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Wogenprall, Wogenglättung

Schwäbische Heimat

Wogenprall, Wogenglättung Das Tuttlinger SchneckenburgerDenkmal von Fritz von Graevenitz Ulrich Feldhahn Wie vielerorts wird auch in der baden-württembergischen Kreisstadt Tuttlingen seit einiger Zeit die Debatte um ein im öffentlichen Raum befindliches Denkmal geführt, dessen Hintergrund und Bedeutung fragwürdig oder unzeitgemäß erscheinen können. Es handelt sich um das zwischen 1937 und 1940 geschaffene Denkmal für Max Schneckenburger (1819–1849), Dichter der »Wacht am Rhein«, im Stadtgarten. Zuvor war dort bereits 1892 die Figur einer »Germania« aufgestellt worden, die jedoch der Metallknappheit im Ersten Weltkrieg zum Opfer fiel. Für den daraufhin jahrelang verwaisten Platz wurden immer wieder Pläne gehegt, bis ihn die Nationalsozialisten zu einem Sinnbild »des Niedergangs und der Niederdrückung der Vaterlandsliebe« 1 erklärten. Es wurde zunächst ein Nachguss angestrebt, den jedoch wenig später die Idee eines gänzlich neuen Denkmals ablöste. Dessen Gestaltung in Form einer steinernen Reitergruppe ging auf den Bildhauer Fritz v. Graevenitz (1892–1959) selbst zurück. Die Ausführung verzögerte sich jedoch durch wiederholte Erkrankung sowie den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, Das Schneckenburger-Denkmal im Tuttlinger Stadtgarten, Frühjahr 2022. Hinter der linken Figur vermutet man ein Selbstporträt des Bildhauers. 46 Schwäbische Heimat 2022|3 Raum in der Ausstellung zur »Liste der Gottbegnadeten« im Deutschen Historischen Museum Berlin mit den Standorten erhaltener Werke von NS-Künstlern, darunter sechs Arbeiten von Fritz v. Graevenitz (rechts) sodass es auch nie zu einer offiziellen Einweihung kam. Nach Kriegsende vor Ort belassen und inhaltlich umgedeutet, hat das Denkmal seither wiederholt Phasen der Akzeptanz, Ignoranz und Ablehnung erfahren. Auseinandersetzung mit v. Graevenitz und den »Gottbegnadeten« Den Anstoß für die nähere Beschäftigung des Verfassers mit dem Tuttlinger Denkmal bildete nicht die aktuelle Kontroverse, sondern eine 2021 im Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin gezeigte Ausstellung mit dem Titel »Die Liste der Gottbegnadeten – Künstler des Nationalsozialismus in der BRD«. 2 Ausgehend von einer 1944 im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda erstellten Liste der durch das NS-Regime unter besonderen Schutz gestellten Kunstschaffenden wurden dabei Biografien der darin enthaltenen 114 Maler und Bildhauer untersucht. Viele von ihnen konnten nach 1945 nahtlos weiter ihrer Tätigkeit nachgehen und wurden vielfach mit öffentlichen Aufträgen und Ämtern betraut. Den Abschluss bildete eine nach Bundesländern geordnete Übersicht der bis heute im öffentlichen Raum erhaltenen Geschichte und Landeskultur Werke von NS-Künstlern, darunter auch das Tuttlinger Schneckenburger-Denkmal des gleichfalls auf der »Gottbegnadeten-Liste« befindlichen v. Graevenitz. Auf einer eigens hierfür entwickelten digitalen Karte war der Standort Tuttlingen jedoch offenbar vergessen worden, weshalb der Verfasser die Möglichkeit nutzte, dessen (inzwischen erfolgten) Eintrag interaktiv einzugeben. 