1 Kristallstruktur

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1 Kristallstruktur

Einen kristallinen Festkörper können wir erhalten, indem wir identische Blöcke (z. B. einzel-
ne Atome oder Gruppen von Atomen) unter Beachtung einer bestimmten Regel aufeinander
stapeln, so dass wir eine dreidimensionale, periodische Anordnung von Atomen erhalten.
Diese Vorstellung wurde bereits im 18. Jahrhundert entwickelt, als Mineralogen entdeck-
ten, dass die Indexzahlen aller Kristallflächen gerade ganze Zahlen sind.1 Diese Vorstellung
wurde dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestätigt. Am 8. Juni 1912 berichtete Max von
Laue (1879–1960) vor der Bayerischen Akademie der Wissenschaften über seine Arbeit zu
Interferenzerscheinungen bei Röntgenstrahlen, in der er die elementare Theorie der Beugung
von Röntgenstrahlen durch eine periodische Anordnung von Atomen diskutierte. Die expe-
rimentelle Bestätigung seiner theoretischen Betrachtungen erfolgte durch Walter Friedrich2
und Paul Knipping3 in ihrer Arbeit Experimentelle Beobachtung der Beugung von Röntgen-
strahlen an Kristallen. Dadurch war der eindeutige experimentelle Nachweis dafür erbracht,
dass Kristalle aus einer periodischen Anordnung von Atomen bestehen.
Wir werden in diesem Kapitel die grundlegenden Begriffe, die wir zur Beschreibung von
Kristallen benötigen, einführen. Außerdem werden wir einige wichtige Kristallstrukturen
besprechen.

1
R. J. Haüy, Essai d’une théorie sur la structure des cristaux, Paris (1784); Traité de minéralogie, Paris
(1801).
2
Walter Friedrich, geboren am 25. Dezember 1883 in Salbke bei Magdeburg, gestorben am 16. Ok-
tober 1968 in Berlin, Pionier der Strahlenphysik, Ordinarius für Medizinische Physik in Berlin
(1922). Walter Friedrich wurde nach seiner Promotion 1911 bei W. C. Röntgen Assistent bei Ar-
nold Sommerfeld in München. An diesem Institut hatte Max von Laue Untersuchungen über die
Raumgitterstruktur der Kristalle durchgeführt, die von Friedrich mit dem Doktoranden Knip-
ping fortgesetzt wurden. Friedrich gelang der Nachweis von Interferenzpunkten auf einer Foto-
platte, womit die Wellennatur der Röntgenstrahlen bewiesen war. Die Untersuchungsergebnisse
fanden 1912 im Sitzungsbericht der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften ihren
Niederschlag. Von Laue gab 1914 wegen der Leistung Friedrichs und Knippings die Teilung des
ihm für diese Forschungsarbeiten verliehenen Nobelpreises bekannt. Nach mehrjähriger Tätigkeit
in Freiburg wurde Friedrich Lehrstuhlinhaber für Medizinische Physik an der Universität Berlin.
1947 übernahm er die Leitung des Medizinisch-biologischen Instituts in Berlin-Buch, das er zu
einem bedeutenden Forschungszentrum für die Krebsforschung, Pharmakologie und Zellphysio-
logie entwickelte.
3
Paul Knipping, geboren am 20. Mai 1883 in Neuwied am Rhein, gestorben am 26. Oktober 1935,
deutscher Physiker.

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2 1 Kristallstruktur

Max von Laue (1879–1960), Nobelpreis für Physik 1914


Max von Laue wurde am 9. Oktober 1879 in Pfaffenhofen bei Ko-
blenz geboren. Er promovierte nach Studium in Straßburg, Göt-
tingen und München an der Universität Berlin bei Max Planck.
Thema seiner Dissertation war die Theorie der Interferenzen an
planparallelen Platten gewesen. Er wurde anschließend im Herbst
1905 Assistent bei Planck und führte den für Max Planck zentralen
Begriff der Entropie in die Optik ein. Er wurde 1906 mit einer Ar-
beit über die Entropie interferierender Strahlenbündel habilitiert.
Die Vorliebe für optische Probleme hatte von Laue bereits in Göt-
tingen bei Woldemar Voigt gewonnen und wurde in Berlin durch
den Einfluss Otto Lummers verstärkt. Als Albert Einstein 1905 die
spezielle Relativitätstheorie begründet hatte und Max Planck sein
wissenschaftliches Ansehen in die Waagschale warf, um der Theo-
rie zum Durchbruch zu verhelfen, war es von Laue, der mit ei-
nem optischen Beweis beitrug. Er zeigte 1907, dass das Einstein- Lizenz: Creative Commons by-sa 3.0 de
sche Additionstheorem die Formel von Fizeau mit dem bisher un-
verständlichen Fresnelschen Mitführungskoeffizienten ergibt. Von
Laue verfasste bereits im Jahre 1910 seine erste Monographie zu Relativitätstheorie, die er 1921 durch
einen zweiten Band über die Allgemeine Relativitätstheorie erweiterte.
Im Jahr 1909 wechselte von Laue als Privatdozent an das von Arnold Sommerfeld geleitete Institut
für Theoretische Physik der Universität München. Dort hatte er im Frühjahr 1912 die entscheiden-
de Idee, die zur Entdeckung der Röntgenstrahlinterferenzen führte. Noch im gleichen Jahr wurde er
a. o. Professor an der Universität Zürich. Er ging dann 1914 als Ordinarius nach Frankfurt und er-
hielt im gleichen Jahr den Nobelpreis. 1919 vereinbarte er mit dem in Berlin in einer vergleichbaren
Stellung wirkenden Max Born einen Tausch der Lehrstühle: Max Born ging nach Frankfurt, er selbst
an die Universität Berlin.
In dem neuen, von von Laue begründeten Gebiet der Röntgenstrukturanalyse wurden William Hen-
ry Bragg und William Lawrence Bragg die führenden Forscher. Von Laue selbst interessierte sich
mehr für die grundlegenden, allgemeinen Prinzipien und beschäftigte sich nicht mit der Struktur-
untersuchung einzelner Substanzen, wohl aber immer wieder mit der Theorie der Röntgenstrahl-
interferenzen. Nach Vorarbeiten von Charles Galton Darwin und Peter Paul Ewald erweiterte von
Laue seine ursprüngliche „geometrische Theorie“ der Röntgeninterferenz zur so genannten „dyna-
mischen Theorie“. Während die geometrische Theorie nur die Wechselwirkung zwischen den Atomen
des Kristalls und der einfallenden elektromagnetischen Welle kennt, berücksichtigt die dynamische
Theorie auch die Kräfte zwischen den Atomen. Diese Korrektur macht zwar nur wenige Bogense-
kunden aus, sie wurde aber bei den sehr genauen röntgenspektroskopischen Messungen durch kleine
Abweichungen schon frühzeitig festgestellt. Im Jahr 1941 fasste von Laue die Prinzipien der Röntgen-
strahlinterferenzen in einem Buch zusammen.
Von Laue genoss hohes Ansehen bei seinen Fachkollegen und wurde in der neugegründeten Not-
gemeinschaft der Deutschen Wissenschaft (der heutigen Deutschen Forschungsgemeinschaft) im
Fachausschuss zum Vertreter der theoretischen Physik gewählt. Bis 1934 war er dort Vorsitzender
und hatte so einen maßgebenden Einfluss auf die Entwicklung der Physik in Deutschland. Nach En-
de des Zweiten Weltkrieges wurde er erneut zum Mitglied des Fachausschusses Physik der Deutschen
Forschungsgemeinschaft gewählt und bis 1955 in seinem Amt bestätigt. Nachdem von Laue vorüber-
gehend in seiner alten Stellung als stellvertretender Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik
in Göttingen tätig war, übernahm er im April 1951 im Alter von 71 Jahren in Berlin-Dahlem die
Leitung des alten Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie und Elektrochemie.
Max von Laue starb am 24. April 1960 in Berlin.

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1.1 Periodische Strukturen – Grundbegriffe und Definitionen 3

1.1 Periodische Strukturen – Grundbegriffe


und Definitionen
Wir wollen zunächst definieren, was wir unter einem idealen Kristall verstehen:4

Ein idealer Kristall ist eine unendliche Wiederholung von identischen Strukturelementen.

Wir können einen idealen Kristall immer beschreiben durch Angabe der

∎ Struktureinheit, die wir als Basis bezeichnen, und der


∎ Vorschrift für die Aneinanderreihung, die in einem Raumgitter resultiert.

Wir können einen Kristall somit definieren als

Kristall = Gitter + Basis (1.1.1)

Die Basis kann hierbei beliebig kompliziert sein. Sie kann aus nur einem Atom bestehen wie
bei Einkristallen aus Cu, Ag oder Au, aus zwei Atomen wie bei NaCl, aus 13 Atomen wie beim
Hochtemperatur-Supraleiter YBa2 Cu3 O7 (siehe Abb. 13.59) oder aus einigen 10 000 Atomen
wie bei Proteinkristallen.

1.1.1 Das Bravais-Gitter


Wir wollen nun eine mathematische Beschreibung eines Kristallgitters geben. Ein funda-
mentales Konzept ist dabei dasjenige des Bravais-Gitters,5 , 6 welches das Raumgitter spezifi-
ziert, auf dem die Basiseinheiten des Kristalls angeordnet sind. Ein Bravais-Gitter beinhaltet
nur die Geometrie des Raumgitters, unabhängig davon was die genaue Basis ist, die auf dem
Raumgitter angeordnet wird. Es gibt zwei äquivalente Definitionen für ein Bravais-Gitter:

1. Ein Bravais-Gitter ist ein unendliches Gitter von Raumpunkten mit einer Anordnung
und Orientierung, die exakt gleich aussieht, egal von welchem Gitterpunkt wir das Gitter
betrachten.
2. Ein dreidimensionales Bravais-Gitter besteht aus allen Punkten

R = n 1 a1 + n 2 a2 + n 3 a3 , n 1 , n 2 , n 3 ganzzahlig . (1.1.2)

Die Vektoren a1 , a2 und a3 , die nicht in einer Ebene liegen dürfen, bezeichnen wir als
primitive Gittervektoren. Sie spannen das Raumgitter auf. Ihre Längen a 1 , a 2 und a 3
werden als Gitterkonstanten bezeichnet.

4
Es sei hier angemerkt, dass es in realen Kristallen natürlich Baufehler (Defekte) und Ränder gibt.
5
nach Auguste Bravais, geboren 1811 in Annonay, gestorben 1863 in Versailles.
6
Auguste Bravais, Études Cristallographiques, Gauthier Villars, Paris (1866).

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4 1 Kristallstruktur

a2
T
R R aB
P Q P
a1

(a) (b)

Abb. 1.1: (a) Die Schnittpunkte der Linien eines Bienenwabenmusters bilden kein Bravais-Gitter, da
das Kristallgitter von Punkt P und Q aus betrachtet anders aussieht. (b) Nur die rot oder blau markier-
ten Punkte bilden ein Bravais-Gitter. Auf diese muss man dann eine zweiatomige Basis bestehend aus
jeweils einem roten und blauen Atom setzen. Die Vektoren a 1 und a 2 sind die primitiven Gittervekto-
ren, der Vektor a B gibt die Verschiebung der beiden Untergitter aus roten und blauen Kohlenstoffato-
men an.

Es kann gezeigt werden, dass beide Definitionen äquivalent sind. In Abb. 1.1 ist als Beispiel
ein zweidimensionales Bienenwaben-Gitter gezeigt. Die Schnittpunkte dieses Musters bilden
kein Bravais-Gitter. Die Anordnung der Punkte sieht zwar von Punkt P oder R aus betrachtet
identisch aus. Die Ansicht von Punkt Q aus ist dagegen um 60○ gedreht. Ein Bravais-Gitter
bilden deshalb nur jeweils die rot oder blau markierten Gitterpunkte, auf die man eine zwei-
atomige Basis bestehend aus einem roten und blauen Atom setzen muss. Ein Beispiel hierfür
ist Graphen (vergleiche Abschnitt 1.2.10), bei dem sowohl die rot als auch die blau markier-
ten Atome Kohlenstoffatome sind. Obwohl wir also nur eine Atomsorte vorliegen haben,
besitzt Graphen eine zweiatomige Basis aus zwei Kohlenstoffatomen.
Eine analoge Formulierung von (2) ist, dass ein Bravais-Gitter invariant gegenüber diskreten
Translationen um den Translationsvektor

T = n 1 a1 + n 2 a2 + n 3 a3 n 1 , n 2 , n 3 ganzzahlig (1.1.3)

a2´
a2
a2´´´
a1 a1´ a1´´´
a2´´ T
Abb. 1.2: Gitterpunkte eines zweidi- (a)
mensionalen (a) und eines dreidi- a1´´
mensionalen (b) Bravais-Gitters und
einige Möglichkeiten für die Wahl
der primitiven Gittervektoren. Die
Vektoren a ′1,2 und a′′1,2 sind keine
primitiven Translationsvektoren,
da wir die Gittertranslation T nicht a3
mit ganzzahligen Kombinationen a2
von a ′1,2 und a′′1,2 bilden können. (b) a1

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1.1 Periodische Strukturen – Grundbegriffe und Definitionen 5

ist. Zwei Punkte eines Bravais-Gitters sind immer durch einen Vektor T miteinander verbun-
den. Greifen wir einen beliebigen Punkt r eines Kristalls heraus, so gilt für dessen Umgebung
U(r) wegen der Translationsinvarianz des Gitters immer U(r) = U(r + T).
Ein Nachteil der Definition (2) ist, dass die Wahl der primitiven Gittervektoren nicht ein-
deutig ist, wie in Abb. 1.2 dargestellt ist.

Primitive Gitterzelle
Die primitiven Gittervektoren a1 , a2 und a3 spannen ein Parallelepiped, die so genannte
primitive Gitterzelle oder Elementarzelle auf. Ihr Volumen ist durch das Spatprodukt

Vc = (a1 × a2 ) ⋅ a3 (1.1.4)

gegeben. Verschiebt man das Volumen der primitiven Gitterzelle um den Translationsvek-
tor T, so wird der gesamte Raum gerade ausgefüllt, ohne dass Überlappungen oder Löcher
entstehen. Wie Abb. 1.3 zeigt, gibt es wiederum eine Vielzahl von Möglichkeiten für die
Wahl der primitiven Gitterzelle. Diese muss auch nicht die Symmetrie des Gitters haben.
Eine primitive Gitterzelle enthält aber immer genau einen Gitterpunkt und alle primitiven
Gitterzellen besitzen das gleiche Volumen. Ist die Gitterzelle ein Paralellogramm mit Gitter-
punkten an allen Ecken, so ist die Anzahl der Gitterpunkte pro primitiver Gitterzelle auch
nur 14 ⋅ 4 = 1, da jeder Gitterpunkt mit vier benachbarten Zellen geteilt wird.

(a) (b)

Abb. 1.3: Einige mögliche primitive Gitterzellen


(c) (d) für ein zweidimensionales Bravais-Gitter.

Konventionelle Gitterzelle
Wir können den Raum auch mit nicht-primitiven Gitterzellen füllen, die wir einfach als
Einheitszelle oder konventionelle Zelle bezeichnen. Eine Einheitzelle ist ebenfalls ein Raum-
element, das den ganzen Raum ohne jegliche Löcher und Überlapp ausfüllt, wenn es durch
eine Untergruppe der möglichen Translationsvektoren verschoben wird. Die konventionelle
Zelle ist üblicherweise größer als die primitive Zelle und wird entsprechend der Symmetrie
des Gitters gewählt. Zum Beispiel beschreibt man das raumzentrierte kubische Gitter (bcc:
body centered cubic) mit einer kubischen Einheitszelle, die zweimal so groß ist wie die pri-
mitive bcc-Zelle. Das flächenzentrierte kubische Gitter (fcc: face centered cubic) beschreibt

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6 1 Kristallstruktur

109°28´

60°

(a) (b)
Abb. 1.4: Primitive (Blautöne) und konventionelle Zelle (Würfel) für ein kubisch raumzentriertes (a)
und ein kubisch flächenzentriertes (b) Bravais-Gitter.

man meist mit einer kubischen Einheitszelle, die viermal so groß ist wie die primitive Zelle
(siehe Abb. 1.4). Die Längen, die die Größe der Einheitszelle beschreiben, so wie die Länge
a bei einem kubischen Kristall, werden Gitterkonstanten genannt.

Wigner-Seitz-Zelle
Wir können immer eine primitive Gitterzelle mit der vollen Symmetrie des Bravais-Gitters
auswählen. Die am häufigsten verwendete Wahl ist die Wigner-Seitz-Zelle.7 Die Wigner-
Seitz-Zelle um einen Gitterpunkt ist derjenige Bereich, der diesem Gitterpunkt näher ist als
irgendeinem anderen Gitterpunkt. Aufgrund der Translationssymmetrie des Bravais-Gitters
muss die Wigner-Seitz-Zelle um irgendeinen Gitterpunkt in eine um einen anderen Gitter-
punkt überführt werden, wenn sie um den Translationsvektor T verschoben wird.

Abb. 1.5: Die Wigner-Seitz-Zelle.

7
Eugene Paul Wigner, geboren am 17. November 1902 in Budapest, gestorben am 1. Januar 1995
in Princeton, ungarisch-amerikanischer Physiker. Er erhielt 1963 zusammen mit J. Hans D. Jensen
und Maria Goeppert-Mayer der Nobelpreis für Physik „für seine Beiträge zur Theorie des Atom-
kerns und der Elementarteilchen, besonders durch die Entdeckung und Anwendung fundamentaler
Symmetrie-Prinzipien“.
Frederik Seitz, geboren am 4. Juli 1911 in San Francisco, gestorben am 2. März 2008 in New York.
US-amerikanischer Physiker, er war von 1962 bis 1969 Präsident der National Academy of Sciences
und von 1968 bis 1978 Präsident der Rockefeller University in New York.

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1.1 Periodische Strukturen – Grundbegriffe und Definitionen 7

Abb. 1.5 zeigt die Wigner-Seitz-Zelle eines zweidimensionalen Bravais-Gitters. Sie wird er-
halten, indem wir Verbindungslinien von dem betreffenden Gitterpunkt zu den Nachbar-
punkten ziehen und auf den Mittelpunkten der Verbindungslinien Geraden (bei dreidimen-
sionalen Gittern Flächen) senkrecht zu den Verbindungslinien zeichnen. Die kleinste um-
schlossenen Fläche (Volumen) ist die Wigner-Seitz-Zelle.

1.1.2 Klassifizierung von Kristallgittern


In unserer bisherigen Betrachtung haben wir nur die Translationssymmetrie eines Kristall-
gitters betrachtet. Wir haben gesehen, dass die Translation des Gitters um den Translati-
onsvektor T das Gitter in sich selbst überführt. Die Translationssymmetrie des Kristallgit-
ters ist essentiell für die theoretische Beschreibung von Festkörpern. Es ist aber einsichtig,
dass wir auch andere Symmetrieoperationen durchführen können, die den Kristall in sich
selbst überführen. Solche Symmetrieoperationen sind z. B. Drehungen um 2π, 2π/2, 2π/3,
2π/4 und 2π/6 sowie um ganzzahlige Vielfache dieser Drehungen. Wir kennzeichnen diese
Drehungen durch die Symbole 1, 2, 3, 4 und 6. Wir werden sehen, dass wir verschiedene
Kristallgitter entsprechend ihrer Symmetrieeigenschaften in Kategorien aufteilen können.
Es ist Gegenstand der Kristallographie, diese Aufteilung systematisch und präzise zu ma-
chen.8 Wir werden hier nur die Grundlagen für die ziemlich aufwändige kristallographische
Klassifizierung geben.
Interessant ist, dass wir kein Gitter finden können, dass durch eine Drehung um 2π/5 oder
2π/7 in sich selbst überführt werden kann. Wir können zwar auf jeden Gitterpunkt eines
Bravais-Gitters ein Molekül mit einer fünfzähligen Rotationsachse setzen, das Gitter dagegen
kann keine fünfzählige Achse besitzen. Wir werden diesen Sachverhalt in Abschnitt 1.1.4 im
Zusammenhang mit der Diskussion von Quasikristallen nochmals aufgreifen.

Symmetrieoperationen
Das Problem der Klassifizierung von Kristallstrukturen ist sehr komplex und wir wollen hier
nur die Grundzüge erläutern. Vom Standpunkt der Symmetrie aus betrachtet ist ein Kristall-
gitter durch alle geometrischen Operationen charakterisiert, die es in sich selbst überführen.
Solche Operationen nennen wir Symmetrieoperationen. Das zu einer Symmetrieoperati-
on gehörende geometrische Objekt bezeichnen wir als Symmetrieelement. Das Symmetrie-
element bilden alle Punkte, die bei dieser Bewegung unverändert bleiben. Zum Beispiel ge-
hört zur Operation der Spiegelung an einer Ebene als Symmetrieelement die Spiegelebene,
zur Drehung um eine Achse als Symmetrieelement die Drehachse.

Translation Spiegelung Drehung


Abb. 1.6: Symmetrie-
a operationen in einem ein-
dimensionalen Gitter.

8
siehe zum Beispiel M. J. Buerger, Elementary Crystallography, John Wiley & Sons, New York (1963).

