1 Kristallstruktur
1 Kristallstruktur
1 Kristallstruktur
Einen kristallinen Festkörper können wir erhalten, indem wir identische Blöcke (z. B. einzel-
ne Atome oder Gruppen von Atomen) unter Beachtung einer bestimmten Regel aufeinander
stapeln, so dass wir eine dreidimensionale, periodische Anordnung von Atomen erhalten.
Diese Vorstellung wurde bereits im 18. Jahrhundert entwickelt, als Mineralogen entdeck-
ten, dass die Indexzahlen aller Kristallflächen gerade ganze Zahlen sind.1 Diese Vorstellung
wurde dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestätigt. Am 8. Juni 1912 berichtete Max von
Laue (1879–1960) vor der Bayerischen Akademie der Wissenschaften über seine Arbeit zu
Interferenzerscheinungen bei Röntgenstrahlen, in der er die elementare Theorie der Beugung
von Röntgenstrahlen durch eine periodische Anordnung von Atomen diskutierte. Die expe-
rimentelle Bestätigung seiner theoretischen Betrachtungen erfolgte durch Walter Friedrich2
und Paul Knipping3 in ihrer Arbeit Experimentelle Beobachtung der Beugung von Röntgen-
strahlen an Kristallen. Dadurch war der eindeutige experimentelle Nachweis dafür erbracht,
dass Kristalle aus einer periodischen Anordnung von Atomen bestehen.
Wir werden in diesem Kapitel die grundlegenden Begriffe, die wir zur Beschreibung von
Kristallen benötigen, einführen. Außerdem werden wir einige wichtige Kristallstrukturen
besprechen.
1
R. J. Haüy, Essai d’une théorie sur la structure des cristaux, Paris (1784); Traité de minéralogie, Paris
(1801).
2
Walter Friedrich, geboren am 25. Dezember 1883 in Salbke bei Magdeburg, gestorben am 16. Ok-
tober 1968 in Berlin, Pionier der Strahlenphysik, Ordinarius für Medizinische Physik in Berlin
(1922). Walter Friedrich wurde nach seiner Promotion 1911 bei W. C. Röntgen Assistent bei Ar-
nold Sommerfeld in München. An diesem Institut hatte Max von Laue Untersuchungen über die
Raumgitterstruktur der Kristalle durchgeführt, die von Friedrich mit dem Doktoranden Knip-
ping fortgesetzt wurden. Friedrich gelang der Nachweis von Interferenzpunkten auf einer Foto-
platte, womit die Wellennatur der Röntgenstrahlen bewiesen war. Die Untersuchungsergebnisse
fanden 1912 im Sitzungsbericht der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften ihren
Niederschlag. Von Laue gab 1914 wegen der Leistung Friedrichs und Knippings die Teilung des
ihm für diese Forschungsarbeiten verliehenen Nobelpreises bekannt. Nach mehrjähriger Tätigkeit
in Freiburg wurde Friedrich Lehrstuhlinhaber für Medizinische Physik an der Universität Berlin.
1947 übernahm er die Leitung des Medizinisch-biologischen Instituts in Berlin-Buch, das er zu
einem bedeutenden Forschungszentrum für die Krebsforschung, Pharmakologie und Zellphysio-
logie entwickelte.
3
Paul Knipping, geboren am 20. Mai 1883 in Neuwied am Rhein, gestorben am 26. Oktober 1935,
deutscher Physiker.
Ein idealer Kristall ist eine unendliche Wiederholung von identischen Strukturelementen.
Wir können einen idealen Kristall immer beschreiben durch Angabe der
Die Basis kann hierbei beliebig kompliziert sein. Sie kann aus nur einem Atom bestehen wie
bei Einkristallen aus Cu, Ag oder Au, aus zwei Atomen wie bei NaCl, aus 13 Atomen wie beim
Hochtemperatur-Supraleiter YBa2 Cu3 O7 (siehe Abb. 13.59) oder aus einigen 10 000 Atomen
wie bei Proteinkristallen.
1. Ein Bravais-Gitter ist ein unendliches Gitter von Raumpunkten mit einer Anordnung
und Orientierung, die exakt gleich aussieht, egal von welchem Gitterpunkt wir das Gitter
betrachten.
2. Ein dreidimensionales Bravais-Gitter besteht aus allen Punkten
R = n 1 a1 + n 2 a2 + n 3 a3 , n 1 , n 2 , n 3 ganzzahlig . (1.1.2)
Die Vektoren a1 , a2 und a3 , die nicht in einer Ebene liegen dürfen, bezeichnen wir als
primitive Gittervektoren. Sie spannen das Raumgitter auf. Ihre Längen a 1 , a 2 und a 3
werden als Gitterkonstanten bezeichnet.
4
Es sei hier angemerkt, dass es in realen Kristallen natürlich Baufehler (Defekte) und Ränder gibt.
5
nach Auguste Bravais, geboren 1811 in Annonay, gestorben 1863 in Versailles.
6
Auguste Bravais, Études Cristallographiques, Gauthier Villars, Paris (1866).
a2
T
R R aB
P Q P
a1
(a) (b)
Abb. 1.1: (a) Die Schnittpunkte der Linien eines Bienenwabenmusters bilden kein Bravais-Gitter, da
das Kristallgitter von Punkt P und Q aus betrachtet anders aussieht. (b) Nur die rot oder blau markier-
ten Punkte bilden ein Bravais-Gitter. Auf diese muss man dann eine zweiatomige Basis bestehend aus
jeweils einem roten und blauen Atom setzen. Die Vektoren a 1 und a 2 sind die primitiven Gittervekto-
ren, der Vektor a B gibt die Verschiebung der beiden Untergitter aus roten und blauen Kohlenstoffato-
men an.
Es kann gezeigt werden, dass beide Definitionen äquivalent sind. In Abb. 1.1 ist als Beispiel
ein zweidimensionales Bienenwaben-Gitter gezeigt. Die Schnittpunkte dieses Musters bilden
kein Bravais-Gitter. Die Anordnung der Punkte sieht zwar von Punkt P oder R aus betrachtet
identisch aus. Die Ansicht von Punkt Q aus ist dagegen um 60○ gedreht. Ein Bravais-Gitter
bilden deshalb nur jeweils die rot oder blau markierten Gitterpunkte, auf die man eine zwei-
atomige Basis bestehend aus einem roten und blauen Atom setzen muss. Ein Beispiel hierfür
ist Graphen (vergleiche Abschnitt 1.2.10), bei dem sowohl die rot als auch die blau markier-
ten Atome Kohlenstoffatome sind. Obwohl wir also nur eine Atomsorte vorliegen haben,
besitzt Graphen eine zweiatomige Basis aus zwei Kohlenstoffatomen.
Eine analoge Formulierung von (2) ist, dass ein Bravais-Gitter invariant gegenüber diskreten
Translationen um den Translationsvektor
T = n 1 a1 + n 2 a2 + n 3 a3 n 1 , n 2 , n 3 ganzzahlig (1.1.3)
a2´
a2
a2´´´
a1 a1´ a1´´´
a2´´ T
Abb. 1.2: Gitterpunkte eines zweidi- (a)
mensionalen (a) und eines dreidi- a1´´
mensionalen (b) Bravais-Gitters und
einige Möglichkeiten für die Wahl
der primitiven Gittervektoren. Die
Vektoren a ′1,2 und a′′1,2 sind keine
primitiven Translationsvektoren,
da wir die Gittertranslation T nicht a3
mit ganzzahligen Kombinationen a2
von a ′1,2 und a′′1,2 bilden können. (b) a1
ist. Zwei Punkte eines Bravais-Gitters sind immer durch einen Vektor T miteinander verbun-
den. Greifen wir einen beliebigen Punkt r eines Kristalls heraus, so gilt für dessen Umgebung
U(r) wegen der Translationsinvarianz des Gitters immer U(r) = U(r + T).
Ein Nachteil der Definition (2) ist, dass die Wahl der primitiven Gittervektoren nicht ein-
deutig ist, wie in Abb. 1.2 dargestellt ist.
Primitive Gitterzelle
Die primitiven Gittervektoren a1 , a2 und a3 spannen ein Parallelepiped, die so genannte
primitive Gitterzelle oder Elementarzelle auf. Ihr Volumen ist durch das Spatprodukt
Vc = (a1 × a2 ) ⋅ a3 (1.1.4)
gegeben. Verschiebt man das Volumen der primitiven Gitterzelle um den Translationsvek-
tor T, so wird der gesamte Raum gerade ausgefüllt, ohne dass Überlappungen oder Löcher
entstehen. Wie Abb. 1.3 zeigt, gibt es wiederum eine Vielzahl von Möglichkeiten für die
Wahl der primitiven Gitterzelle. Diese muss auch nicht die Symmetrie des Gitters haben.
Eine primitive Gitterzelle enthält aber immer genau einen Gitterpunkt und alle primitiven
Gitterzellen besitzen das gleiche Volumen. Ist die Gitterzelle ein Paralellogramm mit Gitter-
punkten an allen Ecken, so ist die Anzahl der Gitterpunkte pro primitiver Gitterzelle auch
nur 14 ⋅ 4 = 1, da jeder Gitterpunkt mit vier benachbarten Zellen geteilt wird.
(a) (b)
Konventionelle Gitterzelle
Wir können den Raum auch mit nicht-primitiven Gitterzellen füllen, die wir einfach als
Einheitszelle oder konventionelle Zelle bezeichnen. Eine Einheitzelle ist ebenfalls ein Raum-
element, das den ganzen Raum ohne jegliche Löcher und Überlapp ausfüllt, wenn es durch
eine Untergruppe der möglichen Translationsvektoren verschoben wird. Die konventionelle
Zelle ist üblicherweise größer als die primitive Zelle und wird entsprechend der Symmetrie
des Gitters gewählt. Zum Beispiel beschreibt man das raumzentrierte kubische Gitter (bcc:
body centered cubic) mit einer kubischen Einheitszelle, die zweimal so groß ist wie die pri-
mitive bcc-Zelle. Das flächenzentrierte kubische Gitter (fcc: face centered cubic) beschreibt
109°28´
60°
(a) (b)
Abb. 1.4: Primitive (Blautöne) und konventionelle Zelle (Würfel) für ein kubisch raumzentriertes (a)
und ein kubisch flächenzentriertes (b) Bravais-Gitter.
man meist mit einer kubischen Einheitszelle, die viermal so groß ist wie die primitive Zelle
(siehe Abb. 1.4). Die Längen, die die Größe der Einheitszelle beschreiben, so wie die Länge
a bei einem kubischen Kristall, werden Gitterkonstanten genannt.
