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Jesus Christus

2007

Nach antiker Sitte lagen sie mit ihm zu Tische. Fromme äugten von Weitem und zerrissen sich den Mund: "Dieser Fresser und Weinsäufer, Freund von Zöllnern und Sündern" (Lukas 7,34)-von Unreinen, über die die Gesellschaft die Stirn runzelte. Er rümpfte nicht die Nase wie die gottnahen Religiösen, die in sich hineinbrabbelten: Wenn er ein Pro phet wäre, wüsste er, was zum Beispiel die da "für eine Frau ist!" (7,39). Er wusste. Ihn trieb nicht Berührungsangst, nicht vor einer Prostituier ten. Er trank und aß mit ihnen, den Gottfernen. Sprach und lachte. Hörte zu. "Die Gesunden brauchen keinen Arzt, nur solche, denen es schlecht geht" (5,31). Denen gehörte sein Herz. Einer anderen Frau aus Magdala, die sich mit psychischen Problemen herumschlug, half er durch einen Exorzismus (8,2). Viele erhofften ein Lindern ihrer Leiden. Sein Charisma zog Menschen in den Bann, ließ ihn Einfluss nehmen auf ihr Leben. Zahlreiche Wunderheilungen wurden ihm nachgesagt. Er selbst erzählte andere Geschichten. "Ein Mann wurde auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho in der Einöde überfallen. Blutend lag er am Wegrand. Ein Priester ging achtlos vorbei; desgleichen ein Levit. Ein Reiter aus Samaria hielt an, verband die Wunden und lud den Verletzten auf sein Reittier, um ihn in einer Herberge in Pflege zu ge ben." Solche Gleichnisse überraschten, lockten ins Nachdenken. Stan den nicht die religiösen Eliten, Priester und Leviten, Gott näher als die Samaritaner, auf die anständige Juden herabblickten, mit denen sie nicht verkehrten? Heute würde der Geschichtenerzähler von andersfar bigen Asylanten reden, von Immigrantinnen, die unter dem Kranken hausbett wischen. Stehen sie Gott näher als die Pastoren? Versuchte der Nazarener, die Werte auf den Kopf zu stellen? Herauszufordern? Seine Familie ärgerte sich seit geraumer Zeit (vgl. Markus 3,21). Den Leuten zu erzählen, war ihm wichtiger, als auf dem Bau zu arbeiten wie sein Vater. Er hatte sich vor ein, zwei Jahren aus Nazareth in die wüste Jordansenke davongemacht, um dem Propheten Johannes zuzuhören. Der sagte für die nahe Zukunft das Endgericht Gottes voraus, bei dem eine zornige Messiasgestalt "mit der Schaufel in der Hand den Dresch platz säubern, den Weizen in die Scheune sammeln und die Spreu verbrennen" werde. Mit seinen Taufen versiegelte der Täufer Umkehr willige "feuerfest" vor den Flammen des Zorngerichts. Der Nazarener

Jesus Christus Peter Lampe Nach antiker Sitte lagen sie mit ihm zu Tische. Fromme äugten von Weitem und zerrissen sich den Mund: „Dieser Fresser und Weinsäufer, Freund von Zöllnern und Sündern“ (Lukas 7,34) - von Unreinen, über die die Gesellschaft die Stirn runzelte. Er rümpfte nicht die Nase wie die gottnahen Religiösen, die in sich hineinbrabbelten: Wenn er ein Pro­ phet wäre, wüsste er, was zum Beispiel die da „für eine Frau ist!“ (7,39). Er wusste. Ihn trieb nicht Berührungsangst, nicht vor einer Prostituier­ ten. Er trank und aß mit ihnen, den Gottfernen. Sprach und lachte. Hörte zu. „Die Gesunden brauchen keinen Arzt, nur solche, denen es schlecht geht“ (5,31). Denen gehörte sein Herz. Einer anderen Frau aus Magdala, die sich mit psychischen Problemen herumschlug, half er durch einen Exorzismus (8,2). Viele erhofften ein Lindern ihrer Leiden. Sein Charisma zog Menschen in den Bann, ließ ihn Einfluss nehmen auf ihr Leben. Zahlreiche Wunderheilungen wurden ihm nachgesagt. Er selbst erzählte andere Geschichten. „Ein Mann wurde auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho in der Einöde überfallen. Blutend lag er am Wegrand. Ein Priester ging achtlos vorbei; desgleichen ein Levit. Ein Reiter aus Samaria hielt an, verband die Wunden und lud den Verletzten auf sein Reittier, um ihn in einer Herberge in Pflege zu ge­ ben.