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8 1 Kristallstruktur

Als einfaches Beispiel betrachten wir die in Abb. 1.6 gezeigte eindimensionale Kette von
Atomen mit Abstand a. Symmetrieoperationen sind (i) Translationen um na, wobei n eine
ganze Zahl ist, (ii) die Drehung um 180○ und (iii) die Spiegelung an der Mittelsenkrechten
zwischen zwei Gitterpunkten.
Im Allgemeinen beinhalten die Symmetrieoperationen eines Kristallgitters Translationen,
Rotationen, Spiegelungen und die Inversion. Diese Symmetrieoperationen werden in

1. die Translationsgruppe, die alle Symmetrieoperationen beinhaltet, bei denen kein orts-
fester Punkt existiert, und
2. die Punktgruppe, die alle Symmetrieoperationen beinhaltet, bei denen mindestens ein
Punkt ortsfest bleibt,

unterteilt. Dies ist deshalb möglich, da wir alle Symmetrieoperationen eines Bravais-Gitters
durch eine Translation und eine Operation, bei der mindestens ein Gitterpunkt fest bleibt,
zusammensetzen können. Symmetrieoperationen, die durch die sukzessive Anwendung von
Operationen aus der Translationsgruppe und der Punktgruppe erhalten werden, führen zu
den Raumgruppen oder Gitterpunktgruppen.

Symmetrieoperationen der Punktgruppe


Wir veranschaulichen uns zunächst die Symmetrieoperationen der Punktgruppe und stel-
len die zugehörige Notation vor. Für dreidimensionale Gitter gibt es genau die in Abb. 1.7
dargestellten 10 Operationen der Punktsymmetriegruppe, und zwar die 1-, 2-, 3-, 4- und
6-zähligen Drehachsen und ihre so genannten Drehinversionsachsen, die als Kombination
einer Drehachse mit einem Inversionszentrum definiert sind. Für die Darstellung benutzen
wir die stereographische Projektion.9 Wir werden im Folgenden einige Symmetrieoperatio-
nen näher erläutern:

1. Drehung um eine Achse:


Rotationssymmetrie ist vorhanden, wenn Drehungen um eine bestimmte Achse die Kris-
tallstruktur in sich überführen. Der triviale Fall ist eine Rotation um 2π, er wird als Iden-
tität bezeichnet und mit dem Symbol 1 charakterisiert. Wir haben aber bereits diskutiert,
dass Drehungen um 2π/2, 2π/3, 2π/4 und 2π/6 möglich sind. Wir sprechen dann von

9
Die geeignetste Art der graphischen Darstellung einer Kristallform oder auch ihrer Symmetrie-
gruppe, ist die stereographische Projektion. Wir erhalten sie nach folgendem Konstruktionsprin-
zip:
∎ Wir legen eine Kugel konzentrisch um den Kristall.
∎ In den Durchstosspunkten der Flächennormalen mit der Kugeloberfläche erhalten wir die Flä-
chenpole.
∎ Wir verbinden die Flächenpole der Nordhemisphäre mit dem Südpol und die der Südhemi-
sphäre mit dem Nordpol. Die Projektion der Flächenpole längs der Verbindungslinien auf die
Äquatorialebene nennen wir stereographische Projektion.
∎ Ebenso können wir mit den Durchstosspunkten von Drehachsen oder den Schnittkreisen
von Spiegelebenen verfahren und erhalten dann die stereographische Projektion der zu einer
Punktsymmetriegruppe gehörenden Symmetrieelemente.

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1.1 Periodische Strukturen – Grundbegriffe und Definitionen 9

1 2 3 4 6
2 2 3 2
2 3 4
1 1 3 1 1 1
4 5 6

1̅ (i) 2̅ (m) 3̅ 4̅ 3

5 3
1 1 3 1 1
1 5

6
2 4 6 4
2 4
2 2 2
Abb. 1.7: Zur Veranschaulichung der zehn Symmetrieoperationen der Punktgruppe für ein drei-
dimensionales System. Es wird die in der Kristallographie übliche Symbolik verwendet.

2-, 3-, 4- und 6-zähligen Drehachsen, die wir mit den Symbolen 2, 3, 4 und 6 bezeich-
nen. Es kann streng bewiesen werden, dass für einen periodischen Kristall nur 2-, 3-,
4- und 6-zähligen Drehachsen möglich sind. Alle anderen Ordnungen von Drehachsen
sind inkompatibel mit der Translationssymmetrie.
2. Inversion:
Die Inversionssymmetrie wird durch die Koordinatentransformation x ′ = −x, y ′ = −y,
z ′ = −z beschrieben. Dies kann als eine Punktspiegelung an einem Inversions- oder Sym-
metriezentrum verstanden werden. Das Vorhandensein eines Inversionszentrums wird
mit dem Symbol 1 oder i charakterisiert.
3. Spiegelung an einer Ebene:
Bei der Spiegelung werden im Gegensatz zu einer Drehung nicht nur die Punkte auf einer
Achse, sondern die Punkte auf einer ganzen Ebene festgehalten. Diese Symmetrieoperati-
on kann mathematisch durch eine Koordinatentransformation ausgedrückt werden. Für
die Spiegelung an der yz-Ebene gilt zum Beispiel die Transformation: x ′ = −x, y ′ = y,
z ′ = z. Das Vorhandensein einer Spiegelebene in einer Kristallstruktur wird durch das
Symbol 2 oder m charakterisiert.

Außer Drehachsen, der Spiegelebene und dem Inversionszentrum gibt es noch weitere Arten
von Symmetrieoperationen mit konstantem Punkt, die sich aber aus den genannten durch
sukzessives Ausführen zusammensetzen lassen. Dabei ist extrem wichtig, dass die einzel-
nen Symmetrieoperationen nicht notwendigerweise möglich sind. Die Definitionen dieser
Symmetrieelemente sind bei der Hermann-Mauguin- und bei der Schönflies-Nomenklatur
leider grundsätzlich unterschiedlich: (i) In der Schönflies-Nomenklatur werden n-zählige
Drehspiegelachsen definiert. Einer Drehung um 2π/n folgt eine Spiegelung an der Ebene
senkrecht zur Drehachse. Die Bezeichnung ist Sn . (ii) In der Hermann-Mauguin-Nomen-
klatur werden dagegen n-zählige Drehinversionsachsen eingeführt. Der Drehung um 2π/n
folgt hier eine Punktspiegelung, die Bezeichnung ist n.

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10 1 Kristallstruktur

4. Drehinversion:
Wir können die Inversion mit einer Drehung um eine Achse durch das Inversionszen-
trum verknüpfen, um die neue Symmetrieoperation der Drehinversion zu erhalten. Sie
wird charakterisiert durch die Symbole 1, 2, 3, 4 und 6. Da das Vorhandensein eines In-
versionszentrums immer mit einer einzähligen Drehinversionsachse zusammenfällt, das
heißt i = 1 gilt, wird das Symbol i meist nicht verwendet. Ferner kann die Spiegelung an
einer Ebene durch eine Drehinversion um 180○ , d. h. durch eine Drehung um 2π/2 und
anschließende Inversion, realisiert werden. Da also m = 2 gilt, wird auch das Symbol m
oft nicht verwendet.
5. Drehspiegelung:
Wir können eine Drehung mit anschließender Spiegelung an einer Ebene senkrecht zur
Drehachse verknüpfen. S1 , d. h. n = 1, entspricht einer Drehung um 2π, die von einer
Spiegelung gefolgt wird. Dies ist natürlich identisch ist mit eine einfachen Spiegelung,
wobei die Spiegelebene senkrecht zur Drehspiegelachse erläuft. S1 ist also kein neues
Symmetrieelement sondern die altbekannte Spiegelung. Bei S2 , d. h. n = 2, folgt die Spie-
gelung auf eine Drehung um π, woraus wiederum ein schon bekanntes Symmetrieele-
ment, nämlich die Inversion resultiert. S3 bedeutet eine Drehung um 2π/3, die von einer
Spiegelung gefolgt wird. Das Ergebnis entspricht einer 3-zähligen Achse, auf der eine
Spiegelebene senkrecht steht. Bei S4 erfolgt die Drehung um 2π/4 gefolgt von einer Spie-
gelung. Hieraus ergibt sich ein neues Symmetrieelement, das z. B. bei einem Tetraeder
vorliegt. S6 (Drehung um 2π/6 und Spiegelung) entspricht zwar dem Vorliegen einer
dreizähligen Drehachse mit zusätzlichem Inversionszentrum, wird aber trotzdem als ei-
genes Symbol eingeführt und verwendet. Es ist ein sehr wichtiges Symmetrieelement der
anorganischen Chemie, das bei Oktaedern vorliegt.

Die 32 Kristallklassen Üblicherweise liegen in einem Kristall mehrere Symmetrieopera-


tionen gleichzeitig vor. Mit gruppentheoretischen Methoden, auf die wir hier nicht näher
eingehen können, kann allgemein gezeigt werden, dass die Menge aller Symmetrieoperatio-
nen die Eigenschaften einer mathematischen Gruppe, der so genannten Symmetriegruppe
besitzt. Für dreidimensionale Gitter ist die Bildung von Symmetriegruppen aus den zehn
Symmetrieoperationen der Punktgruppe genau auf 32 Möglichkeiten beschränkt.10 Wir un-
terscheiden deshalb 32 Kristallklassen, die in Tabelle 1.1 aufgelistet sind. Jeder Kristall kann
aufgrund seiner Symmetrieeigenschaften eindeutig einer dieser 32 Kristallklassen zugeord-
net werden.

Bezeichnungssysteme für Kristallklassen Für die Bezeichnung der Kristallklassen wer-


den zur Zeit zwei äquivalente Bezeichnungssysteme, die Schoenflies Notation und die inter-
nationale Notation oder Hermann-Mauguin-Symbolik 11 verwendet. Bei der internationa-

10
Zwei Symmetriegruppen sind identisch, wenn sie genau die gleichen Operationen enthalten. Zum
Beispiel ist der Satz von Symmetrieoperationen eines Würfels identisch zu dem eines Oktaeders.
11
Benannt ist diese Symbolik nach den beiden Kristallographen Carl Hermann (Professor für Kris-
tallographie, geboren am 17. Juni 1898 in Wesermünde bei Bremerhaven, gestorben am 12. Sep-
tember 1961) und Charles-Victor Mauguin (Professor für Mineralogie, geboren am 19. Juli 1878
in Provins, Frankreich, gestorben am 25. April in 1958 in Villejuif, Frankreich).

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1.1 Periodische Strukturen – Grundbegriffe und Definitionen 11

Tabelle 1.1: Zusammenstellung der 32 Kristallklassen. Für die Symbolik wird sowohl die Nomenklatur
nach Hermann und Mauguin sowie nach Schoenflies verwendet.

♯ Kristallsystem Hermann und Mauguin Schoenflies


Kurzsymbol Langsymbol
1 triklin 1 1 C1 Ci
2 1 1
3 monoklin 2 121 C2 Cs C2h
4 m 1m1
5 2/m 1 2/m 1
6 orthorhombisch 222 222 D2 C2v D2h
7 mm2 mm2
8 mmm 2/m 2/m 2/m
9 tetragonal 4 411 C4 S4 C4h D4 C4v D2d D4h
10 4 4
11 4/m 4/m
12 422 422
13 4mm 4mm
14 42m 42m
15 4/mmm 4/m 2/m 2/m
16 trigonal 3 3 C3 C3i D3 C3v D3d
17 3 3
18 32 32
19 3m 3m
20 3m 3 2/m
21 hexagonal 6 6 C6 C3h C6h D6 C6v D3h D6h
22 6 6
23 6/m 6/m
24 622 622
25 6mm 6mm
26 62m 62m
27 6/mmm 6/m 2/m 2/m
28 kubisch 23 23 TTh OTd Oh
29 m3 m3
30 432 432
31 43m 43m
32 m3m 4/m 3 2/m

len Bezeichnung werden Drehachsen bzw. Drehinversionsachsen sowie Spiegelebenen zur


Kennzeichnung benutzt, wie wir bereits oben diskutiert haben. Die Schoenflies Notation,
die häufig in der Gruppentheorie und der Spektroskopie verwendet wird, ist in Tabelle 1.2
zusammengefasst. Die Kennzeichnung erfolgt mit Hilfe von Hauptsymbolen, die die Zählig-
keit der Drehachsen beinhalten. Zum Beispiel wird eine Kristallstruktur mit einer 6-zähligen
Drehachse und zwei Spiegelebenen parallel zur Drehachse mit C 6v bezeichnet.
Bei der internationalen Nomenklatur sind drei Kategorien identisch zur Schönflies Notation:

1. n entspricht C n , z. B. 6 ≡ C 6 .
2. nmm entspricht C nv , z. B. 6mm ≡ C 6v .
3. n22 entspricht D n .

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12 1 Kristallstruktur

Tabelle 1.2: Die Schoenflies Notation für die Punktgruppen (C steht für „cyclic“, D für „dihedral“ und
S für „Spiegel“).

Symbol Bedeutung
Klassifizierung nach Hauptdrehachsen und Spiegelebenen
Cn (n = 2, 3, 4, 6), n-zählige Drehachse
Sn n-zählige Drehinversionsachse
Dn n-zählige Drehachse senkrecht zu einer Hauptdrehachse
T 4 drei- und 3 zweizählige Drehachsen wie beim Tetraeder
O 3 vier- und 4 dreizählige Drehachsen wie beim Oktaeder
Ci Inversionszentrum
Cs Spiegelebene
zusätzliche Symbole für Spiegelebenen
h horizontal = senkrecht zur Drehachse
v vertikal = parallel zur Drehachse
d diagonal = parallel zur Hauptdrehachse in der Ebene, die die zweifachen Drehachsen halbiert

Bezüglich der anderen Kategorien existieren einige subtile Unterschiede, die wir hier nicht
diskutieren wollen.12 Im Allgemeinen bezeichnet bei der internationalen Notation das Sym-
bol n eine Gruppe mit einer n-zähligen Drehinversionsachse, n/m eine Gruppe mit einer
n-zähligen Drehachse und einer Spiegelebene parallel zur Hauptdrehachse, was bis auf ei-
nige Ausnahmen C nh entspricht. Zur Veranschaulichung der Notationen sind in Abb. 1.8
einige Beispiele gezeigt.

Oh O

m3m 432

Th Td T

Abb. 1.8: Objekte mit der Sym-


metrie der fünf kubischen Punkt-
gruppen. Oben neben dem Ob-
jekt steht die Schönflies-, un-
ten die internationale Notation. m3 43m 23

Die 7 Kristallsysteme Sinnvollerweise wird für die Beschreibung von Kristallen und Kris-
tallstrukturen kein kartesisches Koordinatensystem, sondern ein an das Kristallsystem an-
gepasstes Koordinatensystem verwendet, mit dem die Beschreibung der Kristallsymmetrie
besonders einfach wird.13 Es kann gezeigt werden, dass es sinnvoll ist, genau sieben unter-
12
W. Kleber, H.-J. Bautsch, J. Bohm, D. Klimm, Einführung in die Kristallographie, Oldenbourg Ver-
lag, München (2010).
13
J. J. Burckhardt, Die Symmetrie der Kristalle, Birkhäuser Verlag, Basel (1988).

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1.1 Periodische Strukturen – Grundbegriffe und Definitionen 13

schiedliche Koordinatensysteme zu verwenden, die in der Kristallographie als Kristallsys-


teme bezeichnet werden. Die sieben Kristallsysteme – triklin, monoklin, orthorhombisch,
tetragonal, trigonal, hexagonal und kubisch – gehen auf Christian Samuel Weiss14 zurück,
der diese auf Grund der bei natürlichen Mineralkristallen beobachteten Lage der Symme-
trieelemente zueinander erstmals abgeleitet hat. Jede Kristallklasse wird einem Kristallsys-
tem zugeordnet (siehe hierzu Tabelle 1.1).
Die Wahl von an das Kristallsystem angepassten Koordinatensystemen erfordert Einschrän-
kungen für die primitiven Gittervektoren, die in Tabelle 1.3 zusammengefasst sind. Ein we-
sentlicher Vorteil der Einführung der Kristallsysteme ist, dass dadurch alle Rotationsmatri-
zen der Symmetrieoperationen durch einfache 3×3-Matrizen beschrieben werden können.
Als Beispiel betrachten wir das monokline Kristallsystem, zu dem die Kristallklassen 2, m
und 2/m gehören. Für diese Kristallklassen ist eine Vorzugsrichtung die Richtung der zwei-
zähligen Drehachse oder die Normale auf der Spiegelebene. Da im monoklinen Kristallsys-
tem einer der Winkel (β in unserer Konvention) von 90○ abweicht, gibt es in diesem System
eine ausgezeichnete Richtung senkrecht zur Ebene, die von den Gittervektoren a und c auf-
gespannt wird, welche β einschließen. Diese Richtung, die parallel zum Gittervektor b ist,
bezeichnet man als monokline Achse. Wir legen nun diese monokline Achse in die Vor-
zugsrichtung des monoklinen Kristallsystems. In diesem Fall können wir die symmetriever-
wandten Positionen eines Atoms mit dem Ortsvektor r in einfacher Weise angeben:

⎛ −1 0 0 ⎞
r′ = ⎜ 0 1 0 ⎟ r (zweizählige Achse) (1.1.5)
⎝ 0 0 −1 ⎠

⎛1 0 0⎞
r′ = ⎜ 0 −1 0 ⎟ r (Spiegelebene) (1.1.6)
⎝0 0 1⎠

⎛ −1 0 0 ⎞
r′ = ⎜ 0 −1 0 ⎟ r (Inversionszentrum) (1.1.7)
⎝ 0 0 −1 ⎠

Hätten wir ein anderes Koordinatensystem gewählt, so hätten wir zwar auch 3×3-Matrizen
für die Symmetrieoperationen erhalten, sie wären aber nicht so einfach gewesen. Wir sehen
also, dass die mit dem monoklinen Kristallsystem verbundene Wahl des Koordinatensystems
besonders für die betrachtete Kristallklassen 2, m und 2/m geeignet ist.

Symmetrieoperationen der Raumgruppe


Wir haben bisher nur die Symmetrieoperationen der Punktgruppe betrachtet, die mindes-
tens einen ortsfesten Punkt besitzen. Lassen wir diese Einschränkung fallen, können wir
Symmetrieoperationen der Translationsgruppe hinzufügen. Durch das Zulassen translati-
ver Symmetrieoperationen – daraus ergeben sich z. B. Gleitspiegelebenen und Schrauben-
achsen – und den Gittertranslationen ergibt sich eine Vielzahl neuer Symmetriegruppen, die
14
Christian Samuel Weiss, geboren am 26. Februar 1780 in Leipzig; gestorben am 1. Oktober 1856
bei Eger in Böhmen, deutscher Mineraloge und Kristallograph.

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14 1 Kristallstruktur

Tabelle 1.3: Die sieben Kristallsystem Anzahl der Achsen und Winkel Achsen-
Kristallsysteme im dreidi- Gitter zähligkeit
mensionalen Raum. Die kubisch 3 a=b=c 3 (vier)
Anzahl der Gitter gibt α = β = γ = 90○
die Anzahl der mögli-
tetragonal 2 a=b≠c 4
chen zentrierten Gitter an. α = β = γ = 90○
rhombisch 4 a≠b≠c 2 (zwei)
α = β = γ = 90○
hexagonal 1 a=b≠c 6
α = β = 90○ , γ = 120○
trigonal 1 a=b=c 3
(rhomboedrische α = β = γ < 120○ , ≠ 90○
Aufstellung)
monoklin 2 a≠b≠c 2
α = γ = 90○ ≠ β
triklin 1 a≠b≠c 1
α≠β≠γ

wir als Raumgruppen bezeichnen. Wir erhalten insgesamt 230 unterschiedliche Raumgrup-
pen. Die Bestimmung der 230 möglichen Raumgruppen (bzw. Raumgruppentypen) erfolgte
1891 unabhängig voneinander durch Arthur Moritz Schoenflies15 , 16 und Jewgraf Stepano-
witsch Fjodorow.17 , 18
Bei der Betrachtung von Symmetrieoperationen ist es wichtig sich klar zu machen, dass die
Basis nicht unbedingt die volle Symmetrie des Gitters haben muss. Würden wir für die Basis
eine Kugelsymmetrie (höchste Symmetrie) annehmen, so würden wir gerade 14 Raumgrup-
pen erhalten. Die entsprechenden 14 Gittertypen nennen wir Bravais-Gitter. Die zu den sie-
ben fundamentalen, oben genannten Gittern aus Symmetrieüberlegungen hinzukommen-
den weiteren sieben Gitter sind zentrierte Gitter. Im Gegensatz zu den primitiven Gittern
enthalten sie im Inneren der Einheitszellen einen oder mehrere zusätzliche Gitterpunkte.
Hat die Basis nicht die volle Symmetrie des Gitters, so wird die Anzahl der möglichen Raum-
gruppen stark vergrößert bis maximal auf 230.
Um uns den Einfluss der Basis klar zu machen, betrachten wir ein kubisches Gitter. In
Abb. 1.9(a) ist die verwendete Basis mit der kubischen Symmetrie verträglich, während dies
in Abb. 1.9(b) nicht der Fall ist. In Abb. 1.9(a) finden wir zusätzlich zu den vier dreizäh-
ligen Drehachsen, die wir für das kubische System gefordert haben, noch drei vierzählige
Drehachsen und Spiegelebenen. Wir können uns auch noch andere Basiskonfigurationen
überlegen, die neben den vier dreizähligen Achsen noch weitere Symmetrieelemente auf-
weisen. In Abb. 1.9(b) finden wir nur noch zwei zweizählige Drehachsen und eine geringere
Zahl von Spiegelebenen. Eine systematische Analyse ergibt gerade, dass es insgesamt fünf
15
Arthur Moritz Schoenflies, Mathematiker, geboren am 17. April 1853 in Landsberg an der Warthe
(heute Gorzów Polen), gestorben am 27. Mai 1928 in Frankfurt am Main.
16
Arthur Schoenflies, Synthetisch-geometrische Untersuchungen über Flächen zweiten Grades und eine
aus ihnen abgeleitete Regelfläche, Dissertation, Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin (1877).
17
Jewgraf Stepanowitsch Fjodorow, russischer Kristallograph und Mineraloge, geboren am 22. De-
zember 1853 in Orenburg, gestorben am 21. Mai 1919 in Petrograd.
18
J. S. Fedorov, Symmetry of crystals, übersetzt aus dem Russischen von David und Katherine Harker,
New York, American Crystallographic Association, Monograph 7, (1971).

