreiben d 2 q = dL q dq⊥ , wobei dL q jetzt ein in-
finitesimales Element der Linie ω(q) = const und dq⊥ der senkrechte Abstand der Linie
ω(q) + Δω(q) = const von der Linie ω(q) = const ist. Wir benutzen ferner d 2 q = dL q dq⊥ =
d Lq
∣∇q ω(q)∣
Δω und erhalten damit

A dL q
D(2) (ω) = ∫ . (5.3.35)
(2π)2 ∣∇q ω(q)∣
ω=const

Für ein isotropes Medium sind die Linien ω(q) = const Kreise mit Radius q und es gilt fer-
ner ∣∇q ω i (q)∣ = v i für die beiden Dispersionszweige. Das Integral in (5.3.35) ergibt deshalb
gerade 2πq und wir erhalten für jeden Dispersionszweig
(2) A q A ω
D i (ω) = = . (5.3.36)
2π v i 2π v i2

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5.4 Quantisierung der Gitterschwingungen 207

Für die gesamte Zustandsdichte der beiden Zweige ergibt sich

A 1 1
D (2) (ω) = ( + )ω . (5.3.37)
2π v L2 v T2

Wir erhalten also für zweidimensionale Systeme ein lineares Ansteigen der Zustandsdichte
mit der Wellenzahl bzw. mit der Frequenz.
Für den eindimensionalen Fall ergibt sich analog

L dPq
D(1) (ω) = ∫ , (5.3.38)
(2π) ∣∇q ω(q)∣
ω=const

wobei jetzt dPq nur noch ein Punktelement ist. Für ein isotropes Medium stellt ω(q) = const
gerade zwei Punkte dar und das Integral in (5.3.38) ergibt deshalb gerade 2. Da wir es nur
noch mit einem longitudinalen Dispersionszweig zu tun haben, erhalten wir

L 2
D (1) (ω) = . (5.3.39)
2π v L
Die Zustandsdichte ist also unabhängig von der Wellenzahl bzw. Frequenz.

5.4 Quantisierung der Gitterschwingungen


Bisher haben wir die Dynamik des Kristallgitters rein klassisch behandelt. Wir haben als
wesentliches Ergebnis erhalten, dass es Eigenfrequenzen ω r (q) gibt, wobei q die erlaubten
Wellenvektoren und r die Polarisationsrichtungen sowie die anderweitigen optischen Di-
spersionszweige durchnummerieren. Wir können deshalb den Kristall als Summe von har-
monischen Oszillatoren mit Eigenfrequenzen ω r (q) auffassen. Wir wollen in diesem Ab-
schnitt nun zu einer quantenmechanischen Beschreibung übergehen.

5.4.1 Das Quantenkonzept


Max Planck stellte im Jahr 1901 fest, dass das Frequenzspektrum eines schwarzen Strah-
lers nur dann erklärbar ist, wenn man annimmt, dass Strahlungsenergie der Frequenz ω
nur in Portionen ħω emittiert oder absorbiert wird.17 Hierbei ist ħ = 1.054 571 596 (82) ×

17
Es war am 14. Dezember 1900, als Max Planck in einem Vortrag vor der Deutschen Physikalischen
Gesellschaft in Berlin seine Formel zur Beschreibung des Spektrums eines schwarzen Strahlers prä-
sentierte. Bei der Ableitung dieser Formel musste Planck, wie er damals selbst sagte, „in einem Akt
der Verzweiflung“ die Quantisierung der Strahlungsmoden annehmen. Diese Quantenhypothese
Plancks bedeutete gleichzeitig die Geburtsstunde der modernen Quantentheorie und damit einen
der größten Fortschritte der Physik.
M. Planck: Zur Theorie des Gesetzes der Energieverteilung im Normalspektrum, Verhandlungen der
Deutschen physikalischen Gesellschaft 2 (1900) Nr. 17, S. 245, Berlin.

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208 5 Gitterdynamik

10−34 Js das Plancksche Wirkungsquantum. Mit Hilfe dieser Quantenhypothese konnte Max
Planck das nach ihm benannte Plancksche Strahlungsgesetz (zur Herleitung vergleiche Ab-
schnitt 6.1.7)
ħ ω3
u(ω, T) = (5.4.1)
c 3 π 2 exp(ħω/k B T) − 1
ableiten, das die spektrale Energiedichte u(ω) pro Kreisfrequenzintervall dω = 2πdν eines
Hohlraumes bei der Temperatur T beschreibt.
Ein völlig analoges Quantenkonzept kann für das Frequenzspektrum von Gitterschwin-
gungen eingeführt werden. Die Ausdehnung des Quantenkonzepts auf die atomare Kinetik
erfolgte sehr bald durch Albert Einstein (1907) und Peter Debye. Historisch wurde das
Quantenkonzept im Zusammenhang mit elektromagnetischer Strahlung eingeführt. Dies
lag sicherlich daran, dass der experimentelle Stand bei der Untersuchung des Spektrums
elektromagnetischer Strahlung zu dieser Zeit bereits auf einem hohen Niveau war und
deshalb sehr genaue experimentelle Ergebnisse vorlagen.

5.4.2 Phononen
5.4.2.1 Quantentheorie für harmonische Kristalle
Wir wollen nun kurz aufzeigen, wie in harmonischer Näherung Gitterschwingungen mit
Hilfe der Quantentheorie beschrieben werden können. Bei der mathematischen Behand-
lung der Schwingungen eines Systems miteinander gekoppelter Oszillatoren führt man ge-
wöhnlich durch eine lineare Transformation so genannte Normalkoordinaten ein (siehe An-
hang A). Diese erlauben dann innerhalb der harmonischen Näherung die Aufstellung von
Bewegungsgleichungen völlig entkoppelter Oszillatoren. Das Frequenzspektrum der Nor-
malschwingungen der ungekoppelten harmonischen Oszillatoren entspricht dabei demje-
nigen der Eigenschwingungen des Systems der miteinander gekoppelten Oszillatoren. Die
Normalkoordinaten können natürlich nicht mehr wie die Auslenkungen u den einzelnen
Gitteratomen zugeordnet werden.
Die Eigenenergien bzw. Eigenfrequenzen der Normalschwingungen sind durch die Eigen-
werte des harmonischen Hamilton-Operators
1 2
Hharm = T + U elharm = ∑ P (rnα ) + U elharm (5.4.2)
n,α 2M α

gegeben. Hierbei ist T die kinetische Energie der Gitteratome und U elharm die harmonische
Näherung (5.1.13) des in adiabatischer Näherung erhaltenen Potenzials der elektronischen
Wechselwirkungen. Die Methode, wie diese Eigenwerte bestimmt werden können, ist in An-
hang A beschrieben. Das dort erhaltene Ergebnis ist sehr plausibel. Um die Energieniveaus
eines aus N Atomen bestehenden Kristalls zu spezifizieren, betrachten wir ihn als System von
3N unabhängigen Oszillatoren, deren Frequenzen denjenigen der 3N klassischen Schwin-
gungsmoden entsprechen, die wir in Abschnitt 5.3 diskutiert haben. Ein bestimmter Schwin-
gungszustand der Frequenz ω r (q) kann nun nur die diskreten Energiewerte
(n qr + 12 ) ħω r (q) , n qr = 0, 1, 2, 3, . . . (5.4.3)

