Frevert, Wulff - 2012 - Die Bildung Der Gefühle PDF
Frevert, Wulff - 2012 - Die Bildung Der Gefühle PDF
Frevert, Wulff - 2012 - Die Bildung Der Gefühle PDF
DOI 10.1007/s11618-012-0288-6
E d i to r i a l
Zusammenfassung: Das, was Friedrich Schiller Bildung des Herzens und Wilhelm von Hum-
boldt Bildung des Gemths nannten, gilt in der deutschen Tradition als wichtiges Element
vollstndiger Menschenbildung. Wie aber konnte eine solche Bildung aussehen? Wie lieen
sich Neid und Gier, Zorn und Hass in der Gesellschaft minimieren? Wie weckte man Mitgefhl?
Schon in der Antike, besonders aber seit dem 18. Jahrhunderts beschftigten diese Fragen viele
Pdagogen und Bildungstheoretiker. Der Streit, wie solche Bildungsziele erreicht werden knnen,
ist heute kaum weniger heftig als damals. Angesichts der Rolle, die Gefhle in Politik, Wirtschaft
und Medien, in Gender-Fragen sowie in der psychotherapeutischen Arbeit spielen, ist ihre Bedeu-
tung fr die menschliche Entwicklung offensichtlich. Dieses Sonderheft untersucht die Bildung
der Gefhle in vier zentralen Bereichen: Kindheit und Familie, Peergroup und Schule, Medien
und Bildung, Kultur und Lernen.
Education of emotions
Abstract: What Friedrich Schiller called education of the heart and Wilhelm von Humboldt
called education of a state of mind is seen as an important element of comprehensive human
development in the German education tradition. But what would such an education look like?
How can jealousy, greed, anger and hate be minimized in society? How can empathy be awak-
ened? Such questions have occupied educationalists and pedagogues since antiquity, and espe-
cially since the eighteenth century. The debate on how such educational goals could be reached
is hardly less fiercely discussed today. In view of the role which feelings play in politics, industry
and media, in gender questions and psychotherapeutic work, their importance for human develop-
ment is plain to see. This special edition investigates the education and formation of emotions in
four central areas: childhood and family, peer groups and school, media and education, culture
and learning.
I.
Die deutsche Sprache kennt ein schnes Wort: Herzensbildung. Es ist so wenig in andere
Sprachen bersetzbar wie der Begriff der Bildung berhaupt, in dem sich viele Bedeu-
tungen mischen und der Prozesse des Entstehens und Entwickelns ebenso umfasst wie
gezielte Anstrengungen der Selbstvervollkommnung und Erziehung durch andere.
Von Herzensbildung sprach man besonders gern in jener Epoche, die verklrend-pa-
thetisch als Goethezeit firmiert. Ein idealistischer und idealisierender Ton schwang
mit, wenn sich Dichter und Pdagogen ber die Bildung des Herzens (Schiller 1784)
oder die Bildung des Gemths (von Humboldt 1982) auslieen. Nicht nur der Verstand
bedurfte der Bildung und Aufklrung; es reichte nicht aus, blo richtigere Begriffe,
geluterte Grundstze und das Licht der Weisheit unter die Menschen zu bringen.
Ebenso wichtig war es, reinere Gefhle [] durch alle Adern des Volks flieen zu
lassen, Menschlichkeit und Sanftmut in unser Herz zu senken (Schiller 1784, S.237,
244f.; von Humboldt 1982, S.190).
Das Herz galt damals als Sitz von Gefhl und Gemt (Rolfus und Pfister 1863, S.394
396 Herz, dessen Bildung; Scheller 1780; Rdiger 1990). Noch heute benutzen wir
Ausdrcke und Zeichen, die sich dieser Topographie verschreiben: Wer liebt, verschenkt
Ringe oder Schokolade in Herzform; wer Liebeskummer hat, dem wurde das Herz gebro-
chen, und es schmerzt ihn am und im Herzen. Wer glcklich ist, dem weitet sich das Herz,
und wer trauert, dem krampft es sich.