Wigner-Seitz-Zelle
Wir können immer eine primitive Gitterzelle mit der vollen Symmetrie des Bravais-Gitters
auswählen. Die am häufigsten verwendete Wahl ist die Wigner-Seitz-Zelle.7 Die Wigner-
Seitz-Zelle um einen Gitterpunkt ist derjenige Bereich, der diesem Gitterpunkt näher ist als
irgendeinem anderen Gitterpunkt. Aufgrund der Translationssymmetrie des Bravais-Gitters
muss die Wigner-Seitz-Zelle um irgendeinen Gitterpunkt in eine um einen anderen Gitter-
punkt überführt werden, wenn sie um den Translationsvektor T verschoben wird.
7
Eugene Paul Wigner, geboren am 17. November 1902 in Budapest, gestorben am 1. Januar 1995
in Princeton, ungarisch-amerikanischer Physiker. Er erhielt 1963 zusammen mit J. Hans D. Jensen
und Maria Goeppert-Mayer der Nobelpreis für Physik „für seine Beiträge zur Theorie des Atom-
kerns und der Elementarteilchen, besonders durch die Entdeckung und Anwendung fundamentaler
Symmetrie-Prinzipien“.
Frederik Seitz, geboren am 4. Juli 1911 in San Francisco, gestorben am 2. März 2008 in New York.
US-amerikanischer Physiker, er war von 1962 bis 1969 Präsident der National Academy of Sciences
und von 1968 bis 1978 Präsident der Rockefeller University in New York.
Abb. 1.5 zeigt die Wigner-Seitz-Zelle eines zweidimensionalen Bravais-Gitters. Sie wird er-
halten, indem wir Verbindungslinien von dem betreffenden Gitterpunkt zu den Nachbar-
punkten ziehen und auf den Mittelpunkten der Verbindungslinien Geraden (bei dreidimen-
sionalen Gittern Flächen) senkrecht zu den Verbindungslinien zeichnen. Die kleinste um-
schlossenen Fläche (Volumen) ist die Wigner-Seitz-Zelle.
Symmetrieoperationen
Das Problem der Klassifizierung von Kristallstrukturen ist sehr komplex und wir wollen hier
nur die Grundzüge erläutern. Vom Standpunkt der Symmetrie aus betrachtet ist ein Kristall-
gitter durch alle geometrischen Operationen charakterisiert, die es in sich selbst überführen.
Solche Operationen nennen wir Symmetrieoperationen. Das zu einer Symmetrieoperati-
on gehörende geometrische Objekt bezeichnen wir als Symmetrieelement. Das Symmetrie-
element bilden alle Punkte, die bei dieser Bewegung unverändert bleiben. Zum Beispiel ge-
hört zur Operation der Spiegelung an einer Ebene als Symmetrieelement die Spiegelebene,
zur Drehung um eine Achse als Symmetrieelement die Drehachse.
8
siehe zum Beispiel M. J. Buerger, Elementary Crystallography, John Wiley & Sons, New York (1963).
Als einfaches Beispiel betrachten wir die in Abb. 1.6 gezeigte eindimensionale Kette von
Atomen mit Abstand a. Symmetrieoperationen sind (i) Translationen um na, wobei n eine
ganze Zahl ist, (ii) die Drehung um 180○ und (iii) die Spiegelung an der Mittelsenkrechten
zwischen zwei Gitterpunkten.
Im Allgemeinen beinhalten die Symmetrieoperationen eines Kristallgitters Translationen,
Rotationen, Spiegelungen und die Inversion. Diese Symmetrieoperationen werden in
1. die Translationsgruppe, die alle Symmetrieoperationen beinhaltet, bei denen kein orts-
fester Punkt existiert, und
2. die Punktgruppe, die alle Symmetrieoperationen beinhaltet, bei denen mindestens ein
Punkt ortsfest bleibt,
unterteilt. Dies ist deshalb möglich, da wir alle Symmetrieoperationen eines Bravais-Gitters
durch eine Translation und eine Operation, bei der mindestens ein Gitterpunkt fest bleibt,
zusammensetzen können. Symmetrieoperationen, die durch die sukzessive Anwendung von
Operationen aus der Translationsgruppe und der Punktgruppe erhalten werden, führen zu
den Raumgruppen oder Gitterpunktgruppen.
9
Die geeignetste Art der graphischen Darstellung einer Kristallform oder auch ihrer Symmetrie-
gruppe, ist die stereographische Projektion. Wir erhalten sie nach folgendem Konstruktionsprin-
zip:
∎ Wir legen eine Kugel konzentrisch um den Kristall.
∎ In den Durchstosspunkten der Flächennormalen mit der Kugeloberfläche erhalten wir die Flä-
chenpole.
∎ Wir verbinden die Flächenpole der Nordhemisphäre mit dem Südpol und die der Südhemi-
sphäre mit dem Nordpol. Die Projektion der Flächenpole längs der Verbindungslinien auf die
Äquatorialebene nennen wir stereographische Projektion.
∎ Ebenso können wir mit den Durchstosspunkten von Drehachsen oder den Schnittkreisen
von Spiegelebenen verfahren und erhalten dann die stereographische Projektion der zu einer
Punktsymmetriegruppe gehörenden Symmetrieelemente.
1 2 3 4 6
2 2 3 2
2 3 4
1 1 3 1 1 1
4 5 6
1̅ (i) 2̅ (m) 3̅ 4̅ 3
6̅
5 3
1 1 3 1 1
1 5
6
2 4 6 4
2 4
2 2 2
Abb. 1.7: Zur Veranschaulichung der zehn Symmetrieoperationen der Punktgruppe für ein drei-
dimensionales System. Es wird die in der Kristallographie übliche Symbolik verwendet.
2-, 3-, 4- und 6-zähligen Drehachsen, die wir mit den Symbolen 2, 3, 4 und 6 bezeich-
nen. Es kann streng bewiesen werden, dass für einen periodischen Kristall nur 2-, 3-,
4- und 6-zähligen Drehachsen möglich sind. Alle anderen Ordnungen von Drehachsen
sind inkompatibel mit der Translationssymmetrie.
2. Inversion:
Die Inversionssymmetrie wird durch die Koordinatentransformation x ′ = −x, y ′ = −y,
z ′ = −z beschrieben. Dies kann als eine Punktspiegelung an einem Inversions- oder Sym-
metriezentrum verstanden werden. Das Vorhandensein eines Inversionszentrums wird
mit dem Symbol 1 oder i charakterisiert.
3. Spiegelung an einer Ebene:
Bei der Spiegelung werden im Gegensatz zu einer Drehung nicht nur die Punkte auf einer
Achse, sondern die Punkte auf einer ganzen Ebene festgehalten. Diese Symmetrieoperati-
on kann mathematisch durch eine Koordinatentransformation ausgedrückt werden. Für
die Spiegelung an der yz-Ebene gilt zum Beispiel die Transformation: x ′ = −x, y ′ = y,
z ′ = z. Das Vorhandensein einer Spiegelebene in einer Kristallstruktur wird durch das
Symbol 2 oder m charakterisiert.
Außer Drehachsen, der Spiegelebene und dem Inversionszentrum gibt es noch weitere Arten
von Symmetrieoperationen mit konstantem Punkt, die sich aber aus den genannten durch
sukzessives Ausführen zusammensetzen lassen. Dabei ist extrem wichtig, dass die einzel-
nen Symmetrieoperationen nicht notwendigerweise möglich sind. Die Definitionen dieser
Symmetrieelemente sind bei der Hermann-Mauguin- und bei der Schönflies-Nomenklatur
leider grundsätzlich unterschiedlich: (i) In der Schönflies-Nomenklatur werden n-zählige
Drehspiegelachsen definiert. Einer Drehung um 2π/n folgt eine Spiegelung an der Ebene
senkrecht zur Drehachse. Die Bezeichnung ist Sn . (ii) In der Hermann-Mauguin-Nomen-
klatur werden dagegen n-zählige Drehinversionsachsen eingeführt. Der Drehung um 2π/n
folgt hier eine Punktspiegelung, die Bezeichnung ist n.
4. Drehinversion:
Wir können die Inversion mit einer Drehung um eine Achse durch das Inversionszen-
trum verknüpfen, um die neue Symmetrieoperation der Drehinversion zu erhalten. Sie
wird charakterisiert durch die Symbole 1, 2, 3, 4 und 6. Da das Vorhandensein eines In-
versionszentrums immer mit einer einzähligen Drehinversionsachse zusammenfällt, das
heißt i = 1 gilt, wird das Symbol i meist nicht verwendet. Ferner kann die Spiegelung an
einer Ebene durch eine Drehinversion um 180○ , d. h. durch eine Drehung um 2π/2 und
anschließende Inversion, realisiert werden. Da also m = 2 gilt, wird auch das Symbol m
oft nicht verwendet.
5. Drehspiegelung:
Wir können eine Drehung mit anschließender Spiegelung an einer Ebene senkrecht zur
Drehachse verknüpfen. S1 , d. h. n = 1, entspricht einer Drehung um 2π, die von einer
Spiegelung gefolgt wird. Dies ist natürlich identisch ist mit eine einfachen Spiegelung,
wobei die Spiegelebene senkrecht zur Drehspiegelachse erläuft. S1 ist also kein neues
Symmetrieelement sondern die altbekannte Spiegelung. Bei S2 , d. h. n = 2, folgt die Spie-
gelung auf eine Drehung um π, woraus wiederum ein schon bekanntes Symmetrieele-
ment, nämlich die Inversion resultiert. S3 bedeutet eine Drehung um 2π/3, die von einer
Spiegelung gefolgt wird. Das Ergebnis entspricht einer 3-zähligen Achse, auf der eine
Spiegelebene senkrecht steht. Bei S4 erfolgt die Drehung um 2π/4 gefolgt von einer Spie-
gelung. Hieraus ergibt sich ein neues Symmetrieelement, das z. B. bei einem Tetraeder
vorliegt. S6 (Drehung um 2π/6 und Spiegelung) entspricht zwar dem Vorliegen einer
dreizähligen Drehachse mit zusätzlichem Inversionszentrum, wird aber trotzdem als ei-
genes Symbol eingeführt und verwendet. Es ist ein sehr wichtiges Symmetrieelement der
anorganischen Chemie, das bei Oktaedern vorliegt.
10
Zwei Symmetriegruppen sind identisch, wenn sie genau die gleichen Operationen enthalten. Zum
Beispiel ist der Satz von Symmetrieoperationen eines Würfels identisch zu dem eines Oktaeders.
