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Baltes, Paul B.; Baltes, Margret M.

Optimierung durch Selektion und Kompensation. Ein psychologisches Modell


erfolgreichen Alterns
Zeitschrift für Pädagogik 35 (1989) 1, S. 85-105

Empfohlene Zitierung/ Suggested Citation:


Baltes, Paul B.; Baltes, Margret M.: Optimierung durch Selektion und Kompensation. Ein psychologisches
Modell erfolgreichen Alterns - In: Zeitschrift für Pädagogik 35 (1989) 1, S. 85-105 - URN:
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Kontakt / Contact:
peDOCS
Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF)
Informationszentrum (IZ) Bildung
E-Mail: [email protected]
Internet: www.pedocs.de
Zeitschrift für Pädagogik
Jahrgang 35 -

Heft 1 -
Januar 1989

I. Thema: Sozialpsychologie der Schule

Achim Leschinsky Zur Einführung in den Themenschwerpunkt „So¬


zialpsychologie der Schule" 1

Heiner Hirblinger Pädagogische Wahrnehmung und sprachliches


Handeln 5

Werner Helsper/ Selbstkrise, Suizidmotive und Schule: Zur Suizid-


Wilfried Breyvogel problematik und ihrem historischen Wandel in der
Adoleszenz 23

Rainer Benkmann Dominanz und Egalität. Zur Konstruktion unter¬


schiedlicher sozialer Beziehungen in einer Schule
für Lernbehinderte 45

IL Weitere Beiträge

Ann T. Allen „Kommt, laßt uns unseren Kindern leben": Kin¬


dergartenbewegungen in Deutschland und den
Vereinigten Staaten, 1840-1914 65

Paul B. Baltes/ Optimierung durch Selektion und Kompensation.


Margret M. Baltes Ein psychologisches Modell erfolgreichen Al¬
terns 85

Walter Hornstein Auf der Suche nach Neuorientierung: Jugendfor¬


schung zwischen Ästhetisierung und neuen For¬
men politischer Thematisierung der Jugend 107

I
III. Rezensionen

Christian Lüders Heinz-Hermann Krüger (Hrsg.): Handbuch


der Jugendforschung 127

Georg Ruder Walter Jaide: Generationen eines Jahrhun¬


derts. Wechsel der Jugendgenerationen im Jahr¬
hunderttrend 130

Georg Ruder Helmut Fend: Sozialgeschichte des Aufwach¬

sens 130

Jürgen Oelkers/ Dieter Lenzen (Hrsg.): Enzyclopädie Erzie-


Heinz-Elmar Tenorth hungswissenschaft: Handbuch und Lexikon der
Erziehung. Bd. 12: Gesamtregister 136

Ulrich Herrmann Theodor Brüggemann in Zusammenarbeit mit


Otto Brunken (Hrsg.): Handbuch zur Kinder-
und Jugendliteratur. Vom Beginn des Buchdrucks
bis 1570 142

IV. Dokumentation

Pädagogische Neuerscheinungen 147

II
Contents

I. Topic: Social Psychology of Schooling


Achim Leschinsky Introductory Remarks 1

Heiner Hirblinger Pedagogical Perception and Verbal Behavior 5

Werner Helsper/ Indentity Crisis, Suicidal Motives, and School- On


Wilfried Breyvogel the Problem of Scuicide in Adolescence and its
Historial Changes 23

Rainer Benkmann Dominance and Equality. On the Development of


Different Social Relations in a School for Handi¬
capped Children 45

IL Discussion

Ann T. Allen "Let us Live with our Children". Kindergarten


Movements in Germany and the United States,
1840-1914 65

Paul B. Baltes/ Selective Optimization with Compensation: A


Margret M. Baltes Psychological Model of Successful Aging 85

Walter Hornstein Searching for the New Orientations: Research on


Adolescence Between Aesthetisizing and New
Forms of a Political Interpretation of
Youth 107

III. Book Reviews 127

IV. Documentation

New Books 147

III
Paul B. Baltes/Margret M. Baltes

Optjjrnierung durch Selektion und


Kompensation*
Ein psychologisches Modell erfolgreichen Alterns

Zusammenfassung
Ein psychologisches Modell erfolgreichen oder „guten" Alterns wird vorgestellt, das von sechs
empirisch fundierten Thesen ausgeht: (1) Unterscheidung zwischen normalem, krankem und
optimalem Altern; (2) interindividuelle Variabilität (Heterogenität); (3) Plastizität und Kapazi¬
tätsreserve; (4) altersbedingte Verringerung der Bandbreite von Kapazitätsreserven oder Anpas¬
sungsfähigkeit; (5) altersabhängige Veränderung des Verhältnisses von Entwicklungsgewinn und
-Verlust; und schließlich (6) Aufrechterhaltung großer subjektiver Zufriedenheit und des
Selbstbewirkungsvermögens auch im vorgerückten Alter. Das von diesen Thesen abgeleitete
prototheoretische Modell der Optimierung durch Selektion und Kompensation (model of selective
optimization with compensation) charakterisiert den Prozeß einer wirkungsvollen psychologischen
Anpassung an die Bedingungen des Alterns. Das Modell ist universalistisch angelegt, schließt
aber auch phänotypische Variationen aufgrund individueller und gesellschaftlicher Merkmale

Das Konzept „Erfolgreichen Alterns"

„Erfolgreiches Altern" ist als psychologisches Konzept zwar mehr als ein
Jahrzehnt alt (z.B." Williams/Wirths 1965), rückt aber erst in jüngerer Zeit
verstärkt als ein Leitthema gerontologischer Forschung und als eine heraus¬
fordernde sozialpolitische Aufgabe (M. Baltes 1986,1987; Butt/Beiser 1987;
Rowe/Kahn 1987; Ryff 1982) in den Mittelpunkt des Interesses. Das liegt nicht
allein daran, daß der Begriff beinahe zu einem Schlagwort avanciert ist, und
auch nicht allein an der Bedeutung, die man dem Problem des Alters und des
Alterns in einer modernen Welt beimißt. Die Erörterung von Fragen des
erfolgreichen Alterns mündet vielmehr in eine Suche nach Faktoren und
Bedingungen, die helfen könnten, das gesamte Spektrum der Möglichkeiten
des menschlichen Alternsprozesses zu verstehen und, falls erwünscht, Wege zu
finden, ihn so, wie er heute normalerweise abläuft, zu verändern. Ob sich das
Konzept des erfolgreichen Alterns auf lange Sicht als ergiebiges und entwick¬
lungsfähiges Thema erweist, ist dabei letztlich weniger wichtig als die Tatsache,

Fassung dieses Beitrags erscheint in englischer Sprache unter dem


*
Eine erweiterte
Titel „Selective Optimization With Compensation" in Baltes, P.B./Baltes, M.M.
(Eds.): Successful Aging: Behavioral and Social Sciences Perspectives. New York:
Cambridge University Press, im Druck (1990). Wir danken Uta Eckensberger,
Dipl.-Psych., für ihre wertvolle Hilfe bei der Übersetzung des ursprünglich auf
Englisch verfaßten Manuskripts.

Z.f.Pfid,,35.Jg.l989,Nr.l
86 P. BaltesIM. Baltes: Optimierung durch Selektion u. Kompensation

daß es dazu dient, heute anstehende Fragen und aktuelle Forschungsbemü¬


hungen in diesem Bereich auszumachen und miteinander zu verknüpfen.