Wie aber lsst sich ein Herz bilden? Sind Gefhle nicht angeboren und damit eigent-
lich unverfgbar? Haben wir nicht alle, wie viele Psychologen behaupten, ein Set soge-
nannter Basisgefhle, wie Angst und Freude, Hass und Trauer, Ekel und Wut? Und folgen
jene Gefhle nicht einem natrlichen Rhythmus, einem biodynamischen Konzept, das
sich den Menschen evolutionr vermittelt und eingeprgt hat? Was knnte unter solchen
Umstnden Bildung heien und bewirken?
II.
Das sind Fragen, die schon in der Antike diskutiert wurden, die aber seit dem sogenannten
pdagogischen Jahrhundert dem achtzehnten an Bedeutung und Sprengkraft gewan-
nen. Wer den Menschen in Krper, Geist und Seele als bildungsfhiges und bildungsbe-
drftiges Wesen ansah und wer sich von seiner Bildung einen zivilisatorischen Fortschritt
versprach, konnte an der Herzensbildung nicht achtlos vorbeigehen. Gebildet werden
sollte nicht nur der Geist, der Verstand, also das, was Humboldt Kenntnis der Kenntnis
nannte. Gebildet werden sollten auch Gefhle und Empfindungen. Sie galten einerseits
als naturgegeben und dem Menschen unmittelbar zugnglich. Andererseits schien es pro-
blematisch, sie im ungefilterten Naturzustand zu belassen. Sicher war jeder Mensch, wie
die schottischen Moralphilosophen betonten, fhig zum Mitgefhl (sympathy). Aber ob
diese Fhigkeit auch genutzt und gepflegt wurde, stand auf einem anderen Blatt. Bei man-
chen Menschen konnte sie verschttet oder von konkurrierenden Gefhlen der Selbst-
liebe bedrngt sein. Hier tat Erziehung not, um das, was dem Menschen eignete, auch
zum Vorschein kommen zu lassen und in die Praxis umzusetzen.
Die Bildung der Gefhle 3
Andere Gefhle Neid und Gier, Zorn und Hass waren hingegen vielleicht im ber-
ma vorhanden und strten das gedeihliche Zusammenleben in einer brgerlichen Gesell-
schaft. Wer sich von solchen negativen Gefhlen und Leidenschaften beherrschen lie,
war eine Gefahr fr sich selber und fr andere. Auch hier mussten Eltern und Erzieher
intervenieren, um Exzesse zu verhindern und fr wohltemperierte emotionale Haushalte
zu sorgen. Das Ziel solcher Interventionen war der selbstgesteuerte Mensch, der sich
beobachtete, kontrollierte, kultivierte und dessen Gefhlsvermgen den Prozess der Zivi-
lisation untersttzte, anstatt ihn zu behindern.
Wie wichtig die Aufklrungspdagogik eine solche Bildung der Gefhle nahm, lsst
sich an ihren praktischen Erziehungslehren deutlich ablesen. Basedows Elementarwerk
von 1774 bspw. rumte den Trieben, Begierden, Affekten und Gemthsbewegun
gen der Kinder einen zentralen Platz ein. Untersttzt von Daniel Chodowieckis Kup-
fertafeln, erfuhren Schler, Lehrer und Eltern einen grndlichen Gefhlsunterricht: Sie
lernten, was gute und schlechte, positive und negative, heftige und sanfte Gefhle waren,
welche zu welcher Lebenssituation und Beziehung passten und welche unbedingt ver-
mieden werden sollten. Furcht und Raserei, Ekel, Trauer und Verwunderung wurden hier
ebenso in Szene gesetzt wie feindselige Affekte oder die Neigung zu Geiz, Wollust
und Stolz. Besonderes Gewicht erhielten Selbstliebe und Menschenliebe, Mitleid,
Ehrliebe und Dankbarkeit. Der geordnete Vorrath aller nthigen Erkenntni zum Unter-
richt der Jugend enthielt folglich ein ausgefeiltes Bildungs- und Bildprogramm mensch-
lich-kindlicher Gefhle.1
ber die konkrete Praxis und Organisation jenes Programms aber gab es schon unter
den Zeitgenossen Dissens. Manche Pdagogen legten groes Gewicht auf eine sthetische
Erziehung, die Gefhle des Schnen und Erhabenen in der jugendlichen Seele verankern
sollte. Eine frhe Hinfhrung zu Musik, Lyrik und bildender Kunst schien dafr unver-
zichtbar. Andere warnten vor zu viel Schngeistigem. Die Lektre von Romanen galt
ihnen als gefhrlich, fr beide Geschlechter: Bei Frauen konnte sie zu bersteigerter Ein-
bildungskraft und unerfllbaren Wunschphantasien fhren, die das wahre Leben nur ent-
tuschen wrde. Junge Mnner vergen ber den Romanen ihre eigentliche Bestimmung
in der Welt und bildeten zartbesaitete Gemter aus, die mit ihren handfesten Pflichten in
Politik, Wirtschaft und Gesellschaft schwer vereinbar seien. Zwar stand Empfindsamkeit
in der zweiten Hlfte des 18. Jahrhunderts hoch im Kurs, und nicht nur Gotthold Ephraim
Lessing hielt den mitleidigen Menschen fr den besten. Dennoch durfte man des Guten
nicht zu viel tun. Wem die Trnen allzu locker saen, wer daraus geradezu einen Kult des
authentischen Gefhls machte, der gab sich, wie Immanuel Kant kritisierte, der Empfin-
deley hin. Gefragt war nicht blo ein mitleidiges Herz, sondern auch Mut und Energie,
das empfundene Mitgefhl in die Tat umzusetzen und aktiv zu helfen, wo es not tat.
