Sokel - Kafka and Sartre

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WALTER H.

SOKEL

Kafka und Sartres Existenzphilosophie


Die Entdeckung Kafkas in Frankreich und die Kafka-Mode daselbst
fielen zeitlich und keineswegs aus zufälligen Ursachen mit der Entstehung und
Kristallisierung des französischen Existentialismus zusammen. Die Existentia-
listen, allen voran Sartre und Camus (der ja in seiner frühen Phase existentia-
listischen Denkern zugeordnet werden kann), weisen häufig auf Kafka hin, und
Kafkas Werk dient ihnen gar nicht selten als Beispiel und Illustrationsquelle
ihrer Gedankenwelt. Es ist ja allgemein bekannt, daß Camus* Epilog zu seinem
grundlegenden Frühwerk Le mytbe de Sisyphe von Kafka handelt, und Camus'
Romane weisen deutlich den Einfluß Kafkas auf. Weniger bekannt, jedoch
noch tiefgehender ist Sartres Beziehung zu Kafka, besonders die des existenz-
philosophischen Sartre von Uetre et le neant. Neben Gide und Proust ist
Kafka der von Sartre am häufigsten erwähnte Autor. Sartres Bemerkungen
über Kafka in Uetre et le neant^ besonders seine längste und wichtigste, eignen
sich als Ausgangspunkt für unser Thema und die Erhellung von Kafkas Bezie-
hung zur Existenzphilosophie. Ehe wir dazu schreiten, den Zusammenhang jener
Sartreschen Stelle über Kafka zum Ausgangspunkt unserer Untersuchung näher
ins Auge zu fassen, müssen einige allgemeine Bemerkungen über Sartres
existenzphilosophische Anthropologie als nützlich vorangestellt werden.
Für Sartre ist der Mensch oder la realite humainey wie er den Menschen
nennt, identisch mit Bewußtsein. Der menschliche Körper allein ist für ihn nicht
„menschliche Realität", sondern gehört der Materie oder dem Sein zu. Das Be-
wußtsein ist immer Bewußtsein von etwas. Es ist also Beziehung, nicht Gegen-
stand oder Substanz. Wenn das Sein mit der Dingwelt oder Materie gleich-
gesetzt wird, wie es Sartre im Grunde tut, hat der Mensch kein Sein. Er i s t
nicht. Natürlich ist er doch, insofern sogar unsubstantielle Wesenheiten wie
Beziehung, Vergleich, Urteil als seiend bezeichnet werden können. Aber der
Mensch i s t nidit in der stofflichen, substanzhaften Bedeutung von Sein, eben
als dinghaftes Sein. In dieser Hinsicht ist er tatsächlich nichts, d. h. kein Etwas
kein Ding. Mit ihm betritt das Nichts die Welt des Seins. Das Nichts wird von
der menschlichen Realität ins Sein gebracht in der Form von In-Fragestellen,
Unterscheidungen, Negierung, negativem Urteil. Mit anderen Worten, das
Nichts ist Konsequenz und Wesensmerkmal des Denkens.
Das Nichts ist nicht nur Resultat menschlicher Tätigkeit, es ist auch iden-
tisch mit der menschlichen Realität1. Da der Mensch nichts ist, ist er frei. Nur

1
Da der Mensch definiert wird als Bewußtsein von Dingen, als Beziehung zu und
Beisein bei den Dingen, nidit aber als die Identität oder Gegenwärtigkeit von
Dingen, besitzt der Mensdi keine Identität. Sein Sein ist das Nichtsein, das Nichts.

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Kafka und Sartrcs Existenzphilosophie 263

das, was ist, der Stoff oder das Sein, ist determinierbar. Da der Mensch kein
Sein hat, kann er nidit bedingt werden. Sein Nichtsein verurteilt ihn zur Frei-
heit. Ob er es will oder nicht (und normalerweise will er es nicht), er kann
nicht anders als frei sein, d.h. undeterminiert sein. Dem nichtmenschlichen
Sein gegenüberstehend, entdeckt er und stellt Bezüge her — da er ja selbst
nichts ist als Bezug — und schafft so die Welt im Sinne des geordneten, faßbaren
und zusammenhängenden Kosmos. Wie in Hegels Logik, der Sartre wesentlich
verpflichtet ist, kommt bestimmtes und damit faßbares Sein durch das Nichts
zustande.
Sowie die menschliche Realität aber nicht dem Sein, sondern einem anderen
Bewußtsein gegenübersteht, begegnet ihr die tief beunruhigende Tatsache der
Transzendenz. Das Bewußtsein entdeckt im Anderen die unverkennbare
Evidenz derjenigen Art des Nichtseins, der Freiheit, die es selbst ist. Aber das
Bewußtsein kann das des Anderen nie erfassen, nie betreten und durchdringen.
Es kann nie eigentlich wissen, was der Andere von ihm denkt und wie er seine
Freiheit gebrauchen wird. Die Worte des Anderen verhüllen ja seine Absicht.
Er ist niemals berechenbar, das Bewußtsein kann den Anderen nie wirklich
kennen. Der Andere ist meine Transzendenz. Er ist ein quälendes Rätsel. Seine
Freiheit beschränkt die meine, und so stellt er eine immer gegenwärtige Be-
drohung dar. Sein bloßes Midi-Ansehen droht midi in ein Objekt zu ver-
wandeln. Wie ich nun in Unkenntnis seiner Gedanken bin, hilflos seinem Be-
traditen und seinem Willen ausgesetzt, verhindert in meinem Wunsch, in seinen
Kopf einzudringen, seinen Willen zu fesseln und seine Freiheit zu unterbinden,
wie idi nun so vor ihm dastehe, überwältigt midi die Scham. Scham ist das
Gefühl, das meine Reaktion ausdrückt, Tatsache der fundamentalen Bedrohung
meiner Freiheit und meiner damit entstandenen Fragwürdigkeit angesichts des
forschenden und unergründlichen Blickes des Anderen. Es ist in diesem Abschnitt
seines Hauptwerkes, wo Sartre das Grauen einer von gültiger Kenntnis unab-
änderlidi abgeschnittenen und auf ewig vom Reiz der Unmöglichkeit jener
Kenntnis gequälten Existenz evoziert; es ist hier, wo sich sein beredtester und
erhellendster Kommentar zu Kafka findet2:
Uapparition de l'autre fait apparaitre dans la Situation un aspect que je
n'ai pas voulu, dont je ne suis pas maitre et qui m'echappe par principe,
puisquyil est pour l'autre. C'est ce que Gide a beureusement appele ,la part du
diable*. C'est Venvers imprevisible et pourtant reel. C'est cette imprevisibilite
que l'art dyun Kafka s'attachera a decrire, dans >Le Proces* et ,Le Chateau': en
un sens, tout ce que fönt K. et l'arpenteur leur appartient en propre et, en tant
qu'ils agissent sur le monde, les resultats sont rigoureusement conformes a leurs
previsions: ce sont des actes reussis. Mais, en meme temps, la verite de ces actes
leur echappe constamment; ils ont par principe un sens qui est leur vrai sens et
que ni K. ni l'arpenteur ne connaitront jamais. Et, sans doute, Kafka veut
atteindre ici la transcendance du divin; c'est pour le divin que l'acte humaine se

2
Uetre et le neant. Essai d'ontologie phenomenologique. Paris 1950; troisi^me partie:
Le pour-atttrtii, IV: Le regard, p. 324.