3 Wenngleich der Schwerpunkt auf den Werdegängen nach 1945 lag, thematisierte die Ausstellung auch die Brisanz im Umgang mit Kunstwerken der NS-Zeit. Dieser Problematik ist man sich auch seitens der Tuttlinger Stadtverwaltung bewusst und regte bereits 2021 eine öffentliche Auseinandersetzung an 4, wie sie zugleich von der Stuttgarter Stiftung Geißstraße in Bezug auf Fritz v. Graevenitz, seine öffentlich zugänglichen Werke sowie das ihm gewidmete Museum gefordert wird. 5 Ein Gedicht wird zur inoffiziellen Nationalhymne Max Schneckenburger wurde 1819 als Sohn eines Kaufmanns im nahegelegenen Talheim geboren. Nach dem Schulbesuch in Tuttlingen und Herrenberg folgte er seinem älteren Bruder nach Bern, der an der dortigen Uni- 47 Geburtshaus von Max Schneckenburger in Talheim mit verkleinerter Kopie der ursprünglich in Tuttlingen aufgestellten Germania-Figur versität Theologie lehrte. Auf einer Geschäftsreise lernte er Frankreich und England kennen, bevor er 1841 nach Burgdorf zog, wo er eine Eisengießerei betrieb und die Tochter eines württembergischen Pfarrers heiratete. Er starb bereits 1849. Vor dem Hintergrund der 1840 schwelenden Rheinkrise, in der der französische Ministerpräsident Adolphe Thiers androhte, den Rhein zur natürlichen Grenze Frankreichs zu machen, verfasste Schneckenburger das nachmals berühmte Gedicht »Die Wacht am Rhein«. Zwischen Deutschland und Frankreich wurde in jenen Jahren ein regelrechter »Dichterkrieg« geführt, dessen poetischer Schlagabtausch erheblich den jeweiligen Nationalismus schürte. Das mit dem Vers »Es braust ein Ruf wie Donnerhall, wie Schwertgeklirr und Wogenprall. Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein, wer will des Stromes Hüter sein?« beginnende Epos wurde jedoch erst in seiner Vertonung durch den Chorleiter Carl Wilhelm im Jahr 1854 allgemein bekannt – aufgeführt anlässlich der Silberhochzeit des späteren Kaisers Wilhelm I. Bereits zuvor waren Teile des Wortlauts verändert und der Refrain »Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein, fest steht und treu die Wacht am Rhein!« eingefügt worden. Während des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 entwickelte sich die eingängige, marschartige Komposition zur inoffiziellen Nationalhymne, sodass sich sogar Reichskanzler Otto Fürst von Bismarck bei deren Schöpfer bedankte. 6 Einen weiteren Höhepunkt der 48 Popularisierung erfuhr das Gedicht durch seine Anbringung am 1883 fertiggestellten Niederwalddenkmal. Drei Jahre später wurden schließlich die sterblichen Überreste Schneckenburgers aus dem schweizerischen Burgdorf zurück nach Talheim überführt und dort feierlich beigesetzt. Somit verwundert es nicht, dass man auch im benachbarten Tuttlingen über seine Würdigung nachdachte. Eine für den Bahnbau erforderliche Verlegung der Donau hatte eine westliche Erweiterung der Stadt bewirkt, in deren neugeschaffenem Stadtgarten ein Denkmal errichtet werden sollte. Den 1888 ausgeschriebenen Wettbewerb gewann der in Berlin ansässige Bildhauer Adolf Jahn. Seine über drei Meter hohe Personifikation des Deutschen Reichs in walkürehaftem Habitus mit Eichenlaubkranz und Hand am Schwert kam auf einen Sockel mit Schneckenburger-Porträt und folgte ganz dem Geschmack der wilhelminischen Epoche. Die Einweihung war 1892 Anlass für ein großes Volksfest, bei dem erstmals elektrische Beleuchtung in der Stadt zum Einsatz kam. Eine Prinz Hermann v. Sachsen-Weimar-Eisenach, dem mit dem württembergischen Königshaus verschwägerten Protektor des Vorhabens, überreichte kleinere Kopie der Figur gelangte später in den Besitz des Stuttgarter Liederkranzes und wurde vor der Liederhalle aufgestellt, bevor sie 1931 nach Talheim kam, wo sich heute eine weitere Nachbildung befindet. 