Dass Gefhlsbildung ihren Ort auch, wenn auch nicht allein in der Schule fand, war
unter Pdagogen unumstritten. Ebenso einig war man sich darin, dass sie stets mit Ver
standesbildung einhergehen msse. Wer bei Kindern und jungen Leuten nur Empfindun-
gen und Empfindsamkeit kultiviere, erziehe Schwrmer und Enthusiasten, warnte 1780
der Gymnasialrektor Immanuel Johann Gerhard Scheller. Der Verstand drfe nicht schla-
fen, sondern msse das Gefhl und die Phantasie kenntnisreich und urteilsstark an die
Hand nehmen. Joachim Heinrich Campe, Hauslehrer der Humboldt-Shne und einfluss-
4 U. Frevert und C.Wulf
reicher Schulreformer, verwendete das Bild vom Krper als Schiff, dem die Vernunft das
Steuer fhrte und die Empfindsamkeit die Segel setzte (zit. in Heinze 2008, S.151f.).
Schulische Lehrplne enthielten denn auch gemeinhin drei Schwerpunkte: Krper-,
Geistes- und Herzensbildung. Seine Schler, versprach der Leiter einer 1801 neugegrn-
deten Berliner Erziehungsanstalt fr Shne von sechs bis vierzehn Jahren, wrden dort
zu moralisch guten Menschen erzogen, an Verstand und Herzen gebildet, an Rein-
lichkeit, Ordnung, Thtigkeit, Bescheidenheit und Geflligkeit gewhnt und mit Liebe
fr ihr Vaterland und die Verfassung desselben erfllt. Herzensbildung umfasste hier
die sanfte, liebreiche Lenkung der jugendlichen Triebe, Abmahnung von Fehltritten
und Vorstellung der natrlichen Folgen der Tugend und des Lasters durch Beispiele aus
dem Menschenleben (Krger 1801, S.18).
III.
Wie sanft und liebreich Schulen im 19. Jahrhundert die Gefhle und Triebe
ihrer Zglinge tatschlich lenkten, steht auf einem anderen Blatt. In den Volksschulen
beschrnkte sich Herzensbildung im Wesentlichen darauf, den Jungen und Mdchen
Pflichtbewusstsein und Gehorsam gegen die kirchliche und staatliche Obrigkeit beizu-
bringen. Gymnasien warteten zwar mit einem differenzierteren moralischen und sthe-
tischen Curriculum auf. Doch nicht nur Harry Graf Kessler erlebte seine Hamburger
Schulzeit in den 1880er Jahren als Abrichtung: Wir sollten eigentlich gar nicht Grie-
chisch oder Latein lernen, sondern Arbeiten. Arbeiten um seiner selbst willen; man wollte
uns abrichten zu Arbeitstieren. Vom Ideal des humanen, die ganze Menschheit und ihre
Kultur in Kopf und Herz tragenden Menschen, das die Goethezeit entflammt hatte, war
nur der ungeheure Flei briggeblieben, der ntig war, um den unermelichen Stoff auf-
zunehmen. Statt die Seele sowohl nach ihrer Geistes- wie auch nach ihrer Gefhls-
seite aufzuschlieen, vermittelte die Schule nurmehr Fertigkeiten und Einstellungen,
die, wie Kessler schalt, den Herren der neuen Zeit die fr die Mechanisierung der Wirt-
schaft bentigten unermdlichen und selbstzufriedenen Sklaven lieferten (Kessler 1988,
S.128, 131f.).