“ Solche Gleichnisse überraschten, lockten ins Nachdenken. Stan­ den nicht die religiösen Eliten, Priester und Leviten, Gott näher als die Samaritaner, auf die anständige Juden herabblickten, mit denen sie nicht verkehrten? Heute würde der Geschichtenerzähler von andersfar­ bigen Asylanten reden, von Immigrantinnen, die unter dem Kranken­ hausbett wischen. Stehen sie Gott näher als die Pastoren? Versuchte der Nazarener, die Werte auf den Kopf zu stellen? Herauszufordern? Seine Familie ärgerte sich seit geraumer Zeit (vgl. Markus 3,21). Den Leuten zu erzählen, war ihm wichtiger, als auf dem Bau zu arbeiten wie sein Vater. Er hatte sich vor ein, zwei Jahren aus Nazareth in die wüste Jordansenke davongemacht, um dem Propheten Johannes zuzuhören. Der sagte für die nahe Zukunft das Endgericht Gottes voraus, bei dem eine zornige Messiasgestalt „mit der Schaufel in der Hand den Dresch­ platz säubern, den Weizen in die Scheune sammeln und die Spreu verbrennen“ werde. Mit seinen Taufen versiegelte der Täufer Umkehr­ willige „feuerfest“ vor den Flammen des Zorngerichts. Der Nazarener Peter Lampe 120 hatte sich im Jordan taufen lassen. Aber dann hatte es ihn auch dort nicht gehalten. In Gott sah er nicht nur den Strengen. Er las im Psalter und bei den Propheten auch von einem Gott, der sich als König von „großer Güte“, „Geduld“ und „Barmherzigkeit“ erweist, Niedergeschlagene aufrichtet, alles Lebendige speist (Psalm 145), den Armen vom Zion aus Brot schenkt (Psalm 132,13-15) und Lahme, Verstoßene als König sammelt (Micha 4,6-8). Von dieser Seite Gottes wollte er den „Kleinen“ im Lande (Lukas 17,2) künden. Bei Jesaja las er weiter, dass Gottes königliches Herrschen auf dem Zion (52,6-8) bereits in der Gegenwart aufkeimt: „Siehe, ich will ein Neues schaffen. Jetzt wächst es auf. Erkennt ihr es nicht?“ (43,19). Den Glauben an eine kaum sichtbare Gottesherrschaft schon im Jetzt klei­ dete Jesus von Nazareth in ein Bild (Lukas 13,19): Die Königsherrschaft Gottes gleicht gegenwärtig einem schäbigen Senfkorn, dem winzigsten aller Samenkörner. Einmal gesät, geht es jedoch auf und wächst mächti­ ger als die anderen Gartengewächse heran. Es treibt ausladende Zweige, so dass in seinem Schatten die Vögel nisten. Ein anderes Gleichnis lautete ähnlich: Die Königsherrschaft Gottes gleicht einem Sauerteig, den eine Frau nahm und in einen großen Trog Mehl hinein verbarg, bis alles durchsäuert wurde (Lukas 13,21). Für jüdische Ohren klang anstößig, die gewaltige „Königsherrschaft Gottes“ mit kultisch befleckendem Alltags-Kleinklein zu verbinden, mit einem Backtrog und einem Quäntchen unreinen Sauerteigs. Wieder wurden die Hörerinnen und Hörer herausgefordert, dem provozierenden Ver­ gleich im eigenen Nachdenken einen Sinn abzugewinnen. Signalisiert die Bildwahl, dass die Königsherrschaft Gottes bis in den Alltagstrott selbst der kleinen Leute Vordringen will, „alles durchsäuernd“? Behaup­ tete dieser Jesus, dass Gottes Herrschaft sich gar mit dem Entlegensten zu verbinden vermag und bis in die letzten Winkel Kraft ausstrahlt, auch bis dorthin, wo wir galiläischen Gleichnishörer in unserer Alltagswelt vor uns hin werkeln? Immerhin durchzieht die Hefekraft „drei Sat Mehl“, den gewaltigen Haufen von über dreißig Litern. Beide, Senfkorn und Sauerteig, stehen für Unscheinbares, das