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Phänomenologie des Könnens

Die Menschen verbinden weniges in der Welt mit so viel Stolz, Freude und Erkenntnis wie die Entdeckung eines Könnens, wenn es sich in der Welt ereignet. Der Mensch will können. Schon vom ersten Augenblick an, nach sein Geburt, beginnt der kleine Homunculus, der noch nichts ist, zu strampeln, seine Glieder zu strecken und nach Atem zu schnappen. Am Anfang ist in dieser Strecksucht noch alles unbeholfen. Das Wesen weiß sich oft noch nicht anders zu helfen, als dass es all seinen Frust über das eigene Unvermögen in die Welt hinausbrüllt. Je mehr es jedoch merkt, dass mit diesen Geschrei und Geheule etwas zu erreichen ist und dass es andere Menschen damit überreden kann, ihm zu Willen zu sein, desto mehr verändert sich der Gebrauch dieses vorsprachlichen Mittels, mit der Welt in Kontakt zu treten. Die Tonlagen werden jetzt abgestimmt. Sie bedienen sich einer Vielfalt des Ausdrucks. Aus dem undifferenzierten, verzweifelten Kreischen vor der eigenen Ohnmacht entwickelt sich ein feingliedriges Heulorgan, das immer etwas anders klingt und andere Töne zu treffen weiß, je nachdem, ob das Neugeborene gerade quengelt, Hunger hat oder Mitleid erregen will.

Die Phänomenologie des Könnens von Emanuel Seitz Meine Damen und Herren, 1. Einleitung Die Menschen verbinden weniges in der Welt mit so viel Stolz, Freude und Erkenntnis wie die Entdeckung eines Könnens, wenn es sich in der Welt ereignet. Der Mensch will können. Schon vom ersten Augenblick an, nach sein Geburt, beginnt der kleine Homunculus, der noch nichts ist, zu strampeln, seine Glieder zu strecken und nach Atem zu schnappen. Am Anfang ist in dieser Strecksucht noch alles unbeholfen. Das Wesen weiß sich oft noch nicht anders zu helfen, als dass es all seinen Frust über das eigene Unvermögen in die Welt hinausbrüllt. Je mehr es jedoch merkt, dass mit diesen Geschrei und Geheule etwas zu erreichen ist und dass es andere Menschen damit überreden kann, ihm zu Willen zu sein, desto mehr verändert sich der Gebrauch dieses vorsprachlichen Mittels, mit der Welt in Kontakt zu treten. Die Tonlagen werden jetzt abgestimmt. Sie bedienen sich einer Vielfalt des Ausdrucks. Aus dem undifferenzierten, verzweifelten Kreischen vor der eigenen Ohnmacht entwickelt sich ein feingliedriges Heulorgan, das immer etwas anders klingt und andere Töne zu treffen weiß, je nachdem, ob das Neugeborene gerade quengelt, Hunger hat oder Mitleid erregen will. 1 Das Heulen begleitet uns unser Leben lang. Wir weinen viel, solange wir wenig können. Als Kinder weinen wir deswegen am meisten. Aber auch später verändert sich nicht viel: Denn was sollte denn ein Weinen, Schluchzen und Tränenvergießen eines Erwachsenen anderes sein, als ein Ausdruck für die eigene Ohnmacht, ein Ausdruck für die Verzweiflung vor dem eigenen Versagen oder – allgemein gesagt – ein Ausdruck für die Hoffnungslosigkeit in der Welt, wenn alle Mittel abhanden gekommen sind? Uns kommen die Tränen, wenn wir wissen, dass wir von von uns aus nichts mehr tun können; wenn es nicht mehr in unserer Macht liegt, was geschieht – wenn uns ein Unglück trifft und wir seinen Folgen ausgeliefert sind und sie ertragen müssen. Achill heult, weil er sich sein Recht nicht mehr nehmen kann, Ödipus weint sogar blutige Tränen aus höchster Verzweiflung; und selbst das neugeborene Kind fühlt eine Erleichterung gegen seine Ohnmacht – noch bevor es Ich sagen kann und Selbstbewusstsein hat –, wenn es abends einfach ohne Anlass eine Stunde lang brüllt und schreit. Diese abendliche Schreistunde ist nicht nur ein Mittel gegen den Missmut, sie kräftigt auch sogar das Organ für die schönsten Lobreden, die dieses Kind später einmal halten wird