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constitue en . Mais Diex n'est ici que le concept d'autwi pousse ä la


limitc, Notts y reviendrons. Cette atmosphere douloureuse et fuyante du
,Procfal, cette ignorance qtti, pourtant, se vit comme ignorance, cette opacite
totale qui ne pcut que se pressentir a travers une totale translucidite, ce n'est
ricn autre que la description de notre etre~au-milieu~du-monde-four-autrm.
Die thematische Relevanz solcher Romane wie Der Prozeß und Das
Schloß für die Sartresche Theorie des Anderen geht klar hervor. Das verein-
zelte Bewußtsein, eingekerkert in seiner Isolierung und von Undefinierten An-
klagen durch unbekannte und unfaßbare Ankläger erweckt und herausgefordert,
vergeblich Zugang zu den den Protagonisten bedrohenden oder seine bean-
spruchten Rechte hintanhaltenden Behörden suchend — das ist ja die Thematik
des Kafkaschen Werkes, und sie scheint mit unheimlicher und prophetischer
Genauigkeit der Sartresdien Theorie zwischenmenschlicher. Beziehungen Rech-
nung zu tragen. Nebenbei bemerkt, ist Sartres Hinweis auf die Gottheit in der
zitierten Stelle ein Hinweis auf den in seinem Anderssein, also seiner Transzen-
denz, absoluten Anderen. In diesem Zusammenhang muß gesagt werden, daß
Gott für Sartre einfach der Andere ist, insofern die Beziehung des Anschauens
einseitig von ihm ausgeht und icäi sein Midi-Anblicken nie erwidern und ihn
meinerseits nie ins Auge fassen kann. Gegen den Anderen in menschlicher Form,
gegen seine Drohung, mich in einen Gegenstand zu verwandeln, kann ich mich
ja immer dadurch zur Wehr setzen, daß ich nun meinerseits versuchen kann,
ihn zum Objekt meines Betrachtens zu erniedrigen. Zwar zeigt Sartre, daß mir
das nie gelingen wird; doch den Versuch dieser Objektivierung des Anderen
kann ich immer wiederholen. Gott jedoch ist der Aspekt des Anderen, der mir
die Unmöglichkeit dieses Versuchs der Objektivierung zu Bewußtsein bringt.
Die Unsichtbarkeit Gottes .ist Symbol für des Anderen wesentliche Transzen-
denz meiner selbst, für seine Unfaßbarkeit für mich. Bei Gott wird mir völlig
bewußt, daß es keine Hoffnung gibt, den Anderen zu kennen. Dieses qualvolle
Dem-Idb-Entgleiten, diese schreckhafte Unerreichbarkeit ist es, was die Geheim-
nis bleibenden Behörden verkörpern, die Kafkas Welt bevölkern. Hier ist es
bezeichnend, daß Kafkas Prozeß mit einem Angeschautwerden beginnt, mit dem
Herüberblicken der alten Frau vom Fenster gegenüber, und daß Scham, das
letzte Hauptwort, den letzten Gedanken des Romans bildet. Der Prozeß ist die
Erzählung der Bedrohung eines menschlichen Bewußtseins, und seine Hauptfigur
stirbt wie ein Hund, d. h. wie ein unmenschlicher, nichtmenschlicher, wenn auch
fühlender Gegenstand, den seine Schlächter anblicken, während sie ihn töten, so
daß Angeschaut- und Ermordet-, also zum toten O b j e k t werden, identisch
erscheinen.
Es ist aber nicht bloß im Thematischen, wo Kafkas Erzählkunst der
existentiellen Isoliertheit der menschlichen Realität Ausdruck verleiht. Noch
gewichtiger ist es, daß in der Form und Struktur dieses Erzählens selbst die voll-
kommene Entsprechung der existenzphilosophisdieh Anthropologie erscheint.
Friedrich Beißner hat bereits vor vielen Jahren dargelegt, daß der Erzähler
Kafka die Stimme des allwissenden Erzählers aus seinen Erzähltexten verbannt.
Auktorialen Kommentar des Erzählers gibt es bei Kafka nicht. Alle Gesdieh-

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nisse werden einsinnig gesehen und dargestellt, vom Standpunkt und aus der
Perspektive des Protagonisten her. Die Einsinnigkeit Kafkas unterscheidet sich
aber grundlegend von der Technik des ,stream of consciousness', die mit Dujar-
din begann,.als Kafka im vierten Lebensjahr stand, und die bei Dujardin,
Schnitzler, Joyce u. a. oft radikale Einsinnigkeit bedeutet. Die Einzigartigkeit
Kafkas besteht nicht in der Einsinnigkeit schlechthin, sondern darin, daß dem
Träger der Perspektive, dem Protagonisten, dem Erzähler, und mit ihnen dem
Leser die Motivierungen der den Protagonisten umgebenden Welt verborgen
bleiben und diese Verborgenheit gerade ein Hauptmerkmal des Erzählstils
bildet. Der Gesichtspunkt des Kafkaschen Erzählers ist ja nicht immer völlig
identisch mit dem Blickpunkt der Hauptfigur. Es gibt manche Passagen, wo wir
die Hauptfigur von außen her zu sehen bekommen. Was aber doch ganz ein-
zigartig ist bei Kafka, ist die gleichsam gewaltsame Begrenzung der Kenntnis
der Motivierungen der Umwelt, die der Erzähler nicht nur seiner Hauptgestalt,
sondern sich selbst auferlegt. Im Kafkaschen Weltall besteht die quälende Un-
möglichkeit, irgendetwas mit Gewißheit zu wissen, was über die bloßen vom
Protagonisten erlebten Tatsachen hinausreicht. Sogar seine eigenen Gedanken
und Motivierungen sind uns zum großen Teil entzogen — ein Umstand, der
uns noch von entscheidender Bedeutung sein wird3.
Eine solche Erzählhaltung ist in besonderem Maße dazu geeignet, das, was
man existentiellen Realismus nennen könnte, auszudrücken — nämlidh. die
,condition humaine*, wie Sartre sie sieht, eingekerkert im Einzelbewußtsein, die
äußerste und unabwendbare Isolierung und Ungewißheit allen Anderen gegen-
über. Die unerlösbare Isoliertheit des Einzel-Ich, sein Verhaftetsein in einer
Subjektivität, aus der es die Sprache nicht befreien kann, ist eines der ältesten
und grundlegendsten Themen der existenzphilosophischen Tradition. Dieses
Thema taucht bereits in Kierkegaards Furcht und Zittern auf und wird neu und
weiter formuliert mittels der Heideggerschen Begriffe von Angst und Tod. Seine
gründlichste und systematischste Behandlung erfährt das Thema eben in Sartres
Uetre et le neanty wo es einer allgemeinen Anthropologie einverleibt wird. Im
Hinblick auf die erwähnte Erzählform Kafkas ist es daher nicht verwunderlich,
daß es im Kontext der der menschlichen Realität mitgegebenen Isoliertheit ist,
wo Sartre die besondere Relevanz Kafkas empfindet und wir einen der läng-
sten, gewichtigsten und präzisesten Hinweise auf das Werk des Pragers finden.
Die Parallelen zwischen Kafkas Kunst und der Gedankenwelt Sartres
gehen aber noch viel weiter und tiefer. Die Theorie des Anderen ist ja nur ein
peripher gelegener Ausgangspunkt für die Entdeckung der Gleichstimmigkeit
der beiden Autoren und ihrer Seh- und Darstellungsweise der menschlichen
Realität. Sartres Theorie des l'autrui beruht schließlich auf seiner Theorie des
Ich, des Selbst, und dem v/ollen wir uns nun zuwenden.
Vorher jedoch seien einige Betrachtungen eingeschaltet, die sich mit einer
ganz anderen als der hier vorgestellten Auffassungsweise Kafkas, nämlidi der
a
Vgl. Beda Allemann: Franz Kafka: „Der Prozeß", in: Der dt. Roman — Struktur
und Gesch., hg. v. B. von Wiese, Düsseldorf 1963; II: Vom Realismus bis zur
Gegenwart, 234—90.

