Spieglein
Spieglein
partizipatorische (Doppel)Porträts
Teilprojekt im Forschungsschwerpunkt (FSP) an der
Hochschule für Künste im Sozialen, Ottersberg
Künstlerische Interventionen in Gesundheitsförderung und
Prävention
Ein Kooperationsprojekt zwischen der Hochschule für Künste
im Sozialen, Ottersberg und der Alexianer Münster GmbH
Inhaltsverzeichnis
Seite
Stephan Dransfeld
Grußwort
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Cony Theis
Das Projekt
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Lene Carl
Malen nach Zahlen
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Lucie Köhler-Göb
Der Reiz
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Cony Theis und Said Towhidi
Gespräch
Janina Diekmann
Augenhöhe_Hierarchien_Positionierung_
Kreativität durch Schweigen
Cony Theis
Porträt als Prozess – Prozess als Körper
Gruppendialog
Fragen und Antworten
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38–39
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Cony Theis
Vorstellung
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Gabriele Schmid
Nachbilder als künstlerische Autoethnographie
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Impressum
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Teilnehmer*innen
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Grußwort
Die Sicherheit in der Unsicherheit zu finden – das fördert die Kreativität.
Corny Littmann
Kreative Pause
Das Leistungsspektrum der Alexianer auf dem Campus in Münster ist umfassend und speziell.
Wir sind unserer Tradition verbunden, haben dabei aber stets moderne Forschung und Entwicklung im
Blick.
An dem interaktiven Forschungsprogramm „Spieglein, Spieglein“ der HKS Ottersberg haben acht Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus verschiedenen Bereichen der Klinik und Verwaltung mitgewirkt. Für sie
war es ein Perspektivwechsel im täglichen beruflichen Arbeitsablauf und eine kreative Herausforderung.
Unsere Mitarbeiter sahen dem Kunstprojekt mit Spannung, Neugier und mit milder Skepsis entgegen.
Die Kunststudentinnen unter der Leitung der Künstlerin Cony Theis gingen behutsam und vertrauensvoll
vor und traten in einen intensiven Dialog mit den einzelnen Teilnehmern. Hierbei stand
das Zeichnen von Selbst- und Doppelbildern der Beteiligten als „lebende Spiegel“ im Mittelpunkt des
Projekts. Ein persönlicher Reflexionsprozess wurde in Gang gesetzt, der von den Alexianer-Mitarbeitern
als große Bereicherung empfunden wurde.
Wir danken für die inspirierende und besondere Zusammenarbeit.
Stephan Dransfeld
Regionalgeschäftsführer Alexianer Münster GmbH
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Das Projekt
Spieglein Spieglein lautet der Titel eines interaktiven partizipatorischen Porträtprojekts von Cony
Theis mit Gabriele Schmid, mit Studentinnen der HKS Ottersberg und mit Angestellten der Kliniken der Alexianer GmbH in Münster, dem Kooperationspartner im Projekt.
Es wurde im Wintersemester 2016/2017 durchgeführt, im April/Mai 2017 im Kunsthaus Kannen
und im Juni 2017 im Ausstellungsraum Level One der HKS Ottersberg in Hamburg ausgestellt.
Insgesamt waren am Projekt Spieglein Spieglein neun Studentinnen, zwei Professorinnen und
acht Teilnehmende aus verschiedenen Systemebenen der Klinik beteiligt.
Das Projekt ist Teil des Forschungsprogramms der HKS Ottersberg:
Künstlerische Interventionen in Gesundheitsförderung und Prävention
Die Hochschule baut im Rahmen eines fünfjährigen, ministeriell geförderten Forschungsvorhabens (01/2016-12/2020) einen angewandten Forschungsschwerpunkt auf. Dieser führt die
erfolgreiche transdisziplinäre Ausrichtung von Forschungsprojekten der Hochschule im Bereich
der Kunsttherapie bzw. der Künstlerischen Therapien fort. Zugleich fußt er auf der ausgewiesenen Expertise der Hochschule, künstlerische Praxisprojekte im soziokulturellen Kontext durchzuführen.
Ziel des Projekts Spieglein Spieglein ist die zeitgenössische Auseinandersetzung mit dem Thema
Porträt, hier insbesondere die Entwicklung von Selbst- und Doppelporträts.
Ausschlaggebend für eine gewisse Spannung ist das Aufeinandertreffen unterschiedlicher
hierarchischer Ebenen: berufliche Experten*innen – auf künstlerischem Gebiet voraussichtlich
Laien – treffen auf die ästhetische Kompetenz von Studierenden, ausgerüstet und vorbereitet
mit individuellen Teilkonzepten, an dem Ort, wo Letztere sich evtl. später für eine Stelle bewerben würden... Die Künstlerin Cony Theis fungiert als dritte Partnerin, gleichsam als Chefin.
Forschungsgegenstand ist die Untersuchung des künstlerischen Diskurses in der Spannung
zwischen Einzel- und Gruppenarbeit sowie der Prozesshaftigkeit der Definitionen der Begriffe
Porträt und Werk.
Cony Theis
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MALEN NACH ZAHLEN
Ich möchte während der vier bereits festgelegten Termine mit meinem Partner aus dem
Mitarbeiterstab der Alexianer Klinik Münster der Frage nachgehen, was Porträt bedeuten kann. Was zeichnet ein Porträt aus? Was will ein Porträt bewirken? Und dabei auch
die Grenzen des traditionellen, konventionellen Porträts künstlerisch erproben. Muss
für ein Porträt zwingend das Gesicht dargestellt werden?
