Neumann - Kafkas Gleitendes Paradox

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Umkehrung und Ablenkung: Franz Kafkas

»Gleitendes Paradox«

Von GERHARD NEUMANN (Freiburg)

Ich kann schwimmen wie die andern, nur


habe ich ein besseres Gedachtnis als die
andern, ich habe das einstige Nicht-
schwimmen-konnen nicht vergessen. Da
ich es aber nicht vergessen habe, hilft mir
das Schwimmenkonnen nichts und ich
kann doch nicht schwimmen. (Ho 332)*)

EinigermaBen iiberraschend taucht in den Tagebiichern Franz Kafkas ein-


mal der Name Zenon auf. Er schreibt unter dem 17. Dezember 1910: »Zeno
sagte auf eine dringliche Frage hin, ob denn nichts ruhe: Ja, der fliegende
Pfeil ruht.« (Tgb 29) Woher Kafka Zenon und sein Bewegungsparadox
kannte, ist nicht zu belegen; seine HandbibIiothek gibt keinen Hinweis 1), die
Vortragsabende im Hause Fanta 2), bei denen soIche physikaIisch-philoso-
phischen Probleme zur Sprache gekommen sein mochten, besuchte er erst
spater. Jedenfalls hat in Kafkas Darstellung die antike Vberlieferung eine
seltsame Verwandlung durchgemacht.
*) Zitiert wird nach den folgenden Ausgaben und unter Verwendung der fol-
genden Abkiirzungen:
Franz Kafka: Amerika. - Frankfurt 1953 = A; ders.: Briefe 1902-1924. - Frank-
furt 1966 = Br; ders.: Beschreibung eines Kampfes. Novellen, Skizzen, Aphoris-
men aus dem NachlaJ3. - Frankfurt 1946 = BK; ders.: Erzahlungen. - Frankfurt
1946 = Erz; ders.: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa
aus dem Nachla13. - Frankfurt 1966 = Ho; ders. : Der ProzeJ3. - Frankfurt 1960 =
P; ders.: Das Schlo13. - Frankfurt 1946 = S; ders.: Tagebiicher 1910-1923. - Frank-
furt 1954 = Tgb.
Die 'Betrachtungen iiber Siinde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg' aus Ho
werden unter der Abkiirzung Betr. nach ihren Nummern zitiert.
1) Klaus Wagenbach: Franz Kafka. Eine Biographie seiner Jugend. - Bern
1958. S. 2pff. (= kiinftig zitiert als 'Wagenbach').
2) Wagenbach S. 174.
659 Umkehrung und Ablenkung: Franz Kafkas »Gleitendes Paradox« 659

Nach dem Zeugnis des Aristoteles hat Zenon die Wirklichkeit der Be-
wegung uberhaupt ge1eugnet 3) und beweisen wollen, »daB der fliegende
Pfeil ruht«4). Kafka kehrt diesen Sachverhalt um: Sein erster Satz scheint
Zenon als einen Verfechter des naVia eet zu postulieren, dem von einem
dringlich Fragenden schlieBlich das Zugestandnis abgerungen wird, daB
zumindest der »fliegende Pfeil ruht«. Freilich bedeutet diese Antwort keine
Li::isung oder Klarung. Kafkas Zenon bekennt sich nicht als geschlagen; er
widerruft seinen Grundsatz von der durchgehenden Bewegtheit alles
Seienden nicht durch die Behauptung vi::illiger Unbewegtheit, sondern
halt dem Fragenden ein Paradox entgegen: den zugleich fliegenden und
ruhenden Pfeil. Seine Antwort erscheint damit komplizierter als die Frage;
dieser Umstand ist bezeichnend fUr das Verhiiltnis von Frage und Antwort
bei Kafka; er se1bst hat es so dargestellt:

Ein Umschwung. Lauernd, angstlich, hoffend umschleicht die Antwort die Frage,
sucht verzweifelt in ihrem unzuganglichen Gesicht, folgt ihr auf den sinnlosesten,
das heiBt von der Antwort moglichst wegstrebenden Wegen. (Ho 47 f.)

Zu weiteren Einsichten fuhrt diese Tagebuchaufzeichnung uber Zenons


Bewegungsparadox vorerst nicht. Eines aber ist festzuhalten: Schon in die-
ser fruhen Notiz wird eine logische Eigenrumlichkeit Kafkas faBbar, die
sich spater zunehmend und in aller Konsequenz auspragt. Man ki::innte sie
das Denkgesetz der »Umkehrung« nennen. An einem bei Kafka haung er-
scheinenden Motiv, dem des Suchens und Findens, laBt sich dieses Verfahren
sehr genau und in allen Phasen verfolgen. Das Motiv taucht zunachst als
Tagebucheintrag auf; Kafka erinnert sich offenbar jener Stelle aus der Berg-
predigt, die Matthiius (7, 8) uberliefert und die der Sprachgebrauch inzwi-
schen in die Trivial-ldiomatik hat absinken lassen: »Wer sucht, der findet«;
in der kafkaschen Denkverwandlung lautet dieser Satz: »Wer sucht, findet
nicht, aber wer nicht sucht, wird gefunden.« (Ho 94)5) Konnte man das
3) Physik VI, 9. 239b 9ff.; Topik VIII 8. 160b 7ff.
') Physik VI, 9. 239 b 30ff.; vgl. auch 239 b 5ff. Dazu die Dbersetzung von
Wilhelm Capelle: Die Vorsokratiker. - Stuttgart 1963. S. 169ff. Zum Problem vgl.
Robert Heiss: Wesen und Formen der Dialektik. - Koln-Berlin 1959. Bes. S. 88
» ... muB der Pfeil, welcher eine Strecke durchfliegt, Zu jedem beliebigen Zeit-
punkt an einem bestimmten Ortspunkt s e i n. Wann aber bewegt er sich? Entweder
ist er an jedem dieser Punkte, und dann bewegt er sich nicht, oder aber er bewegt
sich, und dann ist er nicht an einem Punkte.« Merkwurdigerweise nennt Jorge
Luis Borges Zenon einen »Vorliiufer« Kafkas, neont aber die Tagebuchstelle (29)
nicht. In: Das Eine und die Vielen. Essays zur Literatur. - Munchen 1966. S. 215.
") Vgl. dazu die grundliche Arbeit von Hans-Gunter Pott: Die aphoristischen
Texte Franz Kafkas. Sti! und Gedankenwelt. - Freiburg, Phil. Diss. 1958. (Masch.)
Bes. S. 18 ff. Es ware durchaus moglich, hier augustinische, aber auch kalvinisti-
sche Vorstellungen zur Deutung heranzuziehen; im vorliegenden Zusammenhang
kommt es jedoch vor aHem auf das Denkverfahren an.

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659 Gerhard Neumann 68*

Zenon-Zitat auch in seiner Umkehrung noch als herkommliches Paradox 6),


als Vereinigung des Unvereinbaren, gelten lassen, so genugt dieser Begriff
hier nicht mehr ohne weiteres. Kafkas Verfahren erweist sich als komplizier-
ter: Suchen und Finden werden zwar zunachst noch in ein paradoxes Ver-
haltnis zueinander gesetzt; doch dieser ersten Stufe der Umkehrung folgt
mit dem »aber« eine nun adversative Schwenkung: Der Satz wird aufs neue
und in einer anderen Sichtrichtung erprobt; Kafka beginnt jetzt mit der
Negation (wer nicht sucht), lenkt aber wiederum ab und funktioniert das
konsekutive Verhaltnis in ein passivisches urn. Von einer logischen Stim-
migkeit im ublichen Sinne kann keine Rede mehr sein 7). Der Gedanken-
gang wird bald durch eine unvermittelte Negation gekappt, bald durch eine
adversative Schwenkung von seiner Bahn abgedrangt, bald einem uber-
raschend verkehrten Grundverhaltnis zugeordnet. Fur Kafka scheint der
unkomplizierte und fur die Erfahrung selbstverstandliche Bezug zwischen
6) Zum Begriff des Paradoxes vgl. vor allem: Robert Heiss: Der Mechanismus
der Paradoxien und das Gesetz der Paradoxienbildung. Philosophischer Anzeiger 2
(I927). S. 403-433; ders.: Logik des Widerspruchs. Eine Untersuchung zur Me-
thode der Philosophie und zur Gilltigkeit der formalen Logik. - Berlin-Leipzig
1932; Klaas Schilder: Zur Begriffsgeschichte des »Paradoxon«. Mit besonderer
Berilcksichtigung Calvins und des nach-kierkegaardschen Paradoxon. - Kampen
1933 (= Phil. Diss. Erlangen); Hugo Friedrich: Pascals Paradox. Das Sprachbild
einer Denkform. ZfrPh. 56 (I936). S. 322-370; ders.: Pascal. DVjs. 24 (I950).
S. 287ff. Robert Heiss: Wesen und Formen der Dialektik. - Koln-Berlin 1959; die
interessante Arbeit von Henning Schroer: Die Denkform der Paradoxalitat als
theologisches Problem. - Gottingen 1960. Robert Heiss: Die groBen Dialektiker
des 19. Jahrhunderts. Hegel Kierkegaard Marx. - Koln-Berlin 1963. Es ist nicht
moglich, die verschiedenen Formen paradoxen Denkens, soweit sie, von Zenon
bis Kierkegaard, auf Kafka gewirkt haben mogen, in diesem Zusammenhang dar-
zustellen. Entscheidend bleibt, daB von der Antike bis zu Kierkegaards »schlecht-
hinnigem Paradox« in den 'Philosophischen Brocken' (Dilsseldorf-Koln 196o,
S. 34ff.) das Paradox als scheinbar Widersinniges, als »ganz Unwahrscheinliches«
(a. a. O. S. 49), als eine der allgemeinen Meinung widersprechende Aussage be-
trachtet wird, die sich bei genauerem Nachdenken als entweder richtig, oder doch
filr einen bestimmten Zusammenhang (etwa die in sich widersprilchliche Tatsache
der Erbsilnde) als sinnvoll erweist. (Dazu Schilder, a. a. O. S. 5 ff., ilber Kierke-
gaard 91 ff.) Beispielhaft filr den erstgenannten Zusammenhang des »auflosbaren«
Paradoxes etwa Sebastian Francks Dbersetzung von »Paradox« mit »Wunderred«;
seine 'Paradoxa ducenta octoginta' werden im Titel definiert als »Wunderred vnd
gleichsam Raeterschafft ... so vor allem Heysch vngleublich vnd vnwar sind / doch
wider der gantzen Welt wohn vii achtung / gewif3 vnd waar.« Paradoxa. Hrsg.
Heinrich Ziegler. - Jena 1909. S. XXXIX.
7) Schon Fritz Schaufelberger spricht in seinem frilhen Aufsatz 'Kafkas Prosa-
fragmente', Trivium VII (I949). S. 1-I5, von einer »Durchbrechung des logischen
Gefilges in die Entschiedenheit des Unvereinbaren« (4), was freilich dann auf ein
einfaches »Gesetz des Widerspruchs« (4), eine »antithetische Dialektik« (I2) und
schlie13lich das Paradox als »Mitteilungsform des Unmittelbaren (1)« (q) zurilck-
gefilhrt wird.
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Suchen und Finden, wie ihn der biblische Spruch vordergriindig voraus-
setzt, nicht mehr gegeben zu sein; - daB auch im Matthaus-Text die Mog-
lichkeit einer Icelio difjieilior gegeben ist, bleibe auBer Betracht. Kafka miB-
traut den korrelativen Begriffen des Suchens und Findens, setzt sie in die
verschiedensten Beziige und Modi, arbeitet mit Umkehrungen der iiblichen
Denkverhaltnisse und Ablenkungen yom Trivialverstandnis, ohne sich an
gelaunge Denkregeln zu halten: Kafkas »Paradox« verkoppelt die »Umkeh-
rung«, die einer der Mechanismen des traditionellen Paradoxes ist 6), mit der
»Ablenkung«, die vorlaung als ein »Verfehlen« der trivialen Denkerwartung,
als ein Weggelocktwerden von ihr gekennzeichnet sei. Durch dieses Verfah-
ren werden die Begriffe dem »normalen«, schliissigen Denken entzogen,
ohne doch andererseits durch das platte Paradox, - als das inzwischen schon
traditionell gewordene Merkzeichen des Unbegreiflichen - neuerlich und
noch viel entschiedener verstellt zu werden. Kafkas »gleitendes Paradox«
schafft eine Zone des Denkens zwischen konventioneller Stimmigkeit und
jener besonderen Form von Alogik, die »paradox« heWt.
Es scheint freilich, als sei diese erste ZerreiBprobe, der Kafka das Be-
griffs-Gespann »Suchen - Finden« unterzog, nicht zur Zufriedenheit des
Autors ausgefallen. Er nimmt das Motiv von neuem auf. Nun lautet sein
Satz so: »Ein Kang ging einen Vogel suchen.« (Ho 41) Das bisher nicht zu-
langlich geklarte Verhaltnis von Suchen und Finden wird in ein Bild gefaBt.
Das suchende Element erscheint als Kang, das zu Findende in Gestalt eines
Vogels. Auch diesen Satz mochte man - zumindest auf den ersten Blick -
als ein »klassisches« Paradox ansehen 8). Man konnte meinen, Kafka habe in
diesem »Sprachbild einer Denkform«9) die Paradoxie des Daseins auszu-
driicken gesucht. Nun ist wie gesagt ein entscheidendes Merkmal des »klassi-
schen« Paradoxes die Umkehrung 10) eines nach formallogischen Gesichts-
punkten stimmigen Sachverhalts; wird die Umkehrung riickgangig ge-
macht, so lost sich das Paradox und macht nicht sehen einer Banalitat Platz.
Wenn Karl Kraus einmal schreibt: »Ich schnitze mir den Gegner nach mei-
nem Pfeil zurecht« 11), so lebt dieser Satz, der ebensoviel iiber Kraus selbst
aussagt wie iiber seine Opfer, nur aus der Umkehrung; die Riickiiberset-

8) So etwa Pott, a. a. O. S. 6 f., S. 70 u. 6. Zum Problem des Paradoxes bei Kafka


vgl. Wilhelm Emrich: Franz Kafka. - Bonn 1965. Vor allem S. 100ff. u. 6. Ent-
scheidend fiir die vorliegende Darstellung die Anregung von Heinz Politzer: Franz
Kafka der Kiinstler. - Frankfurt 1965. S. 44. (Die engl. Fassung des Buches tragt
den Titel 'Franz Kafka. Parable and Paradox'.)
9) Untertitel des Aufsatzes von Hugo Friedrich in der ZfrPh. a.a.O.
10) Heiss: Wesen und Formen ... a.a.O. S. 103. Heiss unterscheidet drei for-
male Elemente: Kontrastierung, Umkehrung, »Ergebnis«.
11) Karl Kraus: Beim Wort genommen. Werke von Karl Kraus. - Miinchen 1955.
Bd. 3. S. 166.
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zung macht ihn stumpf, glanzlos, banal 12). Versucht man eine entsprechende
Ruck-Umkehrung ins »Stimmige« bei dem kafkaschen Satz, so miBlingt sie:
»Ein Vogel ging einen Kafig suchen.« Die »Richtigstellung« ist nicht ein-
leuchtender als die »verkehrte« Form des Satzes. Kafkas Paradoxa leben
nicht aus einer Verkehrung des Normalen, sie basieren selbst schon auf
einem Widerspruch. Sie lenken nicht auf eine Synthese des Widerspriich-
lichen hin, wie das traditionelle Paradox, sondern von jeder erwarteten
Stimmigkeit ab; jede Auflosung ist bloB eine Reduktion auf neuerlich und
viel urspriinglicher Unbegreifliches. Dadurch wird jedoch die Beziehung
zwischen Vogel und Kafig, zwischen Suchen und Finden nicht aufgehoben;
sie bleibt bloB unbestimmt, ist weder auf einen glatt en Widerspruch, noch
auf vorschnelle Harmonisierung und Ausgleichung festzulegen. Kafkas
»Umkehrung« ist also nicht die des »klassischen« Paradoxes; sie erscheint
vielmehr stets verbunden mit einer »Ablenkung« von konventionellen
Denkbahnen und erzielt dabei zwei entscheidende Wirkungen: Einerseits
treten dutch sie zwei Pole - im vorliegenden Beispiel Suchen und Finden,
Vogel und Kafig - in einen ebenso entschiedenen wie befremdlichen Bezug;
und gerade auf diesen Bezug scheint es Kafka anzukommen. Andererseits
laBt sich dieser Bezug aufkeine der iiblichen Denkverkniipfungen reduzieren.
GewiB lieBe sich das Bild des Kafigs, der den Vogel sucht, und das des
Vogels, der den Kafig sucht, als das Verhaltnis von Freiheit und Unfreiheit,
von »Geworfenheit« und »Geborgenheit«, von Leben und Dingwelt be-
stimmen; das ist auch versucht worden, hat aber fUr die vorliegende Frage-
stellung keine entscheidenden Einsichten gebracht; denn iiber das ratsel-
hafte Verhaltnis selbst, um das es hier geht und das mit keiner der iiblichen
Kategorien des Denkens zu fassen ist - laBt es sich als positiv oder negativ
fixieren, als kausal oder interdependent, als notwendig oder zufii.llig? -,
sagen diese begrifflichen Fixierungen wenig aus. Selbst jene logische Be-
stimmung, daB es sich hier eben um einen »Widerspruch« handle und man
diesen als solchen zu akzeptieren habe, miiBte daran scheitern, daB die Art
dieses Widerspruchs gerade nicht bestimmbar ist. Das ihm zugrunde liegende
Stimmige, aus dem der Widerspruch durch Umkehrung hervorgegangen
sein miiBte, laBt sich nicht ermitteln; die Unstimmigkeit ist keine des ein-
fach Unvereinbaren und Gegensatzlichen. Kafka hat mit Erfolg von diesem
Gegensatz »abgelenkt«.
Bedeutsamer erscheint dagegen der zwischen Lakonismus und Marchen-
sprache 13) schwebende Tonfall des Satzes; er zeugt von der Selbstverstand-

12) Vgl. dazu auch Kraus: »Eine Antithese sieht bloB wie eine mechanische Um-
drehung aus. Aber welch ein Inhalt von Erleben, Erleiden, Erkennen mufi erwor-
ben sein, bis man ein Wort umdrehen darf!« Ca. a. o. S. 164) Dabei ist freilich zu
bedenken, daB nicht jede Antithese ein Paradox darstellt.
13) Hier ware an 'Jorinde und Joringel' zu denken; Kafka kannte und liebte
659 Umkehrung und Ablenkung: Franz Kafkas »Gleitendes Paradox« 659

lichkeit und inneren Konsequenz, mit der hier das scheinbar inkonsequente
gedacht wird. Er tauscht aber auch uber jene personliche Betroffenheit hio-
weg, die sich hinter der Chiffre des »Vogels« verbirgt: Die Forschung hat sie
als eine Hieroglyphe des kafkaschen »Ich« erwiesen 14). Unvermerkt wird hier
- und dadurch unterscheidet sich dieser Satz von dem zuerst untersuchten -
ein Ich-Element eingefuhrt. Es scheint, als habe dieses »Ich«15) etwas mit
dem Bezug zu tun, der in dem Satz yom Vogel und dem Kafig beschrieben
werden solI, es scheint, als ergaben sich nur darum solche dem trivialen
Verstehen unaufloslichen Verwicklungen, weil dieser Vogel kein »gewohn-
Hcher« Vogel, sondern ein - wenn auch kryptisches - »Ich« ist.
Uber eine solche Andeutung fuhrt freilich auch dieser Text nicht hinaus;
ein dritter, urn die gleiche Zeit entstandener, greift das Motiv des Suchens
und Findens von neuem auf:
Er wehrt sich gegen die Fixierung durch den Mitmenschen. Der Mensch sieht,
selbst wenn er unfehlbar ware, im anderen nur jenen Teil, fiir den seine Blickkraft
und Blickart reicht. Er hat, wie jeder, aber in auBerster Dbertreibung, die Sucht,
sich so einzuschranken, wie ihn der Blick des Mitmenschen zu sehen die Kraft hat.
Hatte Robinson den hochsten oder rich tiger den sichtbarsten Punkt der lnsel nie-
mals verlassen, aus Trost oder Demut oder Furcht oder Unkenntnis oder Sehn-
sucht, so ware er bald zugrunde gegangen; da er aber ohne Riicksicht auf die
Schiffe und ihre schwachen Fernrohre seine ganze lnsel zu erforschen und ihrer
sich zu freuen begann, erhielt er sich am Leben und wurde in einer allerdings dem
Verstand notwendigen Konsequenz schlieBlich doch gefunden. (BK 297; vgl.
Br 300, 310)
Dieses Stuck ist insofern besonders kompliziert, als sich in ihm mehrere
Grundmotive kafkaschen Dichtens miteinander verschranken; fur den vor-
liegenden Zusammenhang ist das des Suchens und Findens aus diesem Ge-
Hecht herauszu16sen. Die »Betrachtung« ist deutlich zweigeteilt. Dem in
moralistischer Tradition stehenden Einsatz 16), der ein Beziehungsphano-
men zwischen Ich und Mitmensch zu »beschreiben«17) sucht, folgt ein Bei-
spiel, das freilich nicht ohne weiteres im Zusammenhang mit der voran-