11
Benannt ist diese Symbolik nach den beiden Kristallographen Carl Hermann (Professor für Kris-
tallographie, geboren am 17. Juni 1898 in Wesermünde bei Bremerhaven, gestorben am 12. Sep-
tember 1961) und Charles-Victor Mauguin (Professor für Mineralogie, geboren am 19. Juli 1878
in Provins, Frankreich, gestorben am 25. April in 1958 in Villejuif, Frankreich).
Tabelle 1.1: Zusammenstellung der 32 Kristallklassen. Für die Symbolik wird sowohl die Nomenklatur
nach Hermann und Mauguin sowie nach Schoenflies verwendet.
1. n entspricht C n , z. B. 6 ≡ C 6 .
2. nmm entspricht C nv , z. B. 6mm ≡ C 6v .
3. n22 entspricht D n .
Tabelle 1.2: Die Schoenflies Notation für die Punktgruppen (C steht für „cyclic“, D für „dihedral“ und
S für „Spiegel“).
Symbol Bedeutung
Klassifizierung nach Hauptdrehachsen und Spiegelebenen
Cn (n = 2, 3, 4, 6), n-zählige Drehachse
Sn n-zählige Drehinversionsachse
Dn n-zählige Drehachse senkrecht zu einer Hauptdrehachse
T 4 drei- und 3 zweizählige Drehachsen wie beim Tetraeder
O 3 vier- und 4 dreizählige Drehachsen wie beim Oktaeder
Ci Inversionszentrum
Cs Spiegelebene
zusätzliche Symbole für Spiegelebenen
h horizontal = senkrecht zur Drehachse
v vertikal = parallel zur Drehachse
d diagonal = parallel zur Hauptdrehachse in der Ebene, die die zweifachen Drehachsen halbiert
Bezüglich der anderen Kategorien existieren einige subtile Unterschiede, die wir hier nicht
diskutieren wollen.12 Im Allgemeinen bezeichnet bei der internationalen Notation das Sym-
bol n eine Gruppe mit einer n-zähligen Drehinversionsachse, n/m eine Gruppe mit einer
n-zähligen Drehachse und einer Spiegelebene parallel zur Hauptdrehachse, was bis auf ei-
nige Ausnahmen C nh entspricht. Zur Veranschaulichung der Notationen sind in Abb. 1.8
einige Beispiele gezeigt.
Oh O
m3m 432
Th Td T
Die 7 Kristallsysteme Sinnvollerweise wird für die Beschreibung von Kristallen und Kris-
tallstrukturen kein kartesisches Koordinatensystem, sondern ein an das Kristallsystem an-
gepasstes Koordinatensystem verwendet, mit dem die Beschreibung der Kristallsymmetrie
besonders einfach wird.13 Es kann gezeigt werden, dass es sinnvoll ist, genau sieben unter-
12
W. Kleber, H.-J. Bautsch, J. Bohm, D. Klimm, Einführung in die Kristallographie, Oldenbourg Ver-
lag, München (2010).
13
J. J. Burckhardt, Die Symmetrie der Kristalle, Birkhäuser Verlag, Basel (1988).
⎛ −1 0 0 ⎞
r′ = ⎜ 0 1 0 ⎟ r (zweizählige Achse) (1.1.5)
⎝ 0 0 −1 ⎠
⎛1 0 0⎞
r′ = ⎜ 0 −1 0 ⎟ r (Spiegelebene) (1.1.6)
⎝0 0 1⎠
⎛ −1 0 0 ⎞
r′ = ⎜ 0 −1 0 ⎟ r (Inversionszentrum) (1.1.7)
⎝ 0 0 −1 ⎠
Hätten wir ein anderes Koordinatensystem gewählt, so hätten wir zwar auch 3×3-Matrizen
für die Symmetrieoperationen erhalten, sie wären aber nicht so einfach gewesen. Wir sehen
also, dass die mit dem monoklinen Kristallsystem verbundene Wahl des Koordinatensystems
besonders für die betrachtete Kristallklassen 2, m und 2/m geeignet ist.
Tabelle 1.3: Die sieben Kristallsystem Anzahl der Achsen und Winkel Achsen-
Kristallsysteme im dreidi- Gitter zähligkeit
mensionalen Raum. Die kubisch 3 a=b=c 3 (vier)
Anzahl der Gitter gibt α = β = γ = 90○
die Anzahl der mögli-
tetragonal 2 a=b≠c 4
chen zentrierten Gitter an. α = β = γ = 90○
rhombisch 4 a≠b≠c 2 (zwei)
α = β = γ = 90○
hexagonal 1 a=b≠c 6
α = β = 90○ , γ = 120○
trigonal 1 a=b=c 3
(rhomboedrische α = β = γ < 120○ , ≠ 90○
Aufstellung)
monoklin 2 a≠b≠c 2
α = γ = 90○ ≠ β
triklin 1 a≠b≠c 1
α≠β≠γ
wir als Raumgruppen bezeichnen. Wir erhalten insgesamt 230 unterschiedliche Raumgrup-
pen. Die Bestimmung der 230 möglichen Raumgruppen (bzw. Raumgruppentypen) erfolgte
1891 unabhängig voneinander durch Arthur Moritz Schoenflies15 , 16 und Jewgraf Stepano-
witsch Fjodorow.17 , 18
Bei der Betrachtung von Symmetrieoperationen ist es wichtig sich klar zu machen, dass die
Basis nicht unbedingt die volle Symmetrie des Gitters haben muss. Würden wir für die Basis
eine Kugelsymmetrie (höchste Symmetrie) annehmen, so würden wir gerade 14 Raumgrup-
pen erhalten. Die entsprechenden 14 Gittertypen nennen wir Bravais-Gitter. Die zu den sie-
ben fundamentalen, oben genannten Gittern aus Symmetrieüberlegungen hinzukommen-
den weiteren sieben Gitter sind zentrierte Gitter. Im Gegensatz zu den primitiven Gittern
enthalten sie im Inneren der Einheitszellen einen oder mehrere zusätzliche Gitterpunkte.
Hat die Basis nicht die volle Symmetrie des Gitters, so wird die Anzahl der möglichen Raum-
gruppen stark vergrößert bis maximal auf 230.
Um uns den Einfluss der Basis klar zu machen, betrachten wir ein kubisches Gitter. In
Abb. 1.9(a) ist die verwendete Basis mit der kubischen Symmetrie verträglich, während dies
in Abb. 1.9(b) nicht der Fall ist. In Abb. 1.9(a) finden wir zusätzlich zu den vier dreizäh-
ligen Drehachsen, die wir für das kubische System gefordert haben, noch drei vierzählige
Drehachsen und Spiegelebenen. Wir können uns auch noch andere Basiskonfigurationen
überlegen, die neben den vier dreizähligen Achsen noch weitere Symmetrieelemente auf-
weisen. In Abb. 1.9(b) finden wir nur noch zwei zweizählige Drehachsen und eine geringere
Zahl von Spiegelebenen. Eine systematische Analyse ergibt gerade, dass es insgesamt fünf
15
Arthur Moritz Schoenflies, Mathematiker, geboren am 17. April 1853 in Landsberg an der Warthe
(heute Gorzów Polen), gestorben am 27. Mai 1928 in Frankfurt am Main.
16
Arthur Schoenflies, Synthetisch-geometrische Untersuchungen über Flächen zweiten Grades und eine
aus ihnen abgeleitete Regelfläche, Dissertation, Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin (1877).
17
Jewgraf Stepanowitsch Fjodorow, russischer Kristallograph und Mineraloge, geboren am 22. De-
zember 1853 in Orenburg, gestorben am 21. Mai 1919 in Petrograd.
18
J. S. Fedorov, Symmetry of crystals, übersetzt aus dem Russischen von David und Katherine Harker,
New York, American Crystallographic Association, Monograph 7, (1971).
(a) (b)
verschiedene Anordnungen gibt, so dass wir das kubische Kristallsystem in fünf Kris-
tallklassen unterteilen können (siehe hierzu Tabelle 1.1). Entsprechende Überlegungen
können wir für die anderen Kristallsysteme durchführen. Zählen wir dann die möglichen
Punktgruppen bzw. Kristallklassen ab, deren Symmetrieoperationen eine allgemeine Kris-
tallstruktur in sich selbst überführen, wobei ein Punkt festgehalten wird, so erhalten wir die
Zahl 32. Diese Zahl muss mit den 7 kristallographischen Punktgruppen (Kristallsystemen)
verglichen werden, die wir erhalten, wenn wir für die Basis die volle Symmetrie des Gitters
annehmen. Die möglichen Zahlen für die Punkt- und Raumgruppen sind in Tabelle 1.4
zusammengefasst.
Natürlich muss ein Festkörperphysiker nicht alle 32 Kristallklassen und 230 Raumgruppen
parat haben, er muss nur von ihrer Existenz wissen. In der Praxis beschäftigt man sich meist
nur mit wenigen konkreten Fällen und man braucht nicht alle möglichen Situationen auf
Vorrat lernen. In zwei Dimensionen gibt es nur 10 Kristallklassen und 17 Raumgruppen.
Die vierzehn Bravais-Gitter Wir betrachten nun genauer den Fall, dass wir zu allen Sym-
metrieoperationen der Punktgruppe (mindestens) einen universellen Translationsvektor des
Gitters hinzufügen. Zu beachten ist dabei, dass wir dadurch unter Umständen keine primi-
tive Basis mehr erhalten. Es ist dann nötig zusätzlich zum Kristallsystem noch die Zentrie-
rung anzugeben. Gitter mit dieser Eigenschaft heißen zentrierte Gitter, nicht-zentrierte Git-
ter nennen wir primitiv und bezeichnen sie mit dem Gittersymbol P. Es wurde von Auguste
Bravais gezeigt, dass man bei der Anwendung aller möglichen Zentrierungen zu insgesamt
14 Gittertypen kommt, die nach ihm als Bravais-Gitter bezeichnet werden.19 Auguste Bra-
vais20 war schließlich im Jahr 1845 der erste, der die Anzahl der verschiedenen Bravais-Git-
tern mit 14 richtig bestimmte. Das heißt, vom Standpunkt der Symmetrie aus betrachtet
müssen wir nur 14 Bravais-Gitter unterscheiden. Unter den zentrierten Gittern unterschei-
19
Diese Zählung wurde zwar zuerst von M. L. Frankheim im Jahr 1842 durchgeführt. Allerdings
erhielt Frankheim mit 15 verschiedenen Gittern ein falsches Ergebnis.
