Martin - OSKAR BECKERS UNTERSUCHUNGEN ÜBER DEN MODALKALKÜL

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OSKAR BECKERS UNTERSUCHUNGEN

ÜBER DEN MODALKALKÜL


von G. Martin, Bonn

Das Philosophische Seminar der Universität Bonn feiert in dieser Stunde das
Andenken eines seiner hervorragendsten Mitglieder, Oskar Beckers. Mir ist die
ehrenvolle Aufgabe der wissenschaftlichen Würdigung von Oskar Beckers logi-
schen Forschungen zugefallen. Dabei stehe ich vor einer nicht leichten Doppel-
aufgabe. Auf der einen Seite muß ich die Aufgaben, die Oskar Becker sich gesetzt
hat, verständlich machen, ohne spezifische Kenntnisse der formalen Logik voraus-
setzen zu können. Auf der anderen Seite muß ich die bedeutungsvollen Ergebnisse
von Oskar Becker deutlich machen, was ich nicht tun kann, ohne auf Ihre ver-
trauensvolle Bereitschaft rechnen zu können.
Oskar Becker hat zum Modalkalkül fünf Untersuchungen vorgelegt. Sie be-
ginnen mit einer Untersuchung Zur Logik der Modalitäten, die 1930 im Jahrbuch
für Philosophie und phänomenologische Forschung erschienen ist. Diese Unter-
suchung ist im wesentlichen eine Auseinandersetzung mit C. I. Lewis, und zwar
mit dessen frühem Werk: A Survey of Symbolic Logic, Berkeley 1918. Das dort
von Lewis entwickelte System der strikten Implikation wird heute gewöhnlich in
der 1932 erschienenen Darstellung: C. L Lewis und C. H. Langford, Symbolic
Logic, benutzt. Es folgt Das formale System der ontologisaen Modalitäten.
Eine Auseinandersetzung zu N. Hartmanns Werk: Möglichkeit und Wirklichkeit,
1943 in den Deutschen Blättern für Philosophie. Die Untersuchung geht über die
im Untertitel angezeigte Auseinandersetzung mit N. Hartmann weit hinaus und
nimmt insbesondere eine Auseinandersetzung mit M. Heidegger auf. 1944 läßt
Oskar Becker ebenfalls in den Blättern für deutsche Philosophie unter dem Titel
Ein natürliches formales System der logiscb-ontologischen Modalitäten eine statisti-
sche Deutung des Modalkalküls folgen. Diese Deutung nimmt den Begriff der
möglichen Welten von Leibniz her auf. Schließlich faßt Becker seine Untersuchun-
gen in zwei schmalen, aber inhaltsreichen Bänden zusammen. 1951 erscheint die
Einführung in die Logistik, mit dem Untertitel: vorzüglich in den Modalkalkül,
und 1952 erscheint das abschließende Werk, das den Titel trägt, den wir auch
über unsere wissenschaftliche Würdigung gesetzt haben: Untersuchungen über den
Modalkalkül.
Unter einem Modalkalkül versteht man die mathematische Behandlung der
Modalgesetze, also die formelmäßige Darstellung derjenigen Gesetze, die von

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Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit handeln. Oskar Becker geht in
seinem Modalitätenkalkül vom zweiwertigen Aussagenkalkül aus und erweitert
ihn durch neue Definitionen, neue Axiome und neue Regeln. Die Axiome des
zweiwertigen Aussagenkalküls benutzt Becker unter anderem in der in den
Principia Mathematica gegebenen Form *:
1. pvp->p
2. q -> pvq
3. pvq .->. qvp
4. q -> r .->: pvq .->. pvr
Als neuen Undefinierten Grundbegriff des Modalkalküls wählt Becker den
Begriff der Notwendigkeit. „Wir wählen die Notwendigkeit zum Undefinierten
Grundbegriff und bezeichnen die Aussage: „Es ist notwendig, daß p gilt" mit
Np" 2. Daraus lassen sich sechs Definitionen gewinnen, von denen wir nur die
beiden ersten heranziehen:
1. Es ist möglich, daß p gilt. Mp = — N^p Def.
2. Es ist unmöglich, daß p gilt. -^Mp = N-^p
Dann führt Becker zwei Axiome des Modalitätenkalküls ein:
I. N(p-q) Np-Nq
II. Np -» p
Daß Möglichkeit und Notwendigkeit durch Definitionen miteinander zusam-
menhängen, hat schon Aristoteles erkannt. In der Metaphysik führt er folgende
Definitionen ein:
1019 b 23: unmöglich ist, dessen Gegenteil notwendig wahr ist
1019 b 28: möglich ist, dessen Gegenteil nicht notwendig falsch ist
Nicolai Hartmann gibt die Zusammenhänge in der folgenden Form 3:
1. Negation der Möglichkeit von A ist Notwendigkeit von non-A.
2. Negation der Notwendigkeit von A ist Möglichkeit von non-A.
Sie sehen sofort den engen Zusammenhang der Bestimmungen von Aristoteles,
Hartmann und Becker. Sie braudien etwa nur die Definitionen von Becker auf
beiden Seiten zu negieren, und Sie haben sofort die Bestimmungen von Hartmann.
Dies ist zugleich ein instruktives Beispiel dafür, daß die Formeln der mathemati-
schen Logik in die Umgangssprache zurückübersetzt werden können. Zu einem
gewissen Teil ist jede Logik formal, auch Aristoteles braucht in seiner Logik
Formeln. Wie weit man die Formalisierung der Logik treiben will, ist keine
grundsätzliche Frage, sondern eine Frage der Zweckmäßigkeit und der Brauch-