Wobei mich aktuell die Stilisierung, die Dominierung der Persönlichkeit/Identität durch
Zahlen in unserem Alltag fasziniert. So will ich in die gemeinsame Arbeit den Impuls
hineinbringen, das Porträt und die davon ausgehende Frage des Entzuges und Präsentierens mit der Frage von Zahlen und ihrer Identitäts-Kreierung zu koppeln. Was sind
Zahlen? Wie sehr kann man sich ihnen entziehen? Was sagen sie über einen aus? Wie
unpersönlich, wie persönlich können Zahlen, aber auch ein Porträt sein? Und welche
Rolle spielt der Kontext, die Umwelt sowohl für das Porträt als auch für Zahlen und ihre
Bedeutung?
Wie versuchen wir heute Identität, Individualität zu messen, zu erfassen, zu kategorisieren, zu ordnen oder darzustellen? Und wie könnte ein dementsprechendes Porträt
aussehen? Dabei möchte ich als Startimpuls das Gegenüber mit Messgeräten wie eine
Schublehre, Schneidermassband, Zollstock und Waage vermessen und Zahlen aus dem
persönlichen Leben (Telefonnummer, Hausnummer, Identitätskarten-Nummer) zusammensammeln.
Was daraus entstehen wird und der weitere Vorgang sollen noch offen bleiben. Mir ist es
wichtig, dass die Gedanken, Ideen, Erkenntnisse und Fragen der vorherigen Stunde die
nächste gestalten können und mein Partner Teil dieses Weges wird.
Als Möglichkeit steht im Raum, die sehr kontrollierte, kognitive Erfahrung des Porträts
über die Zahlen, durch sehr unkontrollierte, spontane und emotionale Erfahrungen zu
ergänzen. (Blindmalen, mit der linken Hand malen, nur Gefühl, durch Farbflächen...)
Oder aber auch über die Zahlen den Bogen zur Zeit zu finden und sich über die Bedeutung von Zeit im Porträt auszutauschen.
Zum ersten Termin werde ich Messgeräte, Kamera, Millimeterpapier, Lineal, Bleistift
und Papier mitbringen. Nach dem Pixi-Fotoautomaten will ich mit meinem Partner ins
Gespräch gehen und dabei Erwartungen, Vorstellungen und Wünsche klären. Anschliessend mit dem Zahlensammeln beginnen und sich gegenseitig über Zahlen vorstellen
und die Körper vermessen. Dabei auch die Zeit stoppen, den Prozess messen. Formulare erstellen. Formulare einfüllen. Strecken abmessen. Ordnungen finden. Strukturen finden. Und dabei das Verhältnis von Persönlichkeit/Unpersönlichkeit beobachten.
Wie kann diese Annäherung sachlich, oberflächlich, anonym bleiben? Wie schnell wird
sie persönlich? Wo sind die Grenzen? Was macht der Unterschied?
Teil-Konzept von Lene Carl, HKS-Ottersberg, Oktober 2016
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Der Reiz
Der Reiz des Spieglein Projekts lag für mich darin, dass ich einen zunächst fremden Menschen
über einen längeren Zeitraum beobachten und porträtieren durfte. Wenn ich jemanden porträtiere, schafft dies immer einen Selbstbezug, der durch den Anderen sonst nicht möglich gewesen wäre.
Den Anderen sehen zu lernen, war ein herausfordernder Versuch und wurde durch die Porträtarbeit dokumentiert. Die Aufmerksamkeit, die ich für den Anderen bereithalte, erzeugt
das Bild. Das Gegenüber wird zur Inspiration. Mal ist das Porträt eher diffus, in der nächsten Studie wird es präziser. Annäherung und Distanz werden durch die vier aufeinander folgenden Termine automatisch zu einem künstlerischen Motiv in der gemeinsamen Arbeit.
Spannend im Projektverlauf war für mich das gegenseitige Porträtieren. Meiner Partnerin im Projekt ist eine gleichaltrige Heilerziehungspflegerin und arbeitet vor Ort in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Zu ihr spürte ich keine Befangenheit. Ihr fiel es anfangs sehr
schwer, sich auf das Material und das Malen einzulassen. Sie musste mit sich selbst ringen
bei dem Versuch mich zu porträtieren. Sie selbst empfand ihre Bilder wie Kinderzeichnungen.
Umso spannender waren für mich die Ergebnisse! Zu Beginn bildeten die Studien weniger mich
ab, sondern sie zeigten den Versuch mich zu sehen. Erst nachdem viele Studien entstanden waren, konnte ich schließlich eine Spur davon finden, wie meine Partnerin mich sieht.
Für mich waren deshalb die Arbeitsgespräche über die entstandenen Bilder besonders wertvoll.
Wir erforschten: inwieweit erkennt sich das Gegenüber, worin wird es sichtbar, was bleibt im
Porträt verdeckt?
Nach den ersten Treffen wurde meine Partnerin deutlich sicherer, und sie eignete sich das Material an. In ihren Bildern erkannte ich nun Wesenszüge von mir, die kein Foto hätte ablichten
können. Das Porträt stieß etwas in mir an, was mir vorher nicht bewusst war. Ich meldete meiner
Partnerin zurück, dass ich spürte, dieses Porträt habe etwas mit mir zu tun. Ich wurde vom Anderen gesehen und habe mich darin erkannt.