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1.1 Periodische Strukturen – Grundbegriffe und Definitionen 15

(a) (b)

Abb. 1.9: Kubische Elementarzellen


mit Basen unterschiedlicher Sym-
metrie: (a) mit der kubischen Sym-
metrie verträgliche Basiskonfigurati-
on, (b) mit der kubischen Symmetrie
nicht verträgliche Basiskonfiguration.

verschiedene Anordnungen gibt, so dass wir das kubische Kristallsystem in fünf Kris-
tallklassen unterteilen können (siehe hierzu Tabelle 1.1). Entsprechende Überlegungen
können wir für die anderen Kristallsysteme durchführen. Zählen wir dann die möglichen
Punktgruppen bzw. Kristallklassen ab, deren Symmetrieoperationen eine allgemeine Kris-
tallstruktur in sich selbst überführen, wobei ein Punkt festgehalten wird, so erhalten wir die
Zahl 32. Diese Zahl muss mit den 7 kristallographischen Punktgruppen (Kristallsystemen)
verglichen werden, die wir erhalten, wenn wir für die Basis die volle Symmetrie des Gitters
annehmen. Die möglichen Zahlen für die Punkt- und Raumgruppen sind in Tabelle 1.4
zusammengefasst.

Bravais-Gitter Kristallstrukturen Tabelle 1.4: Die kristallo-


(kugelsymmetrische Basis) (Basis mit beliebiger Symmetrie) graphischen Punkt- und
Raumgruppen.
Punktgruppen 7 Kristallsysteme 32 Kristallklassen
Raumgruppen 14 Bravais-Gitter 230 Raumgruppen

Natürlich muss ein Festkörperphysiker nicht alle 32 Kristallklassen und 230 Raumgruppen
parat haben, er muss nur von ihrer Existenz wissen. In der Praxis beschäftigt man sich meist
nur mit wenigen konkreten Fällen und man braucht nicht alle möglichen Situationen auf
Vorrat lernen. In zwei Dimensionen gibt es nur 10 Kristallklassen und 17 Raumgruppen.

Die vierzehn Bravais-Gitter Wir betrachten nun genauer den Fall, dass wir zu allen Sym-
metrieoperationen der Punktgruppe (mindestens) einen universellen Translationsvektor des
Gitters hinzufügen. Zu beachten ist dabei, dass wir dadurch unter Umständen keine primi-
tive Basis mehr erhalten. Es ist dann nötig zusätzlich zum Kristallsystem noch die Zentrie-
rung anzugeben. Gitter mit dieser Eigenschaft heißen zentrierte Gitter, nicht-zentrierte Git-
ter nennen wir primitiv und bezeichnen sie mit dem Gittersymbol P. Es wurde von Auguste
Bravais gezeigt, dass man bei der Anwendung aller möglichen Zentrierungen zu insgesamt
14 Gittertypen kommt, die nach ihm als Bravais-Gitter bezeichnet werden.19 Auguste Bra-
vais20 war schließlich im Jahr 1845 der erste, der die Anzahl der verschiedenen Bravais-Git-
tern mit 14 richtig bestimmte. Das heißt, vom Standpunkt der Symmetrie aus betrachtet
müssen wir nur 14 Bravais-Gitter unterscheiden. Unter den zentrierten Gittern unterschei-

19
Diese Zählung wurde zwar zuerst von M. L. Frankheim im Jahr 1842 durchgeführt. Allerdings
erhielt Frankheim mit 15 verschiedenen Gittern ein falsches Ergebnis.
20
Auguste Bravais, geboren am 23. August 1811 in Annonay, gestorben am 30. März 1863 in Ver-
sailles.

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16 1 Kristallstruktur

den wir zwischen einseitig flächen- oder basiszentrierten Gittern, die wir mit den Symbo-
len A, B, C bezeichnen, je nachdem welche Fläche der Elementarzelle betroffen ist. Allseitig
flächenzentrierte Gitter bezeichnen wir mit dem Symbol F und innenzentrierte Gitter mit
dem Symbol I (vergleiche Abb. 1.11). Ein zentriertes Gitter können wir uns aus mehreren
primitiven Gittern entstanden denken, die gegeneinander durch einen universellen Trans-
lationsvektor verschoben sind. Beim innenzentrierten Gitter ist der universelle Translati-
onsvektor eine halbe Raumdiagonale und das zentrierte Gitter ist zweifach primitiv. Beim
allseitig flächenzentrierten Gitter sind alle halben Flächendiagonalen universelle Translati-
onsvektoren und das resultierende zentrierte Gitter ist dann vierfach primitiv.21
Die Verwendung von zentrierten Gittern ist sinnvoll, weil in vielen Fällen die primitiven
Elementarzellen die Symmetrie der Punktgitter nicht zum Ausdruck bringen. Ein Beispiel
dafür ist in Abb. 1.10 gezeigt. Würden wir die durch die primitiven Gittervektoren a′ und
b′ aufgespannte primitive Gitterzelle zugrundelegen, so würden wir ein schiefwinkliges Git-
ter vermuten. Die vorliegende Symmetrie wird viel besser durch das mit den Gittervektoren
a und b aufgespannte innenzentrierte Rechteckgitter beschrieben. Der von a und b einge-
schlossene Winkel beträgt 90○ und es treten zusätzlich noch zwei Spiegelebenen auf.


Abb. 1.10: Zur Verwendung von zentrier- b
ten Gittern: Die von a′ und b′ aufgespann-
te primitive Gitterzelle spiegelt im Ge- a´
gensatz zur der von a und b aufgespann-
ten, nicht-primitiven rechteckigen Zelle a
nicht die volle Symmetrie des Gitters wider.

Wir haben bei der Diskussion der 7 Kristallsysteme bereits darauf hingewiesen, dass es sinn-
voll ist, für jedes Kristallsystem ein an die Symmetrie angepasstes Koordinatensystem zu
verwenden. Wir führen also für jedes Kristallsystem ein ganz bestimmtes Bezugssystem ein,
welches durch die drei Kristallachsen mit den Längeneinheiten a, b und c und den Achsen-
winkeln α, β und γ gegeben ist. Eine Zusammenstellung der Kristallachsen und der Ach-
senwinkel ist in Tabelle 1.3 gegeben. Durch die Kristallachsen wird ein Parallelepiped, die
so genannte Einheitszelle aufgespannt. Die Länge a, b und c der Kristallachsen bezeichnen
wir als Gitterkonstanten. Wir wollen im Folgenden die sieben Kristallsysteme und die ihnen
zugeordneten Bravais-Gitter anhand von Abb. 1.11 kurz diskutieren.

1. kubisches Kristallsystem (3) — a = b = c, α = β = γ = 90○ :


Das kubische Kristallsystem oder auch kubisches Gitter weist unter den sieben Kristall-
systemen die höchste Symmetrie auf. Das Koordinatensystem ist rechtwinklig, die Ach-
sen sind alle gleich lang, d. h. vertauschbar. Die Symmetrieelemente, welche das Kris-
tallsystem definieren, sind vier dreizählige Achsen durch die Raumdiagonalen und drei
aufeinander senkrecht stehende vierzählige Drehachsen durch die Würfelflächen. Das
21
Ein Sonderfall liegt beim hexagonalen System vor. Dort ist ein dreifach primitives zentriertes Gitter
möglich, das aber durch Transformation der hexagonalen Elementarzelle in eine rhomboedrische
Elementarzelle in ein primitives Gitter übergeht. Ein solches Gitter nennen wir rhomboedrisch
und kennzeichnen es mit dem Symbol R.

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1.1 Periodische Strukturen – Grundbegriffe und Definitionen 17

Kristallsystem zugehörige Bravais-Gitter


1 kubisch c
E
P I F D
b
J
2 tetragonal
P I a

3 rhombisch
P I C F

4 hexagonal 5 trigonal 4 Arten von Einheitszellen:


P = primitiv
P I = raumzentriert
F = flächenzentriert
C = basiszentriert

6 monoklin 7 triklin

P C P

Abb. 1.11: Die 14 Bravais-Gitter. Die Elementarzelle des hexagonalen Gitters ist primitiv und umfasst
nur das blau schattierte reguläre Prisma.

kubische Kristallsystem enthält diejenigen Bravais-Gitter, deren Punktgruppe genau der-


jenigen eines Würfels entspricht. Drei Bravais-Gitter mit nichtäquivalenten Raumgrup-
pen haben die gleiche kubische Punktgruppe: (i) einfach kubisch, (ii) kubisch raumzen-
triert (fcc: face-centered cubic) und (iii) kubisch flächenzentriert (bcc: body-centered
cubic).
2. Tetragonales Kristallsystem (2) — a = b ≠ c, α = β = γ = 90○ :
Wir können die kubische Symmetrie reduzieren, indem wir zwei entgegengesetzte Flä-
chen auseinanderziehen, so dass z. B. a = b ≠ c. Die erhaltene Symmetriegruppe ist die
tetragonale Gruppe. Beim tetragonalen Kristallsystem ist das Koordinatensystem wie
auch bei dem kubischen und dem rhombischen Kristallsystem rechtwinklig, jedoch sind
hier genau zwei Achsen des Achsenkreuzes gleich lang. Das definierende Symmetrieele-
ment ist eine vierzählige Achse parallel zu c. Durch Dehnen des primitiven kubischen
Bravais-Gitters erhalten wir das primitive tetragonale Gitter. Dehnen wir das kubisch
raumzentrierte oder flächenzentrierte Gitter, so erhalten wir das raumzentrierte tetrago-
nale Gitter. Es stellt sich natürlich die Frage, warum es kein basiszentriertes tetragonales
Gitter gibt. Wir können uns aber leicht überzeugen, dass bei einer anderen Wahl der

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18 1 Kristallstruktur

(a) (b)

(c) (d)

Abb. 1.12: Zwei Arten, das gleiche pri-


mitive tetragonale Gitter zu verformen
(die c-Achse zeigt aus der Papierebene).

Kristallachsen ein basiszentriertes tetragonales Gitter in ein primitives tetragonales Git-


ter übergeht. Dies erkennen wir zum Beispiel aus Abb. 1.12a und c. Durch eine andere
Wahl der Kristallachsen geht das basiszentrierte Gitter in (c) in ein primitives Gitter in (a)
über.
3. Rhombisches Kristallsystem (4) — a ≠ b ≠ c, α = β = γ = 90○ :
Das orthorhombische Kristallsystem ist ein rechtwinkliges Kristallsystem mit drei
90○ -Winkeln, jedoch ohne gleichlange Achsen (a ≠ b ≠ c). Die definierenden Sym-
metrieelemente sind drei aufeinander senkrecht stehende zweizählige Achsen oder
Spiegelebenen. Wir unterscheiden bei diesem Kristallsystem entsprechend dem Bravais-
Gitter zwischen dem rhombisch-primitiven, dem rhombisch-basiszentrierten, dem
rhombisch-raumzentrierten und dem rhombisch-flächenzentrierten Gitter.
Das primitive rhombische Gitter erhalten wir, indem wir das primitive tetragonale Gitter
entlang einer der a-Achsen dehnen. Dehnen wir es dagegen entlang der Raumdiagona-
len in der Basisebene, so erhalten wir das basiszentrierte rhombische Gitter. Dies ist in
Abb. 1.12 gezeigt. In (a) sind die Verbindungslinien so gezeichnet, um hervorzuheben,
dass die Punkte in der Basisebene als einfaches quadratisches Gitter aufgefasst werden
können. Dehnt man entlang einer Kante, erhält man ein Rechteckgitter in der Basisebene.
Ihre Stapelung in c-Achsenrichtung führt zu einem primitiven rhombischen Gitter. In (c)
sind die Linien so gezeichnet, um deutlich zu machen, dass dasselbe Punktgitter als zen-
triertes quadratisches Gitter aufgefasst werden kann. Dehnen wir entlang einer der Li-
nien, so erhalten wir ein zentriertes Rechteckgitter in der Basisebene (d). Die Stapelung
in c-Achsenrichtung führt zu einem basiszentrierten rhombischen Gitter. Das raumzen-
trierte und das flächenzentrierte rhombische Gitter erhalten wir in gleicher Weise durch
Dehnung des zentrierten tetragonalen Gitters entlang einer der a-Achsen bzw. entlang
einer Raumdiagonalen in der Basisebene.
4. Hexagonales Kristallsystem (1) — a = b ≠ c, α = β = 90○ , γ = 120○ :
Beim hexagonalen Gitter bilden die Verbindungslinien benachbarter Gitterpunkte einen
Körper mit sechseckiger Grundfläche und Deckfläche. Das einzige Gitter dieses Systems
ist das primitive hexagonale Gitter. Es hat als Einheitszelle ein rechtwinkliges Prisma mit
einer Raute als Grundfläche (siehe Abb. 1.13). Es sei hier darauf hingewiesen, dass ein
Kristall mit einer 6-Achse auch als hexagonal bezeichnet wird, obwohl er nur eine drei-
zählige Drehachse besitzt. Dies ist dann von Bedeutung, wenn der betrachtete Kristall
keine einfache Basis besitzt.

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1.1 Periodische Strukturen – Grundbegriffe und Definitionen 19

120°

b Abb. 1.13: Das hexagonale Kristallgitter: Die Verbindungslinien


benachbarter Gitterpunkte bilden einen Körper mit sechseckiger
Grundfläche und Deckfläche. Die primitive Gitterzelle ist farbig
a markiert.

5. Rhomboedrisches oder trigonales Kristallsystem (1) — a = b = c, α = β = γ ≠ 90○ :


Die trigonale Punktgruppe beschreibt die Symmetrie eines Objekts, das man durch Deh-
nung eines Würfels entlang einer Raumdiagonalen erhält. Das Raumgitter, das man auf
diese Weise durch Dehnung jedes der drei kubischen Bravais-Gitter erhält, ist das pri-
mitive trigonale Raumgitter. Das trigonale Kristallsystem ist eng verwandt mit dem he-
xagonalen Kristallsystem. Die Unterscheidung zwischen trigonalem und hexagonalem
Kristallsystem erfolgt nur durch die auftretenden Symmetrieelemente der Kristallklasse
beziehungsweise Raumgruppe der Kristallstruktur. Treten nur dreizählige Symmetrie-
achsen (Hermann-Mauguin-Symbol 3) beziehungsweise dreizählige Drehinversionsach-
sen (Symbol 3) parallel der kristallographischen c-Achse auf, spricht man von der Zu-
gehörigkeit zum trigonalen Kristallsystem. Im hexagonalen Kristallsystem treten dage-
gen sechszählige Symmetrieachsen (Symbol 6) bzw. sechszählige Drehinversionsachsen
(Symbol 6) auf.
Für das trigonale Kristallsystem, wie auch für das hexagonale Kristallsystem, ist a = b ≠ c
und γ = 120○ . Während im hexagonalen Kristallsystem aber nur eine primitive Zentrie-
rung des Bravais-Gitters auftreten kann, kann bei trigonaler Symmetrie das Bravais-
Gitter auch rhomboedrisch zentriert sein (R-zentriert oder rhomboedrische Aufstel-
lung). Im Fall einer rhomboedrischen Zentrierung des Bravais-Gitters, sprechen wir auch
von einem rhomboedrischen Kristallsystem. Für die Elementarzelle eines Kristalls mit
rhomboedrischer Symmetrie gilt a = b = c und α = β = γ ≠ 90○ .
6. Monoklines Kristallsystem (2) — a ≠ b ≠ c, α = γ = 90○ ≠ β:
Wir können die rhombische Symmetrie erniedrigen, indem wir den Winkel β zwischen
a- und c-Achse von 90○ abweichen lassen. Die erhaltene Symmetriegruppe ist die mono-
kline Gruppe, die ihren Namen von dieser Neigung erhalten hat. Es gibt zwei monokline
Bravais-Gitter, das monoklin primitive Gitter und das monoklin basiszentrierte Gitter.
Das primitive monokline Gitter erhält man aus der Verzerrung des primitiven rhombi-
schen Gitters. Durch Verzerrung des basiszentrierten rhombischen Gitters erhalten wir
ebenfalls ein primitives monoklines Gitter. Verzerren wir das flächen- oder raumzen-
trierte rhombische Gitter, so erhalten wir in beiden Fällen ein basiszentriertes monokli-
nes Bravais-Gitter. Die Einheitszellen des basiszentrierten Gitters besitzen Gitterpunkte
in den Mittelpunkten der ab-Ebene.

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20 1 Kristallstruktur

7. Triklines Kristallsystem (1) — a ≠ b ≠ c, α ≠ β ≠ γ:


Es gibt nur ein triklines Raumgitter, das primitive trikline Gitter.

Die sieben Kristallsysteme und vierzehn Bravais-Gitter erschöpfen die Möglichkeiten. Dies
ist natürlich nicht evident und schwierig zu beweisen. Für die Praxis ist es aber nicht relevant
zu verstehen, warum dies die einzigen unterscheidbaren Gittertypen sind. Es soll uns hier
genügen zu wissen, warum diese Kategorien existieren und was sie sind.22

1.1.3 Richtungen und Ebenen in Kristallen


Eine Ebene in einem Kristall, die mit Gitterpunkten besetzt ist, bezeichnen wir als Netzebene.
Wir könnten die Orientientierung dieser Ebene durch die Schnittpunkte der Ebene mit den
drei Kristallachsen klassifizieren. Geben wir diese Schnittpunkte in Einheiten der Gitterkon-
stanten an, so wäre jede Ebene eindeutig durch ein Zahlentripel festgelegt. Dieses Verfah-
ren hat den Nachteil, dass kristallographisch äquivalente Ebenen, deren Achsenabschnitte
sich nur um einen ganzzahligen Faktor unterscheiden, unterschiedliche Zahlentripel besit-
zen würden. In der Kristallographie wählt man deshalb ein anderes Bezeichnugsverfahren,
bei dem parallele Ebenen alle die gleichen Zahlentripel besitzen. Man geht dabei wie folgt
vor:

∎ Bestimme die Schnittpunkte der Ebene mit den Kristallachsen in Einheiten der Gitter-
konstanten a, b und c.
∎ Bilde den Kehrwert dieser Zahlen und reduziere diese Brüche zu drei ganzen Zahlen
(und zwar den kleinstmöglichen) mit dem gleichen Verhältnis. Der Sinn und Zweck der
Kehrwertbildung wird uns erst klar, wenn wir das reziproke Gitter diskutieren.

Sind die Schnittpunkte einer Ebene zum Beispiel 4a, b und 2c, so sind die entsprechenden
Kehrwerte 14 , 11 und 12 und somit die kleinsten ganzen Zahlen mit dem gleichen Verhält-
nis 1, 4 und 2. Die Ebene ist dann durch das Zahlentripel (142) charakterisiert. Die Zah-
lentripel (hkℓ) werden als Millersche Indizes23 bezeichnet. Für einen Schnittpunkt, der im
Unendlichen liegt, wird der entsprechende Index 0. Liegt der Schnittpunkt einer Ebene bei
einem negativen Wert, so wird dies durch einen Querstrich über dem betreffenden Index an-
gezeigt, z. B. (142). Einige Beispiele sind in Abb. 1.14 gezeigt. Wichtig ist, dass ein einziges
Zahlentripel nicht nur eine bestimmte Ebene, sondern einen ganzen Satz von (unendlich
vielen) parallelen Ebenen bezeichnet. Erscheinen die Millerschen Indizes in geschweiften
Klammern, dann beziehen sie sich auf äquivalente Ebenen in einem Kristall. Zum Beispiel
werden sämtliche Oberflächen eines Würfels mit dem Symbol {100} charakterisiert, obwohl
ihre Millerschen Indizes unterschiedlich sind.
In gleicher Weise wie Kristallebenen können wir auch Richtungen klassifizieren. Die Indi-
zes [uvw] einer Kristallrichtung sind durch den Satz kleinster ganzer Zahlen gegeben, die
22
W. Kleber, H.-J. Bautsch, J. Bohm, D. Klimm, Einführung in die Kristallographie, Oldenbourg Ver-
lag, München (2010).
23
nach William Hallowes Miller, geboren am 6. April 1801 in Llandovery, Carmarthenshire, gestor-
ben am 20. Mai 1880 in Cambridge, England, britischer Mineraloge und Kristallograph.