1
Einführung in die Logistik, S. 42.
2
Untersuchungen über den Modalkalkül, S. 9. .
3
N. Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, S. 117.

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barkeit, ja eine Frage der Eleganz. Ich stimme Becker völlig zu, wenn er die For-
malisierung der Logik, also den Aufbau der Logik zu einem Kalkül, so weit wie
möglich treibt.
Zur Veranschaulichung gebe ich einige leichte Rechnungen von Becker:
1. Axiom II lautet: Np ->· p. Daraus folgt sofort durch Umkehrung —p -#> Np:
Was nicht wirklich ist, kann nicht notwendig sein.
2. Die Definition 2 lautet: —Mp = N—p. Daraus folgt —Mp ->· N—p. Aus
Axiom II ergibt sich durch Einsetzung von —p für p: N—p -> —p. Wenden Sie
auf die beiden Sätze den Modus Barbara oder das transitive Gesetz an, so ergibt
sich
—Mp ->· N—p
N—p -> —p
—Mp -> —p (Was nicht möglich ist, ist auch nicht wirklich.)
3. Kehren Sie diesen Satz (—Mp ->· —p) um, so erhalten Sie: p -> Mp. Was
wirklich ist, ist auch möglich.
4. Gehen Sie vom Axiom II aus und nehmen Sie den eben abgeleiteten Satz
hinzu, dann erhalten Sie
Np -> p Was notwendig ist, ist wirklich
p -> Mp Was wirklich ist, ist möglich
Np ->· Mp Was notwendig ist, ist möglich

Dies sind wohlbekannte Sätze der nichtformalen Modaltheorie, die sich etwa bei
Aristoteles, bei Wolff, bei Nicolai Hartmann finden.
Ein wichtiges Problem der modernen formalen Logik ist die Deutung von
Kalkülen. Deutungen des Modalkalküls finden sich bereits in den Arbeiten von
1943 und 1944, in den Untersuchungen über den Modalkalkül ist ihnen ein breiter
Raum gewidmet. Hier handelt Becker im Abschnitt I (S. 16 ff.) über eine statisti-
sche und im Abschnitt II (S. 37 ff.) über eine normative Deutung des Modal-
kalküls. Ich beschränke midi auf die statistische Deutung des Modalkalküls und
hier besonders auf den Zusammenhang mit Leibniz. Becker betrachtet Leibnizens
Lehre von den möglichen Welten bereits als eine Deutung der Modaltheorie4.
Leibniz geht davon aus, daß es unendlich viele mögliche Welten gibt, die im Ver-
stande Gottes existieren. Eine davon, die beste aller möglichen Welten, hat Gott
zur wirklichen Welt erschaffen. In dieser Lehre von den möglichen Welten kann
nun ein Satz als notwendig wahr, als wirklich wahr und als möglich wahr auf-
treten. Ein Satz ist notwendig wahr, wenn er in jeder möglichen Welt gilt. Dies
trifft nach Leibniz für die Sätze der Logik und der Mathematik zu. Ein Satz ist
wirklich wahr, wenn er in der wirklichen Welt gilt. Dies trifft etwa auf das
Newtonsche Anziehungsgesetz zu, daß die Anziehungskraft umgekehrt proportio-
nal dem Quadrat des Abstandes ist. Ein Satz ist möglich wahr, wenn er in min-
4
Untersuchungen^ S. 17.