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5.4 Quantisierung der Gitterschwingungen 209

annehmen. Hierbei ist n qr die Besetzungszahl der Normalschwingung mit Wellenvektor q


im Dispersionszweig r. Ein Zustand des gesamten Kristalls ist dann dadurch spezifiziert, dass
wir die Besetzungszahlen für alle der 3N Normalschwingungen angeben. Die Gesamtenergie
ergibt sich dann aus der Summe der Energien der individuellen Moden zu

E = ∑ (n qr + 12 ) ħω r (q) . (5.4.4)
qr

Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass die oben diskutierten Normalschwingungen nicht
den lokalisierten Schwingungen einzelner Gitteratome zugeschrieben werden können. Viel-
mehr tragen alle Atome des Gitters zu einer Schwingung bei. Das heißt, die Schwingung
beschreibt einen bestimmten Anregungszustand des gesamten Gitters.

5.4.2.2 Normalschwingungen vs. Phononen


Das Ergebnis (5.4.4) kann im Rahmen einer Besetzungszahl n qr einer Normalschwingung
mit Wellenvektor q im Dispersionszweig r interpretiert werden. Diese Nomenklatur ist aller-
dings oft ungeschickt, insbesondere wenn wir Prozesse beschreiben wollen, bei denen Ener-
gie zwischen den Normalmoden oder zwischen Normalmoden und anderen Systemen aus-
getauscht wird. Es ist deshalb üblich, die Bezeichnungsform Normalschwingung durch eine
äquivalente, aus dem Teilchenbild abgeleitete Bezeichnung zu ersetzen. Einer Schwingung
mit Frequenz ω und Wellenvektor q können wir ja im Sinne des Teilchen-Welle-Dualismus
ein Teilchen zuordnen. Dieses Teilchen nennen wir Phonon:

Phononen sind die Quanten des Auslenkungsfeldes in einem Kristall. Sie können als Teil-
chen mit Impuls p = ħq und Energie E = ħω aufgefasst werden.

Der Term „Phonon“ betont die Analogie zu Photonen. Letztere sind die Quanten des elek-
tromagnetischen Strahlungsfeldes, welche im geeigneten Frequenzbereich Lichtwellen be-
schreiben. Erstere sind die Quanten des Auslenkungsfeldes in einem Kristall, die im geeig-
neten Frequenzbereich Schallwellen beschreiben. Gitterschwingungen im Teilchenbild zu
betrachten ist in der Festkörperphysik üblich. Auch anderen Wellen, wie z. B. Spinwellen,
werden Teilchen, z. B. Magnonen, zugeordnet.
Eine offensichtliche Frage, die sich aufwirft, betrifft die Übersetzung der Tatsache, dass eine
Schwingung in verschieden angeregten Zuständen (entspricht unterschiedlichen Amplitu-
den) n qr vorliegen kann, in das Teilchenbild. Die einfache Antwort ist, dass wir sagen, dass
wir n qr Phononen des Typs r mit Wellenvektor q im Kristall vorliegen haben. Man sagt auch,
dass der Oszillator mit Frequenz ω qr von n qr Phononen besetzt ist. Je höher also eine Schwin-
gung angeregt ist, desto mehr dieser Schwingung entsprechende Phononen sind vorhanden.
Es sei hier auch darauf hingewiesen, dass in völliger Analogie mit Photonen die Anzahl der
Phononen nicht erhalten ist. Wir erwarten zum Beispiel, dass bei hohen Temperaturen die
Zahl der Phononen größer ist als bei tiefen.

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210 5 Gitterdynamik

5.4.3 Der Impuls von Phononen


Wir haben dem Phonon formal einen Impuls ħq zugeordnet. Dies ist sehr praktisch, wenn
wir die Wechselwirkung eines Phonons mit anderen Teilchen wie Photonen, Neutronen,
Elektronen, etc. betrachten. Wir müssen uns allerdings die Frage stellen, ob dieser Impuls
wirklich existiert bzw. ob er eine physikalische Bedeutung besitzt.
Durch eine sehr einfache Überlegung können wir folgern, dass Phononen keinen wirkli-
chen Impuls haben können. Die Phonon-Koordinate enthält nämlich (außer für q = 0) nur
relative Atomkoordinaten. Vergleichen wir die Situation mit der eines H2 -Moleküls. Hier
ist die Koordinate r1 − r2 der Relativschwingung auch eine relative Koordinate, die keinen
linearen Impuls trägt. Die Schwerpunktskoordinate 12 (r1 + r2 ) entspricht dagegen der uni-
formen Mode q = 0 und kann einen linearen Impuls haben.
Wir können unsere Überlegung vertiefen und den Impuls eines eindimensionalen Kristalls
aus N Atomen mit Abstand a berechnen, in dem ein Phonon mit Impuls q angeregt ist. Es
gilt

d N−1
P=M ∑ u p (t) . (5.4.5)
dt p=0

Mit u p (t) = Ae ı q pa−ωt erhalten wir

N−1 [1 − e ı qN a ]
P = −ıωMAe−ı ωt ∑ e ı q pa = −ıωMAe−ı ωt . (5.4.6)
p=0 [1 − e ı qa ]

Hierbei haben wir die Identität ∑ N−1


p=0 x = (1 − x )/(1 − x) ausgenutzt.
p N

Wir haben in Abschnitt 5.3.1 gezeigt, dass q nur ganz bestimmte Werte annehmen kann, und
zwar q = ±(2π/Na)n, wobei n eine ganze Zahl ist. Wir erhalten deshalb eı qN a = e±ı2πn = 1.
Damit folgt aus (5.4.6) sofort
N−1
P = −ıωMAe−ı ωt ∑ e ı q pa = 0 . (5.4.7)
p=0

Die einzige Ausnahme bildet die uniforme Mode q = 0, für die alle Auslenkungen u p = u
gleich sind, so dass P = N M du/dt. Diese Mode entspricht einer gleichförmigen Translation
des gesamten Kristalls, die natürlich einen endlichen Impuls besitzt.
Wir können auch anders argumentieren, wenn wir die Symmetrieeigenschaften des Hamil-
ton-Operators in Betracht ziehen. Es gilt ganz allgemein, dass aus jeder Symmetrieeigen-
schaft des Hamilton-Operators eine Erhaltungsgröße folgt. So folgt aus der Translationsin-
varianz die Impulserhaltung, aus der Drehinvarianz die Drehimpulserhaltung etc. Das von
uns betrachtete Kristallgitter besitzt nun keine Translationsinvarianz, sondern nur eine dis-
krete Translationsinvarianz bei Verschiebung um einen Bravais-Gittervektor. Wir erwarten
also, dass eine Impulserhaltung gelten sollte, allerdings in einer gegenüber Systemen mit
allgemeiner Translationsinvarianz abgeschwächten Form. Dies ist in der Tat der Fall. Wir