Marchen (vgl. Gustav Janouch: Gesprache mit Kafka. Aufzeichnungen und Er-
innerungen. - Frankfurt 1951. S. 55). (= kiinftig zit. als 'Janouch'.)
14) Vgl. dazu Emrich a.a. o. S. 21: Gracchus - gracchia - Dohle - kavka -
Raban. Ferner Janouch a.a.O. S. 18. Tgb 297; analog dazu das Eichhornchen im
Kafig (Ho 71).
15) Emrich nennt dieses »Ich« nicht unberechtigt das »Selbst« (a.a.O. S.92f.,
I I 5 ff.); es geht nicht urn Kafkas biographisches lch, sondern die Kategorie des
»Selbst«, wie sie in Kafkas Texten eine besondere Rolle spielt.
16) Die Er-Chiffre, hinter der sich ein lch-Bezug verbirgt, findet sich schon bei
Lichtenberg; die Ansiedlung im »Grenzland zwischen Einsamkeit und Gemein-
schaft« (Tgb 548), das Aufspiiren der Beziehungen zwischen Gesellschaft und lch
ist ein Grundthema der moralistischen Dberlieferung von La Rochefoucauld bis
Valt~ry.
17) V gl. zu diesem Begriff Wagenbach a. a. O. S. 53 f.
708 Gerhard Neumann 72.*

gehenden Oberlegung steht. Zur Erlauterung eines sozialen Phanomens, der


Beziehung zwischen Mensch und Mitmensch, erscheint die Ursituation der
Einsamkeit, die Robinsonade, zunachst denkbar ungeeignet; erst aus der
kafkaschen Denkeigentumlichkeit der »Umkehrung« wird diese Verknup-
fung legitimiert; Kafka vermag das Problem der »Beziehung« nicht anders
zu entwickeln als aus einer Situation volliger Einsamkeit. Das Beispiel ist
somit nicht in erster Linie bloB Illustration des Vorhergegangenen; es ist
vielmehr Umdeutung der sozialen Konstellation in eine extreme Ich-Situa-
tion: »Betrachtung« und »Beispiel« widersprechen einander somit zwar
nicht, aber sie kommen auch nicht vollig zur Deckung. Sie weichen unmerk-
lich voneinander abo Das Beispiel wird zur »Probe aufs Exempel« und hat
die fur Kafkas Verfahren so kennzeichnende und von der Forschung zu-
langlich beschriebene Schwenk- und Kippstruktur von Konditionalsatz
und folgender Korrektur (hatte ... da er aber ... ), die sich in dem Prosa-
stuck 'Auf der Galerie' exemplarisch verwirklicht. Der Begriff der »Fixie-
rung«18), mit dem der erste Teil des Textes umgeht, wird im zweiten
in eine uberraschende Bildkonstellation zerlegt. Sie besagt: Wollte Robin-
son seine - durch Trostbedurfnis, Demut, Furcht, Unkenntnis, Sehn-
sucht motivierte 19) - Beziehung zu den Mitmenschen aufrechterhalten, so
wiirde er zugrunde gehen; der Abbruch dieser Beziehung muBte zu seiner
Auffindung fuhren: »Wer nicht sucht, wird gefunden«. Wiederum scheint ein
Paradox am Ende des kafkaschen Denkweges zu stehen, und Kafka mochte
dieses Verfahren sogar als eine »dem Verstand notwendige Konsequenz«
verstanden wissen. Freilich ergibt sich dabei eine Reihe von Fragen: 1st es -
trotz erster Verbluffung uber solches Argumentieren - nicht wirklich im tie-
feren Sinne konsequent, wenn der Gestrandete sich auf der Insel einzurichten
sucht, statt auf dem Beobachtungspunkt zu verharren und dort womoglich
zugrunde zu gehen? 1st, wenn er sich die Insel wohnlich macht, die Chance,
daB er gefunden wird, nicht ungleich groBer? Freilich, eine N otwendig-
keit, daB er gefunden wird, ist dennoch nicht gegeben; und gerade darauf
besteht Kafka. Will er also sagen, daB das Gefundenwerden nicht erzwun-
gen werden kann, daB es vielmehr als Geschenk - oder »Gnade«? - eines
Tages »gegeben« wird? Wie stimmt aber dies wiederum mit den schwachen
Fernrohren der Schiffe zusammen, die offensichtlich Robinson gar nicht er-
reichen konnen?
Es zeigt sich, daB der herkommliche Begriff des Paradoxes zur Bestim-
mung Kafkascher Texte nicht ausreicht. Zwar widerspricht etwa im vor-

18) Ingeborg Henel hat zuerst auf diesen wichtigen Begriff hingewiesen: Die
Ttirhtiterlegende und ihre Bedeutung ftir Kafkas 'ProzeB'. DVjs. 37 (1963). s. 50
bis 70.
19) Vgl. zum Problem der »Motivation« Betr. Nr. 86; ferner Emrich a.a.D.
S. 181 f.
73* Umkehrung und Ablenkung: Franz Kafkas »Gleitendes Paradox« 709

liegenden Robinson-Text das »Beispiel« der »Betrachtung« in einigen Punk-


ten, zwar ergeben sich unauflosbare Unstimmigkeiten, aber diese kristallisie-
ren nirgends zu einem starren Paradox; es handelt sich vielmehr um Abwei-
chungen vom Normalverstandnis, von der normalen Denk- und Bild-
erwartung, vom normalen logischen Ablauf; es erfolgen Schwenkungen,
aber diese verklammern sich nie zu krassem Widerspruch. Ein soIches Ver-
fahren laBt sich als das eines »gleitenden Paradoxes« bestimmen. Warum
dies Kafka als eine »dem Verstand notwendige Konsequenz« erscheint,
muB sich im Laufe der vorliegenden Erorterung herausstellen.
Wie steht es nun aber mit jener »Beziehung« zwischen dem Robinson-Ich
und seinen Mitmenschen, von der doch dieser Text handelt? Sie ist offen-
bar im iiblichen Sinne nicht ohne weiteres beschreibbar, das »Beispiel« von
Robinson hat ihr die Eindeutigkeit genommen. Sie ist nicht begrifflich be-
stimmbar, sondern nur der wiederholt en Erprobung zuganglich. Kafka
neont diesen Bezug »Fixierung«. »Ich stand niemals unter dem Druck einer
anderen Verantwortung als jener, weIche das Dasein, der Blick, das Urteil
anderer Menschen mir auferlegten.« (Ho 303) Eine soIche Wechselbeziehung
ist bei Kafka freilich nie stabil; das kafkasche Ich schwankt - wie Robinson
zwischen dem Ausschauhalten nach Schiffen und dem Sich-Einrichten auf
der Insel - zwischen Schwache und Selbstbehauptung; nur eine »Denk-
form« ist geeignet, sich dieser unablassig schwankenden Beziehung zu be-
machtigen: das »gleitende Paradox« mit seiner Verschrankung von Umkeh-
rung und Ablenkung. Die »Konsequenz« dieses Denkens kaon freilich nicht
mehr die des Satzes der Identitat, des Widerspruchs und des ausgeschlossenen
Dritten sein; die Eindeutigkeit des Begriffs, des Urteils und des Schlusses
ist, sobald sie auf das seiner Blickrichtung nach stabile 20), seinen beziehung-
stiftenden Versuchen nach auBerst labile Ich bezogen wird, nicht mehr ge-
wahrleistet. Die kafkasche »Konsequenz« des Denkens besteht im Gesetz des
»gleitenden Paradoxes«21). Nur in ihm, dem immer wieder nach zwei Seiten
abschweifenden Blick, der Ablenkung von aller starren, schematischen Be-
ziiglichkeit, laBt sich die stets schwankende Doppeltgerichtetheit einer sol-
chen Beziehung (»Fixierung«) weon nicht begrifflich fassen, so doch in
immer neuen Erwagungen und Vermutungen erproben.

20) Fiir den Zusammenhang der einsinnigen Erzahlperspektive vgl. Friedrich


Beissner: Der Erzahler Franz Kafka. - Stuttgart 1952.
21) Zum Problem soIcher »modifizierter« Umkehrung im »gleitenden Paradox«
vgl. Martin WaIsers Begriff der »Aufhebung«: Beschreibung einer Form. Ver-
such iiber Franz Kafka. - Miinchen 1963. 2. Auflage. (= Literatur als Kunst).
Bes. S. 84ff. Ferner die gute Arbeit von Heinz Hillmann: Franz Kafka. Dichtungs-
theorie und Dichtungsgestalt. - Bonn 1964. (= Bonner Arbeiten zur deutschen
Literatur Bd. 9). S. 126, 145, 152. SchlieBlich Max Bense: Die Theorie Kafkas.-
K6ln-Berlin 1952. S. 73. Er bezeichnet das genannte Phanomen etwas ungliick-
lich als »abgehackte Sprachendialektik«.
7 10 Gerhard Neumann 74*

Ein Paralipomenon zu der Reihe 'Er', das die Wechselbeziehung von


Suchen und Finden auf seine Weise variiert, zeigt das in aller Deutlichkeit:
»Er hat den archimedischen Punkt gefunden, hat ihn aber gegen sich aus-
geniitzt; offenbar hat er ihn nur unter dieser Bedingung finden diirfen.«
(Ho 418) Hier hat das Suchen scheinbar zu einem Erfolg gefiihrt: zur Auf-
findung jenes Punktes, von dem aus Archimedes - nach der Oberlieferung
des Pappus von Alexandria - mit einem Hebel die Welt zu bewegen dachte.
Dieser Erfolg - das »Finden« des archimedischen Punktes - wird jedoch so-
fort wieder in Frage gestellt. Der scheinbar erlangte Fixpunkt verwandelt
sich in den Drehpunkt des kafkaschen Denkens, die objektgerichtete Be-
wegung wird zur ichgerichteten verkehrt; nicht die Welt, sondern das Ich
springt aus den Angeln. Die Bedingung, unter der dieser Punkt sich finden
lieG, entwertet, ja vernichtet ihn im Augenblick seiner Entdeckung. Ein
archimedischer Punkt, der das Ich statt der Welt aus den Angeln hebt, fiihrt
die Definition seiner selbst ad absurdum. Damit wird aber zugleich deut-
lich, daG die Umkehrungen des kafkaschen Denkens keine stilistischen
Marotten sind, keine bloGen Stimulantia des Denkens, kein Paradoxienzwang
um jeden Preis - dem Karl Kraus zuweilen erliegt -, sondern das ver-
zweifelte Verfahren, durch Ablenkung von den herkommlichen schemati-
schen Denkgesetzen - die nicht niianciert genug sind, um so komplizierte
Prozesse einzufangen - zur Beschreibung jener »Fixierungen« vorzustoGen,
die sich zwischen Ich und Umwelt stets neu konstituieren und die darum so
kompliziert sind, weil das Ich nie bloG erkennend bleibt, sondern sich die-
sem ErkenntnisprozeG stets auch selbst unterwirft 22): Kafkas »Paradoxien«,
dem Verfahren standiger Umkehrung und Ablenkung unterworfen, sind
»gleitend«; sie kommen darum weder zur Erstarrung noch zum Ausgleich,
wei! sie aus dem Ich entwickelt werden und sich zugleich dem Ich als un-
losbare Aufgabe stell en. Sie lassen sich weder als rein selbstbezogen, noch
als rein objektbezogen determinieren. Nur in einem Herausgedrangtwerden
des Ich aus dem Selbst- und Weltwiderspruch sah Kafka eine kleine Chance:
» ••• es wiirde mir geniigen«, sagt er einmal, »knapp neben mir zu stehen,
es wiirde mir geniigen, den Platz, auf dem ich stehe, als einen andern erfas-
sen zu konnen.« (Tgb 561)
Mit dem Begriffspaar des Suchens und Findens, dessen verschlungenen
Wegen diese Darstellung nachzugehen suchte, verbindet sich eng - wenn
auch nicht konsequent im iiblichen Sinne - die Vorstellung des »Weges«
und des »Ziels«. Hans-Giinter Pott hat das Motiv des »Weges« iiberzeugend

22) In diesem merkwiirdigen Se1bstbezug hat Robert Heiss - wenn auch in etwas
anderem Sinne - den Ursprung der Paradoxien erkannt. Er zeigt dies an den »klas-
sischen« Paradoxa des Zenon vom fliegenden Pfeil, vom Liigner und von Achill
und der Schildkrote. Vgl. vor allem Logik des Widerspruchs, a.a.O. S. 87ff. Dazu
auch eine Briefstelle Kafkas (Br 386).
659 Umkehrung und Ablenkung: Franz Kafkas »Gleitendes Paradox« 7 11

verfolgt 23). 1m vorliegendenZusammenhang ist dagegen das des »Ziels« be-


sonders interessant: Offenbar ist »Ziel« hier das, was in jenem unbestimm-
baren Wechselbezug von Suchen und Finden, jenem gegenseitigen Um-
deuten und Relativieren, jenen Umkehrungen und Abweiehungen »er-
reicht« wird. GewiB ist, da schon Suchen und Finden sich nicht eigentlich
definieren lieBen, auch dieses »Ziel« in keinem Falle klar bezeiehnet. 1mmer-
hin scheint es - dem Bild des »Weges« entsprechend - so etwas wie topischen,
mithin raumlichen Charakter zu besitzen, der freilich seltsam unbestimmt
bleibt. Einige Beispiele mogen das belegen:
1m dritten Oktavheft etwa findet sieh das Bild von den Eisenbahnreisen-
den, die in einem Tunnel verungliickt sind (Ro 73); sie haben »in der Ver-
wirrung der Sinne oder in der Rochstempfindlichkeit der Sinne« die Orien-
tierung verloren. Das Licht des Tunnelanfangs wird nicht mehr gesehen,
das des Endes erscheint so winzig, »daB der Blick es immerfort suchen muB
und immerfort verliert, wobei Anfang und Ende nicht einmal sieher sind«.
(Ro 73) Suchen und Finden sind hier auf exemplarische Weise in jenes du-
biose Verhaltnis der Umkehrung und wechselseitigen Ablenkung gesetzt,
das sieh schon mehrfach hatte zeigen, wenn auch nicht definieren lassen.
Weiterfiihrend aber ist in diesem Beispiel der SchluBsatz des Textes: »Was
solI ieh tun? oder Wozu solI ieh es tun? sind keine Fragen dieser Ge-
genden.« (Ro 73) Mit dem Erloschen eines zweck- und zielgeriehteten Den-
kens, mit der Zerstorung a11er iiblicherweise denkbaren Beziehungen zwi-
schen »Suchen« und »Finden« durch das Verfahren des »gleitenden Para-
doxes« erschlieBt sich unvermittelt jenes »Ziel« des »Suchens« und »Findens«
als ein Raum, den Kafka zwar nicht beschreibt (er sprieht nur von »diesen
Gegenden«), wohl aber mit einer demonstrativen Gebarde »offnet«: »Diese
Gegenden« zeigen sieh nur den verwirrten oder 24) hochstempfindlichen
Sinnen. Noch deutlieher heiBt es in den Fragmenten: >>In welcher Gegend
ist es? Ich kenne sie nicht: Alles entsprieht dort einander, sanft geht a11es in-
einander iiber. Ich weiB, daB diese Gegend irgendwo ist, ich sehe sie so gar,
aber ieh weiB nicht, wo sie ist, undieh kann mich ihr nicht niihern.« (Ro 330)

23) A.a.O. S. 84ff. Einen merkwiirdigen AufschluG iiber das Problem des Su-
chens, des Findens und des Zie1s in der Literatur und in der exakten Wissenschaft
gibt der Beitrag von Friedrich Waismann: Suchen und Finden in der Mathematik.
Kursbuch 8 (1967) S. 74-92. Wenn der Literaturwissenschaftler der strengen Logik
vorwirft, sie verenge das Denken, die Sprache sei reicher und driicke differenzier-
tere Denkverhalte aus, als die Rege1n des exakten Denkens zulassen, so behauptet
demgegeniiber der Mathematiker und Philosoph Waismann, die Sprache ver-
neble die Struktur von Denkablaufen. (S. 92)
24) Kafka hat diese Konjunktion als den Drehpunkt bezeichnet, urn den »etwas«
wie »eine Waage« sich einpendle (Max Brod: Franz Kafka. Eine Biographie. -
Frankfurt 1954. S. 251; vgl. dazu Politzer a.a.O. S. 437ff.). Sie bezeichnet keine
Entscheidung, sondern vie1mehr ein Moment der Simultaneitat.
7 12 Gerhard Neumann 659

Nicht genauer defiruerbare Entsprechungen und gleitende Obergange sind


Merkmale »dieser Gegend«, ein gangbarer »Weg« aber fUhrt rucht dorthin.
Sie kann rucht durch »Suchen« »gefunden« werden. Urn so iiberraschender,
daB man sich zuweilen dennoch dorthin versetzt findet. So lautet eine Be-
trachtung: »An diesem Ort war ich noch ruemals: Anders geht der Atem,
blendender als die Sonne strahlt neben ihr ein Stern.« (Ho 41) Unvermittelt
befindet sich das Ich nun doch an dem lange gesuchten und nie gefundenen
»Ort« und unternimmt Bemiihungen, sich zu orientieren; Freilich gelingt
diese Orientierung nur in negativen Bestimmungen. Jede plane Topographie
versagt, die Ortsbestimmung erfolgt indirekt (anders geht der Atem) und
lebt aus der Umkehrung gelaufiger Erfahrungen (der Stern strahlt blenden-
der als die Sonne). Damit aber wird der Ort in einen »Un-Ort«, ein vages
Irgendwo verkehrt; das Demonstrativum (dieser Ort, diese Gegend) ver-
kehrt den topischen Charakter dieses »Ziels«, das sich im Wechselspiel von
Suchen und Finden und ihrer scheinbaren Aufhebung im »gleitenden Para-
dox« ergab, in einen utopischen, das Hier in ein Nicht-Hier und Anderswo.
Es ist bezeichnend, daB Kafka rue eindeutig bestimmt, ob es sich bei »die-
sen« Gegenden urn ein »Grenzland«26) oder ein Niemandsland handelt, ob
die »gezeigte« - das heiBt durch die Gebarde des Demonstrativpronomens
herausgehobene, aber absolut unanschauliche - Gegend positiv oder nega-
tiv (mit diesem Problem befaBt sich Abschnitt II dieser Arbeit ausfUhrlicher),
wirklich oder unwirklich, als Ausgangspunkt oder als Ziel, als bffnung ins
Freie oder als labyrinthischer Bau zu verstehen ist. Erreichen und Verfehlen
sind fUr Kafkas Denken keine schlussigen Kategorien. Es tastet sich zwi-
schen den alternativen Moglichkeiten hindurch; es gehorcht jener eigenen
Gesetzlichkeit, fur die sich die Bezeichnung »gleitendes Paradox« anbietet.
Die Entwicklung des »gleitenden Paradoxes« aus dem Denken in starren
Antithesen demonstriert - wiederum anhand des »utopischen« Motivs »die-
ser Gegenden« - der folgende Dialog aus den Paralipomena zu der Reihe 'Er' :
»Am Sich-Erheben hindert ihn eine gewisse Schwere, ein Gefiihl des Gesichert-
seins fiir jeden Fall, die Ahnung eines Lagers, das ihm bereitet ist und nur ihm ge-
hort; am Stilliegen aber hindert ihn eine Unruhe, die ihn vom Lager jagt, es hindert
ihn das Gewissen, das endlos schlagende Herz, die Angst vor dem Tod und das Ver-
langen ihn zu widerlegen, alles das laBt ihn nicht liegen und er erhebt sich wieder.
Dieses Auf und Ab und einige auf diesen Wegen gemachte zufallige, fliichtige, ab-
seitige Beobachtungen sind sein Leben.«