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destens einer möglichen Welt gilt. Dies trifft beispielsweise auf ein Anziehungs-
gesetz zu, in dem die Anziehungskraft umgekehrt proportional der dritten Potenz
des Abstands ist.
Kann Leibnizens Lehre von den möglichen Welten als eine Deutung des Modal-
kalküls aufgefaßt werden, so müssen sich in ihr alle Definitionen, Axiome und Lehr-
sätze des Modalkalküls deuten lassen, und dies ist auch in der Tat der Fall.
1. Mp = —N—p. Mp bedeutet, daß p in mindestens einer möglichen Welt gilt,
und dies bedeutet wiederum, daß nicht in jeder möglichen Welt —p gelten kann.
Gilt umgekehrt nicht in jeder möglichen Welt —p, so muß wegen des Satzes vom
ausgeschlossenen Dritten mindestens in einer möglichen Welt p gelten, und dies
heißt eben: p ist möglich.
2. Dasselbe gilt von der zweiten Definition —Mp = N—p. N—p bedeutet
hier, daß in jeder möglichen Welt —p gilt. Das heißt aber, daß in keiner möglichen
Welt p gelten kann, und das heißt hier eben, p ist nicht möglich.
Nicht anders liegt es bei den Axiomen. Nehmen wir das zweite Axiom Np -* p.
Np bedeutet hier, p gilt in jeder möglichen Welt, und dann gilt p gewiß auch in
der wirklichen Welt.
Schließlich läßt sich auch der oben abgeleitete Satz Np -»· Mp deuten. In der
statistischen Deutung besagt er: wenn p in jeder möglichen Welt gilt, so auch in
mindestens einer möglichen Welt. So lassen sich die zunächst rein formalen Sätze
des Modalkalküls in der Lehre von den möglichen Welten in einer gewissen Weise
inhaltlich deuten.
In der modernen Logik ebenso wie in der modernen Mathematik spielt es eine
wichtige Rolle, daß ein bestimmter Kalkül auf verschiedene Weise aufgebaut
werden kann. Becker gibt einen Aufbau sowohl in der axiomatischen als auch in
der Matrizenmethode. Die axiomatische Methode, die Platon und Aristoteles ge-
fordert hatten, ist von Euklid grundsätzlich verwirklicht worden. Sie ist dann in
den letzten hundert Jahren bei der Formalisierung der Logik auch auf die Logik
übertragen worden. Unter philosophischen Gesichtspunkten, und dies gilt ins-
besondere für Platon, sollten die Axiome ausgezeichnet sein: sie sollten eine
absolute Gültigkeit haben, und, wenn nicht mit mathematischen, so doch mit
philosophischen Methoden beweisbar sein. Leibniz hat dies Programm wieder
aufgenommen, wenn auch unter Beschränkung auf logisch-mathematische Metho-
den. Es ist heute bis auf ganz wenige Gegenstimmen allgemein anerkannt, daß
dies Programm von Platon und Leibniz nicht durchführbar ist, daß man vielmehr
echte Axiome braucht. Von besonderer Bedeutung für dies Problem ist die Ver-
tauschbarkeit von Axiomen und Lehrsätzen, die zuerst in der euklidischen Geo-
metrie gesehen wurde. Dort kann man das euklidische Parallelenaxiom und den
Satz von der Winkelsumme im Dreieck miteinander vertauschen. Bei Euklid er-
scheint das Parallelenaxiom als Axiom und der Satz von der Winkelsumme im
Dreieck als bewiesener Lehrsatz, man kann aber auch den Satz von der Winkel-
summe im Dreieck als Axiom setzen, und bekommt dann den Parallelensatz als
beweisbaren Satz.

