Die Phänomenologie des Könnens
von Emanuel Seitz
Meine Damen und Herren,
1. Einleitung
Die Menschen verbinden weniges in der Welt mit so viel Stolz, Freude
und Erkenntnis wie die Entdeckung eines Könnens, wenn es sich in der
Welt ereignet.
Der Mensch will können. Schon vom ersten Augenblick an, nach sein
Geburt, beginnt der kleine Homunculus, der noch nichts ist, zu
strampeln, seine Glieder zu strecken und nach Atem zu schnappen. Am
Anfang ist in dieser Strecksucht noch alles unbeholfen. Das Wesen
weiß sich oft noch nicht anders zu helfen, als dass es all seinen Frust
über das eigene Unvermögen in die Welt hinausbrüllt. Je mehr es
jedoch merkt, dass mit diesen Geschrei und Geheule etwas zu erreichen
ist und dass es andere Menschen damit überreden kann, ihm zu Willen
zu sein, desto mehr verändert sich der Gebrauch dieses vorsprachlichen
Mittels, mit der Welt in Kontakt zu treten. Die Tonlagen werden jetzt
abgestimmt. Sie bedienen sich einer Vielfalt des Ausdrucks. Aus dem
undifferenzierten, verzweifelten Kreischen vor der eigenen Ohnmacht
entwickelt sich ein feingliedriges Heulorgan, das immer etwas anders
klingt und andere Töne zu treffen weiß, je nachdem, ob das
Neugeborene gerade quengelt, Hunger hat oder Mitleid erregen will.
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Das Heulen begleitet uns unser Leben lang. Wir weinen viel, solange
wir wenig können. Als Kinder weinen wir deswegen am meisten. Aber
auch später verändert sich nicht viel: Denn was sollte denn ein Weinen,
Schluchzen und Tränenvergießen eines Erwachsenen anderes sein, als
ein Ausdruck für die eigene Ohnmacht, ein Ausdruck für die
Verzweiflung vor dem eigenen Versagen oder – allgemein gesagt – ein
Ausdruck für die Hoffnungslosigkeit in der Welt, wenn alle Mittel
abhanden gekommen sind? Uns kommen die Tränen, wenn wir wissen,
dass wir von von uns aus nichts mehr tun können; wenn es nicht mehr
in unserer Macht liegt, was geschieht – wenn uns ein Unglück trifft und
wir seinen Folgen ausgeliefert sind und sie ertragen müssen. Achill
heult, weil er sich sein Recht nicht mehr nehmen kann, Ödipus weint
sogar blutige Tränen aus höchster Verzweiflung; und selbst das
neugeborene Kind fühlt eine Erleichterung gegen seine Ohnmacht –
noch bevor es Ich sagen kann und Selbstbewusstsein hat –, wenn es
abends einfach ohne Anlass eine Stunde lang brüllt und schreit.
Diese abendliche Schreistunde ist nicht nur ein Mittel gegen den
Missmut, sie kräftigt auch sogar das Organ für die schönsten Lobreden,
die dieses Kind später einmal halten wird auf die Überlegenheit eines
Menschen dank seines Könnens. Es gibt keinen besseren Anlass für
eine Laudatio als das Verdienst für ein Können, das überragend war.
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2. Das Können als Besitz einer Möglichkeit im Dasein
Doch was ist das, was wir da loben dürfen, ohne Neid und Missgunst,
ohne bösen Hintergedanken, wenn es sich in der Welt ereignet und
entdeckt sein will? Allgemein gesagt, als Phänomen betrachtet, ist ein
Können der Besitz einer Möglichkeit im Dasein.
Wir müssen von einem Besitz reden, weil ein Können nur dann wirklich
ein Können ist, wenn das Verfügen über die Möglichkeit, etwas zu tun,
länger vorhanden ist. Das Können ist selber keine Leistung – auch wenn
es sich in den Leistungen zeigt. Das Können ist kein Moment, kein
Zustand, keine Einstellung des Tätigen, die dann wieder weg wäre,
wenn die Tätigkeit zu ihrem Ende kommt. Ein wirkliches Können ist
vielmehr ein dauerhafter Besitz, eine dauerhafte Verfügung über das,
was zu tun ist.