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5.5 Experimentelle Methoden 211

erinnern uns, dass q und q′ = q + G identische Zustände sind, wenn G ein reziproker Gitter-
vektor ist. Daher ist zu vermuten, dass in einem Kristall mit diskreter Translationsinvarianz
statt ħq nur ħq + ħG erhalten bleibt. Betrachten wir also Streuprozesse im Festkörper, an
denen Phononen beteiligt sind, so gilt die Impulserhaltung nur bis auf einen reziproken Git-
tervektor. Wir können also schreiben

∑ ħk i
vor
= ∑ ħknach
i + ∑ ±ħq i + ħG . (5.4.8)
i i i

In Abb. 5.17 ist ein durch (5.4.8) beschriebener Streuprozess für den Fall einer Phononenver-
nichtung dargestellt. Das einfallende Teilchen mit Wellenvektor k (Photon, Elektron, Neu-
tron) streut mit einem Phonon und vernichtet es. Dadurch wird die Energie des gestreuten
Teilchens erhöht, was sich in einer größeren Länge des Wellenvektors k′ manifestiert. Der
Endpunkt von k′ liegt dann nicht mehr wie bei der elastischen Streuung auf der Ewald-Kugel,
sondern außerhalb. Der Impulsübertrag k′ − k setzt sich aus dem Anteil ħG zusammen, den
der gesamte Kristall aufnimmt, und dem Quasiimpuls ħq des vernichteten Phonons.

Ewald-Kugel
q
k G
kʹ-k
Abb. 5.17: Inelastische Streuung eines Teilchen mit Im-
1. BZ kʹ puls k mit einem Phonon, bei dem das Phonon vernichtet
wird. Der Wellenvektor k′ des gestreuten Teilchens liegt
außerhalb der Ewald-Kugel. Der Streuvektor k′ − k ist
durch die Summe aus Wellenvektor q des Phonons und
reziprokem Gittervektors G gegeben.

Wir können festhalten, dass Phononen im Gegensatz zu Photonen keinen echten Impuls tra-
gen. Trotzdem verhalten sich Phononen in Streuprozessen so, als ob sie den Impuls ħq tragen
würden. Wir bezeichnen die impulsähnliche Größe ħq als Quasiimpuls oder Kristallimpuls.
Tatsächlich ändert sich in einem Streuprozess der Impuls des gestreuten Teilchen, wenn ein
Phonon erzeugt oder vernichtet wird. Allerdings wird der Impulsübertrag vom gesamten
Kristallgitter aufgenommen. Die angeregten oder vernichteten Phononen selbst tragen nicht
zu dessen Gesamtimpuls bei.

5.5 Experimentelle Methoden


Wir wollen zum Abschluss experimentelle Methoden diskutieren, mit denen die Dispersi-
onsrelation von Phononen bestimmt werden kann. Im Allgemeinen werden hierzu inelas-
tische Streuprozesse eingesetzt (siehe Abb. 5.18). Dabei wird eine Sonde mit Energie E k
und Impuls k inelastisch an einem Kristall gestreut, wodurch ein Phonon mit der Ener-
gie E q = ħω q und Wellenvektor q erzeugt oder vernichtet wird. Bei diesem Prozess betrach-

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212 5 Gitterdynamik

k, Ek -

Abb. 5.18: Vektordiagramm


zum inelastischen Streuprozess.

ten wir das Phonon als Teilchen und wir können die Energie und Impulserhaltung schrei-
ben als

E k ′ − E k = ±ħω q
(5.5.1)
k′ − k = ±q + G .

Hierbei sind E k ′ und k′ Energie und Impuls der Sonde nach dem Streuprozess und das + Zei-
chen (− Zeichen) gilt für die Vernichtung (Erzeugung) eines Phonons beim Streuprozess.
Gleichung (5.5.1) gilt auch für elastische Streuprozesse. Hier gilt E k ′ = E k oder ∣k′ ∣ = ∣k∣ und
k′ − k = G. Die Impulserhaltung stellt dann gerade die von-Laue-Bedingung dar.
Aus (5.5.1) wird klar, was in einem Experiment gemessen werden muss. Es muss sowohl die
Energie als auch der Impuls der Sonde vor und nach dem inelastischen Streuprozess gemes-
sen werden. Dann kann mit Hilfe von (5.5.1) die Energie bzw. Frequenz und der Wellenvek-
tor des Phonons bestimmt und daraus die Dispersionsrelation ω(q) abgeleitet werden.
Für die Messsonde können verschiedene Teilchensorten verwendet werden. Allerdings ist
dabei zu beachten, dass unterschiedliche Teilchen unterschiedliche E(k)-Beziehungen be-
sitzen. Dies ist anhand von Abb. 5.19 für Neutronen und Photonen gezeigt. Für diese gilt:

p2 ħ2 k 2
E(k) = = Neutronen ,
2M N 2M N (5.5.2)
E(k) = pc = ħkc Photonen .

Hierbei ist c = 2.997 × 108 m/s die Lichtgeschwindigkeit und M N = 1.67 × 10−27 kg die
Masse des Neutrons.
Abb. 5.19 zeigt, dass die inelastische Streuung von Photonen zur Aufnahme der Dispersions-
relation ω(q) der Phononen nicht gut geeignet ist. Zwar liegt der Wellenvektor bzw. die Wel-
lenlänge von Photonen (z. B. Röntgenquanten) im richtigen Bereich. Wollen wir den Bereich
der 1. Brillouin-Zone abdecken, so brauchen wir Wellenvektoren bis etwa π/a ∼ 108 cm−1 .
Da aber die Lichtgeschwindigkeit in einem Festkörper etwa 105 mal größer als die Schallge-
schwindigkeit ist, unterscheiden sich die Kreisfrequenzen von Röntgenstrahlen und Gitter-
schwingungen bei gleicher Wellenzahl ebenfalls um etwa den Faktor 105 . Die relative Fre-
quenzänderung von Röntgenquanten bei einer Streuung am Kristallgitter ist deshalb nur
sehr gering. Abb. 5.19 zeigt, dass für einen Impulsübertrag von 1 Å−1 = 108 cm−1 eine Pho-
tonenenergie von etwa 1 keV notwendig ist. Um nun die typischen Phononenenergien im
meV-Bereich auflösen zu können, müssen relative Energieänderungen der Lichtquanten im
Bereich von ΔE/E ≃ 10−6 aufgelöst werden. Der Nachweis solch kleiner relativer Energieän-
derungen ist experimentell schwierig. Durch eine stetige Verbesserung der Photonenquel-

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5.5 Experimentelle Methoden 213