7 Der Statue im Tuttlinger Stadtgarten war indessen nur ein gutes Vierteljahrhundert beschieden, bevor sie im Juni 1918 zur Einschmelzung abgeholt wurde. Die Reiter als Symbol stürmender Kraft Auf Anregung der Tuttlinger NS-Kreisleitung bildete sich 1935 ein Denkmalausschuss, in dem besonders der pensionierte Rektor Emil Koch als Organisator und Spendensammler auftrat. Nachdem der Gedanke an eine Nachbildung verworfen war, wandte man sich Anfang 1937 mit Die 1937 von Kunstmaler Hugo Geißler (1895–1956) gestaltete Spendenurkunde mit dem Porträt Schneckenburgers sowie einer Rahmung aus Hakenkreuzen, Eichenlaub und dem Anfang der »Wacht am Rhein« Schwäbische Heimat 2022|3 Der Garten des Museums Fritz v. Graevenitz auf der Stuttgarter Solitude mit der Wildpferdegruppe von 1930 der »Bitte um Namhaftmachung bedeutender Bildhauer« an die Landeskammern der Bildenden Künste und bat die Landesstellen in Württemberg, Baden und Bayern um entsprechende Empfehlungen. 8 Von zehn genannten Künstlern kamen Gustav Adolf Bredow (1875–1950) in Stuttgart, Emil Sutor (1888–1974) in Karlsruhe, Emil Hipp (1893– 1965) in Kiefersfelden sowie der gleichfalls in Stuttgart tätige Fritz v. Graevenitz in die engere Wahl. Bei den eingereichten Modellskizzen schlug letzterer eine Löwenskulptur vor, die jedoch in Anbetracht der Vielzahl bereits bestehender Löwendenkmäler – v. Graevenitz hatte 1923 selbst eines im Stuttgarter Schlossgarten geschaffen – abgelehnt wurde. Ausschlaggebend wurde schließlich ein Ortstermin am 20. Mai 1937, bei dem v. Graevenitz laut eigener Erinnerung inmitten der nochmaligen Erläuterung seiner Idee eines Löwen am Denkmalplatz plötzlich eine Eingebung hatte: »die Reiter waren erschienen, gleichsam und gruppiert wie sie heute und hoffentlich bis in fernen Zeiten stehen – Symbol stürmender Kraft«. Er verwies dabei auf die eigene Vorlage einer bereits 1930 für den Essener Grugapark geschaffenen Gruppe von Wildpferden, von der sich nur eine kleinere Fassung erhalten hat. 9 Nach ersten Skizzen und dem Eintreffen eines Modells, das allgemeine Zustim- Geschichte und Landeskultur mung fand, wurde am 23. Juli eine Attrappe mit einer Gesamthöhe von 3,3 Metern und einer Sockelbreite von fünf Metern aufgestellt. Bei der Gelegenheit einigte man sich auf die Anfertigung aus Crailsheimer Muschelkalk und besprach die umgebende Platzgestaltung und Bepflanzung. Am 27. September 1937 unternahmen die Tuttlinger Ratsherren einen Ausflug zum Atelier des Künstlers auf der Solitude bei Stuttgart. Dabei wurde der Werkvertrag zur Herstellung des Denkmals nach dem Modell der »Gruppe mit 3 heranbrausenden Reitern« unterzeichnet, demzufolge v. Graevenitz eine Vergütung von 20.000,– Reichsmark erhielt, die gedrittelt bei Auftragserteilung, zum 1. März 1938 sowie drei Monate nach Ablieferung der Skulptur ausbezahlt werden sollte. 10 Die Spenden beliefen sich bis dahin auf gut 8.700,– RM und sollten in den beiden Folgejahren nochmals um knapp 800,– RM anwachsen. 11 Der Bildhauer Fritz v. Graevenitz Da die weitere Entwicklung stark von persönlichen Aspekten geprägt wurde, erscheinen einige biografische Angaben sinnvoll, zumal diese zum Verständnis des Denkmals beitragen. Fritz v. Graevenitz wurde 1892 als Sohn eines Generals in Stuttgart geboren. Nach seiner militärischen Erziehung und Ausbildung an den Kadettenanstalten in 49 Gezeichnete Entwurfsskizze der Reitergruppe von Fritz v. Graevenitz, um 1937 Potsdam und Berlin sowie einem württembergischen Grenadierregiment nahm er als Hauptmann am Ersten Weltkrieg teil. Bereits am 5. September 1914 erlitt er bei Verdun eine schwere Kopfverletzung, die sein rechtes Auge nahezu völlig erblinden ließ, während das linke Auge zeitlebens Beeinträchtigungen aufwies. Dass seine Brüder Richard und Karl beide gegen Ende des Krieges fielen, wurde für ihn zu einem »lebenslangen Trauma«. 