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Der moralische Pakt

2020

Narratives and dramatic plays are usually based on a non manifest structure that can be conceived as a moral one, where you can find rules and sentences of having-to-do. The Moral Contract as a metaphor describes this fundamental basis, composed of three components: competition, exchange and contract. In this framework the narrative figures are bound to their acting. This volume 1 deals with such a structure, volume 2 will focus on the relation of the writer and his narrator just as on the relation of the narrator and the reader.

45 Skott Grunau Der moralische Pakt Das Fundamentalmoralische in der Literatur https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Skott Grunau Der moralische Pakt https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. LITERATURA WISSENSCHAFTLICHE BEITRÄGE ZUR MODERNE UND IHRER GESCHICHTE Herausgegeben von Andrea Bartl, Martin Huber, Stephan Kraft, Christine Lubkoll, Friedhelm Marx, Dirk Niefanger BAND 45 Der moralische Pakt ERGON VERLAG https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Skott Grunau Der moralische Pakt Das Fundamentalmoralische in der Literatur ERGON VERLAG https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Zugl.: Diss., Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, 2020 u.d.T.: „Der Moralische Pakt. Das Fundamentalmoralische in der Literatur“ Umschlagabbildung: Wolfgang Bräuer: Kopf-Stand, Tusche und Farbstift, 2019 Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des Künstlers Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Ergon – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb des Urheberrechtsgesetzes bedarf der Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen jeder Art, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für Einspeicherungen in elektronische Systeme. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG Umschlaggestaltung: Jan von Hugo www.ergon-verlag.de ISBN 978-3-95650-757-1 (Print) ISBN 978-3-95650-758-8 (ePDF) ISSN 1432-0274 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Vorwort Anlässlich des Films Stella von Takis Würger entbrennt im deutschen Feuilleton eine Debatte darüber, ob die Zeit der Nationalsozialisten als ‚Kulisse für eine Liebesgeschichte‘ missbraucht werden dürfe (die Jüdin Stella Goldschlag verrät Juden, um selbst mit dem Leben davonzukommen). In diese Debatte mischt sich im Januar 2019 Thomas Assheuer von der Zeit ein. Die ästhetische Theorie habe sich nach dem Mauerfall gefragt, was denn nun angesichts einer befriedeten Welt – ‚Weltgeschichte gewissermaßen am Ziel‘ – aus der kritischen Kunst werden solle. Postmoderne und neokonservative Autoren, so Assheuer, hätten die Antwort gegeben, „dass das alte Bündnis aus linker Kunst und linkem Fortschrittsdenken, aus Ästhetik und Moral definitiv der Vergangenheit angehört – die Bücher eines Günter Grass oder der Negativismus eines Theodor W. Adorno seien fossile Hinterlassenschaften einer versunkenen Epoche“ (Assheuer 2019, p. 37). Ich gebe Assheuer deshalb im Wortlaut wieder, weil hier eine merkwürdige Allianz behauptet wird, nämlich die zwischen Kritik (linkes Fortschrittsdenken) und Moral. Ist kritisch nur der Autor, der moralisch argumentiert oder erzählt? Assheuer lässt seinen Leser hier nicht im Unklaren. Er schreibt, dass sich die postmoderne Lehre durchgesetzt habe, die Kunst müsse nicht mehr kritisch (und ich ergänze: nicht mehr moralisch) sein, sondern ihr komme nur als ‚vornehmste Aufgabe‘ zu, „Geschichten und Metaphern in die Welt zu setzen, ästhetisch eindringliche Bilder, die der ebenso flüchtigen wie ungreifbaren Moderne einen fassbaren Sinne geben“ (Assheuer, 2019, p. 37). Wenn die Moderne ungreifbar und damit wohl unbegreifbar ist, dann folgert daraus erst einmal gar nichts – abgesehen von der logischen Irritation, dass ich einem unbegreifbaren Gegenstand ein erkanntes Merkmal zuschreibe. Assheuer geht es um die ‚vornehmste Aufgabe‘ der Kunst, nämlich Sinn zu vermitteln, das ‚symbolische Menschentier‘ mit Geschichten und Erzählungen zu füttern. Gegenüber den anderen Kreaturen zeichneten sich Menschen durch den ‚angeborenen Nachteil‘ aus, pausenlos nach Sinn zu hungern.1 Die Suche nach passenden Bildern für die Realität, so