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266 Walter H. Sokel

soziologischen und gesellsdiaftlidien Sicht befassen* Oft ist der Held des Kafka-
sdien Opus soziologisch als ein typischer Outsider angesehen worden. Vor allem
war es das Schloß, das man gerne als ein Werk ansah, das die gesellschaftliche
Entfremdung des modernen Intellektuellen oder auch des Westjuden wider-
spiegelt. Kafka selbst, in den Briefen an Milena, geschrieben kurz bevor er mit
der Arbeit am Schloß begann, leistet einer solchen Auffassung reichlich Vor-
schub, und sie ist sicherlich nicht ohne Relevanz. Eine bloß soziologische Inter-
pretation des Außenseiterthemas bei Kafka würde aber seiner Tiefe und Viel-
deutigkeit keineswegs gerecht werden. Das Außenseiterthema muß in einem
tieferen ontologischen Zusammenhang gesehen werden, wenn es in seiner Kom-
plexität erfaßt werden soll, und nur dann kann sich ein tiefergehender Sinn
von Kafkas Kunst enthüllen.
Der soziologische Gesichtspunkt steht nämlich auf der Seite des Kafka-
Helden, indem er in ihm ein Opfer der gesellschaftlichen Verfassung sieht. So
werden die Ansprüche und Forderungen des Kafka-Helden als Versuche des
entfremdeten Menschen unseres Jahrhunderts aufgefaßt, sich der modernen
bürokratisierten Welt anzupassen und sein Lebensrecht zu erkämpfen. In dieser
Sicht scheinen die Behörden in Kafkas Werk den Helden ungerecht zu verfolgen
oder zu benachteiligen. Sie erscheinen als Symbol des repressiven Aspekts der
bürokratisierten Gesellschaftsordnung.
Eine solche soziologische Interpretation ist unzulänglich, weil sie grund-
legende strukturelle Züge unberücksichtigt läßt und auch dem Wortlaut des
Textes widerspricht, womit ihre radikale Beschränktheit offensichtlich wird.
Wir wollen uns auf K. konzentrieren, den Landvermesser des Schlossesy
auf den die soziologische Kafka-Kritik besonders zu passen scheint. Erscheint er
denn nicht als das Opfer einer Bürokratie, die seinen scheinbar rechtmäßigen
Anspruch auf das Landvermesseramt mit Spott und Hohn bedenkt, ihm sein
Recht auf Arbeit, die seinen Fähigkeiten gemäß ist, vorenthält und ihn damit
zur überflüssigen Person erklärt, den Millionen von Arbeitslosen in den Slums
und Elendsnestern des heutigen Amerika vergleichbar, die die derzeit bestehende
Gesellschaftsstruktur zu erwerbsunfähigem und nirgends unterzubringendem
Menschenüberschuß degradiert? Aber ist das tatsächlich Sinn und Absicht von
Kafkas 5c&/oJ?-Roman?
Der Text läßt eine solche Deutung nicht zu. Denn der bis vor verhältnis-
mäßig kurzer Zeit übersehene textliche Tatbestand läßt K.s Berufung als höchst
subtil verschleierten Betrug erscheinen. K. gibt vor, vom Schloß die Berufung
als Landvermesser erhalten zu haben; doch bei genauerem Hinsehen stellt sich
heraus, daß es diese Berufung — jedenfalls in der einfachen, direkten Weise,
wie K. sie hinstellt — nie gegeben haben kann. Der Text läßt die Möglichkeit
vermuten, daß K. diese Berufung aus der Luft greift, als ihm als Landstreicher
der Hinauswurf aus dem Brüdkengasthof und Schloßdorf angedroht wird. Es
ist sogar zweifelhaft, ob er überhaupt Landvermesser ist. Er besitzt weder
Dokumente noch Instrumente, um es zu beweisen, und die Gehilfen, deren
Kommen er mit Bestimmtheit für den nächsten Tag voraussagt, erscheinen nie.
Statt dessen schickt ihm das Schloß zwei Burschen, die nichts vom Landvermes-

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Kafka und Sartres Existenzphilosophie 267

sen verstehen, selbstverständlich keine Instrumente besitzen und unmöglich die


von ihm in Aussicht gestellten Gehilfen sein können. Daß K. auf keinen Fall
die vorgegebene Berufung vom Schloß erhalten haben kann, läßt sich — wie ich
es in meinem in New York erschienenen kleinen Buch über Kafka gezeigt zu
haben glaube — eindeutig aus dem Text des ersten Kapitels nachweisen. Zu
ähnlichen Einsichten sind Ingeborg Henel und Klaus-Peter Philippi gelangt4.
Widerspricht diese neue Sicht unbedingt der soziologischen Interpretation,
oder bestärkt sie diese nicht eher? Würde sie aus K. nicht den überflüssigen
Arbeitslosen par excellence machen, den eine ungerechte Gesellschaftsordnung
zwingt, Betrüger zu werden, um sich seinen Lebensunterhalt zu verschaffen
und einen Wohnplatz zu finden?
Man mag hier einwenden, daß K. mit irgendeiner ihm zugeteilten Arbeit
nicht gerade zufrieden ist. Die Schuldienerstellung akzeptiert er nur provisorisch
und verfolgt weiterhin starrsinnig sein Ziel, als Landvermesser des Schlosses
anerkannt zu werden. Aber ist K. nicht wie jedermann berechtigt, im Beruf
seiner Wahl beschäftigt zu werden? Zeigt nicht gerade der Umstand, daß er in
dem gewählten Beruf nicht gebraucht werden kann — man braucht jetzt und
hier keinen Landvermesser, heißt es —, jene Selbstentfremdung, wozu die
Gesellschaftsstruktur den modernen Menschen verdammt? So verstanden, geht
die soziologische Deutung wohl ein Stück Weges zur Erfassung von Kafkas
Schloß. Doch muß sie im wesentlichen ergänzt werden durch eine existenz-
philosophische Interpretation gerade des Problems, das die soziologische Deu-
tung zu erhellen trachtet.
Beginnen wir wieder mit einem formalen Element. Der Leser von Kafkas
Dichtungen und besonders der Leser des Schlosses weiß nicht nur nichts von den
Motivierungen der Umwelt des Protagonisten. Er kennt nicht einmal den Pro-
tagonisten selbst. Was Beda Allemann vom Josef K. im Prozeß-Roman gezeigt
hat5, gilt in vielleicht noch stärkerem Maße von dem Landvermesser K. Die
Vergangenheit dieses K. ist äußerst dürftig angedeutet; das Wenige, was wir
erfahren, ist ungewiß und widersprüchlich. Nicht alle Gedanken K.s werden uns
mitgeteilt. Ein wesentlicher Teil seines inneren und äußeren Lebens bleibt dun-
kel. Viele seiner Handlungen bleiben unmotiviert, und vor allem ist seine
anfängliche und alles Weitere bestimmende Grundmotivierung im völligen
Dunkel. Warum kommt K. ins Dorf des Schlosses? Warum erfindet er die Be-
rufung? Wir stehen hier einem Rätsel gegenüber, für das der Text keine Ant-
wort bietet, jedenfalls keine direkte.
Obgleich sich aus dem Text des Romans mit Bestimmtheit schließen läßt,
daß K. den Ruf vom Schloß nicht erhalten haben kann und daß seine Be-
hauptung, Landvermesser zu sein, nur vorgegeben ist, wird dies doch so unauf-
fällig und nebenbei erwähnt, daß es allen, die sich mit Kafkas Werk beschäftigt
4
VgL Ingeborg Henel: Die Türhüterlegende und ihre Bedeutung für Kafkas „Pro-
zeß", in: DVJS 37 (1963), 50—70. Klaus-Peter Philippi: Reflexion und Wirklichkeit
— Untersuchungen zu Kafkas Roman »Das Schloß*, Tübingen 1966 (= St. zur dt.
Lit. 5).
5
VgL Anm. 3.