12 Entgegen der Familientradition trat er nun eine künstlerische Ausbildung an, die er an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart begann und 1920 am Gustav-Britsch-Institut in Starnberg fortsetzte, bevor er sich ab 1921 als freischaffender Künstler in Stuttgart niederließ. Aus seiner 1926 mit der Ärztin Jutta Freiin Nothafft v. Weißenstein geschlossenen Ehe gingen vier Töchter hervor. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten erlebte er während seiner Arbeit an der Tübinger Stiftskirche, über die er eine Publikation verfasste und darin auch seine damalige Begeisterung und Hoffnungen schilderte. 13 In den Folgejahren erhielt er immer wieder offizielle Aufträge, zu denen eine Hitler-Büste sowie ein monumentaler Adler mit Hakenkreuz als Bekrönung eines Tribünenturms in Königsberg (heute Kaliningrad) gehörten. 1937 wurde er als Lehrer für Bildhauerei an die Stuttgarter Akademie berufen, im Jahr darauf zu deren Direktor. Darüber hinaus nahm er mehrfach an den »Großen Deutschen Kunstausstellungen« in München teil. 14 Die Bearbeitung des Tuttlinger Denkmals kam indessen durch gesundheitliche Beschwerden bereits 1938 immer wieder ins Stocken. 15 »Non-finito« – Versuch einer Deutung Trotz eines bevorstehenden Klinikaufenthalts hatte v. Graevenitz im Juni 1940 mitgeteilt, dass ihn der Vorschlag, die Skulptur bereits in Tuttlingen aufzustellen und dort an ihr weiterzuarbeiten, »einigermaßen elektrisiert« 16 habe, sodass sie tatsächlich am 5. September an ihren Bestimmungsort transportiert wurde – ein für den Künstler bedeutungsvoller Jahrestag, hatte er doch genau 26 Jahre 50 zuvor seine Kriegsverletzung erlitten. 17 Nachweislich bis in das Jahr 1943 hinein arbeitete er immer wieder in Abständen an seiner Plastik, von der er sich mehrfach Fotografien anfertigen ließ. Dass nicht alle Teile gleichmäßig ausgearbeitet werden sollten, hatte bereits zuvor für Irritationen gesorgt und blieb manchen bis zuletzt unverständlich. 18 In dem Zusammenhang ist ein Brief des österreichischen Schriftstellers Karl Leopold Schubert von Interesse, der sich auf einen Artikel der Stuttgarter Illustrierten vom 10. Mai 1944 bezog, in dem das Denkmal als »unvollendet« bezeichnet wurde. Schubert empfand jedoch, dass »gerade diese roh aus dem Fels herauswachsende Reitergruppe das elementar-Bewegte, Flutende und Strömende der Rheinwogen und jenes vaterländischen Hochgesanges gar nicht unmittelbarer und damit vollendeter zum Ausdruck bringen« könnte und schloss mit der Bemerkung: »Ein Rodin etwa hätte dies oder ein ähnliches Problem auch nicht anders gemeistert.« 19 Wenngleich hier keine eingehende kunsthistorische Betrachtung erfolgen kann, erscheint der Verweis auf den Bildhauer Auguste Rodin aus dem damals bekämpften Frankreich einigermaßen kurios, jedoch insofern zutreffend, ist das Prinzip des »Non-finito«, d.h. des bewusst Unvollendeten, doch bei beiden Künstlern anzutreffen. 20 Der inzwischen amtierende Bürgermeister Max Haug bemerkte dazu lapidar: »Wegen dem Fertigsein des Denkmals gehen die Meinungen ja sehr auseinander«, bat jedoch selbst nur um Verbesserung »einiger Kleinigkeiten«. 