Wir sind im Kontakt mit unserer Wahrnehmung für den Anderen. Das Porträt wird zur Kontaktfläche. Mir wird klar: Durch das gegenseitige Porträtieren wird eine Differenzerfahrung geschaffen.
Bis zu einem gewissen Grad lässt sich die Konstruktion des Anderen immer mit einem Selbst in
Verbindung setzen. Zum Teil wird etwas Fremdes im Bild sichtbar und es kommt die Frage auf:
Ist dies das Fremde des Anderen oder ist es in mir?
Lucie Köhler-Göb, 23.11.2017
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Gespräch
Auszug aus einem Gespräch zwischen Cony Theis und Said Towhidi anlässlich von Punctum Pro,
(einer begleitenden Lehrveranstaltung der HKS Ottersberg) am 15. Mai 2018
S.T.: Mein Name ist Said Towhidi, ich bin ein Mitarbeiter der Alexianer-Klinik in Münster.
Was mir am meisten in Erinnerung geblieben ist, ist die Interaktion zwischen uns allen. Mit der
Atmosphäre, in der all das geschehen konnte, um die Werke entstehen zu lassen. Das ist das
Nachhaltigste und Eindrücklichste. Die Interaktionen haben es praktisch ermöglicht… durch die
Atmosphäre, durch die Zusammenarbeit und durch das Wenige, was wir voneinander wussten.
Alle hatten sich dafür entschieden mitzumachen und mitzuwirken. Das war das Gemeinsame
unter uns Mitarbeitern der Alexianer. Viel mehr wussten wir nicht.
Wir kennen uns weniger mit Kunst aus, für uns war es noch unbekannter und unvertrauter, uns
auszudrücken, uns mit unseren Unzugänglichkeiten nicht zurück zu nehmen. Das macht das
Wesentliche aus.
C.T.: Ich habe sehr wenige Anweisungen oder Ideen gegeben, um die einzelnen Gegenüber die
Doppelbilder aus sich heraus entwickeln zu lassen... Wenn es eine Versenkung in die Arbeit gibt,
kommen andere Geräusche auf, man hört die Pinsel, die an einem Glas klingen, man kann in
eine gewisse Ruhe eintauchen, in eine produktive Atmosphäre. Aber wir haben nie besprochen,
wie das für die Paare gewesen ist.
S.T.: Es war so eine Mischung, einmal als einzelne körperliche Wesen, die gleichzeitig in Beziehung zueinander standen, aber es gab auch diese Beziehung in einem noch größeren Umfeld
aus anderen Paaren, aus dem Raum, aus dem Licht, den Jahreszahlen, unseren Stimmungen.
Ich glaube, es war so eine Wechselwirkung zwischen allen Ebenen. Das Körperliche, das Geistige, das Seelische, das Räumliche, das Zeitliche, das Farbliche, das Intentionale und das Zielgerichtete und dennoch das Spontane. Keine dieser Arbeiten ist ohne diesen Umstand erklärbar
oder hätte entstehen können. Wenn ich zuhause gesessen hätte, in derselben Zeit, mit den
gleichen Pinseln und Farben, hätte ich nichts zustande gebracht. Das finde ich das Wesentliche
daran. Allein dieses Zusammensein in einem Raum, auch wenn man nicht direkt verbal oder
nonverbal redet, ergibt eine gegenseitige Durchdringung von Interaktionen, die all das beinhaltet: das Verbale, das Nonverbale, das was jeder mit sich bringt. Das spielt eine zentrale Rolle.
C.T.: Das Thema Portrait bewirkt häufig zunächst eine große Befangenheit aufgrund der Vorstellung, man müsse jetzt perfekte Abbilder schaffen. Die Studierenden, d.h. die Experten im
Projekt, habe ich als unglaublich vorsichtig empfunden im Verhältnis dazu, was sie eigentlich
wissen und wie frei sie damit hätten umgehen können. Was sie zunächst gar nicht getan haben,
und später dann doch. Aber zunächst eben nicht, wahrscheinlich um nicht unhöflich zu erscheinen. Sehen Sie das auch so?
S.T.: Ich habe sie ja nur da kennengelernt, ja sehr höflich. Ich habe sie in dem glücklichen Mo-
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ment ihres Daseins kennengelernt. Sie waren einladend, eher ermunternd.
Ich weiß von einigen Kollegen, dass sie Bammel hatten, sich zu outen, dass sie das nicht könnten. Es wäre ja genauso für Sie, wenn sie mit unseren Patienten anfangen würden ein Gespräch
zu führen. Da kennen wir uns aus.
Da war eine sehr einladende Art uns einzubeziehen und uns dafür zu gewinnen, dass, was gerade läuft, auch laufen darf und laufen soll. Es hatte keine bewertende Konnotation … eher eine in
Tätigkeit übergehende Interaktion.
C.T.: Können Sie eine Sequenz beschreiben, eine Interaktionserfahrung, etwas zur Spiegelung?