Wie jeder Besitz kann ein Können allerdings auch wieder verloren
gehen. Entweder geschieht dies, wenn wir dauerhaft von unserem
Können keinen Gebrauch machen, sodass es verkümmert und wir die
Herrschaft und Verfügungsgewalt verlieren. Oder aber, ein solcher
Verfall stellt sich ein, wenn wir einen übermäßigen Gebrauch von
unseren Fähigkeiten machen und sie sich dadurch abnutzen.
Der letztere Fall, die Abnutzung, betrifft aber eigentlich nur die
natürlichen Fähigkeiten der Organe, wie etwa die Sehkraft, die
nachlässt, wenn wir sie zu sehr unter Stress setzen. Dort handelt es sich
eher um ein Versagen des Materials und ist eine Frage der
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physiologischen Beschaffenheit und Haltbarkeit des Materials. Das will
ich hier nicht weiter untersuchen.
Bei allen Fertigkeiten aber – also bei dem Können, das wir durch
Übung, Unterweisung und Wiederholung uns aneignen – geschieht
dieser Verlust wie von selbst durch Nichtgebrauch. Dort kann das
Können ein Grund für einen Stolz und das Nicht-Können ein Grund für
Scham und Peinlichkeit werden. Die fehlende oder nachlassende
Verfügungsgewalt verweist hier auf eine Nachlässigkeit des
Könnenden selbst im Umgang mit sich selbst und seinem Besitz. Er
lässt ihn verkommen, indem er sich nicht um ihn kümmert.
Wie wir uns diesen Besitz einer Möglichkeit im Dasein vorzustellen
haben, dafür hat Martin Heidegger in seiner Vorlesung Von Wesen und
Wirklichkeit der Kraft das vielleicht eindrücklichste Bild erfunden.
Denken Sie an einen Sprinter, der in den Startlöchern steckt. Er ist auf
dem Sprung, und alles ist eingerichtet, alles liegt bereit. – Nichts hindert
mehr. – Jeden Augenblick kann der Sprinter loslaufen. Er wartet nur
auf das Signal, um von den Fähigkeiten, die er hat, Gebrauch zu
machen. Diese Bereitschaft, dieses Eingerichtet-Sein und Alles-fertigHaben für den Gebrauch, macht den Besitz einer Möglichkeit im Dasein
aus.
3. Können ist Grund und Besitz für Veränderung
Jetzt stellen wir uns die Situation weiter vor und gehen davon aus, dass
diesem Läufer der Lauf gelingt und er ins Ziel kommt. Können wir dann
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sagen und annehmen, dass das Können der Grund war für einen Erfolg?
Das stimmt doch – oder nicht? Ohne sein Können hätte er keine Erfolg
gehabt – nicht wahr?
Wenn Sie mir hier innerlich zugestimmt haben, dann haben wir jetzt ein
neues Problem entdeckt: Ist das Können eher ein Besitz im Dasein oder
doch eher ein Grund für etwas, das sich im Dasein ereignet? Was ist es
denn eigentlich? Was ist hier das Wesentliche?
Es führt nicht weiter, wenn wir das Verhältnis von Können und
Gekonntem mit anderen Verhältnissen des Besitzens vergleichen: Der
reiche Grundbesitzer, der viel Vermögen hat, kann sich dank des
Vermögens viele Dinge leisten. Das Vermögen ist sein Besitz und
zugleich der Grund, warum ihm so wenig widersteht und so vieles
erlaubt ist. Auch hier haben wir diese doppelte Bestimmung von Grund
und Habe, und können nicht entscheiden, was für das Können das
Ursprünglichere ist.
4. Was eher? Entscheidung über das Ungekonnte
Diese Entscheidung gelingt erst, wenn wir uns klarmachen, was der
Unterschied ist zwischen einerseits einem Ereignis, das sich aufgrund
eines Könnens einstellt, und andererseits einem Ereignis, das dem
Können widerspricht. Wir lernen das Können erst richtig kennen, wenn
wir uns klarmachen, was ein Versagen bedeutet – und zwar ein
Versagen, das nicht zustande kommt aufgrund eines Fehlers oder
Mangels (steresis). Vielmehr muss sich das Versagen trotz der
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verwirklichten Fertigkeit, trotz eines kunstgerechten Gebrauchs
einstellen, um diesen Unterschied klar zu machen.
