Wogenprall, Wogenglättung
Das Tuttlinger SchneckenburgerDenkmal von Fritz von Graevenitz
Ulrich Feldhahn
Wie vielerorts wird auch in der baden-württembergischen
Kreisstadt Tuttlingen seit einiger Zeit die Debatte um ein
im öffentlichen Raum befindliches Denkmal geführt, dessen Hintergrund und Bedeutung fragwürdig oder unzeitgemäß erscheinen können. Es handelt sich um das zwischen 1937 und 1940 geschaffene Denkmal für Max
Schneckenburger (1819–1849), Dichter der »Wacht am
Rhein«, im Stadtgarten. Zuvor war dort bereits 1892 die
Figur einer »Germania« aufgestellt worden, die jedoch der
Metallknappheit im Ersten Weltkrieg zum Opfer fiel. Für
den daraufhin jahrelang verwaisten Platz wurden immer
wieder Pläne gehegt, bis ihn die Nationalsozialisten zu
einem Sinnbild »des Niedergangs und der Niederdrückung
der Vaterlandsliebe« 1 erklärten. Es wurde zunächst ein
Nachguss angestrebt, den jedoch wenig später die Idee
eines gänzlich neuen Denkmals ablöste. Dessen Gestaltung in Form einer steinernen Reitergruppe ging auf den
Bildhauer Fritz v. Graevenitz (1892–1959) selbst zurück.
Die Ausführung verzögerte sich jedoch durch wiederholte
Erkrankung sowie den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs,
Das Schneckenburger-Denkmal im Tuttlinger Stadtgarten, Frühjahr 2022.
Hinter der linken Figur vermutet man ein Selbstporträt des Bildhauers.
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Schwäbische Heimat 2022|3
Raum in der Ausstellung zur »Liste der Gottbegnadeten« im Deutschen Historischen Museum Berlin
mit den Standorten erhaltener Werke von NS-Künstlern, darunter sechs Arbeiten von Fritz v. Graevenitz (rechts)
sodass es auch nie zu einer offiziellen Einweihung kam.
Nach Kriegsende vor Ort belassen und inhaltlich umgedeutet, hat das Denkmal seither wiederholt Phasen der
Akzeptanz, Ignoranz und Ablehnung erfahren.
Auseinandersetzung mit v. Graevenitz und den
»Gottbegnadeten«
Den Anstoß für die nähere Beschäftigung des Verfassers
mit dem Tuttlinger Denkmal bildete nicht die aktuelle
Kontroverse, sondern eine 2021 im Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin gezeigte Ausstellung mit
dem Titel »Die Liste der Gottbegnadeten – Künstler des
Nationalsozialismus in der BRD«. 2 Ausgehend von einer
1944 im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda erstellten Liste der durch das NS-Regime unter
besonderen Schutz gestellten Kunstschaffenden wurden
dabei Biografien der darin enthaltenen 114 Maler und
Bildhauer untersucht. Viele von ihnen konnten nach 1945
nahtlos weiter ihrer Tätigkeit nachgehen und wurden vielfach mit öffentlichen Aufträgen und Ämtern betraut. Den
Abschluss bildete eine nach Bundesländern geordnete
Übersicht der bis heute im öffentlichen Raum erhaltenen
Geschichte und Landeskultur
Werke von NS-Künstlern, darunter auch das Tuttlinger
Schneckenburger-Denkmal des gleichfalls auf der »Gottbegnadeten-Liste« befindlichen v. Graevenitz. Auf einer
eigens hierfür entwickelten digitalen Karte war der Standort Tuttlingen jedoch offenbar vergessen worden, weshalb
der Verfasser die Möglichkeit nutzte, dessen (inzwischen
erfolgten) Eintrag interaktiv einzugeben. 3
Wenngleich der Schwerpunkt auf den Werdegängen nach
1945 lag, thematisierte die Ausstellung auch die Brisanz
im Umgang mit Kunstwerken der NS-Zeit. Dieser Problematik ist man sich auch seitens der Tuttlinger Stadtverwaltung bewusst und regte bereits 2021 eine öffentliche
Auseinandersetzung an 4, wie sie zugleich von der Stuttgarter Stiftung Geißstraße in Bezug auf Fritz v. Graevenitz,
seine öffentlich zugänglichen Werke sowie das ihm gewidmete Museum gefordert wird. 5
Ein Gedicht wird zur inoffiziellen Nationalhymne
Max Schneckenburger wurde 1819 als Sohn eines Kaufmanns im nahegelegenen Talheim geboren. Nach dem
Schulbesuch in Tuttlingen und Herrenberg folgte er seinem älteren Bruder nach Bern, der an der dortigen Uni-
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Geburtshaus von Max Schneckenburger in Talheim
mit verkleinerter Kopie der ursprünglich in Tuttlingen
aufgestellten Germania-Figur
versität Theologie lehrte. Auf einer Geschäftsreise lernte
er Frankreich und England kennen, bevor er 1841 nach
Burgdorf zog, wo er eine Eisengießerei betrieb und die
Tochter eines württembergischen Pfarrers heiratete. Er
starb bereits 1849.
