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Wackelkontakt
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eBook248 Seiten3 Stunden

Wackelkontakt

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Über dieses E-Book

Die Tragik einer Kindheit und Jugend Mitte des letzten Jahrhunderts.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum9. Aug. 2018
ISBN9783744892162
Wackelkontakt
Autor

Ulrich Klocke

Mein Name ist Ulrich Klocke. Schon in der Realschule zeigte sich mein literarisches Talent. Aber so richtig zum Schreiben bin ich erst während meiner Umschulung gekommen. Dort habe ich für die hauseigene Rehabilitandenzeitung Wir im Berufsförderungswerk Hamburg satirische Beiträge geschrieben. Außerdem war ich in der dortigen Theatergruppe TiB als Texter, Regisseur und Laienschauspieler aktiv. Bis zu seiner Auflösung Anfang 2014 war ich auch beim Tourneetheater Billstedt als Regisseur tätig und für die Soundeffekte zuständig. Im September 2013 ist meine plattdeutsche Kriminalkomödie Bedregener Bedreger im Plausus Verlag, Bonn, erschienen. Im Januar 2014 ist auch die hochdeutsche Fassung Betrogener Betrüger im gleichen Verlag herausgekommen. Außerdem sind noch meine Bücher Godot war hier, Das Geheimnis der Hexentüren und Wackelkontakt im Buchhandel erhältlich.

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    Buchvorschau

    Wackelkontakt - Ulrich Klocke

    Chance

    1. Kartoffelrosen

    Reinhard Mey steht am offenen Fenster und pustet Seifenblasen vor sich hin. Und ich stehe in der Küche und wasche ab. Mein Mittagessen hat mir nicht sonderlich geschmeckt. Abgehakt unter experimentelle Küche! Kohlrouladen mit Kochweizen und Kräuterfeta gefüllt. War nur so `ne Idee von mir. Aber ich habe den Weizen zu lange kochen lassen. Jetzt ist er weich und pappig.

    Reinhard Mey hat ausgeknackst. Ich bin aus jenem Holze geschnitzt. Gutes altes Vinyl! Habe ich bei meinem letzten Sentimental Journey im Internet gekauft. Erinnerungen werden wach. Ich setze mich auf meinen Küchenstuhl. Das Fenster ist weit geöffnet und die warme Flensburger Sommerluft holt sich meine Kohldünste ab. Soll sie sie haben, ich vermisse sie nicht.

    Reinhard war damals der erste Liedermacher, den ich mir gekauft hatte. Schon als kleiner Junge fand ich Chansons und Couplets ziemlich interessant. Verstanden habe ich sie damals noch nicht unbedingt. Aber die Art und Weise, wie sie vorgetragen wurden, hatte mir gefallen. Irgendwann habe ich dann mal in unserem Kirchenbüro bewusst Hilde Knef gehört. „Ich brauch Tapetenwechsel, sprach die Birke." Seitdem bin ich irgendwie den Chansons und auch der deutschen Liedermacherszene verfallen. Meine erste Schallplatte überhaupt, also, die sich ganz offiziell in meinem Besitz befand, habe ich neunzehnhundertdreiundsechzig zu Weihnachten bekommen. Junge, komm bald wieder. Obwohl ich die Rückseite fast noch besser fand. Die Gitarre und das Meer. Wenn Freddy Quinn dann inbrünstig seine Juanita besang, konnte mein Vater es sich nie verkneifen zu fragen, wer denn diese ominöse Kuh Anita sei.

    Eine leichte Brise trägt mir für den Bruchteil einer Sekunde einen Geruch zu, der irgendwo in meinem Gedankenfach längst vergessene Synapsen dazu veranlasst, sich den Staub von den betagten Schultern zu klopfen. Ein längst vergessenes Gefühl steigt in mir auf. Ich kenne es irgendwie. Von früher her, aus längst vergessenen Zeiten. Nach längerem Überlegen fällt es mir ein! Es ist das Gefühl der Unbeschwertheit, der Ungezwungenheit der Kindheit. Der Wind kommt über Land und trägt mir diesen Geruch zu. Direkt hier in meine Küche. Ich stürze ans Fenster. Gierig nach diesem Duft lasse ich mit geblähten Nüstern die heiße Sommerbrise durch meinen Bulbus Olfaktorius strömen. Mein Alter Ego schreit laut auf! Mehr! ich will mehr! Es will die Unbeschwertheit seiner Kindheit zurück.