20
Auguste Bravais, geboren am 23. August 1811 in Annonay, gestorben am 30. März 1863 in Ver-
sailles.
den wir zwischen einseitig flächen- oder basiszentrierten Gittern, die wir mit den Symbo-
len A, B, C bezeichnen, je nachdem welche Fläche der Elementarzelle betroffen ist. Allseitig
flächenzentrierte Gitter bezeichnen wir mit dem Symbol F und innenzentrierte Gitter mit
dem Symbol I (vergleiche Abb. 1.11). Ein zentriertes Gitter können wir uns aus mehreren
primitiven Gittern entstanden denken, die gegeneinander durch einen universellen Trans-
lationsvektor verschoben sind. Beim innenzentrierten Gitter ist der universelle Translati-
onsvektor eine halbe Raumdiagonale und das zentrierte Gitter ist zweifach primitiv. Beim
allseitig flächenzentrierten Gitter sind alle halben Flächendiagonalen universelle Translati-
onsvektoren und das resultierende zentrierte Gitter ist dann vierfach primitiv.21
Die Verwendung von zentrierten Gittern ist sinnvoll, weil in vielen Fällen die primitiven
Elementarzellen die Symmetrie der Punktgitter nicht zum Ausdruck bringen. Ein Beispiel
dafür ist in Abb. 1.10 gezeigt. Würden wir die durch die primitiven Gittervektoren a′ und
b′ aufgespannte primitive Gitterzelle zugrundelegen, so würden wir ein schiefwinkliges Git-
ter vermuten. Die vorliegende Symmetrie wird viel besser durch das mit den Gittervektoren
a und b aufgespannte innenzentrierte Rechteckgitter beschrieben. Der von a und b einge-
schlossene Winkel beträgt 90○ und es treten zusätzlich noch zwei Spiegelebenen auf.
b´
Abb. 1.10: Zur Verwendung von zentrier- b
ten Gittern: Die von a′ und b′ aufgespann-
te primitive Gitterzelle spiegelt im Ge- a´
gensatz zur der von a und b aufgespann-
ten, nicht-primitiven rechteckigen Zelle a
nicht die volle Symmetrie des Gitters wider.
Wir haben bei der Diskussion der 7 Kristallsysteme bereits darauf hingewiesen, dass es sinn-
voll ist, für jedes Kristallsystem ein an die Symmetrie angepasstes Koordinatensystem zu
verwenden. Wir führen also für jedes Kristallsystem ein ganz bestimmtes Bezugssystem ein,
welches durch die drei Kristallachsen mit den Längeneinheiten a, b und c und den Achsen-
winkeln α, β und γ gegeben ist. Eine Zusammenstellung der Kristallachsen und der Ach-
senwinkel ist in Tabelle 1.3 gegeben. Durch die Kristallachsen wird ein Parallelepiped, die
so genannte Einheitszelle aufgespannt. Die Länge a, b und c der Kristallachsen bezeichnen
wir als Gitterkonstanten. Wir wollen im Folgenden die sieben Kristallsysteme und die ihnen
zugeordneten Bravais-Gitter anhand von Abb. 1.11 kurz diskutieren.
3 rhombisch
P I C F
6 monoklin 7 triklin
P C P
Abb. 1.11: Die 14 Bravais-Gitter. Die Elementarzelle des hexagonalen Gitters ist primitiv und umfasst
nur das blau schattierte reguläre Prisma.
(a) (b)
(c) (d)
120°
Die sieben Kristallsysteme und vierzehn Bravais-Gitter erschöpfen die Möglichkeiten. Dies
ist natürlich nicht evident und schwierig zu beweisen. Für die Praxis ist es aber nicht relevant
zu verstehen, warum dies die einzigen unterscheidbaren Gittertypen sind. Es soll uns hier
genügen zu wissen, warum diese Kategorien existieren und was sie sind.22
∎ Bestimme die Schnittpunkte der Ebene mit den Kristallachsen in Einheiten der Gitter-
konstanten a, b und c.
∎ Bilde den Kehrwert dieser Zahlen und reduziere diese Brüche zu drei ganzen Zahlen
(und zwar den kleinstmöglichen) mit dem gleichen Verhältnis. Der Sinn und Zweck der
Kehrwertbildung wird uns erst klar, wenn wir das reziproke Gitter diskutieren.
Sind die Schnittpunkte einer Ebene zum Beispiel 4a, b und 2c, so sind die entsprechenden
Kehrwerte 14 , 11 und 12 und somit die kleinsten ganzen Zahlen mit dem gleichen Verhält-
nis 1, 4 und 2. Die Ebene ist dann durch das Zahlentripel (142) charakterisiert. Die Zah-
lentripel (hkℓ) werden als Millersche Indizes23 bezeichnet. Für einen Schnittpunkt, der im
Unendlichen liegt, wird der entsprechende Index 0. Liegt der Schnittpunkt einer Ebene bei
einem negativen Wert, so wird dies durch einen Querstrich über dem betreffenden Index an-
gezeigt, z. B. (142). Einige Beispiele sind in Abb. 1.14 gezeigt. Wichtig ist, dass ein einziges
Zahlentripel nicht nur eine bestimmte Ebene, sondern einen ganzen Satz von (unendlich
vielen) parallelen Ebenen bezeichnet. Erscheinen die Millerschen Indizes in geschweiften
Klammern, dann beziehen sie sich auf äquivalente Ebenen in einem Kristall. Zum Beispiel
werden sämtliche Oberflächen eines Würfels mit dem Symbol {100} charakterisiert, obwohl
ihre Millerschen Indizes unterschiedlich sind.
In gleicher Weise wie Kristallebenen können wir auch Richtungen klassifizieren. Die Indi-
zes [uvw] einer Kristallrichtung sind durch den Satz kleinster ganzer Zahlen gegeben, die
22
W. Kleber, H.-J. Bautsch, J. Bohm, D. Klimm, Einführung in die Kristallographie, Oldenbourg Ver-
lag, München (2010).
23
nach William Hallowes Miller, geboren am 6. April 1801 in Llandovery, Carmarthenshire, gestor-
ben am 20. Mai 1880 in Cambridge, England, britischer Mineraloge und Kristallograph.
b b b
a a a
c (200) (010) c c (221)
Abb. 1.14: Millersche In-
dizes für einige Ebenen in
einem kubischen Kristall.
Die (200)-Ebene ist zwar
b b b parallel zur (100)-Ebene,
ist aber nicht äquivalent zu
a a a dieser.
das gleiche Verhältnis haben wie die Komponenten eines Vektors R = ûa + v̂b + ŵ
c in die-
se Richtung bezüglich der Kristallachsen. Wird eine Richtung zum Beispiel durch die Vek-
torkomponenten 8a, 4b und 2c charakterisiert, so bezeichnen wir dies Richtung mit den
Indizes [421].
Für Kristalle mit einem hexagonalen Kristallgit- c
(0001)
ter liefern die Millerschen Indizes, wenn wir sie
nach dem obigen Verfahren bestimmen, unter
Umständen unterschiedliche Werte. So sind z. B.
(1100) (1120)
die in Abb. 1.15 gezeigten Ebenen (110) und oder
(100) völlig äquivalente Prismenflächen. Man (110)
geht deshalb bei der Beschreibung von Kristall-
flächen in solchen Systemen von 4 Achsen aus.
In Abb. 1.15 sind sie durch a 1 , a 2 , a 3 und c ge- (1010)
oder
kennzeichnet. Die Indizes hkiℓ erhalten wir wie
(100)
oben bereits geschrieben. Es gilt dabei
a3 -a1
i = −(h + k). (1.1.8) -a2 a2
a1 -a3
Bei der Kennzeichnung von Kristallrichtungen
verfahren wir in analoger Weise, wobei wir bei Abb. 1.15: Indizierung der Netzebenen in
einem hexagonalen Gitter.
der Wahl der Indizes darauf achten müssen, dass
(1.1.8) erfüllt ist.
1.1.4 Quasikristalle
Wir haben in Abschnitt 1.1.2 bereits darauf hingewiesen, dass wir zwar auf jeden Gitterpunkt
eines Bravais-Gitters ein Molekül mit einer fünfzähligen Rotationsachse setzen können, das
Gitter dagegen keine fünfzählige Achse besitzen kann. Abb. 1.16 zeigt, was passiert, wenn
wir versuchen ein periodisches Gitter mit Strukturelementen zu konstruieren, die eine fünf-
zählige Symmetrie aufweisen. Wir sehen sofort, dass die Fünfecke nicht zusammenpassen
und wir deshalb den Raum nicht vollständig mit diesen Elementen ausfüllen können.24 Wir
erhalten ein geordnetes Gebilde, das einer quasiperiodischen Anordnung von zwei verschie-
denen Strukturelementen entspricht. Wir nennen ein solches Gebilde einen Quasikristall.
In Quasikristallen sind die Atome bzw. Moleküle zwar scheinbar regelmäßig angeordnet,
eine nähere Betrachtung zeigt aber, dass in Wahrheit eine aperiodische Struktur vorliegt.
Experimentell entdeckt wurden die Quasikristalle im Jahr 1984 von Daniel Shechtman,25
dem dafür 2011 der Nobelpreis für Chemie verliehen wurde. Er fand bei der Kristallstruk-
turanalyse einer schnell abgekühlten Aluminium-Mangan-Legierung (14% Mangan) eine
ungewöhnliche Struktur, welche bei Elektronenbeugungsaufnahmen scharfe Bragg-Reflexe
zeigte und die Symmetrie eines Ikosaeders besaß. Dies ist für kristalline Substanzen sehr un-
gewöhnlich, da bei dieser Symmetrie keine Gitterverschiebungen möglich sind und damit
keine periodische Struktur, wie sie für die Definition eines Kristalls nötig ist, vorliegt. We-
sentlich zum Verständnis diesen Befunds trugen Paul Steinhardt und Dov Levine bei, die
für diesen neuen Phasentyp den Begriff Quasikristall prägten.26
Wir wollen uns zunächst die wesentlichen Unterschiede zwischen einem Kristall und einem
Quasikristall klar machen. Wir wissen, dass in einem normalen Kristall die Atome bzw. Ba-
siseinheiten in einer periodischen Struktur angeordnet sind. Diese wiederholt sich in jeder
der drei Raumrichtungen. Jede Gitterzelle ist von Zellen umgeben, die ein identisches Muster
bilden. In einem Quasikristall sind dagegen die Atome bzw. Basisteinheiten nur quasiperi-
odisch angeordnet. Lokal finden wir zwar eine regelmäßige Struktur, auf globalem Maßstab
ist die Struktur aber aperiodisch, das heißt, jede Zelle ist von einem jeweils anderen Muster
umgeben. Ein besonders bemerkenswerter Unterschied zwischen Kristallen und Quasikris-
24
siehe zum Beispiel Johannes Kepler in Harmonice Mundi (1619).