S.T.: Da gab es eine kurze Sequenz mit meiner Partnerin Hannah, wo man darüber berichten
sollte, wie der andere auf einen wirkt... Wie man ist, kann man ja sehr schwer erfassen. In
diesen Beschreibungen fand ich Dinge, auf die ich selber nicht gekommen wäre... Mein Sosein
ist im Zusammenhang mit ihrer Wahrnehmung überhaupt zu einer Externalisierung gekommen.
Spiegeln – ich mag den Begriff nicht, man spiegelt sich nicht in dem Anderen, sondern das, was
der andere wahrnimmt, hat auch sehr viel mit dem, wie er oder sie ist, zu tun. Es ist ein Zerrbild, aber dennoch unterscheidet sich diese Beschreibung von einer Beschreibung von einem
Baum, es ist eine Beschreibung von mir. Dennoch ein Zerrbild, aber dieses Zerrbild ähnelt mir
viel mehr als einem Baum.
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Augenhöhe_Hierarchien_Positionierung_Kreativität durch Schweigen
Wer porträtiert wen?
Wer wird porträtiert?
Der Andere als Spiegel meines Selbst.
Wer begegnet wem?
Wie begegnen wir uns?
Auf Augenhöhe?
Du bist die Unwissende, ich wissend, Du die Laiin, ich die Künstlerin.
Sollte ich mein ganzes Können zeigen?
Ich muss doch motivieren, denn Du sagst, Du kannst nicht malen?
Wie kommen wir in ein gemeinsames kreatives Schaffen?
Zuhören, sprechen, zuhören, sprechen, wie soll man in einer
Schwimmbadatmosphäre vernünftig arbeiten?
Wie entkomme ich dem ablenkenden, oberflächlichen Gespräch?
Problemlösung: kollektives Schweigen.
Das Gesprochene schreibt sich nieder auf dem entstehenden Werk,
der erste Strich ist nun gesetzt und das weiße Papier füllt sich
mit Farben, die uns beiden entsprechen.
Janina Diekmann
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Gruppenportrait
Kunsthaus
Kannen
Ausstellung 21.04. – 28.05.2017
Porträt als Prozess – Prozess als Körper
Im interaktiven Prozess der Entstehung der Doppelporträts entwickelt sich eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Gegenüber, für Atmosphäre und besonders für Bildentwicklung.
Das Projekt Spieglein Spieglein folgt weniger Anleitungen als der Idee, Bilder sich in Abhängigkeit der temporären / ästhetischen Beziehungen entwickeln zu lassen.
Einfache Mittel wie Zeichnen, Malen, Töne aufzeichnen sind die Medien für die gemeinsame
visuelle Erörterung der Frage, was ein Porträt sein kann. Wer porträtiert wen wie, wenn sich
Hierarchien verschieben? Ist das Fremde das des Anderen? Es geht um Nähe und Distanz.
Physisch betrachtet, liegt die Nähe im Blatt Papier, die Distanz erscheint in der Machart.
Meine selbst gestellte Aufgabe ist, den künstlerischen Prozess im Auge zu halten, möglichst
ohne Leitung zu leiten.
Um vor allem bei den „Laien“ (den Mitarbeiter*innen der Alexianer*innen) keine inneren Vorbilder und Klischees von „Porträt“ zu aktivieren, ist eine erste Aufgabe, Farbtöne der Partnerin
oder des Partners wahrzunehmen und sie in abstrakten Feldern zu arrangieren. Das weiße
Papier füllt sich mit Farben, die beiden entsprechen.
Ansonsten ist die Art des Porträtierens völlig freigestellt.
Vier Zeitblöcke sind für das Projekt geplant – auffallend ist eine sich steigernde Gesprächsaktivität. Mir scheint es eine Art Übernahme des Alexianer-Teams in ihren Kompetenzbereich
der Sprache. Die Studierenden sind sehr höflich; d.h., Text übernimmt Bild. Wie entkommt man
dem ablenkenden Gespräch? Als Konsequenz schränke ich in der dritten Einheit das Sprechen
ein, nur auf den Blättern bleibt Dialog erlaubt. Jetzt sind Geräusche Ateliergeräusche: Pinsel
schlagen an Wassergläser, Stifte kratzen auf Papier etc. Es entsteht eine Art sinnlich spürbarer
Raum zwischen den Partizipierenden, als entwickle sich ein atmosphärischer „Prozess“-Körper
zwischen allen Beteiligten durch die gemeinsame Konzentration auf die künstlerische Arbeit.
Dialog schreibt sich jetzt nieder auf dem entstehenden Werk und wird Teil desselben.
„Die ‚Innerlichkeit‘ hat ihren Ort genau an der Stelle der ‚Äußerlichkeit‘ und nirgendwo anders.“ 1
Der andere wird noch unbekannter, wenn sein Porträt erkennbar wird. Das „Andere“ wird sichtbar – und dadurch das Fremde des Anderen, (s)ein Geheimnis – und ebenso die Interpretation
des Interpreten. Subjekt und Objekt verschränken sich im Bemühen des Kennenlernens und
Festhaltens eines einzigen Gesichts der vielen Gesichter einer jeden. Porträts sind selbstreflexiv, sie beziehen sich auf das Verhältnis des Bildes zur abgebildeten Person – was bedeutet das
für die Person, die ein Porträt erstellt? Im Doppelporträt wird eine Begegnung zwischen zwei
Personen hergestellt und stillgestellt. Kann es eine interaktive Erkenntnis geben, wenn beide
(Künstlerin und Modell) zusammen das Ergebnis betrachten? Gibt es eine Begegnung durch den
Versuch des gemeinsamen Ansehens? Im Projekt Spieglein Spieglein werden inneres Bild und
in der Außenwelt wahrnehmbares Abbild mithilfe einer gewissen Offenporigkeit oder Fragilität
gegenseitig konstruiert und somit die eigene Identität in Frage gestellt. Diese Offenporigkeit
führt im besten Fall zu einer Art Unsicherheit, die Unbekanntes zulässt und weiter zu einer Art
Neugierigkeit, wie sie Kinder haben, um die Welt zu erkunden und die mit der Kindern eigenen
Sicherheit Bilder dieser Welt anfertigen, in der alles Wesentliche konstruiert wird und alles
Nebensächliche weggelassen werden kann.