gleichwohl durchdringende Kraft entfaltet und mächtig wirken wird. Wenn Gott, so konnten die galiläischen Zuhörer weiter knüpfen, für die gewaltige Königsherrschaft das Kleine als Ausgangspunkt wählt, den Ort, an dem wir palästinischen Zuhörer uns befinden, dann braucht dies nicht absurd zu erscheinen oder mutlos zu machen. Beide Bilder ermuntern, mit Vorfreude in die Zukunft zu schauen. Sind die Anfänge bei uns kümmerlich, es liegt doch Verheißung auf ihnen, dass Gott in ihnen wirkt und etwas Großes daraus wachsen lassen wird: In ihrem Ziel wird Gottes Königsherrschaft nicht mehr verborgen sein, sondern sicht­ bar die Welt umspannen. Der Tod wird nicht mehr sein, die Tränen werden trocknen. „Selig, ihr Armen, denn euer ist das Königreich Got­ 121 Jesus Christus tes. Selig, ihr Hungernden, denn ihr werdet satt werden. Selig, ihr Traurigen, denn ihr werdet getröstet werden“ (Lukas 6,20f). Der Nazarener sammelte Frauen und Männer um sich, über fünf­ hundert an der Zahl (1. Korinther 15,6). Zwölf in einem inneren Kreis symbolisierten die zwölf Stämme Israels: Der Nazarener suchte Israel zu sammeln, zu erneuern, für die Ankunft der Gottesherrschaft vorzubereiten. Mit zwölf, fünfhundert und mehr war der Anfang gemacht. Die kleine Schar nahm sich dem Nazarener wie ein Senfkorn aus; wie der Sauerteig, der ein Volk anzustecken versprach. Sogar noch konkreter verspürte Jesus Gottesherrschaft bereits im Jetzt. „Wenn ich mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, ist die Königsherrschaft Gottes schon bei euch da!“ (Lukas 11,20). Sie war für ihn punktuell da, wo er selbst mit seinen Anhängern „Niedergeschlagene aufrichtete“ (vgl. Psalm 145,14), „Lahme aufsammelte und Versto­ ßene willkommen hieß“ (vgl. Micha 4,6-8). „Wenn ihr in eine Stadt hineingeht..., heilt die Kranken und sagt ihnen: Nahe zu euch ist die Königsherrschaft Gottes gekommen“ (Lukas 10,9). Wie er Gottesnähe in seinem Sich-Zuwenden zu den Schwachen be­ hauptete, so formulierte er selbstbewusst: „Jeder, der sich zu mir vor den Menschen bekennt, zu dem wird sich auch der Menschensohn ... (im Endgericht) bekennen“ (Lukas 12,8). Derartige Vollmacht beanspruchte er für sich - obwohl er selbst nicht einen der traditionellen jüdischen Hoheitstitel, Messias-Christus, Gottessohn, wohl nicht einmal Menschensohn-Weltrichter, für sich beanspruchte. Er verstand sich als voll­ mächtigen Gesandten Gottes in Israel wie die großen Propheten Israels vor ihm. Die pharisäischen Traditionshüter Israels tadelte Jesus, Toravorschriften zum Selbstzweck zu erheben. Das Äußere von Bechern und Schüs­ seln zu reinigen, sei ein Nichts, wenn gleichzeitig das Zwischenmenschli­ che, „Barmherzigkeit und Treue“, auf der Strecke bliebe (Lukas 11,42.39). Den Sabbat einzuhalten bedeute nichts, wenn dadurch einem Verkrüppelten nicht geholfen, Hungrige nicht gesättigt würden (Markus 2,23-28). Fasten besitze keinen Wert, wenn das Miteinander darunter leide (2,18-20). Das Fasten des Täufers und der Johannesschüler über­ nahm er nicht, auch nicht dessen Versuch, kultisch rein zu leben wie ein Priester - etwa Getränke, die in Rausch versetzen können, zu mei­ den, kein Fleisch von einstmals blutdurchströmten Tieren zu essen oder auf Backwaren und Honig aus kultisch nicht reiner Nahrungsmittelproduktion zu verzichten. Des Täufers wilder Honig und blutleere Heu­ schrecken standen nicht auf Jesu Speisezettel. Wenn Gottesherrschaft bereits im Jetzt erfahrbar war, durfte gefeiert werden. Dafür verzichtete der Nazarener auf Besitz, festen Wohnsitz und Fa­ milie. „Wem nicht Vater und