Wenig Herz und Humanitt lie der gymnasiale Bildungskanon auch dort erkennen,
wo es um soziale Fragen ging. Fr die Sorgen, Nte und Sehnschte unterbrgerlicher
Schichten hatte man kein Sensorium. Je mehr sich zudem nationale Belange und Orien-
tierungen in den Vordergrund schoben, desto blasser wurde auch die kosmopolitische
Botschaft der Weimarer Dioskuren. Schillers emphatische Forderung und Prognose
einer weltumspannenden Brderlichkeit rckte in weite Ferne. Obwohl die Welt mittels
kolonialer Groprojekte sprbar zusammenwuchs, war der imperiale Habitus nicht von
Solidaritt und Geschwisterliebe geprgt, sondern von sozialem, zunehmend rassisch
berformten berlegenheitsdnkel. Wer den eigenen zivilisatorischen Standards nicht
entsprach, erntete Herablassung, Verachtung und, im Extremfall, Vernichtung.
Wie schlecht es um die allgemeine Herzensbildung bestellt war, zeigte sich nicht nur
whrend des wilhelminischen Zweiten Reichs, das sich bei der aggressiven Identifizie-
rung innerer und uerer Feinde schwer berbieten lie. Es zeigte sich noch viel radikaler
und rabiater in den Jahren des nationalsozialistischen Dritten Reichs, das Feindschaft
Die Bildung der Gefhle 5
nicht allein politisch, sondern auch und v.a. rassisch begrndete. Mitleid, hie es 1939
in Meyers Lexikon (1939, Bd.7, Sp.1455), gelte lediglich fr Gemeinschaftsgenossen;
nur mit denjenigen, die zur Volksgemeinschaft gehrten, knne man miterleben und mit-
fhlen, und nur ihnen werde ttige, leidlindernde oder leidbehebende Hilfe zuteil. Das
Leid derer, die sich aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen sahen, zhlte nicht. Wer
ihnen Mitgefhl bekundete oder gar half, machte sich verdchtig und riskierte scharfe
Sanktionen.
Gerade diese Erfahrung, so steht zu vermuten, bewog manche Zeitgenossen nach
1945, Gefhlsbildung als schulisches Erziehungsziel ausdrcklich zu betonen. Der
Vorschlag des sozialdemokratischen Ministerprsidenten Wilhelm Hoegner, dies in der
neuen Verfassung des Freistaates Bayern zu verankern, wurde von der Verfassungsge-
benden Landesversammlung einstimmig angenommen. Bis heute erlegt Paragraph 131
bayerischen Schulen die Aufgabe auf, nicht nur Wissen und Knnen [zu] vermitteln,
sondern auch Herz und Charakter [zu] bilden. Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht
vor Gott, Achtung vor religiser berzeugung und vor der Wrde des Menschen, Selbst-
beherrschung, Verantwortungsgefhl und Verantwortungsfreudigkeit, Hilfsbereitschaft,
Aufgeschlossenheit fr alles Wahre, Gute und Schne. Auerdem seien Schler in der
Liebe zur bayerischen Heimat und zum deutschen Volk und im Sinne der Vlkerversh-
nung zu erziehen.2
Der Streit der Pdagogen, ob und wie solche Bildungsziele erreicht werden knnen,
tobt heute nicht weniger heftig als um 1800. Manche lehnen sie als arrogante und naive
Zumutung ab, andere bringen ein Schatzbuch der Herzensbildung heraus und ber-
setzen letztere in die managementtaugliche Sprache der emotionalen Intelligenz (Lie-
bertz 2004; kritisch: Mrz 1993, S.321). Whrend viele Politiker dabei vornehmlich an
Werteerziehung denken, experimentieren neuerdings immer mehr Schulen mit Empathie-
training die seit langem konkreteste und praktischste Umsetzung der alten Idee, dass
allgemeine Menschenbildung nicht nur Krper und Geist, sondern auch das Herz und
seine Gefhle umfasst.