Altern und Erfolg scheint auf den ersten Blick ein Widerspruch zu sein. Bei
Altern denkt man an Verlust, Abbau und nahenden Tod. Erfolg dagegen
suggeriert Gewinn, Sieg, positive Bilanz. Die Verknüpfung von Alter und
Erfolg scheint also Verstandes- und gefühlsmäßig ein Paradoxon zu sein. Auch
könnte man kritisieren, dem Konzept des erfolgreichen Alterns hafte der
Geruch eines versteckten Sozialdarwinismus und bedrohlichen Konkurrenz¬
denkens an, und es repräsentiere darum einen wenig wünschenswerten Aspekt
westlich-kapitalistischer Denktradition.

Bei näherem Hinsehen wird man jedoch erkennen können, daß die Verknüp¬

fung von Erfolg und Altern nur scheinbar widersprüchlich ist; vielmehr regt sie
dazu an, das Wesen, die Natur des gegenwärtig zu beobachtenden Alternspro-
zesses eingehender zu analysieren. Es geht darum, sich nicht nur Gedanken

über das Alter zu machen, sondern aktiv gestaltend in diesen Prozeß


einzugreifen und ihn nicht als quasi „natürliches" Phänomen passiv hinzuneh¬
men. In diesem Sinne fordert das Konzept des erfolgreichen Alterns nach¬
drücklich zu überprüfen, prinzipiell machbar ist, und es regt darüber
was

hinaus vielleicht an umzudenken, nämlich „Erfolg" im fortgeschrittenen Alter

nach anderen Kriterien zu bemessen als in früheren Lebensabschnitten.

Das Problem geeigneter Indikatoren

Erfolg in diesem Zusammenhang zu definieren ist nicht leicht. In der


Gerontologie wird meist die Lebensdauer als Indikator für erfolgreiches Altern
propagiert. Und in der Tat muß man nicht Darwins oft (und oft falsch) zitierten
Terminus „survival of the fittest" bemühen, um dem Weltrekordhalter in
vom

Lebensdauer Erfolg zu bescheinigen. Doch gibt es auch eine Kehrseite der


Medaille. Dieser Weltrekordhalter wird nämlich zugleich auch besonders viele
unerfreuliche Dinge erlebt haben. Er wird wahrscheinlich auch der sein, der am
häufigsten Freunde durch Tod verloren hat, der an den meisten offenen
Gräbern stand und der vielleicht auch auf die ausgedehntesten Erfahrungen
mit Krankheiten zurückblicken kann. Dieses Beispiel zeigt, wie komplex die
Suche nach Indikatoren für erfolgreiches Altern ist. Man kann diese Frage
nicht wertfrei und ohne prinzipiell-systemische, d.h. das Ganze des mensch¬
lichen Daseins betreffende Überlegungen behandeln. Ein erster Schritt in
Richtung auf eine umfassende Definition
erfolgreichen Alterns besteht darin
zu erkennen, daß mit einer Vielfalt Kriterien
gearbeitet werden muß. Aus
von

einer solchen multivariaten Perspektive scheinen folgende Kriterien für


Verlauf und Ergebnis von Bedeutung zu sein (Rowe/Kahn 1987; Ryff 1982):
Lebensdauer, körperliche Gesundheit, geistige Gesundheit, psychosoziales
Bewirkungsvermögen, Handlungskontrolle und Lebenszufriedenheit.
In der Forschung zum Problemkreis
„Erfolgreiches Altern" spiegelt sich diese
Kriterienvielfalt wider, ohne daßallerdings bisher zu einem Konsens über
man

Zusammenhänge oder relative Gewichtung gekommen wäre. Insgesamt läßt


P. Baltes/M. Baltes: Optimierung durch Selektion u. Kompensation 87

sich aber doch wohl feststellen, daß zwischen den Kriterien ein vielfältiger
positiver Zusammenhang besteht, wobei allerdings einschränkend gesagt
werden muß, daß diese positiven Wechselbeziehungen nicht hinreichend stark
genug sind, um den Schluß auf eine einzige latente Dimension zu erlauben.
Außerdem ist man zumindest in der Gerontopsychologie noch nicht so weit,
-
-

daß man gesicherte „Kausalaussagen" über Prädiktorvariablen oder Risiko¬


bzw. Präventivfaktoren machen könnte.

Neben den Problemen der Dimensionalität und Gewichtung der Kriterien ist
die Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Indikatoren bedeut¬
sam. In psychologischen und sozialwissenschaftlichen Untersuchungen über¬

wiegen subjektive Kriterien wie z.B. Maßstäbe für Lebenszufriedenheit, das


Selbstkonzept und Selbstwertgefühl sowie in jüngster Zeit für die Kontroll-
wahrnehmung. Zum einen reflektiert diese Bevorzugung subjektiver Faktoren
die Annahme eines gewissen Parallelismus zwischen subjektiver und objektiver
Welt. Zum anderen ist sie aber auch Ausdruck des Werturteils (Schwartz
1974), daß das wahrnehmende Selbst die relevante Prüfgröße für die Lebens¬
qualität sein sollte.
Subjektive notwendig für eine Definition erfolgreichen Alterns.
Kriterien sind
Bei ihrer
einseitigen Verwendung wird unserer Ansicht nach aber die
außerordentliche Plastizität, Anpassungs- und Kompensationsfähigkeit der
menschlichen Psyche außer acht gelassen (s. auch Brim, in Vorbereitung;
Epstein 1981, Filipp/Klauer 1986; Greenwald 1980; Markus/Wurf 1987).
Denn mit Hilfe verschiedenster psychologischer Mechanismen sind Menschen
fähig, sich subjektiven Einschätzung nach „erfolgreich" an völlig
ihrer
unterschiedliche Bedingungen anzupassen. Es ist erstaunlich, wie wenig sich
Menschen, die unter objektiv unzumutbar scheinenden Verhältnissen (in
Kriegszeiten, in Gefängnissen, in Elendsvierteln) existieren müssen, in ihrer
Lebenszufriedenheit von Menschen unterscheiden, die in normalen oder sogar
gehobenen Verhältnissen leben. Wir möchten deshalb behaupten, daß subjek¬
tive Indikatoren sicherlich notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedin¬

gungen für eine angemessene Definition erfolgreichen Alterns darstellen. Die


alleinige Verwendung subjektiver Kriterien würde darüber hinaus höchstwahr¬
scheinlich weder über menschliche und ökologische Notzustände, noch über
vorhandenes Entwicklungspotential geben. Es scheint also wichtig
Aufschluß
zu sein, subjektive Kriterien durch objektive zu ergänzen.

Bei der Suche nach objektiven Kriterien für Lebensqualität lassen sich generell
zwei Vorgehensweisen unterscheiden. Die eine Möglichkeit ist, von einer
normativen Setzung des Idealzustandes auszugehen und Entwicklungsergeb¬
nisse (z.B. geistige Gesundheit) und -ziele (Lebensziele und Verlaufsmuster)
zu beschreiben, die dann als Maßstab oder Norm für Lebenserfolg dienen

können. Ein Beispiel dafür bietet Eriksons Modell einer lebenslangen


Persönlichkeitsentwicklung (mit Generativität und Weisheit als zentralen
Herausforderungen des vorgerückten Alters; z. B. Erikson 1959; Erikson u. a.
1986, Ryff 1984). Produktives Hineinwirken in die nächste Generation und
Erlangung von Weisheit dienen ihm als Maßstab für erfolgreiches Altern. Der
entscheidende Einwand gegen dieses und ähnlich konzipierte Modelle ist, daß
88 P. Baltes/M. Baltes: Optimierung durch Selektion u. Kompensation

sie von einer „Normalbiographie" und einer genormten Gesellschaft ausgehen,


wobei die benutzten Normen oft genug die Prioritäten und Werte der Mittel-
und Oberschicht repräsentieren.