    Langsam identifizieren meine anderen Gehirnzellen diesen geheimnisvollen Duft. Heckenrosen! Und zwar eine ganz besondere Art davon. Die Kartoffelrose! Sie blühte vor meinem Geburtshaus. Und dieses Blühen kündigte immer den Frühsommer an.

    Wenn Anfang April vor Schmidts Laden wieder die Tonne mit den Kinderschaufeln, die Schippen mit dem gelben Stiel und der blauen Schaufel unten dran, rausgestellt wurde und im Schaufenster die ersten Glasmurmeln lagen, dann zog der Frühling ins Land. Ein sicheres Zeichen für seine Ankunft waren auch die Kinder, die jetzt wieder vermehrt auf der Straße zu sehen waren. Meistens jetzt mit kleinen Leinenbeuteln bewaffnet. Sie enthielten die kostbaren Glasmarmeln, denn Frühlingszeit hieß für uns Murmelzeit. Und Glasmarmeln mussten es schon sein. Denn Tonmarmeln galten als Armeleuteklicker und wer damit ankam, wurde gnadenlos ausgelacht und ebenso gnadenlos wieder fortgeschickt. Eine typische Betätigung der Dorfkinder zu dieser Zeit war es dann auch, auf einem Bein, die Hacke des anderen Fußes fest in den Boden gepresst, sich hüpfend im Kreis zu bewegen. So wurden die unbedingt benötigten Löcher für das Murmelspiel in den Boden gebohrt.

    Wenn im Mai die Kartoffelrose in vollster Blüte stand, waren wieder wir Kinder der Indikator für ein anderes, immer wiederkehrendes Frühjahrsereignis.

    Fast jedes Kind lief dann mit einem Schuhkarton unter dem Arm herum. Ein Schuhkarton mit Löchern drin! Kaum zu glauben, dass diese schnöden Kästen Müller, Schornsteinfeger oder gar Kaiser beherbergten. Und doch verhielt es sich in der Tat so.

    Das sind nämlich die Fachausdrücke für die unterschiedlichen Maikäferarten. Der Müller, mit einem leichten weißen Pelz bedeckt, der Schornsteinfeger mit seiner dunklen Färbung und der Kaiser, der begehrteste, weil seltenste, mit seinen rötlichen Flecken an Kopf und Brust. Die Hecke aus meinen so geliebten Kartoffelrosen vor unserer Haustür war quasi ein Viersternerestaurant für diese begehrten Krabbeltiere. Wir brauchten sie nur abzusammeln.

    Das war aber nicht so ganz einfach. Die Stiele meiner Rosen haben ringsherum kleine, aber feine, und vor allen Dingen, viele Stacheln. Die Maikratscher, wie sie in unserer Gegend genannt wurden, waren begehrte Tauschobjekte. Eine richtige Maikratscher Börse.

    Ich merke schon, ich komme ins Plaudern. Ich habe mich deshalb gerade dazu entschlossen, sie ein wenig an meinem Lebensweg teilhaben zu lassen. Jedenfalls für einige Jahre. Also, back to the roots.

    Das Licht der Welt erblickte ich Neunzehnhundertdreiundfünfzig als zweites Kind meiner Eltern, einer Hausfrau und einem Werkzeugmacher, in einem kleinen Dorf bei Helmstedt.

    Ich war eine Hausgeburt. Es ist mir auch gar nichts anders übrig geblieben, so schnell, wie ich auf die Welt gekommen bin. Dummerweise fast zwei Monate zu früh. Die Ursache für meinen Katapultstart ins Leben war der schwelende Neid meiner Tante auf meine Mutter. Meine Mutter, das Nesthäkchen und letztes von sieben Kindern, von denen nur zwei, nämlich sie und meine Tante, das heiratsfähige Alter erreicht hatten, wurde von meiner Großmutter immer etwas bevorzugt. Soviel ich weiß nicht sonderlich viel, aber es hat gereicht, um sich den kindlichen Hass ihrer großen Schwester zuzuziehen. Das änderte sich auch nicht, als die beiden älter wurden.