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268 Walter H. Sokel

haben, fast zwanzig Jahre lang entgangen ist« Doch auch das negative Wissen,
daß K. nämlich nicht vom Schloß berufener Landvermesser sein kann, führt
uns nicht weiter auf dem Weg zu irgendeiner bestimmten positiven Kenntnis
seiner Motivierung. Wir wissen nicht, warum er gerade diesen Beruf des Land-
vermessers einem anderen, vorgegebenen Beruf vorzieht und wie sich seine von
ihm behauptete Land Vermesserberufung zu der Tatsache verhält, daß vor
Jahren die Bestellung eines Landvermessers im Gemeinderat besprochen und
abgelehnt worden ist. Vor allem kennen wir nicht einmal die Antwort auf die
doch ganz grundlegende Frage, ob K. überhaupt Landvermesser ist, ob er das
Handwerk gelernt hat und ausüben kann. Wir wissen auch zum Beispiel gar
nicht, ob K. verheiratet oder ledig ist. So entscheidende Personalangaben fehlen
völlig oder widersprechen einander und lassen damit die Sache im Unentschie-
denen. Am ersten Morgen im Dorf scheint aus dem Gespräch mit dem Brücken-
wirt hervorzugehen, daß K. Frau und Kind hat. Vom folgenden Abend an
jedoch, während seines Verhältnisses mit Frieda, verhält er sich wie ein lediger
Mann, nämlich so, als ob er frei wäre, Frieda zu ehelichen. Was sollen wir mit
solcher Unbestimmtheit einer Romanfigur anfangen, wenn der Leser obendrein
an der Perspektive dieser Romanfigur ganz unmittelbar teilhat und sie zu seiner
eigenen macht, da K. ja die einzige Figur im Schloß ist, zu deren Bewußtsein
uns, wenn auch sehr fleckenhaft und fragmentarisch, ein direkter Zugang eröff-
net wird? Des Lesers Unkenntnis der ganzen Wirklichkeit des Helden, dessen
Gesichtspunkt er teilt, ist der wesentliche Umstand, den Kafka von allen
anderen einsinnigen Erzählern wie etwa James Joyce im Portrait of the Artist
oder Schnitzler im Leutnant Gustl unterscheidet. Worin besteht der Sinn dieser
Undurchdringlichkeit der Hauptfigur? Die soziologische Deutung reicht hier
nicht mehr aus, denn sie kann uns keine Erklärung geben für eine so rätselhafte
Erzählmethode.
Die komparatistische Methode kann uns zur Antwort auf diese Frage
verhelfen. Wir wollen die anthropologischen Grundbegriffe und Gedanken
Sartres aus Uetre et le neant auf das Schloß anwenden und sehen, wohin uns
dieses Experiment führen wird.
Die Voraussetzung von Uetre et le neant ist es, daß die mit dem Bewußt-
sein identische menschliche Realität immer und in jedem Augenblick sich selbst
transzendiert. Das drückt die berühmte Formulierung aus: Das ypour-soif
(worunter Sartre Bewußtsein oder menschliche Realität versteht) ist, was es
nicht ist, und ist nicht, was es ist. Das heißt, daß sich das Bewußtsein niemals
mit dem Zustand deckt, in dem es sich eben befindet, oder mit der Handlung,
die es gerade unternimmt. Der Ausgangspunkt für Sartre, seine von uns niemals
außer Acht zu lassende Grundvoraussetzung ist die Definition "des Menschen
als Beziehung, als Relation, als immaterielles Bewußtsein der das Sein aus-
machenden Dinge, nicht aber als Identität mit dem sich in den Dingen erschöp-
fenden Sein. Daraus folgt, daß der gegenwärtige Augenblick den Menschen nie
definiert. Der Mensch ist niemals ein bestimmtes Ding oder je an einem be-
stimmten Ort.
Ein Beispiel möge dies veranschaulichen: Jemand steht am Fenster. Doch ist

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Kafka und Sartre* Existenzphilosopbie 269

sein Bewußtsein gegenwärtig in einem weit entfernten Gebirgstal. Wo ist er


nun: im Zimmer am Fenster oder in dem ihm leiblich unsichtbaren Tal? Eigent-
lich ist er weder da noch dort. Er ist nicht, wo er ist, und er ist, wo er nicht ist.
Das ,er* im ersten ,er ist* bezieht sich auf den Leib, die körperliche Gegenwart,
derer kein Mensch völlig ungewahr bleiben kann. Er ist im Zimmer. Das ,erc
im zweiten ,er ist* bezieht sich auf den weit vom leiblichen Ort entfernt weilen-
den Geist. Ganz und völlig ist er an keiner der beiden örtlichkeiten, da er
teilweise an beiden ist. Weil er in einem Körper logierendes Bewußtsein ist, weil
er vom Denken benagtes Fleisch ist, kann der Mensch niemals ganz oder ganz
gegenwärtig sein. Er muß gespalten existieren, teils gegenwärtig und teils nicht.
Ein solches Wesen ist auf ewig ein unglückliches Bewußtsein, wobei dieser
Terminus nicht ganz seines Hegeischen Sinnes entbehrt. Die Sehnsucht dieses
Wesens ist es aber, ein auf ewig unerreichbares glückliches Bewußtsein zu erlan-
gen — das Glück des Seins; das Glück, ganz und eigentlich es selbst zu sein,
gegenwärtig zu sein, nicht bei der Welt, sondern in der Welt und in sich selbst;
das Glück der Substanz, der Dichte, der Permanenz zu besitzen und doch gleich-
zeitig dieses Sein mit dem Bewußtsein auszukosten. Diese Vereinigung von Sein
und Bewußtsein ist unmöglich. Der eine Begriff widerspricht dem anderen, und
sie schließen sich gegenseitig aus. Ein Ding zu sein, bedeutet zu sein, das heißt,
nichts als es selbst zu sein und an dem einzigen, bestimmten Ort zu weilen. Be-
wußtsein aber bedeutet per definitionem die Unmöglichkeit des Seins. Diese
unmögliche Einheit von Bewußtsein und Sein bleibt eben der menschliche
Traum, sein erster und immer letzter Entwurf. Dieser Entwurf heißt Gott. Der
Mensch sehnt sich danach, Gott zu sein, und sein Sehnen muß auf ewig unerfüllt
bleiben.
Wir werden aber die menschliche Realität, die Bewußtsein ist, nicht nur im
räumlichen, sondern auch im zeitlichen Bezug in Betracht ziehen müssen. Es eilt
das Bewußtsein dem Augenblick, dem Gegenwärtigen, voraus in die noch nicht
seiende Zukunft, oder es verweilt das Bewußtsein rückblickend in der nicht mehr
seienden Vergangenheit. Vor allem aber ist das Bewußtsein auf den Horizont
der Zukunft gerichtet — gerade hier steht Sartre im Banne Heideggers —; es ist
Planen, Möglichkeiten Entwerfen und auf deren Verwirklichung hin Handeln.
Insofern der Mensch eins ist mit seinem Bewußtsein, ist er identisdi nicht mit
seinem gegenwärtigen Zustand, sondern mit seinen Plänen, Projekten und Ent-
scheidungen, die er auf die Zukunft hin entwirft. Ja, er ist seine Zukunft, er ist
— und wieder sehen wir Heideggers Einfluß — er ist seine Möglichkeiten.
Sartre hat in Uetre et le neant den Existenzbegriff Heideggers aus Sein und
Zeit übernommen und deshalb gibt er seiner Philosophie auch den Namen
jExistentialisme*. Der Existentialismus sieht das Wesen des Menschen in seiner
Existenz, und Existenz bedeutet vorweggreifendes Verhalten, Vorauseilen auf
den Horizont der Zukunft hin. Aus der Tatsache, daß das Wesen des Menschen
seine Existenz ist, folgt, daß er sich transzendiert, daß er in jedem Augenblick
nichts ist als er selbst. Daher ist sein Sein eigentlich ein Nicht-Sein, wenn unter
Sein das substantielle Sein des Stofflichen, der Materie, des Gegenständlichen
der Dinge verstanden wird.