Der zweite Zugang zu objektiven Kriterien für erfolgreiches Altern basiert auf
der Bestimmung der Adaptivität, d.h. der Anpassungsfähigkeit (oder Verhal¬
tensplastizität) des Organismus. Dieser Ansatz scheint weniger determiniert zu
sein, weil es dabei nicht nur um ein einzig mögliches Entwicklungsergebnis,
spezielle Inhalte oder Lebensziele, sondern um die Messung der Effizienz einer
Funktionseinheit oder eines Systems geht. Anpassungsfähigkeit oder Plastizi¬
tät sind Maßstäbe für das Verhaltenspotential und die Leistungsbereitschaft

(M.M. Baltes 1987; Coper u.a. 1986; Shock 1977). Wie gut man denken und
sich erinnern oder wie gut man mit Streßsituationen fertig werden kann, sind
Beispiele für psychologische Anpassungsfähigkeit. Derartige Kriterien dienen
als Indikatoren für die adaptive Kraft des einzelnen.

Eine umfassende Definition erfolgreichen Alterns muß also wertend, system¬


isch und ökologisch ausgerichtet sein. Subjektive und objektive Indikatoren
müssen gleichermaßen in ihrem kulturellen Kontext mit seinen besonderen
Inhalten und ökologischen Erfordernissen berücksichtigt werden. Die objek¬
tiven Aspekte der medizinischen, psychologischen und sozialen Funktions¬
tüchtigkeit sowie die subjektiven Aspekte von Lebensqualität und Lebenssinn
bilden also den gordischen Knoten, den es zu lösen gilt, und wir glauben, daß
das nur durch Berücksichtigung vielfältiger subjektiver und objektiver Krite¬
rien möglich ist.

Sechs Thesen als Bezugsrahmen

Ein Konzept erfolgreichen Alterns muß auf dem basieren, was an empirisch
gesicherten Erkenntnissen über den Alternsprozeß vorliegt. Deshalb haben
wir unser bisheriges Wissen darüber in den folgenden sechs Thesen zusam¬
mengefaßt.

These 1: Man kann zwischen normalem, optimalem und krankem Altern


unterscheiden.

Diese Unterscheidung ist zwar nicht ganz eindeutig, aber heuristisch nützlich
(Rowe/Kahn 1987; Whitbourne 1985). Danach bedeutet normales Altern,
ohne gravierende körperliche oder geistige Erkrankung älter zu werden, und
bezieht sich damit auf den in einer Gesellschaft überwiegend vorzufindenden
Verlauf des Alternsprozesses bei Menschen ohne manifestes Krankheitsbild.
Optimales Altern bezeichnet dagegen eine Art Utopie, nämlich Altern unter
entwicklungsfördernden und altersfreundlichen Bedingungen. Krankes Altern
schließlich meint den Prozeß des Älterwerdens, der deutlich mitgeprägt wird
durch medizinische Ätiologie und Krankheitsprozesse. Das klassische Beispiel
dafür ist die senile Demenz im Verlauf der Alzheimerschen Krankheit.
P. Baltes/M. Baltes: Optimierung durch Selektion 89
u. Kompensation

Ob es Altern ohne Krankheit gibt, ist eine offene Frage. Fries (1983)
beispielsweise vertritt die
Auffassung, daß es im Prinzip möglich sei, das
Auftreten chronischer Krankheiten derart zu unterdrücken oder zu verzögern,
daß die „natürliche und fest vorgegebene"
biologische Lebensspanne ablaufen
könne, bevor eine Krankheit manifest wird. Dem Leben würde also durch den
Tod ein Ende gesetzt, ehe Krankheiten es beeinträchtigt hätten wie eine Uhr,
-

die ohne Anzeichen einer äußeren Beschädigung


plötzlich aufhörte zu ticken.
Ob dieses Zukunftsmodell von Fries je Wirklichkeit wird, ist für unser Problem
von nachgeordnetem Interesse. Wichtig ist zu erkennen, daß nicht der
Alteinsvorgang selbst, sondern erst Krankheiten den Menschen im vorgerück¬
ten Alter als einen qualitativ anderen Organismus erscheinen lassen.

These 2: Der Alternsvorgang ist heterogen (variabel)

Längsschnittstudien des Erwachsenenalters in all seinen Phasen


belegen die
außerordentlich große interindividuelle Variabilität oder
Heterogenität dieses
Prozesses (Maddox 1987; Thomae 1979,1987). In der Vergangenheit haben die
„Kansas City Studies of Adult Life" von Havighurst, Henry, Neugarten und
deren Mitarbeitern den Blick für diese differentielle Sichtweise geöffnet
(Neugarten 1968), und in der Folge lieferten die „Duke Longitudinal Studies"
(Busse/Maddox 1985; Maddox 1987), die „Baltimore Longitudinal Study on
Aging" (Costa/Andres, 1986, Shock et al. 1984), die Untersuchungen an der
Universität Bonn (Lehr/Thomae 1987) sowie die „Seattle Longitudinal Study
of Intellectual Aging" (Schaie 1979, 1983) eine Fülle von Daten, die alle in
dieselbe Richtung weisen: Altern ist kein einheitlicher, gleichförmiger Vor¬
gang, sondern ein höchst individueller und differentieller Prozeß, der im
geistig-seelischen Bereich, im Verhalten und im Sozialbereich einen ganz
unterschiedlichen Verlauf nehmen kann. Die Forschungen zur Soziologie
(Featherman 1983; 1987; Riley u. a. 1972) und Biologie des Alterns
Maddox
haben ebenfalls die Erkenntnis erhärtet, daß die Formen des Alterns in
westlichen Gesellschaften höchst heterogen sind (Finch 1988; Frles/Crapo
1981, Rowe/Kahn 1987). Demnach bilden die biologische Ausstattung des
Menschen und seine Kultur den „genotypischen" Hintergrund, vor dem es ein
bemerkenswertes Maß an unterschiedlicher„phänotypischer" Ausprägung
(Individualität) und Variabilität gibt.

Diese große Variationsbreite scheint durch das Zusammenwirken dreier


Faktoren zustandezukommen. Zum einen gibt es Unterschiede in der geneti¬
schen Ausstattung und in Umweltbedingungen, die sich in der Ontogenese
kumulativ auswirken. Beispielsweise werden genetische Effekte im Verlauf der
Lebensspanne wahrscheinlich verstärkt (Plomin/Thompson 1986). Zum ande¬
ren gibt es Individualisierungseffekte, die daher rühren, wie jeder Mensch

seinen eigenen Lebenslauf gestaltet (Brandstädter u.a. 1986). Und drittens


kann vor allem im dritten Lebensabschnitt die Variabilität dadurch größer
werden, daß der normale Alternsvorgang durch eine Vielzahl unterschiedli¬
cher Krankheitsmuster modifiziert wird. Obwohl die beträchtliche Heteroge¬
nität im hohen Alter als Tatsache eigentlich weitestgehend akzeptiert wird, ist
90 P. Baltes/M. Baltes: Optimierung durch Selektion u. Kompensation

es doch immer noch eine strittige Frage, ob die interindividuelle Variabilität mit
dem Alter zunimmt (Bornstein/Smircina 1982).l

These 3: Es gibt eine beträchtliche „stille Reserve" (Plastizität)