    Meine Tante, mittlerweile auch verheiratet und Mutter eines Sohnes und einer neugeborenen Tochter, lebte mit ihrem Mann in der Mietwohnung neben meinen Großeltern. Mein Onkel war Lokomotivführer auf der Grubenbahn der BKB, den Braunschweigischen Kohlenbergwerken, einem Tagebau.

    Ich mochte meinen Onkel. Ein ruhiger Vertreter seines Geschlechts, nicht ohne eine gehörige Portion Schalk im Nacken. Während ich das schreibe, habe ich direkt noch seinen Lieblingsspruch im Ohr (Wolln ma sagen) und sehe sein verschmitztes Lächeln vor mir. Er ist vor wenigen Jahren im hohen Alter von fünfundneunzig Jahren im Beisein seiner Familie sanft entschlafen.

    Da mein Onkel in den Augen meiner Tante nur ein Lokomotivführer war und mein Vater immerhin Werkzeugmacher, nahm meine Tante es meiner Mutter besonders übel, dass sie die vermeintlich bessere Partie gemacht hatte. Das ließ sie dann auch gründlich an ihrer kleinen Schwester aus.

    Ständig schikanierte sie meine Mutter oder ließ abfällige Bemerkungen über sie fallen. Da meine Mutter umständehalber, Wohnungen waren knapp nach dem Krieg, mit meiner drei Jahre älteren Schwester und mit mir unter dem Herzen, gleich nebenan bei ihren Eltern wohnte, gab es bei den ständigen Reibereien zwischen den beiden kein ausweichen.

    Mein Vater wohnte unter der Woche im Junggesellenheim von VW und kam immer nur am Wochenende nach Hause. Wenn er dann da war, verhielt sich meine Tante natürlich vorbildlich und erst montags gingen die Sticheleien wieder los. Meine Tante entband drei Monate früher, als meine Mutter. Vielleicht waren es die hormonellen Veränderungen, die meine Tante dazu veranlassten, meine Mutter jetzt noch mehr zu triezen als bisher, oder ob meine Mutter durch ihre Schwangerschaft wesentlich empfindlicher geworden ist, niemand kann es heute mehr sagen. Fakt ist nur, dass meine Tante meine Mutter Ende April neunzehnhundertdreiundfünfzig zynisch gefragt hatte, ob sie denn überhaupt genau wüsste, wer der Vater sei. Notabene! Es waren die moralinsauren fünfziger Jahre! Ob dieser ungeheuerlichen Unterstellung regte sich meine Mutter so auf, dass bei ihr gleich die Wehen einsetzten. Zum Glück sind die Wege in einem so kleinen Dorf nicht wirklich richtig weit, sodass die Hebamme Tante Meta und unser Dorfarzt Doktor Runge schnell herbei geholt werden konnten. Die Geburt an sich verlief unkompliziert und schnell. Kein Wunder, so winzig, wie ich war, zwei Monate zu früh.

    Meine Tante versuchte zeitlebens bei mir ihre Schuld durch teure Geschenke und Großzügigkeit wett zu machen. Was sie nicht davon abhielt, meinen Vater in ihrer Familie als arrogant und besserwisserisch hinzustellen. Sie machte ihn systematisch schlecht. Wohl auch, um ihn als unglaubwürdig hinstellen zu können, falls meine Mutter meinen Vater mal eines Tages über die Umstände meiner frühen Geburt aufklären sollte und er sie vor ihrer Familie zur Rechenschaft ziehen würde. Meiner Tante habe ich es im Grunde genommen zu verdanken, dass ich heute im Rollstuhl sitze.

    Im zarten Alter von einer Woche kam ich ins Krankenhaus. Meine Leber war verhärtet und auch noch fünfzig Prozent zu groß. Nachdem ich wieder zu Hause war, gab Doktor Runge meiner Mutter den

    entscheidenden Rat: „Wenn sie das Würmchen durchkriegen wollen, gibt es nur eins! Mohrrüben, Mohrrüben, Mohrrüben!" Von da an bestand mein Hauptnahrungsmittel fast ausschließlich aus diesem Wurzelgemüse. Anfänglich natürlich nur als Beigabe zur Muttermilch in Form von Saft, später dann in festerer Ausführung. Außerdem strenge Diät. Süßigkeiten habe ich bis zu meinem vierten Lebensjahr nicht gekannt. Meine Schwester hatte manchmal darunter zu leiden. Sie wurde von Fremden, die die Umstände nicht kannten, doch schon manchmal angeblafft, warum sie mir von ihren Süßigkeiten nichts abgibt.