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270 Walter H. Sokel

Das Sein des Menschen ist Entwurf der Zunkunft, aber die Zukunft ist ja
nicht. Daher bestimmt sich das menschliche Sein als Nicht-Sein, als Noch-Nicht-
Sein und immerzu Noch-Nicht-Sein. In Sartres Worten: da* ,pour-$of ist, was
es nicht ist. Das Sein der Dinge, obgleich durch die Gegenwart erschöpft und
ganz von ihr ausgefüllt, ist doch verursacht und determiniert durch die Ver-
gangenheit. Die Gegenwart ist das Resultat, das Erzeugnis der Vergangenheit.
Im Falle der menschlichen Realität ist es aber total anders. Da das Bewußtsein
nie mit dem Gegenwärtigen zusammenfällt, ist es undeterminierbar und damit
frei. Seine Vergangenheit determiniert den Menschen nie, sie bestimmt ihn nicht,
und zwar eben deswegen nicht, weil er im Gegenwärtigen kein wirkliches Sein
besitzt. Da die Vergangenheit immer das Sein der Dinge und damit das Sein
überhaupt bildet, hat der Mensch kein Sein. Er ist nicht, was er ist, womit
Sartre ausdrückt, daß der Mensch nicht von der Vergangenheit determiniert
wird und nicht identisch ist mit ihrem Produkt. Nur sobald er aufhört, Bewußt-
sein zu sein, im Tod, ist er, was er ist, oder vielmehr, was er gewesen ist. Dann
jedoch hat er eben aufgehört zu existieren. Im Gegensatz zu den Dingen, bei
denen Sein und Existenz dasselbe sind, ist die menschliche Existenz von ihrem
Sein ganz verschieden. Der Mensch ist nicht, was er ist. Da der Mensch keine
Substanz ist, kann er nicht, wie die Dinge, von seiner Vergangenheit geformt
werden. Er kann seine Vergangenheit deuten, und tatsächlich ist seine Ver-
gangenheit nichts anderes als deren wechselnde Deutungen. Da er sich selbst
erst auf seine Zukunft hin produzieren muß, ist die Vergangenheit nur Werk-
zeug in dieser immer wieder von neuem anzupackenden Aufgabe, er selbst zu
werden in seiner Zukunft. Wie das ganze ihn umgebende Sein wird auch die
Vergangenheit dem Menschen Werkzeug in dem Versuch, sich zu verwirklichen.
Die Vergangenheit als Instrument muß also Gegenstand der Deutung werden.
In Sartres Worten: Das ,pour-soi' ist das Wesen, das zu sein hat, was es gewesen
ist im Lichte dessen, was es sein wird.
Wir sind nun in der Lage zu erkennen, wie dieses existenzphilosophische
Verständnis der menschlichen Zeitdimensionen einen der rätselhaftesten Aspekte
von Kafkas K.-Gestalt erhellt. Ist K. verheiratet oder ledig? Der eheliche
Zustand ist Teil der die Gegenwart entscheidend bestimmenden Vergangenheit.
K. jedoch verfügt über seine Vergangenheit und somit auch über seine Gegen-
wart in einer Weise, die dem existenzphilosophischen Bild der menschlichen
Realität sonderbar genau entspricht. Die Ehe ist Instrument im Entwurf der
Zukunft, die für K. Einlaß ins Schloß bedeutet. Was immer der Verwirklichung
des Entwurfs nützen mag, bestimmt, was seine Vergangenheit und damit auch
seine Gegenwart zu sein hat. Im Gespräch mit dem Brückenwirt, der als Ein-
wohner des Schloßdorfs K.s Sache nützlich sein könnte, wenn es K. gelänge,
sein Wohlwollen und Vertrauen zu erwerben, betont K. die Selbstverständlich-
keit seiner angeblichen Berufung als Landvermesser. Für den Fall, daß das
Schloß diese Berufung nicht anerkennen sollte, muß K. den Glauben erwecken,
daß es sich dabei um eine grauenhafte Ungerechtigkeit, um einen Vertragsbruch
handeln würde. Das Wohlwollen für seine Sache, um das es K. geht, wird sich
selbstverständlich vertiefen, wenn er als Ehemann und Familienvater erscheint,

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Kafka und Sartres Existenzphilosophie 271

dessen in weiter Ferne daheim gelassene Familie durch einen »Vertragsbruch" des
Schlosses Not leiden müßte. Bei Frieda, der Geliebten Klamms, muß sich K. um-
gekehrt verhalten. Als die Geliebte Klamms, des mächtigen Vorstehers der
Kanzlei, der K.s Anliegen zugewiesen wurde, könnte sie großen und förder-
lichen Einfluß auf K.s Sache ausüben. Um sie nun auf seine Seite zu bringen
und ihre Gunst zu erlangen, nimmt K. die Erotik zu Hilfe. Die Chancen für
seinen Erfolg würden aber bei ihr unendlich erhöht, wenn er nicht als bereits
verheirateter, sondern als lediger Mann erschiene. Also wird in K.s Verhältnis
zu Frieda seine Ehe nie erwähnt. Er verhält sich so, als hätte es die Bemerkung
zum Brückenwirt nie gegeben. Von entscheidender Bedeutung ist hier der Um-
stand, daß es der Erzähler völlig unterläßt, Stellung zu nehmen, eine der beiden
Möglichkeiten für gültig zu erklären und damit die Wahrheit zu bestimmen.
Statt dessen hält er beide Möglichkeiten offen. Diese gewollte Unbestimmtheit
macht K. zur wahrhaft existenzphilosophisch geschauten Figur. Vergangenheit
und Gegenwart sind ihm nur Hilfskonstruktionen beim Entwurf seiner Zukunft.
Sie haben kein Sein, sie sind unbestimmt und wesenlos. K.s Sein ist offen und
undeterminiert, es ist nur Möglichkeit und damit Existenz im Heideggerschen
und Sartreschen Sinn des Terminus. K. ist nichts als sein Entwurf, die vor-
gegebene Berufung ins Schloß in die wahre und wirkliche zu verwandeln. K.,
von dessen Vergangenheit und Motivierung wir nichts Bestimmtes kennen und
daher auch nichts ihn Bestimmendes, ist identisch mit seinem Vorhaben. Ab-
gesehen davon ist K. nichts. Wird Sein gleichgesetzt mit einem festen und be-
stimmten, in der Gegenwart dauernden und von einer Vergangenheit geformten
Zustand, dann hat K. kein Sein, dann ist er nicht, wie eben die menschliche
Realität in Sartres Existenzphilosophie kein Sein hat und nicht ist.
In noch anderer Weise ist K. nicht, was er ist. Er ist nicht der bestellte
Landvermesser, der zu sein er vorgibt. Seine Vorspiegelung ist, wie bereits
gesehen, Strategie, die seine Vergangenheit, sein Sein, nach den Erfordernissen
seines Entwurfs festlegt. So ist seine Strategie identisch mit seinem Sein. Aber
dieses Sein ist eben kein wirkliches, sondern ein vorgespiegeltes. Da aber K.
eine Vorspiegelung ist, ist er eben nicht, was er ist. Der berufene Landvermesser,
in dem das im Roman dargestellte Sein K.s aufgeht, der er also in radikal aus-
schließlichem Maße ist, ist er doch nicht; denn was er ist, spiegelt er ja nur vor.
Außerhalb dieser all sein Sinnen, Trachten und Tun erfüllenden Vorspiegelung
ist er eben nichts. Wir können auch umgekehrt sagen: er ist, was er nicht ist. Er
ist nämlich nichts als jener Landvermesser, der er in Wahrheit nicht ist. Mauvaise
foi, Vorspiegelung, Duplizität, Täuschung ist das Wesen der menschlichen Reali-
tät in der Sartreschen Existenzphilosophie. Denn der Mensch ist niemals, was
er eigentlich ist, er ist ja immer nur seine Möglichkeit und damit seine eigene
Transzendenz, ein lebendiges Paradox, ein verkörperter Widerspruch, ein Wesen
also, das nie wahrhaftig sein kann.
In der Weltliteratur ist Kafka derjenige Autor, dessen Erzähltechnik die
formale Entsprechung des existenzphilosophischen Menschenbildes liefert. In-
dem sie wesentliche Fragen nach dem Sein der Hauptgestalt offen läßt, schafft
diese Dichtung ein Bild des Menschen als eines sich selbst Schaffenden, als eines