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1.1 Periodische Strukturen – Grundbegriffe und Definitionen 21

c (100) c (110) c (111)

b b b

a a a
c (200) (010) c c (221)
Abb. 1.14: Millersche In-
dizes für einige Ebenen in
einem kubischen Kristall.
Die (200)-Ebene ist zwar
b b b parallel zur (100)-Ebene,
ist aber nicht äquivalent zu
a a a dieser.

das gleiche Verhältnis haben wie die Komponenten eines Vektors R = ûa + v̂b + ŵ
c in die-
se Richtung bezüglich der Kristallachsen. Wird eine Richtung zum Beispiel durch die Vek-
torkomponenten 8a, 4b und 2c charakterisiert, so bezeichnen wir dies Richtung mit den
Indizes [421].
Für Kristalle mit einem hexagonalen Kristallgit- c
(0001)
ter liefern die Millerschen Indizes, wenn wir sie
nach dem obigen Verfahren bestimmen, unter
Umständen unterschiedliche Werte. So sind z. B.
(1100) (1120)
die in Abb. 1.15 gezeigten Ebenen (110) und oder
(100) völlig äquivalente Prismenflächen. Man (110)
geht deshalb bei der Beschreibung von Kristall-
flächen in solchen Systemen von 4 Achsen aus.
In Abb. 1.15 sind sie durch a 1 , a 2 , a 3 und c ge- (1010)
oder
kennzeichnet. Die Indizes hkiℓ erhalten wir wie
(100)
oben bereits geschrieben. Es gilt dabei
a3 -a1
i = −(h + k). (1.1.8) -a2 a2
a1 -a3
Bei der Kennzeichnung von Kristallrichtungen
verfahren wir in analoger Weise, wobei wir bei Abb. 1.15: Indizierung der Netzebenen in
einem hexagonalen Gitter.
der Wahl der Indizes darauf achten müssen, dass
(1.1.8) erfüllt ist.

1.1.4 Quasikristalle
Wir haben in Abschnitt 1.1.2 bereits darauf hingewiesen, dass wir zwar auf jeden Gitterpunkt
eines Bravais-Gitters ein Molekül mit einer fünfzähligen Rotationsachse setzen können, das
Gitter dagegen keine fünfzählige Achse besitzen kann. Abb. 1.16 zeigt, was passiert, wenn

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22 1 Kristallstruktur

Abb. 1.16: Ein Quasikristall ist eine quasiperiodische


Anordnung von zwei verschiedenen Strukturelemen-
ten. Mit Fünfecken alleine kann die Fläche nicht voll-
kommen ausgefüllt werden. Gezeigt ist eine so genann-
te Penrose-Parkettierung, die von Roger Penrose und
Robert Ammann im Jahr 1973 entdeckt wurde. Mit ihr
kann eine Ebene lückenlos parkettiert werden, ohne
dass sich dabei ein Grundschema periodisch wiederholt.

wir versuchen ein periodisches Gitter mit Strukturelementen zu konstruieren, die eine fünf-
zählige Symmetrie aufweisen. Wir sehen sofort, dass die Fünfecke nicht zusammenpassen
und wir deshalb den Raum nicht vollständig mit diesen Elementen ausfüllen können.24 Wir
erhalten ein geordnetes Gebilde, das einer quasiperiodischen Anordnung von zwei verschie-
denen Strukturelementen entspricht. Wir nennen ein solches Gebilde einen Quasikristall.
In Quasikristallen sind die Atome bzw. Moleküle zwar scheinbar regelmäßig angeordnet,
eine nähere Betrachtung zeigt aber, dass in Wahrheit eine aperiodische Struktur vorliegt.
Experimentell entdeckt wurden die Quasikristalle im Jahr 1984 von Daniel Shechtman,25
dem dafür 2011 der Nobelpreis für Chemie verliehen wurde. Er fand bei der Kristallstruk-
turanalyse einer schnell abgekühlten Aluminium-Mangan-Legierung (14% Mangan) eine
ungewöhnliche Struktur, welche bei Elektronenbeugungsaufnahmen scharfe Bragg-Reflexe
zeigte und die Symmetrie eines Ikosaeders besaß. Dies ist für kristalline Substanzen sehr un-
gewöhnlich, da bei dieser Symmetrie keine Gitterverschiebungen möglich sind und damit
keine periodische Struktur, wie sie für die Definition eines Kristalls nötig ist, vorliegt. We-
sentlich zum Verständnis diesen Befunds trugen Paul Steinhardt und Dov Levine bei, die
für diesen neuen Phasentyp den Begriff Quasikristall prägten.26
Wir wollen uns zunächst die wesentlichen Unterschiede zwischen einem Kristall und einem
Quasikristall klar machen. Wir wissen, dass in einem normalen Kristall die Atome bzw. Ba-
siseinheiten in einer periodischen Struktur angeordnet sind. Diese wiederholt sich in jeder
der drei Raumrichtungen. Jede Gitterzelle ist von Zellen umgeben, die ein identisches Muster
bilden. In einem Quasikristall sind dagegen die Atome bzw. Basisteinheiten nur quasiperi-
odisch angeordnet. Lokal finden wir zwar eine regelmäßige Struktur, auf globalem Maßstab
ist die Struktur aber aperiodisch, das heißt, jede Zelle ist von einem jeweils anderen Muster
umgeben. Ein besonders bemerkenswerter Unterschied zwischen Kristallen und Quasikris-

24
siehe zum Beispiel Johannes Kepler in Harmonice Mundi (1619).
25
D. Shechtman, I. Blech, D. Gratias, J. Cahn, Metallic Phase with Long-Range Orientational Order
and No Translational Symmetry, Phys. Rev. Lett. 53, 1951–1953 (1984).
26
D. Levine, P. Steinhardt, Quasicrystals: A New Class of Ordered Structures, Phys. Rev. Lett. 53, 2477–
2480 (1984).

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1.1 Periodische Strukturen – Grundbegriffe und Definitionen 23

Daniel Shechtman, Nobelpreis für Chemie 2011


Daniel Shechtman wurde am 24. Januar 1941 in Tel Aviv ge-
boren. Seine Großeltern waren Anfang des 20. Jahrhunderts
von Russland nach Israel emigriert. Er studierte am Israel
Institute of Technology (Technion) in Haifa, wo er nach ei-
nem Bachelor- (1966) und einem Master-Abschluss (1968)
im Jahr 1972 im Bereich Materialwissenschaften promo-
vierte.
Nach seiner Promotion arbeitete Shechtman als Stipen-
diat des National Research Council im Forschungslabor
des Luftwaffenstützpunkts Wright Patterson im US-Bun- Bild: Technion, Israel.
desstaat Ohio. Drei Jahre beschäftigte er sich dort mit der
Mikrostruktur und der Metallkunde von intermetallischen
Verbindungen aus Titan und Aluminium. Im Jahr 1975 kehrte er nach Israel zurück und
wurde in der Abteilung für Materialwissenschaft des Technions tätig, wo er über die Jahre
vom Dozenten zum leitenden Professor (Distinguished Professor, ab 1998) aufstieg. Wäh-
rend eines Sabbaticals arbeitete er 1981–1983 an der Johns Hopkins University, wo er sich
mit schnell abgekühlten Übergangsmetalllegierungen auf Al-Basis beschäftigte. Dabei ent-
deckte er die icosaedrische Phase und eröffnete dadurch das neue Forschungsfeld der Qua-
sikristalle. Seit 2004 arbeitet Shechtman teilweise an der Iowa State University in Ames. Im
Jahr 2011 erhielt er den Nobelpreis für Chemie für die Entdeckung der Quasikristalle.

tallen ist, dass Letztere eine fünf-, acht-, zehn- oder zwölfzählige Symmetrie aufweisen. In
normalen Kristallen sind dagegen nur ein-, zwei-, drei-, vier-, und sechszählige Symmetrien
möglich. Das ergibt sich daraus, dass der Raum nur auf diese Art mit kongruenten Teilen ge-
füllt werden kann. Wir weisen auch darauf hin, dass Quasikristalle zwar keine periodischen
Strukturen besitzen, aber scharfe Beugungsreflexe zeigen. Es existiert ferner eine wichtige
Beziehung zwischen den Quasikristallen und der in Abb. 1.16 gezeigten Penrose-Parkettie-
rung, die Roger Penrose bereits vor der Entdeckung der Quasikristalle gefunden hatte. Wenn
wir einen Quasikristall geeignet durchschneiden, zeigt die Schnittfläche gerade das Muster
der Penrose-Parkettierung.
Um uns den Begriff quasiperiodisch verständlich zu machen, verwenden wir eine geome-
trische Betrachtung. Es ist evident, dass wir ein periodisches Muster von Atomen komplett
um einen bestimmten Abstand so verschieben können, dass jedes verschobene Atom wieder
genau die Stelle eines entsprechenden Atoms im Originalmuster einnimmt. In einem quasi-
periodischen Muster ist eine solche Parallelverschiebung des gesamten Musters nicht mög-
lich. Allerdings können wir jeden beliebigen Ausschnitt so verschieben, dass er deckungs-
gleich mit einem entsprechenden Ausschnitt ist (ggf. nach einer Rotation). Interessant ist,
dass wir jedes quasiperiodische Punktmuster aus einem periodischen Muster in einer höhe-
ren Raumdimension konstruieren können. Dies ist in Abb. 1.17 für einen eindimensionalen
Quasikristall veranschaulicht. Um ihn zu erzeugen, können wir mit einer periodischen An-
ordnung von Punkten in einem zweidimensionalen Raum beginnen. Der eindimensionale
Raum sei ein linearer Unterraum, der den zweidimensionalen Raum in einem bestimmten

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24 1 Kristallstruktur

Abb. 1.17: Zur geometrischen Kon-


struktion eines quasiperiodischen
Punktmusters (rot) durch Projekti-
on eines periodischen zweidimen-
sionalen Punktmusters (schwarz)
auf einen eindimensionalen Unter-
raum. Die Größe A bezeichnet den
Akzeptanzbereich für die Projek-
tion. Der eindimensionale Unter-
raum weist in dem gezeigten Bei- 37.717°
−1
√ Steigung g auf, wobei g =
spiel eine A
(1 + 5)/2 der Goldene Schnitt ist.

Winkel durchdringt. Wenn wir jeden Punkt des zweidimensionalen Raumes, der sich in-
nerhalb eines bestimmten Abstandes zum eindimensionalen Unterraum befindet, auf den
Unterraum projizieren und der Winkel eine irrationale Zahl darstellt (zum Beispiel der Gol-
dene Schnitt), dann erhalten wir ein quasiperiodisches Muster.
Quasikristalle kommen vor allem in ternären Legierungssystemen vor, also solchen mit drei
Legierungselementen (meist mit Aluminium, Zink, Cadmium oder Titan als Hauptbestand-
teil). Zu den seltenen Zwei-Element-Systemen mit quasikristalliner Struktur zählen Cd5.7 Yb
und Cd5.7 Ca in ikosaedrischer Struktur und Ta1.6 Te in einer dodekaedrischen Struktur. Bis
heute ist nur ein natürlich vorkommendes quasikristallines Mineral, der Icosahedrit, be-
kannt. Es handelt sich um eine Aluminium-Kupfer-Eisen-Legierung mit der Zusammenset-
zung Al63 Cu24 Fe13 , die auf der Kamtschatka-Halbinsel in Russland gefunden wurde.

1.2 Einfache Kristallstrukturen


Wir wollen im Folgenden einige einfache Kristallstrukturen näher betrachten. Die einfachs-
ten Strukturen wie die sc-, fcc- und die bcc-Struktur sind solche mit einatomiger Basis, die
natürlich nur für chemische Elemente vorkommen können. Es zeigt sich, dass die Mehrzahl
der Elemente in wenigen einfachen Strukturen kristallisiert, wie aus Abb. 1.18 ersichtlich ist.
Neben diesen einfachen Strukturen werden wir die Natriumchloridstruktur, die Cäsium-
chloridstruktur, die hexagonal dichteste Kugelpackung (hcp), die Diamantstruktur und die
Zinkblendestruktur vorstellen. Um die Lage der Atome innerhalb der Basis zu beschreiben,
legen wir den Bezugspunkt in den Mittelpunkt eines Atoms und geben die Position der ande-
ren Atome in den Koordinaten der Einheitszelle an. Dabei verwenden wir als Einheiten die
Gitterkonstanten a, b und c. Alle Edelmetalle, aber auch Edelgase im festen Zustand besitzen
ein kubisch flächenzentriertes Gitter mit einer aus einem Atom bestehenden Basis. Alkali-
metalle und verschiedene andere Metalle wie Wolfram, Molybdän oder Tantal besitzen ein
kubisch raumzentriertes Gitter ebenfalls mit einer einatomigen Basis.

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1.2 Einfache Kristallstrukturen 25

bcc fcc

hcp dhcp Diamant

Abb. 1.18: Die Gitterstruk-


turen der chemischen Ele-
mente.

1.2.1 Die sc-Struktur


Bei einer kubisch primitiven Struktur (sc: simple cubic) befindet sich jeweils an den Ecken
der würfelförmigen Elementarzelle ein Atom. Der Abstand der Atome beträgt a, die Pa-
ckungsdichte 52.360%. Jedes Atom besitzt 6 nächste Nachbarn. Die Koordinationszahl be-
trägt somit sechs.27 Hierbei verstehen wir unter der Packungsdichte den Bruchteil des Raum-
es, der von identischen, sich berührenden Kugeln auf den Gitterpunkten ausgefüllt wird.
Beispiele für eine kubisch primitive Kristallstruktur sind unter anderem α-Polonium sowie
die Hochdruckmodifikationen von Phosphor und Antimon.

1.2.2 Die fcc-Struktur


Bei der fcc- (face centered cubic) Struktur (Raumgruppe O h5 bzw. Fm3m) bilden die Atome
ein kubisches Bravais-Gitter (siehe Abb. 1.19, links). Die Packungsdichte der fcc-Struktur
beträgt 74.048%. Sie ist also wesentlich größer als diejenige der sc-Struktur. Die dichte Ku-
gelpackung ist besser zu erkennen, wenn wir die würfelförmige konventionelle Elementar-
zelle um eine halbe Kantenlänge verschieben, so dass die Atome im Zentrum der Zelle und
auf den 12 Kantenmitten liegen (siehe Abb. 1.19, rechts). Wir erkennen jetzt leicht,√ dass je-
des Atom in der fcc-Struktur 12 nächste Nachbarn besitzt, die sich im Abstand a/ 2 befin-
den. Die Koordinationszahl beträgt also 12. Außerdem sehen wir, dass die Atome in Ebenen
senkrecht zu den Würfeldiagonalen in Form eines Dreiecksgitters dicht gepackt sind. Die-
se Dreiecksgitterebenen sind dann so aufeinandergelegt, dass ein Atom der nächsten Ebene
jeweils über dem Zentrum eines Dreiecks von Atomen liegt und mit diesem ein reguläres
Tetraeder bildet. Wir werden weiter unten bei der Diskussion der hcp-Struktur sehen, dass
es zwei Möglichkeiten gibt, die Ebenen aufeinanderzulegen.
Die primitive
√ Gitterzelle der fcc-Struktur ist rhomboedrisch. Sie besitzt eine Kantenlänge
a = a/ 2 und der Winkel an den spitzen Ecken beträgt 60○ . Eine kubisch flächenzentrierte
̃

27
Die Koordinationszahl gibt allgemein die Zahl der nächsten Nachbarn eines Atoms an, die alle den
gleichen Abstand haben.

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26 1 Kristallstruktur

60°

Abb. 1.19: Die fcc-Struktur: (a) Konven- (a) (b)


tionelle Zelle, (b) Konventionelle und pri-
mitive Zelle (blau eingefärbt). In (c) ist
die würfelförmige konventionelle Ele-
mentarzelle um eine halbe Kantenlänge C
verschoben. Das Atom im Zentrum des
Würfels ist mit einer anderen Farbe mar- B
kiert. In (d) ist die Stapelung der Atome
in Ebenen senkrecht zur Würfeldiagonale A
gezeigt (vergleiche hierzu auch Abb. 1.21). (c) (d)

Kristallstruktur haben viele Metalle wie z. B. Aluminium, Blei, γ-Eisen, Gold, Silber, Kalzi-
um, Strontium, Cer, Iridium, Kupfer, Nickel, Palladium, Platin und Rhodium. Nach Kupfer
wird dieser Strukturtyp auch Kupferstruktur genannt.

1.2.3 Die bcc-Struktur


Bei der bcc- (body centered cubic) Struktur (Raumgruppe O h9 bzw. Im3m) bilden die Atome
ein kubisch raumzentriertes
√ Bravais-Gitter (siehe Abb. 1.20). Jedes Atom hat 8 nächste Nach-
barn im Abstand a 3/2, die Koordinationszahl beträgt also 8. Die bcc-Struktur ist weniger
dicht gepackt als die fcc-Struktur. Mit 68.017% liegt die Packungsdichte zwischen derjeni-
gen des sc- und√des fcc-Gitters. Die primitive Zelle des bcc-Gitters ist ein Rhomboeder mit
Kantenlänge a 3/2 und dem Winkel 109○ 20′ . Eine kubisch raumzentrierte Kristallstruktur
haben unter anderem α-Eisen, Cäsium, Chrom, Kalium, Molybdän, Niob, Natrium, Rubi-
dium, Tantal, Vanadium und Wolfram. Nach Wolfram wird dieser Strukturtyp auch Wolf-
ramstruktur genannt.

109°28´

Abb. 1.20: Die bcc-Struktur: (a) kon-


ventionelle und (b) konventionel-
le Zelle zusammen mit der primi-
tiven Gitterzelle (blau eingefärbt). (a) (b)

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1.2 Einfache Kristallstrukturen 27

1.2.4 Die hcp-Struktur


Die hcp- (hexagonal closed packed) Struktur (Raumgruppe D 6h 4
bzw. P63 /mmc, nichtsym-
morph) ist ist eine hexagonal dicht gepackte Struktur (hexagonal dichte Kugelpackung), in
der die Atome in Dreiecksgitterebenen in der Stapelfolge ABABAB. . . gepackt sind. Es han-
delt sich hier um eine Struktur mit zwei Atomen pro Elementarzelle. Das erste Atom der
Basis hat die Koordinaten (0, 0, 0), das zweite Atom, wie in Abb. 1.21 gezeigt ist, die Koor-
dinaten (2/3, 1/3, 1/2).
Die Bezeichnung „dichte Kugelpackung“ rührt daher, dass bei einer Anordnung von Kugeln
gemäß dieser Struktur der unausgefüllte Zwischenraum minimal ist. Die maximal möglich
Packungsdichte beträgt 74.048%. Es gibt aber noch eine zweite Möglichkeit, gleich große Ku-
geln bei maximaler Packungsdichte zu stapeln. Die daraus resultierende Struktur ist die oben
diskutierte kubisch flächenzentrierte Struktur (fcc: face centered cubic). Der Unterschied
zwischen diesen beiden Strukturen ist in Abb. 1.21 verdeutlicht. Bei der hexagonal dichten
Packung haben wir eine Stapelfolge ABAB. . ., während wir bei der kubisch flächenzentrier-
ten Struktur die Schichtfolge ABCABC. . . haben. Die dichtest gepackten Ebenen liegen bei
der fcc-Struktur senkrecht zu den 4 Raumdiagonalen des Würfels, während es bei der hcp-
Struktur nur eine Stapelrichtung für die Schichten gibt, nämlich entlang der hexagonalen
c-Achse.
Die Raumgruppe dieser Struktur legt das Verhältnis zwischen der Seitenlänge a des Basis-
sechsecks und der Prismenhöhe c nicht fest. Falls die Struktur jedoch eine dichte Kugelpa-
ckung sein soll, muss c gleich der doppelten Höhe des regulären Tetraeders mit der Kanten-

A
A B
A
(b)
C
B B
A
(c) A
a3

A a2 C
B
a1
(a) (d) A
Abb. 1.21: (a) Die hexagonal dichteste Kugelpackung: die primitive Zelle hat a 1 = a 2 mit einem einge-
schlossenen Winkel von 120○ . Die mittlere Ebene ist verschoben, so dass das zentrale Atom im Hexa-
gon die Position (2/3, 1/3, 1/2) besitzt. (b) und (c) zeigen die Stapelfolge ABAB. . . für die hexagonal
dichteste Kugelpackung und die Stapelfolge ABCABC. . ., die in einer kubisch flächenzentrierten Struk-
tur resultiert (links: Seitenansicht, rechts: Draufsicht). In (d) sind die Stapelebenen für die fcc-Struktur
veranschaulicht, sie verlaufen parallel zu den Flächendiagonalen.