Ein Fehler oder ein Mangel stellt sich dann ein, wenn jemand sein
eigentlich vorhandenes Können nur unvollständig anwendet und die
Sache daher in die Irre führt. Wir nennen derartiges ein Missgeschick.
Solche Missgeschicke sind situative Mängel und kurzfristige
Beraubungen der Fertigkeit, die aber nicht den Besitz eines Könnens im
Ganzen in Frage stellen. Missgeschicke muss es vielmehr dort geben,
wo etwas nur Besitz ist und keine unveräußerliches Eigenheit. Bei so
etwas, das ein Gebrauchsgut ist, muss man auch immer mit einem
Missbrauch rechnen.
Allerdings kann, wie gesagt, ein Versagen auch dann zustande
kommen, wenn alles richtig gemacht wurde. Wenn also unser Läufer
alles getan hat, was getan werden musste, um ins Ziel zu kommen – und
er dann trotzdem nicht ins Ziel kommt… Dann ist klar: In diesem Fall
muss ein Unglück geschehen sein, das er nicht selbst verschuldet hat.
Was auch immer das gewesen sein – die Möglichkeiten sind hier
unbegrenzt. Ein anderer Läufer kann ihn geschubst haben, ein Unwetter
mag ausgebrochen sein und hat die Laufbahn durchnässt, oder ein
Außerirdischer hat ihn mitten im Lauf aufgegriffen und auf einen
anderen Planeten entführt.
All diese Beispiele wären Unglücke, die einen Erfolg beim Laufen
verhindern. Solche Unglücke sind ein anderes Wort für Zufall. Wo ein
Zufall geschieht, ist für den Misserfolg kein Missgeschick
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verantwortlich, sondern etwas anderes, das jenseits des Könnens trotz
der technischen Geschicklichkeit auch noch passieren kann.
Hieran sieht man, dass wir für Geschehnisse in der Welt zweierlei Arten
von Gründen annehmen: einerseits Gründe, die von sich aus für ein
Seiendes aufgrund seines Seinkönnens möglich sind, und andererseits
Gründe – im Sinn des grundlosen Zufalls –, die nicht von sich aus für
eines Seiendes aufgrund seines Seinkönnens möglich sind, die also
etwas anderes als ein Können bezeichnen.
5. Können als Grund für eine Veränderung
Dieser kleine Exkurs über das Versagen versetzt uns in die Lage zu
entscheiden, was ein Können nun eher ist: Ob es eher ein Grund für ein
Ereignis ist oder eher ein Besitz einer Möglichkeit.
Die Entscheidung lautet: Das Können ist in erster Linie eine
Begründung für etwas, das in der Welt geschieht, und zwar dergestalt,
dass etwas von sich aus die Möglichkeit hatte, so zu werden, und es von
sich aus über diese Möglichkeit verfügt hat, sodass dieses Ereignis in
der Welt entstanden ist. Das Können ist Grund für ein Seiendes in der
Welt (deswegen es auch unter den archai und aitiai des Sein als
Seiendem in der Metaphysik des Aristoteles behandelt) – und zwar
insofern dieses Seiende aus etwas geworden ist. Es gibt kein Können
ohne Werden.
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6. Aktives und passives Können
Wenn wir uns nun dieses Werden aber anschauen, dann fällt auf, dass
ein jedes Können eigentlich zwei Seiten hat.
Eine jede Veränderung, die geschehen ist, konnte geschehen, weil
einerseits etwas dazu fähig war, diese Veränderung auszulösen, und
weil andererseits etwas Anderes dazu fähig war, diese Veränderung
auch mit sich machen zu lassen. Es gibt ein aktives Können, das ein
Ereignis erschaffen, verfügen und befehlen will, und auf der anderen
Seite ein passives Können, das ein Ereignis zulässt, gehorcht und sich
diesem aktiven Drang gefügig zeigt. Was wie ein Können aussieht,
zerfällt immer in zwei Teile, in Kraft und Gegenkraft,
Für ein wirksames Können muss sich der tätige Mensch immer auf
beide Seiten verstehen und beide Seiten so einzurichten wissen, dass sie
zum Erfolg führen.