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Jean-Luc Nancy (2007): Porträt und Blick, Legueil, Stuttgart, S. 22
„Wenn der >>Andere<< – die- oder derjenige, dessen Bild man sucht – sich im Porträt, in seinem
Porträt, entzieht, dann nicht, um in diesem Entzug eine faszinierende, geheimnisvolle Identität zu
verbergen, sondern um mit uns, die wir ihn betrachten, die Fremdheit zu teilen, die nicht nur seine,
sondern unsere ist“. 2
Überarbeitete Fassung des Textes Vom Sehen des Anderen im Kapitel
Vom Sehen in Kunst im Krankenhaus, (2020) Kohlhammer Verlag Stuttgart
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Jean-Luc Nancy (2015): Das andere Porträt. Diaphanes, Zürich, S. 69
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02.06. – 08.07.2017
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Fragen und Antworten
1. Wenn Sie durch einen Türspalt eine einzelne Szene aus dem Projekt
sehen könnten, welche wäre das?
Alle sitzen schweigend über ein leeres Blatt Papier gebeugt.
2. An welche zwei Farben denken Sie: für Ihre Partnerin bzw. für sich?
(Versuchen Sie, die Farben möglichst genau zu beschreiben)
- Ein warmes Rostbraun
- Ein kühles Dunkelblau
3. Wenn Sie an das Projekt denken, kommt welche Mimik in Ihr Gesicht?
Ein entspanntes, nachdenkliches, schweigendes Gesicht.
4. Was ist Ihre einprägsamste Erinnerung an den „sprachlosen“ Tag?
Die Stille. Sich in sich versenken dürfen, nicht denken, nicht antworten
müssen.
5. Inwiefern hat sich Ihre Vorstellung von Porträt durch das Projekt
geändert?
Es hat nicht ausschließlich etwas mit dem Können der zeichnerischen
Darstellung des Gegenübers zu tun.
mehrere Teilnehmer*innen des Projekts,
ca. ein Jahr nach dem Projekt Spieglein Spieglein
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Vorstellung
Was vorgestellt wird,
ist,
wenn man so will,
ein Porträt,
aber kein psychologisches,
sondern ein strukturales:
es stellt einen visuellen Ort zur Anschauung bereit:
den Ort jemandes, der für sich,
als Liebender,
sieht,
der angesichts des Anderen
zeichnet,
der seinerseits schweigt.
Das Projekt ist gescheitert –
Das Projekt ist NICHT gescheitert –
Das Projekt ist gescheiter.
Fragen der Hierarchie –
KEINE Augenhöhe
Die Kollaboranten aus der Klinik nutzen ihre Redegewandtheit
für
Ausweichmanöver
Reden Reden
Schweigen Schweigen
Man erfährt NICHTS für ein Porträt,
wenn man sich vorstellt,
um ein Bild von sich zu geben.
Wir haben nichts gelernt.
Das ist gut.
Das unterscheidet das Projekt von einem VHS-Kurs
Für wen ist das Konzept künstlerisch zwingend?
Viel Zeit wurde verplempert,
das war schlecht,
ein Problem der Regie.
Was ist gut daran, dass es so schlecht ist?
Das Kranke, das Scheitern
kann das Gesunde sein:
das ist:
die Erkenntnis des Scheiterns als Zuspitzung.
Erfahrung Erfahrung
Still Still
Die Tage, an denen die Regie, die Chefin, ICH
das Reden verbot,
gaben uns die einzige Möglichkeit zu bestehen.
– Leitplanken für die rasante Fahrt –
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Wir müssen uns
nicht kennenlernen,
sondern können
einen gemeinsamen Raum herstellen.
Wir können direkt anfangen.
Wir können NICHTWISSEN,
was ein Porträt ist.
„die ‚Innerlichkeit‘ hat ihren Ort genau an der Stelle der ‚Äußerlichkeit‘
und nirgendwo anders.