Dem Ziel einer allgemeinen Menschenbildung ist auch die UNESCO-Empfehlung
Learning The Treasure within verpflichtet, die unter Federfhrung von Jacques Delors
fr das 21. Jahrhundert erarbeitet wurde. Sie geht von einem Erziehungs- und Bildungs-
begriff aus, der nicht nur den Erwerb von Wissen umfasst, sondern auf eine allgemeine
Bildung des Menschen (human development) zielt. Diese soll in der globalisierten Welt
vier Dimensionen umfassen: learning to know, learning to do, learning to live together/
learning to live with others, learning to be.3 Wenn die Entwicklung von Neugier in Bezug
auf Wissen, die Herstellung von Dingen und das Realisieren von Handlungen, das Zusam-
menleben mit anderen und die Akzeptanz der individuellen Existenz Ziele menschlicher
Entwicklung sind, spielen Gefhle dabei eine zentrale Rolle. Deshalb ist es merkwrdig,
wie wenig die Bildung der Gefhle in den letzten Jahrzehnten in der Erziehungswissen-
schaft zum Thema geworden ist. (vgl. erste Anstze dazu: Drr und Gppel 2003; Klika
und Schubert 2004;Wulf und Prenzel 2011; Nussbaum 2001.)
6 U. Frevert und C.Wulf
IV.
Jene Bildung findet in allen gesellschaftlichen Bereichen statt, in denen Menschen agie-
ren und interagieren (Friedelmeier und Holodynski 1999). Gefhle entstehen in sozialen
und kulturellen Relationen; der Umgang mit ihnen wird gelernt. In mimetischen Pro-
zessen beziehen sich Kinder und Jugendliche auf die Gefhle von Menschen, die ihnen
wichtig sind. Sie nehmen wahr, wie diese Menschen welche Gefhle in welchen Situ-
ationen empfinden, wie sie Emotionen krperlich erfahren, inszenieren und auffhren,
wie sie sie darstellen, sprachlich fassen und reflektieren. In solchen alltglichen Prakti-
ken berlagern sich unterschiedliche, manchmal auch widersprchliche Gefhle, sodass
hufig keine eindeutigen, sondern eher gemischte Gefhle entstehen. Bei ihrer Genese
und Ausprgung wirken kollektive und individuelle Elemente zusammen. Viele dieser
mit dem praktischen Wissen der Menschen verbundenen Gefhle gelangen nicht ins
Bewusstsein, sondern bleiben halbbewusst oder gar unbewusst. Die Erforschung dieser
Prozesse steht noch am Anfang und stellt eine Ethnographie der Emotionen vor schwie-
rige Aufgaben.
Die Bildung der Gefhle findet nicht nur in den klassischen Institutionen mensch-
licher Erziehung und Bildung statt. Auch auerhalb dieser Institutionen werden Gefhle
geformt, geprgt, verhandelt und in Frage gestellt (vgl. Bhme 2010). Einige gesell-
schaftliche Felder und Prozesse, die auch in den Beitrgen dieses Sonderhefts eine wich-
tige Rolle spielen, seien hier thesenartig skizziert:
Kommerzialisierung und Politisierung; Am Arbeitsplatz kommt Gefhlen und dem
Umgang mit ihnen erhebliche Bedeutung zu. Hufig als emotionale Intelligenz und
emotionale Kompetenz bezeichnet, sind sie bzw. ist der Umgang mit ihnen zentrale
Voraussetzung fr gelingende Kooperation in der Wirtschaft. Auch und gerade beim Mar-
keting spielt das Kalkl mit den Emotionen der Konsumenten eine zentrale Rolle. In
den kapitalistisch organisierten Gesellschaften durchdringt die Kommerzialisierung alle
Bereiche menschlicher Beziehungen und Emotionalitt (Martin et al. 2003; Gob 2001).
Auch aus der politischen Kommunikation sind Gefhle nicht wegzudenken: Politiker
spielen mit den ngsten und Hoffnungen der Menschen und manipulieren sie, um ihre
politischen Ziele zu realisieren (Furedi 2005).