25) Kafka benutzt dies en Begriff gelegentlich: »Dieses Grenzland zwischen Ein-
samkeit und Gemeinschaft habe ich nur auBerst selten iiberschritten, ich habe mich
darin sogar mehr angesiedelt als in der Einsamkeit selbst. Was fiir ein lebendiges
schones Land war im Vergleich hiezu Robinsons Insel.« (Tgb 548) Dber die Be-
ziehung der Chiffre Robinson zu dies em Problemkomplex vgl. die Interpretation
von BK 297 zu Beginn dieser Arbeit. Auch Robinsons Insel hat, wie das genannte
»Grenzland«, utopischen Charakter.
77* Umkehrung und Ablenkung: Franz Kafkas »Gleitendes Paradox« 659

»Deine Darstellung ist trostlos, aber nur filr die Analyse, deren Grundfehler sie
zeigt. Es ist zwar so, daB der Mensch sich aufhebt, zurilckfiillt, wieder sich hebt
und so fort, aber es ist auch gleichzeitig und mit noch viel groBerer Wahrheit ganz
und gar nicht so, er ist doch Eines, im Fliegen also auch das Ruhen, im Ruhen das
Fliegen und beides vereinigt wieder in jedem Einzelnen, und Vereinigung in jedem,
und die Vereinigung der Vereinigung in jedem und so fort, bis, nun, bis zum wirk-
lichen Leben, wobei auch diese Darstellung noch ebenso falsch ist und vielleicht
noch tauschender als die deine. Aus dieser Gegend gibt es eben keinen Weg bis
zum Leben, wahrend es allerdings yom Leben einen Weg hierher gegeben haben
muG. So verirrt sind wir.« (Ho 421)
Die erste Stimme dieser Zwiesprache - denn urn einen solchen Dialog aus
Satz und Gegensatz scheint es sich hier zu handeln - konstatiert Antithesen
der Befindlichkeit, Grundwiderspruche des Daseins wie Ruhe und Gejagt-
werden (seltsamerweise sagt Kafka »fliegen« und »ruhen«, er scheint sich also
jenes Zenon-Beispiels aus dem Tagebuch zu erinnern), Sicherung und
Unruhe, Auf und Ab; mit Recht konnte man von Paradoxien der Existenz
sprechen, wie sie etwa Pascal- freilich unter ganz anderen Voraussetzungen
- immer wieder zu fixieren suchte 26). Es sind die seit jeher von den Morali-
sten aufgesuchten Widerspruche, aus denen sie ihre menschen- und lebens-
kundlichen Bemerkungen abzuleiten suchten. Fur Kafka, der sich selbst
wohl gelegentlich als Moralist in jener romanischen Bedeutung des Wortes
verstanden haben mochte, gewannen diese Beobachtungen indes nur
»zufiillige, fluchtige und abseitige« Bedeutung; zahllose abschatzige AuBe-
rungen uber sein Schreiben - denen freilich andere, positive die Waage
halten - zeugen von diesem Zwiespalt, aus dem heraus Kafka stets gegen
sich entschied.
Dagegen ware eine solche Art der moralistischen Diagnose aus dem Pa-
radox des ruhen wollenden und nicht ruhen konnenden Menschen bei La
Bruyere so gut zu finden wie bei Montaigne oder Lichtenberg. Fur Kafka
gilt dieses Denkverfahren des aufschlieBenden, Denkreize auslOsenden oder
Unbegreifliches abbildenden Paradoxes nicht; die Gegenstimme seines Tex-
tes nennt solches Denken »trostlos« und nimmt es als ein Symptom fur den
Grundfehler »analytischen« Vorgehens; sie schlagt einen anderen Denkweg
ein. Zwar geht auch sie von dem dialektischen Auf und Ab des Menschen
aus, wie die Stimme des ersten Abschnitts; dann aber setzt ein vi:illig anderer
DenkprozeB ein. Einem einschrankenden »zwar - aber« folgt eine »viel
groBere Wahrheit«, die die erste Einsicht negiert. Dann wieder werden die
Gegensatze des Fliegens und Ruhens fUr einen Augenblick vertauscht,
abermals umgekehrt und zur Vereinigung gefuhrt, wobei diese Vereini-
26) Vgl. Pensee Nr. 139 (Zahlung Brunschvicq) ... j'ai decouvert que tout Ie mal-
heur des hommes vimt d'une seule chose qui est de ne savoir pas demeurer en repos, dans une
chambre. Baudelaire hat diesen Satz spater aufgegriffen: CEuvres completes. Ed.
Y.-G. Le Dantec. - Paris 1954 (= BibliotMque de la Pleiade). S. 316. Vgl. dazu
Friedrich: Pascals Paradox, a. a. O.
659 Gerhard Neumann 659

gung wiederum wie versuchsweise bald in einem Pol der Antithese - dem
Ruhen -, bald im anderen - dem Fliegen - gedacht wird. Dieser Vorgang der
Vereinigung fuhrt aber keineswegs zu einer abschlieBenden Synthese, son-
dern setzt sich in scheinbar unendlicher Reihe fort bis das herausspringt,
was Kafka - ohne alle aus dem Gedankengang ableitbare Konsequenz - das
»wirkliche Leben« nennt; die bis zu diesem Punkt gediehene Darstellung
des Problems schlieBlich neont Kafka »ebenso falsch und vielleicht noch
tauschender« als die von der ersten Stimme gegebene. Als Resultat dieses
Denkiabyrinths erscheint das Verirrtsein in »diese Gegend«, in die offenbar
doch ein Weg gefuhrt hat, aus der aber keiner ins Leben zuruckweist. Der
»Weg« dieses Denkens, der doch »ins wirkliche Leben« hatte fuhren sollen,
geht an seinem Ziel vorbei. Er fuhrt in die »Irre«, fuhrt in »diese Gegend«,
die sich nur deshalb zu 6ffnen vermochte, weil in unablassigen Umkehrun-
gen des Gedachten, in Denkablenkungen und »gleitenden Paradoxen« das
analytische, aus starren Antithesen konstruierte Denkgebaude abgetragen
wurde. Der Dualismus des »klassischen« Paradoxes wird in ein Rad von Ab-
weichungen und Widerspruchlichkeiten aufgefachert, die nicht mehr aus
eindeutig antithetischen Begriffen, sondern aus unmerklichen Gewichts-
verlagerungen zwischen solchen Begriffspaaren - wie das Beispiel des Su-
chens und Findens gezeigt hatte - resultieren; so desavouiert die zweite
Halfte des Textes jene traditionell paradoxe Gedankenfuhrung des ersten
Abschnitts um jenes Grenz- und Niemandslandes willen, auf das Kafka mit
einer bloBen Sprachgebarde (»diese Gegend«, »dieser Ort«) hinzudeuten
suchte; dessen er sich mit einem Verfahren des Denkens bemachtigen wollte,
das freilich in den Augen des Logikers den Namen des »Denkens« noch nicht
zu verdienen scheint, sondern meist als »Gefuhl« abgetan wird. Seit Pascal
und Novalis spatestens weiB man allerdings, daB die Grenzen dessen, was
noch Denken heiBen kann, immer weiter und weiter in den Bereich des bis-
lang gefuhlshaft Unbestimmten hinausgeschoben werden 27); Kafka war
sich dessen durchaus bewuBt. Das Tagebuch stellt fest:
Die fiir andere Menschen gewiB unglaublichen Schwierigkeiten, die ich beim
Reden mit Menschen habe, haben darin ihren Grund, daB mein Denken oder bes-
ser mein BewuBtseinsinhalt ganz nebelhaft ist, daB ich darin, so weit es nut auf
mich ankommt, ungestort und manchmal selbstzufrieden ruhe, daB aber ein mensch-
liches Gesprach Zuspitzung, Festigung und dauernden Zusammenhang braucht,
Dinge, die es in mir nicht gibt. (Tgb 460f.)
Und noch entschiedener hat Kafka in einer fruheren Aufzeichnung ver-
merkt: »Besondere Methode des Denkens. Gefuhlsmamg durchdrungen.
Alles fiihlt sich als Gedanke, selbst im Unbestimmtesten.« (Tgb 310)
27) Walter Benjamin hat versucht, diese Kafka ganz eigene Art des Denkens zwi-
schen Griibelei und Zerfahrenheit anzusiedeln: »Sieht man das Tier im 'Bau' oder
den 'Riesenmaulwurf' nicht griibeln, wie man sie wiihlen sieht? Und doch ist auf
det anderen Seite dieses Denken wiederum etwas sehr Zerfahrenes. Unschliissig
79* Umkehrung und Ablenkung: Franz Kafkas »Gleitendes Paradox« 659

II

Das Ich, so hatte sich anhand der Untersuchung des Doppelmotivs von
Suchen und Finden und seiner AuflOsung in ein unbestimmtes Raum-
Motiv (»diese Gegend«) gezeigt, muB als jener »StOrfaktor« angesehen
werden, der im ublichen Sinne »stimmiges« Denken aus seiner Bahn lenkt,
als jene »wolkige Stelle«47) im Denkgefuge, die den Leser regelmaBig in
dem Augenblick desorientiert, wo er zu verstehen glaubt - analog jenem
»Ich« im Bereich der Erzahlung, das als »Insekt« die scheinbar geordnete
Familienwelt solange stOrt, bis es entfernt wird.
Welcher Art ist nun aber diese Einmischung des Ich? In welcher Weise
wird es dennoch zum Fermentum cognitionis? Welche Konsequenzen hat
seine Einmischung, wie bezieht es Stellung im DenkgefUge? Offenbar doch
durch den Satz, den es spricht; und in dies em Satz wiederum durch Zustim-
mung oder Ablehnung, das Ja oder Nein, das es seiner Aussage impliziert.
Die Sprachwissenschaft nennt diese Determinante, die bei keinem wie auch
immer gearteten Satz fehlen kanne, Assertionsmorphem 28) - wie es scheint
nach dem Vorbild der formalen Logik und ihrem Satz des Widerspruchs,
der in Wahrheit der Satz der Widerspruchslosigkeit ist: »Er besagt, daB ein
Positivum nicht sein Negativum sein kann.«29) Fur Kafka scheint dieses
Axiom Freilich nicht zu gelten; so schreibt er in der Reihe 'Er':
Der Unterschied zwischen dem »J a« und »Nein«,das er seinen Zeitgenossen sagt,
und jenem, das er eigentlich Zu sagen hatte, durfte dem vom Tod und Leben ent-
sprechen, ist auch nur ebenso ahnungsweise fur ihn faBbar. (BK 298)
Ja und Nein, jene entschiedensten und fUr jeden unmittelbar einleuchten-
den Kategorien, geraten in diesem Text in ein merkwurdiges Zwielicht. Sie
erscheinen plotzlich nur noch als vorlaufiger Ausdruck dessen, was »eigent-
lich« zu sagen ware und worauf in dem Beispiel von Leben und Tod hin-
gedeutet wird. Es zeichnen sich verschiedene Moglichkeiten ab, Ja und
Nein zu sagen, und diese klaffen so weit auseinander wie Leben und Tod.
»Zwischen zwei Feinden, Gegensatzen, Gegensatzlichkeiten ist da ein
Drittes dazwischen, das zugleich Leere anzeigt ... « hat Rudolf Kassner an-
laBlich Kafkas einmal erklart 30). So konnte auch dieser Text verstanden
werden: Irgendwo auf der unendlichen Strecke zwischen Ja und Nein, dort,
wo gewohnliches Denken nur Leere sieht, sei fur Kafka das »eigentliche«

schaukelt es von einer Sorge zur anderen, es nippt an allen Angsten und hat die
Flatterhaftigkeit der Verzweiflung.« Schriften. - Frankfurt 1952ff. Bd. II. S. 220.
28) Dazu Harald Weinrich: Linguistik der Luge. - Heidelberg 1966. S. 48 ff.
29) Bruno Baron von Freytag gen. Loringhoff: Logik. Ihr System und ihr Ver-
hiiltnis zur Logistik. - Stuttgart und Koln 1955. (= Urban Bucher Bd. 16) S. 17.
30) Der goldene Drachen. Gleichnis und Essay. - Erlenbach-Zurich und Stutt-
gart 1957. S. 2.54.
659 Gerhard Neumann 80*

Ja und Nein zu suchen. Ebenso denkbar ware freilich auch, daB Kafka diese
beiden im Grunde nicht extremer vorstellbaren Gegensatze noch weiter aus-
einanderzusprengen, daB er jenes schlaffe, uneigentliche Ja und Nein, das
jeder Mensch unzahlige Male sagt, um eines unerhort radikaleren Ja und
Nein willen zu erschuttern sucht. Eindeutig wird der Text jedenfalls nicht.
Auch das zur Erlauterung herangezogene Beispiel von Leben und Tod
fuhrt zu keiner Klarung: denn es setzt ja keine Analogie von Leben und
Bejahung, Tod und Verneinung, wie es der trivial en Denkerwartung ent-
sprache, sondern bezeichnet bloB den Abstand verschiedener Ja- und Nein-
Moglichkeiten, wobei es wiederum von der Deutung des Abstandes zwischen
Tod und Leben abhangt, ob diese Moglichkeiten unendlich weit ausein-
anderklaffen oder eng benachbart sind. Kafka »lenkt« mit aller Konsequenz
von jeder begrifflich eindeutig bestimmbaren Antithese »ab«.
Was Kafka hier vorschwebt, wird deutlicher, wenn man eine weitere
Textstelle hinzuzieht, die in unmittelbarer Nahe der ersten steht:
Die Kraft zum Verneinen, dieser natiirlichsten AuBerung des immerfort sich ver-
andernden, erneuernden, absterbend auflebenden menschlichen Kampferorganis-
mus, haben wir immer, den Mut aber nicht, wahrend doch Leben Verneinen ist,
also Verneinung Bejahung.
Mit seinen absterbenden Gedanken stirbt er nicht. Das Absterben ist nur eine
Erscheinung innerhalb der inneren Wdt (die bestehen bleibt, sdbst wenn auch
sie nur ein Gedanke ware), eine Naturerscheinung wie jede andere, weder Frohlich
noch traurig. (BK 298f.)
Man hat immer wieder versucht, Kafkas dichterisches Verfahren als
dialektische Methode im Sinne Hegels zu entlarven 31); gewiB deutet die
umkippende Doppelformel »wahrend doch Leben Verneinen ist, also Ver-
neinung Bejahung« in diese Richtung; nimmt man aber den Text als Ganzes,
so erweisen sich die Verhiiltnisse als weit komplizierter. Kafkas Gedanken-
gange sind selten geradlinig oder bloB umkehrend, sondern »reflektierend«
im ursprunglichen Sinne wiederholter Brechungen. Kafka setzt ZUllachst
das Verneinen als menschliche Lebenskraft, widerruft aber im nachsten
Satzteil diese Kraft durch den Hinweis, daB dem Menschen der Mut zu ihr
fehle; daran knupft er dann die pseudo-paradoxe 32), chiastisch verklam-

31) So etwa Max Bense a.a.O. S. 72ff. Er stellt fest, »daB die spezifisch kafkasche
Reflexion sich stets durch ein gleichzeitiges Auftreten cartesischer und hegdscher
Gedankenbewegungen auszeichnet.« (S. 72) Martin Walser spricht vorsichtiger von
»Behauptung« und »Aufhebung«, blickt dabei aber doch wohl auch auf Hegel zu-
rtick. (A. a. O. S. 86, 93) Kafka se1bst hat sich an1a!3lich Kierkegaards von diesem
»zum Positiven umkippenden Negativen« (Ho 121) distanziert.
32) Ein »klassisches« Paradox mtiBte lauten: Leben ist Verneinen und Bejahen.
Kafka verwanddt die Starre des herkommlichen Paradoxes in ein Gleiten: Leben
wird als Verneinen definiert; das Produkt dieser Definition, die »Verneinung«,
wird dann probeweise ins Gegenteil verkehrt.
81* Umkehrung und Ablenkung: Franz Kafkas »Gleitendes Paradox« 659

merte Doppelformel yom Leben als Verneinung an; schon mit dem ver-
kniipfenden »wahrend doch« beginnt das logische Gefiige zu zerbrockeln,
mit dem »also« zerbricht es vollends. Die zweite Halfte des Textes, die die
1ch-Chiffre »Er« einfiihrt, konnte wiederum als Beispiel fiir das zuvor Ge-
sagte aufgefaBt werden. Wieder ist jedoch das »Beispiel« nicht analoge
Umsetzung, sondern weiterfiihrendes Umwenden der Grundkonstellation
von Ja und Nein und der zwischen beiden Polen liegenden Bejahungs- und
Verneinungsmoglichkeiten 33); wiederum spielt Kafka das Ja und Nein
in die Bildsphare des Lebens und Todes hiniiber. Dieser Nachsatz, der auf
den ersten Blick wie eine Erlauterung des ersten anmutet, ist doch nichts
weniger als klarend. »Absterbende Gedanken« bezieht sich zwar augen-
scheinlich auf die »Kraft zum Verneinen«, die ein Symptom des »absterben-
den und absterbend auflebenden menschlichen Kampferorganismus« ist;
ein alsbaldiges Umschwenken des Gedankens aber deutet das Absterben als
Erscheinung der inneren Welt, die offenbar dauerhafter ist als die »aufiere«;
eine neuerliche Ablenkung des Gedankenzuges bezeichnet dieses »Abster-
ben« (das ja nunmehr durch einen standigen ProzeB des Umwertens nega-
tiv und positiv zugleich geladen erscheint) als vollig normale »Natur-
erscheinung« ohne jede sei es nun positive oder negative Bewertung. 1m
Grunde laBt sich auch hier die schon mehrfach registrierte Beobachtung
machen, daB ein moralistischer Ansatz - Erwagungen iiber die Lebens-
schwache in ihren vielfachen Verflechtungen mit dem Geist und seinen
schopferischen Kriiften, wie sie so ahnlich auch bei Amiel oder Schopen-
hauer hatten auftauchen konnen - nicht zur Erkenntnis fiihrt, sondern zu-
nehmend in Verwirrung kommt, sobald das Ich (hier in Form der Chiffre
»Er«) in den Denk- und KlarungsprozeB hineingerat. Denkwiderspriiche
gerinnen nicht nur zum Paradox, sondern werden in einer Folge weiterer
Denkablenkungen zunehmend aufgelost. Die Rede Kafkas ringt sich nicht
mehr zu einem gewissermaBen biblischen Ja, ja - Nein, nein (Matth. 5,37)
durch, sondern sucht im logisch scheinbar irrelevant en Bezirk zwischen die-
sen beiden (nach den iiblichen Denkgesetzen einzig moglichen) Bestimmun-
gen nach anderen, weder terminologisch noch gedanklich ohne weiteres zu-
ganglichen.
DaB mit dieser »Zwischenlosung« nicht die von Hegel entwickelte
dialektische Denkbewegung gemeint ist 34), laBt sich am Gegenbeispiel
eines Hegelschen Textes zeigen. So heiBt es in der 'Phanomenologie' :
33) Walter Benjamin hat als erster auf diese Antigleichnisse, ihren Zitat- und Er-
lauterungscharakter ohne endgtiltige Stringenz hingewiesen. (A. a. O. Bd. II.
S. 208, 210) Zu dem »Nicht-hell-Werden« durch »Beispiele« vgl. auch Ernst Bloch:
Spuren. - Berlin und Frankfurt 1962. Insbesondere 'Motive der Verborgenheit'
(148-160) und das darin tiber die chassidischen Legenden Gesagte.
34) Vgl. dazu Emrich a.a.O. S. 70; ferner die schon genannte Stelle (Ho Hof.}
wo Kafka die kierkegaardsche Dialektik zurtickweist.