    Eine kleine Anekdote noch am Rande. Als meine Familie mich im Krankenhaus besuchte, war meine Schwester sehr besorgt um mich. Sie fürchtete, dass ich dort gemästet würde, weil sie die Urinflaschen für Herren für überdimensionierte Nuckelflaschen hielt.

    Trotz meines schwierigen Starts ins Leben erlernte ich doch irgendwann mal auch den aufrechten Gang. Was uns Kinder dann dazu berechtigte, sich ab einem gewissen Alter frei um Haus und Hof bewegen zu können. In unserem beschaulichen Dorf war in den Fünfzigern noch sehr wenig Autoverkehr.

    So hielt sich die Gefahr, unter die Räder zu kommen, in überschaubaren Grenzen. Außerdem passten die Größeren auf die Kleineren auf. Ansonsten galt das Kartoffelprinzip! Die wachsen schon von allein!

    Vor unserem Haus wuchs nicht nur diese schöne Dufthecke. Es gab auch einen kleinen Rasen davor und der wurde von zwei großen Kirschbäumen beschattet. Ein idealer Spielplatz für uns Kinder. Deshalb wurde auch Pummel, der Hund von Schmidts Laden nebenan, immer verscheucht, wenn er vor unserem Haus rumschnüffelte. Wenn mein Großvater das mit bekam, lief immer raus und drohte mit dem Stock. „Geist du no Hus! Wer will schon seine Enkelkinder zwischen Hundekacke spielen sehen. Selbst bei uns Kindern reagierte Pummel auf „Geist du no Hus! Es verlieh einem das gute Gefühl der Macht, wenn man so einen riesigen Hund verscheucht hatte. Er ging zwar einem Erwachsenen nur knapp bis zur Wade, aber einem Dreijährigen stand er doch fast Aug in Aug gegenüber.

    Im Sommer Sechsundfünfzig wurden die Straßen unseres Dorfes asphaltiert. Ein riesiges Ungetüm, in dem der Teer gekocht wurde, stand hinten am Marktplatz. Stolz kam ich abends nach Hause und verkündete, „Ich habe einen Kulmix mit Loch gesehen! Keiner von den Erwachsenen hatte je ein solches Wort gehört oder wusste sich einen Reim darauf zu machen. Erst am nächsten Tag, als ich mit meiner Mutter zum Einkaufen ging, klärte ich sie auf, in dem ich auf den Teerkocher zeigte: „Das ist der Kulmix mit Loch! Wie ich auf dieses Wort gekommen bin, oder wo ich es gehört hatte, ist allerdings nie geklärt worden.

    Während unsere Straßen geteert wurden verbrauchte meine Mutter, nach eigener Aussage, mehrere Pfund Butter an mir. Damals die einzige Möglichkeit, schonend Teer von zarter Kinderhaut zu entfernen.

    Einmal im Jahr war auch Rummel in unserem Dorf. Auf dem großen Marktplatz bauten die Schausteller ihre Buden auf und die Hauptattraktion war der Autoscooter. Wir Kinder verdienten uns Freikarten, in dem wir beim Aufbauen kleine Holzplatten für den Niveauausgleich der Fahrfläche an die Arbeiter verteilten. Nicht ganz ungefährlich, wie sich herausstellte, als mich ein Eisenrohr am Kopf traf. Schreiend bin ich nach Hause gelaufen, das waren ja nur knapp fünfzig Meter, und flüchtete in die tröstenden Arme meiner Mutter. Jedenfalls hat mein Geschrei dafür gesorgt, dass der Schausteller meinem Vater gleich ein ganzes Bündel Freikarten für den Scooter in die Hand drückte. Meine Eltern sind dann abends auf den Rummel gegangen. Am nächsten Morgen hatte dann meine Schwester einen schwarzen Stoffpudel am Bett stehen und ich einen riesigen Tiger. Während mein Schwesterherz ihrem Tier ziemlich schnell die Holzwolle herausoperiert hatte, pflegte ich meinen Tiger noch über etliche Jahre.

