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Aus meinem Herzen: Eine Ruhrgebiets-Autobiographie
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Aus meinem Herzen: Eine Ruhrgebiets-Autobiographie
eBook159 Seiten2 Stunden

Aus meinem Herzen: Eine Ruhrgebiets-Autobiographie

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Über dieses E-Book

Ruhrgebiets-Autobiographie
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum27. Feb. 2017
ISBN9783734592157
Aus meinem Herzen: Eine Ruhrgebiets-Autobiographie

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    Buchvorschau

    Aus meinem Herzen - Ilse Seck

    Kapitel 1

    Heute am 28.9.2015 beginne ich, meine Biografie zu schreiben. Meine ersten Erinnerungen gehen zurück an ein Haus in der Zechensiedlung Marl-Brassert. Heute ist dieses Haus eine türkische Begegnungsstätte. Ich erinnere mich, dass ein schlanker Mann mit Schnäuzer mich in die Luft warf, mich wieder auffing und dann an sich gedrückt hat. Das tat mir gut.

    Als nächstes ist mir dieses schicke Treppenhaus aufgefallen und ein Mädchen, das mit mir spielte. Nach den Familienfotos zu urteilen, war der Mann mein Großvater mütterlicherseits, der kurz darauf tödlich verunglückte. Das Mädchen war Ute, aus der Wohnung über uns.

    Heute treffe ich sie noch ab und zu auf dem Friedhof, wenn wir die Gräber unserer Mütter besuchen.

    In unserem Familiengrab liegt auch mein Vater und ein Stückchen weiter in der Grabreihe meine im Jahr 2000 verstorbene ältere Schwester Uschi, die ich sehr geliebt habe. Dann gab es in unserer Familie noch meinen jüngeren Bruder, der die steinerne Treppe heruntergefallen war und danach fürchterlich schrie und am Kopf blutete.

    Er war wohl ungefähr zwei Jahre alt und ich knapp vier. Damals. In diesem Haus sehe ich noch heute vor mir, wie meine Oma Paula im Garten arbeitete, mühselig das Unkraut zupfte, aber auch leckere Sachen erntete. Zum Beispiel die Kartoffeln, die aus dem Boden kamen und hinterher gekocht wurden.

    Als ich mal wieder mit meiner geliebten Oma im Garten war ich war ungefähr fünf Jahre alt - kam bei mir Langeweile auf, weil Oma zu viel Arbeit hatte. Ich war immer sehr neugierig, wusste auch, wo sich meine Eltern gerade befanden.

    Sie bauten in der Blumensiedlung ihr von den Bomben zerstörtes Haus wieder auf. Das Arbeitsame von Oma Paula nutzte ich aus, um zu verschwinden. Ich wollte zu meinen Eltern. Dort angekommen sah ich ihnen zu, wie sie den Putz von den Steinen klopften, um diese dann für den Wiederaufbau nutzen zu können.

    Meine Mutter brachte mich zu meiner Oma zurück, die fürchterlich weinte, denn sie hatte mich schon in der Nachbarschaft gesucht. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ich die knapp 3 km alleine gelaufen war. Sie hat mir dann gesagt, dass mich ja schließlich jemand hätte mitnehmen können. Die Geschichte vom schwarzen Mann aus der amerikanischen Besatzungsmacht, der ihr kurz zuvor Schokolade in den Kinderwagen meines Bruders geworfen hatte - daran denke ich noch heute.

    An die Angst und Gefahren wegen des Krieges und an den Hunger - daran erinnere ich mich kaum oder eigentlich gar nicht. Aber an meine liebe Mutter: Dass sie immer Kinder stillte. So beispielsweise meinen jüngeren Bruder, meine beiden Cousinen und von einer guten Bekannten das Kind. Sie hat die Kinder gekuschelt und sah dabei ganz glücklich und stolz aus.

    Da sie so viel Milch hatte, schaffte sie das locker; hatte immer die Zeit für die Kinder, hat dabei gesungen und jedes kleine Kind musste das Händchen bewegen: „Wie das Fähnchen auf dem Turme." Sie war so eine, wenn sie morgens ein Kind bekommen hatte, ging sie schon abends wieder hamstern.

    Diese starke Frau hat mich fünfundsechzig Jahre meines Lebens begleitet. Erst nach 65 Jahren verriet sie mir zwei brisante Familiengeheimnisse, die sie immer mit sich herumgeschleppt hatte.

    Es waren auch Straftaten dabei, die unter anderem mit einem bestimmten Paragrafen zu tun hatten, davon erfuhr ich erst, bevor meine Mutter starb.