Gender und die Modellierung von Emotionen; Bereits in der Kindheit zeigt sich, dass
Emotionen nicht gender-neutral sind. Wie sollen sich junge Mdchen und junge Frauen,
wie Jungen und junge Mnner fhlen, wie mit ihren Gefhlen umgehen? Gibt es gender-
spezifische Formen des Fhlens? Wie verbinden Jungen und junge Mnner und Mdchen
und junge Frauen Gefhle, die ihnen gemeinsam sind, mit denen, durch die sie sich von-
einander unterscheiden? Gab es frher leicht identifizierbare Gender-Schemata in den
Gefhlen von Mnnern und Frauen, scheinen sie heute ihre Eindeutigkeit und Trenn-
schrfe weitgehend verloren zu haben (Butler 1990; Vandekerckhove et al. 2008).
Neue Medien; Besonders auffllig ist die Inszenierung und Auffhrung von Gefhlen
in den neuen Medien, in Talkshows, im Reality TV oder in Sendungen, in denen Millio-
nen Zuschauer einzelne Personen in Situationen der Enttuschung, Krnkung, Eifersucht
usw. beobachten (Hill 2005). Offenbar erleben viele Menschen dadurch, dass sie ihre
Gefhle ffentlich und vor Publikum darstellen, eine Intensivierung dieser Gefhle. Die
anonyme Inszenierung von Gefhlen in Internetforen wie Facebook, Second Life, You
Die Bildung der Gefhle 7
Tube oder Twitter scheint hnlich zu wirken: Sie hilft Menschen, Gefhle zu empfinden,
die sie nicht haben, jedoch gerne htten (Ben-Zeev 2004). Die weltweite mediale Ver-
breitung von Katastrophen wie Erdbeben, Tsunami-Wellen und Wirbelstrmen ist von der
Zurschaustellung intensiver Gefhle des Leidens und Schmerzes begleitet, die bei den
Zuschauern schaurige Lustgefhle wecken.
Psychotherapeutische Arbeit mit Gefhlen; Immer dann, wenn die Bildung der
Gefhle nicht oder nur unzureichend gelungen ist, wird die psychotherapeutische Arbeit
wichtig. Ihre Ausweitung und Professionalisierung reflektiert einen Problemdruck, der
mit der Modernisierung der Gesellschaft, der Auflsung traditioneller Familienbindun-
gen, der zunehmenden Individualisierung und den damit verbundenen emotionalen Ver-
unsicherungen zusammenhngt. Viele Menschen sind nicht mehr in der Lage, mit ihren
Gefhlen zurechtzukommen, und bentigen Hilfen. Die Sorge fr sich und fr das emotio-
nale Wohlbefinden wird in modernen Gesellschaften zu einer wichtigen Bedingung fr die
Qualitt individuellen und gemeinschaftlichen Lebens (vgl. Greenberg und Paivio 1997).
In diesen fr die Bildung der Gefhle zentralen gesellschaftlichen Feldern lassen sich
Gefhle als soziokulturelle Praktiken begreifen, die auf andere Menschen bezogen sind
und Wirkungen auf sie haben. Wie sich diese Praktiken vollziehen, ist von den jeweili-
gen kulturellen Werten, Normen, Sprach- und Handlungsspielen (Wittgenstein) abhngig.
Besondere Aufmerksamkeit verdienen mimetische Prozesse, in denen sich Kinder und
Jugendliche auf zugleich rezeptive und aktive Weise dem Verhalten, Handeln und Fhlen
anderer Menschen anzuhneln versuchen. Mit ihrer Imagination nehmen sie gleichsam
einen Abdruck der Handlungen und emotionalen uerungen anderer vor und integ-
rieren ihn in ihre mentale Welt (vgl. Tomasello 2006; Gebauer und Wulf 1998). Bei der
Erforschung dieser mimetischen Prozesse kommt es darauf an, Gefhle nicht zu isolieren,
zu verdinglichen, zu objektivieren. Gefhle sind keine Substanzen; sie sind mit vielen
anderen Merkmalen des Menschen verbunden. Ohne Krper, Bewusstsein, Imagination
und Sprache gbe es keine Gefhle In vielen Fllen tragen Sprache und Imagination erst
dazu bei, dass Gefhle entwickelt, empfunden und unterschieden werden knnen.