Mutter, Sohn und Tochter gleichgültig sind, kann nicht mein Jünger sein“ (Lukas 14,26). Sogar den Stock, mit dem er auf seinen Wanderwegen sich hätte wehren können, legte er aus Peter Lampe 122 der Hand. „Tragt keinen Geldbeutel, keinen Proviantsack, keinen Stab“ (Lukas 10,4). Gewalt war für ihn tabu. „Dem, der dich auf die Backe schlägt, halte die andere hin. Dem, der dir das Untergewand wegreißen will, lass auch das Obergewand. Mit dem, der dich zu einer Meile Fron­ dienst zwingt, gehe zwei“ (6,29f). „Liebet eure Feinde. Betet für die, die euch nachsetzen“ (6,27 05). „Habt ein Herz, wie euer Vater barmherzig ist“ (6,34). Vor allem, sorgt euch nicht. „Sammelt euch nicht Vorräte auf der Erde, wo Motte und Fraß sie zerstören... Sorgt euch nicht, was ihr essen, womit ihr euch kleiden sollt... Beobachtet die Raben: Sie säen und ern­ ten nicht, und Gott nährt sie doch... wie viel mehr dann nicht euch, ihr Kleingläubigen... Euer Vater weiß, dass ihr das alles braucht“ (Lukas 12,33.22b—31). Eure Bitte laute: „Unser Brot für den Tag gib uns heute“ (11,3) - nicht für die nächste Woche. „Verkaufe, was du hast! Gib es den Armen!“ (Markus 10,21). „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“ (Lukas 16,13). Sein brennendes Erwarten der Königsherrschaft, hinter dem das Sor­ gen um das Alltägliche zurücktrat, trieb ihn nach ein, zwei Jahren öffent­ lichen Wirkens im Umkreis des Sees Genezareth um das Jahr 30 (oder 33) nach Jerusalem: zum größten Wallfahrtsfest, dem Passa, um den Scharen von Israeliten, den Repräsentanten des Volkes die Ankunft Gottes anzusagen. Erwartete er den für alle sichtbaren Einzug des göttlichen Königs auf dem Zion zu diesem Passafest, zu dem er mit Anhängern und Nachfolgerinnen in die Tempelstadt pilgerte? Dafür könnte Markus 14,25 sprechen: „Ich werde“, so hoffte er in Jerusalem, „nicht mehr von der Frucht des Weinstocks trinken bis zu dem Tag, an dem ich von neuem davon trinke in Gottes Königsreich.“ „Viele werden dann von Osten und Westen kommen und sich zum Mahle zu Tisch legen mit Abraham, Isaak und Jakob im Königreich Gottes ... Es werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten“ (Lukas 13,28-30). Der, der auszog, Israel zu sammeln, scheiterte an der Hochburg. „Je­ rusalem, Jerusalem ... Wie viele Male wollte ich deine Kinder sammeln wie eine Henne die Küken, und ihr wolltet nicht“ (Lukas 13,340- Auf dem Zion betrat der Galiläer eine „Räuberhöhle“, nicht ein „Bethaus für die Völker“, wie es Jesaja gefordert hatte (56,7). Im Tempelbereich war nichts bereit für die Ankunft des Weltkönigs. Geldwechsler und Taubenhändler klimperten mit des Mammons Münzen. Verkäufer und Kunden lärmten. Kurzerhand stieß der Nazarener in einer propheti­ schen Zeichenhandlung Tische und Stände um. Geschrei und ein klei­ ner orientalischer Aufruhr. Die sadduzäische Tempelaristokratie wurde auf ihn aufmerksam, fühlte sich herausgefordert von diesem Unruhestif­ ter, der des Tempels wirtschaftliche Interessen tadelte und zudem eine dunkle Tempelweissagung ausgestoßen hatte, nach der der prächtige Tempel so, wie er sich jetzt darbot, nicht im Gottesreich Bestand haben würde (Markus 13,2). Die „Ersten“, die zu „Letzten“ werden sollten, 123 Jesus Christus waren alles andere als begeistert. Ihr Misstrauen wurde geschürt von Berichten, seine Anhänger hätten ihm bei seiner Ankunft in der Stadt mit einer kleinen Demonstration den Empfang bereitet. Die öffentliche Ruhe drohte der selbsternannte Prophet zu stören, was auch die Römer die Brauen heben ließ. Die Atmosphäre der von Festpilgern überlaufe' nen