auf die Überlegenheit eines Menschen dank seines Könnens. Es gibt keinen besseren Anlass für eine Laudatio als das Verdienst für ein Können, das überragend war. 2 2. Das Können als Besitz einer Möglichkeit im Dasein Doch was ist das, was wir da loben dürfen, ohne Neid und Missgunst, ohne bösen Hintergedanken, wenn es sich in der Welt ereignet und entdeckt sein will? Allgemein gesagt, als Phänomen betrachtet, ist ein Können der Besitz einer Möglichkeit im Dasein. Wir müssen von einem Besitz reden, weil ein Können nur dann wirklich ein Können ist, wenn das Verfügen über die Möglichkeit, etwas zu tun, länger vorhanden ist. Das Können ist selber keine Leistung – auch wenn es sich in den Leistungen zeigt. Das Können ist kein Moment, kein Zustand, keine Einstellung des Tätigen, die dann wieder weg wäre, wenn die Tätigkeit zu ihrem Ende kommt. Ein wirkliches Können ist vielmehr ein dauerhafter Besitz, eine dauerhafte Verfügung über das, was zu tun ist. Wie jeder Besitz kann ein Können allerdings auch wieder verloren gehen. Entweder geschieht dies, wenn wir dauerhaft von unserem Können keinen Gebrauch machen, sodass es verkümmert und wir die Herrschaft und Verfügungsgewalt verlieren. Oder aber, ein solcher Verfall stellt sich ein, wenn wir einen übermäßigen Gebrauch von unseren Fähigkeiten machen und sie sich dadurch abnutzen. Der letztere Fall, die Abnutzung, betrifft aber eigentlich nur die natürlichen Fähigkeiten der Organe, wie etwa die Sehkraft, die nachlässt, wenn wir sie zu sehr unter Stress setzen. Dort handelt es sich eher um ein Versagen des Materials und ist eine Frage der 3 physiologischen Beschaffenheit und Haltbarkeit des Materials. Das will ich hier nicht weiter untersuchen. Bei allen Fertigkeiten aber – also bei dem Können, das wir durch Übung, Unterweisung und Wiederholung uns aneignen – geschieht dieser Verlust wie von selbst durch Nichtgebrauch. Dort kann das Können ein Grund für einen Stolz und das Nicht-Können ein Grund für Scham und Peinlichkeit werden. Die fehlende oder nachlassende Verfügungsgewalt verweist hier auf eine Nachlässigkeit des Könnenden selbst im Umgang mit sich selbst und seinem Besitz. Er lässt ihn verkommen, indem er sich nicht um ihn kümmert. Wie wir uns diesen Besitz einer Möglichkeit im Dasein vorzustellen haben, dafür hat Martin Heidegger in seiner Vorlesung Von Wesen und Wirklichkeit der Kraft das vielleicht eindrücklichste Bild erfunden. Denken Sie an einen Sprinter, der in den Startlöchern steckt. Er ist auf dem Sprung, und alles ist eingerichtet, alles liegt bereit. – Nichts hindert mehr. – Jeden Augenblick kann der Sprinter loslaufen. Er wartet nur auf das Signal, um von den Fähigkeiten, die er hat, Gebrauch zu machen. Diese Bereitschaft, dieses Eingerichtet-Sein und Alles-fertigHaben für den Gebrauch, macht den Besitz einer Möglichkeit im Dasein aus. 3. Können ist Grund und Besitz für Veränderung Jetzt stellen wir uns die Situation weiter vor und gehen davon aus, dass diesem Läufer der Lauf gelingt und er ins Ziel kommt. Können wir dann 4 sagen und annehmen, dass das Können der Grund war für einen Erfolg? Das stimmt doch – oder nicht? Ohne sein Können hätte er keine Erfolg gehabt – nicht wahr? Wenn Sie mir hier innerlich zugestimmt haben, dann haben wir jetzt ein neues Problem entdeckt: Ist das Können eher ein Besitz im Dasein oder doch eher ein Grund für etwas, das sich im Dasein ereignet? Was ist es denn eigentlich? Was ist hier das Wesentliche? Es führt nicht weiter, wenn wir das Verhältnis von Können und Gekonntem mit anderen Verhältnissen des Besitzens vergleichen: Der reiche Grundbesitzer, der viel Vermögen hat, kann sich dank des Vermögens viele Dinge leisten. Das Vermögen ist sein Besitz und zugleich der Grund, warum