V.
Das Sonderheft ist in vier Abschnitte gegliedert, deren erster sich der Emotionsentwick-
lung in der Kindheit widmet. Dabei werden zunchst Geschwisterbeziehungen in der
Frhen Neuzeit untersucht, vornehmlich unter Bercksichtigung religiser Texte und der
in ihnen enthaltenen Normen (Gestrich). Daran schliet sich eine dichte ethnografische
Untersuchung zeitgenssischer Kinderkrippen an, die darlegt, wie wichtig die Spiegelung
und Modulierung von Gefhlen in sozialen Situationen fr die emotionale Bildung und
Differenzierung ist. Mikroanalytisch wird herausgearbeitet, wie Gefhle zwischen Kin-
dern in konkreten Interaktionen artikuliert und modifiziert werden und welche Herausfor-
derungen dies fr professionelle Erzieherinnen darstellt (Stenger). Bereits von Geburt an
werden Emotionen in einem sozialen Miteinander gelernt. Die soziale Gemeinschaft ist
eine Bedingung dafr, Empfindungen zu identifizieren. In diesen frhen Lernprozessen
fhrt die gemeinsame Aufmerksamkeit von Kind und Bezugsperson auf einen Gegen-
stand zu einer Semantisierung der Gefhle. Die Verbindung von Emotion und Sprache
8 U. Frevert und C.Wulf
schafft die Voraussetzungen dafr, sich und andere zu verstehen (Engelen). Zuwendung
und Liebe spielen dabei eine wichtige Rolle. Aufgrund der verbreiteten Trennung von
Vernunft und Gefhl, Kognition und Emotion ist nicht gengend gesehen worden, wie
wichtig Liebe fr die Sorge, das (Miteinander-) Handeln und die Reflexion dieses Han-
delns in pdagogischen Zusammenhngen ist (Seichter).
Der zweite Abschnitt stellt die Emotionsbildung in Jugendgruppen und in der Schule in
den Mittelpunkt. Der erste Beitrag beleuchtet die Gefhlswelt in jugendbewegten Jung-
mnnerbnden des frhen 20. Jahrhunderts. Er rekonstruiert erfahrungsgeschichtlich,
wie die Alterskohorte junger Frontsoldaten und Kriegskinder des Ersten Weltkriegs von
solchen Gefhlswelten geprgt wurde (Reulecke). Es folgt eine ethnographische Unter-
suchung, wie Mdchen in einer zeitgenssischen Peergroup ihre Gefhle inszenieren
und auffhren, v.a. im Verhltnis zum Selbst, zu anderen und zur Welt (Tervooren). Der
nchste Beitrag analysiert an empirischen Beispielen aus der heutigen Unterrichtspraxis
den sozialen und performativen Charakter von Gesten und arbeitet den Zusammenhang
zwischen Gesten und Emotionen heraus (Kellermann).
Im dritten Abschnitt wird in exemplarischer Absicht gezeigt, wie Emotionen in oder
im Zusammenhang mit unterschiedlichen Medien dargestellt und modelliert werden. Der
erste Beitrag zeigt, wie wichtig der literarische Umgang mit Angst fr die allgemeine
Menschenbildung ist. Er erinnert Leser und Leserinnen an ihre Vergnglichkeit, fordert
sie zur Sorge um ihr Seelenheil auf und bringt sie dazu, ihre Gefhle zu kontrollieren und
moralisch zu lutern. Die literarische Thematisierung soll den Leser mit den Grenzen
menschlicher Planung und Macht konfrontieren (Watanabe-OKelly). Wie Angst kann
die mit Verlust und Tod verbundene Trauer zu vielschichtigen theoretischen, praktischen
und sthetischen Vernderungen im Verhltnis zur Welt, im Verstndnis anderer Men-
schen und im Selbstverstndnis fhren. Trauer entbindet Menschen, fhrt zu Fremd-
heitserfahrungen und zur Wahrnehmung menschlicher Zerbrechlichkeit (Bhner/Zirfas).