4 19
10 10

0 15
10 10
Abb. 5.19: E(k)-Beziehung für Neu-
thermischer Bereich
-4 11 tronen und Photonen. Der Bereich
10 10
thermischer Energien ist grau hin-

Z/1.6 (Hz)
Ek (eV)

-8 7
terlegt. Die rechte Skala zeigt die zur
10 10 Energie äquivalente Frequenz. Einge-
-12
zeichnet ist auch der akustische Zweig
3
10 10 einer Phononendispersionsrelation für
ein Material mit einer Schallgeschwin-
-16 -1
10 10 digkeit von etwa 5000 m/s und einer
Gitterkonstante von 1 Å. Der Rand
10
-20
10
-5 der 1. Brillouin-Zone liegt typischer-
0 3 6 9
10 10 10 10 weise bei einer Wellenzahl im Bereich
k (1/cm) zwischen 108 und 109 cm−1 .

len (Synchrotronstrahlung) wurden aber hier in den letzten Jahren beträchtliche Fortschrit-
te gemacht. Es wurden insbesondere spezielle Systeme entwickelt, die eine Energieauflö-
sung ΔE/E im Bereich von 10−5 bis 10−13 für Röntgenenergien im Energiebereich zwischen
6 und 30 keV besitzen. Mit solchen Systemen können die Phononendispersionsrelationen
von Festkörpern auch mit Hilfe von inelastischer Röntgenstreuung bestimmt werden (siehe
Abb. 5.20).
Für Elektronen besteht das gleiche Problem wie für Photonen. Elektronen haben bei einer
de Broglie-Wellenlänge von etwa 1 Å (d. h. k ∼ 1 Å−1 ) eine Energie von etwa 150 eV (siehe
Abb. 2.17). Deshalb müssen auch hier kleine relative Energieänderungen gemessen werden.
Hinzu kommt noch die geringe Eindringtiefe von Elektronen. Neutronen sind dagegen für
die Analyse der Phononen-Dispersion sehr gut geeignet. Bei einer de Broglie-Wellenlänge
von etwa 1 Å ist die Neutronenenergie in der gleichen Größenordnung wie die Phononen-
energie, so dass die relative Energieänderung groß ist und deshalb einfach gemessen werden
kann.

Analysator

Schlitze Detektor
elastisch
Probe Abb. 5.20: Phononenspek-
C (111)
Undulator Monochromator
tren von Diamant aufge-
Intensität

Monochromator
(hochauflösend)
nommen mit inelastischer
Röntgenstreuung für unter-
schiedliche Impulsüberträge
entlang der Γ − L-Richtung.
Die Energieauflösung des
Analysators betrug etwa
7.5 meV bei einer Rönt-
genenergie von 14 keV
(Daten: Argonne National
Laboratory).

*
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214 5 Gitterdynamik

5.5.1 Inelastische Neutronenstreuung


Wir haben bereits in Abschnitt 2.3 gesehen, dass elastische Streuung von Neutronen zur
Strukturanalyse von Festkörpern herangezogen werden kann, da thermische Neutronen ei-
ne Wellenlänge besitzen, die in der Größenordnung des Gitterabstandes liegt. Aus Abb. 5.19
folgt ferner, dass inelastische Neutronenbeugung auch zur Bestimmung der Phononen-Di-
spersionsrelationen sehr gut geeignet ist, da gleichzeitig auch die Energie bzw. Frequenz der
Neutronen im Frequenzbereich der Gitterschwingungen liegt. Das bedeutet, dass bei einem
inelastischen Streuprozess eine für die Messung genügend große Änderung der Neutronen-
energie entsteht.
In Abb. 5.21 ist der typische experimentelle Aufbau für die inelastische Neutronenbeugung
gezeigt. Zunächst werden die aus einem Reaktor kommenden thermischen Neutronen durch
Bragg-Reflexion an einem Einkristall monochromatisiert. Der monochromatische Neutro-
nenstrahl mit dem Wellenvektor k trifft dann auf die Probe und wird an dieser inelastisch
gestreut. Die unter dem Winkel ϑ an der Probe gestreuten Neutronen werden anschließend
mit Hilfe von Bragg-Reflexion hinsichtlich ihrer Wellenzahl und damit ihrer Energie analy-
siert. Durch den Winkel α wird also k und damit E k bestimmt. Durch den Winkel ϑ wird
die Richtung von k′ und schließlich durch den Winkel β die Länge ∣k′ ∣ des Wellenvektors,
also die Energie E k ′ der in k′ -Richtung gestreuten Neutronen selektiert. Gemäß (5.5.1) gilt
2
ħ2 k′ − k 2
±ħω q = E k ′ − E k = Energieübertrag (5.5.3)
2M N
k′ − k = ±q + G Impulsübertrag . (5.5.4)

Wir können also bei vorgegebenem k durch Messung von k′ und ∣k′ ∣ den Wellenvektor q
und die Energie ħω q der Phononen bestimmen.
Die in Abb. 5.21 gezeigte Anordnung nennt man ein Dreiachsenspektrometer. Für die Ent-
wicklung der Neutronenspektroskopie und -streuung und der damit verbundenen experi-
mentellen Techniken erhielten Bertram N. Brockhouse und Clifford G. Shull im Jahr 1994
den Nobelpreis für Physik.
Der Nachteil der in Abb. 5.21 gezeigten Methode ist die Tatsache, dass aufgrund des für die
Messung notwendigen Monochromators nur ein kleiner Bruchteil des Spektrums der aus
dem Reaktor kommenden Neutronen genutzt werden kann. Dieser Nachteil kann mit Hilfe
einer gepulsten Neutronenquelle beseitigt werden. Hier kann der Monochromator weggelas-
sen werden und es kann deshalb ein Großteil des Neutronenspektrums der Quelle genutzt

Kollimator Monochromator
Analysator
D
Reaktor E

Abb. 5.21: Schematischer Aufbau Probe


eines Dreiachsenspektrometers zur T
inelastischen Neutronenstreuung. Detektor

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5.5 Experimentelle Methoden 215