Die Porträts formulieren die Abwesenheit der Porträtierten.
die Rollen verteilen
mit den Proben beginnen
Lösungen finden
für die Probleme
der Regie
sorgfältig die Auftritte
und Abgänge festlegen
die Haltung
auswendig lernen
an ihrer Gestaltung
arbeiten
sich hineinversetzen
ins BILD
mithilfe Jürgen Heiter 1, Jean-Luc Godard 2 und Jean-Luc Nancy 3
Performativer Vortrag zu Spieglein Spieglein auf der Forschungstagung
Zur Korrespondenz evidenz- und künstlerisch basierter Forschung,
Ottersberg, 23.11.2017
-----------------------------------------------------------------------------------Gespräche mit Jürgen Heiter, fortlaufend
Jean-Luc Godard, (Original 1996), JLG/JLG, diaphanes, Zürich-Berlin, 1. Auflage 2014, S.6
3
Jean-Luc Nancy, Porträt und Blick, (2007), Verlag Jutta Legueil, Stuttgart, S. 22
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Nachbilder als künstlerische Autoethnographie
1. Blau
Nachbilder als künstlerische Autoethnographie
Seit einigen Wochen lese ich zum Frühstück in Martin Gayfords Reflexionen seiner Porträtsitzungen bei Lucian
Freud. Ich verfolge mit dieser Lektüre keine besondere Absicht, und meist lese ich nur wenige Zeilen, bevor ich
zum Tagesgeschäft übergehe. Letzte Woche jedoch wurde das beiläufige Lesen zum Anstoß für den heutigen
Vortrag: „Die Farbe“, zitiert Gayford Lucian Freud, „ist die Person. Ich will, dass sie genauso wirkt wie Fleisch.“
(Gayford 2011, S. 112). Nach Freuds Auffassung hat das Porträt nicht die Aufgabe, dem Modell zu ähneln,
sondern vielmehr in einer zunächst dunkel bleibenden Weise das Modell zu sein. Damit ist eine Erfahrung
angesprochen, die die spezifische Verschränkung von Kunst und Leben charakterisiert. Lucian Freud hat dies
im Jahr 1954 in seinem kleinen Manifest „Some thoughts on painting“ so gefasst:
„It is the very knowledge of life which can give art complete independence from life, an independence that is
necessary because the picture in order to move us must never merely remind us of life, but must acquire a life
of its own, precisely in order to reflect life.” (Freud 1954).
Damit sind in ontologischer Hinsicht die Grundstrukturen der Wirklichkeit angesprochen: Um Leben reflektieren zu können, muss das Kunstwerk ein eigenes Leben gewinnen. Solche Analogie des Erlebens von Kunst
und Wirklichkeit interessiert mich seit den Anfängen meines Kunststudiums: Ich wusste, dass da etwas in der
Form eines Nasenflügels liegt, das mit dem Sein des Anderen zu tun hat. Ich konnte es sehen und fühlen und
vielleicht malen oder zeichnen, aber buchstäblich nicht be-greifen. Dieses gleichsam inkorporierte Wissen hat
mich durch mein Studium und bis heute begleitet.
Gefühltes, verkörpertes Wissen ist es, das nach Julian Klein (2011) künstlerische Forschung anvisiert. Es resultiert aus prinzipiell singulärer künstlerischer Erfahrung und folgt einer radikal subjektiven Perspektive. In
seinem Essay Was ist künstlerische Forschung? aus dem Jahr 2011 beschreibt Julian Klein künstlerische Forschung als einen Modus von künstlerischem Erleben, einen liminal space, in welchem die Wahrnehmung sich
selbst präsent wird. „Eine künstlerische Erfahrung zu haben bedeutet „sich selbst von außerhalb eines Rahmens zu betrachten und gleichzeitig in denselben einzutreten.“ (Klein 2011) Diese Doppelnatur von künstlerischem Erleben entsteht, am Beispiel der Porträt-Malerei, durch die Trias von Modell, Palette und Bildträger.
Zunächst ist, folgt man den Abhandlungen von Jean-Luc Nancy zum Porträt, der oder die Porträtierte im Bild
fundamental nicht da. Jede Hinwendung zum Bild wäre mithin eine Abwendung vom Anderen. Diese Wendung
Nancys charakterisiert sehr genau meine Erfahrung während der Porträtsitzungen im Projekt Spieglein Spieglein. Jedes Mal, wenn ich meinen Blick von der Haut meines Gegenübers abwandte, schienen der Blick auf
die Palette oder die Hinwendung zum Malgrund die soeben gemachte Erfahrung zu überschreiben. Zugleich
verflochten und verschmolzen die Akte der Wahrnehmung die Elemente Modell – Palette – Bildgrund zu einer
Erfahrungseinheit. Ich bemerkte, dass der konzentrierte Blick auf die Haut und beim Mischen der Farben meine Farbwahrnehmung veränderte. Wenn ich aufsah, schien der Raum, in dem wir saßen, in ein leuchtendes
Blau getaucht, bevor mein Blick wieder vergraute.
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2. Epistemologien
Christopher Frayling (1993) entwickelte im Rahmen der praxisorientierten Designforschung die Idee, „Forschung in, durch und für Kunst“ zu unterscheiden; eine Trichotomie, die von Henk Borgdorff als (a) Forschung
über Kunst, (b) Forschung für die Kunst und (c) Forschung in oder mit Kunst modifiziert wurde. (Borgdorff
2009) Diese Trichotomie findet eine Parallele in den Konzepten praxisorientierter Forschung. Practice-based
research untersucht vorformulierte Fragen und Hypothesen, die aus der Praxis entspringen, während practice-led research meist ohne eine zuvor formulierte Frage ins Feld geht. Beide Varianten können auf die Konzepte und Methoden von arts-based research bezogen werden. Practice as research entspricht den gängigen
Definitionen von artistic research, von Forschung durch Kunst. Hier bildet die Praxis die maßgebliche Forschungsmethode.