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272 Walter H. Sokel

Wesens, dessen Sein das Werden ist. Indem Kafkas Dichtung uns das von
Figuren der erzählenden Dichtung erwartete numerische Porträt mit seinen
erklärenden und ausrundenden Details vorenthält, weigert sich diese Dichtung,
die uns beruhigende Fiktion zu liefern, daß der Mensch ein fertiges und be-
stimmtes So-Sein, ein Charakter, ein substanzhafter Gegenstand ist. Sie bringt
uns um die gewohnte Voraussetzung, daß der Mensch Ding unter Dingen ist. Sie
verweigert uns den bequemen Glauben an die Definierbarkeit und Erklärbarkeit
des Menschen.
In dieser Erzählweise liegt also eine bestimmte Moral beschlossen. Die
Erzählweise zwingt uns, den Menschen ab nie ans Ziel gelangenden Vorgang
dauernder Selbstverwirklichung zu erleben. Sie durchbricht unser Vorurteil, daß
der Mensch prädestiniert ist, daß er bequem klassifiziert und rubriziert werden
könnte. Sie enthüllt uns den Menschen als frei. Doch diese Freiheit erscheint
nicht als Geschenk und Privileg, sondern als entsetzliche Notwendigkeit, die der
Einsicht entspringt, daß die menschliche Existenz jeglichen objektiven Sinnes,
jeglicher Rechtfertigung entbehrt. Sie zeigt uns, daß die Existenz des Menschen
nicht auf Vernunft beruht, sondern in die Welt geworfen wird als bloßes nacktes
Faktum, als bloße inhaltlose Befindlichkeit, und daß es des Menschen schreck-
liche Bürde ist, seinen Sinn selbst zu erschaffen, seine Rechtfertigung selbst
erstreben zu müssen, ohne sie je erlangen zu können, da die Subjektivität, die
die Existenz ist, objektiv nie bestimmt und gerechtfertigt werden kann, da ja,
was nicht ist, nicht beurteilt und somit nicht gerechtfertigt werden kann. Der
Grund, auf dem der Mensch stehen soll, ist ihm nicht gegeben. Er muß ihn sich
selbst zu schaffen suchen.
Kafka schrieb, daß ihm nichts gegeben worden sei, daß er sich nicht nur
seine Gegenwart und Zukunft, sondern auch seine Vergangenheit habe erschaffen
müssen. Seine Aufgabe war dabei unendlich schwieriger als die der anderen.
Denn er mußte nicht nur den von jedem zu bestreitenden Kampf um die Zu-
kunft kämpfen, sondern, während er ihn kämpfte, mußte er auch seine Ver-
gangenheit erwerben, den Grund und Boden für seinen Kampfplatz überhaupt
erst schaffen, der allen anderen mit der Geburt verliehen wird.
Diese Selbstdefinition stimmt genau mit der von der Existenzphilosophie
behaupteten Ansicht überein. Kehren wir zu Sartres grundlegender Formulie-
rung zurück: Das $om-sof ist, was es nicht ist und ist nicht, was es ist. Das
Zeitwort ,sein' hat hier eine zusätzliche Bedeutung, die wir noch nicht erforscht
haben. ,Seinc bedeutet hier: von Natur sein, ein Wesen besitzen, einem vorher-
bestimmten Zweck, einer präexistenten Idee dienen.
Sartres Definition der menschlichen Realität besitzt also diese zusätzliche
Bedeutung: Das Wesen des Menschen besteht darin, kein Wesen zu besitzen.
Anders als bei vom Menschen geschaffenen oder von ihm verwendeten Dingen,
aus denen potentiell die ganze Welt besteht, ist der Mensch als Bewußtsein und
damit als Nichts ungeschaffen und kann nie für einen Zweck oder eine Bestim-
mung geschaffen sein. Diese Definition ist Ausdruck des radikalen Atheismus,
der Sartres Existenzphilosophie trägt. Diese schon bei Heidegger bestehende
Voraussetzung der existenzphilosophischen Anthropologie ist das Fehlen des

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Kafka und Sartrcs Existenzphilosopbie 273

Schöpfergottes6. Der Mensch ist nicht von Gott oder irgendeiner das Individuum
transzendierenden Macht erschaffen worden, und er ist auch von keiner äußeren
Macht zu irgendeinem Zweck bestimmt worden. Der Mensch ist nicht da, um
irgendeinem Sinn zu dienen oder irgendeinen Sinn zu erfüllen oder zu besitzen.
Der einzige Sinn, den seine Existenz haben kann, ist der, den er sich selbst
setzt. Er findet sich in die Existenz geworfen, d. h. er ist und existiert sinnlos.
Im Menschen geht die Existenz dem Wesen oder der Essenz voran.
Der Mensch ist einfach da, ein ruheloses Bewußtsein, ohne Grund und Sinn
in dingliches Fleisch geworfen und daselbst gefangen. Er ist sinnlos, zwecklos,
überflüssig, de trop. Da er aber als Bewußtsein existiert, muß er sich seinen
fehlenden Zweck und Sinn herzustellen versuchen, er muß den Sinn seiner
Existenz erfinden, kurz: es ist Sache des Menschen, Gottes Werk zu leisten. So
hat er göttliche Verantwortlichkeit ohne göttliche Macht. Ungerufen im All des
Seins, Fremder darin durch sein freies, alles in Frage stellendes Bewußtsein, muß
der Mensch den Boden finden, der ihn tragen und bestimmen soll.
Der unberufene, unnütze, selbsternannte Landvermesser K. in Kafkas
Roman ist unheimlich passende Symbolgestalt dieser existenzphilosophischen
menschlichen Realität. Wie der Mensch im All ist K. im Dorf, wo er eines
nebelverhängten Abends plötzlich, wie aus dem Nichts heraus, erscheint —
zwecklos. Seine Lage gegenüber den Dorfbewohnern ist die des Menschen
gegenüber dem Sein. Er steht dabei, aber nicht darin. Er ist nicht berufen. Das
heißt, er hat kein Recht zu sein, sein Dasein ist nicht zu rechtfertigen. Wie kein
Gott den Menschen hervorgerufen und mit diesem Ruf die menschliche Existenz
gerechtfertigt und ihr einen Sinnn zugewiesen hat, so hat kein Beamter des
Schlosses K. berufen, da zu sein, wo er nun ist. Ihm ist keine Funktion zu-
erkannt worden. Er hat kein Recht darauf, im Dorf zu weilen, er hat nicht
einmal das Recht, eine einzige Nacht da zu verbringen. Wir müssen uns ver-
gegenwärtigen, daß K.s einziger zunächst feststellbarer Wunsch es war, im
Brückenhof Nachtquartier zu erhalten. Das ist sein erster Versuch zu sein: Zu
,sein* ist einfach die Fähigkeit und die Möglichkeit, ,da zu sein*. Aber K. erman-
gelt der Berechtigung seines Daseins. Damit spiegelt er das existenzphiloso-
phische Bild des Menschen wider, der keinen Grund, keinen gegebenen Zweck,
keinen schon vorhandenen und a priori mitgegebenen Sinn seiner Existenz hat.
Da er aber nun einmal da ist, muß er existieren. Diese Nötigung eines Planes,
eines Existenzprojekts, womit er sich als Daseiendes dem Sein gegenüber be-
haupten kann, heißt bei Sartre Existenz. Existenz ist die Nötigung der Gewor-
fenheit, sich im Wurf zu verwirklichen, sich aus bloßer Möglichkeit zur Wirk-
lichkeit umzuschaffen. Wie der Held von Kafkas Schloß befindet sich auch der
Mensch eines Tages einfach da, wo sein Bewußtsein erwacht. Er befindet sich
immer schon da, um Heideggers Formulierung zu verwenden. Bei Sartre be-
findet er sich nun als Fremdling vor dem Sein, draußen, außerhalb des Seins. So
erscheint K. eines Abends aus dem Nichts. Er befindet sich vor dem Dorf,
6
Die sehr tiefgehenden Unterschiede zwischen Heideggers dem Sein zugewandter
Frömmigkeit und Sartres rebellisch-radikalem Atheismus interessieren uns in diesem
Zusammenhang nicht.