Die passive Seite des Könnens ist die Eignung. Wenn ein Material für
einen Gebrauch geeignet ist, lässt es diese Verwendung und
Veränderung zu. Der geeignete Stoff geht nicht kaputt und lässt das
Ereignis entstehen.
Die Eignung allein garantiert noch nicht den Erfolg, denn es ist noch
immer möglich, dass ein Mensch von einem geeigneten Material einen
falschen Gebrauch macht. Ein klassisches Beispiel ist hierfür der
dümmste anzunehmende Anwender. Ein solcher kunstgerechter
Versager weiß auch die besten Geräte nicht zu verwenden, weil er keine
Herrschaft über das Material ausübt.
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Die aktive Seite des Könnens meint genau dieses Verständnis der
Anwendung. Eine jede Kraft ist wirksam, wenn sie eine Veränderung
auslösen kann, und zwar so, wie sie es verfügt. Die aktive Seite ist im
Besitz der Gestalt, die dieses Material annehmen soll.
Auch hier ist natürlich ein analoger Fehler möglich zum Bespiel des
dümmsten anzunehmenden Anwenders. Der Anwender macht einen
richtigen Gebrauch, aber vom falschen Material und es entsteht ein
technisches Versagen: Eine geeignete Handlung trifft auf einen
störrischen Stoff.
7. Handeln und Herstellen
Zusammengefasst: Ein Können ist also ontologisch Eins, zerfällt aber
auf der ontischen Ebene in diese zwei Teile, in Kraft und Gegenkraft,
in einen Wille zur Macht und in einen vielleicht gehorchenden Willen,
in ein Befehlen-Können und in ein Verbieten-Können.
Dieses abstrakten Verhältnis finden wir bei allen Formen des Könnens:
Bei einer Herstellung zum Beispiel verfügt der Produzent über ein Bild
oder einen Begriff davon, als was die Sache gebraucht werden soll,
wenn sie erfolgreich hergestellt wird. Lässt das Material die
Transformation zu, entsteht dieser neue Gebrauch auch in dem
Anderen. Es entsteht eine Fügung – beides fügt sich ineinander.
Charakterisch für eine Herrstellung ist die Wirkung in einem Anderen
– was nicht nicht ausschließt, das ich auch mich selbst als ein Anderes
zu mir behandeln kann. Am deutlichsten tritt das vielleicht an einem
Arzt hervor, der sich selbst verarztet. Ein solcher Mensch ist sich selbst
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Produzent und Produkt, Arzt und Patient, Empfänger und Inhaber eines
Heilen-Könnens.
Bei einer Handlung ist es genau dasselbe: hier ist nur der Unterschied,
dass ich den Widerstand nicht in einem Anderen überwinde, das mir
entgegensteht; sondern ich selbst bin mir selbst ein Widerstand. Denken
wir auch hier wieder an den Läufer: Es gibt einen Entwurf für den
Gebrauch des Körpers, und dieser Entwurf gelingt, wenn sich der
angedachte Gebrauch in der Welt ereignet – wenn also wieder aktive
und passive Kraft zusammenwirken, sich ineinanderfügen und kein
Unfug entsteht.
Jedesmal steht und fällt der Erfolg mit der Frage, ob eine von den beiden
Seiten eines Könnens den Gebrauch zulässt oder nicht. Die Kraft darf
wirken, wenn die Gegenkraft es ihr nicht verbietet – und die Gegenkraft
fügt sich, wenn die Kraft befehlen kann. Beides ist eins, beides ist ein
Können. So geschieht das Wirksame in der Welt: Es heißt immer: etwas
zu gebrauchen wissen und sich gebrauchen lassen.
8. Der Gebrauch als das Verbindende
Halten wir hier noch einmal kurz inne und machen eine kurze Pause in
der Gedankenentwicklung mit einem Blick zurück: Ich habe
angefangen mit einer gut aristotelischen Bestimmung: Können ist der
Besitz (hexis) einer Möglichkeit, kein Zustand (diathesis), und dieser
Besitz ist so vorhanden, dass er einen Grund für eine Veränderung
abgibt. Ich habe weiter herausgearbeitet, dass dieser Besitz da und in
der Welt ist – so wie es Heidegger in seiner Wiederholung des
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aristotelischen Gedankens deutlich gemacht hat – im Sinn einer
Bereitschaft und eines Auf-dem-Sprung-Seins für die Verwirklichung.