47
659 Gerhard Neumann 659

Der Tod, wenn wir jene Unwirklichkeit so nennen wollen, ist das Furchtbarste,
und das Todte festzuhalten, das, was die groilte Kraft erfordert ... Aber nicht das
Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwiistung rein bewahrt, son-
dem das ihn ertragt und in ihm sich erhalt, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt
seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese
Macht ist er nicht, als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht, wie
wenn wir von etwas sagen, dieil ist nichts oder faisch, und nun, damit fertig, davon
weg zu irgend etwas anderem iibergehen; sondem er ist diese Macht nur, indem er
dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt. Dieses Verweilen ist die
Zauberkraft, die es in das Seyn umkehrt 35).
Auch Hegel spricht von der Lebenskraft, auch er konfrontiert Tod und
Leben als »Beispiele« fUr das Positive und Negative, auch er sieht, daB der
»Gedanke« die Gegenkraft ist, die sich am Tod absterbend und auflebend
bewahrt, auch er versucht, das Widerspriichliche in ein Verhiiltnis zu setzen.
Sein Verfahren unterscheidet sich aber von dem Kafkas dadurch, daB es
zum Ziel fUhrt, daB ihm dieses 1ns-Verhiiltnis-Setzen auch gelingt. Sein Den-
ken schreitet von der Negation fort zum Widerspruch und yom Widerspruch
zur Umkehrung und Verwandlung in die dialektische »Ordnung«.36) Der
entscheidende Punkt, an dem die beiden Texte voneinander abweichen, liegt
da, wo Kafka »Er« sagt, Hegel »Geist«. Der »Geist« entbindet aus sich die
»Zauberkraft«, mit der das »Negative« in das Sein gehoben wird; Kafkas
Ich-Chiffre »Er« tastet sich in stiindig von neuem unternommenen Umkeh-
rungen und Denkabweichungen zwischen die Antithesen Ja und Nein hin-
ein, ohne sich je einer Denkbewegung vollig zu versichern, die den »Unter-
schied zwischen dem Ja und dem Nein« zu fassen vermochte.
1mmer wieder sucht Kafka in seinem Denken einen Ausweg aus diesem
Dilemma der verschiedenen Ja- und Nein-Moglichkeiten, denen er sich zwar
unter dem Exempel von Leben und Tod zu niihern sucht, die aufzulosen er
aber nie die Kraft findet. Zwei extreme Beispiele mogen das deutlich ma-
chen. Das eine erwiigt die Moglichkeit volliger 1dentifikation beider Ex-
treme, das andere sucht den Sprung aus der Verklammerung des Paradoxes
heraus.
Das erste Beispiel steht in den 1917-19 18 entstandenen 'Betrachtungen':
Der Tod ist vor uns, etwa wie im Schuizimmer an der Wand ein Bild der Alexan-
derschlacht. Es kommt darauf an, durch unsere Taten noch in diesem Leben das
Bild Zu verdunkeln oder gar auszuloschen. (Ho 50)
Wiederum werden Tod und Leben konfrontiert; wieder geraten sie in
die Auseinandersetzung von Negation und Position, freilich geht hier das
Werten und Umwerten sehr viel glatter vor sich, da nicht mehr Gedanken-
folgen, sondern Bildkomplexe in gleitende Bewegung geraten.

35) Samtliche Werke. Jubilaums-Ausgabe in 20 Banden. Hrsg. Glockner. - Stutt-


gart 1951. Bd. 2. S. 34.
36) Robert Heiss: Wesen und Formen ... a.a.O. S. 146f.
659 Umkehrung und Ablenkung: Franz Kafkas »Gleitendes Paradox« 659

Eine Reproduktion 37) des antiken Mosaikbildes der 'Alexanderschlacht'


von Philoxenos in einem Schulzimmer wird zum Vergleich herangezogen,
zu einem allerdings recht beliebigen und nur versuchsweise mit einem
»etwa wie ... « angesetzten Vergleich in einem Milieu, das diesem Vergleich
keinen Raum HiBt, sich auszuleben: die sterile, jedem Sinnbild abholde At-
mosphare eines Schulzimmers. Die zur Erbauung dem SchUler in den Blick
geriickte Reproduktion wird zum aufdringlichen Vor-Bild, zum Beispiel
iiberdimensionaler Kraftentfaltung 38), der der Betrachtende in keiner Weise
gewachsen ist; zugleich aber auch zum Urbild aller Darstellungen des Kol-
lektiven, der Massenimpulse und des Massensterbens; so wird die 'Alexan-
derschlacht' zum imaginaren Beispiel eines Selbst, das diesen Vorwurf, in
dem das exemplarisch Individuelle eines Alexander sich mit der Entsetzens-
vision der namenlosen Masse mischt, Tatkraft und anonymes Erliegen in-
einanderflieBen, schon deshalb nie einzuholen vermag, weil es sich zwischen
den einander radikal entgegengesetzten Anspriichen des Personalen eines
Alexander und des Kollektiven im Getiimmel der Alexanderschlacht nicht
mehr zu orientieren vermag. Das Bild, dem SchUler gleichsam als Aufgabe,
dem betrachtenden leh als Anspruch entgegengehalten, lahmt die Ent-
scheidungsfreiheit dieses Betrachtenden: Es fixiert ihn. Nun setzt jener in
Kafkas Bildstrukturen so haufige osmotische ProzeB ein, der von der Labili-
tat des leh eingeleitet und von der Starre der Bilder gesteuert wird. Das leh
ist von dem Bild determiniert in einem MaBe, daB der Akt der Identifika-
tion - jenes Alexanderwerden des leh, parallel gesetzt mit dem Untertauchen
des Ich im Kollektiven - das Bild zum Er10schen bringt. Freilich entlarvt
sich dieses Aufsaugen des Bildes, diese »Reproduktion« der Reproduktion
selbst als ein Ver1oschen, als ein Aufzehren der Lebenskraft, als Tod 39) - wo-
bei die Umkehrung sofort mitzudenken ist: das Ausloschen des Todes im
»Alexanderwerden des leh«. Diese Art der Bildvertauschung, der gleitenden
Umschichtung von Bildern, die keineswegs »urspriingliche« Bilder sind 40),
37) V gl. dazu die zahllosen Reproduktionen, die im Werk Kafkas eine groBe,
wenn auch selten durchschaubare Rolle spielen.
38) Alexander wird merkwiirdigerweise an anderer Stelle mit der Vorstellung
der »Erdenschwere« in Verbindung gebracht (Betr. Nr. 39a); das »Vorbildliche«
der Alexanderschlacht, gestOrt durch die Richtungslosigkeit, der die moderne Ge-
sellschaft verfallen ist, erscheint atich in dem Prosastiick 'Der neue Advokat'. (Erz
145 ff.) DaB es sich bei dem Bild urn das antike Mosaik und nicht urn Altdorfers
Bild handelt, das seltsamerweise gleichfalls in den Zusammenhang passen wiirde,
belegt Max Brod: Franz Kafkas Glauben und Lehre. Kafka und Toistoi. Eine
Studie. - Miinchen 1948. S. 47.
'9) Einen analogen Vorgang gestaltet die Betr. Nr. 73: »Er feiBt den Abfall yom
eigenen Tisch; dadurch wird er zwar ein Weilchen lang satter als aIle, verlernt aber,
oben yom Tisch zu essen; dadurch hart dann aber auch der Abfall auf.«
40) Zum Begriff des »urspriinglichen Bildes« vgl. Walther Killy: Wandlungen
des lyrischen Bildes. - Gottingen 1956. S. 51f.

47·
72.0 Gerhard Neumann 659

bis an den Rand der Vernichtung (der Verdunklung oder gar des AuslOschens)
durch Se1bstaufgabe, durch ein Zusammenfallen und Ineinanderaufgehen
von Bild und Ich ist eine der Moglichkeiten Kafkas auf der Suche nach dem
Ja und Nein, das er »eigentlich zu sagen hatte«. (BK 298)
Die andere Moglichkeit ist weniger bildlicher, als szenischer Art; cha-
rakteristisch dafur ist die Betrachtung Nr. 13:
Ein erstes Zeichen beginnender Erkenntnis ist der Wunsch Zu sterben. Dieses Le-
ben scheint unertraglich, ein anderes unerreichbar. Man schamt sich nicht mehr,
sterben zu wollen; man bittet, aus der alten Zelle, die man haBt, in eine neue ge-
bracht zu werden, die man erst hassen lernen wird. Ein Rest von Glauben wirkt
dabei mit, wahrend des Transports werde zufallig der Herr durch den Gang kom-
men, den Gefangenen ansehen und sagen: »Diesen sollt ihr nicht wieder ein-
sperren. Er kommt zu mir.« (Ho 40)
Der Grundri.f3 dieser Betrachtung ist der gleiche wie in den vorher-
gehenden Beispie1en. Das Leben gerat in die Zerrei.f3probe zwischen das
Unertragliche und das Unerreichbare; es geht uber in den Todeswunsch.
Der Proze.f3 der Umkehrung, im vorigen Beispiel als Bildosmose beschrie-
ben, gestaltet sich hier als szenisches Fragment: Transport eines Gefange-
nen aus einer Zelle in die andere, wobei das Hier dem Dort offenbar zum Ver-
wechseln ahnlich ist. In diesen »Handlungsablauf« - und das ist das Neue an
diesem Text - bricht etwas unvermittelt ein. Es erfolgt, wenn auch zunachst
nur als eine mit einem Rest von Glauben erhoffte Moglichkeit, ein Eingriff.
Der »Herr« - wer auch immer das sein mag - konnte sich einmischen, konnte
unvermittelt den Vorgang aufhalten und Abhllfe schaffen. Er konnte sagen:
Dieser kommt zu mit. Die Kette der Umkehrungen, des immer wieder er-
wogenen Zellenwechsels, der weder dialektische Spannung noch volligen
Ausgleich zula.f3t, wird unterbrochen. Der Gefangene - Kafka betrachtet
auch das »Man« (1) als eine Ich-Chiffre (2) -, der diesen Proze.f3 des permanen-
ten Zellenwechsels nicht hat Zur Ruhe kommen lassen, und den auch umge-
kehrt dieser ProzeB nicht zur Ruhe kommen lie.f3, wird aus diesem heraus-
genommen; darauf tritt Ruhe ein. Wie das Ich jenes Ferment ist, das die
»logischen« Ablaufe kafkascher Texte stOrt und das als gleitendes Paradox
durch die gedankliche und bildliche Struktur seiner Werke geistert, so lost
sich dieser Zwang zur Umkehrung, sobald das Ich eliminiert wird:
Er hat zwei Gegner: Der erste bedrangt ihn von hinten, vom Ursprung her. Der
zweite verwehrt ihm den Weg nach vorn. Er kampft mit beiden. Eigentlich unter-
stiitzt ihn der erste im Kampf mit dem Zweiten, denn er will ihn nach vorn dran-
gen und ebenso unterstiitzt ihn der zweite im Kampf mit dem Ersten; denn er
treibt ihn doch zuriick. So ist es aber nur theoretisch. Denn es sind ja nicht nur die
zwei Gegner da, sondern auch noch er selbst, und wer kennt eigentlich seine Ab-
sichten? Immerhin ist es sein Traum, daB er einmal in einem unbewachten Augen-

41) Ho 8.
42) »Meine Gefangniszelle - meine Festung.« (Ho 421)
659 Umkehrung und Ablenkung: Franz Kafkas »Gleitendes Paradox« 659

bIick - dazu gehort allerdings eine Nacht, so finster wie noch keine war - aus der
KampfIinie ausspringt und wegen seiner Kampferfahrung zum Richter tiber seine
miteinander kampfenden Gegner erhoben wird. (BK ,00)

Die Umkehrungen und Ablenkungen, denen Kafka seine Denkfiguren


und BiIder immer wieder unterwirft, sind nichts als der verzweifelte, immer
wieder von neuem unternommene Versuch, das Ich aus der Verknupfung
der Dinge (3) - die es verwirrt - herauszudrangen, und diese damit ins
»Reine, Wahre, UnveranderIiehe« zu heben. (Tgb 534) DaB dieses »Heraus-
drangen«, die Antwort auf das Ja und Nein, das er zu sagen hatte, niehts
anderes sein konnte, als der Tod, hat Kafka verzweifeln lassen; nur im
Sehreiben ahnte er so etwas wie eine andere MogIiehkeit des »Heraussprin-
gens«, einen Ausweg, der nieht der Tod war. (4)
Merkwtirdiger, geheimnisvoller, vielleicht gefahrlicher, vielleicht erlosender
Trost des Schreibens: das Hinausspringen aus der Totschlagerreihe, Tat-Beobach-
tung. Tatbeobachtung, indem eine hohere Art der Beobachtung geschaffen wird,
eine hohere, keine scharfere, und je hoher sie ist, je unerreichbarer von der »Reihe«
aus, desto unabhangiger wird sie, desto mehr eigenen Gesetzen der Bewegung
folgend, desto unberechenbarer, freudiger, steigender ihr Weg. (Tgb 56, f.)

1m »Hinausspringen aus der Totsehlagerreihe« vermutete Kafka die


Moglichkeit einer »hoheren Art der Beobaehtung«; aus dem verzweifelten
ProzeB der logisehen und bild1ichen Umkehrungen, die ihn von den for-
malen Denkzwangen befreien sollten, hoffte er »eigene Gesetze der Bewe-
gung« abzuleiten, die statt Verwicklung Einsicht, statt gleitender Paradoxien
Wahrheit verhieBen. Aber am Ende seines Lebens wurde doeh wieder »jedes
Wort, gewendet in der Hand der Geister ... zum SpieB, gekehrt gegen den
Sprecher«. (Tgb 585) Das Herausspringen des Ich aus der Totschlagerreihe
sehien ihm nur noeh als Sterben moglieh. Darum wollte er, daB man seine
Sehriften verbrenne.
DaB diese verzweifelten Befreiungsversuehe yom logisehen und biIdIiehen
Trivialschematismus in Kafkas Augen zum Seheitern verurteilt waren, darf
nieht daruber hinwegtausehen, daB mit der Ausbildung jenes Denkver-
fahrens des gleitenden Paradoxes entseheidende dichterisehe MogIieh-
keiten fur die Darstellung eines Ich entwickelt wurden, dem herkommliehe
Gestaltungsmittel nicht mehr gewaehsen sehienen, und dem aueh mit der

OS) Emrich hat dieses »stOrende« Element aus der Sicht der Dinge und der Tiere
heraus zutreffend beschrieben als »Fremdheit« (befreiend - heilend - todIich) a. a. O.
S. 9z ff. In seinem Aufsatz 'Die Bilderwelt Franz Kafkas' zitiert er den entscheiden-
den Satz: »Immer, Heber Herr, habe ich eine Lust, die Dinge so zu sehen, wie sie
sich geben mogen, ehe sie sich mir zeigen. Sie sind da wohl schon und ruhig.« Ak-
zente 7 (1960) S. 17Z-19I. Zitat S. 173.
") Damit mag seine Neigung zu Ding- und Tiergeschichten zusammenhangen,
in denen sich die Frage des Ich nicht in dieser Weise stellt. V gl. Emrich a. a. O.
S. 115 ff.
7 22 Gerhard Neumann 86*

Bestimmung, es sei einfach in sich widerspriichlich oder »paradox«, nicht


mehr beizukommen war. Es ist ein Ich, dem das Ja und Nein abhanden ge-
kommen ist, ein Ich der »Tatbeobachtung« (Tgb 563f.), das weder als han-
delnd, noch als denkend zulanglich vorgestellt werden kann, weder ethisch
noch psychologisch eindeutig begreifbar wird. Kafkas Denkweg zum Ich
ist ein Weg der Unruhe; er offnet die Moglichkeit, Dbergange darzustellen,
da es mit der Darstellung von Eindeutigem oder bloB Widerspriichlichem
nicht mehr getan ist. Was einzelne Worte und Begriffe nicht mehr leisten,
leistet der gleitende Dbergang in Ablenkung und Umkehrung von einem
zum anderen. Schon das friihe Tagebuch Kafkas zeugt davon, wie das Ich
urn diese Moglichkeit gerungen hatte:
27. Dezember. Meine Kraft reicht zu keinem Satz mehr aus. ja, wenn es sich urn
Worte handeln wiirde, wenn es geniigte, ein Wort hinzusetzen und man sich weg-
wenden konnte im ruhigen Bewufitsein, dieses Wort ganz mit sich erfiillt zu haben.
(Tgb 34)

III

Nun ist es bezeichnend, daB Kafka dieses Heraustreten aus den herkomm-
lichen formalen Gesetzen des Denkens nicht radikal werden laBt; er zerstort
- zumindest fiir den fliichtig Lesenden - weder das semantische noch das
grammatikalische oder syntaktische Gefiige seiner Texte (wie das die Auto-
ren des Expressionismus und des Dadaismus versuchten); es geht ihm viel-
mehr darum, durch iiberaus minuziose Verfolgung konventioneller Denk-
ablaufe an jenen Punkt zu gelangen, wo sie versagen. Er zeigt seine Figuren
immer wieder dann, wenn sie verzweifelte Anstrengungen machen, das Ge-
schehen auf »normalem« Denkweg zu begreifen und auf konventionelle,
immer wieder mogliche MiBverstandnisse zuriickzufiihren; sie hoffen bis
zum SchluB, daB sich bei richtigem Nachdenken am Ende doch noch alles
klaren wiirde. Der 'ProzeB' etwa ist von K. aus gesehen nichts weiter als ein
Denk-ProzeB, dem er sich mit groBter Gewissenhaftigkeit unterzieht (5).
Aber diese Denkbemiihungen haben bei Kafka verschleiernde Funktion.
Dem scharf Beobachtenden erschlieBen sich die Unstimmigkeiten und Ab-
lenkungsmanover, mit denen Kafka den Leser in jenen Bereich hiniiber-
fiihrt, wo alle starre Begrifflichkeit ins Gleiten kommt; er bedient sich dazu
bald der semantischen Verschiebung, bald der Zitatentstellung, bald der ent-
fremdenden Metapher.
Die semantische Verschiebung fiillt dabei vielleicht am wenigsten ins
Auge. Zwei Beispiele solcher fast unmerklicher Bedeutungsentfremdung

45) Das 7. Kapitel des 'Prozesses' ist ein solcher Versuch, das Unbegreifliche
»zurechtzudenken«.
87* Umkehrung und Ablenkung: Franz Kafkas »Gleitendes Paradox« 723

mogen das verdeutlichen. 1m dritten Oktavheft findet sich folgende Auf-


zeichnung: »DaB unsere Aufgabe genau so graB ist wie unser Leben, gibt
ihr einen Schein von Unendlichkeit.« (Ho 99) Dieser Gedanke mutet den
Leser wenn nicht gar erbaulich, so doch zunachst iiberaus befriedigend an:
Aufgabe und Leben kommen miteinander zu Rande und scheinen in korrela-
tivem Verhaltnis zu stehen; ein solches Dasein hat den Keirn des Gelingens
in sich. Der »Schein von Unendlichkeit« verleiht der Aussage so etwas wie
eine hohere Weihe. Dann freilich mogen dem genau Lesenden Bedenken
aufsteigen: Sollte es Kafka wirklich so und nicht vielmehr ganz anders ge-
meint haben? In diesem scheinbar so lebensfreundlichen, geradezu goethe-
schen Satz gibt es zumindest eine unruhige Stelle. Warum fuhrt die mit dem
Leben zur Deckung gebrachte Aufgabe einen Schein von Unendlichkeit
mit sich? 1st dieser Schein im Sinne jenes Lichtes zu verstehen, das aus der
Tiir des Gesetzes bricht? (Pr 257) Oder ist er der verwirrende Schimmer einer
Denkungenauigkeit und Trugperspektive des Verstandes? Vertrauen wir
etwa nur deshalb auf die Losung der Aufgabe, wei! das scheinbar unend-
lich vor uns liegende Leben uns »lassig« (Ho 39) werden laBt? Schopfen wir
daraus etwa das falsche Vertrauen, daB das Leben nicht enden wiirde, bevor
die Aufgabe gelost ist? Oder versagen wir vor der Aufgabe, die wir - waren
wir unbefangen - bewaltigen konnten, wei! sie - zu Unrecht - einen Schein
von Unendlichkeit annimmt? Kunstvoll hat Kafka in diesem offenbar so
eindeutigen Satz mit dem unvermittelt eingeschobenen »Schein von Un-
endlichkeit« eine semantische Triibung vorgenommen; Kafka setze kleine
Tricks in seine Texte hinein, sagt Walter Benjamin einmaI 46). Dem Leser
kommen allmahlich Zweifel, ob er richtig verstanden habe, er wird von den
klischeehaften Denkwegen und Assoziationen fortgelockt, auf denen er
allzu vorschnell voranzukommen suchte. Die Kongruenz von Leben und
Aufgabe verkehrt sich in Ungeniigen, das scheinbar zur Deckung Gebrachte
klafft p16tzlich wieder auseinander.
Nicht anders verhalt es sich mit einem auf den ersten Blick noch einfache-
ren Satz Kafkas: »Verkehr mit Menschen verfiihrt zur Selbstbeobachtung.«
(Ho 48) Der Leser meint einem ihm yom moralistischen Denken seit jeher
vertrauten Gedanken zu begegnen. Pascal und La Rochefoucauld, Gracian
und Lichtenberg, die Romantiker ebensogut wie Nietzsche sahen das letzte
Ziel der Menschenbeobachtung in der Selbsterkenntnis; sie aIle haben den
alten delphischen Spruch »Erkenne dich selbst« auf ihre Weise zu losen ge-
sucht. Und doch besitzt Kafkas so unkompliziert erscheinender Satz wieder-
urn das, was Benjamin die »wolkige Stelle in seinem Inneren«47) nennt,
einen Unruheherd, der die gelaufige Denkbewegung stort: Die Verdrangung

46) A.a.O. Bd. II. S. 203.