ihm so wenig widersteht und so vieles erlaubt ist. Auch hier haben wir diese doppelte Bestimmung von Grund und Habe, und können nicht entscheiden, was für das Können das Ursprünglichere ist. 4. Was eher? Entscheidung über das Ungekonnte Diese Entscheidung gelingt erst, wenn wir uns klarmachen, was der Unterschied ist zwischen einerseits einem Ereignis, das sich aufgrund eines Könnens einstellt, und andererseits einem Ereignis, das dem Können widerspricht. Wir lernen das Können erst richtig kennen, wenn wir uns klarmachen, was ein Versagen bedeutet – und zwar ein Versagen, das nicht zustande kommt aufgrund eines Fehlers oder Mangels (steresis). Vielmehr muss sich das Versagen trotz der 5 verwirklichten Fertigkeit, trotz eines kunstgerechten Gebrauchs einstellen, um diesen Unterschied klar zu machen. Ein Fehler oder ein Mangel stellt sich dann ein, wenn jemand sein eigentlich vorhandenes Können nur unvollständig anwendet und die Sache daher in die Irre führt. Wir nennen derartiges ein Missgeschick. Solche Missgeschicke sind situative Mängel und kurzfristige Beraubungen der Fertigkeit, die aber nicht den Besitz eines Könnens im Ganzen in Frage stellen. Missgeschicke muss es vielmehr dort geben, wo etwas nur Besitz ist und keine unveräußerliches Eigenheit. Bei so etwas, das ein Gebrauchsgut ist, muss man auch immer mit einem Missbrauch rechnen. Allerdings kann, wie gesagt, ein Versagen auch dann zustande kommen, wenn alles richtig gemacht wurde. Wenn also unser Läufer alles getan hat, was getan werden musste, um ins Ziel zu kommen – und er dann trotzdem nicht ins Ziel kommt… Dann ist klar: In diesem Fall muss ein Unglück geschehen sein, das er nicht selbst verschuldet hat. Was auch immer das gewesen sein – die Möglichkeiten sind hier unbegrenzt. Ein anderer Läufer kann ihn geschubst haben, ein Unwetter mag ausgebrochen sein und hat die Laufbahn durchnässt, oder ein Außerirdischer hat ihn mitten im Lauf aufgegriffen und auf einen anderen Planeten entführt. All diese Beispiele wären Unglücke, die einen Erfolg beim Laufen verhindern. Solche Unglücke sind ein anderes Wort für Zufall. Wo ein Zufall geschieht, ist für den Misserfolg kein Missgeschick 6 verantwortlich, sondern etwas anderes, das jenseits des Könnens trotz der technischen Geschicklichkeit auch noch passieren kann. Hieran sieht man, dass wir für Geschehnisse in der Welt zweierlei Arten von Gründen annehmen: einerseits Gründe, die von sich aus für ein Seiendes aufgrund seines Seinkönnens möglich sind, und andererseits Gründe – im Sinn des grundlosen Zufalls –, die nicht von sich aus für eines Seiendes aufgrund seines Seinkönnens möglich sind, die also etwas anderes als ein Können bezeichnen. 5. Können als Grund für eine Veränderung Dieser kleine Exkurs über das Versagen versetzt uns in die Lage zu entscheiden, was ein Können nun eher ist: Ob es eher ein Grund für ein Ereignis ist oder eher ein Besitz einer Möglichkeit. Die Entscheidung lautet: Das Können ist in erster Linie eine Begründung für etwas, das in der Welt geschieht, und zwar dergestalt, dass etwas von sich aus die Möglichkeit hatte, so zu werden, und es von sich aus über diese Möglichkeit verfügt hat, sodass dieses Ereignis in der Welt entstanden ist. Das Können ist Grund für ein Seiendes in der Welt (deswegen es auch unter den archai und aitiai des Sein als Seiendem in der Metaphysik des Aristoteles behandelt) – und zwar insofern dieses Seiende aus etwas geworden ist. Es gibt kein Können ohne Werden. 