AUFSATZSAMMLUNG 18-1 Weltverwunderung : Nachdenken über Hauptwörter / Friedrich Dieckmann. -1. Aufl. -Berlin : Quintus-Verlag, 2017. -184 S. : Ill. ; 21 cm. -ISBN 978-3-947215-02-7 : EUR 18.00 [#5655] Als philosophisches Brevier wird der Band mit Essays des Schriftstellers Friedrich Dieckmann, der einst u.a. bei Ernst Bloch studierte und in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts am Berliner Ensemble als Dramaturg tätig war, auf dem Klappentext bezeichnet. Er hat die Beiträge, die dem Buch 1 in überarbeiteter Form zugrunde liegen, über einen Zeitraum von elf Jahren für die Philosophiezeitschrift der blaue reiter verfaßt, die keinen akademisch-wissenschaftlichen Anspruch hat, sondern sich an einen breiteren Kreis philosophisch Interessierter richtet. Daraus resultiert der entspannte und unakademische Ton, mit dem Dieckmann in lockerer Folge ganz unterschiedliche Themen bespricht, die mit der Frage nach der Weltverwunderung beginnen und über Freiheit, Weltgefühl, Heimat, Authentizität, Körper und Ich, Lebenskunst, Wirtschaft, Freundschaft, Mensch und Tier bis zum Lachen reichen. Die Ausführungen bringen oft überraschende Aspekte ins Licht, so etwa, wenn das Kapitel über Freundschaft (mit einem Ausrufungszeichen versehen) mit Bemerkungen über Völkerfreundschaft in der DDR, "Freundschaft!" als Begrüßungsformel oder über den DDR-Usus, die sowjetischen Besatzer als "die Freunde", beginnt. So werden gleichsam en passant auch interessante Begriffsverschiebungen sichtbar: "die Freunde waren keine Freunde, sondern eben die Freunde" (S. 98). Es werden in Dieckmanns Buch aber ebenso nebenbei Einsichten vermittelt wie die in die "wunderbare deutsche Neigung, aufgezwungene Verhältnisse zu verinnerlichen", die wohlgemerkt nicht nur in der DDR zu beobachten war (ebd.), um dann mit Hegel ins Philosophische zu schwenken. Auch Fichte, Schopenhauer, Kant und natürlich Ernst Bloch werden wiederholt aufgerufen, doch ist der Text auch sehr stark davon geprägt, daß dem Verfasser die Dichter nah sind. So sind Autoren wie Schiller und Goethe fast noch wichtiger als die Philosophen vom Fach, ergänzt u.a. durch Hölderlin und Rilke. Das hilft, wenn es darum geht, auch solche Begriffe bzw. Hauptwörter zu bedenken, die in manchen einschlägigen philosophischen Wörterbüchern oder bei bestimmten Philosophen gar nicht vorkommen -so etwa Heimat oder Lebenskunst. Gerade diese Verknüpfung philosophischer Reflexion mit literarischen Texten macht dieses Nachdenken über Hauptwörter, wie es Dieckmann hier bietet, zu einem Vergnügen. Denn wenn er sein Kapitel über Die unauslot-1 Inhaltsverzeichnis:
https://d-nb.info/1132593956/04 bare Affäre, nämlich das Verhältnis des Ich zu seinem Körper, mit Referenzen auf Konrad Lorenz oder Nicolai Hartmann beginnt, so scheut er sich nicht, das Kapitel mit dem Dichter Schiller zu beschließen, der sich auf dem Feld gut ausgekannt hatte. Schiller hatte im Musen-Almanach auf das Jahr 1797 ein Ich auf der Suche nach Rat die Philosophen reihum befragen lassen, deren launige Antworten hier zitiert werden und Anlaß für manches Grüben sein dürften. Besonders hübsch ist diese Antwort auf das Descartes-Philosophem des Cogito: "Denk ich, so bin ich! Wohl! Doch wer wird immer auch denken? / Oft schon war ich, und hab wirklich an gar nichts gedacht!" (S. 56). Ein weiteres Beispiel sei noch angeführt: So behandelt Dieckmann das Phänomen des Luxus mit Zitaten aus Kant und Hegel, wie man es zünftig erwartet, weshalb dann auch von dem bekannten "System der Bedürfnisse" die Rede ist, das nach Hegel "etwas Unerschöpfliches und ins Unendliche Fortgehendes" ist: "Es wird ein Bedürfnis daher nicht sowohl von denen, welche es auf unmittelbare Weise haben, als vielmehr durch solche hervorgebracht, welche durch sein Entstehen einen Gewinn suchen" (S. 126 -127). 2 Die hübsche Pointe dabei ist nun, daß Dieckmann diese philosophische Reflexion durch eine Posse von Johann Nestroy supplementiert, die unter dem Titel Die beiden Nachtwandler oder Das Notwendige und das Überflüssige eine Variation auf das Märchen Vom Fischer und seiner Frau bietet. Wer Freude an solchen Kombinationen hat, die dem Denken auf die Sprünge helfen, liegt bei Friedrich Dieckmann richtig. Till Kinzel