21 Fritz v. Graevenitz scheute sich nicht, über seine Werke zu sprechen, sodass er auch freimütig die Konzeption des Schneckenburger-Denkmals erläuterte, der zufolge der vorderste Reiter als der »vorauspreschende Späher«, der mittlere als »Rufer im Streit« und der hintere sein »stürmendes Pferd« parierend zusammen quasi eine Militäreinheit verkörpern. 22 Bemerkenswerterweise tragen die in antikischer Nacktheit dargestellten Männer keine Helme, Waffen oder sonstige Gerätschaften. Als sich einer der Ratsherren in der Anfangsphase wünschte, dass »die Wehrhaftigkeit noch mehr betonte werde«, wurde entgegnet, dass man »dem Künstler keinen Zwang antun könne«. 23 Dieser äußerte selbst: »Es ist klar, dass alle Pedanterie in Durchmodellierung bis zum Hufnagel Vernichtung der Idee wäre. Uniform, Sattelknopf und sonstiges zeitliches Drum und Dran – und alle Freiheit, aller Donnerhall sind dahin.« 24 Der Verfasser dieses Beitrags hat zudem die bislang quellenkundlich nicht belegbare Theorie entwickelt, dass die nach Westen, also in Richtung Rhein reitende Dreiergruppe, die als Motiv bereits über dem Eingang zum 1933 errichteten »Gefallenenehrenzeichen« in Münchingen erschien, zugleich den Urheber und seine beiden im Krieg gefallenen Brüder verkörpert. 25 Tatsächlich weist der vordere Reiter eine gewisse Porträtähnlichkeit mit v. Graevenitz auf, sodass seine Charakterisierung als »Späher« im Hinblick auf die eigene Kriegsverletzung beinahe wie eine Kompensation anmutet. Natürlich handelt es sich nicht Schwäbische Heimat 2022|3 Umschlag der 1933 erschienenen Publikation Bildhauerei in Sonne und Wind mit einer Abbildung der Adlerskulptur an der Tübinger Stiftskirche Fritz v. Graevenitz (l.) und ein Unbekannter vor dem Schneckenburger-Denkmal in Tuttlingen im September 1940 vordergründig um eine Selbstdarstellung, aber auf einer persönlichen Metaebene erscheint diese Deutung durchaus denkbar. Umdeutungen des Denkmals und Diskussion Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Kunstwerke mit nationalsozialistischen Hoheitszeichen, Inschriften oder eindeutigen ideologischen Aussagen weitgehend von den Alliierten entfernt. Wäre die ursprünglich am Tuttlinger Denkmal vorgesehene Inschrift »Es braust ein Ruf wie Donnerhall… / Max Schneckenburger / Dem Dichter der ›Wacht am Rhein‹ zum Gedächtnis« ausgeführt worden, hätte ihm möglicherweise ein ähnliches Schicksal gedroht. Tatsächlich blieb der Sockel aber lange ein Provisorium und wurde in der heutigen Form erst 1958 fertiggestellt. Dem nie der NSDAP beigetretenen v. Graevenitz wurde im Sommer 1949 eine in der Tuttlinger Oberschule veranstaltete Ausstellung gewidmet. Bei diesem Anlass benannte er seine Skulptur kurzerhand in »Denkmal der Jugend« um und entzog ihr damit den ursprünglichen Sinngehalt, um sie gewissermaßen in die neue Zeit hinüberzuretten – eine in der Nachkriegszeit nicht unübliche Vorgehensweise. 26 Tatsächlich lässt sich das Denkmal weitaus neutraler interpretieren, als er es selbst getan hatte, zumal es sich um keine »muskelgestählten Vorzeigeathleten« 27 handelt, wie sie die offizielle NS-Kunst bevorzugte, und sich auch seine freie Komposition und Bearbeitung durchaus von dieser unterscheiden. Ein späterer Betrachter räumte ein, dass man die Gruppe auch als »drei junge Reiter auf halbwilden Pferden in der Camargue« 28 deuten könne, initiierte aber zugleich 1986 eine Kunstaktion mit TeilnehmerInnen eines KunstGrundkurses, bei