47) Ebda S. 208; 2 I 6.
659 Gerhard Neumann 88*

des erwarteten Verbs »fiihrt« durch das erweiterte »verfiihrt« lenkt von der
erhofften Einsinnigkeit des Satzes abo Inwiefern, so fragt man sich, ist dieses
Schwenken der Beobachtungsrichtung von auBen nach innen eine »Verfiih-
rung«? Zwar scheint es zunachst, als wolle Kafka mit diesem Wort die
Selbstbeobachtung zugunsten eines nach auBen gerichteten menschenkund-
lichen Interesses entwerten (8); die Betrachtungen Nr. 7, II und 105 zwin-
gen freilich zu einer differenzierenderen Vberlegung. »Das Verfiihrungs-
mittel dieser Welt«, hellit es da,
sowie das Zeichen der Burgschaft dafur, daB diese Welt nur ein Ubergang ist, ist
das gleiche ... Das Schlimmste ist aber, daB wir nach gegluckter Verftihrung die
Blirgschaft vergessen und so eigentlich das Gute uns ins Bose, der Blick der Frau
in ihr Bett gelockt hat. (Ho 53)
Wieder werden negative und positive Bestimmung an ein und demselben
Sachverhalt erprobt; man wird sich aber hiiten miissen, dieses Verfahren
ohne weiteres als dialektisch zu bezeichnen. Es erfolgt nicht einfach ein Um-
schlagen ins »Gegenteil«; eine Bestimmung gleitet vielmehr nahezu beilau-
fig in eine andere hiniiber: Das Erkenntnisproblem verschiebt sich unver-
merkt in den ethischen Bereich. Aus dem »fiihren zu« des konsequenten
Denkens, aus dem »iiberfiihren in« des dialektischen Denkens wird das
»verfiihren zu« des kafkaschen Verfahrens. Fiir ihn ist Erkenntnis ein ethi-
sches, damit aber ambivalentes, auf der Grenzscheide zwischen Gut und Bose
angesiedeltes Problem; niemand hat sich den Mythos yom Baum der Er-
kenntnis und der Verfiihrung durch die Schlange so zu eigen gemacht wie
er (9). Damit verliert aber das Denken als Akt der Erkenntnis seine Indiffe-
renz und Einlinigkeit, es wird notwendig ablenkbar; auBerdem erhalt es
ein gefahrliches Korrelat: das Tun 50). Dieses aber definiert Kafka als Selbst-
zerstorung. Erkenntnis, die zur Selbsterkenntnis wird, schlagt um in Tun;
der Selbstbezug wird zum Selbsturteil und zum Selbstgericht. Die Vollstrek-
kung des Urteils kann aber nichts anderes sein als die Vernichtung dieses
Selbst. Dies ist es, was die Deuter Kafkas immer wieder als das »Existentielle«
in seinem Werk gefesselt hat. Dies ist es auch, was ihn von allen Moralisten
mit Ausnahme Pascals unterscheidet; die »Konsequenz« seines Denkens ist
nicht formal stimmig und damit letztlich naturwissenschaftlich-menschen-
beobachterisch gelenkt (er ist kein Linnaeus der menschlichen Leidenschaf-
ten 51). Seine Erkenntnis steht unter dem Gesetz des ethischen Dualismus

48) Wie dies etwa Goethe getan hat. Goethes poetische Werke. Vollstandige
Ausgabe. - Stuttgart ohne Jahr. (Cotta) Bd. 8. S. 1372. (Bedeutende Fordernis
durch ein einziges geistreiches Wort.)
49) Z.B. Betr. Nr. 64, 65, 74, 82, 83, 84, 86.
50) 1m folgenden wird die Betrachtung Nr. 86 paraphrasiert.
61) Friedrich Schiller: Samtliche Werke. - Munchen 1960. 2. Auflage. Bd. V.
S. 13.
659 Umkehrung und Ablenkung: Franz Kafkas »Gleitendes Paradox« 659

von Gut und Bose und der ganzen Skala von Abschattierungen zwischen
beiden Extremen: »Bose ist das, was ablenkt« (Ro 84); das nach Erkenntnis
strebende Ich geistert zwischen ihnen hin und her, ohne je einen Standort
zur Beurteilung zu gewinnen, fiihrt im stets wiederholten, gleitenden Ober-
gang des Erkennens in Tun zu Selbstgericht und Selbstzerstorung. Dieser
Selbstzerstorung sucht das menschliche Denken Freilich auszuweichen. Es
ist nun bezeichnend, daB Kafka als Formen solcher Ausflucht gerade die
»Motivationen« des Menschen nennt, also das unerbittlich strenge und
konsequente Denken. Wortlich heiJ3t es in dem bislang paraphrasierten Text
(Ro 49f.):
Vor diesem Versuch nun fiirchtet er sich; Heber will er die Erkenntnis des Guten
und Bosen riickgangig machen ... aber das Geschehene kann nicht riickgangig ge-
macht, sondern nur getriibt werden. Zu dies em Zweck entstehen die Motivationen.
Die ganze Welt ist ihrer voll, ja die ganze sichtbare Welt ist vielleicht nichts an-
deres als eine Motivation des einen Augenblick lang ruhenwollenden Menschen.
Ein Versuch, die Tatsache der Erkenntnis zu falschen, die Erkenntnis erst zum Ziel
zu machen.
Das heiBt aber: Alles Denken und Erkennen, das nach streng formalen
Denkgesetzen - hier dem Kausalitatsprinzip - vor sich geht, ist Falschung
der Erkenntnis; erst wo das Denken zu Umkehrungen und gleitenden Para-
doxien greift, schafft es Moglichkeiten der Einsicht, wird das formale Ja
und Nein zum »eigentlichen Ja und Nein, das der Mensch zu sagen hatte«.
Jetzt erst wird deutlich, welche Konsequenzen sich aus dem Satz, der Ver-
kehr mit Menschen verfiihre zur Selbstbeobachtung, ergeben; die Verfiih-
rung besteht eben in jenem gefahrlichen Erkenntnisverfahren der Denk-
ablenkungen, Verkehrungen und gleitenden Paradoxa des Sich-Einlassens
auf ein durch herkommliche logische Gesetze nicht gestiitztes, in seinen Ab-
laufen noch nicht beschreibbares Denken, das letztlich zur Selbstzerstorung
fiihren muB, zu jener Elimination des Ich aus dem DenkprozeB, jenem Rer-
ausspringen aus der Totschlagerreihe, das Kafka in seinen Dichtungen zu
gestalten suchte.
1m dritten Oktavheft hat Kafka diesen Gedanken der Selbsterkenntnis,
die Selbstzerstorung ist, wenn sie nicht in Motivationen ausweicht, in allen
Phasen entwickelt:
Erkenne dich selbst, bedeutet nicht: Beobachte dich. Beobachte dich ist das Wort
der Schlange. Es bedeutet: Mache dich zum Herrn deiner Handlungen. Nun bist du
es aber schon, bist Herr deiner Handlungen. Das Wort bedeutet also: Verkenne
dich! Zerstore dich! also etwas Boses - und nur wenn man sich sehr tief hinab-
beugt, hort man auch sein Gutes, welches lautet: »Um dich zu dem zu machen,
der du bist.« (Ho 80)
In wiederholten Umkehrungen von Setzung und Aufhebung 52), Position
und Negation, Definition und Einschrankung (Selbsterkenntnis ist nicht
52) Vgl. dazu Martin Walser a.a.O. S. 86, 93.
659 Gerhard Neumann 659

Selbstbeobachtung - Selbsterkennen ist Handeln - Handeln ist Selbstverken-


nung, ist Selbstzerstorung - Erkennen ist das Bose, ist das Gute, ist Selbst-
werdung) versucht Kafka, alle motivierenden und damit die Einsicht verstel-
lenden Denkschemata beiseitezuraumen. Am Ende dieser Skala von Para-
doxen steht die Desorientierung des Lesers und die Aufhebung aller her-
kommlichen Denkgesetze: Sie zogert etwas heraus, was auf anderen Denk-
wegen nicht hatte erkannt werden konnen 53).
Das zweite Mittel der Denkverschiebung, dessen sich Kafka bedient, ist
die Zitatentstellung 54). So merktKafka im dritten Oktavheft an: »MuBiggang
ist aller Laster Anfang, aller Tugenden Kronung.« (Ho 89)66) Durch eine
Pseudoparallelisierung des Gedankens wird die Aussage des Sprichworts
paralysiert; freHich wiederum nicht im Sinne eines verharteten Paradoxes;
auch hier werden Denkmoglichkeiten und Denkkonsequenzen erprobt, die
von starren und eingefahrenen Denkbewegungen befreien, die einen unbe-
gangenen Pfad der Einsicht eroffnen sollen. Robert Heiss hat dieses Verfah-
ren die »eigentumliche Technik der Kontraststeuerung« genannt 66); aus der
Gegenbewegung entwickelt sich die yom einlinig konsequenten Denken
her gesehen »alogische« Erkenntnis: Aus dem Widerspruch und gleitenden
Obergang des einen in das andere springt die Ambivalenz des Begriffes der
»Lassigkeit«, wie Kafka ihn versteht, unvermittelt hervor 67); durch dieses
Verfahren allein kann Widerspruchliches »verstandlich« werden, denn fUr
»ambivalente« Begriffe gibt es keine Definition, die nicht wiederum paradox
ware. Deshalb ignoriert die formale Logik solche Begriffe und gesteht nur
eindeutigen ein Daseinsrecht zu 58). In der Sprache und ihren Operationen
der Ober- und Unterordnung, der Sinnverschiebung, der semantischen
Unter- und Obertone dagegen manifestiert sich eine Fulle anderer Denk-
gesetze als Mittel der Vergliederung und Verknupfung, von denen die for-

53) Fritz Schaufelberger hat dies als die »magische Kraft« des kafkaschen Parado-
xes bezeichnet. A.a.O. S. 12f.
54) Sie ist ein gelaufiges Mittel der deutschen Aphoristik seit Lichtenbergs be-
riihmtem »Non cogitant, ergo non sunt.« Georg Christoph Lichtenbergs Aphoris-
men. Hrsg. Albert Leitzmann. - Deutsche Literaturdenkmale des I8. und I9. Jahr-
hunderts. Berlin I902-I908. J 362.
55) Nach einem vergleichbaren Mechanismus verfahrt auch die folgende Auf-
zeichnung: »Um was klagst du, verlassene Seele? Warum flatterst du urn das Haus
des Lebens? Warum siehst du nicht in die Ferne,die dir geh6rt, statt hier zu kamp-
fen urn das, was dir fremd ist? Lieber die lebendige Taube auf dem Dach, als den
halbtoten, krampfhaft sich wehrenden Sperling in der Hand.« (Ho 237)
56) Wesen und Formen a.a.O. S. 101.
57) Zum Verstandnis vgl. Betr. Nr. 2 und 3 mit I09 (zweite Halfte).
58) Heiss: Wesen und Formen a.a.O. S. 24: »Der Wahrheitsbegriff der Logik
hangt also daran, dan etwas eindeutig bestimmbar ist.« Die Logik »erkennt im
Grunde nur jene Bewegung an, in welcher der Bewegungsvollzug zur Eindeutig-
keit ftihrt und von ihr ausgeht.« (S. 12of.)
659 Umkehrung und Ablenkung: Franz Kafkas »Gleitendes Paradox« 659

male Logik keine Kenntnis genommen hat. Die konsequent logische Form
in diesem Sinne stellt eine radikale Verkurzung und Einengung des Denkens
dar 59).
Eines ahnlichen Verfahrens bedient sich Kafka in jenem vielzitierten
Beispiel 60): »Wir graben den Schacht v~)O Babel« (Ho 387); hatte die
Sprichwortentstellung ihr Ziel durch Satzparallelisierung erreicht, so liegt
hier so etwas wie ein Palimpsest vor; hinter »graben« klingt »bauen« mit,
hinter »Schacht« »Turm«, hinter dem »wir« stehen die »Babylonier« der
biblischen Oberlieferung (I. Mos. 11,4-9); Kafka kehrt den uberlieferten
Sachverhalt um 61); indes geschieht dies auch hier nicht im Sinne einer bloBen
Verkehrung ins Gegenteil. Durch zunachst kaum wahrnehmbare Verschie-
bungen wird der Leser von dem traditionellen Bedeutungsfeld abgelenkt.
Kafka vereinigt eine ganze Reihe von Bedeutungen in dies em einen Motiv.
Das laBt sich allerdings erst dann nachweis en, wenn man verschiedenen
Umformungen nachgeht, die das Motiv des »babylonischen Turms« bei
Kafka durchlauft. GewiB versucht Kafka so etwas wie einen Widerruf jenes
hybriden Turmbaus, gewiB sucht er einen Weg in tiefere Schichten 62). Das
»Palimpsest« solI aber doch in erster Linie die gelaufigen Auslegungen von
dem Motiv wegdrangen: Himmelssturm, hybride Aktivitat, Sprachver-
wirrung (auf die, wohl weil sie so »naheliegt«, bei Kafka nirgends hinge-
wiesen wird) spielen fur Kafkas Umwertung des Motivs keine entschei-
dende Rolle. So verkehrt schon eine fruhe Briefstelle die vertikale Bewe-
gung in ein richtungsloses Innen: » ... was ich gestern zeigte ... ist naturlich
nur der Vorgang in einem Stockwerk des innern babylonischen Turms, und
was oben und unten ist, weiB man in Babel gar nicht.« (Br II9) Entschei-
dend ist dabei die Auflosung der gelaufigen Raumbestimmungen, wenn
auch nicht des Raumes selbst 63). Er iihnelt in seiner Unbestimmtheit jenem
bloB noch durch die Gebarde bezeichneten Raum, der im Zusammenhang
des »Suchen und Finden«-Motivs beschrieben wurde (»diese Gegenden«).
Eine andere Form destruktiver Umkehrung des Turm-Motivs erscheint

59) Ebda S. I I I-I 13; »Das Formengefiige der Sprache ist reicher als jenes der
Logik. Die Bewegungsformen der Sprache sind in der VielfOrmigkeit ihrer Be-
wegung nicht jenem Gesetz des logischen Aufbaus, des logischen Folgerns unter-
tan, das die Logik entwickelt hat.« (S. 122). Als Gegenstimme hierzu vgl. Wais-
mann, Anm. 23.
60) Vgl. vor aHem Friedrich Beissner: Der Schacht von Babel. Aus Kafkas
Tagebuchern. - Stuttgart 1963. Ferner Emrich a.a.O. 189ff.
61) Heinz Politzer hat auf die Sinnverkehrung in dem kafkaschen Schlusselwort
'Bau' hingewiesen, a.a.O. S. 454.
62) Beissner, Schacht a. a. O. S. 34.
63) Hierher gehort wohl auch die Variante des ins Vertikale verkehrten anfang-
und endlosen Tunnels (Ro 73), die Variante der Doppelgestalt (BK 315) und des
Versinkens im Schacht (Tgb 384).
659 Gerhard Neumann 659

in der Geschichte yom »Stadtwappen« (BK 94f.); Kafka argumentiert dort


mit den Moglichkeiten der Position und Negation. Die sicherste Gewahr
fiir die Vollendung des Turms scheint nach dieser Version seine Nichterrich-
tung zu sein. Eine wiederum andere Variante experimentiert mit dem Turm-
Zitat als metaphorischem Element (BK 41 f.) 64), einem Vergleich, der in
seltsamer Umkehrung vergleicht und nicht vergleicht, das Verhaltnis
schafft und zugleich zerstort 65). SchlieBlich taucht das Turm-Zitat auch in
den 'Betrachtungen' wieder auf: »Wenn es moglichgewesen ware, den Turm
von Babel zu erbauen, ohne ihn zu erklettern, es ware erlaubt worden.«
(Ho 18) Hier ist die Figur des gleitenden Paradoxes am kunstvollsten ent-
wickelt. Die fiir Kafkas Denkverfahren so typische konjunktivische »Un-
moglichkeits«-Bedingung schlagt in eine ethische Bestimmung urn; wenn
etwas Unmogliches moglich gewesen ware, ware es erlaubt worden. Und
doch legt diese Schwenkung ins Absurde alles das frei, worauf die verschie-
denen Turmzitate einzeln hinzudeuten suchen: den Turm bauen, ohne ihn
zu erklettern, heiBt, ihn als Schacht umstiilpen, ihn als Tunnel ins Richtungs-
und Bestimmungslose vorantreiben; das Herausgleiten aus der logischen
Folge (hauen, ohne ihn zu erklettern) legt eine Bedeutungsabweichung
frei. Damit wird der Himmelssturm umgedacht in richtungslose Innerlich-
keit; die durch die paradoxen Bedingungen des Turmbaus entbundene Ent-
wirklichung deutet auf jenen »Nicht-Bau«, der der eigentliche Bau des
Turmes ist - wie auf jene Pappel, die bald als Noah, bald als Turm er-
scheint und doch nichts enthiillt als die Namenlosigkeit der Dinge. (BK 42)
Erst wenn man den verschiedenen Umkehrungen und Ablenkungen folgt,
die Kafka, oft iiber Jahre hinweg, an einem einzigen, durch die Tradition in
seiner Bedeutung fixierten Motiv vornimmt, zeigt sich dieses Verfahren in
alIer Scharfe; er kehrt das Oberlieferte keineswegs bloB urn, wei! sich dem
iiberraschend Verfremdeten so ein neuer Reiz abgewinnen lieBe; er drangt es
vielmehr durch oft minimale Abweichungen aus dem herkommlichen Be-
deutungs- und Verweisungssystem heraus. 1m entstellten Zitat, den gleiten-
den, nie fixierten Obergangen von einer Bestimmung zur anderen gelingt es
Kafka, in einem Motiv zwar keinen eindeutigen Sinn zu offnen, wohl aber
neue Sinnmoglichkeiten zu kumulieren.
Das dritte Verfahren Kafkas, begrifflich nicht Denkbares auf seine Weise
durch das gleitende Paradox zu legitimieren, besteht in der »entfremdenden
Metapher«. Deutlich laBt sich dieses Verfahren an der Betrachtung Nr. I
erlautern :

64) Vgl. die Metaphorisierung des Motivs in BK 72.