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28 1 Kristallstruktur

Tabelle 1.5: Werte für das Element c/a Element c/a Element c/a
c/a-Verhältnis von Materia-
He 1.633 Zn 1.861 Zr 1.594
lien mit der hcp-Struktur.
Be 1.581 Cd 1.886 Gd 1.592
Mg 1.623 Co 1.622 Lu 1.596
Ti 1.586 Y 1.570 Tl 1.60

länge a sein. Durch eine einfache geometrische Betrachtung lässt sich


√ zeigen, dass bei ei-
ner idealen hexagonalen dichten Kugelpackung das c/a-Verhältnis 2 2/3 = 1.633 sein soll-
te. Bei Kristallen mit hcp-Struktur weicht der Wert des c/a-Verhältnisses im Allgemeinen
nur wenig von diesem idealen Wert ab. Man spricht aber auch von einer hexagonal dichtes-
ten Packung, wenn Abweichungen von diesem idealen Wert auftreten. Einige Werte für das
c/a-Verhältnis von Materialien mit der hcp-Struktur sind in Tabelle 1.5 aufgelistet.
Die Zahl der nächsten Nachbaratome bei der hexagonal dichtesten Kugelpackung ist 12,
genauso wie für die kubisch flächenzentrierte Struktur. Falls die Bindungsenergie nur von
der Zahl der nächsten Nachbarn abhängen würde, wären die beiden Strukturen energetisch
gleichwertig. Dichteste Kugelpackungen treten bei der Kristallisation von vielen Metallen
wie Be, Mg, Zr, Cd, Ti oder Co auf. Auch Elemente mit f -Elektronen, z. B. La, Pr, Nd und
Pm, kristallisieren in der hcp-Struktur.

1.2.5 Die dhcp-Struktur


Die dhcp- (double hexagonal close packed) Struktur (Raumgruppe D 6h 4
bzw. P63 /mmc) hat
dieselbe Raumgruppe wie die hcp-Struktur und ist durch die Stapelfolge ABACABAC. . . ge-
kennzeichnet. Gegenüber der hcp-Struktur ist die Elementarzelle in c-Richtung verdoppelt
und enthält hier vier Atome. Bei idealem c/a-Verhältnis ist auch diese Struktur dicht gepackt.

1.2.6 Die Natriumchloridstruktur


Gehen wir zu Strukturtypen, bei denen zwei verschiedene Elemente beteiligt sind, so kom-
men wir zunächst zu den so genannten AB-Strukturen. Als erstes diskutieren wir die NaCl-
Struktur (Raumgruppe O h5 bzw. Fm3m), die in Abb. 1.22 gezeigt ist. Sie besitzt ein kubisch
flächenzentriertes Gitter. Diese Struktur besitzen verschiedene Alkalihalogenide, aber auch
das Bleisulfid und das Manganoxid. Die Basis besteht aus einem Na- und einem Cl-Atom,
die den Abstand einer halben Raumdiagonalen der kubischen Einheitszelle besitzen. Die
Natriumpositionen in der Einheitszelle (siehe hierzu Abb. 1.4b) sind ( 12 12 12 ), (00 12 ), (0 12 0)
und ( 12 00), die Chlorpositionen sind (000), ( 12 12 0), ( 12 0 12 ) und (0 12 12 ). Die Anionen und die
Kationen liegen also auf fcc-Gittern, die um den Basisvektor (a/2, a/2, a/2) gegeneinander
verschoben sind.
In Abb. 1.22 ist eine konventionelle Einheitszelle gezeigt. Jedes Atom hat als nächste Nach-
barn 6 Atome der anderen Sorte. Die Gesamtzahl der nächsten Nachbarn beider Atomsorten
ist 14. Die nächsten Nachbarn bilden einen regelmäßigen Oktaeder, den man als oktaedri-
schen Koordinationspolyeder bezeichnet. Die konventionelle Zelle enthält 4 Na- (12 Atome

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1.2 Einfache Kristallstrukturen 29

(a) (b) Abb. 1.22: (a) die Natriumchlorid-


Cl – struktur, jedes Na-Atom ist von
Na+ 6 Cl-Atomen umgeben und umge-
kehrt. In (b) ist ein Modell der NaCl-
Cl – Struktur mit realistischen Ionengrö-
ßen gezeigt. Das Cl− -Ion ist wesentlich
(c) größer als das Na+ -Ion (r Na+ = 0.95 Å,
r Cl− = 1.81 Å). (c) zeigt einen natür-
Na+ lichen NaCl-Kristall (Foto: Wlodi,
Cl – Polen). Man erkennt die kubische
a Form.

auf den Kanten, die von 4 benachbarten Zellen geteilt werden und ein Atom im Zentrum)
und 4 Cl-Ionen (8 Atome auf den Ecken, die mit 8 benachbarten Zellen geteilt werden, und
6 Atome auf den Seitenflächen, die mit 2 benachbarten Zellen geteilt werden). Tabelle 1.6
enthält die Gitterkonstanten einiger Materialien mit NaCl-Struktur.

Kristall a (Å) Kristall a (Å) Tabelle 1.6: Gitterkonstanten einiger Materialien


mit NaCl-Struktur.
LiH 4.08 AgBr 5.77
MgO 4.20 PbS 5.92
MnO 4.43 KCl 6.29
NaCl 5.63 KBr 6.59
CaS 5.69 KI 7.07

1.2.7 Die Cäsiumchloridstruktur


Eine weitere AB-Struktur ist die Cäsiumchloridstruktur (Raumgruppe O h1 bzw. Pm3m), die
in Abb. 1.23 gezeigt ist. Das Raumgitter ist hier kubisch primitiv. Die primitive Zelle enthält
ein Molekül mit den Atompositionen (000) und ( 12 12 12 ). Jedes Atom kann als Zentrum eines
Würfels von Atomen der anderen Sorte betrachtet werden. Die Zahl der nächsten Nachbarn
oder die Koordinationszahl ist 8. Die konventionelle Zelle enthält 1 Cs-Ion (8 Atome auf den
Ecken, die von 8 benachbarten Zellen geteilt werden) und 1 Cl-Atom. Tabelle 1.7 enthält die
Gitterkonstanten einiger Materialien mit CsCl-Struktur.

Abb. 1.23: (a) Die Cäsiumchlorid-


(a) (b) struktur: das Raumgitter ist kubisch
primitiv aund die Basis besitzt ein
Cs+ -Ion bei (000) und ein Cl− -Ion bei
( 12 12 12 ). (b) zeigt die CsCl-Struktur mit
realistischen Ionengrößen. Wichtig
ist, dass im Gegensatz zu NaCl, wo das
Cl –
Na+ -Ion wesentlich kleiner ist als das
Cl − -Ion, das Cs+ -Ion fast gleich groß
ist wie das Cl− -Ion (r Cs+ = 1.69 Å,
a Cs+ r Cl− = 1.81 Å).

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30 1 Kristallstruktur

Tabelle 1.7: Gitterkonstanten eini- Kristall a (Å) Kristall a (Å)


ger Materialien mit CsCl-Struktur.
BeCu 2.70 TlCl 3.83
AlNi 2.88 NH4 Cl 3.87
CuZn (β-Messing) 2.94 TlBr 3.97
CuPd 2.99 CsCl 4.11
AgMg 3.28 TlI 4.20
LiHg 3.29 CsBr 4.29

Obwohl in der CsCl-Struktur das positive Ion von 8, in der NaCl-Struktur dagegen nur von
6 negativen Ionen umgeben ist, wird für die meisten ionischen Bindungen die NaCl-Struktur
beobachtet. Dies ist erstaunlich, da für die CsCl-Struktur, wie wir in Abschnitt 3.3 sehen
werden, die Coulomb-Bindungsenergie größer sein sollte. Die Ursache liegt darin begrün-
det, dass in den meisten Fällen der Radius des Kations wesentlich kleiner ist als derjenige
des Anions (z. B. r Na+ = 0.95 Å, r Cl− = 1.81 Å). Beim Cs-Ion ist das anders (r Cs+ = 1.69 Å).
Wenn das Kation kleiner wird, stoßen die Anionen in der CsCl-Struktur bei einem Verhält-
nis r + /r − = 0.732 der Ionenradien aneinander. Für noch kleinere Kationen kann die Git-
terkonstante nicht mehr kleiner werden und die Coulomb-Energie bliebe konstant. In die-
sem Fall wird dann die NaCl-Struktur günstiger, da hier ein Kontakt der Anionen erst bei
r + /r − = 0.414 auftritt (siehe hierzu auch Abb. 3.9 in Abschnitt 3.3).
Wir wollen an dieser Stelle auch darauf hinweisen, dass für ein kubisch raumzentriertes Git-
ter (bcc: body centered cubic) die Zahl der nächsten Nachbarn nur 8 beträgt (im Gegensatz
zu 12 für das hcp- und fcc-Gitter, siehe Abb. 1.21) und damit für eine ungerichtete Bindung
diese Struktur eigentlich ungünstig sein sollte. Nichtsdestotrotz kristallisieren alle Alkali-
metalle sowie Ba, V, Nb, Ta, Ta, W und Mo in dieser Struktur. Die Ursache dafür ist, dass in
der bcc-Struktur die 6 übernächsten Nachbarn nur geringfügig weiter entfernt sind als die
8 nächsten Nachbarn. Es hängt dann von der Ausdehnung und Natur der Elektronenwellen-
funktion ab, ob die bcc- oder die fcc- bzw. die hcp-Struktur stabiler ist.

1.2.8 Die Diamantstruktur


Die Diamantstruktur (Raumgruppe O h7 bzw. Fd3m) besteht aus einem kubischen Gitter mit
zweiatomiger Basis. Der Name rührt daher, dass das erste entdeckte Beispiel der Diamant
war, eine Modifikation des Kohlenstoffs mit kubischer Kristallstruktur. Andere Elemente
der 4. Hauptgruppe können ebenfalls in dieser Struktur kristallisieren. Dazu gehören die
Halbleiter α-Zinn, Silizium und Germanium sowie Silizium-Germanium-Legierungen.
Das Bravais-Gitter von Diamant ist kubisch flächenzentriert. Die primitive Zelle besitzt zwei
identische (z. B. Kohlenstoff-) Atome an den Positionen (0, 0, 0) und ( 14 , 14 , 14 ). Diese beiden
Atome bilden die Basis des fcc-Gitters (siehe Abb. 1.24a). Anstelle dieser kristallographisch
korrekten Beschreibung wird es oft anschaulich als Kombination zweier ineinander gestell-
ter kubisch-flächenzentrierter Gitter mit einatomiger Basis beschrieben, wobei eines davon
um 1/4 der Raumdiagonale verschoben wurde (per Definition hat jede Kristallstruktur na-
türlich aber nur ein Gitter). Die Diamantstruktur ist das Ergebnis der gerichteten kovalen-
ten Bindung (sp3 Hybridisierung), die in 4 vollständig äquivalenten Bindungen resultiert
(jedes Kohlenstoffatom ist gleichwertig mit vier Nachbaratomen kovalent gebunden, siehe

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1.2 Einfache Kristallstrukturen 31

(a) (b) 0 ½ 0

¾ ¼
½ ½
¼ ¾
0 ½ 0

(c)

Abb. 1.24: (a) Die Kristallstruktur von Diamant mit der tetraedrischen Anordnung der Bindungen. Die
beiden Kohlenstoffatome der Basis sind durch unterschiedliche Farben gekennzeichnet. Senkrecht zur
Raumdiagonalen liegen wellenförmige Schichten vor, wobei jede Schicht aus sesselförmigen Sechs-
ringen besteht. (b) zeigt die Atompositionen in der Einheitszelle projiziert auf die Grundfläche des
Würfels. (c) zeigt das Bild eines Rohdiamanten (Foto: Katharina Surhoff).

Abb. 1.24b). Das Diamantgitter hat eine Raumausfüllung von nur etwa 34%, die wesentlich
kleiner ist als die einer dicht gepackten Struktur (fcc oder hcp). Kohlenstoff, Germanium, Si-
lizium und die graue Zinn-Modifikation kristallisieren in der Diamantstruktur. In Tabelle 1.8
sind die Gitterkonstanten einiger Materialien mit Diamantstruktur angegeben.
Die konventionelle Zelle der Diamantstruktur besitzt 8 Kohlenstoffatome. Jedes Kohlenstoff-
atom hat 4 Kohlenstoffatome als nächste (Koordinationszahl 4) und 12 Atome als übernächs-
te Nachbarn.

Kristall a (Å) Tabelle 1.8: Gitterkonstanten einiger Materialien mit Diamant-Struktur.


C (Diamant) 3.57
Si 5.43
Ge 5.66
α-Sn 6.49

1.2.9 Die Zinkblende-und Wurtzit-Struktur


Die Diamantstruktur kann auch als zwei fcc-Strukturen betrachtet werden, die gegeneinan-
der um ein Viertel einer Raumdiagonale verschoben sind. Die kubische Zinkblende-Struktur
(Raumgruppe Td2 , bzw. F43m) erhalten wir, wenn wir die beiden Kohlenstoffatome der Ba-
sis der Diamantstruktur durch zwei unterschiedliche Atome (z. B. Zn und S) ersetzen. Die
konventionelle Zelle ist ein Würfel (siehe Abb. 1.25a), das Gitter besitzt fcc-Struktur. Jede
konventionelle Zelle besitzt 4 Zn- und 4 S-Atome. Jedes Atom ist von gleich weit entfern-
ten Atomen der anderen Sorte umgeben, die auf den Ecken eines Tetraeders angeordnet
sind. Der Name Zinkblendestruktur geht auf das Sulfid-Mineral Sphalerit zurück, das auch
als Zinkblende oder unter seiner chemischen Bezeichnung Zinksulfid (α-ZnS) bekannt ist.
Sphalerit ist die Tieftemperaturmodifikation des Zinksulfids. Die Hochtemperaturmodifika-
tion heißt Wurtzit oder β-ZnS (siehe unten). Die Gitterkonstanten einiger Materialien mit
Zinkblende-Struktur sind in Tabelle 1.9 aufgelistet.

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32 1 Kristallstruktur

(a) (b)

Abb. 1.25: (a) Die Zinkblendestruktur


mit der tetraedrischen Anordnung der
Bindungen. Die Basis wird durch ein
Zn und ein Schwefelatom gebildet. S
In (b) ist ein Bild eines Sphalerit-Kris-
talls (α-ZnS) gezeigt (Quelle: Rob La- Zn
vinsky, iRocks.com – CC-BY-SA-3.0). a

Tabelle 1.9: Gitterkon- Kristall a (Å) Kristall a (Å) Kristall a (Å)


stanten einiger Materialien
CuF 4.26 ZnS 5.41 AlSb 6.13
mit Zinkblende-Struktur.
CuFl 5.41 ZnSe 5.67 GaP 5.45
CuBr 5.69 ZnTe 6.09 GaAs 5.65
CuI 6.04 CdS 5.82 GaSb 6.12
BeS 4.85 HgS 5.85 InAs 6.04
BeSe 5.07 HdSe 6.08 InSb 6.48
BeTe 5.60 HgTe 6.42 SiC 4.35

Ein wichtiger Unterschied zwischen der Diamant- und der Zinkblendestruktur ist die Tatsa-
che, dass erstere eine Inversionssymmetrie bezüglich des Würfelmittelpunkts besitzt, wäh-
rend letztere dies aufgrund der unterschiedlichen Atome der Basis nicht tut. Wie bei der
Diamantstruktur liegen bei der Zinkblende-Struktur senkrecht zur Raumdiagonalen wel-
lenförmige Schichten vor, wobei jede Schicht aus sesselförmigen Sechserringen besteht, die
abwechselnd drei Zn und drei S Atome enthalten (vergleiche hierzu Abb. 1.24).
Während bei der Zinkblende-Struktur die Schichten einer Atomsorte entlang der [111]-Rich-
tung eine ABCABC . . . Stapelung besitzen, hat die sehr ähnliche Wurtzit-Struktur eine
ABAB . . . Stapelfolge. Wurtzit kristallisiert im hexagonalen Kristallsystem in der Raum-
gruppe P63 mc und hat zwei Formeleinheiten pro Elementarzelle (siehe Abb. 1.26). Der
Aufbau der Kristallstruktur lässt sich von der des Lonsdaleit, dem hexagonalen Diamant,
ableiten. Dies steht in Analogie zur Struktur des Sphalerit, die sich vom normalen kubischen
Diamant ableiten lässt. Wurzit, auch als β-Zinksulfid (β-ZnS) bezeichnet, besteht aus einer
hexagonal dichtesten Kugelpackung aus Schwefelatomen, deren Tetraederlücken zur Hälfte
mit Zinkatomen besetzt sind. Da es in einer dichtesten Kugelpackung doppelt so viele

(a) (b)

Abb. 1.26: Gegenüber-


stellung der Zinkblen-
destruktur (a) und der
Wurzitstruktur (b).

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1.2 Einfache Kristallstrukturen 33

Tetraederlücken wie Packungsteilchen (in diesem Fall Schwefel) gibt und nur jede zweite
Lücke mit Zink besetzt ist, ergibt sich ein Schwefel-Zink-Verhältnis von 1:1 und damit die
chemische Formel ZnS. Beide Atomsorten haben jeweils eine Koordinationszahl von 4, als
Koordinationspolyeder ergibt sich in beiden Fällen ein unverzerrtes Tetraeder.
Die Wurtzitstruktur zählt zu den wichtigsten Kristallstrukturtypen. Zahlreiche, auch tech-
nisch wichtige Verbindungen, kristallisieren isotyp zu Wurtzit, darunter Zinkoxid (ZnO),
Cadmiumsulfid (CdS), Cadmiumselenid (CdSe), Galliumnitrid (GaN) und Silberiodid
(AgI).

1.2.10 Die Graphitstruktur


Graphit ist ein sehr häufig vorkommendes Mineral. Es ist eine der natürlichen Erscheinungs-
formen des chemischen Elements Kohlenstoff in Reinform. Es kristallisiert meist im hexa-
gonalen, sehr selten auch im trigonalen Kristallsystem (Raumgruppe m6 m2 m2 ).
Im kristallinen Graphit liegen parallel verlaufende ebene Schichten, die so genannten Ba-
salebenen, vor (siehe Abb. 1.27). Eine Schicht besteht aus kovalent verknüpften Sechsecken,
deren Kohlenstoff-Atome sp2 -hybridisiert sind (vergleiche hierzu Abschnitt 3.4.3.2). Inner-
halb der Ebenen beträgt die Bindungsenergie zwischen den Kohlenstoff-Atomen 4.3 eV. Die
Ebenen untereinander sind nur locker über Van-der-Waals-Kräfte gebunden, die Bindungs-
energie beträgt hier lediglich 0.07 eV. Senkrecht zu den Basalebenen liegt deshalb eine leichte
Spaltbarkeit des reinen Graphits vor. Die sp2 -kovalent hexagonal gebundenen Kohlenstoff-
Atome formen dagegen hochfeste Ebenen. Der Elastizitätsmodul entspricht mit ca. 1020 GPa
dem von normalem Graphit entlang der Basalebenen und ist fast so groß wie der des Dia-
mants. Seine Zugfestigkeit von 42 N/m oder 1.25 × 1011 Pa ist die höchste, die je ermittelt
wurde, und rund 125 mal höher als die von Stahl. Aus der extremen Richtungsabhängig-
keit der Bindungskräfte resultiert eine starke Anisotropie der elektrischen und thermischen
Eigenschaften von Graphit. Die thermische und elektrische Leitfähigkeit senkrecht zu den

(a) (b)

Abb. 1.27: Hexagonale Kristallstruktur des Graphit in Seitenansicht (a) und Draufsicht (b). Die
rot markierten Kohlenstoffatome haben kein Nachbaratom in der darunter- und darüberliegenden
Schicht. Der Atomabstand innerhalb der Ebenen beträgt 1.42 Å, der Abstand der Ebenen aufgrund
der wesentlich schwächeren Bindung dagegen 3.35 Å.

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34 1 Kristallstruktur

Basalebenen ist sehr gering, während sie einer fast metallischen Leitfähigkeit entlang der
Ebenen entspricht.
Sehr interessante Eigenschaften zeigen isolierte, zweidimensionale Kohlenstoffschichten, die
als Graphen bezeichnet werden. Alle Kohlenstoffatome sind hier sp2 -hybridisiert (verglei-
che Abschnitt 3.4.3), so dass jedes Kohlenstoffatom drei gleichwertige σ-Bindungen zu be-
nachbarten C-Atomen ausbilden kann. In Graphen ist deshalb jedes Kohlenstoffatom von
drei weiteren umgeben, woraus die auch aus den Schichten des Graphits bekannte Waben-
Struktur resultiert. Die Kohlenstoff-Kohlenstoff-Bindungslängen sind alle gleich und betra-
gen 1.42 Å. Die dritten, nicht hybridisierten 2p-Orbitale stehen wie auch im Graphit senk-
recht zur Graphenebene und bilden ein delokalisiertes π-Bindungssystem aus. Am Rand des
Wabengitters müssen andere Atomgruppen angedockt sein, die aber – je nach dessen Größe
– die Eigenschaften des Graphens kaum beeinträchtigen.
Wie oben bereits diskutiert besteht Graphen aus zwei äquivalenten Untergittern A und B, die
um die Bindungslänge a B gegeneinander verschoben sind (vergleiche Abb. 1.1). Die zwei-
atomige Einheitszelle wird durch zwei primitive Gittervektoren a 1 und a 2 aufgespannt, die
jeweils auf den übernächsten Nachbarn zeigen. Die Länge der Vektoren und damit die Git-
terkonstante a lässt sich berechnen zu

a = 3 a B = 2.64 Å . (1.2.1)

In der Theorie wurden einlagige Kohlenstoffschichten zum ersten Mal verwendet, um den
Aufbau und die elektronischen Eigenschaften komplexer aus Kohlenstoff bestehender Mate-
rialien beschreiben zu können. In der Praxis wurden solche strikt zweidimensionalen Struk-
turen allerdings nicht für möglich gehalten, da sie als thermodynamisch instabil galten.28 , 29
Um so erstaunlicher war, dass Konstantin Novoselov und Andre Geim im Jahr 2004 die Prä-
paration von freien Graphenschichten bekannt gaben.30 Deren unerwartete Stabilität könn-
te durch die Existenz metastabiler Zustände oder durch Faltenbildung des Graphens erklärt
werden. Im Jahr 2010 wurden Geim und Novoselov „für ihre grundlegenden Experimente mit
dem zweidimensionalen Material Graphen“ mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet.
Wir können uns leicht vorstellen, dass sich durch Stapeln solcher einlagigen Graphen-
Schichten die dreidimensionale Struktur des Graphits erzeugen lässt. Stellen wir uns
dagegen die einlagigen Schichten aufgerollt vor, so erhalten wir gestreckte Kohlenstoffnano-
röhren. Wir können in Gedanken auch einige der Sechserringe durch Fünferringe ersetzen,
wodurch sich die ebene Fläche zu einer Kugelfläche wölbt und sich bei bestimmten Zahlen-
verhältnissen Fullerene ergeben: Ersetzen wir zum Beispiel 12 von 32 Ringen, entsteht das
kleinste Fulleren C60 .