25
D. Shechtman, I. Blech, D. Gratias, J. Cahn, Metallic Phase with Long-Range Orientational Order
and No Translational Symmetry, Phys. Rev. Lett. 53, 1951–1953 (1984).
26
D. Levine, P. Steinhardt, Quasicrystals: A New Class of Ordered Structures, Phys. Rev. Lett. 53, 2477–
2480 (1984).
tallen ist, dass Letztere eine fünf-, acht-, zehn- oder zwölfzählige Symmetrie aufweisen. In
normalen Kristallen sind dagegen nur ein-, zwei-, drei-, vier-, und sechszählige Symmetrien
möglich. Das ergibt sich daraus, dass der Raum nur auf diese Art mit kongruenten Teilen ge-
füllt werden kann. Wir weisen auch darauf hin, dass Quasikristalle zwar keine periodischen
Strukturen besitzen, aber scharfe Beugungsreflexe zeigen. Es existiert ferner eine wichtige
Beziehung zwischen den Quasikristallen und der in Abb. 1.16 gezeigten Penrose-Parkettie-
rung, die Roger Penrose bereits vor der Entdeckung der Quasikristalle gefunden hatte. Wenn
wir einen Quasikristall geeignet durchschneiden, zeigt die Schnittfläche gerade das Muster
der Penrose-Parkettierung.
Um uns den Begriff quasiperiodisch verständlich zu machen, verwenden wir eine geome-
trische Betrachtung. Es ist evident, dass wir ein periodisches Muster von Atomen komplett
um einen bestimmten Abstand so verschieben können, dass jedes verschobene Atom wieder
genau die Stelle eines entsprechenden Atoms im Originalmuster einnimmt. In einem quasi-
periodischen Muster ist eine solche Parallelverschiebung des gesamten Musters nicht mög-
lich. Allerdings können wir jeden beliebigen Ausschnitt so verschieben, dass er deckungs-
gleich mit einem entsprechenden Ausschnitt ist (ggf. nach einer Rotation). Interessant ist,
dass wir jedes quasiperiodische Punktmuster aus einem periodischen Muster in einer höhe-
ren Raumdimension konstruieren können. Dies ist in Abb. 1.17 für einen eindimensionalen
Quasikristall veranschaulicht. Um ihn zu erzeugen, können wir mit einer periodischen An-
ordnung von Punkten in einem zweidimensionalen Raum beginnen. Der eindimensionale
Raum sei ein linearer Unterraum, der den zweidimensionalen Raum in einem bestimmten
Winkel durchdringt. Wenn wir jeden Punkt des zweidimensionalen Raumes, der sich in-
nerhalb eines bestimmten Abstandes zum eindimensionalen Unterraum befindet, auf den
Unterraum projizieren und der Winkel eine irrationale Zahl darstellt (zum Beispiel der Gol-
dene Schnitt), dann erhalten wir ein quasiperiodisches Muster.
Quasikristalle kommen vor allem in ternären Legierungssystemen vor, also solchen mit drei
Legierungselementen (meist mit Aluminium, Zink, Cadmium oder Titan als Hauptbestand-
teil). Zu den seltenen Zwei-Element-Systemen mit quasikristalliner Struktur zählen Cd5.7 Yb
und Cd5.7 Ca in ikosaedrischer Struktur und Ta1.6 Te in einer dodekaedrischen Struktur. Bis
heute ist nur ein natürlich vorkommendes quasikristallines Mineral, der Icosahedrit, be-
kannt. Es handelt sich um eine Aluminium-Kupfer-Eisen-Legierung mit der Zusammenset-
zung Al63 Cu24 Fe13 , die auf der Kamtschatka-Halbinsel in Russland gefunden wurde.
bcc fcc
27
Die Koordinationszahl gibt allgemein die Zahl der nächsten Nachbarn eines Atoms an, die alle den
gleichen Abstand haben.
60°
Kristallstruktur haben viele Metalle wie z. B. Aluminium, Blei, γ-Eisen, Gold, Silber, Kalzi-
um, Strontium, Cer, Iridium, Kupfer, Nickel, Palladium, Platin und Rhodium. Nach Kupfer
wird dieser Strukturtyp auch Kupferstruktur genannt.
109°28´
A
A B
A
(b)
C
B B
A
(c) A
a3
A a2 C
B
a1
(a) (d) A
Abb. 1.21: (a) Die hexagonal dichteste Kugelpackung: die primitive Zelle hat a 1 = a 2 mit einem einge-
schlossenen Winkel von 120○ . Die mittlere Ebene ist verschoben, so dass das zentrale Atom im Hexa-
gon die Position (2/3, 1/3, 1/2) besitzt. (b) und (c) zeigen die Stapelfolge ABAB. . . für die hexagonal
dichteste Kugelpackung und die Stapelfolge ABCABC. . ., die in einer kubisch flächenzentrierten Struk-
tur resultiert (links: Seitenansicht, rechts: Draufsicht). In (d) sind die Stapelebenen für die fcc-Struktur
veranschaulicht, sie verlaufen parallel zu den Flächendiagonalen.
Tabelle 1.5: Werte für das Element c/a Element c/a Element c/a
c/a-Verhältnis von Materia-
He 1.633 Zn 1.861 Zr 1.594
lien mit der hcp-Struktur.
Be 1.581 Cd 1.886 Gd 1.592
Mg 1.623 Co 1.622 Lu 1.596
Ti 1.586 Y 1.570 Tl 1.60
auf den Kanten, die von 4 benachbarten Zellen geteilt werden und ein Atom im Zentrum)
und 4 Cl-Ionen (8 Atome auf den Ecken, die mit 8 benachbarten Zellen geteilt werden, und
6 Atome auf den Seitenflächen, die mit 2 benachbarten Zellen geteilt werden). Tabelle 1.6
enthält die Gitterkonstanten einiger Materialien mit NaCl-Struktur.
Obwohl in der CsCl-Struktur das positive Ion von 8, in der NaCl-Struktur dagegen nur von
6 negativen Ionen umgeben ist, wird für die meisten ionischen Bindungen die NaCl-Struktur
beobachtet. Dies ist erstaunlich, da für die CsCl-Struktur, wie wir in Abschnitt 3.3 sehen
werden, die Coulomb-Bindungsenergie größer sein sollte. Die Ursache liegt darin begrün-
det, dass in den meisten Fällen der Radius des Kations wesentlich kleiner ist als derjenige
des Anions (z. B. r Na+ = 0.95 Å, r Cl− = 1.81 Å). Beim Cs-Ion ist das anders (r Cs+ = 1.69 Å).
Wenn das Kation kleiner wird, stoßen die Anionen in der CsCl-Struktur bei einem Verhält-
nis r + /r − = 0.732 der Ionenradien aneinander. Für noch kleinere Kationen kann die Git-
terkonstante nicht mehr kleiner werden und die Coulomb-Energie bliebe konstant. In die-
sem Fall wird dann die NaCl-Struktur günstiger, da hier ein Kontakt der Anionen erst bei
r + /r − = 0.414 auftritt (siehe hierzu auch Abb. 3.9 in Abschnitt 3.3).
Wir wollen an dieser Stelle auch darauf hinweisen, dass für ein kubisch raumzentriertes Git-
ter (bcc: body centered cubic) die Zahl der nächsten Nachbarn nur 8 beträgt (im Gegensatz
zu 12 für das hcp- und fcc-Gitter, siehe Abb. 1.21) und damit für eine ungerichtete Bindung
diese Struktur eigentlich ungünstig sein sollte. Nichtsdestotrotz kristallisieren alle Alkali-
metalle sowie Ba, V, Nb, Ta, Ta, W und Mo in dieser Struktur. Die Ursache dafür ist, dass in
der bcc-Struktur die 6 übernächsten Nachbarn nur geringfügig weiter entfernt sind als die
8 nächsten Nachbarn. Es hängt dann von der Ausdehnung und Natur der Elektronenwellen-
funktion ab, ob die bcc- oder die fcc- bzw. die hcp-Struktur stabiler ist.
(a) (b) 0 ½ 0
¾ ¼
½ ½
¼ ¾
0 ½ 0
(c)
Abb. 1.24: (a) Die Kristallstruktur von Diamant mit der tetraedrischen Anordnung der Bindungen. Die
beiden Kohlenstoffatome der Basis sind durch unterschiedliche Farben gekennzeichnet. Senkrecht zur
Raumdiagonalen liegen wellenförmige Schichten vor, wobei jede Schicht aus sesselförmigen Sechs-
ringen besteht. (b) zeigt die Atompositionen in der Einheitszelle projiziert auf die Grundfläche des
Würfels. (c) zeigt das Bild eines Rohdiamanten (Foto: Katharina Surhoff).
Abb. 1.24b). Das Diamantgitter hat eine Raumausfüllung von nur etwa 34%, die wesentlich
kleiner ist als die einer dicht gepackten Struktur (fcc oder hcp). Kohlenstoff, Germanium, Si-
lizium und die graue Zinn-Modifikation kristallisieren in der Diamantstruktur. In Tabelle 1.8
sind die Gitterkonstanten einiger Materialien mit Diamantstruktur angegeben.
Die konventionelle Zelle der Diamantstruktur besitzt 8 Kohlenstoffatome. Jedes Kohlenstoff-
atom hat 4 Kohlenstoffatome als nächste (Koordinationszahl 4) und 12 Atome als übernächs-
te Nachbarn.
(a) (b)
Ein wichtiger Unterschied zwischen der Diamant- und der Zinkblendestruktur ist die Tatsa-
che, dass erstere eine Inversionssymmetrie bezüglich des Würfelmittelpunkts besitzt, wäh-
rend letztere dies aufgrund der unterschiedlichen Atome der Basis nicht tut. Wie bei der
Diamantstruktur liegen bei der Zinkblende-Struktur senkrecht zur Raumdiagonalen wel-
lenförmige Schichten vor, wobei jede Schicht aus sesselförmigen Sechserringen besteht, die
abwechselnd drei Zn und drei S Atome enthalten (vergleiche hierzu Abb. 1.24).