Vor dem Hintergrund der 1840 schwelenden Rheinkrise,
in der der französische Ministerpräsident Adolphe Thiers
androhte, den Rhein zur natürlichen Grenze Frankreichs
zu machen, verfasste Schneckenburger das nachmals berühmte Gedicht »Die Wacht am Rhein«. Zwischen Deutschland und Frankreich wurde in jenen Jahren ein regelrechter »Dichterkrieg« geführt, dessen poetischer Schlagabtausch erheblich den jeweiligen Nationalismus schürte.
Das mit dem Vers »Es braust ein Ruf wie Donnerhall, wie
Schwertgeklirr und Wogenprall. Zum Rhein, zum Rhein,
zum deutschen Rhein, wer will des Stromes Hüter sein?«
beginnende Epos wurde jedoch erst in seiner Vertonung
durch den Chorleiter Carl Wilhelm im Jahr 1854 allgemein
bekannt – aufgeführt anlässlich der Silberhochzeit des
späteren Kaisers Wilhelm I. Bereits zuvor waren Teile des
Wortlauts verändert und der Refrain »Lieb’ Vaterland,
magst ruhig sein, fest steht und treu die Wacht am Rhein!«
eingefügt worden. Während des Deutsch-Französischen
Krieges 1870/71 entwickelte sich die eingängige, marschartige Komposition zur inoffiziellen Nationalhymne, sodass sich sogar Reichskanzler Otto Fürst von Bismarck bei
deren Schöpfer bedankte. 6 Einen weiteren Höhepunkt der
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Popularisierung erfuhr das Gedicht durch seine Anbringung am 1883 fertiggestellten Niederwalddenkmal. Drei
Jahre später wurden schließlich die sterblichen Überreste
Schneckenburgers aus dem schweizerischen Burgdorf zurück nach Talheim überführt und dort feierlich beigesetzt.
Somit verwundert es nicht, dass man auch im benachbarten Tuttlingen über seine Würdigung nachdachte. Eine für
den Bahnbau erforderliche Verlegung der Donau hatte
eine westliche Erweiterung der Stadt bewirkt, in deren
neugeschaffenem Stadtgarten ein Denkmal errichtet werden sollte. Den 1888 ausgeschriebenen Wettbewerb gewann der in Berlin ansässige Bildhauer Adolf Jahn. Seine
über drei Meter hohe Personifikation des Deutschen
Reichs in walkürehaftem Habitus mit Eichenlaubkranz
und Hand am Schwert kam auf einen Sockel mit Schneckenburger-Porträt und folgte ganz dem Geschmack der
wilhelminischen Epoche. Die Einweihung war 1892 Anlass
für ein großes Volksfest, bei dem erstmals elektrische Beleuchtung in der Stadt zum Einsatz kam. Eine Prinz Hermann v. Sachsen-Weimar-Eisenach, dem mit dem württembergischen Königshaus verschwägerten Protektor des
Vorhabens, überreichte kleinere Kopie der Figur gelangte
später in den Besitz des Stuttgarter Liederkranzes und
wurde vor der Liederhalle aufgestellt, bevor sie 1931 nach
Talheim kam, wo sich heute eine weitere Nachbildung befindet. 7 Der Statue im Tuttlinger Stadtgarten war indessen
nur ein gutes Vierteljahrhundert beschieden, bevor sie im
Juni 1918 zur Einschmelzung abgeholt wurde.