Der nächste Gedanke allerdings – also die Besprechung der Zweifalt
einer Kraft – hat uns dahin gebracht, dass wir sowohl die aktive Form
einer Fähigkeit als auch die passive Form einer Fähigkeit sehr ähnlich
denken müssen, nämlich als eine Bereitschaft für eine bestimmte Form
des Gebrauchens, als eine Bereitschaft für eine bestimmte
Gebrauchsweise. Diese Gebrauchsweise entsteht nur, wenn sich die
aktive Seite der Vorbereitung fügt genauso wie die passive Seite.
Mit dieser Erkenntnis verändert sich unvermittelt die Fragestellung. Es
geht nicht mehr darum, was ist heißt, etwas in ein Anderes einprägen
zu können, wie es vielleicht klassische Vorstellung ist, dass ein Können
eine Idee in einen Gegenstand einprägt. Es geht vielmehr darum, wie
man sich oder eben Material vorbereiten kann, sodass die Aufnahme
dieser Idee für beide Seiten innerhalb der Fügung möglich ist. Genauer
gesagt: Wie es möglich ist, dass sich der Anwender und das
Angewendete
zu
einer
Gebrauchsweise
der
Sache
selbst
zusammenfügen.
Für die passive Seite eines Könnens, für das Material, ist diese Frage
vergleichsweise einfach. Für die Aufnahme eines Gebrauches gilt, was
auch bislang an Herstellungsregeln an die Sache selbst herangetragen
worden ist, heißt: es müssen die physischen Voraussetzungen dafür
gegeben sein, dass die Handlung gelingt.
Für die aktive Seite aber ändert sich in diesem Blickwinkel einiges. Die
Bereitschaft von Seiten des Tätigen bedeutet nämlich nichts anderes,
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als dass er in Übung ist oder in Form ist. Wer fit ist oder in Form ist,
der hat verschiedene Gebrauchsweisen von sich und seinem Körper zu
seiner Verfügung. Und diese Verfügung entsteht nur durch den
Gebrauch selbst.
9. Die Theorie der Übung
Wir müssen also mit anderen Worten begreifen, was ist heißt, eine
Übung zu machen. Die Übung nämlich ist der Begriff, der in der
klassischen ontologischen Betrachtung des Phänomens des Können
nicht in seiner vollen Tragweite begriffen worden ist.
Durch Übung entsteht Erfahrung. Die Erfahrung ist eine Erkenntnis
durch Arbeit, durch Versuch und Experiment, durch das Erproben einer
bestimmten Gebrauchsweise. Es gibt kein Können ohne Probe, keine
Erfahrung ohne Versuch.
Die logisch geprägte Tradition der Metaphysik ist gewohnt, solche
Phänomene gering zu schätzen. Im Prinzip bedeutet für eine solche
Tradition die Übung nichts anderes als die Festigung eines Wissens
oder die Hervorbringung eines Wissens, dessen Produktionsregeln
nicht ganz klar sind. Und sicherlich hat diese Tradition in einer Hinsicht
recht: Wir können durchaus den gekonnten Gebrauch etwa des Bogens
physikalisch durch einen idealen Schuss darstellen, mit allen Gesetzen
der Dynamik und Schwerkraft, die dafür gebraucht werden. Aber es
hilft einfach nicht.
Man sollte daher von der Idee der Übung jede Art des Wissens
fernhalten. In der moderneren Diskussion gibt es hier Modelle des
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impliziten Wissens. Das Problem bei einem impliziten Wissen ist: dass
es ein Wissen ist, das nicht gewusst wird. Und ein Wissen, das nicht
gewusst wird, kann eben auch kein Wissen sein. Es kann als Wissen
auch gar nicht zur Verfügung stehen. Besonders absurd ist es, wenn
dieses Wissen gerade in der Tat – also dann wenn es drauf ankommt –
nicht verfügbar sein soll. Dann ist überhaupt nicht klar, warum wir
davon sprechen sollten, dass ein übender Mensch irgendeine Art von
impliziten Wissen hätte. Übung aktualisiert kein Wissen.