    Das Leben in unserem Dorf war gemütlich und wir Kinder hatten nichts auszustehen. Außer unseren kleinen Pflichten, wie Schnittlauch oder Radieschen aus dem Hausgarten holen oder Löwenzahn rupfen für die Karnickel, hatten wir ein sorgenfreies Leben. Meine Schwester freilich war schon eingeschult und galt ab jetzt als „die Große. Ich erinnere mich daran, wie sie mit ihrer Klasse auf einem Schulfest ein Singspiel aufführte. „Ein Mann, der sich Columbus nannt`! Tagelang sang sie es vor sich hin. Nerv tötend! Zur Aufführung wurden die Kinder dann in ein Schiff gesteckt. Das waren Pappdampfer und die wurden mit Hosenträgern wie ein Rock getragen. Die Kinder guckten quasi als Kapitäne oben heraus. Ich mit meinen vier Jahren fand es unglaubwürdig: Ein Schiff mit Beinen! Gibt's doch gar nicht!

    Einmal kam ich spät nachmittags an Schmidts Laden vorbei und bemerkte, wie mein Cousin und sein bester Freund Dieter, auch Trecker genannt, auf dem Hof hinter dem Haus mit einem Luftgewehr schossen. Sie hatten in einer Wellblechgarage ein Pin- up- Girl aus Pappe an die Rückwand geheftet und beschossen die freizügig gekleidete Dame mit bunten Federbolzen. Ich sah eine Weile zu und fragte dann, wie man die bunten Dinger nennt, die sie da hinten in das Gewehr stopften. Lakonisch bekam ich die Antwort: „Flittchen"! Die erstaunten Blicke meiner Eltern und Großeltern kann man sich vorstellen, als ich am Abendbrottisch erzählte, dass Uwe und Dieter mit Flittchen geschossen haben und ich zusehen durfte.

    Auch der Winter hatte seine Reize in unserem Dorf. Bedingt durch die vielen Ofenheizungen und dem großen Kohlekraftwerk Offleben, waren reichlich Schwebstoffe in der Luft, an denen sich dankbar das Kondenswasser klammerte und kristallisierte. Dadurch hatten wir immer viel Schnee und lange kalte Winter in dieser Gegend. Das bedeutete für uns natürlich, ab auf die dorfeigene Rodelbahn. Was im Sommer als gepflasterter Verbindungsweg zwischen zwei Straßen unterschiedlichen Niveaus dient, wird im Winter von der Gemeinde nun höchst offiziell zur Rodelbahn erklärt. Das untere Ende der Rodelbahn endet auf der Schulstraße. Da das gefährlich ist, wird, wenn Schnee gefallen ist, kurzer Hand das Tor zum Schulhof geöffnet, die Pfeiler mit halbierten Autoreifen gepuffert und dadurch der Auslauf erheblich verlängert. Die Autofahrer werden mit einem Verkehrsschild, das tatsächlich der StvO unterliegt (BY 18-03), auf die Rodelbahn hingewiesen. Das steht heute noch dort und ist zu besichtigen.

    Wir Kinder wurden auch gepuffert. Allerdings mehr gegen die grimmige Kälte, als gegen mechanische Einwirkungen. Als erstes kam der warme Schlüpfer. Und dann das Leibchen! Leibchen. Nie gehört? Das ist ein unbequemes Folterinstrument, ähnlich eines Unterhemdes, nur mit Strapsen unten dran. An den Strapsen wurden lange, kratzige braune Strümpfe befestigt. Die vom Hersteller mitgelieferten Gummiknöpfe allerdings waren entweder schnell abgerissen oder sind sonst irgendwie abhandengekommen. Oder das Kochen in dem großen Kessel mit der scharfen Seifenlauge in der Waschküche ließen sie schnell porös und brüchig werden. Weiblicher Pragmatismus der fünfziger Jahre, die verlorengegangenen Knöpfe wurden kurzerhand durch Pfennige oder Zweipfennigstücke ersetzt.

    Als weitere Bekleidung erwiesen sich die Trainingshosen als besonders praktisch. Innen angeraut, robust und am Ofen schnell zu trocknen. Sie hatten mit den heutigen Trainingshosen nicht viel gemein. Sie ähnelten eher zwei dunkelblauen Säcken, die oben zusammenliefen. Die Beinlinge waren unten hermetisch mit strammen Gummis verschlossen. Was sich sehr gut beim Äppelklauen bewährt hatte, wie mein Cousin einmal eingestand. Oder eingestehen musste, weil er und seine Clique dabei erwischt wurden. Ein warmer, wenn auch kratziger, Pullover war der Abschluss unserer zünftigen Wintersportkluft. Dann ging es ab zum Rodeln. „Bahn frei, Kartoffelbrei!" Bis die Dämmerung einsetzte.