Das Plastizitätskonzept ist im Zuge der gerontologischen Interventionsfor¬


schung entstanden (Baltes 1973). Spezifische Interventionen im Bereich von
Selbsthilfe, Sozialverhalten und Kontrollwahrnehmung (M.M. Baltes 1982;
M.M. Baltes/Barton 1977; Langer, im Druck; Mosher-Ashley 1986/1987;
Rodin 1986) oder im Intelligenzbereich (Baltes/Lindenberger 1988; Denney
1984; Kliegl/Baltes 1987; Labouvie-Vief 1985; Lerner 1984; Willis 1985)
liefern Hinweise auf das Vorhandensein einer beträchtlichen Plastizität. So
konnte gezeigt werden, daß die meisten älteren Menschen den jüngeren
Erwachsenen vergleichbare beachtliche Reserven besitzen, die sich durch
Lernen, Übung und gezieltes Training aktivieren lassen. In der Folge davon
konzentrierte man sich in der Forschung verstärkt auf das Konzept der
Kapazitätsreserve, d.h. des noch ungenutzten und darum entwicklungsfähigen
Leistungspotentials.
Im Bereich des Sozialverhaltens beispielsweise haben M.M. Baltes und ihre Mitar¬
beiter (M-M. Baltes, 1988) im Rahmen ihres Forschungsprogramms, das dem Abhän¬
gigkeitsverhalten alter Menschen gewidmet ist, nachweisen können, daß abhängige
Verhaltensweisen eine große Plastizität oder Reversibilität besitzen und bei alten
Menschen durch bestimmte Umweltbedingungen in verstärktem Maße aufrechterhal¬
ten und sogar begünstigt werden. In experimentellen Studien nach dem operanten
Lernmodell (einen Überblick bieten M.M. Baltes/Barton 1977; Mosher-Ashley
1986/1987; Wisocki 1984) ist unter Verwendung verschiedener Verfahren der Verstär¬
kung und Stimuluskontrolle bei sehr unterschiedlichen Arten von Abhängigkeit die
beträchtliche Verhaltensplastizität alter Menschen demonstriert worden. So kann die
Art der Eßutensilien darüber entscheiden, ob ein alter Mensch noch allein, d.h.
selbständig essen kann oder nicht. Ebenso kann die Tatsache, ob einem alten Menschen
Zeit gegeben wird, ihm ermöglichen sich selbst anzuziehen. Auch das Angebot oder
Fehlen von Anreizen, beispielsweise von Musik, einer Uhr, einem Kalender, von
Fragen, Berührung usw. können entscheidend sein, ob ein alter Mensch an seiner
Umgebung Anteil nimmt oder vor sich hindämmert. Die Ergebnisse dieser Interven¬
tionsstudien weisen also deutlich auf die Möglichkeit einer Verhaltensoptimierung
korrigierender Kompensation im hohen Alter hin.

Im Bereich von Intelligenz


und Gedächtnis, also im kognitiven Funktionsbereich,
liefern die Daten Hinweise darauf, daß Menschen im Alter zwischen 60 und 80 Jahren
(wie jüngere Erwachsene) von Übung und Training profitieren und ihre Intelligenzlei-
stung in einem Umfang verbessern können, der dem Altersverlust an Intelligenz
vergleichbar ist, den man in Längsschnittstudien bei Personen beobachtet, die nicht an
einem besonderen Trainingsprogramm teilgenommen haben (Schaie/Willis 1986).
Darüber hinaus läßt sich zeigen, daß ältere Menschen von ganz verschiedenen
kognitiven Interventionen profitieren, darunter auch solchen, die ein Minimum an
Instruktion und Übung erfordern (Willis, 1985). Ebenso ist nachgewiesen worden, daß
gesunde alte Menschen durchaus in der Lage sind, kognitive Fertigkeiten zu
neue

erwerben und z. B. wahre Gedächtniskünstler zu werden (Kliegl u. a., im Druck). Aus


solchen Ergebnissen läßt sich schließen, daß die „Mechanik" des Denkapparates auch
P. Baltes/M. Baltes: Optimierung durch Selektion 91
u. Kompensation

im hohen Alter ähnlich funktioniert wie in früheren


Lebensphasen und ältere Menschen
sich damit neue Denkabläufe und
Wissenssysteme aneignen können.
Aus der Tatsache, daß auch im Alter ein Neulernen möglich ist, läßt sich
schließen, daß ältere Menschen Reserven adaptiver Fähigkeiten mobilisieren
können (Charness 1985; Featherman 1986, 1987; Perlmutter, im Druck;
Rybash et al. 1986). Das ist
beispielsweise für den Erwerb, die Aufrechter¬
haltung und Transformation von Expertenwissen im Berufsleben alternder
Menschen wichtig. Darüber hinaus hat die Fähigkeit zum Neulernen Implika¬
tionen für Bereiche wie Weisheit, die als besonders charakteristisch für die
Entwicklungsveränderungen im späten Lebensabschnitt angesehen werden
(Dittmann-Kohli/Baltes, im Druck; Holliday/Chandler 1986; Kekes 1983;
Perlmutter, im Druck; Smith u.a. im Druck). Und in der Tat finden sich in
Querschnittstudien zu Lebenswissen und Weisheit etliche ältere Menschen in
der höchsten Leistungsgruppe (Baltes u. a. Druck). Allerdings ist hier eine
im
einschränkende Warnung angebracht: Nach bisherigen Erkenntnissen
unseren
ist es nicht so, daß die Mehrzahl der älteren Erwachsenen die
jüngeren in
Bereichen wie berufliches Expertenwissen und Weisheit überflügelt. Was
bisher jedoch deutlich gezeigt werden konnte, ist, daß bei vielen älteren
Menschen unter günstigen ökologischen und medizinischen Bedingungen ein
Zusatzpotential zu Leistungen auf hohem Niveau sowie die Fähigkeit zum
Erwerb neuer, mit der „Pragmatik" der Intelligenz (Dixon/Baltes 1986)
zusammenhängender Wissenssysteme und Lernstrategien zu aktivieren ist.

These 4: In der Nähe der Leistungsreservegrenzen gibt es einen altersbedingten


Verlust

Trotz beträchtlicher Kapazitätsreserven


gibt es jedoch auch vermehrt Hinweise
auf altersbedingte
Grenzen in der Stärke und Bandbreite des kognitiven
Potentials. Aber wie in den biophysischen Funktionsbereichen (M.M. Bal-
tes/Klndermann 1985; Coper et al. 1986; Whitbourne 1985) stehen auch hier
die psychologischen Forschungen noch ziemlich am Anfang. Das Schlüssel¬
problem ist, ob ältere Menschen unter günstigen Bedingungen dieselben
Höchstleistungen erbringen können wie junge Erwachsene. Tabelle 1 veran¬
schaulicht eine Methode, mit der die verschiedenen Niveaus der Kapazitäts¬
reserve (Ausgangsleistung, Ausgangsbasis der
Kapazitätsreserve, tatsächlich
noch entwicklungsfähige Kapazitätsreserve) ausgetestet werden können
(Kliegl/B altes 1987).
Langzeit-Trainingsstudien, in denen Reaktionszeiten und andere zeitgebundene Fak¬
toren als Indikatoren für die Informationsverarbeitungsfähigkeit dienten (Salthouse
1985), liefern nicht hinwegzudiskutierende Belege dafür, daß es einen altersbedingten
Verlust im geistigen Potential gibt. Am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsfor¬
schung haben wir diesen Ansatz durch das Paradigma des Austestens der Leistungs¬
grenzen (testing-the-limits) im kognitiven Bereich erweitert. Im psychologischen Labor
etablieren wir bei unseren Probanden unterschiedlichen Alters auf der Basis kogni-
tionspsychologischer Prinzipien sowie theoretischer Überlegungen aus dem Gebiet der
Gedächtnisforschung (Ericsson 1985) hohe Leistungsniveaus in einer bestimmten
„Gedächtniskunst" (z.B. Behalten von langen Zahlenreihen oder Wortlisten). Bisher
92 P. Baltes/M. Baltes: Optimierung durch Selektion u. Kompensation

hat sich gezeigt, daß ältere Erwachsene selbst nach hochintensivem Training nicht
dasselbe Niveau erreichen wie junge Erwachsene mit vergleichbarem IQ (Kliegl et al.,
im Druck).