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In den Untersuchungen zum Modalkalkül gibt Becker für diese Zusammenhänge
ein überaus instruktives Beispiel. Für den von ihm vorgeschlagenen Modalkalkül
gibt Becker zunächst eine „Begründung auf die Beziehung der strikten Implika-
tion" 5. Für seinen in dieser Weise modifizierten Modalkalkül gibt Becker dann
zunächst den „Vergleich mit dem Lewissdien System S 2" und erörtert dann
noch die „Zusatzaxiome zum System S 2 red." 7.
Becker muß nun zeigen, und er tut dies auch in aller Vollständigkeit, daß
die beiden Modalkalküle von Becker und Lewis sich so zueinander verhalten,
daß jedes Axiom des einen Systems in dem anderen System entweder als Axiom
vorkommt oder als Lehrsatz abgeleitet werden kann. Die Durchführung dieses
Vergleichs kann im einzelnen bei Becker nachgelesen werden, sie zeigt aber, daß
Becker in der Frage der Struktur formaler Systeme den dezidiert axiomatischen
Standpunkt als logisch einwandfrei betrachtet.
Für den Aufbau eines logisdien Kalküls existiert aber noch ein anderer Weg,
für den Wittgenstein wesentliche Beiträge geleistet hat und den er für den zwei-
wertigen Aussagenkalkül in besonderer Weise im Tractatus vorgelegt hat: der
sogenannte Matrizenkalkül. Unter einer Matrix versteht man in der Mathematik
ein rechteckiges Schema, das im Sonderfall auch eine quadratische Form annehmen
kann. In der Logik werden im allgemeinen nur quadratische Matrizen gebraucht.
Für die Matrizenmethode im Modalkalkül gehe ich sofort von einer inhaltlichen
Deutung aus. Wir nehmen an, daß unsere Variable vier Werte annehmen kann,
und bezeichnen diese Werte mit den Ziffern l bis 4. Dabei soll folgende inhalt-
liche Deutung vorgenommen werden:
1. notwendig wahr Np
2. zufällig wahr p—Np
3. zufällig unwahr —p-Mp
4. notwendig falsch —Mp
Dann läßt sich eine Matrix für die Disjunktion in der folgenden Weise geben 8:
pvq 1 2 3 4
1 1 1 1 1
2 1 W W 2
3 1 W 3 3
4 1 2 3 4
Es gilt dann folgendes: In einem auf diese Weise definierten Kalkül ist ein
Satz dann und nur dann wahr, wenn er für jede mögliche Einsetzung den Wert
wahr, in unserem Fall den Wert notwendig wahr annimmt. Eine solche Aus-
wertung durch die Matrix tritt an die Stelle des Beweises. Sämtliche Sätze, sie
5
Untersuchungen, S. 10.
6
Untersuchungen, S. 12.
7
Untersuchungen, S. 13.
8
Untersuchungen, S. 80. — In dieser Matrix ist W = l vel 2.

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mögen in einem axiomatisdien Aufbau nun Axiome oder Lehrsätze sein, müssen
bei dieser Auswertung jeweils den ausgezeichneten Wert, im allgemeinen den
Wert l erhalten.
Ich gehe zu einem weiteren Punkt über, der Variation eines Kalküls, in unse-
rem Fall der Variation eines Modalkalküls. Gibt es alternative Modalkalküle,
gibt es also Modalkalküle, die andere Sätze enthalten als das gemeinsame, wenn
auch in verschiedener Weise aufgebaute Modalsystem von Becker und Lewis?
Die Möglichkeit eines alternativen Modalkalküls ergibt sich aus beiden Methoden.
Zunächst folgt aus der axiomatischen Methode unmittelbar die Möglichkeit alter-
nativer Systeme. Ein Axiomensystem soll unabhängig sein, kein Axiom darf aus
den anderen bewiesen werden können. Daraus folgt sofort, daß ein solches Axiom
verändert werden kann, daß es zum mindesten weggelassen werden kann, daß
es vielleicht durch ein schwächeres Axiom, vielleicht durch sein Gegenteil, ersetzt
werden kann. Das klassische Beispiel dafür sind die nichteuklidischen Geometrien.
Das Parallelenaxiom ist von den anderen Axiomen unabhängig. Es kann also
entweder weggelassen werden, dann entsteht die projektive Geometrie, oder es
kann durch sein Gegenteil ersetzt werden (wobei sich zwei Möglichkeiten er-
geben), dann entstehen die nichteuklidischen Geometrien im engeren Sinn.
Zu demselben Ergebnis kommen wir bei der Matrizenmethode. Nehmen wir
den einfachsten Fall, der übrigens bei Becker verwirklicht ist, daß es sich nur um
zwei Axiome handelt, in diesem Fall um die beiden Modalaxiome, wenn wir den
zweiwertigen Aussagenkalkül voraussetzen. Dann muß eine Matrix gefunden wer-
den, durch die sich beide Axiome als gültig erweisen lassen. Betrachtet man aber
eine solche Matrix, dann liegt es nahe, sie rein formal zu ändern, das heißt sie
mit anderen Zahlenwerten zu besetzen. Gelingt es, eine Matrix zu finden, für
die nur das eine Axiom gültig ist, während das andere Axiom mindestens in einem
Fall nicht gültig ist, dann ist ein Modalkalkül mit nur einem Axiom definiert.
Dieser Weg ist zugleich eine Methode des Unabhängigkeitsbeweises. Mit dieser
Methode beweist Becker, daß die Axiome I und II voneinander unabhängig
sind 9.
Ich darf schließlich zur Frage nach der philosophischen Bedeutung der ver-
schiedenen Logikkalküle, insbesondere der verschiedenen Modalkalküle übergehen.
Sind die verschiedenen Logikkalküle ebensoviele Logiken? Gibt es, um den heute
üblich gewordenen Terminus zu benutzen, alternative Logiken? Wenn es alter-
native Logiken gibt, was bedeutet das?
Ich habe bei Becker zwei Aussagen von einer gewissen Verschiedenheit gefunden.
In der frühen Abhandlung von 1930 drückt er sich noch unentschieden aus. Im
Vorwort zu den Untersuchungen über den Modalkalkül beschreibt Becker 1952:
„Die Logik der Modalitäten selbst läßt sich in vielen ihrer Grundzüge [gegen-
seitige Definition der Grundmodi, modales Gefalle (Axiom II), dagegen nicht
Axiom 1] bis auf Aristoteles (de interpretatione) zurückverfolgen, sie ist inso-