Aus erkenntnistheoretischer Sicht können künstlerische Forschung und practice as researchmit den methodologischen Begründungen der Autoethnographie verbunden werden. Dieser Forschungsansatz zielt darauf
ab, persönliche Erfahrungen zu beschreiben und mit den relevanten gesellschaftspolitischen und kulturellen
Kontexten zu verbinden (Ellis 2011). Es ist ein Ansatz, der die Singularität des Prozesses, die Subjektivität der
Forschenden und ihren Einfluss auf den Forschungsprozess anerkennt.
Die Autoethnographie ist in den Übergang von der klassischen zur postmodernen Ethnographie eingebettet
und mit dem Shift der Soziologie von einem neutralen hin zu einem engagierten Verständnis von Forschungsaktivitäten verbunden (Winter 2011 S. 1). Diskurse spiegeln Erfahrungen nicht wieder, sondern produzieren
sie, und das Selbst des Forschers wird in der Forschungspraxis sowohl konstituiert als auch inszeniert. Wirklichkeit und Forschung sind ebenso untrennbar miteinander verbunden, wie Lucian Freud das für die Verschränkung von Wirklichkeits- und Bilderfahrung postuliert hatte.
Die kritische Ethnographie ist transformativ und interventionistisch, und sie bringt eine Verschiebung von der
teilnehmenden Beobachtung zur Beobachtung der Teilnahme mit sich (Tedlock nach Geimer 2011 S. 301).
Reflexivität ist mithin das Herzstück der postmodernen Ethnographie. Norman K. Denzin bezeichnet sie als
existentielle Ethnographie, die sich mit jenen seltenen Momenten befasst, in denen sich Biografien verbinden.
(Denzin 2000 S. 402 nach Geimer 2011 S. 303).
Mit der biographischen Orientierung der Autoethnographie lässt sich der Weg weiter ausbauen, den Denzin
und andere eingeschlagen haben. Grob unterscheiden lassen sich analytische und evokative Autoethnographie. Manning und Adams beschreiben vier Orientierungen:
Die sozialwissenschaftliche oder analytische Autoethnographie beinhaltet „eine Kombination aus Feldforschung, interpretierenden qualitativen Daten, systematischer Datenanalyse und persönlicher Erfahrung „.
(Manning/Adams 2015 S. 189). Im Mittelpunkt der interpretativ-humanistischen Autoethnographie stehen Methoden wie dichte Beschreibung oder Interviews. Die kritische Autoethnographie nutzt persönliche Erfahrungen, um Machtmissbräuche oder Unterdrückungsstrukturen zu identifizieren (Manning/Adams 2015 S. 190),
und sie zielt auf die Veränderung von sozialen Strukturen.
Die Kennzeichen kreativ-künstlerischer Autoethnographie haben einiges mit den Grundannahmen künstlerischer Forschung gemein. Sie zielen darauf ab, sich mittels der künstlerischen Qualität der Texte, Fotografien
oder Performances mit ihrem Publikum zu verbinden
(Ellis und Bochner 2016). Ästhetische Erfahrungen sind wesentliches Moment der kreativ-künstlerischen Autoethnographie.
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3. Rosy Space
Es ist ein heißer Spätsommernachmittag. Ich sitze im Garten und googele nach „Afterimages“ und „Poem“. Ich
bin dabei, eine Rauminstallation zu konzipieren, die auf die somatische Konstitution ihrer Betrachter zielt, auf
das Bindegewebe der Augen und die Erzeugung von Nachbildern. Ursprung sind die während des SpiegleinProjekts entstandenen Farbtäfelchen, auf die ich mit Ölfarbe die an der Haut meiner Partnerin isolierten Farbschattierungen aufgetragen hatte.
Als ich die Hauttöne meiner Partnerin malte, beeinflussten die Nachbilder, die sich aus dem konzentrierten
Blick auf ihr Inkarnat ergaben, die Wahl der Farben auf den Täfelchen. Zugleich resultierte mein Interesse am
Inkarnat aus einem sozusagen metaphorischen Nachbild, das seine Wurzeln in meiner Studienzeit hat. Die
gemalten Fleischtöne sind eine künstlerische Antwort auf eine frühere phänomenologische Betrachtung des
Inkarnats am Beispiel von vier Aktgemälden. Die Arbeit trug den Titel „Die Dauer des Blicks“.
Wie lange ein visueller Eindruck dauert, war eine Frage der Physik des ausgehenden 19. Jahrhunderts und
wurde unter anderem von Hermann von Helmholtz intensiv beforscht. Bereits dem Physiker Helmholtz war
klar, dass die Farbe auf dem Bildträger nicht die Wirklichkeit widerspiegelt sondern vielmehr dazu dient, einen
bestimmten Seheindruck bei den Betrachtenden zu erzeugen. Nun resultieren Seheindrücke nicht allein aus
der Physiologie des Auges. Helmholtz‘ Zeitgenosse, der Maler Paul Cézanne, berichtet, wie seine Farbwahrnehmung nicht nur von der aktuellen Wahrnehmung, sondern ebenso bestimmt wurde von seinem Bildungsgang und seinem kulturellen Kontext:
„Als ich Vieille au chapelet malte, sah ich einen Ton von Flaubert, … eine bläuliche und rotbraune Farbe, die, so
schien es mir, von Madame Bovary ausgeht. Vergeblich versuchte ich, Apuleius zu lesen, um diese Besessenheit zu vertreiben, von der ich befürchtete, dass sie zu literarisch wäre und meine Malerei verderben würde.