Tabelle 1: Kapazitätsreserve und Austesten der Leistungsgrenzen (testing-the-


limits)

Ziel

„Testing-the-limits" ist eine Strategie zurAbschätzung des Spektrums der


aktuellen und noch zu mobilisierenden Kapazitätsreserve
Drei Schichten der Kapazitätsreserve

Ausgangsleistung Feststellung der Leistung unter standardi¬


sierten Bedingungen ohne Intervention.
Aktuelle maximale Leistung Ermittlung des aktuellen maximalen Lei¬
'

stungspotentials (Kompetenz) durch Strate¬


gien, die auf Optimierung durch Variation
der Leistungsfaktoren (Kontext, Instruktion,
Motivierung etc.) abzielen.
Entwicklungsfähige Kapazitäts- Ermittlung des künftigen Leistungspotentials
reserve durch entwicklungsfördernde Interventionen.

Nach Baltes, u.a. 1984; Kliegl/Baltes 1987.

Derartige Untersuchungen des Höchstleistungsniveaus bereichern die in der


Vergangenheit durchgeführten Forschungen zum Problem der Kapazitätsre¬
serven um eine neue Dimension: Altersunterschiede scheinen größer zu

werden, wenn die verlangten Fertigkeiten an die Grenzen des Leistungspoten¬


tials stoßen. Wie Untersuchungen zum Expertengedächtnis zeigen (Kliegl et
al., im Druck), werden diese Unterschiede in der Tat so groß, daß fast kein
älterer Mensch mehr auf demselben Niveau operieren kann wie viele junge
Erwachsene. Vor dem Hintergrund anderer theoretischer Positionen zum
Konzept der Kapazitätsbegrenzung (Craik 1977; Salthouse 1985) legen die
bisherigen Ergebnisse den Schluß nahe, daß die kognitiven Kapazitätsreserven
im hohen Alter begrenzt sind, was sich besonders auffällig dann zeigt, wenn die
Grenzen der aktuellen Leistung und der noch entwicklungsfähigen Reserven
ausgetestet werden.

These 5: Mit fortschreitendem Alter wird die Bilanz von Entwicklungsgewinn


und -verlust zunehmend negativ

Sowohl nach objektiven Maßstäben wie nach subjektiven Erwartungen spiegelt


Entwicklung in jedem Lebensabschnitt die
Dynamik des Wechselspiels zwi¬
schen Gewinn und Verlust wider, wofür es hauptsächlich zwei Gründe gibt. Der
erste gehört wesensmäßig zum Entwicklungsprozeß. Weil jede entwicklungs-
P. Baltes/M. Baltes: Optimierung durch Selektion u. Kompensation 93

bedingte Veränderung eine adaptive Spezialisierung bedeutet (Baltes 1987;


Featherman 1987; Singer 1987), birgt jeder Entwicklungsprozeß (der eine
positive Veränderung irgendeiner adaptiven Fähigkeit beinhaltet) zugleich
auch immer den Verlust anderer Entwicklungsmöglichkeiten in sich. Ein
anschauliches Beispiel dafür ist das Vorankommen auf einer beruflichen
Karriereleiter, das zwangsläufig die Wahrscheinlichkeit für andere Karrieren
sinken läßt. Ähnliches gilt in der Entwicklungsbiologie (z.B. Kanalisierung):
Die Differenzierung bestimmter neuronaler Bahnen während der Entwicklung
vollzieht sich auf Kosten anderer im Prinzip auch möglicher, so daß jeder reale
Entwicklungsprozeß nicht nur Zunahme oder Gewinn an adaptiver Fähigkeit
bedeutet, sondern gleichzeitig auch immer einen gewissen Verlust mit sich
bringt.
Der zweite Grund für eine veränderte Bilanz zwischen positiven (Gewinn) und
negativen (Verlust) Aspekten liegt im Alternsprozeß und im hohen Alter selbst
begründet. Die Dynamik des Gewinn-Verlust-Verhältnisses wird in diesem
Lebensabschnitt nämlich besonders drängend, weil Verluste (negative Verän¬
derungen der adaptiven Fähigkeit) die Gewinne (positive Veränderungen der
adaptiven Fähigkeit) zu überwiegen beginnen, und zwar deshalb, weil die
Grenzen der allgemeinen Kapazitätsreserven im Alter zunehmend enger
gesteckt sind.
Dieses Phänomen einer zunehmend negativen Bilanz zwischen Gewinnen und Verlu¬
sten zeigt sich auch in den
subjektiven Erwartungen gegenüber dem Alter. Von der
Existenz eines negativen Altersstereotyps ausgehend, haben Heckhausen, Dixon und
Baltes (im Druck) beispielsweise vorhergesagt, daß Erwachsene der Entwicklung in
späteren Lebensabschnitten eine zunehmend größere Zahl von „Verlusten" zuschrei¬
ben würden. Sie befragten Probanden nach der Erwünschtheit und Kontrollierbarkeit
von Veränderungen, die im Erwachsenenalter zwischen 20 und 90 Jahren zu erwarten

sind. Dabei wurden die erwarteten Veränderungen mit zunehmend späterem Auftreten
im Durchschnitt als weniger erwünscht und kontrollierbar eingestuft (s. Abbildung 1),
d.h. die Probanden jeden Alters erwarteten desto mehr unerwünschte und weniger
kontrollierbare Veränderungen, je höher die beurteilte Altersstufe war.

Gleichzeitig billigt unsere Vorstellung der lebenslangen Entwicklung aber


selbst dem sehr hohen Alter einige positive Veränderungen zu. So erwartet
man beispielsweise, daß mit fortschreitendem Alter Weisheit und Würde zur

Entfaltung kommen. Aber trotz dieser grundsätzlich positiven Aspekte


verschiebt sich die Bilanz zwischen erwarteten Gewinnen und Verlusten im
Alter mehr und mehr zur negativen Seite.

These 6: Das Selbstbild bleibt auch im hohen Alter intakt

Im Durchschnitt unterscheiden sich die subjektiven Äußerungen älterer


Menschen über Lebenszufriedenheit die auf das Selbst bezogenen
und
Meßgrößen wie Kontrollvermögen oder Selbstbewirkungsvermögen (M.M,
Baltes/Baltes 1986; Butt/Beiser 1987; Filipp/Klauer 1986; Veroff u.a.
1981) ganz und gar nicht von denen junger Menschen. Dafür gibt es wohl drei
Gründe. Als erstes ist das Phänomen des „multiplen Selbstbildes" zu nennen.
94 P. Baltes/M. Baltes: Optimierung durch Selektion u. Kompensation

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Abbildung 1: Einschätzung von 163 psychologischen Merkmalen als Entwicklungs¬


gewinn oder -vertust. Erwartete Gewinne (Zunahme erwünschter Merkmale) und
Verluste (Zunahme unerwünschter Merkmale) im Verlauf des Erwachsenenalters
(nach Heckhausen u. a., im Druck).