Stadt war gespannt. Unheil braute sich über dem Galiläer zusammen. Er wird es gespürt haben. Er hätte die Stadt verlassen können. Aber er tat es nicht, ging bewusst Risiko ein. Unerschütterlich ruhte sein Glaube an das Ankommen des Zionskönigs. Ein letztes abendliches Mahl konnte er mit seinen Anhängern in der Stadt feiern. Ob es das Passamahl selbst war, in der ersten Vollmondnacht des Frühlings, bleibt unsicher. Er wich vom üblichen jüdischen Mahlritual ab und ließ alle aus einem Gefäß trinken - vermutlich, um enges Zusammengehören auszudrücken. Er wird diesen Akt erklärt haben. Aber ob er es mit den Deuteworten tat, die zum ersten Mal in 1. Korinther 11,23-25 belegt sind, entzweit die Historiker. Dann überstürzten sich die Ereignisse. Verrat im eigenen Kreis. Ge­ fangennahme auf Befehl der Priesteraristokratie. Nächtliches Verhör; Sammeln von Anklagepunkten. Überstellen an die Römer. Kurzprozess. Der römische Präfekt Pontius Pilatus ließ ihn an einem Kreuz als poli­ tisch riskanten Aufrührer hinrichten. „König der Juden“ nagelten römi­ sche Soldaten als abschreckenden Grund über den Galgen: Wer ver­ sucht, Israel um sich zu sammeln, endet wie dieser, lautete die Botschaft. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, gellte einer seiner letzten Schreie. Seine Sache schien gescheitert. Der Jüngerkreis zerstob. In Galiläa (Markus 16,7), zwei - nach antiker Zählweise drei - Tage später, sah Petrus den toten Jesus als Lebendigen. Er erzählte das visuelle Erleben, woraufhin vier unterschiedlich zusammengesetzten Anhängergruppen ebenfalls ein solches Gesicht widerfuhr; ein sechstes holte spä­ ter den Pharisäer Paulus ein (1. Korinther 15,5-8). Die Anhängerschar hätte diese historisch gesicherten Visionen als Gespenstererscheinungen deuten können. Als fromme Juden jedoch interpretierten sie das Erle­ ben als den Anbruch der letzten Endereignisse, zu denen die Toten auferweckt werden (zum Beispiel Daniel 12): Mit Jesus sei der Erstling erweckt worden. Alle anderen Toten würden binnen kurzem folgen, so erwarte­ ten die ersten Christen. Gott würde also doch baldigst für alle Welt sichtbar erscheinen und nicht säumen. Gott schien mit Ostern zu hal­ ten, was Jesus versprochen hatte. Er band sich an dessen Prophetenworte. Jesus hatte Recht behalten, so stand zu folgern. Wenn Gott den Nazarener als den Erstling der Auferweckten heraushob - so ließ sich weiterdenken -, dann muss Gott auch in dessen vergangenem Leben besonders nah gewesen sein. Mit dem Auferweckungsakt schien Gott sich zu Jesu vorösterlichem Wirken zu bekennen. Der nächste Schritt der weltgeschichtlich bedeutsamen Interpretations­ 124 arbeit der ersten Christen schien folgerichtig: Alle Hoheitstitel, die das Judentum kannte, bezogen sie auf ihren Jesus. Er war der von Israel erwartete „Christus-Messias“ aus Davids Sippe - nur ohne politische Machtansprüche. Er war Israels „König“ - nur anders als die Römer fürchteten. Mit seiner Auferweckung erhöhte Gott ihn an seine Rechte und setzte ihn in die Würde des mächtigen „Gottessohns“ ein (Römer l,3f), zum „Herrn“, der im Gebet angerufen und dessen baldiges Wiederkommen als „Menschensohn-Weltenrichter“ ersehnt werden durfte. Andere frühe Christologien sahen die Gottessohnschaft bereits vor der Geburt aus Maria beginnen; Schöpfungsmittler sei er gewesen, in eins mit Gottes Weisheit und Schöpferwort. Unterschiedliche judenchristliche Schriftgelehrte zogen die hebräischen Schriften zu Rate, um Jesu Bedeutung auszuloten. Alles Weissagen und Erwarten Israels schien Gott erfüllt zu haben - in Christus Jesus.