    Doch am schönsten war immer noch der Sommer. Der direkte Weg zu unserem Spielplatz führte quer über den gepflasterten Rathausplatz. Es war ein schöner Spielplatz. Eine Rutsche, Karussell, Schaukel, Sandkiste, alles was ein Kinderherz im Sommer so begehrt. Heiß umkämpft waren die Schaukeln. Himmelhoch schienen wir zu fliegen. Himmelhoch, immer ins Blau hinein. Einige ganz mutige sprangen auch ab, wenn die Schaukel im Zenit war. Wenn dieses Spielgerät zu stark frequentiert wurde, stellten sich die Größeren auf das Sitzbrett und die Kleineren nahmen zwischen den Füssen Platz. Ein Überschlag nach Schiffsschaukelmanier ist aber niemanden von uns gelungen.

    Manchmal saßen wir auch nur gelangweilt am Straßenrand vor unserem Haus. Autos waren nicht zu befürchten. Sie waren eher selten in unserem Dorf. Wie spielten Zuckerfabrik. Der trockene lose Zuckersand im Rinnstein wurde zusammengeschoben und dann in die Hand genommen. Dann ließen wir den Sand durch die geschlossene Faust auf die Fuge zwischen zwei Bordsteinen rieseln. Der lief, weil er so fein wie Zucker war, durch diese Fuge und unten im Rinnstein bildete sich ein kleiner Berg. Der wurde dann wieder in die Faust genommen und alles begann von vorn. Ein simples Spiel. Einfach das Produkt kleiner gelangweilter Jungs.

    Die Straße war sowieso mehr für die Jugend geschaffen, als für den öffentlichen Straßenverkehr. Himmel und Hölle und Schnecke waren schnell mit einem kleinen Brocken Backstein auf den Asphalt gemalt und wo ließ es sich besser Rollschuh fahren, als auf der Straße? Die Rollschuhe wurden mittels eines Schlüssels, der um den Hals getragen wurde, unter die Schuhe geschraubt. Beste Freundinnen teilten sich schon mal ein Paar dieser Bladerunnervorläufer.

    Im Hochsommer mieden wir aber oft die Straße. Obwohl sich das Barfußlaufen auf dem weichen nachgiebigen Asphalt sehr interessant anfühlte. Aber der durch die Sommerhitze aufgeweichte Straßenbelag war selbst für unsere hornhautbewehrten Kinderfüße etwas zu heiß. Stattdessen spielten wir in den schattigen Arkaden des Rathauses. Dort roch es immer irgendwie nach Bier und Urin. Lag höchstwahrscheinlich an der Ratsstube, die sich genau in der Mitte dieses Gebäudes befindet und an so manchem Zecher, der sich des genossenen Bieres in der Anonymität der nächtlichen Schatten in einer stillen Ecke entledigte.

    Nachmittags kam der Eismann auf seinem dreirädrigen Fahrrad. Mit einem Groschen in der Tasche, ganz King, musste ich wählen. Entweder eine große Portion Waldmeistereis und keine Lakritzpfeife oder eine nicht ganz so große Portion und zwei Lakritzpfeifen. Meistens siegte das Eis. Das Eis wurde noch mit einem Spachtel in die Eistüte gefüllt. Ach nein, Eistüten gab es erst ab zwanzig Pfennig. Für `nen Groschen gab es nur Eishüte. Die sahen aus wie ein umgedrehter Hut mit Krempe. Mir persönlich haben sie besser geschmeckt.

    In den Fünfzigern waren chemische Aromastoffe noch unüblich. Deshalb war der Waldmeistergeschmack noch natürlichen Ursprungs und schmeckte auch richtig nach Waldmeister. Mag es an der Verklärung meiner Erinnerungen liegen, oder es ist wirklich so, nie wieder habe ich ein Waldmeistereis gegessen, dass mir so gut geschmeckt hat.

    Im Spätsommer Neunzehnhundertsiebenundfünfzig bekamen unsere Eltern endlich eine Wohnung in

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