    Aber mein Leben rollt jetzt ab. Die Zeiten mit meinem fast gleichaltrigen Bruder, der denselben Schulweg hatte wie ich. Aber sein Weg verlief immer anders als meiner. Während ich brav zur Schule ging, machte er zwischendurch seine Pausen. Er musste mit den Nachbarjungen seine Kräfte messen und immer der Stärkste sein.

    Es war ihm gleichgültig, ob er sich in der Matsche, auf der Wiese oder in dem kleinen Bach herumwälzte. Auch ob seine Hose zerrissen war oder nicht, interessierte ihn wenig. In der Schule lief er dann halt so herum. Im Unterricht aufmerksam zu sein, das gelang ihm nicht. Er lenkte gern die Aufmerksamkeit auf sich.

    Manchmal war zum Kämpfen keine Zeit, dann musste er sich beeilen, um auf den Wochenmarkt zu kommen, der nur ein paar Meter von unserer Schule entfernt war. Dort kaufte er sich entweder Tauben, weiße Mäuse, Kaninchen oder Ziertauben, besonders aber kleine Küken. Natürlich nahm er sehr zum Entsetzen seiner Lehrerin diese Tiere mit in die Schulklasse.

    Klar. Sie brauchten auch mal ihre Freiheit und liefen dann zur Freude der Klassenkameraden durch das Klassenzimmer. Die Lehrerin hatte fast immer einen Nervenzusammenbruch. Lange machte sie das Theater auch nicht mit, bald kümmerte sich ein Lehrer um die Klasse. Doch das Kaufen der Tiere ging weiter.

    Lehrer Reuter fragte: „Warum kaufst du die Tiere nicht nach der Schule?" Dann antwortete mein Bruder, dass dann die besten Tiere weg wären. Das Geld für die Tiere verdiente er sich, indem er Schrott sammelte und diesen an die Schrotthändler verkaufte. Er war eben da schon sehr geschäftstüchtig.

    Leider musste ich zu dieser abenteuerlichen Zeit für fast eineinhalb Jahre nach Münster, in die Fachklinik Hornheide. Meine Mutter hatte an meiner rechten Wange ein rotes Fleckchen entdeckt, das nicht mehr weggehen wollte.

    Da sie eine Freundin hatte, die am Gesundheitsamt arbeitete, besorgte diese uns einen Termin bei einem Professor aus Münster, der gerade in Marl zu Gast war. Und so wurde ich gründlich untersucht, und es wurde dabei unter anderem ein Hautlupus entdeckt.

    Das bedeutete, dass ich schon kurze Zeit später in einem Zug nach Münster saß, begleitet von einer Dame des Gesundheitsamtes und schon am Nachmittag in einer anderen Welt war: Eine große weiße Holzbaracke mit einem großen Schlaf- und Speisesaal. Einer Kapelle für die Nonnen, einem langen Flur und einer Küche, das war jetzt mein zu Hause.

    Ich habe am Abend geweint und in der Nacht ins Bett gemacht. Ich habe mich sehr geschämt, war sehr still und schüchtern und habe anfangs manchmal Tränen vergossen und Heimweh gehabt. Doch dann habe ich mich angepasst.

    Meine Familie durfte mich nicht besuchen. Nur einmal kam meine Mutter nach einigen Monaten und brachte mir meine Puppe und einmal, nach einer für mich endlos langen Zeit, kam meine geliebte Oma, nach der ich mich so sehr sehnte. Es gab kein Telefon, und schreiben konnte ich auch nicht, manchmal kam eine Karte oder ein Brief, die mir dann vorgelesen wurden.

    Zu kaufen gab es auch nichts. Wahrscheinlich hatte ich noch mehr Krankheiten, die eventuell ansteckend waren. Und so verbrachte ich mehr als ein Jahr, also das ganze zweite Schuljahr und den Beginn des 3. Schuljahres, im Krankenhaus.

    Dieses Kinderkrankenhaus war neben einem großen Gebäude, dem eigentlichen Krankenhaus, in dem sämtliche Untersuchungen und Behandlungen stattfanden. Ich erinnere mich besonders an eine blaue Kobaltstrahlenlampe, die meinen Flecken auf der Wange bestrahlte, was fürchterlich brannte.

    An so graue Umhänge, die Strahlen abhalten sollen, erinnere ich mich schemenhaft. Vielleicht tun deshalb meine Knochen und Gelenke heute oft so sehr weh. Es wurden begleitend Röntgenaufnahmen gemacht und es gab viele Untersuchungen und Behandlungen, die im Hauptgebäude durchgeführt wurden.