28
L. D. Landau, Zur Theorie der Phasenumwandlungen II, Phys. Z. Sowjetunion 11, 11 (1937).
29
R. E. Peierls, Quelques propriétés typiques des corpses solides, Ann. I. H. Poincaré 5, 177–222 (1935).
30
K. S. Novoselov, A. K. Geim, S. V. Morozov, D. Jiang, Y. Zhang, S. V. Dubonos, I. V. Grigorieva,
A. A. Firsov, Electric Field Effect in Atomically Thin Carbon Films, Science 306, 666–669 (2004).

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1.3 Festkörperoberflächen 35

Andre Geim und Konstantin Novoselov, Nobelpreis für Physik 2010


Die Physiker Andre Geim und Konstan-
tin Novoselov erhielten den Nobelpreis
für Physik 2010 für ihre grundlegenden
Experimente zum zweidimensionalen Ma-
terial Graphen. Die beiden in Russland
geborenen Wissenschaftler haben unter-
sucht, wie sich eine nur eine Atomlage di-
cke Membran aus Kohlenstoff verhält und
welche Eigenschaften ein solches Material
hat. Graphen gilt heute als dünnstes und Andre Geim Konstantin Novoselov
gleichzeitig mechanisch stärkstes Materi-
© The Nobel Foundation. Photo: Ulla Montan.
al, viele sprechen deshalb von der ultima-
tiven Membran.
Andre Geim wurde am 1. Oktober 1958 in Sochi, Rußland, geboren und ist heute nieder-
ländischer Staatsbürger. Er studierte Physik am Institut für Festkörperphysik der Russi-
schen Akademie der Wissenschaften (RAS). Nach Abschluss seiner Doktorarbeit (1987)
arbeitete er zunächst bis 1990 am Moskauer Institut für Physik und Technologie der RAS
und anschließend als Postdoktorand an den Universitäten Nottingham, Bath und Kopen-
hagen. Im Jahr 1994 wurde er Associate Professor an der Radboud University Nijmegen,
wo er sich mit mesoskopischen Supraleiterstrukturen beschäftigte. Einer seiner Doktoran-
den in Nijmegen war Konstantin Novoselov, mit dem er später eng zusammenarbeitete. Im
Jahr 2001 wurde er Full Professor an der University of Manchester, wo er 2002 zum Direktor
des Manchester Centre for Mesoscience and Nanotechnology und 2007 zum Langworthy
Professor ernannt wurde. Im Jahr 2010 ernannte ihn die Radboud University Nijmegen
zum Professor für Innovative Materials and Nanoscience.
Konstantin Novoselov ist britischer und russischer Staatsbürger, er wurde am 23. August
1974 in Nizhny Tagil, Rußland, geboren. Er studierte Physik am Moskauer Institut für Phy-
sik und Technologie (Abschluss 1997). Von 1997 bis 1999 forschte er am Institut für Mi-
kroelektronische Technologie in Tschernogolowka. Er wechselte dann in die Arbeitsgrup-
pe von Andre Geim an die University of Nijmegen, Niederlande, die ihn 2004 zum Doktor
promovierte. Im Jahr 2001 wechselte er mit Andre Geim an die University of Manchester.

1.3 Festkörperoberflächen
An Oberflächen von Kristallen kann die Anordnung der Atome und der Abstand der Ato-
me von den Werten innerhalb des Kristalls abweichen. Dies ist evident, da die anziehen-
den Wechselwirkungskräfte, die an der Oberfläche nur ins Innere des Festkörpers gerichtet
sind, nicht von entgegengesetzt gerichteten Kräften kompensiert werden. Wir erwarten des-
halb einen geringeren Abstand der obersten Atomlage. Bei Metallen kann es aber auch zu
einer Vergrößerung des Netzebenenabstands kommen. Man spricht von einer Oberflächen-
relaxation.

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36 1 Kristallstruktur

Neben einer Variation des Netzebenenabstands kann auch eine Oberflächenrekonstruktion


auftreten. Da an der Oberfläche von Kristallen ungesättigte Bindungen (z. B. kovalente und
ionische Bindungen, siehe Kapitel 3) existieren, ordnen sich die Oberflächenatome anders
an, um die Bindungsenergie zu minimieren. Die entstehenden Strukturen nennt man Über-
strukturen. Zum Beispiel ordnen sich Atome an Oberflächen in Reihen mit abwechselnd
größerem und kleinerem Abstand an, um so durch die Annäherung von zwei benachbarten
Oberflächenatomen Bindungen zu ermöglichen, die sonst im Inneren des Festkörpers so
nicht möglich wären. Im Allgemeinen können Festkörperoberflächen als zweidimensionale
Kristallsysteme betrachtet werden. Wie bereits diskutiert, gibt es im Zweidimensionalen nur
5 Bravais-Gitter, 10 Kristallklassen und 17 Raumgruppen, während wir es bei dreidimensio-
nalen Kristallsystemen mit 14 Bravais-Gittern, 32 Kristallklassen und 230 Raumgruppen zu
tun haben.
Bei der Festlegung der Oberflächenstruktur wird das zweidimensionale Kristallgitter des un-
gestörten Kristalls, das parallel zur Oberfläche liegt, herangezogen. Sind a1 und a2 die ele-
mentaren Gittervektoren dieses Gitters und c1 und c2 die elementaren Gittervektoren des
zweidimensionalen Oberflächengitters, das durch die auf dieses Gitter aufgebrachten Ober-
flächenatome gebildet wird, so können wir die Elementarzelle (auch Masche genannt) des
zweidimensionalen Oberflächengitters durch
c1 c2
( × ) Rα (1.3.1)
a1 a2
klassifizieren. In dieser nach E. A. Wood benannten Notation werden die Basisvektoren der
Überstrukturzelle als Vielfaches der Basisvektoren des Grundgitters angegeben. Zusätzlich
kann noch der Buchstabe R (engl. rotated) und ein Winkel für die Drehung der Zelle als
Ganzes gegenüber dem Grundgitter angegeben werden. Ein vorgestellter Buchstabe p oder
c steht für primitiv beziehungsweise zentriert. Zentriert bedeutet hierbei, dass das Zentrum

a1

c1´
a2
c2´

c1 c2

Abb. 1.28: Zur Oberflächenrekonstruktion: Die roten Atome bilden das zweidimensionale Kristallgit-
ter des ungestörten Kristalls mit Gittervektoren a1 und a2 . Dieses kann als „Substrat“ für die blauen
Atome betrachtet werden, die auf √dieses
√ Gitter aufgebracht werden. Letztere bilden das Oberflächen-
gitter. Das Oberflächengitter p ( 2 × 2) R45○ mit Gittervektoren c1 und c2 ist um 45○ gedreht, das
Oberflächengitter c (2 × 2) ist ein zentriertes Gitter.

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1.4 Reale Kristalle 37

der Zelle zu den Eckpunkten äquivalent ist. Der Buchstabe p für eine primitive Elementarzel-
le kann auch weggelassen werden und wird normalerweise nur dann verwendet, wenn es ei-
ne zentrierte Zelle gleicher Größe gäbe. Beispiele sind in Abb. 1.28 gezeigt. Mit der Notation
nach Wood können nicht alle Überstrukturzellen dargestellt werden. Wenn die Überstruk-
turzelle nicht so gewählt werden kann, dass der Winkel zwischen ihren Basisvektoren und
denen des Grundgitters gleich ist, muss eine Matrixschreibweise verwendet werden (nach
P. L. Parks und H. H. Madden).
Um die Klassifizierung des Oberflächengitters noch präziser zu machen, gibt man noch die
Zusammensetzung und die Millerschen Indizes der Kristalloberfläche an, die als Substrat
dient, sowie die Art der Oberflächenatome, die√auf √
diese Oberfläche aufgebracht werden.
Zum Beispiel besagt die Bezeichnung Si(100) ( 2 × 2) R45○ -Ag, dass bei der Adsorption
von Ag-Atomen auf einer Si(100)-Oberfläche das Oberflächengitter
√ der Ag-Atome um 45○
gedreht ist und die Gitterkonstante um den Faktor 2 vergrößert ist.

1.4 Reale Kristalle


In realen Kristallen treten immer eine Reihe von Störungen in ihrem regelmäßigen Aufbau
auf, die wir als Fehlordnung, Fehlstellen oder Gitterfehler bezeichnen. Falls die Dichte dieser
Baufehler gering ist, könnte man annehmen, dass sie keine große Bedeutung haben. Dies ist
in vielen Fällen allerdings nicht richtig. Es ist vielmehr so, dass häufig Kristalldefekte einige
Festkörpereigenschaften maßgeblich beeinflussen. Deshalb wollen wir im Folgenden kurz
eine Übersicht über mögliche Kristalldefekte geben.

1.4.1 Strukturelle Fehlordnung


Wir können prinzipiell zwischen intrinsischen und extrinsischen Fehlstellen unterscheiden.
Erstere resultieren im thermodynamischen Gleichgewicht aus der Minimierung der freien
Enthalpie. Zu ihnen gehören Leerstellen und Zwischengitteratome, deren Gleichgewichts-
konzentrationen sich als thermische Fehlordnung als Funktion der Temperatur einstellen.
Letztere bezeichnet man dagegen als Nichtgleichgewichtsfehlstellen, da ihre Bildungsener-
gie im Allgemeinen so hoch ist, dass sie im thermischen Gleichgewicht nur in metastabiler
Form vorliegen können. Zu ihnen gehören Versetzungen, Korngrenzen und Ausscheidungs-
partikel.
Hinsichtlich der Dimensionalität von Fehlstellen können wir grob zwischen Punktdefekten,
Liniendefekten und Flächendefekten unterscheiden. Bei Punktdefekten sprechen wir auch
von einer atomaren Fehlordnung, da sich der gestörte Bereich auf eine atomare Größenord-
nung beschränkt. Bei Linien- oder Flächendefekten sprechen wir dagegen von makroskopi-
schen Defekten.

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38 1 Kristallstruktur

Erzeugung und Ausheilen von Kristalldefekten


Kristalldefekte können auf verschiedene Arten entstehen:

∎ durch schnelles Abkühlen einer Schmelze (eingefrorene Unordnung der Flüssigkeit),


∎ durch Temperaturerhöhung,
∎ durch Beschuss mit energiereichen Teilchen,
∎ durch plastische Verformung.

Defekte können natürlich auch wieder ausgeheilt werden. Dies kann zum Beispiel durch
einen Temperprozess der Probe bei hoher Temperatur knapp unterhalb der Schmelztempe-
ratur geschehen. Manche Defekte können auch durch Druck oder Zug ausgeheilt werden.
Mit zunehmender Anzahl der strukturellen Defekte erhalten wir einen fließenden Übergang
zwischen einem perfekten Einkristall und einem amorphen Festkörper. Bei einem perfek-
ten Einkristall ist der mittlere Abstand L zwischen zwei Defekten unendlich groß. Bei einem
realen Kristall ist der Abstand endlich aber immer noch groß gegen die Gitterkonstante a.
Zum Beispiel ist bei einem Polykristall L durch die Kristallitgröße gegeben. Wird die De-
fektdichte so groß, dass der mittlere Abstand der Defekte in den Bereich der Gitterkonstante
kommt, so erhalten wir einen amorphen Festkörper.

Punktdefekte
Bei Punktdefekten unterscheiden wir zwischen Leerstellen (fehlende Atome auf regulären
Gitterplätzen) und Zwischengitteratomen (zusätzliche Atome auf Zwischengitterplätzen).
Bei mehratomigen Substanzen müssen wir dabei noch zwischen den einzelnen Untergit-
tern unterscheiden (siehe Abb. 1.29). Bei AB-Verbindungen, z. B. NaCl, KCl, AgCl, MnO
oder GaAs treten häufig Kombinationen von Punktdefekten auf. Die Kombination von zwei
Leerstellen auf dem A- und B-Platz bezeichnet man als Schottky-Defekt,31 die Kombination
einer Leerstelle auf dem A-Platz mit einem A-Atom auf einem Zwischengitterplatz bezeich-
net man als Frenkel-Defekt.32 Diese Kombinationen treten insbesondere bei Ionenkristallen
wie NaCl auf, um die Ladungsneutralität zu gewährleisten.
Leerstellen sind bei einer endlichen Temperatur immer in bestimmter Dichte in einem Kris-
tall vorhanden. Ihre Konzentration lässt sich mit Hilfe einer thermodynamischen Betrach-
tung ermitteln, wenn wir davon ausgehen, dass im thermodynamischen Gleichgewicht bei

(a) (b) (c)

Abb. 1.29: Beispiele für


Punktdefekte: (a) Leer-
stelle, (b) Zwischengitter-
atom und (c) Fremdatom. Leerstelle Zwischengitteratom Fremdatom

31
Walter Schottky, geboren 1886 in Zürich, gestorben 1976 in Pretzfeld.
32
Jakow Iljitsch Frenkel, geboren 1894 in Rostow, gestorben 1952 in St. Petersburg.

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1.4 Reale Kristalle 39

vorgegebener Temperatur T und Kristallvolumen V die freie Energie


F = U − TS (1.4.1)
des Systems ein Minimum besitzt. Entfernen wir Atome von Gitterplätzen, so nimmt zwar
die freie Energie U um
ΔU = n є (1.4.2)
zu, gleichzeitig wächst aber aufgrund der erhöhten Unordnung die Entropie S. Hierbei ist n
die Zahl der Fehlstellen und є die Energie, die zu ihrer Erzeugung aufgebracht werden muss.
Da der Entropieterm mit negativem Vorzeichen in den Ausdruck für F eingeht, erhalten wir
ein Minimum bei einer bestimmten Dichte der Fehlstellen.
Bei der Berechnung der Entropie müssen wir berücksichtigen, dass bei einem Kristall mit
Fehlstellen zusätzlich zur thermischen Entropie S th noch die so genannte Konfigurationsen-
tropie S kf hinzu kommt:
S = S th + S kf . (1.4.3)
Die thermische Entropie hängt davon ab, wie viele Möglichkeiten es gibt, die thermische
Energie auf mögliche Schwingungszustände des Kristalls zu verteilen. Es lässt sich zeigen,
dass die Zahl Wth der Verteilungsmöglichkeiten durch das Vorhandensein von Fehlstellen
erhöht wird. Dies bedeutet, dass gemäß der Boltzmann-Beziehung 33
S th = k B ln Wth (1.4.4)
auch die thermische Entropie erhöht ist. Hierbei ist k B die Boltzmann-Konstante. Ist σth die
Entropieerhöhung pro Fehlstelle, so kann die Entropieerhöhung als
ΔS th = nσ th (1.4.5)
geschrieben werden. Die Konfigurationsentropie wird durch die Zahl der Möglichkeiten be-
stimmt, einen Zustand mit n Leerstellen durch verschiedene Anordnungen der Leerstellen
im Kristall zu realisieren. Ist N die Zahl der Gitterplätze im Kristall, so gilt
N!
Wkf = (1.4.6)
(N − n)! n!
und damit
N!
S kf = k B ln ( ). (1.4.7)
(N − n)! n!
Ist F(T) die freie Energie des idealen Kristalls, so können wir schreiben:
F(n, T) = F(T) + ΔU − T(ΔS th + S kf )
N!
= F(T) + n(є − Tσth ) − T k B ln ( ). (1.4.8)
(N − n)! n!
33
Ludwig Eduard Boltzmann, geboren am 20. Februar 1844 in Wien, gestorben am 5. September
1906 in Duino bei Triest, Italien.

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40 1 Kristallstruktur

Im thermischen Gleichgewicht gilt (∂F/∂n)T=const = 0. Unter Benutzung der Stirlingschen


Formel ln x! = x ln x − x für x ≫ 1 erhalten wir daraus

n = (N − n) eσth /k B e−є/k B T . (1.4.9)

Für n ≪ N erhalten wir daraus schließlich die Leerstellenkonzentration


n
= eσth /k B e−є/k B T . (1.4.10)
N
Bei Edelmetallen beträgt є etwa 1 eV und der Entropiefaktor eσth /k B liegt bei etwa 10. Damit
ergibt sich für eine Temperatur von 1000 K eine Leerstellenkonzentration von etwa 10−4 . Bei
Materialien mit höherem Schmelzpunkt ist die Bindungsenergie und damit є größer. Nach
Gleichung (1.4.10) ist deshalb die Leerstellenkonzentration wesentlich kleiner.
Bei Ionenkristallen müssen wir berücksichtigen, dass wir bei der Erzeugung von Leerstellen
die Ladungsneutralität bewahren müssen, um die hohe Coumlomb-Energie zu vermeiden.
Eine ähnliche Betrachtung wie oben liefert für diesen Fall für die Anzahl der Leerstellen am
Ort des positiven und negativen Ions
n+ n−
= = ẽσth /k B e−̃є/k B T . (1.4.11)
N N
+ −
Hierbei sind ̃σth = σth + σth die Entropie und −̃ є = є+ + є− die Bildungsenergie pro Ionen-
paar. Die Wahrscheinlichkeit für die Defektbildung wird also durch die jeweiligen Parame-
ter für Ionenpaare bestimmt. Die Forderung nach Ladungsneutralität spielt auch beim Ein-
bau von Fremdatomen ins Wirtsgitter eine Rolle. Bringen wir zum Beispiel Ca2+ -Ionen auf
Na+ -Plätze in einem NaCl-Kristall, so ist jedes eingebaute Ca2+ -Ion mit einer Na+ -Leerstelle
verbunden. Die Leerstellendichte wird dann durch die Anzahl der Fremdatome bestimmt.
Die Tatsache, dass jedes eingebaute Ca2+ -Ion mit einer Na+ -Leerstelle verbunden ist, führt
insgesamt zu einer Verkleinerung der Kristalldichte, obwohl das Ca2+ -Ion ja eine größere
Atommasse besitzt.
Bei einem Frenkel-Defekt wird ein Atom von einem regulären Gitterplatz auf einen Zwi-
schengitterplatz geschoben. Das heißt, es treten neben Leerstellen gleichzeitig Zwischengit-
teratome auf. Bei Kristallen mit dicht gepackter Struktur (z. B. bei Metallen) ist der Ener-
giebedarf für die Ansiedlung eines Atoms auf einem Zwischengitterplatz hoch, sie liegt bei
einigen eV. In Metallen lassen sich deshalb allein durch Temperaturerhöhung kaum Frenkel-
Defekte erzeugen. Ihre Erzeugung kann aber durch den Beschuss mit energiereichen Teil-
chen geschehen. In offenen Gitterstrukturen (z. B. beim Diamantgitter) ist die Erzeugung
von Frenkel-Defekten dagegen mit weniger Energieaufwand verbunden und deshalb we-
sentlich einfacher.
In Ionenkristallen wie den Alkalihalogeniden tritt eine weitere Art von Fehlstelle auf, das
so genannte Farbzentrum. Der Name rührt daher, dass dieser Defekt zu einer charakteristi-
schen Absorption von sichtbarem Licht führt. Die am besten untersuchten Farbzentren sind
die F-Zentren, bei denen ein einzelnes Elektron in einer Halogenlücke eingefangen wird, wie
dies in Abb. 1.30 gezeigt ist. Das Elektron hat allerdings seine maximale Aufenthaltswahr-
scheinlichkeit nicht im Mittelpunkt der Lücke, sondern in der Nähe der die Lücke umgeben-
den positiven Metallionen. Es gibt auch eine Reihe weiterer, komplizierterer Farbzentren, an

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1.4 Reale Kristalle 41

- + - + -

+ - + - +

- + - + -

+ - + - +

- + - + -
Abb. 1.30: Struktur eines F-Zentrums.

denen mehrere Leerstellen oder Ionen beteiligt sind. Auf diese wollen wir hier aber nicht
eingehen.
Der in Abb. 1.31 gezeigte Zusammenhang zwischen der Photonenenergie E max bzw. der Wel-
lenlänge λ max des Maximums der Absorptionsbande und dem Abstand R NN zwischen den
nächsten Nachbarn macht klar, dass die Größe der beteiligten Ionen und damit die Gitter-
konstante des Ionenkristalls eine wichtige Rolle spielt. Man beobachtet λ max = αR NN2
mit
12 −1
λ = 6 × 10 m für Alkalihalogenide mit NaCl-Struktur. Diesen Zusammenhang erhalten
wir, wenn wir annehmen, dass sich das Elektron des Farbzentrums in einem Kastenpotenzial
mit Abmessung R NN bewegt. Aus der Quantenmechanik folgt nämlich, dass der Abstand der
2
Energieniveaus proportional zu 1/R NN und somit λ max ∝ R NN
2
ist. Kristalle mit Farbzentren
haben eine wichtige technische Bedeutung als aktive Medien in Infrarot-Lasern. In diesen
Farbzentrenlasern werden allerdings etwas komplizierter aufgebaute Farbzentren benutzt.