7 6. Aktives und passives Können Wenn wir uns nun dieses Werden aber anschauen, dann fällt auf, dass ein jedes Können eigentlich zwei Seiten hat. Eine jede Veränderung, die geschehen ist, konnte geschehen, weil einerseits etwas dazu fähig war, diese Veränderung auszulösen, und weil andererseits etwas Anderes dazu fähig war, diese Veränderung auch mit sich machen zu lassen. Es gibt ein aktives Können, das ein Ereignis erschaffen, verfügen und befehlen will, und auf der anderen Seite ein passives Können, das ein Ereignis zulässt, gehorcht und sich diesem aktiven Drang gefügig zeigt. Was wie ein Können aussieht, zerfällt immer in zwei Teile, in Kraft und Gegenkraft, Für ein wirksames Können muss sich der tätige Mensch immer auf beide Seiten verstehen und beide Seiten so einzurichten wissen, dass sie zum Erfolg führen. Die passive Seite des Könnens ist die Eignung. Wenn ein Material für einen Gebrauch geeignet ist, lässt es diese Verwendung und Veränderung zu. Der geeignete Stoff geht nicht kaputt und lässt das Ereignis entstehen. Die Eignung allein garantiert noch nicht den Erfolg, denn es ist noch immer möglich, dass ein Mensch von einem geeigneten Material einen falschen Gebrauch macht. Ein klassisches Beispiel ist hierfür der dümmste anzunehmende Anwender. Ein solcher kunstgerechter Versager weiß auch die besten Geräte nicht zu verwenden, weil er keine Herrschaft über das Material ausübt. 8 Die aktive Seite des Könnens meint genau dieses Verständnis der Anwendung. Eine jede Kraft ist wirksam, wenn sie eine Veränderung auslösen kann, und zwar so, wie sie es verfügt. Die aktive Seite ist im Besitz der Gestalt, die dieses Material annehmen soll. Auch hier ist natürlich ein analoger Fehler möglich zum Bespiel des dümmsten anzunehmenden Anwenders. Der Anwender macht einen richtigen Gebrauch, aber vom falschen Material und es entsteht ein technisches Versagen: Eine geeignete Handlung trifft auf einen störrischen Stoff. 7. Handeln und Herstellen Zusammengefasst: Ein Können ist also ontologisch Eins, zerfällt aber auf der ontischen Ebene in diese zwei Teile, in Kraft und Gegenkraft, in einen Wille zur Macht und in einen vielleicht gehorchenden Willen, in ein Befehlen-Können und in ein Verbieten-Können. Dieses abstrakten Verhältnis finden wir bei allen Formen des Könnens: Bei einer Herstellung zum Beispiel verfügt der Produzent über ein Bild oder einen Begriff davon, als was die Sache gebraucht werden soll, wenn sie erfolgreich hergestellt wird. Lässt das Material die Transformation zu, entsteht dieser neue Gebrauch auch in dem Anderen. Es entsteht eine Fügung – beides fügt sich ineinander. Charakterisch für eine Herrstellung ist die Wirkung in einem Anderen – was nicht nicht ausschließt, das ich auch mich selbst als ein Anderes zu mir behandeln kann. Am deutlichsten tritt das vielleicht an einem Arzt hervor, der sich selbst verarztet. Ein solcher Mensch ist sich selbst 9 Produzent und Produkt, Arzt und Patient, Empfänger und Inhaber eines Heilen-Könnens. Bei einer Handlung ist es genau dasselbe: hier ist nur der Unterschied, dass ich den Widerstand nicht in einem Anderen überwinde, das mir entgegensteht; sondern ich selbst bin mir selbst ein Widerstand. Denken wir auch hier wieder an den Läufer: Es gibt einen Entwurf für den Gebrauch des Körpers, und dieser Entwurf gelingt, wenn sich der angedachte Gebrauch in der Welt ereignet – wenn also wieder aktive und passive Kraft zusammenwirken, sich ineinanderfügen und kein Unfug entsteht. Jedesmal steht und fällt der Erfolg mit der Frage, ob eine von den beiden Seiten eines Könnens den Gebrauch zulässt oder nicht. Die Kraft darf wirken, wenn die Gegenkraft es ihr nicht verbietet – und die Gegenkraft fügt sich, wenn die Kraft befehlen kann. Beides ist eins, beides ist ein Können. So geschieht das Wirksame in der Welt: Es heißt immer: etwas zu gebrauchen wissen und sich gebrauchen lassen. 