Nichts funktionierte. Diese große bläulich-rote Aura stieg über mich herab und sang in meiner Seele. Ich war
vollständig darin gebadet.“ (Cézanne in Gasquet 1921 S. 112, Übersetzung GS)
Die im Spieglein-Projekt entstandenen Farbtafeln habe ich in mehreren Durchgängen weiter bearbeitet. Das
Ergebnis war unbefriedigend. Es entsprach in keiner Weise meiner künstlerischen Erfahrung. In den folgenden Monaten hatte ich immer wieder das Bild einer lebensgroßen blauen Farbfläche vor Augen. Ich wusste
nicht warum. Als ich das Angebot bekam, in den Räumen der Kunstschule PAULA auszustellen, wusste ich
sofort, was zu tun war. Ich schnitt in einem Raum zwei lebensgroße Flächen aus der Tapete und trug auf die
linke blaue Farbe auf. Im anderen Raum schnitt ich mehrere kleine Felder aus der Tapete, in die ich die Negativfarben meiner Farbtäfelchen auftrug. Wenn man nun länger auf das jeweils linke Farbfeld blickt und dann
den Blick auf die rechte, weiß gebliebene Fläche richtet, erscheint als flüchtiges Nachbild der Farbton des
zugrunde liegenden Täfelchens. In gewisser Weise habe ich so den ursprünglichen Seheindruck rekonstruiert.
Die zart rosafarbenen Nachbilder sind gleichsam die Porträtierte und die Porträtierende zugleich.
Der autoethnographische Kontext hat zwei Pole: Die wahrnehmungsgebundene Haltung der Künstlerin-Forscherin und die autobiographischen Bezüge, die diese Haltung wesentlich mit bestimmen. Beide stehen in
einem analogiehaften Verhältnis zueinander. Aus dieser Analogie von Erzählung und verkörperter Erfahrung
entsteht das Potential der künstlerischen Autoethnographie: Professionelle Rollen, auch in therapeutischen
und pädagogischen Bezügen, reflektieren zu können.
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Für mich als künstlerisch Forschende gehört zu der vollzogenen künstlerischen Autoethnographie im Galerieraum, die die intime Verbindung der sich Porträtierenden spiegelt, die theoriebasierte Formulierung eines
Modells künstlerischer Autoethnographie. Sie ist Teil meiner autoethnographischen Praxis.
Zu den ersten Ergebnissen meiner google-Suche nach afterimages und poem gehörte das gleichnamige
Gedicht des japanischen Zen-Dichter Takahashi Shinkichi. Volcanic Smoke, beginnt es. Ich bin sofort elektrisiert, denn das Bild eines Vulkanausbruchs habe ich bereits in einem früheren Text verwendet. Outbreak of a
vulcano, hatte ich damals geschrieben, eine Wendung, die die Lektorin gerne in Fallout of ashes korrigiert hätte,
doch dies hätte ein völlig anderes Bild ergeben. Ich lese weiter: „Nothing but rosy space. All else gone. … The
only thing that moved, ever closer, was a girl’s nose. All mere afterimages.”
Gabriele Schmid, Lilienthal, im November 2018
Überarbeitete Fassung eines Tandem-Vortrags (zusammen mit Constanze Schulze-Stampa), gehalten am
9. November 2018 im Rahmen der Tagung „Arts-based-Research: Kunstbasierte Forschungsansätze in den
Künstlerischen Therapien.
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Impressum
Nr. 08 Publikationsreihe
Künstlerische Projekte HKS Ottersberg
Das Projekt wurde durchgeführt und umgesetzt im Rahmen des Forschungsschwerpunktes
der HKS Ottersberg „Künstlerische Interventionen in Gesundheitsförderung und Prävention“,
gefördert durch das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur.
Herausgeberin:
Prof. Cony Theis
Hochschule für Künste im Sozialen, Ottersberg
Autor*innen:
Lene Carl, Janina Diekmann, Lucie Köhler-Göb, Prof.in Dr. Gabriele Schmid, Said Towhidi, Cony Theis
Redaktion:
Cony Theis
Assistentinnen der Redaktion:
Janina Diekmann, Hannah Santana
Gestaltung:
Silke Brösskamp
Foto– und Bildnachweis:
Die künstlerischen Arbeiten haben ggf. mehrere Autor*innen. Da der Fokus auf der interaktiven Ebene
der Protagonist*innen liegt, wird an dieser Stelle aus konzeptionellen Gründen auf die üblichen Angaben der
Autor*innen und Werke verzichtet.
Dokumentation der Ausstellung Level One: Pitt Sauerwein
© Cover / Innenteil: Alle Rechte bei den Fotograf*innen
Druck:
WIRmachenDRUCK GmbH, Backnang
Auflage:
500
ISBN: 978-3-945331-15-6
2020
© HKS Ottersberg
Cony Theis
Fotograf*innen und Autor*innen für ihre jeweiligen Beiträge
www.conytheis.de
www.hks-ottersberg.de
Wir bedanken uns für die Unterstützung der Projektdurchführung bei Lisa Inckmann, Kunsthaus Kannen und
für die großzügige Förderung der Katalogproduktion bei der Alexianer Münster GmbH.