Bertram N. Brockhouse (1918–2003) und Clifford G. Shull (1915–2001),


Nobelpreis für Physik 1994
Bertram N. Brockhouse und Clifford G.
Shull erhielten im Jahr 1994 den No-
belpreis für Physik für ihre Beiträge zur
Entwicklung der Neutronenstreuung und
-spektroskopie und deren Anwendung in
der Festkörperphysik.
Bertram Neville Brockhouse, geboren am
15. Juli 1918 in Lethbridge, studierte an
der University of British Columbia und
der University of Toronto (Ph. D. 1950).
Er war dann „Research Officer“ (1950– © The Clifford G. Shull
Nobel Foundation.
Bertram N. Brockhouse
59) und Leiter der Neutronenphysikabtei-
lung (1960–62) am Chalk River Laboratory. Er lehrte an der McMaster University (1962–
84). Am Chalk River Laboratory studierte er die Streuung von langsamen Neutronen an
stark absorbierenden Elementen wie Cadmium. Er führte ferner die ersten Experimente
zur inelastischen Neutronenstreuung an Festkörpern durch. Seine bahnbrechenden Arbei-
ten zur Beugung und Spektroskopie mit langsamen Neutronen hatten einen starken Ein-
fluss auf die Theorie und das Verständnis der Physik von Festkörpern und Flüssigkeiten.
Bertram N. Brockhouse starb am 13. Oktober 2003.
Clifford Glenwood Shull, geboren am 23. September 1915 in Pittsburgh, studierte am Car-
negie Institute of Technology (jetzt Carnegie Mellon University) und an der New York Uni-
versity (Ph. D. 1941). Shull gehörte zu den Mitarbeitern der Texas Company (1941–46) und
der Clinton Laboratories (1946–55, nach 1948 Oak Ridge National Laboratory), bevor er
Mitglied der Fakultät am Massachusetts Institute of Technology (1955–86) wurde. In Oak
Ridge zeigte er, dass ein Strahl von Neutronen, der auf einen Festkörper trifft, durch des-
sen Atome gestreut wird und dass ein Beugungsmuster erhalten werden kann, aus dem die
Position der Atome bestimmt werden kann. Clifford G. Shull starb am 31. März 2001 in
Lexington, Massachusetts.

werden. Die Bestimmung der Energie der einfallenden Neutronen erfolgt dann dadurch,
dass man das Signal am Detektor zeitaufgelöst aufnimmt. Da Neutronen unterschiedlicher
Energie wegen E = 12 M n v 2 unterschiedliche Geschwindigkeiten haben, kommen sie am De-
tektor zeitlich versetzt an (Flugzeitspektrometer). Die Energie der Neutronen nach der Streu-
ung wird nach wie vor mit einem Analysatorkristall bestimmt.

5.5.2 Inelastische Lichtstreuung


Wir haben im vorangegangenen Abschnitt bereits darauf hingewiesen, dass mit Röntgen-
licht zwar prinzipiell genügend große Impulsüberträge erreicht werden können, dass aber die
relative Energieänderung eines Röntgenphotons bei einer inelastischen Streuung an einem
Phonon sehr klein ist. Benutzen wir Licht im sichtbaren Bereich, so liegt die Frequenz Ω der

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216 5 Gitterdynamik

1.0

Raman-
0.8 Streuung

≈ 10-3 - 10-4

opt
0.6

Z/ Z0
0.4
Brillouin-
Streuung
0.2

Abb. 5.22: Zur Veranschauli-


chung des bei der Raman- und 0.0
Brillouin-Streuung zugänglichen 0.0 0.2 0.4 0.6 0.8 1.0
Bereichs der 1. Brillouin-Zone. qa /S

Photonen im Bereich zwischen etwa 1015 und 1016 Hz. Dies bedeutet, dass bei einem inelas-
tischen Streuprozess eines Photons (Erzeugung oder Vernichtung eines Phonons mit einer
maximalen Frequenz ω max im Bereich von 1014 Hz) eine relative Frequenzverschiebung des
Photons im Bereich von 1 bis 10% resultiert. Diese kann natürlich mit Spektrometern gut
gemessen werden. Allerdings ändert sich auch der Wellenvektor des Photons nur um den
gleichen Prozentsatz, so dass die maximal erreichbaren Impulsüberträge für den sichtbaren
Spektralbereich nur Δk = k ′ − k ∼ 0.01–0.1 × ω/c sind, also im Bereich von 10−3 –10−4 Å−1
liegen. Da die Ausdehnung der 1. Brillouin-Zone im Bereich von 1 Å−1 liegt, können wir
also mit inelastischer Lichtstreuung nur einen sehr kleinen Teil der Brillouin-Zone abde-
cken (siehe Abb. 5.22). Wir sind also bei der inelastischen Lichtstreuung auf den Bereich
um q = 0 der 1. Brillouin-Zone beschränkt. Es ist üblich, dabei folgende Unterscheidung zu
machen:18 , 19

∎ Raman-Streuung:20
Inelastische Lichtstreuung an optischen Phononen. Da die optischen Phononen für q ≃ 0
hohe Frequenzen haben, ist bei der Raman-Streuung die erforderliche Energieauflösung
moderat.
∎ Brillouin-Streuung:21
Inelastische Lichtstreuung an akustischen Phononen. Da die akustischen Phononen für
q ≃ 0 sehr kleine Frequenzen haben, ist hier eine hohe Energieauflösung erforderlich.

Als Lichtquellen werden heute meist Laser verwendet. Da die Streuintensität proportional
zu Ω 4 ist, werden möglichst kurzwellige Laser verwendet. Diese Abhängigkeit gilt allerdings
nur für Ω ≫ ω q . Für die Raman-Streuung kann aber auch Ω ≃ ω q realisiert werden. Für
diesen Fall ist die Streuintensität stark erhöht, man spricht von resonanter Raman-Streuung.

18
D. A. Long, Raman Spectroscopy, McGraw-Hill, New York (1977).
19
A. Mooradiam, Light Scattering Spectra of Solids, G. B. Wright, ed., Springer, Berlin (1969).
20
Sir Chandrasekhara Venkata Raman, siehe Kasten auf Seite 217.
21
Léon Brillouin, geboren am 7. August 1889 in Sèvres, gestorben am 4. Oktober 1969 in New York.

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5.5 Experimentelle Methoden 217

Für die resonante Raman-Streuung sind durchstimmbare Laser notwendig (z. B. Dye-Laser).
Die Verwendung von extrem monochromatischem Laserlicht in Verbindung mit hochauf-
lösenden optischen Spektrometern (z. B. Fabry-Pérot-Interferometern) ist vor allem für die
Brillouin-Streuung erforderlich, die eine hohe Energieauflösung von bis zu ΔΩ/Ω ∼ 10−8
benötigt.
Da wir bei der inelastischen Lichtstreuung auf das Zentrum der 1. Brillouin-Zone beschränkt
sind, kommt im Erhaltungssatz für den Impuls der reziproke Gittervektor G nicht vor und
wir können für die Energie- und Impulserhaltung schreiben:
±ħω q = ħΩ′ − ħΩ Energieübertrag (5.5.5)
k′ − k = ±q Impulsübertrag . (5.5.6)
Hierbei sind Ω und Ω′ die Kreisfrequenzen des Lichts vor und nach dem Streuprozess.