der die Skulptur in Anlehnung an den Künstler Christo mit einer weißen Plane verpackt wurde, Kunstaktion von SchülerInnen des Immanuel-Kant-Gymnasiums Tuttlingen unter Anleitung von Kunsterzieher Hellmut Dinkelaker (r.), 1986 Geschichte und Landeskultur 51 um zugleich auf ihren umstrittenen Inhalt hinzuweisen. Die tagtäglichen BesucherInnen des vor allem in der wärmeren Jahreszeit stark frequentierten Stadtgartens finden dazu bislang jedoch kaum Informationen. Die seitlich am Sockel angebrachte Beschriftung dürfte bei vielen eher Stirnrunzeln auslösen, zumal ein dort aktuell angebrachtes Graffiti auch nicht auf Anhieb weiterhilft. Im Text einer im Zusammenhang mit einem virtuellen Stadtrundgang aufgestellten Stele wird das Denkmal in nur einem Satz abgehandelt, sodass die von der Stadtverwaltung in Aussicht gestellte Aufarbeitung des Themas unter Einbeziehung der Bürgerschaft hoffen lässt. Vielleicht kann analog zu den regelmäßig unter dem Motto »Tuttlingen blüht auf« mit SchülerInnen rund um den Stadtgarten veranstalteten Pflanzaktionen 29 hier auch die Grundlage für ein kritisches Geschichtsbewusstsein gepflanzt werden? Ein hochgradig widersprüchlicher Ort wie das Schneckenburger-Denkmal, der die Vereinbarkeit von vermeintlich Unvereinbarem förmlich in sich birgt, erscheint dafür durchaus geeignet. Über den Autor Ulrich Feldhahn stammt aus Balingen (Zollernalbkreis), studierte Kunstgeschichte in Bamberg und Salzburg und lebt seit 2002 in Berlin. Nach der kuratorischen Betreuung der Sammlungen des Hauses Preußen ist er seit 2016 freischaffend, seit 2020 zugleich wissenschaftlicher Mitarbeiter von Schloss Wernigerode (Sachsen-Anhalt). Neben zahlreichen Publikationen zu Kunst und Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts leitet er seit vielen Jahren auch Studienreisen des Schwäbischen Heimatbundes. Anmerkungen 1 Spendenaufruf der NSDAP Kreisleitung Tuttlingen sowie der Bezirkspflegschaft des Landesamts für Denkmalpflege vom Januar 1936, Stadtarchiv Tuttlingen, A 1069 III/2 Akten des Bürgermeisteramts ab 1900/1920, Max Schneckenburger-Denkmal, Gedenkfeiern 2 Wolfgang Brauneis/Raphael Gross (Hrsg.): Die Liste der »Gottbegnadeten«. Künstler des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik (Ausstellungskatalog DHM Berlin), München/ London/New York 2021. 3 https://storage.googleapis.com/dhm-gottbegnadete/6qv8WcJPDT9eaFVv/index.html#/ info (abgerufen am 31. Mai 2022). Das Tuttlinger Denkmal wird auch im Ausstellungskatalog nicht genannt (wie Anm. 2, S. 145) 4 Pressemitteilung der Stadt Tuttlingen vom 18. November 2021: https://www.tuttlingen.de/ de/Die-Stadt/Tuttlingen-aktuell/Pressemitteilungen/Pressemitteilung?view=publish&item=article&id=12193 (abgerufen am 31. Mai 2022) 5 https://www.geissstrasse.de/projekte/fritzvon-graevenitz-in-der-ns-und-nachkriegszeit/ (abgerufen am 31. Mai 2022) 6 Karl Hofmann: Max Schneckenburger und seine »Wacht am Rhein«, Geschichte eines deutschen Volks- und Vaterlandsliedes, Sonderdruck der Tuttlinger Heimatblätter, Tuttlingen 1940, S. 14. Die Publikation erschien im Zusammenhang mit der Aufstellung des zweiten Denkmals. 