65) Der wichtigste Text fur diesen Zusammenhang ist 'Von den Gleichnissen'.
Dazu die Deutungen von Emrich a. a. o. S. 97; Politzer a. a. O. S. 42; Beda Alle-
mann und Helmut Arntzen ZfdPh. 83 (1964) Sonderheft S. 97-113; Dieter Hassel-
blatt: Zauber und Logik. Eine Kafka-Studie. - Koln 1964.
659 Umkehrung und Ablenkung: Franz Kafkas »Gleitendes Paradox« 659

Der wahre Weg geht tiber ein Seil, das nicht in der Hohe gespannt ist, sondern
knapp tiber dem Boden. Es scheint mehr bestimmt stolpern zu machen, als be-
gangen zu werden. (Ho 39)

Kafka setzt mit seiner Denkbewegung wie so haufig bei Vertrautem ein.
Der »Weg« ist eines der zentralen Motive der Bibe1, taucht dort an die vier-
hundertmal auf. Kafka benutzt die ge1aufige Vorstellung yom breiten Weg,
der zur Holle fuhrt, und dem schmalen, der der »wahre« ist 66), zu einer meta-
phorischen Transposition in das bei ihm ge1egentlich auftauchende Zirkus-
milieu 67). Die beinahe schon zum Begriff verblaBte Vorstellung des »Weges«
wird damit zunachst in einen deutlichen Bildzusammenhang gesetzt. Sie
wird wortlich genommen - und dann, durch eine plotzliche Drehung, um-
gesturzt. Das Bild gleitet in eine paradoxe Vorstellung hinein: das Seil, als
ein wenn auch schmaler Weg gedacht, wird zum quer gespannten Stolper-
draht. Wie der erste Schritt kafkaschen Denkens die Auflosung herkomm-
licher Denkschemata betrifft, so lockt auch das kafkasche Bild von ge-
laufigen und »erwarteten« Vorstellungen weg; es erzwingt eine Abwendung
yom »wirklichen«, der Erfahrung nach »stimmigen« Sachverhalt. Dabei
bleibt der konventionelle Bedeutungsbezug (die symbolische oder allego-
rische Ladung 68)) aus. Es wird nicht gesagt, woher der Weg kommt, nicht,
wohin er fUhrt, schon gar nicht, ob er etwas bedeutet, sondern nur dies, daB
er ungangbar »scheint«. Der zweite Satz der Betrachtung, der sich in die-
sem »scheint« als Deutungsversuch des ersten zu erkennen gibt, widerruft
die Definition dieses ersten Satzes, lenkt von der eingeleiteten Denk- und
Bildbewegung abo Bild und Gedanke zeugen von derse1ben »Konsequenz«
des Denkens, nach der Robinson gefunden wird, wenn er »nicht sucht«.
Diese Desorientierung des Lesers mit dem Zie1, durch die Zerstorung der
Bildvorstellung und die Pervertierung herkommlicher Denkablaufe einen
Verstehensraum zu offnen, in dem Kafka seine eigene »Konsequenz des Den-
kens« zu entwickeln vermag, ist in dem Text 'Von den Gleichnissen' gerade-
zu programmatisch gestaltet worden 65).
Nirgends wird diese eigenartige »Konsequenz des Denkens« deutlicher
als dort, wo Kafka die eben beschriebene Pseudo-Metaphorik nicht mehr
bloB in einen Text einbaut, sondern isoliert und um des in ihr wirksamen,
fUr seine Denkweise so typischen Bezuges willen herausstellt, wie in der Be-
trachtung Nr. 87: »Ein Glaube wie ein Fallbeil, so schwer, so leicht.« (Ho
50) 69) Offenbar kommt es ihm hier bloB noch auf diese besondere Art der

66) Wohl zurtickgehend auf Jesus Sirach 21, II.


67) Erstes Leid (Erz 241 ff.), Ein Hungerktinstler (Erz 255 ff.), Auf der Galerie
(Erz 1 Hff.).
68) Vgl. dazu Emrich a.a.a. S. 74ff.
69) Ahnlich strukturiert ist Betr. Nr. 15: »Wie ein Weg im Herbst: Kaum ist er
rein gekehrt, bedeckt er sich wieder mit den trockenen Bliittern.«
659 Gerhard Neumann 659

»Beziehung« an, die zwischen den beiden Polen des »Bezeichneten« und des
»Bezeichnenden« innerhalb des metaphorischen Verhaltnisses besteht, eine
Beziehung, die nicht Ahnlichkeiten ausdruckt, sie auch nicht stiftet, sondern
der Entfremdung dient, die zur Annulierung des Bezuges fuhren kann. Der
Vergleich Glaube - Fallbeil ruckt fur die gelaufige Assoziationstradition
in die Nahe des Oxymorons; Paradoxien des Glaubens sind unter den ver-
schiedensten Voraussetzungen von Sebastian Franck und Pascal bis bin zu
Kierkegaard belegt 70). Aber Kafka laBt es bei dem einen, auf den ersten
Blick verbluffend und geistreich scheinenden Paradox des Glaubens, der
einem Fallbeil gleicht, nicht bewenden. Er faltet das Unvereinbare in ein
neues Paradox auseinander; indem er das Unbegreifliche der Zusammen-
stellung von Glaube und Fallbeil erlautert (»so schwer, so leicht«), des-
orientiert er den Leser erst recht. Freilich geschieht dies in verschiedener
Weise; einerseits laBt sich der Satz als »klassisches« Paradox lesen 71), als
scheinbar widersinnige Aussage, die sich bei naherer Betrachtung als rich-
tig erweist: Je schwerer das Fallbeil ist, desto leichter sturzt es herab. Die
Erliiuterung »so schwer, so leicht« laBt sich ohne weiteres freilich nur auf das
Fallbeil beziehen, nicht so zwangslos auf den Glauben; dadurch drangt sie
aber diesen unvermerkt aus dem Blickfeld des Lesenden. Die oberfliichliche
Stimmigkeit der Behauptung, ein Fallbeil sei um so leichter, je schwerer es
sei, lenkt von dem Grundbezug Glaube - Fallbeil, der doch ursprunglich
gesetzt war, abo Nun ware es aber gerade nicht in Kafkas Sinne, wenn sich
der Leser bei dieser oberfliichlichen, die tiefere Beziehung verstellenden
Stimmigkeit beruhigte. Der zweite Versuch, den Satz zu lesen, muB dies ge-
gen die rhetorische Verschleierung tun, er muB von der entfremdenden
Funktion der Kafkaschen Metaphorik ausgehen. Zwar stiftet das nachtrag-
lich dem Verhaltnis Glaube - Fallbeil pradizierte Paradox des »Schwer-
und-leicht-seins« eine vordergrundige Gemeinsamkeit; diese Gemeinsam-
keit aber wird sofort als ablenkende Motivation (Ho 49) erkannt, sobald
man den zugrundeliegenden Vergleich scharfer ins Auge faBt. Der Glaube
wird zur Guillotine verkehrt, das vordergrundige, los bare Paradox wird
durch das ihm zugrundeliegende, unlosbare fOrmlich »gekopft«. Jede Re-
duktion ist fur Kafka eine Komplikation; der vertrautere Widerspruch lenkt
von dem unvertrauten nur solange ab, bis der desorientierte Leser um so

70) Vgl. Anm.6. AuBerdem noch Kierkegaard: Philosophische Brocken.


A.a.O. S. 34-52.
71) Scheinbar widersinnige, da der allgemeinen Meinung und Kenntnis wider-
sprechende Behauptung, die sich jedoch bei niiherer Betrachtung als richtig er-
weist: In diesem Sinne Schilder a. a. 0., der einen Dberblick tiber die Begriffsge-
schichte gibt (S. 3-86); ftir die Tradition vgl. auch die Stichworter »paradoxum«
und »admirabile« in Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik.
Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. - Mtinchen 1960.
659 Umkehrung und Ablenkung: Franz Kafkas »Gleitendes Paradox« 731

sicherer in das Unbegreifliche zurucksturzt. Kafkas Paradoxa entlassen kein


»Drittes«, »Verbindendes« aus sich, sondeen werden im AugenbIick des
scheinbaren Verstehens gekappt; sie gleiten schlieBIich in ein noch weit ver-
trackteres Paradox hinuber. Der Gedankengang wird nicht geradlinig fort-
gesetzt, sondeen abgelenkt. Kafkas Denken vollzieht sich in einem Bereich,
der sich durch Entfremdung von streng formalen Denkprozessen konstitu-
iert. War ihm diese Offnung in dem eben beschriebenen Beispiel durch Kap-
pung der aus dem Paradox sich entwickelnden Denkbewegung gelungen, so
erreicht er dieses Ziel an anderer Stelle durch Auffacherung von Vergleichs-
moglichkeiten:
Eine heikle Aufgabe, ein Auf-den-Fullspitzen-Gehn uber einen bruchigen Balken,
der als Brucke dient, nichts unter den Fullen haben, mit den Fiil3en erst den Boden
zusammenscharren, auf dem man gehn wird, auf nichts gehn als auf seinem Spie-
gelbild, das man unter sich im Wasser sieht, mit den Fullen die Welt zusammenhal-
ten, die Hande nur oben in der Luft verkrampfen, urn diese Muhe bestehn zu kon-
nen. (Ho 313)
Zunachst mag man diese Stelle als eine Stilubung betrachten, als eine
Koppelung von Adynaton und Oberbietungskette zur Schilderung eines
schwierigen Unteenehmens. BefremdIich ist nur, daB es Kafka mehr auf den
Mechanismus des Vergleichens anzukommen scheint, als auf das Er-
schlieBen eines eindeutigen Sinnbezugs. Was eine heikle Aufgabe ist, wird
nicht gesagt; denn die folgenden Siitze scheinen bei niiherem Zusehen nicht
Bescbreibung eines Sachverhalts zu sein - sie sind untereinander durchaus
unstimmig -, sondeen Deutungsversuche jener »Aufgabe«, die dem Satz vor-
ausliegt und als »heikel« bezeichnet wird. Ein vierfacher Deutungsansatz
versucht die Schwierigkeit der Aufgabe wenigstens im Vergleich zu be-
schreiben; aber diese Ansiitze fassen den Sachverhalt nur allenfalls »andeu-
tungsweise« (Ho 45), nie wirklich »vergleichsweise«, sie tasten sich von
Einschriinkung zu Einschriinkung an ihn heran, ohne ihn je zu »treffen«;
was im logischen Bereich als gleitendes Paradox bezeichnet wurde, er-
scheint im bildIichen Bereich als fortschreitende, sich verschiirfende Un-
moglichkeit 72); auch sie wird nicht durch sich gegenseitig veenichtende
starre Antithesen demonstriert, sondeen durch ein Verfahren der entfrem-
denden Ablenkung und unmerklich fortschreitenden Abweichung. Aller-
dings liiuft diesem yom vordergrundigen Verstehen, von der alltiiglichen Er-
fahrbarkeit ablenkenden ProzeB ein anderer parallel: Durch den Abbau der
»Denkbarkeit« offnet sich jener Raum des Verstehens, den Kafka als den
»eigentlichen« (BK 298) zu suchen nie aufhorte. Es ist ein Musterbeispiel fUr
Kafkas gleitende Paradoxien, wenn eine Kette sich steigeender Unmog-

72) »Es gibt so viele Moglichkeiten des Lebens, und in allen spiegelt sich nur
die eine unentrinnbare Unmoglichkeit der eigenen Existenz.« (J anouch S. 108); zu
dec Stelle Ho 3I 3 vgl. die Arbeit von Hillmann, a. a. O. S. 125 f.
732 Gerhard Neumann 659

lichkeiten zugleich als eine Annaherung an jenes »Eigentliche«, logisch nicht


mehr FaBbare, verstanden werden muB. Dabei ist es unzulassig, den Begriff
des »Eigentlichen« im Sinne einer Chiffre fUr etwas zu gebrauchen, das eines
Tages benennbar wird. Kafkas besondere logischeVerfahrensweise sucht sich
ja eben darum von den gelaufigen Mechanismen zu befreien, weil sie mit den
Formen des Resultatdenkens nicht zu Rande kam. Kafka ringt um ein Denk-
verfahren, in dem der Unterschied zwischen Denkregel und gedachtem
Gegenstand nicht mehr relevant ist; nur so rechtfertigt sich die vorliegende
Arbeit uber das gleitende Paradox. Sie hat es nicht mit einer abgelosten
»Methode« zu tun, die durch andere Methoden ersetzt werden konnte. Ein
derartig formalistisches Denken ware bei Kafka vollig unangebracht. Die
Arbeit will vielmehr zeigen, wie man nicht denken darf, wenn man Kafkas
Texte nicht verfehlen will; und sie versucht, in die kafkasche Denkbewe-
gung - die im Grunde eher eine Schreibbewegung ist - einzufiihren; sie
kann nicht Resultate formulieren, sondern nur den Nachvollzug kafkascher
Denkbewegungen erleichtern.
Kafka hat immer wieder auf das UngemaBe traditioneller Denkformen
hingewiesen. So schreibt er einmal im Tagebuch:
Sicher ist mein Widerwille gegen Antithesen. Sie kommen zwar unerwartet, aber
iiberraschen nicht, denn sie sind immer ganz nah vorhanden gewesen; wenn sie un-
bewul3t waren, so waren sie es nur am aul3ersten Rande. Sie erzeugen zwar Griind-
lichkeit, Fiille, Liickenlosigkeit, aber nur so wie eine Figur im Lebensrad; unsern
kleinen Einfall haben wir im Kreis herumgejagt. (Tgb 168) 73)
Das eigentliche Ja und Nein, das Kafka zu sagen hatte, vermogen Anti-
thesen nicht zu fassen; nur indem Kafka den Leser von ihnen ablenkt, kann
er ihn unvermerkt in die eigentumliche »Konsequenz« seines Denkens ein-
fiihren.

IV

Die ersten Abschnitte dieser Arbeit waren dem Versuch gewidmet, an


den kleinsten Elementen kafkascher Prasa, seinen sogenannten »Aphoris-
men« 74), das Besondere seiner Denkbewegung zu demonstrieren. Dies schien
vor aHem darum methodisch angebracht, weil Kafka dort den Weg des Den-
kens selbst gelegentlich zum Gegenstand macht; in seinen groBeren Werken
ist davon sehr sehen die Rede. In den aphoristischen Aufzeichnungen immer
wieder erscheinende Termini wie »Umschwung« (Ho 47), »Antithese«
(Tgb 168),» Ja und Nein« (BK 2.98), »Beweis« (BK 2.92., 2.94), »Widerlegung«

73) Zu dem Spielzeug, auf das Kafka hier anspielt, vgl. Max Brods Anm. Tgb.
701 (= »Lebensrad«).
74) Kafka selbst gebraucht das Wort nie; ein einziges Mal (Ho 360) findet sich
der Terminus »Spruch«.
97* Umkehrung und Ablenkung: Franz Kafkas »Gleitendes Paradox« 733

(BK 294), »Konsequenz des Denkens« (BK 297), »Paradox« (Ho 124), »Moti-
vation« (Ho 49) finden sich in den Romanen und Erzahlungen kaum. Den-
noch bleibt Kafkas eigentiimliche Denkform des gleitenden Paradoxes (mit
den damit eng verkniipften Verfahren der Ablenkung und Umkehrung)
nicht auf die aphoristischen Texte beschrankt. Umkehrung und Ablenkung
erweisen sich als Stilgesetze der kafkaschen Prosa iiberhaupt 75). Das hatte
sich im Laufe der Untersuchungen schon anhand der Kafkaschen Metapho-
rik und ihres Mechanismus zeigen lassen 76). In welcher Verwandlung dieses
Gesetz in einem Text wirksam wird, der iiber das MaB des Aphorismus hin-
ausgeht 77), mag an dem merkwiirdigen Phanomen dessen gezeigt werden,
was Kafka »Bild« nennt. Dazu einige Voriiberlegungen.
Es gibt eine ganze Reihe von AuBerungen Kafkas zum Problem des Bil-
des. Dabei stellen sich Widerspriiche ein. So berichtet Gustav Janouch, Kaf-
ka habe ihm gestanden, seine Geschichten seien »Bilder, nur Bilder« 78); seine
Zeichnungen habe er als »ganz personliche Bilderschrift« (J 79) angesehen,
deren Sinn er nach einiger Zeit nicht mehr zu entziffern vermoge; diesen
AuBerungen widersprechen allerdings andere; so sagt Kafka nach dem Zeug-
nis der gleichen Quelle: »Wir J uden sind eigentlich keine Maler. Wir konnen
die Dinge nicht statisch darstellen.« (J 90) Nun erfahren diese widerspriich-
lichen Aussagen alsbald gewisse Einschrankungen. So kommt Kafka in
diesem Zusammenhang gern auf die Photographie zu sprechen; einem Ein-
wand Janouchs, die Vorbedingung des Bildes sei doch das Sehen und eine
Vorlage, halt er entgegen: »Man photographiert Dinge, urn sie aus dem
Sinn zu verscheuchen. Meine Geschichten sind eine Art von Augen-
schlieBen.« (J 25); und ahnlich reagiert er auf die Frage, ob ein Bild wirk-
lichkeitsgetreu sei wie eine Photographie: »Was falIt Ihnen ein? Nichts kann
Sie so tauschen wie eine Photographie.« (J 91) Vergleichbares sagt er vom
Film: »Das Kino stOrt aber das Schauen ... Filme sind eiserne Fensterladen.«
(J 93) »Das Kino gibt clem Angeschauten die Unruhe seiner Bewegung, die
76) Es spricht manches daftir, daB sich auch die Erzahlungen und Romane Kaf-
kas auf dieses Stilprinzip hin interpretieren lassen. Man denke etwa an folgende
Texte: Der neue Advokat (Erz 145ff.), Auf der Galerie (Erz I 54ff.), Vor dem Ge-
setz (Erz 158ff.), Das nachste Dorf (Erz 168ff.), Eine kaiserliche Botschaft (Erz
169ff.), Ein Bericht fUr eine Akademie (Erz 184ff.), Die Wahrheit Uber Sancho
Pansa (Ho 76f.), Das Schweigen der Sirenen (Ho 78ff.), Prometheus (Ho 100).
76) Dberhaupt scheint die Tendenz der Literaturwissenschaft dahin zu gehen,
zwischen »Dichten« und »Denken« nicht mehr schematisch zu unterscheiden; frei-
lich nicht im Sinne einer kritiklosen Vermischung, sondern aus der Einsicht her-
aus, daB der Begriff des Denkens weiter zu fassen sei, als es die formale Logik zu er-
lauben scheint.
") Heinz Politzer hat mit Recht darauf hingewiesen, daB Kafka »in den 'Be-
trachtungen' .. , die gedankIichen Grundstrukturen seiner Erzahlungen nachge-
zeichnet hat.« (A. a. O. S. 23)'
78) Janouch S. 25 (= im Text kiinftig zitiert als J.).