Sir Chandrasekhara Venkata Raman (1888–1970), Nobelpreis für Physik 1930


Sir Chandrasekhara Venkata Raman wurde am 7. Novem-
ber 1888 in Trichinopoli, Indien geboren. Sein Vater war
Dozent für Mathematik und Physik, so dass er sehr früh
mit naturwissenschaftlichen Fragestellungen in Berührung
kam. Er besuchte das Presidency College, Madras (1902–
1907), wo er seinen Bachelor- und Master-Abschluss mach-
te.
Raman wurde zunächst Beamter am Indian Finance De-
partment, da damals eine wissenschaftliche Karriere ein
großes Risiko darstellte. Er experimentierte aber in seiner
Freizeit in den Labors der Indian Association for the Culti-
vation of Science in Kalkutta.
Im Jahr 1917 wurde ihm der neue „Palit Chair of Physics“ an
der Kalkutta University angeboten, den er auch akzeptierte. © The Nobel Foundation.
Nach 15 Jahren in Kalkutta wurde er dann Professor am In-
dian Institute of Science in Bangalore (1933–1948) und schließlich nach 1948 Direktor des
Raman Institute of Research in Bangalore, das nach ihm benannt wurde. Er gründete im
Jahr 1926 das Indian Journal of Physics und unterstützte die Gründung der Indian Acade-
my of Sciences, deren Gründungspräsident er wurde.
Raman beschäftigte sich anfangs mit der Theorie von Musikinstrumenten (hauptsächlich
Streichinstrumenten), wozu er 1928 einen Artikel im 8. Band des Handbuchs der Physik
publizierte. Im Jahr 1922 publizierte er die Arbeit „Molecular Diffraction of Light“, den
ersten Artikel zu einer Serie von Untersuchungen, die schließlich am 28. Februar 1928 zur
Entdeckung des nach ihm benannten Raman-Effekts führte („A new radiation“, Indian J.
Phys. 2, 387 (1928)). Für seine Arbeiten zur Streuung von Licht und Röntgenstrahlung an
Festkörpern erhielt er 1930 den Nobelpreis für Physik.
Raman erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Er wurde u. a. im Jahr 1924 zum Fellow der
Royal Society gewählt und wurde 1929 zum Ritter geschlagen. Chandrasekhara Raman
starb am 21. November 1970 in Bangalore, Indien.

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218 5 Gitterdynamik

I Rayleigh
Stokes
Abb. 5.23: Typisches Fre- Stokes k, Ek -
quenzspektrum bei der
inelastischen Lichtstreu- Anti-Stokes
ung. Neben der Stokes- und
Anti-Stokes-Linie durch Er- Anti-Stokes
zeugung und Vernichtung k, Ek -
eines Phonons tritt auch
die Rayleigh-Linie durch
elastische Lichtstreuung auf. :Zq : :Zq :

Nach Gleichung (5.5.6) ist jede Lichtstreuung, bei der der Streuwinkel von null verschie-
den ist, mit der Erzeugung oder Vernichtung eines Phonons und damit mit einer Änderung
der Lichtfrequenz verknüpft. Im Experiment sollten wir deshalb im gestreuten Licht nur die
Frequenzen Ω + ω q und Ω − ω q beobachten. In Wirklichkeit beobachtet man aber im ab-
gelenkten Strahl auch die Frequenz Ω. Dies resultiert aus der elastischen Lichtstreuung an
Fehlordnungen im untersuchten Kristall, die wir als Rayleigh-Streuung 22 bezeichnen. Ein ty-
pisches Frequenzspektrum ist in Abb. 5.23 gezeigt. Die Spektrallinie mit Ω − ω q (Phononen-
Erzeugung) wird gewöhnlich als Stokes-Linie, die Spektrallinie mit Ω + ω q (Phononen-Ver-
nichtung) als Anti-Stokes-Linie bezeichnet. Ein äquivalentes Spektrum erhält man auch bei
der inelastischen Neutronenstreuung. Hier bezeichnet man den Peak ohne Energieübertrag
als den quasielastischen Streupeak.
Das Intensitätsverhältnis der Stokes- und Anti-Stokes-Linie hängt von der Kristalltempe-
ratur ab. Falls die Besetzungszahl ⟨n q ⟩ der Phononen anfänglich im thermischen Gleich-
gewicht war, ist das Intensitätsverhältnis durch einen Boltzmann-Faktor gegeben:23

I(Ω + ω q ) ⟨n q ⟩ −
ħω q
= = e kB T . (5.5.7)
I(Ω − ω q ) ⟨n q ⟩ + 1

Bei tiefen Temperaturen sind wegen k B T ≪ ħω q nur sehr wenige Phononenzustände be-
setzt. Dadurch werden Anti-Stokes-Prozesse, bei denen Phononen vernichtet werden, un-
wahrscheinlich. Dies resultiert in einer im Vergleich zur Stokes-Linie sehr schwachen Anti-
Stokes-Linie.
Bei der Raman-Streuung wird die Probe mit Laserlicht bestrahlt und das gestreute Licht mit
einem hochauflösenden Spektrometer analysiert. Da die Dispersionskurve der optischen
Phononen im Zentrum der Brillouin-Zone flach verläuft, hängt die Frequenz der wech-
selwirkenden Phononen kaum vom Wellenvektor ab. Das bedeutet, dass die beobachtete
Frequenzverschiebung praktisch nicht von der Beobachtungsrichtung abhängt. Wir wollen
darauf hinweisen, dass nicht alle Phononenlinien beobachtet werden können, die aufgrund
der Energie- und Impulserhaltung erlaubt wären. Eine weitere Voraussetzung ist, dass eine
endliche Kopplung zwischen der einfallenden Lichtwelle und der Gitterschwingung besteht.
22
John William Rayleigh, geboren 1842 in Langford, Großbritannien, gestorben 1919 in Terling
Place, Großbritannien. Nobelpreis für Physik 1904.
23
Dieses Ergebnis erhalten wir, wenn wir die Bose-Einstein-Verteilungsfunktion (6.1.26) für die mitt-
lere Besetzungszahl der Phononen einsetzen. Eine ausführliche Diskussion der Besetzungswahr-
scheinlichkeit der Phononenzustände folgt später in Abschnitt 6.1.3.

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5.5 Experimentelle Methoden 219

100
berechnet Abb. 5.24: Stokes- und Anti-
Anti-Stokes (AS) AS ST Stokes-Linie von antiferro-
Stokes (ST)
80
Rayleigh magnetischem, isolierendem
Stokes berechnet YBa2Cu3O6 YBa2 Cu3 O6 aufgenommen
Intensität (cps/mW)

60
aus Anti-Stokes in B 1g -Symmetrie (gekreuzte
für T = 250 K (AFM) Lichtpolarisation). Die Phonon-
O Linie kann einer gegenphasigen
40 Cu Schwingung der Sauerstoffatome
O = 458 nm in den CuO2 -Ebenen des Ku-
20 AS
T = 250 K prats zugeordnet werden (siehe
Inset). Neben der Stokes- und
Anti-Stokes-Linie ist auch die aus
0 der Stokes-Linie berechnete Anti-
Stokes-Linie gezeigt, die sehr gut
-100 -80 -60 -40 -20 0 20 40 60 80 100 mit der gemessenen überein-
Raman-Verschiebung !Z (meV) stimmt (Quelle: WMI Garching).