Die Reiter als Symbol stürmender Kraft
Auf Anregung der Tuttlinger NS-Kreisleitung bildete sich
1935 ein Denkmalausschuss, in dem besonders der pensionierte Rektor Emil Koch als Organisator und Spendensammler auftrat. Nachdem der Gedanke an eine Nachbildung verworfen war, wandte man sich Anfang 1937 mit
Die 1937 von
Kunstmaler Hugo
Geißler (1895–1956)
gestaltete
Spendenurkunde mit
dem Porträt
Schneckenburgers
sowie einer
Rahmung aus
Hakenkreuzen,
Eichenlaub und dem
Anfang der »Wacht
am Rhein«
Schwäbische Heimat 2022|3
Der Garten des Museums Fritz v. Graevenitz auf der Stuttgarter Solitude
mit der Wildpferdegruppe von 1930
der »Bitte um Namhaftmachung bedeutender Bildhauer«
an die Landeskammern der Bildenden Künste und bat die
Landesstellen in Württemberg, Baden und Bayern um entsprechende Empfehlungen. 8 Von zehn genannten Künstlern kamen Gustav Adolf Bredow (1875–1950) in Stuttgart,
Emil Sutor (1888–1974) in Karlsruhe, Emil Hipp (1893–
1965) in Kiefersfelden sowie der gleichfalls in Stuttgart tätige Fritz v. Graevenitz in die engere Wahl. Bei den eingereichten Modellskizzen schlug letzterer eine Löwenskulptur vor, die jedoch in Anbetracht der Vielzahl bereits bestehender Löwendenkmäler – v. Graevenitz hatte 1923
selbst eines im Stuttgarter Schlossgarten geschaffen – abgelehnt wurde.
Ausschlaggebend wurde schließlich ein Ortstermin am 20.
Mai 1937, bei dem v. Graevenitz laut eigener Erinnerung
inmitten der nochmaligen Erläuterung seiner Idee eines
Löwen am Denkmalplatz plötzlich eine Eingebung hatte:
»die Reiter waren erschienen, gleichsam und gruppiert
wie sie heute und hoffentlich bis in fernen Zeiten stehen –
Symbol stürmender Kraft«. Er verwies dabei auf die eigene
Vorlage einer bereits 1930 für den Essener Grugapark geschaffenen Gruppe von Wildpferden, von der sich nur eine
kleinere Fassung erhalten hat. 9 Nach ersten Skizzen und
dem Eintreffen eines Modells, das allgemeine Zustim-
Geschichte und Landeskultur
mung fand, wurde am 23. Juli eine Attrappe mit einer Gesamthöhe von 3,3 Metern und einer Sockelbreite von fünf
Metern aufgestellt. Bei der Gelegenheit einigte man sich
auf die Anfertigung aus Crailsheimer Muschelkalk und besprach die umgebende Platzgestaltung und Bepflanzung.
Am 27. September 1937 unternahmen die Tuttlinger Ratsherren einen Ausflug zum Atelier des Künstlers auf der Solitude bei Stuttgart. Dabei wurde der Werkvertrag zur Herstellung des Denkmals nach dem Modell der »Gruppe mit
3 heranbrausenden Reitern« unterzeichnet, demzufolge
v. Graevenitz eine Vergütung von 20.000,– Reichsmark erhielt, die gedrittelt bei Auftragserteilung, zum 1. März
1938 sowie drei Monate nach Ablieferung der Skulptur
ausbezahlt werden sollte. 10 Die Spenden beliefen sich bis
dahin auf gut 8.700,– RM und sollten in den beiden Folgejahren nochmals um knapp 800,– RM anwachsen. 11
Der Bildhauer Fritz v. Graevenitz
Da die weitere Entwicklung stark von persönlichen Aspekten geprägt wurde, erscheinen einige biografische Angaben sinnvoll, zumal diese zum Verständnis des Denkmals
beitragen. Fritz v. Graevenitz wurde 1892 als Sohn eines
Generals in Stuttgart geboren. Nach seiner militärischen
Erziehung und Ausbildung an den Kadettenanstalten in
49
Gezeichnete Entwurfsskizze der Reitergruppe
von Fritz v. Graevenitz, um 1937
Potsdam und Berlin sowie einem württembergischen Grenadierregiment nahm er als Hauptmann am Ersten Weltkrieg teil. Bereits am 5. September 1914 erlitt er bei Verdun eine schwere Kopfverletzung, die sein rechtes Auge
nahezu völlig erblinden ließ, während das linke Auge zeitlebens Beeinträchtigungen aufwies. Dass seine Brüder Richard und Karl beide gegen Ende des Krieges fielen, wurde
für ihn zu einem »lebenslangen Trauma«. 12 Entgegen der
Familientradition trat er nun eine künstlerische Ausbildung an, die er an der Akademie der Bildenden Künste in
Stuttgart begann und 1920 am Gustav-Britsch-Institut in
Starnberg fortsetzte, bevor er sich ab 1921 als freischaffender Künstler in Stuttgart niederließ. Aus seiner 1926
mit der Ärztin Jutta Freiin Nothafft v. Weißenstein geschlossenen Ehe gingen vier Töchter hervor.