10. Die kantische Revolution
Ein Sonderproblem, was wir in unserem Verhältnis zur Übung haben,
existiert seit ungefähr 1798. Worauf ich anspiele, ist die Anthropologie
Kants. Kant ist systematisch in der Philosophiegeschichte der Grund,
warum die Reflexion über das Können seit gut zweihundert Jahren ihre
eigentliche Kraft und Schärfe verloren hat. Im Paragraphen 12 seiner
Anthropologie
behandelte
das
Können
als
ein
sinnliches
Erkenntnisvermögen unterteilt in zwei Arten: auf der einen Seite gibt
es die Leichtigkeit etwas zu tun (promptitudo) – ich kann, wenn ich will
– anderen Seite gibt es die Fertigkeit (habitus), das ist ein Können, das
durch einen wiederholten Gebrauch gewonnen wurde, durch eine
Gewöhnung (ich kann, weil es die Gewohnheit gebietet). Kants
Grundidee – und zwar Kants Grundidee für seine gesamten Ethik, ist,
dass die Tugend niemals als eine mechanische Leichtigkeit oder
Fertigkeit erklärt werden soll. Was er eine moralische Stärke nennt, ist
eine Tugend, die niemals durch Übung entstehen kann und soll.
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Sein Argument ist, dass die fortwährende Übung nur zu einer
Mechanisierung, mithin zu einer Nötigung in der Erkenntnis führt Und
deswegen zu einem Modus der Unfreiheit führt. Um es klar zu sagen,
Kant irrt hier. Die Übung schafft nicht nur eine Form von sinnlicher
Erkenntnis – was eben nicht heißt, dass sie ein Wissen wäre – die Übung
sorgt auch erst dafür, dass wir eine Freiheit im Ausdruck bekommen.
Sie erst verschafft uns die Souveränität, die freies Dasein auszeichnet.
Denn das, was Kant eine sinnliche Erkenntnis bezeichnet, ist nichts
anderes als die phänomenale Wirklichkeit eines Können. In der
Leichtigkeit und Fertigkeit ist das bezeugende Zeugnis für einen
erfolgreichen Gebrauch – das ist seine Behausung, sein letztlich
vorthematisch bleibendes Wohnen in der Welt.
11. Das Können als Konversion des ganzen Menschen
Das Sich-Befreien in seinem Verhalten durch fortwährende Übung
macht das eigentlich Vorthematische eines Könnens zum Thema, um
die neue Gebrauchsweise dann aber wieder so einzugewöhnen, dass sie
wieder unthematisch wird. Das Verfahren wäre sinnfrei, wenn nicht
gleichzeitig durch die fortwährende De-Automatisierung und ReAutomatisierung eine Verwandlung des Übenden stattfinden würde.
Die Übung schafft ein Verhältnis zu sich selbst – sie ist eigentlich erst
dann wirklich wirklich wirksam, wenn der Übende die Regeln schon
kennt, also nichts Neues mehr lernt. Wer lernt, wird täglich mehr; wer
übt, wird täglich weniger.
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Was dann passiert, wenn die Askesis nach der Mathesis kommt ist eine
Form Sich-Vorbereitens und sich Bereit-Machens, dass alles von einer
bestimmten Gebrauchsweise vorhanden ist, wenn es die Situation
erfordert. Um in der Situation richtig reagieren zu können, muss eben
der ganze Mensch gelassen und ohne Zwang zwischen verschiedenen
Gebrauchsweisen wählen können. Man könnte sogar behaupten: Die
Übung erschafft erst ein Selbst wie einen künstlichen, virtuellen Avatar
– sodass es eben kein Widerspruch ist zu sagen: Wer hier, in einem
Rausch, in dem sich alles gefügt hat, wer hier gehandelt hat: Das war
nicht ich, das war mein Selbst.
Kommen wir zum Ende: Kant hat in seiner Anthropologie auch diverse
Spekulationen über schreiende Babies verstreut. Bei ihm ist das
Schreien ein Indiz für den natürlichen Freiheitsdrang des Menschen.
Vielleicht ist es das. Wenn dem so ist, dann liegt die Freiheit eines
Menschen aber nicht in seinem Willen, sondern in seinem Können, das
er sich nicht anders als durch Übung erwerben kann.
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