659
734 Gerhard Neumann 659

Ruhe des Blickes scheint wichtiger ... Warum gibt es keine Vereinigung von
Kinema und Stereoskop ... ?« (Tbg 593f.)79) Diese einander widersprechen-
den AuBerungen £lnden ihre Bestatigung in fragmentarischen Aufzeich-
nungen aus dem Band 'Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande'; auf der
einen Seite schreibt Kafka: »Nichts, nur Bild, nichts anderes, vollige Ver-
gessenheit« (Ho 349), auf der anderen heiBt es (nach 3. Mos. 26, I): »lhr
sollt euch kein Bild - ... « (Ho 352); und Walter Benjamin bestatigt: »Kein
Dichter hat das 'Du sollst dir kein Bildnis machen' so genau befolgt.«80)
Seltsamerweise scheint das negative Urteil, das Kafka durchweg fur die
Photographie bereithalt, ihn nicht daran gehindert zu haben, soIche photo-
graphischen Bilder immer wieder in seinen Romanen und Erzahlungen als
Requisiten zu verwenden 81); offenbar verfolgte er damit einen besonderen,
mit der Ambivalenz soIcher Intarsien rechnenden Zweck. So spielt in der
'Verwandlung' das Bild einer Dame mit einem Pelzhut und einer Pelzboa,
die dem Beschauer einen schweren Pelzmuff entgegenhalt, eine nicht un-
wesentliche Rolle; Gregor Samsa hatte dieses Bild »vor kurzem aus einer
illustrierten Zeitschrift ausgeschnitten« (Erz 71); als sein Zimmer ausgeraumt
wird, sucht er dieses Bild mit allen Mitteln vor dem Zugriff von Schwester
und Mutter zu retten 82). 1m 'Verschollenen' werden wahrend des Essens
Bilder mit Ansichten des Theaters von Oklahoma herumgereicht; das
einzige Bild, das Karl RoBmann zu Gesicht bekommt, stellt die Prasi-
dentenloge dar, deren Hintergrund in geheimnisvoller Leere verdammert.
»Man konnte sich«, heiBt es da, »in dieser Loge kaum Menschen vorstel-
len, so selbstherrlich sah alles aus.« (A 327) Wie schon bei der Dame im
PelZ bleibt auch hier die Funktion dieses in den Gang der Erzahlung einge-
sprengten Bildes durchaus unklar; es erscheint einerseits isoliert, »selbstherr-
lich«, und nur wie durch Zufall dem »Verschollenen« zugespielt, konnte
aber andererseits auch die Funktion eines Bedeutungstragers, eines Vor-
oder Ruckverweises innerhalb des Textes ubernehmen; unverkennbar ist
jedenfalls eines: Ober die Trivialitat dieser Darstellungen, Illustriertenaus-
schnitte, Ansichtskarten oder Reiseprospekte, wie sie in zahllosen Repro-

79) Dber die Beziehung Kafkas zum Kino vgl. Wolfgang Jahn: Kafka und die
Anfange des Kinos. Jb. d. dt. Schillerges. 6 (I962.) S. 353-368. Erganzend und
richtigstellend dann Wolfgang Jahn: Kafkas Roman 'Der Verschollene'. (,Ameri-
ka'). - Stuttgart I 965. (= Germanistische Abhandlungen).
80) A.a.O. Bd. II. S. 2.I7.
81) Vgl. auch Tgb 2.32.: »Gestern abend beim Spazierengehn war mir jedes
kleine StraBengerausch, jeder auf mich gerichtete Blick, jede Photographie in
einem Auslagkasten wichtiger als ich.« Oder: »Liebesszene im Friihling in der Art
der Photographieansichtskarten ... « (Tgb 2.70).
82) Die Deutung dieser Bild-Intarsie steht in dies em Zusammenhang nicht zur
Debatte. Vgl. dazu Heinz Politzers einlaBliche Interpretation (ein »wohlfeiler
Schwundrest von Erotik«) a. a. O. S. II4.
659 Umkehrung und Ablenkung: Franz Kafkas »Gleitendes Paradox« 735

duktionen iiberall verbreitet sind, liBt Kafka keinen Zweifel aufkommen.


Der singularen - wenn auch nicht durchschaubaren - Bedeutung, die diese
BHder fUr den Helden haben mogen, steht ihre anonyme, tausendfach repro-
duzierte Bedeutungslosigkeit gegeniiber 83).
Dieser vorlaufige Befund wird durch das Zeugnis von Bruchstiicken aus
dem NachlaB bestatigt. So heiBt es in einem Fragment:
... Da ich in den Taschen doch eine Karte gefunden hatte, ging ich ins Zimmer,
um zu schreiben, auf der Karte war allerdings keine Ansicht von Paris, sondern
nur ein Bild, es hiefi Abendgebet, man sah einen stillen See, im Vordergrund ganz
wenig Schilf, in der Mitte ein Boot und darin eine junge Mutter mit ihrem Kind
im Arm. (Ho 251)

Offenbar befindet sich der Schreibende in einem Pariser Hotelzimmer.


Urn so seltsamer, daB die Ansichtskarte einin dieser Situation vollig unerwar-
tetes Motiv zeigt, das in seiner trivialen Idyllik - man konnte etwa an Millet
denken - mit ratselhafter Bedeutung geradezu geladen erscheint; in einen
weiteren Zusammenhang fiigt sich diese freilich nicht. Ahnliche Symptome
des Intarsienhaften, nicht Zusammenstimmenden von Bild und Umwelt,
wodurch die Suggestion einer nicht entratselbaren Beziehung in noch viel
starkerem MaBe hervortritt, zeigt ein anderes Beispiel aus den Fragmenten
besonders deutlich:
Vorn an einer Glasscheibe, den Portier ein wenig verdeckend, war ein grofies aus
einer illustrierten Zeitschrift ausgeschnittenes Bild geklebt, ich trat naher, es war
ein offenbar italienisches Stadtchen, den grofiten Teil des Bildes nahm ein wilder
Bergstrom mit einem machtigen Wasserfall ein, die Hauser des Stadtchens waren
an seinen Ufern eng an den Bildrand gedruckt.
Ich griifite den Portier und sagte, auf das Bild zeigend: »Ein schones Bild, ich
kenne Italien, wie heWt das Stadtchen?« »Ich weW nicht«, sagte er, »die Kinder aus
dem zweiten Stock haben es in meiner Abwesenheit hier aufgeklebt, um mich zu
argern ... « (Ho 262)

Inwiefern vermag den Portier ein vollig gleichgiiltiges Photo eines ita-
lienischen Stadtchens zu verargern? Das Bild »gehort« aus einem nicht ge-
klarten Grund augenscheinlich nicht hierher und fordert gerade dadurch
urn so starker zu Dberlegungen heraus, was es denn damit auf sich habe; es
wird als ein Fremdkorper empfunden und provoziert den Unwillen seiner
Umgebung. Es lOst Deutungsreize aus, ohne sie zu befriedigen.
Grenzfalle dieser Art von Bild-Einsprengseln sind Gemiilde, wie die
schon erwahnte 'Alexanderschlacht' (Ho 50), der Traum von einem angeb-
lichen Ingres-Gemiilde (Tgb 168), das )>unanstandige« Bild auf dem Richter-
tisch im 'ProzeB' (P 67), das Bild in der Wohnung des Advokaten, von dem
Leni beteuert, es konne dem Portratierten »niemals auch nur ahnlich gewe-

83) Eine Variante dilzu bildet die 'Alexanderschlacht' des Philoxenos, die als eine
durch ihre Umwelt trivialisierte Reproduktion erscheint. (Vgl. oben Abschnitt II.)

659
659 Gerhard Neumann 100*

sen sein« (P 132), die Richter-Portriits des MaIers Titorelli (P 175 f.) und vor
all em seine Heidebilder, die, obwohl Olgemalde, in einer ganzen Reihe von
vollig identischen Exemplaren in Erscheinung treten.
»Das Motiv scheint Ihnen zu gefallen«, sagte der Maler und holte ein drittes Bild
heraus, »es trifft sich gut, daB ich noch ein ahnliches Bild hier habe.« Es war aber
nicht ahnlich, es war vielmehr die v6llig gleiche Heidelandschaft. (P 196f.)
Auch hier bleibt die Funktion dieser aus unerfindlichen Grunden vollig
schematisch reproduzierten Bilder mit dem Trivialmotiv der Heideland-
schaft ganzlich undurchschaubar. Eines aber ist allen diesen Beispielen ge-
meinsam. Sie scheinen von dem Zusammenhang, in dem sie stehen, eher
abzulenken, als auf ibn hinzudeuten, oder gar ibn zu klaren, sie stehen oft
sogar im Widerspruch zu ihrer Umgebung, treten vollig unerwartet in sie
ein und »falIen« eben deshalb »aus ihr heraus«; als ihr entscheidendes Merk-
mal entpuppt sich die Trivialitat des Motivs und seine beliebige Reprodu-
zierbarkeit. Obwohl nun aber Kafka einerseits diese Trivialitat mit allen
Mitteln zu suggerieren sucht, fehlt andererseits das bestimmende Kenn-
zeichen aller Trivialitat: die plane, einleuchtende Verstandlichkeit, die un-
mittelbare, primitive Symbolik, der Plakatcharakter eines Illustriertenpho-
tos oder einer Ansichtskarte. Das Trivialsymbol ist in sein Gegenteil, das ab-
solute, freilich auch tiefen- und geheimnislose Ratsel verkehrt. Das durch
Heraus16sung aus allen konventionellen Bezugen seines Trivialsinns ent-
kleidete Bild widersetzt sich der Deutung auf geradezu exemplarische Wei-
se 84), da es auGer dem plumpen Etikett - das ihm genommen ist - keine An-
haltspunkte mehr fur eine hintergriindige Deutung bietet.
Wie Kafka durch Ablenkung und Umkehrung im gleitenden Paradox
die »trivialen« Denkgesetze zerbricht, so stort er mit den gleichen Mitteln
die »trivialen« Bildgesetze, daB namlich Bild »Abbild« von etwas oder »Vor-
bild« fur etwas sein musse. 1m Verfahren der Ablenkungen und Umwertun-
gen wird es dem Leser unmoglich gemacht, zwischen Abbild, Urbild und
Zerrbild zu unterscheiden. Kafkas Welt besteht zwar aus lauter alltaglichen,
oft trivialen Dingen; den Lesegewobnheiten des Triviallesers aber kommen
seine Texte nirgends entgegen, im Gegenteil: Sie nutzen diese Gewohnhei-
ten als ein Mittel, durch Enttiiuschung der Leseerwartung (das Hinaus-
laufen auf einen praktikablen Sinn, das Heraustreten einer Bedeutung aus
einem Bild) den Leser aus seinen Denk- und Bildschematismen herauszu-
fiihren.
Alle genannten Merkmale kafkascher »Bildlichkeit« finden sich in einem
Paralipomenon zu der Reihe 'Er' vereinigt, das am z. Februar 1920 ent-
standen ist:

84) Vgl. dazu Emrich a. a. O. S. 78, der fUr Allegorie, Symbol und Parabel das-
selbe Phanomen konstatiert.
101* Umkehrung und Ablenkung: Franz Kafkas »Gleitendes Paradox« 737

Er erinnert sich an ein Bild, das einen Sommersonntag auf der Themse darstellte.
Der FluB war in seiner ganzen Breite weithin angeftillt mit Booten, die auf das
Offnen einer Schleuse warteten. In allen Booten waren frohliche junge Menschen
in leichter heller Kleidung, sie lagen fast, frei hingegeben der warmen Luft und
der Wasserktihle. Infolge alles dieses Gemeinsamen war ihre Geselligkeit nicht
auf die einzelnen Boote eingeschrankt, von Boot zu Boot teilte sich Scherz und
Lachen mit.
Er stellte sich nun vor, daB auf einer Wiese am Ufer - die Ufer waren auf dem
Bild kaum angedeutet, alles war beherrscht von der Versammlung der Boote - er
selbst stand. Er betrachtete das Fest, das ja kein Fest war, aber das man doch so
nennen konnte. Er hatte nattirlich groBe Lust, sich daran zu beteiligen, er langte
fOrmlich danach, aber er muBte sich offen sagen, daB er davon ausgeschlossen war,
es war flir ihn unmoglich, sich dort einzuftigen, das hiitte eine so groBe Vorberei-
tung verlangt, daB dartiber nicht nur dieser Sonntag, sondern viele Jahre und er
selbst dahingegangen wiire, und selbst wenn die Zeit hier hiitte stillstehen wollen,
es hiitte sich doch kein anderes Ergebnis mehr erzielen lassen, seine ganze Ab-
stammung, Erziehung, korperliche Ausbildung hiitte anders geflihrt werden mtis-
sen.
So weit war er also von diesen Ausfltiglern, aber damit doch auch wieder sehr
nahe und das war das schwerer Begreifliche. Sie waren doch auch Menschen wie
er, nichts Menschliches konnte ihnen vollig fremd sein, wtirde man sie also durch-
forschen, mtiBte man £lnden, daB das Geflihl, das ihn beherrschte und ihn von der
Wasserfahrt ausschloB, auch in ihnen lebte, nur daB es allerdings weit davon ent-
fernt war, sie zu beherrschen, sondern nur irgendwo in dunklen Winkeln geisterte.
(Ho 420)
Das »Er« dieses Textes - ein verkapptes »Ich« wie in allen Betrachtungen
dieser Reihe - erinnert sich eines Bildes, bei dem nicht unbedingt zu ent-
scheiden ist, ob es sich um eine Photographie oder um ein Gemalde han-
delt; yom Motiv her, einer FluBidylle, ware das eine wie das andere denk-
bar. 1m ersten Abschnitt des Textes wird dieses BiId aus der Erinnerung be-
schrieben; der Beginn des zweiten versucht einen Einbezug des betrachten-
den Ich in den Bildzusammenhang, analog jenem Versuch des »Schi.i1ers« im
Schulzimmer, das Bild der Alexanderschlacht durch eigene Taten zu ver-
dunkeln (Ho 50); das Bild der FluBlandschaft wird als Vorbild verstanden,
dem das betrachtende Ich sich einzugliedern und zu unterwerfen sucht.
Dieser Versuch zeigt sich indes zunehmend von bedingenden und ein-
schrankenden Dbedegungen erschwert; die yom eigentlichen und ganz ele-
mentaren Wunsch der Teilnahme an dies em Fest ablenkenden »Motiva-
tionen« - es sind geradezu riihrend minuziose Denkiibungen 85) - drangen
das Ich schliefilich aus dem Bildrahmen wieder hinaus und lassen die Identi-
fikation scheitern. Aus der »Betrachtung« des Bildes entwickelt sich ein

86) »Er hatte nattirlich groBe Lust ... aber er muBte sich offen sagen ... das hiitte
eine so groBe Vorbereitung verlangt ... und selbst wenn die Zeit hier hiitte still-
stehen wollen, es hiitte ... Sie waren doch auch Menschen ... wtirde man sie also
durchforschen ... « (s.o. Ho 420). Zum Begriff des »Minuziosen« vgl. den Anhang
dieser Arbeit.
659 Gerhard Neumann 102*

Denkvorgang, der in einer Abfolge von Bedingungen, Moglichkeiten und


Restriktionen schlieBlich Einsicht in die» U nmoglichkeit« (J 108) der eigenen
Existenz fiihrt, die an der Abweichung von dem Bild und der miBgluckten
Konfrontation erfahren wird.
Der dritte und letzte Abschnitt des Textes steht dann unter dem Gesetz
jener Denkfigur des gleitenden Paradoxes, das sich als das grundlegende
Verfahren der kafkaschen »Logik« zu erkennen gegeben hatte. Das Verhalt-
nis des betrachtenden Ich zu dem Bild mit den frohlichen Ausfluglern, das
weder ein Verhiiltnis der Anpassung noch das einer Identifikation oder
Nachahmung oder gar das eines glatten Widerspruchs ist, wird in wieder-
holten Umkehrungen auf die Probe gestellt. Der Betrachtende, so heiBt es,
ist weit weg von dem Bild und ihm doch auch wieder sehr nahe; der Denk-
prozeB, der sich an diese widerspruchliche Einsicht anschlieBt und das
»schwer BegreifIiche« zu klaren versucht, kommt zu keinem schlussigen
Ende. Er erweist bloB die Unmoglichkeit einer Beziehung im herkomm-
lichen Sinne zwischen dem betrachtenden Ich und den Menschen auf dem
FluB. Das Paradox gleitet nun in eine weitere Phase hinuber; aus dem
strengen Denkschritt, den alle Lehrbucher der Logik in dem Satz vom
sterblichen Sokrates mit schaner RegelmaBigkeit nachsprechen, daB nam-
lich, was allen Menschen pradizierbar sei, dem Einzelnen, insofern er
Mensch ist, auch zukommen musse, wird das kafkasche »Gedankenrad« 73).
Das in der Beziehung von Bild und Betrachter entstehende »Grenzland
zwischen Einsamkeit und Gemeinschaft« (Tgb 548), in dem eine Aussohnung
unmoglich wird, findet hier im Denken sein Analogon im Unmoglichwer-
den des syllogistischen Schritts von der Gesamtheit zum Einzelnen, des
Schlusses vom Gluck aller auf das Gluck des Einzelnen (damit aber auch
umgekehrt vom Ungluck des Einzelnen auf ein Verstandnis dieses Gefuhls
bei anderen); das Urschema der Logik, der SchluB vom Allgemeinen auf
das Besondere, wird durch minimale Abweichungen und Gewichtsverlage-
rungen gestOrt; die Antithesen (hier durch das Bild und den einzelnen Be-
trachter, das Kollektiv und das isolierte Ich reprasentiert) erscheinen als
»optische Tauschung« des Denkens, sie werden gegenstandslos vor einem
Denken, das ihre Vertauschbarkeit und Ablenkbarkeit erfahrt: Der SchluB,
das Gefiihl, das den einen beherrscht, musse auch in allen anderen gefunden
werden, erweist sich als fragwurdig. Die Unwagbarkeiten dieses Verhalt-
nisses verwischen die starre Antithetik syllogistischer Verfahrensweise; nur
in den allmahlichen Ubergangen zwischen dem Einzelnen und dem Allge-
meinen, den gleitenden Widerspruchen zwischen dem unglucklichen rch
und den glucklichen Ausfluglern gestaltet sich die Wahrheit dieses Augen-
blicks, dieses Verhaltnisses von Bild und Betrachter.
Das Bild, an das der Betrachtende sich erinnert, ist fur ihn kein Trager
klar umrissener Bedeutung mehr; es spricht in seiner Trivialitat zu ihm, aber
103* Umkehrung und Ablenkung: Franz Kafkas »Gleitendes Paradox« 739

wovon es spricht, das ist nicht zu sagen und vielleicht auch nicht der Rede
wert. Er kann in das Bild nicht eintreten, er kann es nicht durch seine Taten
verdunkeln (Ho 50), er kann sich freilich auch nicht davon lOsen. Indem er
es zum Gegenstand der »Betrachtung« macht, befreit er sich durch das Ver-
fahren des Denkens im gleitenden Paradox, durch Vermutungen, Erwa-
gungen und Umkehrungen yom logischen Trivialschema und lOst paral-
lel dazu das Bild aus seinen konventionellen Bezugen des Abbildungs- 86)
und des Vorbild-Zwangs. Die Denkgewohnheiten der formalen Logik und
die Bildgewohnheiten des Triviallesers ausnutzend, sie durch Ablenkungen
und Verkehrungen storend und schlieBlich auGer Kraft setzend, gelangt
Kafka zu jener Leere, die man vorschnell als Ausdruck des Nihilismus ge-
deutet hat; sie ist nichts weniger als das; in ihr erst konstituiert sich jene
»Verwirrung oder Hochstempfindlichkeit der Sinne« (Ho 73), von der Kafka
einmal spricht. Seine Figuren tun, wie Musil, einer seiner fruhesten Kritiker,
zutreffend schreibt, »lauter unvollendbare Dinge, die von der Welt aus ge-
sehen wie abgerissene Drahte in sie hineinhangen und (denken) lauter Ge-
danken, die (sie) selbst nicht (vollenden)«81). Freilich ist alles dies nur von
der Welt aus gesehen. Nur von ihr aus erscheint die Logik, die nicht zum
Ziel kommt, als »abgerissener Draht«88). Kafka selbst war uberzeugt da-
von, daB es fur ihn einen Ort und Standpunkt geben muBte, zu dem er durch
Abschutteln der herkommlichen Denkgewohnheiten und Bildklischees zu
gelangen vermochte; einen Bezirk, wo Denken nicht mehr ein Regelgefuge
war, mit dem sich etwas auGer ihm Liegendes einfangen lieB, sondern wo
Denken und Leben identisch wurden; man hat darum versucht, Kafkas
Schreiben als »existentiell« zu bezeichnen 89) und es damit dem MiBver-
standnis ausgesetzt, es gehore in den Umkreis der Existenzphilosophie 90).