Omax (nm)
619 412 309
KI

RbBr RbCl
KBr KCl

3
NaBr
RNN (Å)

NaCl

KF LiCl

Abb. 1.31: Photonenenergie bzw.


NaF
Wellenlänge am Maximum der op-
tische Absorption durch Farbzentren
2 LiF
in Alkalihalogenidkristallen als Funk-
tion des Abstands R NN der nächsten
2 3 4 5 Nachbarn (nach G. Miessner, H. Pick,
Emax (eV) Z. Physik 134, 604 (1953)).

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42 1 Kristallstruktur

Linien- und Flächendefekte


Typische Liniendefekte sind Versetzungen, bei denen eine Gitterstörung längs einer Linie
auftritt. Als Beispiel sind in Abb. 1.32 eine Stufenversetzung (a) und eine Schraubenverset-
zung (b) gezeigt. Wir können uns die Entstehung der Stufenversetzung so vorstellen, dass
wir den Kristall entlang der Ebene ABCD in horizontaler Richtung bis zur Linie CD auf-
schneiden und dann das obere Teilstück um eine Gitterkonstante a nach rechts schieben,
während das untere Teilstück unverändert bleibt. Anschließend führen wir das obere und
untere Teilstück wieder zusammen und lassen einen Spannungsausgleich zu. Die obere Seite
wird dabei komprimiert, die untere Seite wird gedehnt. Die Versetzungslinie verläuft entlang
der Linie CD. Den Vektor b, um den wir das herausgeschnittene Kristallstück verschoben
haben, nennt man den Burgers-Vektor. Er steht bei der Stufenversetzung senkrecht auf der
Versetzungslinie. Die Versetzung können wir dadurch charakterisieren, dass wir einmal um
den Versetzungskern herumlaufen und zwar so, dass wir immer gleich viele Schritte nach
links und rechts bzw. nach oben und unten ausführen (siehe grüne Linien in Abb. 1.32). Bei
einem Kristall ohne Versetzung würden wir genau wieder am Ausgangspunkt ankommen,
bei einem Kristall mit Versetzung brauchen wir dagegen noch einen zusätzlichen Schritt,
der genau durch den Burgers-Vektor b gegeben ist. Legen wir den Umlaufsinn der Bewe-
gung fest, so ist unabhängig von der Größe des Umlaufwegs neben der Länge des Burgers-
Vektors auch seine Richtung festgelegt.

(a) (c)

b
A D
B C

(b)
D A
b
C
B

Abb. 1.32: (a) Stufenversetzung und (b) Schraubenversetzung. Der Burgers-Vektor b verläuft bei der
Stufenversetzung senkrecht und bei der Schraubenversetzung parallel zur Versetzungslinie CD. Die
grünen Linien geben einen mögliche Wege für einen Umlauf um den Versetzungskern mit gleich vielen
Schritte nach links und rechts bzw. oben und unten an. In (c) ist eine Korngrenze (45○ Korngrenze in
SiC projiziert in [110]-Richtung) gezeigt.

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1.4 Reale Kristalle 43

Neben Stufenversetzungen treten auch Schraubenversetzungen auf. Die Entstehung einer


Schraubenversetzung können wir uns so verstellen, dass wir das heraussgeschnittene Kris-
tallstück nicht um eine Gitterkonstante nach rechts, sondern nach hinten, also parallel zur
Versetzungslinie CD verschieben. Der Burgers-Vektor b verläuft bei der Schraubenverset-
zung parallel zur Versetzungslinie.
Im einfachsten Fall läuft eine Versetzungslinie durch den ganzen Kristall hindurch, d. h. von
einer Oberfläche zur anderen. Aus topologischen Gründen kann eine Versetzungslinie nicht
im Kristall enden. Es kann aber passieren, dass sie ihre Richtung ändert, wobei die relative
Orientierung von Versetzungslinie und Burgers-Vektor (z. B. 90○ bei einer Stufenversetzung)
gleich bleibt. Es können dann in sich geschlossene Versetzungslinien, so genannte Verset-
zungsringe auftreten, die vollständig im Kristallinneren verlaufen. Das einfachste Beispiel
dafür ist eine eingeschobene Gitterebene, deren Ausdehnung so klein ist, dass sie nirgends
an den Rand des Kristalls reicht. Der Rand dieser eingeschobenen Gitterebene bildet dann
eine geschlossene Versetzungslinie.
Die Konfigurationsentropie von Versetzungen ist sehr klein. Dies liegt daran, dass eine Ver-
setzung als eine lineare Anordnung von Punktdefekten betrachtet werden kann. Dies be-
deutet aber eine starke Korrelation der Punktdefekte, wodurch die Zahl der Realisierungs-
möglichkeiten einer bestimmten Konfiguration der Punktdefekte stark herabgesetzt wird.
Der Beitrag der Entropie zur freien Energie wird dadurch verschwindend klein und damit
nimmt die freie Energie ein Minimum ein, wenn auch die innere Energie ein Minimum hat.
Die innere Energie ist aber minimal, wenn im Kristall keine Versetzungen vorhanden sind.
Trotzdem haben reale Kristalle immer eine bestimmte Versetzungsdichte (Versetzungslinien
pro Flächeneinheit). Sie ist etwa 102 /cm2 für sehr gute Siliziumkristalle und bis zu 1012 /cm2
in stark deformierten Metallen.
Typische Flächendefekte sind Korngrenzen (siehe Abb. 1.32c) und Stapelfehler. Korngren-
zen treten an den Nahtstellen von einkristallinen Bereichen unterschiedlicher Orientierung
auf. Korngrenzen spielen in polykristallinen Materialien oft eine bedeutende Rolle. Ver-
tauscht man in einer kubisch flächenzentrierten Struktur die Stapelfolge ABCABC. . . zu
ACABCA. . ., so entspricht die Struktur im Bereich ACA jetzt der hexagonal dichtesten Ku-
gelpackung. Solche zweidimensionalen Fehlordnungen heißen Stapelfehler.

1.4.2 Chemische Fehlordnung


Unter chemischer Fehlordnung verstehen wir Fehler in der chemischen Zusammensetzung
eines Kristalls. Dies kann z. B. durch Verunreinigungen verursacht werden, wobei ein Atom
des Kristalls durch ein falsches Atom ersetzt wird. Solche Atome nennen wir substitutionel-
le Fremdatome. Von interstitiellen Fremdatomen sprechen wir, wenn das Fremdatom auf
einem Zwischengitterplatz eingebaut wird. Interstitielle Fremdatome sind bevorzugt sehr
kleine Atome wie Wasserstoff, Bor, Kohlenstoff, Stickstoff oder Sauerstoff.
Ferner tritt chemische Fehlordnung durch Abweichungen von der idealen Stöchiometrie bei
mehrkomponentigen Systemen auf. Hat ein Kristall zum Beispiel die Zusammensetzung AB3
und stimmt das Verhältnis von A/B = 1/3 nicht exakt, so besetzen die A-Atome teilweise die
B-Plätze oder umgekehrt. Chemische Fehlordnung kann auch bei perfekter Stöchiometrie

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44 1 Kristallstruktur

durch Platztausch von Atomen geschehen. Solche Defekte nennen wir Antistrukturatome
oder Anti-site Defekte (Atome der Sorte A auf dem Gitterplatz der Sorte B und umgekehrt
in einer zweiatomigen Verbindung AB, z. B. GaAs).
Substitionelle und interstitielle Fremdatome sowie Antistrukturatome können wir zu den
atomaren Defekten zählen. Ausgedehnte Defekte aufgrund chemischer Fehlordnung sind
z. B. Ausscheidungen und Fremdphasen.
Chemische Fehlordnung spielt in einigen Materialsystemen eine bedeutende Rolle. So wird
zum Beispiel die elektrische Leitfähigkeit von Halbleitermaterialien durch die Dotierung
mit einer geringen Konzentration von Fremdatomen um Größenordnungen geändert. Die
Dotieratome ersetzen dabei im Kristallgitter teilweise die Atome des Halbleitermaterials.

1.5 Nicht-kristalline Festkörper


Es besteht allgemeine Übereinkunft darüber, dass die Bezeichnungen amorphe, nicht-kris-
talline und ungeordnete Festkörper sowie Gläser und Flüssigkeiten keine Bedeutung hin-
sichtlich der Struktur des Festkörpers haben. Sie sagen nur aus, dass die Struktur nicht kris-
tallin ist auf irgendeiner signifikanten Längenskala. Die einzige strukturelle Ordnung die in
solchen Festkörpern vorhanden ist, wird durch den in etwa konstanten Abstand zwischen
benachbarten Atomen auferlegt. Wir wollen im Folgenden einiges Wissenswerte über nicht-
kristalline Festkörper zusammenfassen.

1.5.1 Die radiale Verteilungsfunktion


Die lokale Anordnung von Atomen in Festkörpern lässt sich ganz allgemein durch die Paar-
korrelationsfunktion

1
g (r1 , r2 ) = ⟨n(r1 ) n(r2 )⟩ (1.5.1)
n 02

charakterisieren. Nehmen wir der Einfachheit halber an, dass unser Festkörper nur aus ei-
ner Atomsorte aufgebaut ist, so gibt g(r1 , r2 ) die Wahrscheinlichkeit dafür an, dass sich am
Ort r2 ein Teilchen befindet, wenn am Ort r1 bereits ein Teilchen vorhanden ist. Die Wahr-
scheinlichkeit wird mit Hilfe der mittleren Teilchendichte n 0 für große Abstände auf den
Wert eins normiert.
Amorphe Festkörper sind vom makroskopischen Standpunkt aus gesehen im Allgemeinen
homogen und isotrop. Wir können deshalb annehmen, dass die Paarkorrelationsfunktion
nur vom Abstand r = r2 − r1 abhängt. Sie gibt dann die mittlere Teilchendichte n(r) an, die
wir im Mittel im Abstand r von einem gewählten Bezugsatom anfinden, d. h.

n(r)
g(r) = . (1.5.2)
n0

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1.5 Nicht-kristalline Festkörper 45

V'r
Volumen der Kugelschale

r+'r

N'r Abb. 1.33: Zur Ableitung der radialen Ver-


Anzahl der Gitterpunkte teilungsfunktion.

Häufig wird zur Beschreibung der Verteilung von Atomen in einem amorphen Festkörper
auch die radiale Verteilungsfunktion ρ(r) verwendet. Hierzu betrachten wir eine Kugelscha-
le der Dicke Δr um ein beliebiges Atom (siehe Abb. 1.33). Das Volumen der Kugelschale ist
für Δr ≪ r
4
VΔr = π ((r + Δr)3 − r 3 ) ≃ 4πr 2 Δr . (1.5.3)
3
Die Zahl der Atome, die in dieser Kugelschale liegen, sei N Δr . Wir können damit die mittlere
Dichte der Atome im Abstand r angeben als
N Δr
n(r) = ⟨ lim ⟩. (1.5.4)
Δr→0 VΔr
Hierbei deutet ⟨⟩ den Mittelwert über alle Atome an. Mit dieser mittleren Dichte können wir
die radiale Verteilungsfunktion als

N Δr
ρ(r) = 4πr 2 n(r) = 4πr 2 ⟨ lim ⟩ = 4πr 2 n 0 g(r) . (1.5.5)
Δr→0 VΔr

definieren. Die radiale Verteilungsfunktion gibt die mittlere Zahl der Atome pro Längen-
einheit an. Um die Bedeutung dieser Verteilungsfunktion zu verstehen, betrachten wir zwei
Grenzfälle:

1. Kristalliner Festkörper:
Die Kugelschale enthält nur bei ganz bestimmten Abständen r = r j , die durch die Kris-
tallstruktur und die Gitterkonstanten vorgegeben sind, Atome. Die Größe n(r) bzw. g(r)
und damit ρ(r) wird bei diesen Werten unendlich groß, da die Zahl N Δr auch für VΔr → 0
endlich bleibt. Wir erhalten also eine δ-Funktion


⎪0 für r ≠ r j
ρ(r) = N(r)δ(r − r j ) = ⎨ . (1.5.6)

⎪∞ für r = r j

Integrieren wir die δ-Funktion, so erhalten wir gerade die Zahl N(r j ) der Atome im
Abstand r j . Haben wir keinen perfekten Kristall, so werden die Atompositionen etwas
schwanken, was zu einer Verbreiterung der Peaks in ρ(r) bei r = r j führt.

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46 1 Kristallstruktur

(a) 600 (b) 600

400 400
ρ (r)
ρ (1/nm)

ρ (1/nm)
ρZufall (r)
200 200

0 0
0.0 0.5 1.0 1.5 2.0 2.5 3.0 0.0 0.4 0.8 rc 1.2
r/a r (nm)

Abb. 1.34: Radiale Verteilungsfunktion bei einem einkristallinen (a) und einem amorphen Festkör-
per (b).

2. Amorpher Festkörper:
Für einen amorphen Festkörper ist n(r) = n 0 = const bzw. g(r) = 1. Damit erhalten wir
für die radiale Verteilungsfunktion
ρ(r) = 4πr 2 n 0 ≡ ρZufall . (1.5.7)
Dieses Ergebnis ist einsichtig, da wir in einem amorphen Körper eine völlig zufällige
Abstandsverteilung erwarten.
Experimentell wird dieses Verhalten aber nicht beobachtet. Man findet vielmehr, dass
die radiale Verteilungsfunktion für sehr kleine r < r c eher wie diejenige eines kristallinen
Festkörpers aussieht und erst bei größeren r in ρZufall übergeht:


⎪ρ Kristall für r < r c
ρ(r) = ⎨ . (1.5.8)

⎪ ρ für r > r c
⎩ Zufall
Dies ist einsichtig, da wir auch für einen amorphen Festkörper erwarten, dass um jedes
Atom herum eine gewisse Nahordnung mit einem gut definierten mittleren Atomab-
stand existiert. Es existiert allerdings keine Fernordnung, weshalb die Verteilungsfunk-
tion für große r > r c dann in ρZufall übergeht. Der charakteristische Radius r c liegt in der
Größenordnung des Atomabstandes (siehe hierzu Abb. 1.34).

1.5.2 Flüssigkristalle
Bisher haben wir nur Systeme betrachtet, die entweder kristallin oder amorph waren. Es gibt
aber auch Mischformen, also Strukturen, die hinsichtlich mancher Eigenschaften kristallin,
hinsichtlich anderer jedoch amorph sind. Beispiele sind Flüssigkristalle,34 die wir hier näher
diskutieren wollen, aber auch Flusslinien in Supraleitern.
34
Der österreichische Botaniker und Chemiker Friedrich Reinitzer (1857–1927) hat im Jahr 1888
an der Substanz Cholesterinbenzoat festgestellt, dass diese bei 145.5 ○ C schmilzt aber milchig trüb

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1.5 Nicht-kristalline Festkörper 47

(a) (b) (c)

Abb. 1.35: Flüssigkristalle: (a) flüssige,


(b) nematische und (c) smektische
flüssig nematisch smektisch Phase.

Flüssigkristalle sind aus plättchen- oder stäbchenförmigen Molekülen aufgebaut. Es kann


deshalb eine kristalline Ordnung getrennt hinsichtlich Position und Orientierung dieser Mo-
leküle auftreten. Außerdem können diese Systeme in einer Raumrichtung amorph, in den
beiden anderen dagegen kristallin sein.
In Abb. 1.35b ist die nematische Phase eines Flüssigkristalls gezeigt. Hier liegt im Gegen-
satz zu einer Flüssigkeit, die völlig ungeordnet ist, eine Ordnung bezüglich der Orientierung
der einzelnen Moleküle vor. Die Molekülpositionen sind dagegen nach wie vor ungeordnet,
wir können bezüglich der Position der Moleküle von einem amorphen Zustand sprechen.
Abb. 1.35c zeigt eine smektische Phase.35 Hier liegt zusätzlich zur Ordnung bezüglich der
Orientierung der Moleküle auch eine Ordnung bezüglich ihrer Position in einzelnen Ebenen
vor. Allerdings haben die Positionen der Moleküle in verschiedenen Ebenen keinen Bezug
zueinander.
Heute sind etwa 50.000 organische Verbindungen bekannt, die beim Schmelzen nicht direkt
in den isotropen, flüssigen Zustand übergehen, sondern eine oder mehrere flüssigkristalline
Phasen durchlaufen. Das Bauprinzip dieser Verbindungsklasse ist im Prinzip einfach. Das
Molekül muss eine ausgeprägte Formanisotropie aufweisen. Es muss etwa vier- bis sechsmal
so lang sein, wie es dick ist, muss einen formstabilen starren Grundkörper besitzen, etwa wie
das Benzylidenanilin oder das Biphenyl, und muss in der Längsachse mit zumindest einer
flexiblen Alkylkette versehen sein, um den Schmelzpunkt herabzusetzen. Typische Vertreter
der Substanzklasse der Flüssigkristalle sind das Methyloxybenzylidenbutylanilin (MBBA)
und das Pentylcyanobiphenyl (5CB). Beide Verbindungen weisen bei Raumtemperatur eine
flüssigkristalline Phase auf.
Sicherlich wäre die Beschäftigung mit Flüssigkristallen ein exotischer Forschungszweig ge-
blieben, wenn nicht im Jahr 1971 die beiden Physiker M. Schadt und W. Helfrich bei Grund-

bleibt. Erst bei einer Temperatur von 178.5 ○ C wurde die Probe klar. Beim Abkühlen wiederholte
sich der Vorgang in umgekehrter Reihenfolge. Zwischen 145.5 ○ C und 178.5 ○ C besaß die Probe
die viskosen Eigenschaften von Flüssigkeiten und zusätzlich die optischen bzw. lichtbrechenden
Eigenschaften von Kristallen. Aus diesem Grund musste die Verbindung im flüssigen Zustand ei-
ne gewisse Ordnung ausbilden. Da sie sowohl die Eigenschaften von Flüssigkeiten und Kristallen
besitzt, bezeichnete man sie als Flüssigkristall.
35
In smektischen Phasen liegen sowohl Richtungs- als auch Schwerpunktskorrelationen vor. Insge-
samt sind 12 smektische Phasen bekannt. In der smektischen A-Phase (SmA), sind die Moleküle
im Mittel senkrecht zur Schichtebene orientiert. In der smektischen C-Phase (SmC) dagegen bil-
den sie im Mittel einen von 90○ verschiedenen Winkel zur Schichtebene aus, man spricht von einer
getilteten Phase. Es existieren auch höher geordnete Phasen, in denen die Moleküle innerhalb der
Schicht eine Positionsfernordnung besitzen, z. B. SmI und SmF.

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48 1 Kristallstruktur

unpolarisiertes
Licht
Polarisator
Glasplatte
und Elektrode
polarisiertes
Licht
Flüssig-
Kristall

Glasplatte
und Elektrode
Polarisator

Spiegel
Spannung aus Spannung an

Elektrode Polarisator
Flüssigkristall Glasplatte
Abb. 1.36: Zur prinzi-
piellen Funktionsweise Spiegel
von LCD-Anzeigen.

lagenuntersuchungen über Flüssigkristalle in elektrischen Feldern eine Anordnung gefun-


den hätten, die die Funktion eines spannungsgesteuerten Lichtventils hatte. Nach ihren Er-
findern benannt, hat die Schadt-Helfrich-Zelle, als Flüssigkristalldisplay (LCD: Liquid Cry-
stal Display) ihren Siegeszug als Anzeigeelement weltweit angetreten. Heute begegnen uns
Flüssigkristallanzeigen in nahezu allen technischen Geräten, in einfachster Form als 7-Seg-
mentanzeige in Uhren und Taschenrechnern, aber auch in komplexer Form als Farbbild-
schirm des Laptops oder Taschenfernsehers.
Eine Flüssigkristallanzeige besteht, wie in Abb. 1.36 gezeigt ist, aus zwei Glasplatten, die
durch Abstandshalter in einem Abstand von typischerweise 10 μm zueinander gehalten wer-
den. Auf den sich gegenüberliegenden Glasflächen sind transparente leitfähige Schichten
aus Indium-Zinn-Oxid aufgebracht, die später die beliebig strukturierbaren Ziffern, Zeichen
oder Segmente darstellen sollen. Die Glasplatten sind auf den Innenseiten so präpariert, dass
die Flüssigkristallmoleküle an jeder Glasoberfläche mit ihren Längsachsen in einer bestimm-
ten Richtung parallel zur Oberfläche ausgerichtet sind, und zwar so, dass die Orientierungs-
richtungen an den beiden sich gegenüberstehenden Oberflächen senkrecht zueinander lie-
gen. Wird nun ein nematischer Flüssigkristall zwischen diese Glasplatten gebracht, so muss
er aufgrund der festgelegten Randbedingungen eine 90○ -Schraube beschreiben. Strahlt man
durch den ersten Polarisator erzeugtes polarisiertes Licht, dessen Polarisationsebene paral-
lel oder senkrecht zur Randorientierung liegt (Hauptschwingungsrichtungen), durch diese
Anordnung, so folgt die Polarisationsebene des Lichtes der Schraubenstruktur und erfährt
beim Durchgang durch die Flüssigkristallzelle eine Drehung um 90○ . Es kann dann den zwei-
ten, zum ersten senkrecht orientierten Polarisator durchdringen, auf den Spiegel treffen und
reflektiert werden. Liegt eine Spannung an, so wird die Orientierung der Flüssigkristalle ge-

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1.6 Vertiefungsthema: Direkte Abbildung von Kristallstrukturen 49

ändert. Die Polarisationsebene des Lichts wird dann nicht gedreht, es kann den zweiten Po-
larisator nicht durchdringen und somit nicht reflektiert werden. In das Display zum Beispiel
eines Taschenrechners fällt das Tageslicht ein und wird je nach Stellung der Flüssigkristalle
entweder ungehindert durchgelassen oder eben nicht. Damit kann man einzelne Stellen auf
dem Display verdunkeln und so ein Bild vortäuschen.