Während bei der Zinkblende-Struktur die Schichten einer Atomsorte entlang der [111]-Rich-
tung eine ABCABC . . . Stapelung besitzen, hat die sehr ähnliche Wurtzit-Struktur eine
ABAB . . . Stapelfolge. Wurtzit kristallisiert im hexagonalen Kristallsystem in der Raum-
gruppe P63 mc und hat zwei Formeleinheiten pro Elementarzelle (siehe Abb. 1.26). Der
Aufbau der Kristallstruktur lässt sich von der des Lonsdaleit, dem hexagonalen Diamant,
ableiten. Dies steht in Analogie zur Struktur des Sphalerit, die sich vom normalen kubischen
Diamant ableiten lässt. Wurzit, auch als β-Zinksulfid (β-ZnS) bezeichnet, besteht aus einer
hexagonal dichtesten Kugelpackung aus Schwefelatomen, deren Tetraederlücken zur Hälfte
mit Zinkatomen besetzt sind. Da es in einer dichtesten Kugelpackung doppelt so viele
(a) (b)
Tetraederlücken wie Packungsteilchen (in diesem Fall Schwefel) gibt und nur jede zweite
Lücke mit Zink besetzt ist, ergibt sich ein Schwefel-Zink-Verhältnis von 1:1 und damit die
chemische Formel ZnS. Beide Atomsorten haben jeweils eine Koordinationszahl von 4, als
Koordinationspolyeder ergibt sich in beiden Fällen ein unverzerrtes Tetraeder.
Die Wurtzitstruktur zählt zu den wichtigsten Kristallstrukturtypen. Zahlreiche, auch tech-
nisch wichtige Verbindungen, kristallisieren isotyp zu Wurtzit, darunter Zinkoxid (ZnO),
Cadmiumsulfid (CdS), Cadmiumselenid (CdSe), Galliumnitrid (GaN) und Silberiodid
(AgI).
(a) (b)
Abb. 1.27: Hexagonale Kristallstruktur des Graphit in Seitenansicht (a) und Draufsicht (b). Die
rot markierten Kohlenstoffatome haben kein Nachbaratom in der darunter- und darüberliegenden
Schicht. Der Atomabstand innerhalb der Ebenen beträgt 1.42 Å, der Abstand der Ebenen aufgrund
der wesentlich schwächeren Bindung dagegen 3.35 Å.
Basalebenen ist sehr gering, während sie einer fast metallischen Leitfähigkeit entlang der
Ebenen entspricht.
Sehr interessante Eigenschaften zeigen isolierte, zweidimensionale Kohlenstoffschichten, die
als Graphen bezeichnet werden. Alle Kohlenstoffatome sind hier sp2 -hybridisiert (verglei-
che Abschnitt 3.4.3), so dass jedes Kohlenstoffatom drei gleichwertige σ-Bindungen zu be-
nachbarten C-Atomen ausbilden kann. In Graphen ist deshalb jedes Kohlenstoffatom von
drei weiteren umgeben, woraus die auch aus den Schichten des Graphits bekannte Waben-
Struktur resultiert. Die Kohlenstoff-Kohlenstoff-Bindungslängen sind alle gleich und betra-
gen 1.42 Å. Die dritten, nicht hybridisierten 2p-Orbitale stehen wie auch im Graphit senk-
recht zur Graphenebene und bilden ein delokalisiertes π-Bindungssystem aus. Am Rand des
Wabengitters müssen andere Atomgruppen angedockt sein, die aber – je nach dessen Größe
– die Eigenschaften des Graphens kaum beeinträchtigen.
Wie oben bereits diskutiert besteht Graphen aus zwei äquivalenten Untergittern A und B, die
um die Bindungslänge a B gegeneinander verschoben sind (vergleiche Abb. 1.1). Die zwei-
atomige Einheitszelle wird durch zwei primitive Gittervektoren a 1 und a 2 aufgespannt, die
jeweils auf den übernächsten Nachbarn zeigen. Die Länge der Vektoren und damit die Git-
terkonstante a lässt sich berechnen zu
√
a = 3 a B = 2.64 Å . (1.2.1)
In der Theorie wurden einlagige Kohlenstoffschichten zum ersten Mal verwendet, um den
Aufbau und die elektronischen Eigenschaften komplexer aus Kohlenstoff bestehender Mate-
rialien beschreiben zu können. In der Praxis wurden solche strikt zweidimensionalen Struk-
turen allerdings nicht für möglich gehalten, da sie als thermodynamisch instabil galten.28 , 29
Um so erstaunlicher war, dass Konstantin Novoselov und Andre Geim im Jahr 2004 die Prä-
paration von freien Graphenschichten bekannt gaben.30 Deren unerwartete Stabilität könn-
te durch die Existenz metastabiler Zustände oder durch Faltenbildung des Graphens erklärt
werden. Im Jahr 2010 wurden Geim und Novoselov „für ihre grundlegenden Experimente mit
dem zweidimensionalen Material Graphen“ mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet.
Wir können uns leicht vorstellen, dass sich durch Stapeln solcher einlagigen Graphen-
Schichten die dreidimensionale Struktur des Graphits erzeugen lässt. Stellen wir uns
dagegen die einlagigen Schichten aufgerollt vor, so erhalten wir gestreckte Kohlenstoffnano-
röhren. Wir können in Gedanken auch einige der Sechserringe durch Fünferringe ersetzen,
wodurch sich die ebene Fläche zu einer Kugelfläche wölbt und sich bei bestimmten Zahlen-
verhältnissen Fullerene ergeben: Ersetzen wir zum Beispiel 12 von 32 Ringen, entsteht das
kleinste Fulleren C60 .
28
L. D. Landau, Zur Theorie der Phasenumwandlungen II, Phys. Z. Sowjetunion 11, 11 (1937).
29
R. E. Peierls, Quelques propriétés typiques des corpses solides, Ann. I. H. Poincaré 5, 177–222 (1935).
30
K. S. Novoselov, A. K. Geim, S. V. Morozov, D. Jiang, Y. Zhang, S. V. Dubonos, I. V. Grigorieva,
A. A. Firsov, Electric Field Effect in Atomically Thin Carbon Films, Science 306, 666–669 (2004).
1.3 Festkörperoberflächen
An Oberflächen von Kristallen kann die Anordnung der Atome und der Abstand der Ato-
me von den Werten innerhalb des Kristalls abweichen. Dies ist evident, da die anziehen-
den Wechselwirkungskräfte, die an der Oberfläche nur ins Innere des Festkörpers gerichtet
sind, nicht von entgegengesetzt gerichteten Kräften kompensiert werden. Wir erwarten des-
halb einen geringeren Abstand der obersten Atomlage. Bei Metallen kann es aber auch zu
einer Vergrößerung des Netzebenenabstands kommen. Man spricht von einer Oberflächen-
relaxation.
a1
c1´
a2
c2´
c1 c2
Abb. 1.28: Zur Oberflächenrekonstruktion: Die roten Atome bilden das zweidimensionale Kristallgit-
ter des ungestörten Kristalls mit Gittervektoren a1 und a2 . Dieses kann als „Substrat“ für die blauen
Atome betrachtet werden, die auf √dieses
√ Gitter aufgebracht werden. Letztere bilden das Oberflächen-
gitter. Das Oberflächengitter p ( 2 × 2) R45○ mit Gittervektoren c1 und c2 ist um 45○ gedreht, das
Oberflächengitter c (2 × 2) ist ein zentriertes Gitter.
der Zelle zu den Eckpunkten äquivalent ist. Der Buchstabe p für eine primitive Elementarzel-
le kann auch weggelassen werden und wird normalerweise nur dann verwendet, wenn es ei-
ne zentrierte Zelle gleicher Größe gäbe. Beispiele sind in Abb. 1.28 gezeigt. Mit der Notation
nach Wood können nicht alle Überstrukturzellen dargestellt werden. Wenn die Überstruk-
turzelle nicht so gewählt werden kann, dass der Winkel zwischen ihren Basisvektoren und
denen des Grundgitters gleich ist, muss eine Matrixschreibweise verwendet werden (nach
P. L. Parks und H. H. Madden).
Um die Klassifizierung des Oberflächengitters noch präziser zu machen, gibt man noch die
Zusammensetzung und die Millerschen Indizes der Kristalloberfläche an, die als Substrat
dient, sowie die Art der Oberflächenatome, die√auf √
diese Oberfläche aufgebracht werden.
Zum Beispiel besagt die Bezeichnung Si(100) ( 2 × 2) R45○ -Ag, dass bei der Adsorption
von Ag-Atomen auf einer Si(100)-Oberfläche das Oberflächengitter
√ der Ag-Atome um 45○
gedreht ist und die Gitterkonstante um den Faktor 2 vergrößert ist.
Defekte können natürlich auch wieder ausgeheilt werden. Dies kann zum Beispiel durch
einen Temperprozess der Probe bei hoher Temperatur knapp unterhalb der Schmelztempe-
ratur geschehen. Manche Defekte können auch durch Druck oder Zug ausgeheilt werden.
Mit zunehmender Anzahl der strukturellen Defekte erhalten wir einen fließenden Übergang
zwischen einem perfekten Einkristall und einem amorphen Festkörper. Bei einem perfek-
ten Einkristall ist der mittlere Abstand L zwischen zwei Defekten unendlich groß. Bei einem
realen Kristall ist der Abstand endlich aber immer noch groß gegen die Gitterkonstante a.
Zum Beispiel ist bei einem Polykristall L durch die Kristallitgröße gegeben. Wird die De-
fektdichte so groß, dass der mittlere Abstand der Defekte in den Bereich der Gitterkonstante
kommt, so erhalten wir einen amorphen Festkörper.
Punktdefekte
Bei Punktdefekten unterscheiden wir zwischen Leerstellen (fehlende Atome auf regulären
Gitterplätzen) und Zwischengitteratomen (zusätzliche Atome auf Zwischengitterplätzen).
Bei mehratomigen Substanzen müssen wir dabei noch zwischen den einzelnen Untergit-
tern unterscheiden (siehe Abb. 1.29). Bei AB-Verbindungen, z. B. NaCl, KCl, AgCl, MnO
oder GaAs treten häufig Kombinationen von Punktdefekten auf. Die Kombination von zwei
Leerstellen auf dem A- und B-Platz bezeichnet man als Schottky-Defekt,31 die Kombination
einer Leerstelle auf dem A-Platz mit einem A-Atom auf einem Zwischengitterplatz bezeich-
net man als Frenkel-Defekt.32 Diese Kombinationen treten insbesondere bei Ionenkristallen
wie NaCl auf, um die Ladungsneutralität zu gewährleisten.
Leerstellen sind bei einer endlichen Temperatur immer in bestimmter Dichte in einem Kris-
tall vorhanden. Ihre Konzentration lässt sich mit Hilfe einer thermodynamischen Betrach-
tung ermitteln, wenn wir davon ausgehen, dass im thermodynamischen Gleichgewicht bei
31
Walter Schottky, geboren 1886 in Zürich, gestorben 1976 in Pretzfeld.
32
Jakow Iljitsch Frenkel, geboren 1894 in Rostow, gestorben 1952 in St. Petersburg.