0
Untersuchungen, S. 77.

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weit in demselben Sinn „klassisch" wie die euklidische Geometrie. Das bedeutet
zugleich, daß neben dem klassischen Modalkalkül auch andere „unklassische"
Kalküle denkbar sind, die sich als zweckmäßig erweisen können, wenn neue
Problemgebiete erschlossen werden, die von der klassischen Struktur abweichen.
So verwendet ja auch die theoretische Physik in der allgemeinen Relativitäts-
theorie die nichteuklidische Geometrie. Diesbezügliche Untersuchungen müssen der
Zukunft vorbehalten bleiben"10.
Der Unterschied der beiden etwa zwanzig Jahre auseinanderliegenden Stellung-
nahmen liegt in der verschiedenen Auffassung des Verhältnisses der .Logik zur
Geometrie. 1930 sieht Becker einen entschiedenen Gegensatz zwischen ihnen, 1952
setzt er sie parallel. Ob die Verhältnisse in der Geometrie und der Logik als
analog angesehen werden können, dies ist freilich für die Frage nach der Möglich-
keit alternativer Logiken fundamental. In der Geometrie ist die Möglichkeit
nichteuklidischer Geometrien, sogar in einer unabsehbaren Fülle, allgemein an-
erkannt. Man darf freilich nicht übersehen, wieviel in der Geometrie für eine
solche Entscheidung spricht. In der Geometrie sind euklidische Modelle nicht-
euklidischer Geometrien gefunden worden, in der Geometrie sind wichtige An-
wendungen nichteuklidischer Geometrien gefunden worden. Von beidem kann
bis jetzt in der Logik noch nicht die Rede sein. Im Grunde genommen haben wir
für nichtklassische Logiken bis jetzt nur formale Kalküle. In der Frage der aristo-
telischen Modelle nichtaristotelischer Logiken, wenn man die Analogie so weit
treiben darf, stehen wir erst am Anfang der Untersuchungen, und Sie sehen von
hier aus die Bedeutung der Untersuchungen von Becker über die Deutung von
Modalkalkülen. Noch viel weniger ist in der Frage der möglichen Anwendung
von nichtaristotelischen Logiken erreicht worden. Die mögliche Deutung der
Grundansätze von Fichte oder der Dialektik von Hegel, die mögliche Deutung
der Quantenmechanik jeweils mit Hilfe einer dreiwertigen Logik oder mit Hilfe
von alternativen Modalkalkülen hat nicht zu überzeugenden Ergebnissen geführt.
So gilt auch heute noch die mit einer gewissen Resignation abschließende Formu-
lierung von Becker: diesbezügliche Untersuchungen müssen der Zukunft überlassen
bleiben.
Es konnte in dieser Stunde nicht meine Absicht sein, Sie an die Grenzen des
von Becker Erreichten zu führen. In dieser Stunde war allein die Aufgabe möglich,
den Anfang des von Becker Getanen deutlich zu machen. Aber gerade deshalb
scheint mir die eben wiedergegebene zusammenfassende Bemerkung so charakte-
ristisch für ihn. Immer ist Becker hinter seine objektiven Leistungen zurückge-
treten. Wer aber diesen Leistungen gefolgt ist, der spürt, daß hier Bescheidenheit
und Stolz in einzigartiger Weise verbunden sind. Bescheidenheit, was den eignen
Anteil angeht, aber doch auch Stolz darauf, an einer Arbeit beteiligt zu sein,
die weit in die Zukunft hinausweist. Aus dieser Grundstimmung spricht Becker
als der echte Philosoph in eine offene Zukunft hinein.

10
UntersuAungen, S. 3.

318

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