8. Der Gebrauch als das Verbindende Halten wir hier noch einmal kurz inne und machen eine kurze Pause in der Gedankenentwicklung mit einem Blick zurück: Ich habe angefangen mit einer gut aristotelischen Bestimmung: Können ist der Besitz (hexis) einer Möglichkeit, kein Zustand (diathesis), und dieser Besitz ist so vorhanden, dass er einen Grund für eine Veränderung abgibt. Ich habe weiter herausgearbeitet, dass dieser Besitz da und in der Welt ist – so wie es Heidegger in seiner Wiederholung des 10 aristotelischen Gedankens deutlich gemacht hat – im Sinn einer Bereitschaft und eines Auf-dem-Sprung-Seins für die Verwirklichung. Der nächste Gedanke allerdings – also die Besprechung der Zweifalt einer Kraft – hat uns dahin gebracht, dass wir sowohl die aktive Form einer Fähigkeit als auch die passive Form einer Fähigkeit sehr ähnlich denken müssen, nämlich als eine Bereitschaft für eine bestimmte Form des Gebrauchens, als eine Bereitschaft für eine bestimmte Gebrauchsweise. Diese Gebrauchsweise entsteht nur, wenn sich die aktive Seite der Vorbereitung fügt genauso wie die passive Seite. Mit dieser Erkenntnis verändert sich unvermittelt die Fragestellung. Es geht nicht mehr darum, was ist heißt, etwas in ein Anderes einprägen zu können, wie es vielleicht klassische Vorstellung ist, dass ein Können eine Idee in einen Gegenstand einprägt. Es geht vielmehr darum, wie man sich oder eben Material vorbereiten kann, sodass die Aufnahme dieser Idee für beide Seiten innerhalb der Fügung möglich ist. Genauer gesagt: Wie es möglich ist, dass sich der Anwender und das Angewendete zu einer Gebrauchsweise der Sache selbst zusammenfügen. Für die passive Seite eines Könnens, für das Material, ist diese Frage vergleichsweise einfach. Für die Aufnahme eines Gebrauches gilt, was auch bislang an Herstellungsregeln an die Sache selbst herangetragen worden ist, heißt: es müssen die physischen Voraussetzungen dafür gegeben sein, dass die Handlung gelingt. Für die aktive Seite aber ändert sich in diesem Blickwinkel einiges. Die Bereitschaft von Seiten des Tätigen bedeutet nämlich nichts anderes, 11 als dass er in Übung ist oder in Form ist. Wer fit ist oder in Form ist, der hat verschiedene Gebrauchsweisen von sich und seinem Körper zu seiner Verfügung. Und diese Verfügung entsteht nur durch den Gebrauch selbst. 9. Die Theorie der Übung Wir müssen also mit anderen Worten begreifen, was ist heißt, eine Übung zu machen. Die Übung nämlich ist der Begriff, der in der klassischen ontologischen Betrachtung des Phänomens des Können nicht in seiner vollen Tragweite begriffen worden ist. Durch Übung entsteht Erfahrung. Die Erfahrung ist eine Erkenntnis durch Arbeit, durch Versuch und Experiment, durch das Erproben einer bestimmten Gebrauchsweise. Es gibt kein Können ohne Probe, keine Erfahrung ohne Versuch. Die logisch geprägte Tradition der Metaphysik ist gewohnt, solche Phänomene gering zu schätzen. Im Prinzip bedeutet für eine solche Tradition die Übung nichts anderes als die Festigung eines Wissens oder die Hervorbringung eines Wissens, dessen Produktionsregeln nicht ganz klar sind. Und sicherlich hat diese Tradition in einer Hinsicht recht: Wir können durchaus den gekonnten Gebrauch etwa des Bogens physikalisch durch einen idealen Schuss darstellen, mit allen Gesetzen der Dynamik und Schwerkraft, die dafür gebraucht werden. Aber es hilft einfach nicht. Man sollte daher von der Idee der Übung jede Art des Wissens fernhalten. In der moderneren Diskussion gibt es hier Modelle des 12 impliziten Wissens. Das Problem bei einem impliziten Wissen ist: dass es ein Wissen ist, das nicht gewusst wird. Und ein Wissen, das nicht gewusst wird, kann eben auch kein Wissen sein. Es kann als Wissen auch gar nicht zur Verfügung stehen. Besonders absurd ist es, wenn dieses Wissen gerade in der Tat – also dann wenn es drauf ankommt – nicht verfügbar sein soll. Dann ist überhaupt nicht klar, warum wir davon sprechen sollten, dass ein übender Mensch irgendeine Art von impliziten Wissen hätte. Übung aktualisiert kein Wissen. 