- + - + -
+ - + - +
- + - + -
+ - + - +
- + - + -
Abb. 1.30: Struktur eines F-Zentrums.
denen mehrere Leerstellen oder Ionen beteiligt sind. Auf diese wollen wir hier aber nicht
eingehen.
Der in Abb. 1.31 gezeigte Zusammenhang zwischen der Photonenenergie E max bzw. der Wel-
lenlänge λ max des Maximums der Absorptionsbande und dem Abstand R NN zwischen den
nächsten Nachbarn macht klar, dass die Größe der beteiligten Ionen und damit die Gitter-
konstante des Ionenkristalls eine wichtige Rolle spielt. Man beobachtet λ max = αR NN2
mit
12 −1
λ = 6 × 10 m für Alkalihalogenide mit NaCl-Struktur. Diesen Zusammenhang erhalten
wir, wenn wir annehmen, dass sich das Elektron des Farbzentrums in einem Kastenpotenzial
mit Abmessung R NN bewegt. Aus der Quantenmechanik folgt nämlich, dass der Abstand der
2
Energieniveaus proportional zu 1/R NN und somit λ max ∝ R NN
2
ist. Kristalle mit Farbzentren
haben eine wichtige technische Bedeutung als aktive Medien in Infrarot-Lasern. In diesen
Farbzentrenlasern werden allerdings etwas komplizierter aufgebaute Farbzentren benutzt.
Omax (nm)
619 412 309
KI
RbBr RbCl
KBr KCl
3
NaBr
RNN (Å)
NaCl
KF LiCl
(a) (c)
b
A D
B C
(b)
D A
b
C
B
Abb. 1.32: (a) Stufenversetzung und (b) Schraubenversetzung. Der Burgers-Vektor b verläuft bei der
Stufenversetzung senkrecht und bei der Schraubenversetzung parallel zur Versetzungslinie CD. Die
grünen Linien geben einen mögliche Wege für einen Umlauf um den Versetzungskern mit gleich vielen
Schritte nach links und rechts bzw. oben und unten an. In (c) ist eine Korngrenze (45○ Korngrenze in
SiC projiziert in [110]-Richtung) gezeigt.
durch Platztausch von Atomen geschehen. Solche Defekte nennen wir Antistrukturatome
oder Anti-site Defekte (Atome der Sorte A auf dem Gitterplatz der Sorte B und umgekehrt
in einer zweiatomigen Verbindung AB, z. B. GaAs).
Substitionelle und interstitielle Fremdatome sowie Antistrukturatome können wir zu den
atomaren Defekten zählen. Ausgedehnte Defekte aufgrund chemischer Fehlordnung sind
z. B. Ausscheidungen und Fremdphasen.
Chemische Fehlordnung spielt in einigen Materialsystemen eine bedeutende Rolle. So wird
zum Beispiel die elektrische Leitfähigkeit von Halbleitermaterialien durch die Dotierung
mit einer geringen Konzentration von Fremdatomen um Größenordnungen geändert. Die
Dotieratome ersetzen dabei im Kristallgitter teilweise die Atome des Halbleitermaterials.
1
g (r1 , r2 ) = ⟨n(r1 ) n(r2 )⟩ (1.5.1)
n 02
charakterisieren. Nehmen wir der Einfachheit halber an, dass unser Festkörper nur aus ei-
ner Atomsorte aufgebaut ist, so gibt g(r1 , r2 ) die Wahrscheinlichkeit dafür an, dass sich am
Ort r2 ein Teilchen befindet, wenn am Ort r1 bereits ein Teilchen vorhanden ist. Die Wahr-
scheinlichkeit wird mit Hilfe der mittleren Teilchendichte n 0 für große Abstände auf den
Wert eins normiert.
Amorphe Festkörper sind vom makroskopischen Standpunkt aus gesehen im Allgemeinen
homogen und isotrop. Wir können deshalb annehmen, dass die Paarkorrelationsfunktion
nur vom Abstand r = r2 − r1 abhängt. Sie gibt dann die mittlere Teilchendichte n(r) an, die
wir im Mittel im Abstand r von einem gewählten Bezugsatom anfinden, d. h.
n(r)
g(r) = . (1.5.2)
n0
V'r
Volumen der Kugelschale
r+'r
Häufig wird zur Beschreibung der Verteilung von Atomen in einem amorphen Festkörper
auch die radiale Verteilungsfunktion ρ(r) verwendet. Hierzu betrachten wir eine Kugelscha-
le der Dicke Δr um ein beliebiges Atom (siehe Abb. 1.33). Das Volumen der Kugelschale ist
für Δr ≪ r
4
VΔr = π ((r + Δr)3 − r 3 ) ≃ 4πr 2 Δr . (1.5.3)
3
Die Zahl der Atome, die in dieser Kugelschale liegen, sei N Δr . Wir können damit die mittlere
Dichte der Atome im Abstand r angeben als
N Δr
n(r) = ⟨ lim ⟩. (1.5.4)
Δr→0 VΔr
Hierbei deutet ⟨⟩ den Mittelwert über alle Atome an. Mit dieser mittleren Dichte können wir
die radiale Verteilungsfunktion als
N Δr
ρ(r) = 4πr 2 n(r) = 4πr 2 ⟨ lim ⟩ = 4πr 2 n 0 g(r) . (1.5.5)
Δr→0 VΔr
definieren. Die radiale Verteilungsfunktion gibt die mittlere Zahl der Atome pro Längen-
einheit an. Um die Bedeutung dieser Verteilungsfunktion zu verstehen, betrachten wir zwei
Grenzfälle:
1. Kristalliner Festkörper:
Die Kugelschale enthält nur bei ganz bestimmten Abständen r = r j , die durch die Kris-
tallstruktur und die Gitterkonstanten vorgegeben sind, Atome. Die Größe n(r) bzw. g(r)
und damit ρ(r) wird bei diesen Werten unendlich groß, da die Zahl N Δr auch für VΔr → 0
endlich bleibt. Wir erhalten also eine δ-Funktion
⎧
⎪
⎪0 für r ≠ r j
ρ(r) = N(r)δ(r − r j ) = ⎨ . (1.5.6)
⎪
⎪∞ für r = r j
⎩
Integrieren wir die δ-Funktion, so erhalten wir gerade die Zahl N(r j ) der Atome im
Abstand r j . Haben wir keinen perfekten Kristall, so werden die Atompositionen etwas
schwanken, was zu einer Verbreiterung der Peaks in ρ(r) bei r = r j führt.
400 400
ρ (r)
ρ (1/nm)
ρ (1/nm)
ρZufall (r)
200 200
0 0
0.0 0.5 1.0 1.5 2.0 2.5 3.0 0.0 0.4 0.8 rc 1.2
r/a r (nm)
Abb. 1.34: Radiale Verteilungsfunktion bei einem einkristallinen (a) und einem amorphen Festkör-
per (b).
2. Amorpher Festkörper:
Für einen amorphen Festkörper ist n(r) = n 0 = const bzw. g(r) = 1. Damit erhalten wir
für die radiale Verteilungsfunktion
ρ(r) = 4πr 2 n 0 ≡ ρZufall . (1.5.7)
Dieses Ergebnis ist einsichtig, da wir in einem amorphen Körper eine völlig zufällige
Abstandsverteilung erwarten.
Experimentell wird dieses Verhalten aber nicht beobachtet. Man findet vielmehr, dass
die radiale Verteilungsfunktion für sehr kleine r < r c eher wie diejenige eines kristallinen
Festkörpers aussieht und erst bei größeren r in ρZufall übergeht:
⎧
⎪
⎪ρ Kristall für r < r c
ρ(r) = ⎨ . (1.5.8)
⎪
⎪ ρ für r > r c
⎩ Zufall
Dies ist einsichtig, da wir auch für einen amorphen Festkörper erwarten, dass um jedes
Atom herum eine gewisse Nahordnung mit einem gut definierten mittleren Atomab-
stand existiert. Es existiert allerdings keine Fernordnung, weshalb die Verteilungsfunk-
tion für große r > r c dann in ρZufall übergeht. Der charakteristische Radius r c liegt in der
Größenordnung des Atomabstandes (siehe hierzu Abb. 1.34).
1.5.2 Flüssigkristalle
Bisher haben wir nur Systeme betrachtet, die entweder kristallin oder amorph waren. Es gibt
aber auch Mischformen, also Strukturen, die hinsichtlich mancher Eigenschaften kristallin,
hinsichtlich anderer jedoch amorph sind. Beispiele sind Flüssigkristalle,34 die wir hier näher
diskutieren wollen, aber auch Flusslinien in Supraleitern.
34
Der österreichische Botaniker und Chemiker Friedrich Reinitzer (1857–1927) hat im Jahr 1888
an der Substanz Cholesterinbenzoat festgestellt, dass diese bei 145.5 ○ C schmilzt aber milchig trüb
bleibt. Erst bei einer Temperatur von 178.5 ○ C wurde die Probe klar. Beim Abkühlen wiederholte
sich der Vorgang in umgekehrter Reihenfolge. Zwischen 145.5 ○ C und 178.5 ○ C besaß die Probe
die viskosen Eigenschaften von Flüssigkeiten und zusätzlich die optischen bzw. lichtbrechenden
Eigenschaften von Kristallen. Aus diesem Grund musste die Verbindung im flüssigen Zustand ei-
ne gewisse Ordnung ausbilden. Da sie sowohl die Eigenschaften von Flüssigkeiten und Kristallen
besitzt, bezeichnete man sie als Flüssigkristall.
35
In smektischen Phasen liegen sowohl Richtungs- als auch Schwerpunktskorrelationen vor. Insge-
samt sind 12 smektische Phasen bekannt. In der smektischen A-Phase (SmA), sind die Moleküle
im Mittel senkrecht zur Schichtebene orientiert. In der smektischen C-Phase (SmC) dagegen bil-
den sie im Mittel einen von 90○ verschiedenen Winkel zur Schichtebene aus, man spricht von einer
getilteten Phase. Es existieren auch höher geordnete Phasen, in denen die Moleküle innerhalb der
Schicht eine Positionsfernordnung besitzen, z. B. SmI und SmF.
unpolarisiertes
Licht
Polarisator
Glasplatte
und Elektrode
polarisiertes
Licht
Flüssig-
Kristall
Glasplatte
und Elektrode
Polarisator
Spiegel
Spannung aus Spannung an
Elektrode Polarisator
Flüssigkristall Glasplatte
Abb. 1.36: Zur prinzi-
piellen Funktionsweise Spiegel
von LCD-Anzeigen.