So legen etwa Untersuchungsbefunde die Annahme nahe, daß jeder Mensch


mehr als ein Selbstbild von sich besitzt (Filipp/Klauer 1986; Markus/Nurius
1986). Wir alle haben wohl eine Reihe teils ganz unterschiedlicher Vorstellun¬
gen davon, wer wir sind, waren, sein wollen oder sein könnten. Und dieses

Vorhandensein eines multiplen Selbstbildes mit seinen entsprechenden Phan¬


tasievorstellungen stellt einen wirksamen Mechanismus für die Anpassung an
unterschiedliche Lebenslagen dar. Zweitens gibt es die Möglichkeit der
Veränderung von Zielen und Anspruchsniveaus (Brim 1988), denn durch
Erfahrungen des Erfolgs und Mißerfolgs sind Menschen sehr wohl in der Lage,
ihre Erwartungshaltung jeweils auf einem anderen Niveau anzusetzen. Und
schließlich gibt es drittens noch den sozialen Vergleich. Das bedeutet: Die
Anpassung an neue Ziele und Erwartungen, die bei vielen bedeutsamen
Lebensveränderungen notwendig ist, wird dadurch begünstigt, daß sich häufig
aufgrund der Ereignisse auch die Bezugsgruppe ändert (Schwarzer u. a. 1982;
Suls/Mullen 1982). In der Folge davon kommt es jeweils zu einer korrigierten
Neueinschätzung, die die eigene Lebenssituation und das Selbst in einem
anderen Licht erscheinen läßt.
P. Baltes/M. Baltes: Optimierung durch Selektion u. Kompensation 95

Die Feststellung,
daß das Selbstbild auch im fortgeschrittenen Alter relativ
intakt bleibt, besagt nicht,
daß nun alle älteren Menschen ein unversehrtes
Selbstbild bewahren und ein großes Selbstwertgefühl und Kontrollbewußtsein
besitzen. Auch bei ihnen gibt es wie in jüngeren Altersgruppen beträchtliche
individuelle Unterschiede. Mit These 6 wollen wir
lediglich ausdrücken, daß
sich im Durchschnitt ältere Erwachsene in den Indikatoren für das Selbstbild
nicht auffällig von jüngeren Altersgruppen unterscheiden.

Strategien erfolgreichen Alterns

Allgemeine Prinzipien

Aus diesem Bezugsrahmen von Thesen über die Natur des Alternsprozesses

lassen sich zunächst einmal allgemeine Richtlinien ableiten, die, gut aufeinan¬
der abgestimmt, auf mögliche Strategien erfolgreichen Alterns hindeuten.
Zum einen ist sicherlich eine „gesunde" Lebensführung sinnvoll, um Krank¬
heiten im Alter vorzubeugen (These 1). Zweitens ist es wünschenswert, durch
Weiterbildung, Motivierung und gesundheitsorientiertes Verhalten sowie
durch Bildung und Pflege sozialer Netzwerke und Unterstützungssysteme
(Antonucci/Jackson 1986; Kahn/Antonucci 1980) die Kapazitätsreserven zu
stärken. Denn je größer die körperlichen, geistigen und sozialen Kapazitäts¬
reserven, desto erfolgreicher der Alternsprozeß.

These 4 (Begrenzung der Kapazitätsreserven) deutet auf ein anderes allgemeines


strategisches Prinzip hin. Wegen ihrer Verluste an adaptiver Kapazität (ganz besonders
im oberen Grenzbereich) bedürfen ältere Menschen besonderer kompensatorischer
Unterstützung. Gefordert sind hier prothetische Maßnahmen, altersangemessene
Lebensformen und altersfreundliche Umwelten, die, außer entwicklungsfördernde
Bedingungen zu bieten, auch die Kapazitätsreserven weniger beanspruchen und
darüber hinaus noch Unterstützungsmaßnahmen bereithalten (z.B. M.M. Bal-
tes/Wahl im Druck; Lawton 1982).

These 5 (veränderte Bilanz des Verhältnisses von Gewinn und Verlust) sowie These 6
(Unversehrtheit des Selbstbildes) legen Strategien nahe, die die Anpassung an die
„objektive" Realität ohne Verlust der Individualität erleichtern. Lebenslange Entwick¬
lung und Altern können qua Definition nicht nur Gewinn bringen (Brim 1988); es
treten, absolut gesehen, auch Verluste ein.

Veränderungen von Motivationslage und Zielvorstellungen werden durch die


Frage kompliziert, wann man einen Verlust akzeptieren und sein Leben neu
orientieren sollte. Brim (ebd.) hat dafür ein Kriterium vorgeschlagen, das er
das „Verhältnis von Leistungsstandard zu Leistungsfähigkeit" nennt und das
mit dem Konzept des eben noch zu bewältigenden Schwierigkeitsgrades
verknüpft ist. Dieses Kriterium könnte es ermöglichen, genau festzulegen,
wann „objektive" Gegebenheiten das Hinnehmen eines Verlusts fordern.

Verluste wären immer dann einzugestehen, wenn die Ausführung von Verhal¬
tensweisen „dysfunktional" hohe Niveaus der Kapazitätsreserve (Verhältnis
Leistungsstandard zu Leistungsfähigkeit) erfordern würden; d.h. wenn das
Zielverhalten die geistigen, sozialen und motivationalen Ressourcen überfor-
96 P. Baltes/M. Baltes: Optimierung durch Selektion u. Kompensation

dem würde. Das entspricht ganz der Erkenntnis (M.M. Baltes/Wahl im


Druck), abhängiges Verhalten eine wirksame Strategie sein kann, zu hohe
daß
Anforderungen an die eigenen Reserven zu vermeiden (s. auch weiter
unten).
Und schließlich gibt es noch das Problem der Heterogenität und Variabilität

(These 2). Da Altern individuell höchst unterschiedlich verläuft, sollte der


gesellschaftliche Gestaltungsprozeß primär auf die Individualisierung der
werden. Entsprechend der Variabi¬
Ressourcen und Möglichkeiten abgestellt
lität des Alterns muß es eine Vielfalt von Angeboten geben, die die
Gesellschaft bereitstellt und die es jedem erlaubt, die ihm gemäße Form des
Alterns zu finden und zum Ausdruck zu bringen. Denn höchstwahrscheinlich
kann man nicht durch eine einzige Bedingungskonstellation und ein einziges
Verlaufsbild das erfolgreiche oder optimale Altern beschreiben.

Das Prinzip der Optimierung durch Selektion und Kompensation (selective


optimization with compensation)

Läßt sich eine prototypische effektive Alternsstategie vorstellen, die es trotz


zunehmender körperlicher Anfälligkeit und trotz reduzierter Kapazitätsreser¬
ven erlaubt, sein Selbst wirksam zu behaupten und zu entfalten? Während der

letzten Jahre haben wir gemeinsam mit anderen eine derartige Modellvorstel¬
lung unter dem Begriff „Optimierung durch Selektion und Kompensation"
(selective optimization with compensation) entwickelt (M.M. Baltes/P.B.
Baltes 1980; M.M. Baltes 1986,1987; P. B. Baltes 1984,1987; P.B. Baltes
u.a. 1984; s. auch Featherman 1987).
Das Modell beschreibt einenallgemeinen Vorgang der Adaptation, in dem drei
Elemente und Prozesse in Wechselwirkung stehen. Das erste Element, die
Optimierung, trägt der Annahme Rechnung, daß Menschen sich so verhalten,
daß sie das allgemeine Niveau ihrer Kapazitätsreserven zu heben und die
gewählten Lebenswege in Quantität und Qualität zu verbessern suchen. Das
zweite Element, die Selektion, bezieht sich auf die adaptive Leistung, sich auf
solche Bereiche zu konzentrieren, die von hoher Priorität sind und in denen
Umweltanforderungen, persönliche Motivierung, Fertigkeiten und biologische
Leistungsfähigkeit zusammenfallen. Das dritte Element schließlich, die Kom¬
pensation, resultiert aus der Einschränkung in der Bandbreite des adaptiven
Potentials oder der verminderten Plastizität und findet sich immer dann ein,
wenn bestimmte Verhaltenskapazitäten ausgefallen oder aber unterhalb eines
funktionsadäquaten Stellenwertes gesunken sind. Das Prinzip der Kompensa¬
tion ist in der Psychologie wie in der Biologie bekannt. Aus psychologischer
Sicht handelt beispielsweise um ein kompensatorisches Bemühen, wenn
es sich
man beim Nachlassen des Hörvermögens zu einem Hörgerät greift oder
externe Gedächtnisstützen bemüht, wenn das eigene Erinnerungsvermögen
den Anforderungen nicht mehr genügt.
P. Baltes/M. Baltes: Optimierung durch Selektion u. Kompensation 97