Wie eng Gefhle und musikalisches Erleben miteinander vertaktet sind, ist Thema des
nchsten Beitrags. Er untersucht die sthetische, erotische und kommunikative Funktion
von Emotionen anhand des Opernpublikums von Berlin, Wien und London im 19. Jahr-
hundert (Mller). Daran schliet sich eine Studie ber virtuelle Umgebungen an, deren
soziale und subkulturelle Rume zu Orten des Ausdrucks und der Artikulation, der Insze-
nierung und Darstellung von Emotionen werden. Dabei spielen Avatare eine wichtige
Rolle, mit deren Hilfe komplexe Prozesse emotionalen Lernens organisiert werden. In
diesen Prozessen spielen die szenische Situiertheit, die visuelle Artikulation, die hybriden
Handlungsstrukturen und die hybride Prsenz eine wichtige Rolle (Jrissen).
Der vierte Abschnitt macht deutlich, welche Wirkungen Religion, Nation und Kultur
auf die Bildung der Gefhle haben. Im ersten Beitrag geht es um die Gotteserfahrung
im Protestantismus und die Entwicklung einer spezifischen Innerlichkeit. Ausgefeilte
Gefhlspraktiken helfen, die Aufmerksamkeit nach innen zu richten, wo Liebe, Glaube
und Hoffnung, eng miteinander verbunden, eine innige Beziehung zu Gott stiften. Inner-
lichkeit wird entsprechend hoch bewertet, im Kontrast zum ueren, an seinen Leib gebun-
denen Menschen (Scheer). Wie Religion ist auch Nation ohne ausgeprgte Emotionen
nicht denkbar und erlebbar. Dass Liebe und Hass zur Bildung von Nationen beitragen, ist
in der Nationsforschung unbestritten. Wenig Beachtung aber finden die Wirkungen natio-
naler Gefhle im Privaten und in der ffentlichkeit und wie diese beiden sozialen Felder
Die Bildung der Gefhle 9
miteinander verbunden sind. An zwei Briefserien aus dem Ersten Weltkrieg wird gezeigt,
wie sich Autoren im privaten Bereich gegen eine national-emotionale Hochrstung
sperren (Langewiesche). Der abschlieende ethnographische Beitrag nimmt die zentrale
Bedeutung von Kultur und kulturellen Unterschieden bei der Bildung von Gefhlen in
den Blick. In kulturvergleichender Absicht werden die Erziehungs- und Sozialisations-
praktiken unter den Bara in Madagaskar und den Tao auf der taiwanesischen Insel Lanyu
untersucht. Dabei spielen Furcht und Scham, aber auch rger und Trauer eine wichtige
Rolle (Funk/Rttger-Rssler/Scheidecker).
Die Mehrzahl der Beitrge geht auf eine im Dezember 2010 gemeinsam veranstaltete
Tagung zurck.
Berlin, im Juni 2012 Ute Frevert und Christoph Wulf
Anmerkungen
1 Basedow 1774; hnlich Joachim Heinrich Campe, dessen Kleine Seelenlehre fr Kinder 1784
erstmals erschien und bis 1844 12 Auflagen erlebte.
2 Verfassung des Freistaates Bayern vom 2.12. 1946, Dritter Hauptteil, 2. Abschnitt: Bildung
und Schule. Stenographische Berichte ber die Verhandlungen des Verfassungs-Ausschusses
der Bayerischen Verfassungsgebenden Landesversammlung, Bd. 1. Mnchen 1946, S.257f.
3 Learning The Treasure within, ed. UNESCO. Paris 1996; deutsche Fassung: Lernfhigkeit:
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Ute Frevert, Dr. phil., ist Direktorin des Max-Planck-Instituts fr Bildungsforschung in Berlin
und Honorarprofessorin an der FU Berlin. Sie ist Historikerin und arbeitet ber die Geschichte der
Gefhle in der Moderne.
Christoph Wulf, Dr. phil., ist Professor fr Anthropologie und Erziehung, Mitglied des Interdiszi-
plinren Zentrums fr Historische Anthropologie, des Exzellenzclusters Languages of Emotion
und des Graduiertenkollegs InterArts Studies an der Freien Universitt Berlin. Seine Arbeits-
schwerpunkte liegen in der historisch kulturellen Anthropologie und in der Pdagogischen Anthro-
pologie. Er ist Vizeprsident der Deutschen UNESCO-Kommission.