sagt Assheuer, diene nicht mehr der Wahrheitsfindung, sondern der Sinnbeschaffung.2 Was hat das mit der vorliegenden Arbeit zu tun? Nun, meiner These nach neigen Schriftsteller immer schon dazu, ihre Geschichten moralisch einzukleiden, und zwar in dem Sinne, als sie Grundelemente neuzeitlicher Gesellschaften – nämlich Konkurrenz und Austausch – 1 2 Vgl. auch hier (Assheuer, 2019, p. 37). Die Stoßrichtung des Feuilleton-Beitrags wird deutlich: Würger hat sich mit Stella an der Vergangenheit vergriffen in seiner Suche nach sinnstiftenden Bildern. Aber das ist nicht das Thema dieser Einleitung. https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. aufgreifen und diese mit ‚Bildern und Metaphern‘ illuminieren – und das dann dem Leser als ‚Sinn‘ vor seine Augen zu stellen. Damit wäre Literatur aber nicht nur bis zum Mauerfall als grundsätzlich moralisch anzusehen. Und ob dabei der jeweilige Roman, die Erzählung oder das Drama sich als gesellschaftskritisch zeigten3 oder nicht, ist unerheblich. Und die Sinnfrage? Steht sie wirklich in Opposition zur Wahrheit? Einmal von der fehlenden philosophischen Grundlegung des Begriffs der Wahrheit abgesehen, unterstellt Assheuer, dass der in Fiktionen aufscheinende Sinn – einfacher gesagt: Bedeutung – von vornherein unwahr sei. Damit sagt der ZEIT-Artikel über den Leser nichts Gutes. Ihn muss man sich im Assheuerschen Weltbild als sinnhungerndes Tier vorstellen, das eine Fiktion nur dazu nutzt, „die innere Leere zu dekorieren“ (Assheuer, 2019, p. 38). Meine Arbeit wird klären müssen, was es mit dem eben behaupteten Moralischen in erzählerischen Werken auf sich hat. 3 All das gilt es in der vorliegenden Arbeit aufzuzeigen und zu begründen. 6 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Inhaltsverzeichnis Einleitung ............................................................................................ 15 A. Moral .............................................................................................. 19 Ethik und Moral .......................................................................... 19 A.1. Der Moralische Pakt ............................................................. 1.1. Die Konstruktion .......................................................... 1.2. Die Elemente des Moralischen Paktes ............................. 1.2.1. Konkurrenz ......................................................... 1.2.2. Austausch ............................................................ 1.2.3. Kontrakt ............................................................. 1.2.4. Die Paragraphen des Moralischen Paktes ............... 22 22 23 23 25 27 29 A.2. Ricoeurs ‚kleine Ethik‘ ......................................................... 2.1. Ricoeurs Spaziergang mit Aristoteles: Das Selbst und das gute Leben .............................................................. 2.1.1. Erste Etappe: Die Ausrichtung auf das ‚gute Leben‘ des Einzelnen ........................................... 2.1.2. Zweite Etappe: Die Ausrichtung auf andere ........... 2.1.2.1. Die Freundschaft ...................................... 2.1.2.2. Die Fürsorge ............................................ 2.1.3. Dritte Etappe: Die Ausrichtung auf gerechte Institutionen ....................................................... 2.1.4. Zwischenbilanz Aristoteles ................................... 2.2. Ricoeurs Spaziergang mit Kant: Die moralische Norm ..... 2.2.1. Erste Etappe: Autonomie des Selbst ....................... 2.2.1.1. Der gute Wille ......................................... 2.2.1.2. Universalität ............................................ 2.2.1.3. Mensch als Zweck an sich selbst ................ 2.2.1.4. Selbstgesetzgebung ................................... 2.2.1.5. Konflikte der Autonomie .......................... 2.2.1.6. Reich der Zwecke .................................... 2.2.2. Zweite Etappe: Fürsorge und Norm ...................... 2.2.2.1. Die Goldene Regel ................................... 2.2.2.2. Menschheit vs. Person .............................. 2.2.2.3. Konflikte der Dialogizität ......................... 2.2.3. Dritte Etappe: Die Prinzipien der Gerechtigkeit ..... 2.2.3.1. Gerechtigkeit als Prozedur ........................ 2.2.3.2. Konflikte der Gerechtigkeit ...................... 