Die Machtergreifung der Nationalsozialisten erlebte er
während seiner Arbeit an der Tübinger Stiftskirche, über
die er eine Publikation verfasste und darin auch seine damalige Begeisterung und Hoffnungen schilderte. 13 In den
Folgejahren erhielt er immer wieder offizielle Aufträge, zu
denen eine Hitler-Büste sowie ein monumentaler Adler
mit Hakenkreuz als Bekrönung eines Tribünenturms in
Königsberg (heute Kaliningrad) gehörten. 1937 wurde er
als Lehrer für Bildhauerei an die Stuttgarter Akademie berufen, im Jahr darauf zu deren Direktor. Darüber hinaus
nahm er mehrfach an den »Großen Deutschen Kunstausstellungen« in München teil. 14 Die Bearbeitung des Tuttlinger Denkmals kam indessen durch gesundheitliche Beschwerden bereits 1938 immer wieder ins Stocken. 15
»Non-finito« – Versuch einer Deutung
Trotz eines bevorstehenden Klinikaufenthalts hatte v.
Graevenitz im Juni 1940 mitgeteilt, dass ihn der Vorschlag,
die Skulptur bereits in Tuttlingen aufzustellen und dort an
ihr weiterzuarbeiten, »einigermaßen elektrisiert« 16 habe,
sodass sie tatsächlich am 5. September an ihren Bestimmungsort transportiert wurde – ein für den Künstler bedeutungsvoller Jahrestag, hatte er doch genau 26 Jahre
50
zuvor seine Kriegsverletzung erlitten. 17 Nachweislich bis
in das Jahr 1943 hinein arbeitete er immer wieder in Abständen an seiner Plastik, von der er sich mehrfach Fotografien anfertigen ließ. Dass nicht alle Teile gleichmäßig
ausgearbeitet werden sollten, hatte bereits zuvor für Irritationen gesorgt und blieb manchen bis zuletzt unverständlich. 18 In dem Zusammenhang ist ein Brief des österreichischen Schriftstellers Karl Leopold Schubert von Interesse, der sich auf einen Artikel der Stuttgarter Illustrierten vom 10. Mai 1944 bezog, in dem das Denkmal als
»unvollendet« bezeichnet wurde. Schubert empfand jedoch, dass »gerade diese roh aus dem Fels herauswachsende Reitergruppe das elementar-Bewegte, Flutende und
Strömende der Rheinwogen und jenes vaterländischen
Hochgesanges gar nicht unmittelbarer und damit vollendeter zum Ausdruck bringen« könnte und schloss mit
der Bemerkung: »Ein Rodin etwa hätte dies oder ein ähnliches Problem auch nicht anders gemeistert.« 19
Wenngleich hier keine eingehende kunsthistorische Betrachtung erfolgen kann, erscheint der Verweis auf den
Bildhauer Auguste Rodin aus dem damals bekämpften
Frankreich einigermaßen kurios, jedoch insofern zutreffend, ist das Prinzip des »Non-finito«, d.h. des bewusst Unvollendeten, doch bei beiden Künstlern anzutreffen. 20 Der
inzwischen amtierende Bürgermeister Max Haug bemerkte dazu lapidar: »Wegen dem Fertigsein des Denkmals gehen die Meinungen ja sehr auseinander«, bat jedoch selbst
nur um Verbesserung »einiger Kleinigkeiten«. 21 Fritz v.