18 ArcadiaS

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274 Walter H. Sokel

draußen, außerhalb der Dorf-Schloß-Gemeinschaft. Wie der Mensch aus


existenzphilosophischer Sicht versucht er nun, in das Sein einzudringen, selbst
zu sein, d, h. K. versucht, in das Leben des Dorfes einzudringen und das Schloß
des Dorfes zu betreten. Wie Gott, der Bewußtsein und Sein vereinigt, für den
Menschen, so ist das Schloß für K. zunächst unsichtbar. Als K. es am Morgen
darauf erblickt, enttäuscht es ihn und zeigt sich ihm wie eine schäbige Fassung
des Kirchturms seines Heimatorts, in eben der Weise, in der das Göttliche dem
Erwachsenen der gottlos gewordenen Spätzeit nur als Erinnerung an Kindheits-
träume fungiert.
An jenem ersten Abend, bevor er das Schloß überhaupt erblickt, ist es
seine Absicht, einfach im Dorf zu ruhen, wie es in Uetre et le neant der erste
Versuch des Menschen ist, seinem ruhe- und grundlosen Bewußtsein einen
Hafen- und Ruheort im Sein zu sichern. Doch der Mensch 'kann nicht ruhen. Er
muß existieren; er muß den Grund, auf welchem er in Zukunft ruhen und sein
möchte, immer wieder erschaffen. Er muß werden, um zu sein, d.h. er muß
etwas werden, etwas Bestimmtes, und nur so kann er danach streben zu sein.
Denn nur, indem er etwas ist und dieses Etwas bleibt, kann er sein, am Sein
teilhaft werden. So muß der Mensch sich selbst erschaffen. Dauernd bedroht von
der Gefahr der Vernichtung, ist er dazu verurteilt, sich selber zu wählen. Wie
der Mensch der Existenzphilosophie sieht sich K. einer verzweifelten Situation
gegenüber. Er besitzt kein bestätigtes Recht, da zu sein, wo er sich befindet, und
wird mit sofortigem Hinauswurf bedroht. Der feindlichen Mauer von Dorf-
bewohnern gegenüber wie das menschliche Bewußtsein vor dem ihm fremden
Sein, entwirft er sich die Berufung, die ihm zur Sendung wird. Diese Berufung,
die er als die ihm zugehörige Vergangenheit, als seine Rechtfertigung und Be-
gründung vorgibt, ist aber nichts als eine höchst Ungewisse Möglichkeit seiner
Zukunft. Immerhin — vorläufig wenigstens hat er damit die Möglichkeit ge-
funden, unter den Dörflern zu existieren. Er hat sich damit vor dem sofortigen
Hinauswurf, der unmittelbar drohenden Vernichtung, bewahrt, indem er sich
als etwas Bestimmtes, als jemand Bestimmten definiert — als den Landver-
messer, den das Schloß berufen hat. Diese Selbstdefinition ist K.s Wesen. Doch
ist sein Wesen eben keine Tatsache, sondern vielmehr eine Lüge, ein Vorwand,
eine Hochstapelei. Seine Aufgabe ist es nun, die Lüge zur Wahrheit zu machen,
seine Möglichkeit zu seiner Wirklichkeit zu erheben, sein Projekt in Tatsache zu
verwandeln. K. muß sich selbst erschaffen. Er muß vollbringen, was das
Schloß nicht getan hat. Er muß sich selbst eine Funktion, eine Stellung als Stelle,
er muß sich selbst Natur und Wesen geben. Audi bei ihm geht Existenz der
Essenz voran. Er ist da, und dann erst kommt der Versuch, Bestimmtheit als
Landvermesser zu erlangen. Er ist da, bevor er das wird, wozu er sich macht —
nämlich der vom Schloß zu berufende und vom Schloß zu bestätigende Land-
vermesser.
So spielt K. die Rolle, die dem Menschen aus der Perspektive der Existenz-
philosophie Sartres zufällt. Er muß sich sein Wesen selbst geben; wie Kafka
muß er sich seinen eigenen Grund schaffen, auf dem er stehen soll; er
muß die von Gott versäumte Schöpfungsarbeit selbst leisten. Er muß

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Kafka und Sartres Existenzphilosopbie 275

den Zweck bereiten, zu dessen Verfolgung sich seine Existenz definieren wird.
Der Beruf, auf den seine selbstbestimmende Wahl fällt, ist auch bezeich-
nend für den Kafkasdien Helden: Er wählt sich selbst zum — Landvermesser.
Als Metapher drückt dies die Fragwürdigkeit, die Doppeldeutigkeit und Wider-
sprüchlichkeit der menschlichen Rolle in einer Welt ohne erfahrbaren Gott mit
glänzender Stimmigkeit aus: In existenzphilosophischer Sicht ist die menschliche
Realität das Revolutionäre in der Welt. Durch das ihr innewohnende Prinzip
des Negierens, des In-Frage-Stellens, der Differenzierung und Projektion des
Nicht-Seins kommt Veränderung und Entwicklung ins Sein. Indem das Be-
wußtsein innerhalb des Seins differenziert, indem es sich vorstellt, was nicht ist,
und es vergleicht mit dem, was ist, wühlt es das Sein auf, gruppiert es um und
bringt Umwälzungen hervor, die menschlicher Vision entspringen. Die mensch-
liche Realität versucht, das Sein zu kontrollieren und neu- und umzuordnen, ja
überhaupt erst zu ordnen. So verwandelt sie nach der ihr innewohnenden
Möglichkeiten projizierenden Vernunft das Sein und schafft es um zur Welt.
Die im existenzphilosophischen Weltall vom Menschen übernommene Rolle
des Ordners und Urschöpfers ist genau die Rolle, die ein Landvermesser in der
Dorfwelt spielt. Der das Land Vermessende läßt den messenden Verstand den
Grundbesitz neu verteilen. .Landvermesser bedeutet immer Neuverteilung des
Eigentums nach rationalen Maßstäben. Landvermessen löst die Herrschaft der
Tradition ab durch Meßlineal und Berechnung. Damit fördert der Landvermes-
ser die Revolution und eignet sich selbst dabei die führende Position und Herr-
schaft über das Schicksal des Dorfes an. Seine Autorität gibt sich aus als Autori-
tät des Verstandes, und seine Macht bedeutet die Entthronung der Tradition
durch mathematisch geformte, abstrakte Gerechtigkeit.
Der Umstand, daß es nicht das Schloß ist, das die Eigentumsverhältnisse
neu vermessen haben will, daß also dieser Landvermesser nicht von oben be-
rufen worden ist, sondern die von alters her revolutionäre Funktion von selbst
und für sich selbst erwählt und bestimmt hat — dieser Umstand steigert natür-
lich noch ganz ungemein die revolutionäre Bedeutung des Landvermesserberufs
in Kafkas Roman. K. spielt die Rolle, die dem vom Grundbesitz ausgeschlosse-
nen, wurzellosen Juden in der von uralten feudalistischen Traditionen bestimm-
ten bäuerlichen Gesellschaft Mittel- und Osteuropas zugeteilt war. K.s Außen-
seitertum bestimmt ihn dazu, der Sauerteig des In-Frage-Stellens, des negierend-
kritischen Verstandes, der Reform und des Umsturzes zu sein, gegen Brauch,
Glaube und Tradition. Zu K. gesellt sich, was immer es an unzufriedenen und
rebellischen Elementen im Dorf nur gibt. In der murrenden Familie Brunswick
und in der Auswurfsgruppe des Barnabas findet K. mögliche Bundesgenossen
und verlockende Kontakte. Sie wiederum erblicken in ihm die Möglichkeit des
Retters und Heilands, einen Messias, und sie fühlen sich dazu gedrängt, seine
selbst ausgerufene Sendung ernst zu nehmen. Durch ihn erhofft F/ieda Emanzi-
pation von der geschlossenen Schloß-Dorf-Atmosphäre. Mit K.s Hilfe möchte
sie ihre traditionsbeherrschte Gemeinschaft verlassen und in die freie Welt aus-
wandern, in die verlockende Fremde. Pepi sieht in ihm den nützlichen Bundes-
genossen und Bruder im Elend der unterdrückten Zimmermädchen.