1.6 Vertiefungsthema: Direkte Abbildung von


Kristallstrukturen
Heute stehen uns mehrere Verfahren zur Verfügung, mit denen wir atomare Strukturen di-
rekt abbilden können. Die wichtigsten Verfahren sind die

∎ Transmissions-Elektronenmikroskopie (TEM) und die


∎ Rastersondenmikroskopie (RSM).

Wir wollen diese Verfahren kurz vorstellen, bevor wir in Kapitel 2 auf die Strukturanalyse mit
Beugungsmethoden eingehen. Der Vorteil der direkten Abbildungsverfahren ist ohne Zwei-
fel die Tatsache, dass eine unmittelbare Strukturanalyse vorgenommen werden kann, ohne
dass erst über Rechenverfahren aus den Messergebnissen auf die Struktur zurückgerech-
net werden muss. Die direkten Messverfahren eignen sich auch sehr gut für die Abbildung
von Gitterdefekten (Realstruktur), während Beugungsmethoden hauptsächlich zur detail-
lierten Bestimmung der Gitterstruktur (Idealstrukltur) und der Gitterkonstanten geeignet
sind. Der Nachteil der direkten Verfahren ist deren Oberflächensensitivität (RSM) und das
geringe Probenvolumen (TEM), das bei der Messung erfasst wird.

1.6.1 Elektronenmikroskopie
Der typische Aufbau eines Transmissions-Elektronenmikroskops (TEM) ist in Abb. 1.37 ge-
zeigt. Mit einer Elektronenquelle (Kathode, z. B. Wolfram-Haarnadelquelle, LaB6 -Kathode
oder Feldemissionsquelle) werden freie Elektronen erzeugt, die auf eine Energie von typi-
scherweise einigen 100 keV beschleunigt werden. Mit Hilfe von Kondensorlinsen wird ei-
ne optimale „Elektronenbeleuchtung“ des zu untersuchenden Objekts realisiert. Im Objekt
werden die Elektronen von den Atomen des Kristallgitters gestreut. Atome mit hoher Kern-
ladungszahl streuen dabei die Elektronen stärker als solche mit niedriger Kernladungszahl.
In der Brennebene der Objektivlinse hinter dem Objekt werden die stark gestreuten Elek-
tronen durch Blenden absorbiert, so dass Atome mit hoher bzw. niedriger Kernladungszahl
dunkel bzw. hell erscheinen. Das zu untersuchende Objekt muss sehr dünn sein (typischer-
weise dünner als 100 nm), da die Elektronen sonst das Objekt nicht durchdringen können.
Das von weiteren Linsen vergrößerte Bild kann auf einem Leuchtschirm beobachtet werden
oder mit Hilfe einer CCD-Kamera oder Photoplatte registriert werden. Als Linsen werden
heute überwiegend Magnetlinsen verwendet. Die Brennweite dieser Linsen kann über den
Spulenstrom geregelt werden.

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50 1 Kristallstruktur

Isolator
Elektronenquelle

Kondensor

Objektivlinse
Probenebene
Probe
Projektions-
linsen Beobachter

Abb. 1.37: Schematische Darstellung zur Funktions- Leuchtschirm oder


CCD Kamera
weise eines Transmissions-Elektronenmikroskops.

Das Auflösungsvermögen von auf Beugung basierenden Mikroskopen ist durch


λ
d= (1.6.1)
n sin α
gegeben, wobei λ die Wellenlänge des verwendeten „Lichts“ und n sin α die numerische
Apertur ist (n: Brechungsindex, α: Aperturwinkel). Für ein optisches Mikroskop ist die Wel-
lenlänge im Bereich um 500 nm und die numerische Apertur ist in der Größenordnung eins.
Die Auflösung liegt deshalb bei etwa 1 μm.
In der Elektronenmikroskopie werden hochenergetische Elektronen zur Abbildung verwen-
det. Ihre de Broglie-Wellenlänge beträgt
h h
λ el = =√ . (1.6.2)
p 2mE
Hierbei ist p der Impuls der Elektronen, h das Plancksche Wirkungsquantum und m die
Elektronenmasse. Bei einer Elektronenenergie von E = 300 keV erhalten wir damit eine
Wellenlänge von λ el ≃ 2 pm. Allerdings können die Linsenfehler von magnetischen Linsen
schlecht korrigiert werden und die numerische Apertur der magnetischen Linsen ist wesent-
lich kleiner als eins, so dass die erreichte praktische Auflösung von Elektronenmikroskopen
heute im Bereich von 1 Å liegt.
Abb. 1.38a zeigt als Beispiel ein TEM-Bild einer mehrlagigen epitaktischen Schichtstruk-
tur aus zwei magnetischen La2/3 Ba1/3 MnO3 -Schichten, die durch eine nur wenige Atomla-
gen dicke SrTiO3 Tunnelbarriere getrennt sind (magnetischer Tunnelkontakt). Im TEM-Bild
können deutlich die verschiedenen Atomreihen erkannt werden. Mit Hilfe der TEM-Analyse
kann z. B. festgestellt werden, ob in der dünnen Tunnelbarriere Löcher vorhanden sind und
ob an den Grenzflächen Defekte (z. B. Versetzungen) auftreten. Abb. 1.38b zeigt ein TEM-
Bild einer Si (111) 7 × 7 Oberfläche.
In modernen Elektronenmikroskopen können nicht nur die elastisch gestreuten Elektro-
nen zur Abbildung verwendet werden, sondern auch diejenigen Elektronen, die einen für
jedes Element charakteristischen Energieverlust bei der Streuung erfahren haben. Auf diese

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1.6 Vertiefungsthema: Direkte Abbildung von Kristallstrukturen 51

La2/3Ba1/3MnO3

SrTiO3

Abb. 1.38: TEM-Bild einer heteroepitaktischen La2/3 Ba1/3 -


MnO3 /SrTiO3 -Schichtstruktur (Schicht: WMI-Garching,
La2/3Ba1/3MnO3 TEM-Analyse: Universität Bonn).

Weise kann eine lokale Elementanalyse durchgeführt werden (EELS: Electron Energy Loss
Spectroscopy).

1.6.2 Rastersondentechniken
Die Rastersondentechniken haben seit ihrer Einführung in den 1980er Jahren eine stürmi-
sche Entwicklung erfahren. Die beiden wichtigsten Verfahren sind die

∎ Rastertunnelmikroskopie (STM: Scanning Tunneling Microscopy) und die


∎ Rasterkraftmikroskopie (AFM: Atomic Force Microscopy).

Die für beugungsbasierte Methoden bestehende Auflösungsgrenze d ≈ λ wird bei diesen


Verfahren dadurch umgangen, dass man zu einer Nahfeldtechnik übergeht. Diese basiert
auf einer Abrasterung der Oberfläche mit einer sehr feinen Spitze in sehr kleinem Abstand.
Die Ortsauflösung wird dabei durch den Durchmesser Δx ≪ λ der Spitze bestimmt. Diese
Technik wird auch beim wohl bekannten Stethoskop verwendet. Der Sondendurchmesser
ist hier etwa 1 cm, wodurch man eine Auflösung erhält, die weit unterhalb der Wellenlänge
von akustischen Wellen (einige Meter) liegt. Bei den Rastersondentechniken liegt der Son-
dendurchmesser im atomaren Bereich, weshalb bei der Abbildung eine atomare Auflösung
erzielt werden kann.
Abb. 1.39 zeigt schematisch die Funktionsweise eines Rastertunnelmikroskops. Die Mess-
größe M(z) ist hierbei der zwischen Messspitze und Probe fließende Tunnelstrom. Die-
ser hängt exponentiell vom Abstand Δz zwischen Spitze und Probenoberfläche ab (M(z) =
I(z) ∝ e−κ Δz , die charakteristische Abklinglänge 1/κ liegt typischerweise im Ångström-Be-
reich). Üblicherweise wird die Spitze über die Probe gerastert und dabei mit Hilfe eines
Rückkoppelkreises der Abstand mit Hilfe eines piezoelektrischen Stellelements so geregelt,
dass der Tunnelstrom zwischen Spitze und Probe konstant bleibt. Die an das Piezostellele-
ment gegebene Steuerspannung enthält dann die Information über das Höhenprofil der Pro-
be.36 Die Rastertunnelmikroskopie wurde 1981 von Binnig und Rohrer entwickelt, die da-
36
Es soll hier darauf hingewiesen werden, dass man mit dem STM nicht die Atome, sondern die für
den Tunnelstrom verantwortliche elektronische Struktur an der Oberfläche sieht. Bei einer Gra-
phit-Oberfläche sieht man deshalb z. B. nur jedes zweite Atom.

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52 1 Kristallstruktur

(a) (b)

I
Rück- STM
kopplung

V
piezo-
elektrisches
l k i h
Stellelement (c)

'x z
'z AFM
x

Si(111) 7 x 7 Oberfläche

Abb. 1.39: (a) Zur prinzipiellen Funktionsweise von Rastersondenmikroskopen. Rechts ist jeweils ein
STM- (b) und ein AFM-Bild (c) einer Si-Oberfläche im Ultrahochvakuum gezeigt. Einige ins Auge fal-
lende Besonderheiten sind: (i) die Atome sind deutlich als rotumrandete (künstlich eingefärbte) Krei-
se sichtbar und (ii) die Oberfläche hat keine Ähnlichkeit mit einer (111) Ebene des Diamantgitters.
Die Atome der Oberfläche (und die Lage darunter) haben sich rearrangiert, um ihre freien Bindun-
gen gegenseitig bestmöglichst abzusättigen. Die zweidimensionale Elementarzelle des Oberflächen-
gitters ist ziemlich kompliziert mit einer Gitterkonstante die 7 mal größer ist als die Gitterkonstante
des Si-Volumengitters. Man spricht deshalb auch von der 7×7 Struktur der (111) Oberfläche. Der 7×7
Oberflächenkristall enthält auch Defekte, insbesondere sind Leerstellen gut zu erkennen (Bilder: Omi-
cron GmbH).

für im Jahr 1986 den Nobelpreis für Physik erhielten.37 Beim Rasterkraftmikroskop ist die
Messgröße die zwischen Spitze und Probe wirkende Kraft. Verwendet man eine magnetische
Spitze, kann die magnetische Kraft zwischen Spitze und einer magnetischen Oberfläche ver-
wendet werden (MFM: Magnetic Force Microscopy).

Literatur
A. Bravais, Études Cristallographiques, Gauthier Villars, Paris (1866).
M. J. Buerger, Elementary Crystallography, John Wiley & Sons, New York (1963).
J. J. Burckhardt, Die Symmetrie der Kristalle, Birkhäuser Verlag, Basel (1988).
37
Gerd Karl Binnig (geboren am 20. Juli 1947 in Frankfurt am Main) und Heinrich Rohrer (geboren
am 6. Juni 1933 in Buchs, Kanton Sankt Gallen), erhielten im Jahr 1986 zusammen mit Ernst Au-
gust Friedrich Ruska (geboren am 25. Dezember 1906 in Heidelberg, gestorben am 27. Mai 1988 in
Berlin) den Nobelpreis für Physik. Ruska wurde für seine fundamentalen Beiträge zur Entwicklung
der Elektronenoptik ausgezeichnet, Binnig und Rohrer für die Konstruktion des Rastertunnelmi-
kroskops.

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Übungsaufgaben 53

J. S. Fedorov, Symmetry of crystals, übersetzt aus dem Russischen von David und Katherine
Harker, New York, American Crystallographic Association, Monograph 7, (1971).
R. J. Haüy, Essai d’une théorie sur la structure des cristaux, Paris (1784); Traité de minéralogie,
Paris (1801)
J. Kepler in Harmonice Mundi (1619).
W. Kleber, H.-J. Bautsch, J. Bohm, D. Klimm, Einführung in die Kristallographie, Oldenbourg
Verlag, München (2010).
L. D. Landau, Zur Theorie der Phasenumwandlungen II, Phys. Z. Sowjetunion 11, 11 (1937).
D. Levine, P. Steinhardt, Quasicrystals: A New Class of Ordered Structures, Phys. Rev. Lett. 53,
2477–2480 (1984).
K. S. Novoselov, A. K. Geim, S. V. Morozov, D. Jiang, Y. Zhang, S. V. Dubonos, I. V. Grigo-
rieva, A. A. Firsov, Electric Field Effect in Atomically Thin Carbon Films, Science 306,
666–669 (2004).
R. E. Peierls, Quelques propriétés typiques des corpses solides, Ann. I. H. Poincaré 5, 177–222
(1935).
A. Schoenflies, Synthetisch-geometrische Untersuchungen über Flächen zweiten Grades und
eine aus ihnen abgeleitete Regelfläche, Dissertation, Friedrich-Wilhelms-Universität zu
Berlin (1877).
D. Shechtman, I. Blech, D. Gratias, J. Cahn, Metallic Phase with Long-Range Orientational
Order and No Translational Symmetry, Phys. Rev. Lett. 53, 1951–1953 (1984).

Übungsaufgaben
A1.1 Tetraederwinkel
Die Winkel zwischen den tetraedrischen Bindungen der Diamantstruktur sind dieselben wie die Win-
kel zwischen den Raumdiagonalen aneinandergrenzender Würfel. Bestimmen Sie mit Hilfe der ele-
mentaren Vektorrechnung die Größe dieses Winkels.

A1.2 Die Millerschen Indizes


Wir betrachten die Ebenen mit den Millerschen Indizes (100) und (001) in einem Gitter mit fcc-
Struktur. Die Indizes beziehen sich auf die übliche kubische Zelle. Dabei sind die Translationen gerade
die Kanten ̂x,̂y und ̂ z des Würfels mit Länge a. Wie lauten die Indizes dieser Ebenen, wenn sie sich
auf die primitiven Achsen beziehen? (Hinweis: Die primitive Zelle ist ein Rhomboeder gebildet durch
̂
a = a2 (̂ y), ̂
x +̂ y +̂
b = a2 (̂ z), und ̂ z +̂
c = a2 (̂ x).)

A1.3 Die hcp-Struktur



Zeigen Sie, dass das Verhältnis c/a für eine hexagonal dichtgepackte Kristallstruktur gleich 8
3

1.633 . . . ist. Wenn c/a deutlich größer ist als dieser Wert, so kann man sich die Kristallstruktur aus
unsauber gestapelten Ebenen von dichtgepackten Atomen aufgebaut denken.

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54 1 Kristallstruktur

A1.4 Bravais-Gitter
Finden Sie für das abgebildete Honigwabengitter eine geeignete Basis und zeichnen Sie ein Bravais-
Gitter ein.

Geben Sie die fünf möglichen zweidimensionalen Bravais-Gitter an!

A1.5 Kupfer-Sauerstoff-Ebenen
Alle Hochtemperatur-Supraleiter besitzen in ihrer Kristallstruktur als zentrale Bausteine Kupfer-
Sauerstoff-Ebenen. Die schwarzen Atome in der Zeichnung (linkes Bild) sind die Kupferatome,
während die weißen die Sauerstoffatome darstellen. Der Gitterabstand der Kupferatome sei a. Der
Einfachheit halber betrachten wir das Problem nur im zweidimensionalen Fall.

a a

(a) Welche Rotationssymmetrie liegt vor? Skizzieren Sie das Bravais-Gitter, geben Sie ein Paar primi-
tiver Gittervektoren an und bestimmen Sie die Einheitszelle samt Basis.
(b) In La2 CuO4 sind die Kupfer-Sauerstoff-Ebenen nicht wirklich eben (rechtes Bild). Die Sauerstoff-
atome sind ein bisschen aus der Ebene nach oben (+) oder nach unten (−) versetzt. Geben Sie
wie in (a) die Rotationssymmetrie, die primitive Zelle und das Bravais-Gitter an. Kann man die
Gitterkonstante a beibehalten?

A1.6 Zweidimensionales Gitter


Abbildung 1.40(a) zeigt ein zweidimensionales Gitter eines Ionenkristalls, das aus zwei Atomen A
und B mit negativer bzw. positiver Ladung aufgebaut ist.

(a) Welches Punktgitter beschreibt die Translationssymmetrie des abgebildeten Kristalls vollständig?
Geben sie primitive Gittervektoren an.
(b) Geben Sie eine Basis für die Atome der Elementarzelle an.
(c) Der Kristall mache eine Gitterphasenumwandlung. Dabei werden die B-Atome im Zentrum be-
nachbarter Einheitszellen spiegelsymmetrisch längs der horizontalen Achse um ±δa zueinander
(oder eine Zelle weiter auseinander) verschoben wie in Abb. 1.40(b) gezeigt. Welche Symmetrie
hat das Gitter nun?
(d) Geben Sie die neuen primitiven Gitter- und die Basisvektoren an.

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Übungsaufgaben 55

(a) (b)

Abb. 1.40: Fiktiver 2D-Ionenkristall.


Die kleinen orangen A-Atome seien
negativ, die großen blauen B-Atome
a a positiv geladen. (a) Das Gitter sei qua-
dratisch und die großen B-Atome sei-
(c) en zentriert zwischen den A-Atomen.
(b) Die B-Atome seien spiegelsym-
metrisch um ±δa aus dem Zentrum
verschoben. (c) Alle B-Atome seien
in Phase um δa aus dem Zentrum
verschoben.

(e) Zeichnen Sie das reziproke Gitter und die ersten zwei Brillouinzonen für den Kristall vor und nach
der Verzerrung.
(f) Wir nehmen nun an, dass die B-Atome in Phase (in jeder der ursprünglichen Zellen gleich)
um δa verschoben werden [Abbildung 1.40(c)]. Wie ändert sich die Translationssymmetrie
gegenüber (a)?
(g) Welche der beiden Verzerrungen (b) und (c) koppelt an ein externes elektrisches Feld?

A1.7 Das Diamantgitter


Das Bravais-Gitter von Diamant ist kubisch flächenzentriert. Die Basis besteht aus zwei Kohlenstoff-
atomen bei den Atompositionen (0, 0, 0) und ( 14 , 14 , 14 ).

(a) Geben Sie einen Satz primitiver Translationsvektoren an.


(b) Wieviele Atome befinden sich in der konventionellen kubischen Einheitszelle?
(c) Wie groß ist die Koordinationszahl?

A1.8 Die sc-, bcc-, fcc- und hcp-Struktur


(a) In einer einfach kubischen (sc: simple cubic) Kristallstruktur sitzen lediglich an den Ecken eines
Würfels Atome. Die Berührungspunkte der Atome liegen deshalb entlang der Würfelkanten und
die Gitterkonstante a beträgt 2r, wobei r der Radius der Atome (Ionen) ist.
∎ Berechnen Sie den Volumenanteil, den die Atome in der Elementarzelle der einfach kubischen
Kristallstruktur einnehmen.
∎ Wie ändert sich der Volumenanteil beim Übergang von einem einfach kubischen zu einem ku-
bisch raumzentrierten (bcc: body centered cubic) Gitter? Welche der beiden Kristallstrukturen
nutzt den Raum besser aus?
∎ Die gemessenen Werte für die Dichte und Gitterkonstante von Eisen betragen ρ Fe = 7.86 g/cm3
und a Fe = 2.87 × 10−10 m. Können Sie aus diesen Messwerten darauf schließen, ob die Kristall-
struktur einfach kubisch oder kubisch raumzentriert ist (m Fe = 9.28 × 10−26 kg)?
(b) α-Co hat eine hcp-Struktur (hcp: hexagonal closed packed) mit den Gitterkonstanten a = 2.51 Å
und c = 4.07 Å. β-Co hat dagegen eine fcc-Struktur (fcc: face centered cubic) mit der kubischen
Gitterkonstante von 3.55 Å. Wie groß ist der Dichteunterschied der beiden Formen?
(c) Natrium zeigt eine Phasenumwandlung von einer bcc- zu einer hcp-Struktur bei T = 23 K. Berech-
nen Sie die hcp-Gitterkonstante unter der Annahme, dass bei der Phasenumwandlung die Dich-
te gleich bleibt, das c/a-Verhältnis der hcp-Struktur ideal ist und die kubische Gitterkonstante
a′ = 4.23 Å beträgt.

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