Graevenitz scheute sich nicht, über seine Werke zu sprechen, sodass er auch freimütig die Konzeption des Schneckenburger-Denkmals erläuterte, der zufolge der vorderste Reiter als der »vorauspreschende Späher«, der mittlere
als »Rufer im Streit« und der hintere sein »stürmendes
Pferd« parierend zusammen quasi eine Militäreinheit verkörpern. 22 Bemerkenswerterweise tragen die in antikischer Nacktheit dargestellten Männer keine Helme, Waffen oder sonstige Gerätschaften. Als sich einer der Ratsherren in der Anfangsphase wünschte, dass »die Wehrhaftigkeit noch mehr betonte werde«, wurde entgegnet, dass
man »dem Künstler keinen Zwang antun könne«. 23 Dieser
äußerte selbst: »Es ist klar, dass alle Pedanterie in Durchmodellierung bis zum Hufnagel Vernichtung der Idee
wäre. Uniform, Sattelknopf und sonstiges zeitliches Drum
und Dran – und alle Freiheit, aller Donnerhall sind dahin.« 24
Der Verfasser dieses Beitrags hat zudem die bislang quellenkundlich nicht belegbare Theorie entwickelt, dass die
nach Westen, also in Richtung Rhein reitende Dreiergruppe, die als Motiv bereits über dem Eingang zum 1933 errichteten »Gefallenenehrenzeichen« in Münchingen erschien, zugleich den Urheber und seine beiden im Krieg
gefallenen Brüder verkörpert. 25 Tatsächlich weist der vordere Reiter eine gewisse Porträtähnlichkeit mit v. Graevenitz auf, sodass seine Charakterisierung als »Späher« im
Hinblick auf die eigene Kriegsverletzung beinahe wie eine
Kompensation anmutet. Natürlich handelt es sich nicht
Schwäbische Heimat 2022|3
Umschlag der 1933 erschienenen
Publikation Bildhauerei in Sonne
und Wind mit einer Abbildung der
Adlerskulptur an der Tübinger
Stiftskirche
Fritz v. Graevenitz (l.) und ein
Unbekannter vor dem
Schneckenburger-Denkmal in
Tuttlingen im September 1940
vordergründig um eine Selbstdarstellung, aber auf einer
persönlichen Metaebene erscheint diese Deutung durchaus denkbar.
Umdeutungen des Denkmals und Diskussion
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Kunstwerke mit nationalsozialistischen Hoheitszeichen, Inschriften oder
eindeutigen ideologischen Aussagen weitgehend von den
Alliierten entfernt. Wäre die ursprünglich am Tuttlinger
Denkmal vorgesehene Inschrift »Es braust ein Ruf wie
Donnerhall… / Max Schneckenburger / Dem Dichter der
›Wacht am Rhein‹ zum Gedächtnis« ausgeführt worden,
hätte ihm möglicherweise ein ähnliches Schicksal gedroht. Tatsächlich blieb der Sockel aber lange ein Provisorium und wurde in der heutigen Form erst 1958 fertiggestellt. Dem nie der NSDAP beigetretenen v. Graevenitz
wurde im Sommer 1949 eine in der Tuttlinger Oberschule
veranstaltete Ausstellung gewidmet. Bei diesem Anlass
benannte er seine Skulptur kurzerhand in »Denkmal der
Jugend« um und entzog ihr damit den ursprünglichen
Sinngehalt, um sie gewissermaßen in die neue Zeit hinüberzuretten – eine in der Nachkriegszeit nicht unübliche
Vorgehensweise. 26 Tatsächlich lässt sich das Denkmal
weitaus neutraler interpretieren, als er es selbst getan hatte, zumal es sich um keine »muskelgestählten Vorzeigeathleten« 27 handelt, wie sie die offizielle NS-Kunst bevorzugte, und sich auch seine freie Komposition und Bearbeitung durchaus von dieser unterscheiden.
Ein späterer Betrachter räumte ein, dass man die Gruppe
auch als »drei junge Reiter auf halbwilden Pferden in der
Camargue« 28 deuten könne, initiierte aber zugleich 1986
eine Kunstaktion mit TeilnehmerInnen eines KunstGrundkurses, bei der die Skulptur in Anlehnung an den
Künstler Christo mit einer weißen Plane verpackt wurde,
Kunstaktion von SchülerInnen
des Immanuel-Kant-Gymnasiums
Tuttlingen unter Anleitung von
Kunsterzieher Hellmut Dinkelaker (r.),
1986
Geschichte und Landeskultur
51
um zugleich auf ihren umstrittenen Inhalt hinzuweisen.