Vereinfacht dargestellt erzeugt die einfallende Lichtwelle über die elektrische Suszeptibilität
der Probe eine mit der Frequenz Ω oszillierende elektrische Polarisation. Zur Raman-Streu-
ung kommt es, wenn die Gitterschwingung eine Modulation dieser Polarisation mit der Fre-
quenz ω q bewirkt. Es kommt dann zur Abstrahlung einer elektromagnetischen Welle mit
der Summen- bzw. Differenzfrequenz.
Abb. 5.24 zeigt das Raman-Spektrum des Kuprat-Supraleiters YBa2 Cu3 O6 . Bei dem ange-
gebenen Sauerstoffgehalt ist das Kuprat nicht supraleitend, sondern isolierend und antifer-
romagnetisch. Im Raman-Spektrum (B 1g -Symmetrie) fällt deshalb der elektronische Unter-
grund weg und man sieht deutlich die Stokes- und Anti-Stokes-Linie einer Phonon-Mode
bei etwa 340 cm−1 oder 40 meV, die einer gegenphasigen Schwingung der Sauerstoffatome
in den CuO2 -Ebenen des Kuprats zugeordnet werden kann. In Abb. 5.24 ist ferner gezeigt,
dass das Intensitätsverhältnis von Stokes- und Anti-Stokes-Linie gut durch Gleichung (5.5.7)
beschrieben werden kann. Die aus der Stokes-Linie und der Probentemperatur berechnete
Anti-Stokes-Linie stimmt gut mit der gemessenen überein.
Bei der Brillouin-Streuung hängt aufgrund der linearen Dispersionsrelation der akustischen
Phononen im Zentrum der Brillouin-Zone die Frequenz der streuenden Phononen vom
Streuwinkel ab. Die typischen Frequenzänderungen der Photonen liegen im Bereich von nur
etwa 20 GHz. Ihr Nachweis erfordert hochauflösende Spektrometer. Vereinfacht betrachtet
kann die Brillouin-Streuung mit Hilfe der Bragg-Reflexion verstanden werden. Die Schall-
welle erzeugt im Festkörper eine Variation der Streudichte, an der die Lichtwelle gebeugt
wird. Die Beugungsbedingung entspricht der Bragg-Bedingung, wobei der Abstand d der
Gitterebenen durch die Periodizität der Streudichte, also der Wellenlänge λ q der Schallwelle
ersetzt werden muss. Es gilt dann

2λ q sin θ = nλ . (5.5.8)

Hierbei ist λ die Lichtwellenlänge und θ = ϑ/2 der halbe Streuwinkel (vergleiche Abb. 5.23).
In dieser Betrachtungsweise wird die Frequenzverschiebung des Lichts durch den Doppler-
effekt erzeugt, da sich die streuenden Atome der fortlaufenden Schallwelle bewegen.

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220 5 Gitterdynamik

Literatur
N. W. Ashcroft, N. D. Mermin, Festkörperphysik, Oldenbourg Verlag, München (2012).
M. Born, R. Oppenheimer, Zur Quantentheorie der Molekeln, Ann. Phys. (Leipzig) 84, 457
(1927).
D. A. Long, Raman Spectroscopy, McGraw-Hill, New York (1977).
A. Mooradiam, Light Scattering Spectra of Solids, G. B. Wright, ed., Springer, Berlin (1969).
M. Planck: Zur Theorie des Gesetzes der Energieverteilung im Normalspektrum, Verhandlun-
gen der Deutschen physikalischen Gesellschaft 2 (1900) Nr. 17, S. 245, Berlin.
W. Weber, Adiabatic bond charge model for the phonons in diamond, Si, Ge, and α-Sn, Phys.
Rev. B 15, 4789 (1977).

Übungsaufgaben
A5.1 Lineare Kette aus gleichen Atomen
Gegeben sei eine lineare, quasi-elastische Kette aus Atomen der Masse M = 200 amu. Der Abstand zwi-
schen benachbarten Atomen sei a = 4 Å. Wechselwirkung herrsche nur zwischen den nächsten Nach-
barn.

(a) Die Schallgeschwindigkeit sei v s = 4000 m/s. Wie groß ist die Kopplungskonstante C zwischen be-
nachbarten Atomen?
(b) Wie groß ist die maximale Frequenz einer ungedämpften Welle?
(c) Skizzieren Sie die Auslenkung einiger Atome für eine Welle mit q = πa und für eine Welle mit
q = 2a
π
, jeweils für ωt = 0 und ωt = π2 .

A5.2 Wellengleichung im Kontinuum


Betrachten Sie eine lineare monoatomare Kette aus äquidistanten Atomen der Masse M im Abstand a,
die um ihre Gleichgewichtslage kleine Schwingungen ausfühern können (longitudinale Polarisation,
harmonische Näherung). Eine Wechselwirkung bestehe ausschließlich zwischen nächsten Nachbarn
und sei durch die Federkonstante C charakterisiert. Die Position des n-ten Atoms sei durch x n (t) =
na + u n (t) beschrieben.

(a) Zeigen Sie, dass die Auslenkung u n (t) des n-ten Atoms der Differentialgleichung

d 2 u n (t)
M = −C [2u n (t) − u n+1 (t) − u n−1 (t)]
dt 2
genügt.
(b) Lösen Sie diese Gleichung mit dem Ansatz u n (t) = u 0 (t)e ı qna und leiten Sie eine Dispersionsrela-
tion zwischen Frequenz ω und der Wellenzahl q ab.

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Übungsaufgaben 221

(c) Diskutieren Sie den langwelligen Limes qa ≪ 1 und zeigen Sie insbesondere, dass sich aus der
obigen Differentialgleichung die Schallwellengeichung

∂ 2 u(x, t) ∂ 2 u(x, t)
2
− v s2 =0
∂t ∂x 2
ergibt, wenn man zur Kontinuumsbeschreibung u n±1 (t) = u(x ± a, t) übergeht.

A5.3 Lineare Kette aus zweiatomigen Molekülen


Untersuchen Sie die Grundschwingungen einer linearen Kette aus zweiatomigen Molekülen, die aus
gleichen Atomen der Masse M bestehen. Der Abstand der Atome im Molekül und der Abstand zwi-
schen den Molekülen soll gleich sein und a/2 betragen (siehe Abbildung). Die Kraftkonstanten zwi-
schen den Atomen desselben Moleküls soll C 1 = 10 ⋅ C und zwischen Atomen zweier benachbarter
Moleküle C 2 = C betragen. Die Kopplung mit übernächsten Nachbarn soll vernachlässigt werden. Wir
erhalten so eine lineare Kette aus Atomen mit Masse M und Abstand a/2, bei der die Federkonstante
zwischen den einzelnen Atomen abwechselnd groß und klein ist. Diese Anordnung stellt ein einfaches
Modell für einen Kristall aus zweiatomigen Molekülen wie z. B. H2 dar.

a
C1=10 C
C1=10 C

C2= C
C2= C

a/2 a/2
M M M M

n-1 n n+1

un-1 vn-1 un vn un+1 vn+1

Bestimmen Sie ω(q) bei q = 0 und q = πa . Fertigen Sie eine Skizze für die Dispersionsrelation an und
diskutieren Sie diese.