Beispiel: Intelligenzforschung

In Tabelle 2 ist der Prozeß der Optimierung durch Selektion und Kompensa¬
tion für den Bereich des geistigen Alterns veranschaulicht. Das Beispiel ist
einem entsprechenden Forschungsprogramm entnommen (Baltes 1987;
Kliegl/Baltes 1987; Smith et al., im Druck), in dem zwei große Intelligenz¬
systeme unterschieden werden: die weitgehend wissensfreie „fluide" Mechanik
und die weitgehend wissensorientierte „kristalline" Pragmatik der Intelligenz.
Das entspricht in etwa der Unterscheidung von Hardware und Software im
Computerbereich. Während für die Mechanik ein Altersverlust in der Effizienz
und Geschwindigkeit postuliert wird, läßt sich für ausgewählte Aspekte der
Pragmatik annehmen, daß sie bis ins hohe Alter erhalten bleiben, vielleicht
sogar noch eine Erweiterung erfahren können.

Tabelle 2: Optimierung durch Selektion und Kompensation: Ein prototypischer


Prozeß adaptiver, lebenslanger Entwicklung im Intelligenzbereich

Allgemeines Merkmal lebenslanger Entwicklung ist eine altersabhängige zuneh¬


mende Spezialierung (Selektion) der motivationalen und kognitiven Ressourcen
und Fertigkeiten.
-
Altern im Intelligenzbereich wird durch zwei Hauptmerkmale charakterisiert:
(a) Die Kapazitätsreserve für Höchstleistungen im B ereich der fluiden Intelligenz
(d.h. die „mechanische" Effizienz von Intelligenz und Gedächtnis) ist
reduziert.
(b) Bestimmte Denkstrategien und inhaltsbetonte Wissenssysteme (d.h. die
und
„pragmatischen" Seiten der Intelligenz) können sich weiter entwickeln
weiterhin höchste Niveaus erreichen.
-
Wenn und falls im Verlauf des Alterns die Kapazitätsgrenzen (Schwellenwerte)
nach unten gehen, bieten sich die beiden folgenden entwicklungspsychologischen
Konsequenzen an:

Zunehmende Selektion (Kanalisierung) und weitere Reduktion der Zahl der


(a)
Höchstleistungsbereiche.
(b) Entwicklung von Kompensations- und/oder Substitutionsmechanismen.
Nach Baltes/Baltes 1980.

Interessant ist nun die Frage, wie der Prozeß der Optimierung durch Selektion
und Kompensation so in das Wechselspiel dieser beiden Intelligenzsysteme
daß
eingreifen und zu einer vollen Ausschöpfung der Pragmatik führen könnte,
der Abbau in der Mechanik der Intelligenz verhindert oder ihm wenigstens
entgegengesteuert werden könnte (z. B. durch Optimierung der Wissenssyste¬
me und den Erwerb kompensatorischer Denk- und Gedächtnisstrategien).

Untersuchungen von Salthouse (1984) zeigen beispielsweise, daß ältere


Maschinenschreiberinnen Leistungen auf hohem Niveau erbringen können,
obwohl sie unter dem Abbau einer Komponente der Mechanik der Intelligenz
(nämlich der Reaktionszeit) leiden. Sie kompensieren diese Beeinträchtigung
98 P. Baltes/M. Baltes: Optimierung durch Selektion u. Kompensation

einfach durch einen geschickteren Einsatz der wissensorientierten


Pragmatik,
nämlich durch Vorauslesen des
abzutippenden Textes.

Beispiel: Altenpflegeheime

Der Prozeß der Optimierung durch Selektion und Kompensation läßt sich auch
anhand „altersfreundlicher" Umgebungen wie Altenpflegeheimen veran¬
schaulichen. Hier wird es sogar auf Makro- und Mikroebene deutlich
(M.M.
Baltes 1982; M.M. Baltes/Wahl 1987, im
Druck). Auf der Makroebene
stellen Altenheime eine besondere Welt dar, die ihrer
Bestimmung nach auf
Aspekte der Optimierung, der verstärkten Selektion und Kompensation
abgestellt sind. Optimierung zeigt sich in den Möglichkeiten zur Übung in
Bereichen, in denen noch eine Weiterentwicklung angestrebt wird. Selektion
drückt sich darin aus, daß die räumliche und soziale Umwelt
weniger
Forderungen stellt. Und Kompensation betrifft das gesamte Spektrum tech¬
nologischer und medizinischer Unterstützung von Bereichen mit verminderter
Kapazitätsreserve. Natürlich ist damit nicht gesagt, daß alle diese Ziele auch
zufriedenstellend erreicht werden.

Auch auf der Mikroebene haben


Untersuchungen von M. M. Baltes und ihren
Mitarbeitern (M.M. Baltes/Reisenzein 1986; M.M. Baltes/Wahl 1987; im
Druck; M.M. Baltes u. a. 1987), die der genauen Beobachtung der Interak¬
tionsmuster von betagten Altenheimbewohnern und
Pflegepersonal dienten,
Aufschluß über einige Phänomene entsprechend dem Modell der
Optimierung
durch Selektion und Kompensation
geliefert. Zum einen Selektion und
spielen
Kompensation insofern eine Rolle, als die Altenheimbewohner und das
Pflegepersonal fest aufeinander eingespielte Verhaltensrepertoires haben, die
so miteinander verzahnt sind, daß die
abhängige Verhaltensweise eines
Altenheimbewohners unweigerlich eine Unterstützungsmaßnahme des
Pflege¬
personals mit sich zieht. Diese Verknüpfung bedeutet unserer Meinung nach,
daß Abhängigkeit der Altenheimbewohner als
angemessene Verhaltensweise
und als eine Schwäche alter Menschen beurteilt wird, die
kompensiert werden
muß. Die Zentrierung auf dieses
Abhängigkeits-Unterstützungs-Muster geht
so weit, daß Tendenzen zur
Unabhängigkeit auf seiten der alten Menschen vom
Pflegepersonal ignoriert werden. Diese geradezu zwangsläufige Koppelung
von Abhängigkeit und
Unterstützung, die für die alten Menschen gleichzeitig
eine Einschränkung oder einen Verlust auf sozialem und
physischem Sektor
bedeutet, erlaubt ihnen natürlich andererseits die Optimierung in einem
anderen Bereich, Die abhängigen Verhaltensweisen
(z.B. Bitte um Körper¬
pflege) bewirken prompt und zuverlässig Konsequenzen auf seiten des
Personals, und zwar nicht nur in Form der gewünschten Pflege, sondern auch
der sozialen Zuwendung. Obwohl die
Selbstversorgungsleistungen zurückge¬
hen, stellt abhängiges Verhalten für alte Menschen also dennoch eine wirksame
Strategie dar, die soziale Umwelt zu kontrollieren (M. M. Baltes 1986; M. M.
Baltes/Wahl 1987).