Die tagtäglichen BesucherInnen des vor allem in der wärmeren Jahreszeit stark frequentierten Stadtgartens finden
dazu bislang jedoch kaum Informationen. Die seitlich am
Sockel angebrachte Beschriftung dürfte bei vielen eher
Stirnrunzeln auslösen, zumal ein dort aktuell angebrachtes Graffiti auch nicht auf Anhieb weiterhilft. Im Text einer
im Zusammenhang mit einem virtuellen Stadtrundgang
aufgestellten Stele wird das Denkmal in nur einem Satz abgehandelt, sodass die von der Stadtverwaltung in Aussicht
gestellte Aufarbeitung des Themas unter Einbeziehung der
Bürgerschaft hoffen lässt. Vielleicht kann analog zu den regelmäßig unter dem Motto »Tuttlingen blüht auf« mit
SchülerInnen rund um den Stadtgarten veranstalteten
Pflanzaktionen 29 hier auch die Grundlage für ein kritisches
Geschichtsbewusstsein gepflanzt werden? Ein hochgradig
widersprüchlicher Ort wie das Schneckenburger-Denkmal,
der die Vereinbarkeit von vermeintlich Unvereinbarem
förmlich in sich birgt, erscheint dafür durchaus geeignet.
Über den Autor
Ulrich Feldhahn stammt aus Balingen (Zollernalbkreis), studierte Kunstgeschichte in Bamberg
und Salzburg und lebt seit 2002 in Berlin. Nach
der kuratorischen Betreuung der Sammlungen
des Hauses Preußen ist er seit 2016 freischaffend, seit 2020 zugleich wissenschaftlicher Mitarbeiter von Schloss Wernigerode (Sachsen-Anhalt). Neben zahlreichen Publikationen zu Kunst
und Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts
leitet er seit vielen Jahren auch Studienreisen
des Schwäbischen Heimatbundes.
Anmerkungen
1 Spendenaufruf der NSDAP Kreisleitung
Tuttlingen sowie der Bezirkspflegschaft des
Landesamts für Denkmalpflege vom Januar
1936, Stadtarchiv Tuttlingen, A 1069 III/2 Akten des Bürgermeisteramts ab 1900/1920, Max
Schneckenburger-Denkmal, Gedenkfeiern
2 Wolfgang Brauneis/Raphael Gross (Hrsg.):
Die Liste der »Gottbegnadeten«. Künstler des
Nationalsozialismus in der Bundesrepublik
(Ausstellungskatalog DHM Berlin), München/
London/New York 2021.
3 https://storage.googleapis.com/dhm-gottbegnadete/6qv8WcJPDT9eaFVv/index.html#/
info (abgerufen am 31. Mai 2022). Das Tuttlinger Denkmal wird auch im Ausstellungskatalog
nicht genannt (wie Anm. 2, S. 145)
4 Pressemitteilung der Stadt Tuttlingen vom
18. November 2021: https://www.tuttlingen.de/
de/Die-Stadt/Tuttlingen-aktuell/Pressemitteilungen/Pressemitteilung?view=publish&item=article&id=12193 (abgerufen am 31. Mai 2022)
5 https://www.geissstrasse.de/projekte/fritzvon-graevenitz-in-der-ns-und-nachkriegszeit/
(abgerufen am 31. Mai 2022)
6 Karl Hofmann: Max Schneckenburger und
seine »Wacht am Rhein«, Geschichte eines
deutschen Volks- und Vaterlandsliedes, Sonderdruck der Tuttlinger Heimatblätter, Tuttlingen
1940, S. 14. Die Publikation erschien im Zusammenhang mit der Aufstellung des zweiten
Denkmals.
52
Seitliche Beschriftung am Sockel des
Tuttlinger Denkmals im Februar 2022
7 Vgl. www.adolf-jahn.de (abgerufen am 31.
Mai 2022), Josef Forderer: Tuttlingen im Wandel
der Zeiten, Reutlingen 1949, S. 245f. sowie
Erich Kaufmann: Kriege und Gedenken, in: Tuttlinger Heimatblätter, Neue Folge 71, Tuttlingen
2008, S. 114-140, hier S. 117ff.