A5.4 Lineare Kette mit übernächster Nachbarwechselwirkung


Betrachten Sie eine lineare Kette aus identischen Atomen bei den Positionen x p = pa, p = 1, 2, . . . Die
Wechselwirkung sei quasi-harmonisch. Die Kopplungskonstante zwischen übernächsten Nachbarn sei
1/ν mal so groß (ν = 2, 3, . . .) wie die Kopplungskonstante zwischen den nächsten Nachbarn; zwischen
weiter voneinander entfernten Atomen sei sie null.

(a) Bestimmen Sie die Dispersionsrelation ω(q) und skizzieren Sie diese.
(b) Für welche ganzzahligen Werte ν liegt das Maximum in der Dispersionskurve bei Wellenzahlen
q < π/a?
(c) Wie groß ist die maximale Frequenz einer ungedämpften Welle?
(d) Wie groß ist die Schallgeschwindigkeit?
(e) Diskutieren Sie den Fall ν = 2.

A5.5 Ultraschallexperiment
In einem Ultraschallexperiment wird ein piezoelektrisches Element (Übertrager) mit einer der Grenz-
flächen eines quaderförmigen Kristalls in Kontakt gebracht (siehe Abbildung). Ein Hochfrequenzim-
puls am Übertrager erzeugt über den piezoelektrischen Effekt eine oszillierende Verformung, also
einen Schallimpuls, der sich über den Kristall ausbreitet und an der dem Übertrager gegenüberlie-
genden Fläche reflektiert wird. Kehrt die Schallwelle zum Übertrager zurück, erzeugt sie, wiederum
aufgrund des piezoelektrischen Effekts, ein Spannungssignal, dessen Zeitverschiebung gegenüber dem

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222 5 Gitterdynamik

Anregungsimpuls aufgezeichnet wird. Der Kristall habe eine kubische Struktur und sei parallel zu den
(100)-Achsen geschnitten. In Ausbreitungsrichtung sei die Probe 1 cm lang. Es werde ein Impuls mit
einer Frequenz von 100 MHz und 0.5 μs Dauer erzeugt. Die Reflexe treffen im Abstand von 16 μs am
Übertrager ein.

Ultraschall-
Probe übertrager

Hochfrequenzgenerator
und -Empfänger

(a) Berechnen Sie die Schallgeschwindigkeit v s in der Probe.


(b) Welche Art von Phononen regt man in diesem Experiment an?
(c) Ist eine Frequenz von 100 MHz groß oder klein für eine Phononenenergie in einen Festkörper?
Wie lautet der Zusammenhang zwischen der Anregungsfrequenz, Wellenvektor q und Schall-
geschwindigkeit bei sehr kleinen Frequenzen?
(d) Welchem Gesetz ω(q) folgt die Dispersion in der ersten Brillouin-Zone zwischen q = (0, 0, 0) und
(π/a, 0, 0) in harmonischer Näherung, wenn man nur die Wechselwirkung zwischen nächsten
Nachbarn berücksichtigt?
(e) Berechnen Sie die Energie dieses Phononenzweiges am Rand der Brillouin-Zone mit den angege-
benen Parametern und der Gitterkonstante a = 5 Å.

A5.6 Massendefekt in linearer Atomkette


Wir betrachten eine lineare Atomkette aus Atomen der Masse m und Gitterabstand a. Die Federkon-
stante zwischen allen Atomen sei gleich und betrage C. Die Kopplung der Atome soll durch nächste
Nachbarwechselwirkungen beschrieben werden (siehe Abbildung). Wir nehmen an, dass ein Atom an
der Position p = 0 durch ein anderes Atom der Masse M ersetzt ist.

m C m C m C M C m C m C m

p-2 p-1 p=0 p+1 p+2

Berechnen Sie die Eigenfrequenz dieser linearen Kette und diskutieren Sie die Lösung. Gehen Sie dabei
von dem Lösungsansatz

u p = u 0 e−q(ω)∣pa∣−ı ωt

für die Auslenkung u p des p-ten Atoms aus (lokalisierte Mode). Hierbei ist p eine ganze Zahl.

A5.7 Zustandsdichte der Phononen einer eindimensionalen Kette


Unter der Voraussetzung, dass nur Kräfte zwischen direkt benachbarten Atomen wirken, lautet die
Dispersionsrelation einer linearen Kette von Atomen mit Abstand a und Masse M

qa
ω = ω max ∣sin ∣.
2

Hierbei ist ω max die maximale Frequenz im longitudinalen Phononenspektrum der Kette.

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Übungsaufgaben 223

(a) Berechnen Sie die Zustandsdichte D(ω) der longitudinalen Phononen. Skizzieren Sie den Verlauf
der Funktion und vergleichen Sie das Ergebnis mit der Zustandsdichtefunktion, die wir im Fall der
Debyeschen Kontinuumsnäherung erhalten.
(b) Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Maximalfrequenz ω max des Phononenspektrums
und der oberen Grenzfrequenz ω D , welche in der Debyeschen Kontinuumsnäherung angesetzt
wird.

A5.8 Singularität in der Zustandsdichte


Nehmen Sie an, dass ein optischer Phononenzweig im Dreidimensionalen nahe q = 0 eine Dispersions-
relation der Form ω(q) = ω 0 − Aq 2 hat. Zeigen Sie, dass dann gilt:

⎪ 3
⎪( L ) ( A2π
3/2 ) (ω 0 − ω)
1/2
für ω < ω 0
D(ω) = ⎨ 2π .

⎪ für ω > ω 0
⎩0
Diskutieren Sie, unter welchen Bedingungen Singularitäten in der Zustandsdichte auftauchen.

A5.9 Kohn-Anomalie
Wir nehmen an, dass die interplanare Kraftkonstante C p zwischen zwei benachbarten Gitterebenen
die Form
sin pQa
C p = A1 .
p

Hierbei sind A eine (Feder-)Konstante und Q eine konstante Wellenzahl und p durchläuft alle ganzen
Zahlen. Eine solche Form erwarten wir für Metalle. Verwenden Sie die Dispersionsrelation

2
ω 2q = ∑ C p (1 − cos qpa) ,
M p>0

um einen Ausdruck für ω 2p und ∂ω 2q /∂q zu finden. Beweisen Sie, dass für q = Q der Ausdruck ∂ω 2q /∂q
unendlich wird. Trägt man ω 2 oder ω gegen q auf, so ergibt sich bei Q eine vertikale Tangente: In der
Phononendispersionsrelation ω q (q) tritt bei Q ein Knick auf. Ein damit zusammenhängender Effekt
wurde von W. Kohn vorhergesagt (Phys. Rev. Lett. 2, 393 (1959)).

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