    Unter anderem Höhnsonnenbestrahlungen und Wassergymnastik, aber ebenso Waldspaziergänge, Freizeit und auch anderweitige Beschäftigungen. Den Tag verbrachte ich mit den anderen mehr oder weniger kranken Kindern, mit Schwester Maria Marilla, einer Ordensschwester, einer Frau für Küche und fürs Putzen - sie hieß Agnes - und einem Hausmeister, der für die Anlagen und Reparaturen zuständig war.

    Es war aber nicht so, dass wir wie Kranke bedient und verwöhnt wurden. Nein, wir mussten auch immer mithelfen, und wenn wir mal ungehorsam waren, mussten wir mit einem schweren Bohnerbesen den Flur bohnern, bis er glänzte.

    Einmal bekam ich keine Luft mehr von der Anstrengung, denn meine Lunge war auch krank.

    Die Schwester und Agnes waren sehr streng.

    Es gab aber auch Spaziergänge im nahegelegenen Wald. Da konnten wir Eichhörnchen und Rehe bewundern und lernten, Vogelstimmen zu erkennen. Im angrenzenden Park blühten zur Osterzeit viele hunderte Narzissen. Und auf den großen Wiesen durften wir den ganzen Sommer lang spielen. Wir machten Leiterwagenfahrten mit dem Hausmeister in der Umgebung.

    Und kirchliche Feste, wie das Erntedankfest, wurden mit uns gemeinsam vorbereitet.

    Zu Weihnachten wurde am Ende des langen Flures ein großer Altar aufgebaut mit einer Krippe. An einem Weihnachten bekam ich ein Paket von meiner Familie und was mich besonders freute, ein großes Paket von meiner Schulklasse. Das hatte die Mutter eines Mitschülers organisiert. Es war aber so, dass ich fast alles aus diesem Paket an die anderen Kinder verteilen oder auf dem Altar opfern musste.

    Eine Kleinigkeit habe ich natürlich auch bekommen. Die anderen Kinder haben sich sicher auch über die leckeren Sachen gefreut, denn nicht jedes Kind bekam ein Paket von Zuhause. Im Winter schickten meine Eltern wieder Kleidung und ich freute mich wieder auf den Frühling, wenn die Natur erwachte.

    Niemals wusste ich, wie lange ich noch bleiben müsste!

    In dem neuen Schuljahr waren meine Mitschüler schon in der dritten Klasse, als ich dann endlich entlassen wurde.

    Zuhause hatte man mir einen tollen Empfang bereitet. Über ein Jahr weg von Zuhause, da sah alles ganz anders aus. An der Haustür hingen Girlanden, ein herzliches Willkommen in großen Buchstaben, überall war alles bunt geschmückt und die ganze große Familie war da und wir haben lecker gegessen und viel erzählt.

    Und dann musste ich wieder in der Schule angemeldet werden. Da hat man überlegt, ob ich nach mehr als einem Jahr überhaupt noch in meine alte Klasse gehen könnte. Der Schulrat wurde informiert und kam. Die Rektorin und die Klassenlehrerin haben mich geprüft, ob ich den Anschluss schaffen würde. Probeweise hat man es versucht, und ich habe den Anschluss geschafft.

    Als ich dann in meiner alten Schulklasse war, wurde ich von allen betrachtet und manchmal ein bisschen ausgelacht, wenn ich nicht wusste wie viel 5 × 5 ist. Schnell habe ich dann zu Hause das Einmaleins gelernt. Und so nach und nach habe ich alles aufgeholt, was ich versäumt hatte und konnte sogar nach der fünften Klasse zur Realschule gehen.

    Meine Klassenlehrerin hat es mir nicht so ganz zugetraut und war sehr erstaunt über meinen Entschluss.

    Ich gehörte nicht zu den Kindern, die von dem geschlachteten Schwein zuhause Fleisch mit in die Schule brachten, um eine Qualifikation für das Gymnasium oder die Realschule zu bekommen. Ich glaube, ich habe als einzige aus meiner Klasse die Aufnahmeprüfung in der Realschule bestanden und später ohne Komplikationen einen guten Abschluss erreicht.

    Während dieser Schulzeit habe ich noch eine kleine Schwester bekommen, um die ich mich wie eine Mutter gekümmert habe. Denn meine Mutter hatte noch einen kleinen Laden, für den sie viel Zeit brauchte, der aber nicht viel einbrachte, weil wir selbst die besten Kunden waren. Manche Leute aus der Siedlung dachten schon, meine Schwester sei mein Kind, denn ich war ja

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