Die Strategie der Optimierung durch Selektion und Kompensation erlaubt


alten Menschen also, trotz reduzierter
körperlicher und geistiger Energien
P. Baltes/M. Baltes: Optimierung durch Selektion 99
u. Kompensation

oder Reserven Lebensaufgaben zu bewältigen, die ihnen wichtig sind. Dabei


entspricht derVorgang der selektiven und kompensatorischen Anpassung an
sich einem allgemeingültigen Muster; die individuelle Ausgestaltung hingegen
kann je nach Interessen, Gesundheit, Vorlieben und Ressourcen variieren. So
schilderte der Pianist Rubinstein einmal in einem Fernsehinterview über das
vorgerückte Alter, wie er den altersbedingten Schwächen in seinem Klavier¬
spiel entgegenzuwirken versuche: Er habe erst einmal sein Repertoire
reduziert und spiele einfach weniger Stücke (Selektion). Diese würde er
andererseits häufiger üben (Optimierung). Und schließlich führe er vor schnell
zu spielenden Passagen ein leichtes Ritardando ein, so daß der Kontrast das

Nachfolgende schneller erscheinen lasse (Kompensation). Auf diese Weise


kann durch die Verknüpfung der drei Elemente Selektion, Optimierung und
Kompensation das Leistungsniveau auch in hohem Alter gehalten werden.
Wahrscheinlich gibt es in jedem Fall erfolgreichen Alterns eine solche kreative,
dem einzelnen und der Gesellschaft angemessene Verbindung von Optimie¬
rung, Selektion und Kompensation.

Zusammenfassung und Ausblick

Die Suche nach Bedingungen und Variationen erfolgreichen (optimalen)


Alterns ist ein wissenschaftlich und gesellschaftspolitisch sinnvolles Unterfan¬
gen, auch wenn keine einfachen Lösungen zu erwarten sind. Gerade wegen der
scheinbar widersprüchlichen Begrifflichkeit kann die Forschung, die auf die
Aufdeckung der Kriterien, Bedingungen und Variationen erfolgreichen
Alterns abzielt, viel zur Explikation der Bedeutung von Lebenssinn beitragen
und in diesem Zusammenhang eine kritische Analyse der Vorstellungen von
Erfolg mit seinen individuell und kulturell unterschiedlichen Merkmalen
liefern. Derartige Untersuchungen können unser Wissen um Spektrum und
Grenzen des menschlichen Potentials für Bedingungen und Bandbreite des

Alternsprozesses in seinen verschiedenen Ausformungen erweitern.

Unserer Auffassung nach kann das, was wir über das Wesen psychologischen
Alterns dargestellt haben, als Bezugsrahmen für konstruktive Diskussionen
über gegenwärtig und zukünftig zu gestaltende Formen des Alternsprozesses
dienen. Abgesehen von der noch ungelösten Frage der Kriterien für erfolgrei¬
ches Altern, haben wir sechs Thesen formuliert: (1) Unterscheidung zwischen
normalem, krankem und optimalem Altern; (2) interindividuelle Variabilität
(Heterogenität); (3) Plastizität und Kapazitätsreserve; (4) altersbedingte
Verringerung der Bandbreite von Kapazitätsreserven oder Anpassungsfähig¬
keit; (5) altersabhängige Veränderung des Verhältnisses von Entwicklungsge¬
winn oder -verlust; (6) Phänomen des intakten Selbstbildes.

Wahrscheinlich lassen sich von diesen Rahmenbedingungen verschiedene


Modelle erfolgreichen Alterns ableiten. Wir plädieren dafür, daß die gleich¬
zeitige Berücksichtigung aller Thesen für die Formulierung einer prototypi¬
schen Strategie erfolgreichen Alterns wesentlich ist und schlagen als eine
Möglichkeit das Modell der Optimierung durch Selektion und Kompensation
100 P. Baltes/M. Baltes: Optimierung durch Selektion u. Kompensation

vor. Aufgrund seiner konstituierenden Merkmale hat es für jede Lebensphase


Gültigkeit, gewinnt aber für das vorgerückte Alter besondere Bedeutung
wegen der folgenden drei empirisch nachgewiesenen Bedingungen dieses
Lebensabschnitts: (1) Das hervorstechendste biologische Merkmal des norma¬
len Alternsprozesses ist eine zunehmende Anfälligkeit und damit einhergehen¬
de verminderte Fähigkeit zur Anpassung an Umweltveränderungen (Kapazi¬
tätsreserve). (2) Der normale Verlauf des psychologischen und biologischen
Entwicklungs- und Alternsprozesses verlangt die Entfaltung immer neuer
spezialisierter Anpassungsformen, d.h. zunehmende Individualisierung der
Lebensgestaltung. (3) Jeder einzelne und die Gesellschaft sind gefordert, die
dadurch bedingten Schwächen, besonders in den Grenzbereichen, zu kompen¬
sieren. Es gibt noch zwei weitere Aspekte. Erstens: Das Selbstgefühl des
Menschen erlaubt es, mit derartigen Veränderungen gut fertig zu werden, und
es gibt psychologische Mechanismen, sich mit seinen Lebenszielen und
Aspirationen an sich verändernde interne und externe Bedingungen anzupas¬
sen. Zweitens: Die Strategie der Optimierung durch Selektion und Kompen¬

sation ist in ihren „genotypischen" Merkmalen universell, zugleich aber auf


„phänotypischem" Niveau höchst variabel. Je nach individuellen und gesell¬
schaftlichen Gegebenheiten kann sie in ihrer inhaltlichen Ausgestaltung und in
ihrem zeitlichen Ablauf verschieden aussehen.

Wir vertreten den Standpunkt, daß der einzelne mit der Strategie der
Optimierung durch Selektion und Kompensation viel zum eigenen erfolgrei¬
chen Altern beitragen kann. Zwar ist es richtig, daß die Natur des Menschen
den Gesamtbereich des Möglichen im Alter mehr und mehr einschränkt. Doch
besteht gerade die adaptive Aufgabe des alternden Menschen darin, die
Bereiche auszuwählen und sich auf sie zu konzentrieren, die für ihn von hoher

Priorität sind und in denen Umweltforderungen, persönliche Motivierung,


Fertigkeiten und biologische Leistungsfähigkeit zusammentreffen.

Anmerkung

1 Abgesehen von der Evidenz vorliegender empirischer Daten, würden zukünftige


Veränderungen in der Lebensdauer ein neues theoretisches Problem aufwerfen.
Wenn, wie Fries (1983) vermutet, immer mehr Menschen ihre „maximale"
biologische Lebensdauer erreichen, könnte die uniformierende Kraft des gemeinsa¬
men biologischen Programms von Altern und Sterben tatsächlich zu einer Verringe¬

rung der interindividuellen Variabilität in künftigen Kohorten sehr alter Menschen


führen.

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Abstract

Selective Optimization with Compensation: A psychological Model of Successful Aging


A psychological model of successful or positive aging is presented. The basis for this model are six
empirically founded propositions: (1) the distinction between normal, pathological, and optimal
aging; (2) interindividual variability; (3) plasticity and reserve capacities; (4) aging loss in the ränge
of reserve capacity or adaptivity; (5) aging-related changes in gain-loss ratios; and finally (6) the
resilient seif in old age. In accordance with these six propositions, a prototheoretical model,
namely, selective optimization with compensation, outlines a process of effective psychological
adaptation to the conditions of old age. The first component of the model, optimization, refers to
efforts at maintaining and achieving high levels of functioning by promoting an adequate level of
general reserve capacity and, in addition, of dpmain-specific forms of expertise. Selection involves
a passive or active reduction in the number of high-efficacy domains. Compensation, finally,

involves substitutive and compensatory skills and activities that become necessary when the
required behavioral skills, capacities, and resources are no longer available. The model, while
prototypical in its basic form and process, permits phenotypic variations based on mdividual and
societal characteristics.

Anschrift der Autoren:


Paul B.Baltes, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin.
Margret M. Baltes, Freie Universität Berlin, Abt. für Gerontopsychiatrie.

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