52 Seitliche Beschriftung am Sockel des Tuttlinger Denkmals im Februar 2022 7 Vgl. www.adolf-jahn.de (abgerufen am 31. Mai 2022), Josef Forderer: Tuttlingen im Wandel der Zeiten, Reutlingen 1949, S. 245f. sowie Erich Kaufmann: Kriege und Gedenken, in: Tuttlinger Heimatblätter, Neue Folge 71, Tuttlingen 2008, S. 114-140, hier S. 117ff. 8 Ausstellung der Modelle für das Schneckenburger-Denkmal, Gränzbote, 23. Juli 1937 9 »Fritz von Grävenitz über sein Werk«, Transkript eines mit »August 1940« datierten Manuskripts des Bildhauers, das im Hinblick auf die Aufstellung des Denkmals entstand, Stadtarchiv Tuttlingen, Materialsammlung (MS) Museum Tuttlingen, Max Schneckenburger-Denkmal 10 Werkvertrag (Abschrift), Stadtarchiv Tuttlingen (wie Anm. 1) 11 Schneckenburger-Denkmal. Übersicht über Einnahmen & Ausgaben, handschriftliche Tabelle von Emil Koch, 30. September 1939, Stadtarchiv Tuttlingen (wie Anm. 1) 12 Julia Müller: Der Bildhauer Fritz von Graevenitz und die Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart zwischen 1933 und 1945. Bildende Kunst als Symptom und Symbol ihrer Zeit, Stuttgart 2012, S. 38. 13 Fritz v. Graevenitz: Bildhauerei in Sonne und Wind. Erfahrungen und Empfindungen bei der Ausführung der vier Evangelistensymbole am Turm der Tübinger Stiftskirche, Stuttgart 1933, S. 50ff. 14 https://www.gdk-research.de (abgerufen am 31. Mai 2022) 15 »Die Tuttlinger müssen schon große Geduld mit mir haben«, v. Graevenitz an Koch, 19.12.1938, Stadtarchiv Tuttlingen (wie Anm. 9). 16 v. Graevenitz an Koch, 26. Juni 1940 (Abschrift), Stadtarchiv Tuttlingen (wie Anm. 1) 17 »Das kann ein großer Augenblick werden – am 5. Sept. nachm. zwischen 1 und 3 Uhr, grad in der Zeit meiner Verwundung, d.h. Schicksalswende zum Künstlerberuf.«, v. Graevenitz an seine Mutter, 3. September 1940, zitiert nach Müller (wie Anm. 12), Anm. 90. Die dort auf S. 268 gezeigte Abb. 7 wird auf den 4. September 1940 datiert, laut einem Bericht von Emil Koch vom 21. September 1940 sind aber Denkmal und Künstler erst am 5. September in Tuttlingen eingetroffen, Stadtarchiv Tuttlingen (wie Anm. 9) 18 »Es fragt sich noch, ob die Figuren stärker herauszuheben sind, oder zum Teil in die Staubwolke gehüllt werden sollen.«, Auszug aus dem Protokoll einer Ratsherrenberatung vom 23. Juli 1937 (wie Anm. 9) 19 Schubert an v. Graevenitz, 1. Juni 1944 (Abschrift), Stadtarchiv Tuttlingen (wie Anm. 1) 20 Christiane Wohlrab: Non-finito als Topos der Moderne: Die Marmorskulpturen von Auguste Rodin, Paderborn 2016. 21 Haug an v. Graevenitz, 15. Juni 1944 (Abschrift), Stadtarchiv Tuttlingen (wie Anm. 1), zu Haug vgl. Gunda Woll: Zum Nationalsozialismus in Tuttlingen, in: Tuttlinger Heimatblätter, Neue Folge 83, Tuttlingen 2020, S. 31-119, hier S. 71ff. 22 Das Schneckenburger-Denkmal in Tuttlingen eingetroffen, Gränzbote, 6. September 1940 23 Auszug aus der Niederschrift über die Verhandlungen der Gemeinderäte am 2. Juli 1937, Stadtarchiv Tuttlingen (wie Anm. 1) 24 »Fritz von Grävenitz über sein Werk«, Stadtarchiv Tuttlingen (wie Anm. 9) 25 Helmuth Seible: Fritz von Graevenitz. Werden und Werk, Stuttgart 1939, Abb. S. 26, dort war der mittlere Reiter jedoch mit erhobenen Armen als Sterbender dargestellt. 26 »[…] gab von Grävenitz dem von ihm geschaffenen Tuttlinger Denkmal seinen ewigen Sinn als das Denkmal der Jugend, die immer wieder die oft drückenden Schatten und Abgründe der Vergangenheit überwindet und der Zukunft gläubig entgegenstürmt«, Schwarzwälder Heimatpost, 1. August 1949. 27 Müller (wie Anm. 12), S. 26. 28 http://tuttlinger.blogspot.com/2016/10/ gastbeitrag-das-reiterdenkmal-im.html (abgerufen am 31. Mai 2022) 29 https://www.tuttlingen.de/de/Die-Stadt/ Tuttlingen-aktuell/TUT-Spezial?view=publish&item=article&id=10020 (abgerufen am 31. Mai 2022) Schwäbische Heimat 2022|3