18*

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276 Walter H. Sokel

Die konservativen und traditionstreuen Elemente der Gemeinde anderer-


seits, Gardena, die Brückenhofwirtin, der Lehrer und viele andere, mustern K.
mit tiefgehegtem Verdacht, mit Verachtung und intensivem Widerwillen. Ihre
naturgemäße Antipathie gegen den Fremden wird zum Zorn entfacht angesichts
seiner respektlosen Kritik, seines arroganten Widerspruchs und In-Frage-
Stellens des Herkömmlichen. Wie der Jude im traditionsbeherrschten Europa
legt K. den unbehinderten Maßstab des Fremden an geheiligten und fraglos hin-
genommenen Brauch der Gemeinschaft. Da ihm als Fremden aller Instinkt und
alles intuitive Verständnis abgeht, muß er alles Betrachtete rationalen Maß-
stäben unterwerfen. In jeder Hinsicht also entspricht Kafkas K. dem herkömm-
lichen Bild des Juden in der volkstümlichen Vorstellungswelt Mittel- und Ost-
europas zur Zeit, da das Schloß geschrieben wurde. Ein entwurzelter Fremder
von nirgendwo, ein kritisch-frecher Intellekt, ohne Verständnis für örtliche
Traditionen und ihnen spöttisch, sarkastisch gegenüberstehend, Sprachrohr und
Hoffnung der Unzufriedenen und Unterdrückten. Sogar der Umstand, daß K.s
Manövrieren sich im Grunde auf zwei Wirtshäuser beschränken muß, erinnert
an die in der antisemitischen Literatur gebräuchliche Designation ,Wirts-
völkerc, die christlichen Nationen bezeichnend, die dem wandernden Juden bloß
temporäre Wirte und Wirtshäuser, aber keine dauernde Heimat zu bieten ge-
willt oder imstande waren.
Dem jüdischen Erlebnis entspricht auch K.s Ambivalenz der Autorität
gegenüber. K. ist Revolutionär und doch zugleich Konservativer, Herausfor-
dernder und Verehrender in einem. Seine Herausforderung des Schlosses ist ja
auch ein verzweifeltes Werben. Denn — auch hierin dem Juden vergleichbar —
braucht er die Gnade der Macht, um beheimatet zu werden, um sein Recht, da
zu sein, zu erwerben. So hängt er also von der von ihm so trotzig bekämpften
Autorität auch wieder völlig ab. Je länger K. bleibt, desto unterwürfiger, ver-
ehrender und patriotischer* verhält er sich. Er verurteilt die Ungeduld des
Barnabas und sein Unvermögen, die Gnadenbeweise des Schlosses genügend zu
würdigen. Seine Freiheit erscheint ihm als unerträglich sinnlos, und er bewun-
dert die Beharrlichkeit des Schloßdieners.
Dieselbe Art der Ambivalenz findet sich im Paradox der menschlichen
Realität in der existenzphilosophischen Anthropologie. Der Mensch ist das
revolutionäre Prinzip im Sein. Durch ihn, der ja das Nichts ist, dringt die
Negation ins Sein ein. Als der In-Frage-Stellende und das Nicht-Sein als Mög-
lichkeit Projizierende ist er der überblickende Vermesser des Seins. Während
er aber die Negation und Revolution in den Kern des Seins hineinträgt und es
damit zu zersetzen droht, umwirbt er wiederum dieses Sein mit verzweifelter
Sehnsucht. Er will in das Sein eindringen und Teil des Seins werden. Das wäre
seine Rechtfertigung, seine Festlegung und Erfüllung: das zu sein, was er ist. Sein
ihm teuerstes Begehren ist es, Ding zu sein, als ,en-soic geborgen im Sein. Doch ent-
hält dieser Wunsch einen inneren Widerspruch, da er zwar sein möchte, dem Sein
angehörig, ins Sein gebettet, aber dabei seine Negativität, sein Bewußtsein, den
Geist, der ihn zum Menschen, zum ,pour-soi' macht, weiter zu behalten wünscht.
Dieser Widerspruch macht die Erfüllung seines Wunsches unmöglich. Denken wir

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Kafka und Sartres Existenzphilosophie 277

dieses Paradox zu Ende, so verstehen wir, warum und wie Kafkas Landvermesser
ohne Land die perfekte metaphorische Entsprechung der menschlichen Existenz
ist. K.s paradoxen Versuch, das Schloß herauszufordern und gleichzeitig zu
umwerben, gegen das Schloß zu rebellieren, um von ihm anerkannt zu werden,
Frieda Klamm zu entreißen, um sich dadurch Klamm zu verbinden und Zugang
zu ihm zu gewinnen — dieses zutiefst widersprüchliche Verhalten ist kein leeres
Paradox, sondern spiegelt und verkörpert in unheimlicher Obereinstimmung
das Paradox der menschlichen Realität, die gleichzeitig Negierung und Um-
werbung des Seins sein muß.
Die soziologische und die existentialistische Deutung Kafkas kommen hier
trotz allem zusammen. Der Grund dafür liegt in dem Umstand, daß das
existenzphilosophische Bild des Menschen seinerseits auch wieder gesellschaftlich
bestimmt ist. Die Gleichsetzung des Menschen mit einem undeterminierten Be-
wußtsein, mit dem Nichts und der Negation, gilt ja nur, wenn Bewußtsein als
völlig rein und frei von kollektiven, durch Tradition und Erziehung bestimmten
und ererbten Inhalten gedacht wird, als von menschlicher Gemeinschaft un-
geformt. Insoweit Bewußtsein isoliert existiert und als reiner Denkprozeß ge-
dacht wird, der sich im Leib gefangen sieht und darüber hinaus nichts ist —
insofern kann Sartres existenzphilosophische Idee des Menschen, des Ich und
des Anderen kaum widersprochen werden. Soweit hingegen das Einzelbewußt-
sein als mit den Vorstellungen der Familie, der Stammesgemeinschaft, der Kul-
tur aufs engste verquickt und von diesen kollektiven Faktoren bedingt an-
gesehen wird, erweisen sich die absolute Einsamkeit und Wurzellosigkeit des
Bewußtseins als intellektuelle Konstruktion und als bloße Abstraktion, wie es
ja der spätere Sartre häufig zugegeben hat. Sobald also das Bewußtsein als ein
von vielen geteilter und gemeinsamer, über Generationen vererbter und auf
Gruppen übertragbarer Vorstellungsinhalt verstanden wird, hört die Sartresche
Existenzanthropologie auf, relevant zu sein. Sie trifft hingegen da zu, wo sich
der Einzelne von einer gemeinsamen Tradition abgeschnitten findet und keinen
mit anderen gemeinsamen Boden für seine Voraussetzungen und Werte mehr
vorfindet. Kafkas phantastische Universalität beruht auf dem Umstand, daß er
den Menschen in seinen beiden Aspekten — im existentiellen wie im kollektiven
— darstellt: als K. und als Dorfbewohner des Schlosses. Freilich gehört die
Perspektive zur Seite K.s und entspricht, wie wir gesehen haben, der existenz-
philosophischen Anthropologie. Aber was K. sieht, ist die Menschheit in der
Gemeinschaft, teils — wenn auch nicht völlig — geborgen in homogener Kollek-
tivität.
Dazu kommt noch, daß, indem wir Kafka mit der Sartreschen Existenz-
philosophe verknüpft haben, wir nur eine Seite beleuchten konnten. In Kafka
gibt es nicht nur den Landvermesser, sondern auch das Schloß, das ja, wenn auch
K. rätselhaft und unerkannt, ihm gegenüber unabhängig handelt und keines-
wegs ein bloß passives Sein oder bloße Reflexion K.s ist. Wie in allen Werken
Kafkas gibt es auch im Schloß nicht nur das Ich, das ,pour-soi' und Ego — den
Protagonisten —, es gibt auch den Antagonisten, der wiederum dem Sartreschen
Begriff des Anderen entspricht.

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