10. Die kantische Revolution Ein Sonderproblem, was wir in unserem Verhältnis zur Übung haben, existiert seit ungefähr 1798. Worauf ich anspiele, ist die Anthropologie Kants. Kant ist systematisch in der Philosophiegeschichte der Grund, warum die Reflexion über das Können seit gut zweihundert Jahren ihre eigentliche Kraft und Schärfe verloren hat. Im Paragraphen 12 seiner Anthropologie behandelte das Können als ein sinnliches Erkenntnisvermögen unterteilt in zwei Arten: auf der einen Seite gibt es die Leichtigkeit etwas zu tun (promptitudo) – ich kann, wenn ich will – anderen Seite gibt es die Fertigkeit (habitus), das ist ein Können, das durch einen wiederholten Gebrauch gewonnen wurde, durch eine Gewöhnung (ich kann, weil es die Gewohnheit gebietet). Kants Grundidee – und zwar Kants Grundidee für seine gesamten Ethik, ist, dass die Tugend niemals als eine mechanische Leichtigkeit oder Fertigkeit erklärt werden soll. Was er eine moralische Stärke nennt, ist eine Tugend, die niemals durch Übung entstehen kann und soll. 13 Sein Argument ist, dass die fortwährende Übung nur zu einer Mechanisierung, mithin zu einer Nötigung in der Erkenntnis führt Und deswegen zu einem Modus der Unfreiheit führt. Um es klar zu sagen, Kant irrt hier. Die Übung schafft nicht nur eine Form von sinnlicher Erkenntnis – was eben nicht heißt, dass sie ein Wissen wäre – die Übung sorgt auch erst dafür, dass wir eine Freiheit im Ausdruck bekommen. Sie erst verschafft uns die Souveränität, die freies Dasein auszeichnet. Denn das, was Kant eine sinnliche Erkenntnis bezeichnet, ist nichts anderes als die phänomenale Wirklichkeit eines Können. In der Leichtigkeit und Fertigkeit ist das bezeugende Zeugnis für einen erfolgreichen Gebrauch – das ist seine Behausung, sein letztlich vorthematisch bleibendes Wohnen in der Welt. 11. Das Können als Konversion des ganzen Menschen Das Sich-Befreien in seinem Verhalten durch fortwährende Übung macht das eigentlich Vorthematische eines Könnens zum Thema, um die neue Gebrauchsweise dann aber wieder so einzugewöhnen, dass sie wieder unthematisch wird. Das Verfahren wäre sinnfrei, wenn nicht gleichzeitig durch die fortwährende De-Automatisierung und ReAutomatisierung eine Verwandlung des Übenden stattfinden würde. Die Übung schafft ein Verhältnis zu sich selbst – sie ist eigentlich erst dann wirklich wirklich wirksam, wenn der Übende die Regeln schon kennt, also nichts Neues mehr lernt. Wer lernt, wird täglich mehr; wer übt, wird täglich weniger. 14 Was dann passiert, wenn die Askesis nach der Mathesis kommt ist eine Form Sich-Vorbereitens und sich Bereit-Machens, dass alles von einer bestimmten Gebrauchsweise vorhanden ist, wenn es die Situation erfordert. Um in der Situation richtig reagieren zu können, muss eben der ganze Mensch gelassen und ohne Zwang zwischen verschiedenen Gebrauchsweisen wählen können. Man könnte sogar behaupten: Die Übung erschafft erst ein Selbst wie einen künstlichen, virtuellen Avatar – sodass es eben kein Widerspruch ist zu sagen: Wer hier, in einem Rausch, in dem sich alles gefügt hat, wer hier gehandelt hat: Das war nicht ich, das war mein Selbst. Kommen wir zum Ende: Kant hat in seiner Anthropologie auch diverse Spekulationen über schreiende Babies verstreut. Bei ihm ist das Schreien ein Indiz für den natürlichen Freiheitsdrang des Menschen. Vielleicht ist es das. Wenn dem so ist, dann liegt die Freiheit eines Menschen aber nicht in seinem Willen, sondern in seinem Können, das er sich nicht anders als durch Übung erwerben kann. 15