86) Ein Beispiel fur Kafkas Ausweichen vor allem Analogie-Denken (das ja je-
dem dichterischen Bild zugrunde liegt) gibt Betr. Nr. 84.
87) Robert Musil: Tagebucher, Aphorismen Essays und Reden. Hrsg. Adolf
Frise. - Reinbek bei Hamburg 1955. S. 688.
88) In diesen Zusammenhang geharen die wichtigen Siitze aus dem 4. Oktav-
heft: »Neben seiner Beweisftihrung geht eine Bezauberung mit. Einer Beweisfuh-
rung kann man in die Zauberwelt ausweichen, einer Bezauberung in die Logik,
aber beide gleichzeitig erdrucken, zumal sie etwas Drittes sind, lebender Zauber
oder nicht zerst6rende, sondern aufbauende Zerstarung der Welt.« (Ho 125) Vgl.
dazu die in mancher Hinsicht originelle, aber wirre Studie von Dieter Hasselblatt:
Zauber und Logik. Eine Kafka-Studie. - Kaln 1964.
89) Vgl. dazu vor allem Bense a.a.O. etwa S. 4off.
90) DaB Kafka mit keiner philosophischen Schule identifizierbar ist, scheint hin-
liinglich erwiesen; inwieweit er mit seinen Bemuhungen urn eine ursprunglichere
- vielleicht sogar der Gegenstandsstruktur angeniiherte oder mit ihr identische -
Logik Zuge existentialistischen Philosophierens triigt, ist bisher noch nicht zu-
liinglich gekliirt. Benses Buch (a. a. 0.) ist ein Versuch, diesem schwierigen Problem
nachzugehen.
740 Gerhard Neumann 659

Wenn Kafka von »Leben« spricht, so meint er dies offenbar durchaus im


Gegensatz zur »Logik«: sie miisse durch das Leben ausgeloscht werden:
»Die Logik ist zwar unerschiitterlich, aber einem Menschen, der leben will,
widersteht sie nicht«, heiBt es am SchluB des 'Prozesses' (Pr z7z); der
Denk-ProzeB der Logik versagt vor dem, was Kafka »Leben« nennt, und
unter dem er im Grunde nur eines verstand: Schreiben, den Buchstaben des
Textes mit »sich«, mit seinem Ich ganz auszufiillen. Freilich gelang es ihm
nie, sich wegzuwenden »im ruhigen BewuBtsein, diese Worte ganz mit
sich erfiillt zu haben«. (Tgb 34) Das stets wiederkehrende Zeichen dafiir,
daB er diese einzige Aufgabe noch nicht bewaltigt hatte, war ihm der
Schmerz: »Der beurteilende Gedanke qualt sich durch die Schmerzen, die
Qual erhohend und nichts helfend empor. Wie wenn im endgiiltig verbren-
nenden Hause die architektonische Grundfrage zum erstenmal aufgeworfen
wiirde.« (Ho Z3Z)

AN HANG

Aus dem hier Dargelegten ergibt sich ein Hinweis fiir das Verstandnis
des kafkaschen Humors. Dieses Phiinomen hat schon friih die Interpreten
beschaftigt. Auf eine der ersten Charakteristiken von Felix Weltsch, Kafkas
Jugendfreund, folgte eine gauze Reihe weiterer Darstellungen 91). Die Span-
ne der Deutungen reicht vom religiOsen iiber den grotesken bis zum chapli-
nesken Humor 92). Das »Komische« im engeren Sinne und seine moglichen
Griinde sind nie befriedigend untersucht worden, obwohl Kafka selbst eine
sehr seltsame Definition des »Komischen« gibt: »Das eigentlich Komische
ist freilich das Minutiose ... « (S 4Z5) Zwar kommen alle genannten Darstel-
lungen iiber den Humor Kafkas auch auf das Problem des Komischen zu
sprechen, aber sie suchen durchweg die befremdliche Definition Kafkas auf
den iiberlieferten Begriff des Komischen hin zu korrigieren 93). Aus der vor-
91) Felix Weltsch: Religioser Humor bei Franz Kafka. Ais Anhang zu Max Brod:
Franz Kafkas Glauben und Lehre. Kafka und Tolstoi. Eine Studie. - Miinchen
1948; ferner: H. S. Reiss: Franz Kafka's Conception of Humour. The Modern
Language Review 44 (1949). S. 534-54z; A.G. Toulmin: Humor in the Works of
Kafka. Sommerville College, Oxford 1951; Marthe Robert: L'humour de Franz
Kafka. Revue de la Pensee Juive 6 (1951); H. S. Reiss: Franz Kafka. Eine Betrach-
tung seines Werkes. - Heidelberg 195 z. Darin: Das Komische bei Kafka. S. 152 If. ;
Jean Collignon: Kafka's Humor. Yale French Studies 16 (1955/56). S. 53-62; er-
neut F. Weltsch: Religion und Humor im Leben und Werk Franz Kafkas. - Berlin-
Grunewald 1957; darin S. 78-96. V gl. auBerdem Emrich a. a. O. S. 96 und Anm. 71.
92) Dazu Weltsch a.a.O. passim; Wolfgang Kayser: Das Groteske. Seine Ge-
staltung in Malerei und Dichtung. - Oldenburg und Hamburg 1961. z. Auflage.
S. 157-161, Z20-2ZI; W. Jahn: Jb. d. dt. Schillerges. a.a.O.
9S) SO auch Brod: Franz Kafka. Eine Biographie. - Frankfurt 196z. S.217.
Emrich a. a. O. Anm. 72 verweist auf den wichtigen frUhen Brief an Oskar Pollak
105 * Umkehrung und Ablenkung: Franz Kafkas »Gleitendes Paradox« 741

liegenden Darstellung des kafkaschen Verfahrens der Umkehrung dagegen


ergibt sich die Moglichkeit, jene Behauptung Kafkas, das eigentlich Komi-
sche sei das »Minutiose«, unmittelbar zu legitimieren. Dabei ist freilich ein
kurzer Riickblick auf die gelaufigen Versuche, das Komische zu definieren,
nicht zu vermeiden; es geht bei dies em Oberblick nicht urn einzelne Fein-
heiten, sondern urn die Herausarbeitung eines allen Autoren gemeinsamen
Grundschemas.
So hatte Kant versucht, das Komische als das »Lacherliche« zu fassen und
als einen Affekt zu beschreiben, der »aus der plotzlichen Verwandlung einer
gespanoten Erwartung in nichts« resultiert 94); Jean Paullegt seinen iiberaus
scharfsichtigen AuBerungen diese kantische Auffassung insofern zugrunde,
als auch er einen im Subjekt zum BewuBtsein gelangenden Kontrast an-
nimmt; er verweist auf Aristoteles und seine Definition von der >mnschad-
lichen Ungereimtheit«96), spricht von »Zwiespalt«, einer »Ehe des Unahn-
lichen« und einem »Syllogismus der Empfindung«96) und bringt das be-
riihmte, wenn auch in dieser Form bei Cervantes gar nicht belegte Beispiel
von Sancho Pansa, der eine Nacht zitternd iiber einem seichten Graben ver-
bringt, weil er glaubt, ein Abgrund klaffe unter ihm. »Warum lachen wir
gleichwohl? ... wir leihen seinem Bestreben unsere Einsicht und Ansicht
und erzeugen durch einen solchen Widerspruch die unendliche Ungereimt-
heit«97); Jean Paul modifiziert also den realen Kontrast in einen schein-
baren 98); die Tatsache des Widerspruchs bleibt aber auch bei ihm unveran-
dert bestehen. Friedrich Schlegel in einer erst 1957 wieder zutage gekom-
menen Rezension 99) emanzipiert zwar das Komische von allem Stofflichen,
halt aber unverandert an der Kontrastvorstellung fest: »Sonach griindet sich
auch das Komische auf den Widerspruch des Wesens mit sich selbst (auf den
Kontrast der Absicht und der Handlung, der Vorstellung oder Einbildung
und des wirklichen Seins) ... «100). Spater begriindet dano Schopenhauer

(Br 19) und differenziert die tibliche Komikauffassung. Aber auch er halt daran
fest, daB das Lachen »Freiheit von der Erde« bedeute: »Die Komik entsteht also
durch einen Bruch mit aHem Gegebenen« (S. 426); es gebe keinen normativen
»Rahmen« mehr, aus dem der »Lacherliche« herausfaHen k6nne; insofern reiche
die tiberlieferte asthetische Definition nicht mehr aus.
") Werke in sechs Banden. Hrsg. Wilhelm Weischedel. - Darmstadt 1956ff.
Bd. V. S. 437. (Kritik der Urteilskraft A 223, B 226).
95) Poetik V.
96) Jean Paul: Werke. Hrsg. Norbert Miller. - Miinchen 1959ff. Bd. V, S. 104
bis II I. (Vorschule der Asthetik § 26.)
97) Jean Paul a.a.O. S. IIO.
98) Ebda S. II3.
99) V gl. Ernst Behler: Eine unbekannte Studie Friedrich Schlegels tiber Jean
Pauls 'Vorschule der Asthetik'. Die Neue Rundschau 54 (1957). S. 646ff.
100) A. a. o. S. 664.
742 Gerhard Neumann 106*

seine Deutung des Komischen mit dem »plotzlich hervortretenden Wider-


streit zwischen dem Angeschauten und dem Gedachten« 101). Diese Auffas-
sung ist fUr den vorliegenden Zusammenhang besonders wichtig, da Scho-
penhauer das Komische aus der Lust am miihelosen Anschauen der Dinge
ableitet, wobei ihm das Lachen als ein Triumph der nichtdenkenden (»tieri-
schen«) Natur des Menschen iiber seine logische erscheint. Auf Kant und
Schopenhauer berufen sich dann Th. Lipps, Kuno Fischer und Th. Vi-
scher 102); sie alle sprechen yom »komischen Kontrast«, yom »Vorstellungs-
kontrast« und von »willkiirlicher Verkniipfung«103).
Sigmund Freud versucht dann, die kantsche Auffassung von der Auf-
16sung einer gespannten Erwartung in nichts mit dem schopenhauerschen
Lustgewinn aus dem Verzicht auf Logik zu verkniipfen; er definiert be-
kanntlich das Komische als die Folge einer »Ersparnis an psychischem Auf-
wand« 104); auch bei ihm also resultiert das Komische aus einer Diskre-
panz 105). Eine spezifisch literarisch bestimmte Beschreibung des Phiino-
mens - die alle wesentlichen Auffassungen zu integrieren versucht - gibt
schlieBlich Emil Staiger in seinen 'Grundbegriffen der Poetik' 106); er spricht
von einem Verhaltnis zweier Ebenen, »zwischen denen das Lachen sich ab-
spielt« und der »Fallhohe« zwischen diesen beiden Ebenen, aus der die Ko-
mik resultiert. Ein analoger Kontrast entstehe dann, wenn »das Faktische
einen geringern Aufwand an Spannkraft erfordert als das Entworfene, daB
dieselbe Anstrengung, die einen Entwurf zu bewahren sucht, sich plotzlich
als iibersetzt erweist« 107): »Der Komiker spannt, um zu entspannen.« 108)
AIle Theoretiker des Komischen scheinen sich darin einig zu sein, daB
der Komik ein Widerspruch zugrunde liege, sei er nun in der Hierarchie der
Dinge 109) oder im Subjekt selbst begriindet, eine unschiidliche Ungereimt-
heit, ein irgendwie gearteter Kontrast, eine »Ehe des Unahnlichen«, eine
Inkongruenz oder Nichtiibereinstimmung von »Erwartung und Erfilllung«,

101) Schopenhauers samtliche Werke. Hrsg. Max Frischeisen-Kohler. - Berlin

o. J. Bd. III, S. 103. (Die Welt als Wille und Vorstellung. II. Erganzungen zum
ersten Buch. Kap. 8.)
102) Eine abwagende Zusammenfassung der verschiedenen Deutungsversuche

gibt Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewufiten. Gesam-
melte Werke, chronologisch geordnet. - London 1940. Bd. 6. S. 5 ff.
103) Kraepelin, zit. von Freud a. a. O. S. 8.

104) Freud a.a.O. S. 133,176 u.o.

105) Vgl. ferner Friedrich Georg Junger: Dber das Komische. - Hamburg 1936;

Gottfried Muller: Theorie der Komik. Dber die komische Wirkung im Theater
und im Film. - Wurzburg 1964.
106) Zurich 1963. Sechste Auflage. S. 194ff.

10') Ebda S. 197.

108) Ebda S. 199.

109) Wie z.B. in der gesamten Komodientheorie bis zum Ende des 19. Jahrhun-

derts.
107* Umkehrung und Ablenkung: Franz Kafkas »Gleitendes Paradox« 743

von »Absicht und Ergebnis«, von »Pratention und Wirklichkeit«110), von


Angeschautem und Gedachtem, Energieaufwand und Energieverbrauch.
Aile diese Widerspruche und Unstimmigkeiten finden sich nun allerdings
auch im Werk Kafkas; nur daB Kafka nicht sie als das Komische aufgefaBt
hat, sondern die Stimmigkeit, das Schritt fur Schritt Vorgehende, das pein-
lich Genaue und pedantisch Durchgefuhrte: all das, was er mit dem
»Minutiosen«l11) zu bezeichnen scheint; das, was der Mensch mit groBtem
Ernst zu leisten sucht, genaue Beschreibungen und luckenlose Gedanken-
operationen, erscheint in Kafkas Augen als das eigentlich »Komische«. Nach
den bisher angestellten Oberlegungen ist das nicht unbedingt uberraschend.
Die Kategorie der Umkehrung erweist sich auch in dies em Zusammenhang
als entscheidend fur das kafkasche Denken. Batte Schopenhauer das »Ir-
rationale« (das vom Denken Unbewaltigte und logisch nicht Stimmige, das,
wie er sagt, der »tierischen Natur« Angehorige 112) als den Lustbereich ge-
zeigt, in dem befreiendes Lachen moglich ist, wei! die Anstrengung des
Denkens nicht gefordert wird, so sieht Kafka in den - nach Schopenhauer -
»bedeutenden Anstrengungen« des stimmigen Denkens das bloB mecha-
nisch Abgespulte, das Automatische 113) und Formalistische; es erscheint
ihm geradezu lacherlich leicht und »komisch« im Vergleich zu den verzwei-
felten Bemuhungen, sich durch »alogische« Mittel der Umkehrung, der
Ablenkung und des gleitenden Paradoxes aus der »Totschlagerreihe« des
konventionellen Denkprozesses herauszuwinden. Das Mitdenken des
Immer-Gedachten, Immer-Wiederholt en, Scheinbar-Stimmigen erweist sich
als komisch; das Beraustreten aus dieser Welt logischer Stutzkonstruktio-

110) Christian Janentzky: Dber Tragik, Komik und Humor. Jb. d. fro dt. Hoch-
stifts 23 (1936-40). S. 3-51. Bes. S. 23.
111) Vgl. dazu Brods Begriff des »Akribismus« in seiner Biographie a.a.O.
S. 216f. Brods Ausfiihrungen sind ein Beispiel fUr die Umbiegung des kafkaschen
Verfahrens ins konventionell »Komische«: »Obenaufliegt Zerrissenheit, Verzweif-
lung in dem, was erzahlt wird, - aber die Gelassenheit und Ausfiihrlichkeit, mit
der es erzahlt wird, der ins Detail, also ins reale Leben und in die naturtreue Dar-
stellung verliebte 'Akribismus' ... « Brad lenkt hier in die Tradition des stilus comi-
cus als stilus humilis ein, des trivial Alltaglichen als des »Komischen«, wie sie die
Romanistik als gesamteuropaisches Phanomen beschrieben hat: Vgl. Erich Auer-
bach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendlandischen Literatur. - Bern
1959. Zweite, verbesserte und erweiterte Auflage. S. 295. Hugo Friedrich: Mon-
taigne. - Bern 1949. S. 448 ff. Ernst Robert Curtius: Europaische Literatur und la-
teinisches Mittelalter. - Bern 1954. Zweite, durchgesehene Auflage. S.80, 238,
39 0 Anm. 3,449.
112) Schopenhauer a. a. O. 104: »... auch ist dasselbe mit keiner Anstrengung ver-
kniipft (scil. das Anschauen). Yom Denken gilt das Gegenteil: es ist die zweite Po-
tenz des Erkennens, deren Ausiibung stets einige oft bedeutende Anstrengung er-
fordert ... «
113) Vgl. Schaufelberger a.a.O. S. 10f.
744 Gerhard Neumann 108*

nen bewahrt sich nicht, wie in den bisherigen Auffassungen von der Komik,
als Befreiung zum Spiel, als Lust am Unsinn, sondern als ungeheure, unbe-
waltigte und nicht zu bewiiltigende Aufgabe. Nur so erklaren sich Kafkas
fur die Freunde oft unerklarliche Reaktionen auf vollig ernsthafte Texte 114).
Das Minuziose erschien Kafka als ein Mittel, mit dessen Hilfe der Mensch
sich uber die Bruche im Daseinsverstandnis hinwegzutauschen sucht 1l5),
vor denen er selbst die Augen nicht verschHeBen konnte; als ein Mittel der
Ablenkung von jenem »Ja und Nein«, das er eigentlich zu sagen hatte, und
das durch die Motivationen des kausalen und finalen Denkens versteIlt wird.
Es ist nur »konsequent« im Sinne kafkaschen Denkens, daB das Minuziose,
das das »eigentlich Komische« ist, sich - wiederum mit Kafkas Formulierung
- in »todliche Verzweiflung« (S 42.5) verkehrt, nicht ohne alsbald und von
neuem ins »Komische« umzuschwenken 116). Die Denkform des gleitenden
Paradoxes bewahrt sich auch in diesem poetologischen Zusammenhang
mit aIler Konsequenz.

114) Kafka lachte nach dem Zeugnis Brods (Franz Kafka. Eine Biographie a. a. O.
S. 217) »so sehr, daB er weilchenweise nicht weiterlesen konnte«, als er den Freun-
den das I. Kapitel des Prozesses vorlas. Es ist bezeichnend, daB dies auch beim
Vorlesen der vom Syntaktischen her so iiberaus logisch bestimmten Kleisttexte ge-
schah. (A. a. O. S. 58).
115) F. Weltsch kommt dieser Einsicht viel1eicht am nachsten, wenn er den
»Humor« dahingehend definiert, »daB das Wesen des Humors darin besteht, daB
eine vermeindiche Einheit als Zweiheit durchschaut wird ... Er entlarvt die allzu
rasche, die ungeduldige, die al1zu billige Einheit, die Einheit des Kurzschlusses.«
(Religioser Humor bei Franz Kafka a. a. O. S. 179).
118) Die ganze Stelle im Zusammenhang lautet folgendermaBen: »Und nun will
ich euch, so gut ich es kann, die Geschichte im Wordaut erzahlen, so minutios, wie
sie K. gestern mit allen Zeichen todlicher Verzweiflung mir erzahlt hat. Hoffent-
lich hat ihn seither eine neue Vorladung wieder getrostet. Die Geschichte selbst
ist aber zu komisch, hort Zu: Das eigentliche Komische ist freilich das Minutiose
... « (S. 425)

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