8 Ausstellung der Modelle für das Schneckenburger-Denkmal, Gränzbote, 23. Juli 1937
9 »Fritz von Grävenitz über sein Werk«, Transkript eines mit »August 1940« datierten Manuskripts des Bildhauers, das im Hinblick auf die
Aufstellung des Denkmals entstand, Stadtarchiv
Tuttlingen, Materialsammlung (MS) Museum
Tuttlingen, Max Schneckenburger-Denkmal
10 Werkvertrag (Abschrift), Stadtarchiv Tuttlingen (wie Anm. 1)
11 Schneckenburger-Denkmal. Übersicht
über Einnahmen & Ausgaben, handschriftliche
Tabelle von Emil Koch, 30. September 1939,
Stadtarchiv Tuttlingen (wie Anm. 1)
12 Julia Müller: Der Bildhauer Fritz von Graevenitz und die Staatliche Akademie der Bildenden
Künste Stuttgart zwischen 1933 und 1945.
Bildende Kunst als Symptom und Symbol ihrer
Zeit, Stuttgart 2012, S. 38.
13 Fritz v. Graevenitz: Bildhauerei in Sonne und
Wind. Erfahrungen und Empfindungen bei der
Ausführung der vier Evangelistensymbole am
Turm der Tübinger Stiftskirche, Stuttgart 1933,
S. 50ff.
14 https://www.gdk-research.de (abgerufen
am 31. Mai 2022)
15 »Die Tuttlinger müssen schon große Geduld mit mir haben«, v. Graevenitz an Koch,
19.12.1938, Stadtarchiv Tuttlingen (wie Anm.
9).
16 v. Graevenitz an Koch, 26. Juni 1940 (Abschrift), Stadtarchiv Tuttlingen (wie Anm. 1)
17 »Das kann ein großer Augenblick werden
– am 5. Sept. nachm. zwischen 1 und 3 Uhr,
grad in der Zeit meiner Verwundung, d.h.
Schicksalswende zum Künstlerberuf.«, v.
Graevenitz an seine Mutter, 3. September 1940,
zitiert nach Müller (wie Anm. 12), Anm. 90. Die
dort auf S. 268 gezeigte Abb. 7 wird auf den 4.
September 1940 datiert, laut einem Bericht von
Emil Koch vom 21. September 1940 sind aber
Denkmal und Künstler erst am 5. September in
Tuttlingen eingetroffen, Stadtarchiv Tuttlingen
(wie Anm. 9)
18 »Es fragt sich noch, ob die Figuren stärker
herauszuheben sind, oder zum Teil in die Staubwolke gehüllt werden sollen.«, Auszug aus dem
Protokoll einer Ratsherrenberatung vom 23. Juli
1937 (wie Anm. 9)
19 Schubert an v. Graevenitz, 1. Juni 1944 (Abschrift), Stadtarchiv Tuttlingen (wie Anm. 1)
20 Christiane Wohlrab: Non-finito als Topos der
Moderne: Die Marmorskulpturen von Auguste
Rodin, Paderborn 2016.
21 Haug an v. Graevenitz, 15. Juni 1944 (Abschrift), Stadtarchiv Tuttlingen (wie Anm. 1), zu
Haug vgl. Gunda Woll: Zum Nationalsozialismus in Tuttlingen, in: Tuttlinger Heimatblätter,
Neue Folge 83, Tuttlingen 2020, S. 31-119, hier
S. 71ff.
22 Das Schneckenburger-Denkmal in Tuttlingen eingetroffen, Gränzbote, 6. September 1940
23 Auszug aus der Niederschrift über die Verhandlungen der Gemeinderäte am 2. Juli 1937,
Stadtarchiv Tuttlingen (wie Anm. 1)
24 »Fritz von Grävenitz über sein Werk«, Stadtarchiv Tuttlingen (wie Anm. 9)
25 Helmuth Seible: Fritz von Graevenitz. Werden und Werk, Stuttgart 1939, Abb. S. 26, dort
war der mittlere Reiter jedoch mit erhobenen
Armen als Sterbender dargestellt.
26 »[…] gab von Grävenitz dem von ihm geschaffenen Tuttlinger Denkmal seinen ewigen
Sinn als das Denkmal der Jugend, die immer
wieder die oft drückenden Schatten und Abgründe der Vergangenheit überwindet und der
Zukunft gläubig entgegenstürmt«, Schwarzwälder Heimatpost, 1. August 1949.
27 Müller (wie Anm. 12), S. 26.
28 http://tuttlinger.blogspot.com/2016/10/
gastbeitrag-das-reiterdenkmal-im.html (abgerufen am 31. Mai 2022)
29 https://www.tuttlingen.de/de/Die-Stadt/
Tuttlingen-aktuell/TUT-Spezial?view=publish&item=article&id=10020 (abgerufen am
31. Mai 2022)
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