ändert. Die Polarisationsebene des Lichts wird dann nicht gedreht, es kann den zweiten Po-
larisator nicht durchdringen und somit nicht reflektiert werden. In das Display zum Beispiel
eines Taschenrechners fällt das Tageslicht ein und wird je nach Stellung der Flüssigkristalle
entweder ungehindert durchgelassen oder eben nicht. Damit kann man einzelne Stellen auf
dem Display verdunkeln und so ein Bild vortäuschen.
Wir wollen diese Verfahren kurz vorstellen, bevor wir in Kapitel 2 auf die Strukturanalyse mit
Beugungsmethoden eingehen. Der Vorteil der direkten Abbildungsverfahren ist ohne Zwei-
fel die Tatsache, dass eine unmittelbare Strukturanalyse vorgenommen werden kann, ohne
dass erst über Rechenverfahren aus den Messergebnissen auf die Struktur zurückgerech-
net werden muss. Die direkten Messverfahren eignen sich auch sehr gut für die Abbildung
von Gitterdefekten (Realstruktur), während Beugungsmethoden hauptsächlich zur detail-
lierten Bestimmung der Gitterstruktur (Idealstrukltur) und der Gitterkonstanten geeignet
sind. Der Nachteil der direkten Verfahren ist deren Oberflächensensitivität (RSM) und das
geringe Probenvolumen (TEM), das bei der Messung erfasst wird.
1.6.1 Elektronenmikroskopie
Der typische Aufbau eines Transmissions-Elektronenmikroskops (TEM) ist in Abb. 1.37 ge-
zeigt. Mit einer Elektronenquelle (Kathode, z. B. Wolfram-Haarnadelquelle, LaB6 -Kathode
oder Feldemissionsquelle) werden freie Elektronen erzeugt, die auf eine Energie von typi-
scherweise einigen 100 keV beschleunigt werden. Mit Hilfe von Kondensorlinsen wird ei-
ne optimale „Elektronenbeleuchtung“ des zu untersuchenden Objekts realisiert. Im Objekt
werden die Elektronen von den Atomen des Kristallgitters gestreut. Atome mit hoher Kern-
ladungszahl streuen dabei die Elektronen stärker als solche mit niedriger Kernladungszahl.
In der Brennebene der Objektivlinse hinter dem Objekt werden die stark gestreuten Elek-
tronen durch Blenden absorbiert, so dass Atome mit hoher bzw. niedriger Kernladungszahl
dunkel bzw. hell erscheinen. Das zu untersuchende Objekt muss sehr dünn sein (typischer-
weise dünner als 100 nm), da die Elektronen sonst das Objekt nicht durchdringen können.
Das von weiteren Linsen vergrößerte Bild kann auf einem Leuchtschirm beobachtet werden
oder mit Hilfe einer CCD-Kamera oder Photoplatte registriert werden. Als Linsen werden
heute überwiegend Magnetlinsen verwendet. Die Brennweite dieser Linsen kann über den
Spulenstrom geregelt werden.
Isolator
Elektronenquelle
Kondensor
Objektivlinse
Probenebene
Probe
Projektions-
linsen Beobachter
La2/3Ba1/3MnO3
SrTiO3
Weise kann eine lokale Elementanalyse durchgeführt werden (EELS: Electron Energy Loss
Spectroscopy).
1.6.2 Rastersondentechniken
Die Rastersondentechniken haben seit ihrer Einführung in den 1980er Jahren eine stürmi-
sche Entwicklung erfahren. Die beiden wichtigsten Verfahren sind die
(a) (b)
I
Rück- STM
kopplung
V
piezo-
elektrisches
l k i h
Stellelement (c)
'x z
'z AFM
x
Si(111) 7 x 7 Oberfläche
Abb. 1.39: (a) Zur prinzipiellen Funktionsweise von Rastersondenmikroskopen. Rechts ist jeweils ein
STM- (b) und ein AFM-Bild (c) einer Si-Oberfläche im Ultrahochvakuum gezeigt. Einige ins Auge fal-
lende Besonderheiten sind: (i) die Atome sind deutlich als rotumrandete (künstlich eingefärbte) Krei-
se sichtbar und (ii) die Oberfläche hat keine Ähnlichkeit mit einer (111) Ebene des Diamantgitters.
Die Atome der Oberfläche (und die Lage darunter) haben sich rearrangiert, um ihre freien Bindun-
gen gegenseitig bestmöglichst abzusättigen. Die zweidimensionale Elementarzelle des Oberflächen-
gitters ist ziemlich kompliziert mit einer Gitterkonstante die 7 mal größer ist als die Gitterkonstante
des Si-Volumengitters. Man spricht deshalb auch von der 7×7 Struktur der (111) Oberfläche. Der 7×7
Oberflächenkristall enthält auch Defekte, insbesondere sind Leerstellen gut zu erkennen (Bilder: Omi-
cron GmbH).
für im Jahr 1986 den Nobelpreis für Physik erhielten.37 Beim Rasterkraftmikroskop ist die
Messgröße die zwischen Spitze und Probe wirkende Kraft. Verwendet man eine magnetische
Spitze, kann die magnetische Kraft zwischen Spitze und einer magnetischen Oberfläche ver-
wendet werden (MFM: Magnetic Force Microscopy).
Literatur
A. Bravais, Études Cristallographiques, Gauthier Villars, Paris (1866).
M. J. Buerger, Elementary Crystallography, John Wiley & Sons, New York (1963).
J. J. Burckhardt, Die Symmetrie der Kristalle, Birkhäuser Verlag, Basel (1988).
37
Gerd Karl Binnig (geboren am 20. Juli 1947 in Frankfurt am Main) und Heinrich Rohrer (geboren
am 6. Juni 1933 in Buchs, Kanton Sankt Gallen), erhielten im Jahr 1986 zusammen mit Ernst Au-
gust Friedrich Ruska (geboren am 25. Dezember 1906 in Heidelberg, gestorben am 27. Mai 1988 in
Berlin) den Nobelpreis für Physik. Ruska wurde für seine fundamentalen Beiträge zur Entwicklung
der Elektronenoptik ausgezeichnet, Binnig und Rohrer für die Konstruktion des Rastertunnelmi-
kroskops.
J. S. Fedorov, Symmetry of crystals, übersetzt aus dem Russischen von David und Katherine
Harker, New York, American Crystallographic Association, Monograph 7, (1971).
R. J. Haüy, Essai d’une théorie sur la structure des cristaux, Paris (1784); Traité de minéralogie,
Paris (1801)
J. Kepler in Harmonice Mundi (1619).
W. Kleber, H.-J. Bautsch, J. Bohm, D. Klimm, Einführung in die Kristallographie, Oldenbourg
Verlag, München (2010).
L. D. Landau, Zur Theorie der Phasenumwandlungen II, Phys. Z. Sowjetunion 11, 11 (1937).
D. Levine, P. Steinhardt, Quasicrystals: A New Class of Ordered Structures, Phys. Rev. Lett. 53,
2477–2480 (1984).
K. S. Novoselov, A. K. Geim, S. V. Morozov, D. Jiang, Y. Zhang, S. V. Dubonos, I. V. Grigo-
rieva, A. A. Firsov, Electric Field Effect in Atomically Thin Carbon Films, Science 306,
666–669 (2004).
R. E. Peierls, Quelques propriétés typiques des corpses solides, Ann. I. H. Poincaré 5, 177–222
(1935).
A. Schoenflies, Synthetisch-geometrische Untersuchungen über Flächen zweiten Grades und
eine aus ihnen abgeleitete Regelfläche, Dissertation, Friedrich-Wilhelms-Universität zu
Berlin (1877).
D. Shechtman, I. Blech, D. Gratias, J. Cahn, Metallic Phase with Long-Range Orientational
Order and No Translational Symmetry, Phys. Rev. Lett. 53, 1951–1953 (1984).
Übungsaufgaben
A1.1 Tetraederwinkel
Die Winkel zwischen den tetraedrischen Bindungen der Diamantstruktur sind dieselben wie die Win-
kel zwischen den Raumdiagonalen aneinandergrenzender Würfel. Bestimmen Sie mit Hilfe der ele-
mentaren Vektorrechnung die Größe dieses Winkels.
A1.4 Bravais-Gitter
Finden Sie für das abgebildete Honigwabengitter eine geeignete Basis und zeichnen Sie ein Bravais-
Gitter ein.
A1.5 Kupfer-Sauerstoff-Ebenen
Alle Hochtemperatur-Supraleiter besitzen in ihrer Kristallstruktur als zentrale Bausteine Kupfer-
Sauerstoff-Ebenen. Die schwarzen Atome in der Zeichnung (linkes Bild) sind die Kupferatome,
während die weißen die Sauerstoffatome darstellen. Der Gitterabstand der Kupferatome sei a. Der
Einfachheit halber betrachten wir das Problem nur im zweidimensionalen Fall.
a a
(a) Welche Rotationssymmetrie liegt vor? Skizzieren Sie das Bravais-Gitter, geben Sie ein Paar primi-
tiver Gittervektoren an und bestimmen Sie die Einheitszelle samt Basis.
(b) In La2 CuO4 sind die Kupfer-Sauerstoff-Ebenen nicht wirklich eben (rechtes Bild). Die Sauerstoff-
atome sind ein bisschen aus der Ebene nach oben (+) oder nach unten (−) versetzt. Geben Sie
wie in (a) die Rotationssymmetrie, die primitive Zelle und das Bravais-Gitter an. Kann man die
Gitterkonstante a beibehalten?
(a) Welches Punktgitter beschreibt die Translationssymmetrie des abgebildeten Kristalls vollständig?
Geben sie primitive Gittervektoren an.
(b) Geben Sie eine Basis für die Atome der Elementarzelle an.
(c) Der Kristall mache eine Gitterphasenumwandlung. Dabei werden die B-Atome im Zentrum be-
nachbarter Einheitszellen spiegelsymmetrisch längs der horizontalen Achse um ±δa zueinander
(oder eine Zelle weiter auseinander) verschoben wie in Abb. 1.40(b) gezeigt. Welche Symmetrie
hat das Gitter nun?
(d) Geben Sie die neuen primitiven Gitter- und die Basisvektoren an.
(a) (b)
(e) Zeichnen Sie das reziproke Gitter und die ersten zwei Brillouinzonen für den Kristall vor und nach
der Verzerrung.
(f) Wir nehmen nun an, dass die B-Atome in Phase (in jeder der ursprünglichen Zellen gleich)
um δa verschoben werden [Abbildung 1.40(c)]. Wie ändert sich die Translationssymmetrie
gegenüber (a)?
(g) Welche der beiden Verzerrungen (b) und (c) koppelt an ein externes elektrisches Feld?