2.2.3.3. Autonomie als Fiktion .............................. 32 33 33 36 36 38 42 46 47 47 48 49 51 51 52 54 55 56 57 59 61 61 63 64 7 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 2.2.4. Zwischenbilanz zu Kant ....................................... 2.3. Ricoeurs 'Neue Argumentationsethik' ............................ 2.3.1. Diskursethik ........................................................ 2.3.2. Entwurf einer 'Neuen Argumentationsethik' ......... 2.4. Bilanz und Exkurs ......................................................... 2.4.1. Prohaíresis als Motor der Handlung ...................... 2.4.2. Willenswahl und Überlegung ............................... 2.4.3. Die Klugheit und der Kluge .................................. 2.4.4. Praxis und Verantwortung .................................... 2.4.5. Rückblick und Vorschau ...................................... 66 69 69 71 72 73 74 75 76 79 B. Die Struktur der Erzählung ............................................................... 81 B.1. Greimas’ Drei-Ebenen-Modell ............................................... 1.1. Die Strukturale Semantik ............................................... 1.2. Die Tiefenebene ............................................................ 1.3. Die semio-narrative Oberflächenebene ............................ 1.4. Einfache narrative Aussagen ........................................... 81 82 84 88 90 B.2. Ricoeurs mimêsis I ............................................................... 2.1. Mythos und mimêsis ..................................................... 2.2. Semantik menschlichen Handelns .................................. 2.3. Symbolik menschlichen Handelns .................................. 2.4. Zeitlichkeit menschlichen Handelns ............................... 2.5. Einschätzung des Modells .............................................. 92 92 94 95 97 98 B.3. Greimas’ Aktantenmodell ..................................................... 3.1. Modell der Aktanten ..................................................... 3.2. Die Aktantenpaare ......................................................... 3.3. Korrektur des Aktantenmodells ...................................... 3.4. Die Energetik der Aktanten ............................................ 100 100 102 104 106 B.4. Der Greimas’sche Weg ......................................................... 4.1. Die Methode ................................................................. 4.2. Reduktion des Propp’schen Modells ............................... 4.2.1. Vladimir Propps Morphologie des Märchens ......... 4.2.2. Greimas’ erste Reduktion des Propp’schen Modells ............................................................... 4.2.3. Von der Reduktion zur Transformation ................. 108 108 112 113 B.5. Die Greimas’sche Ernte: das Transformationsmodell .............. 5.1. Das Modell ................................................................... 5.2. Die Prüfung .................................................................. 5.2.1. Die Diachronie der Prüfung ................................. 5.2.2. Prüfling und Triebkräfte ...................................... 119 119 122 123 127 8 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 116 117 5.3. Der Kontrakt ................................................................. 5.3.1. Definition 'Kontrakt' ........................................... 5.3.2. Der Kontrakt innerhalb von Erzählungen .............. 5.4. Die Kommunikation ..................................................... 5.4.1. Definition Kommunikation .................................. 5.4.2. Kommunikation im Strukturmodell ..................... 5.4.3. Individuum vs. Gesellschaft – oder die Willensfreiheit ..................................................... 5.5. Resümee und Überleitung zum modifiziertenTransformationsmodell ............................. 129 130 131 133 133 135 B.6. Verfeinerung des Transformationsmodells I ........................... 6.1. Modifizierung ............................................................... 6.2. Kontrakt ....................................................................... 6.3. Kommunikation ........................................................... 6.4. Prüfung ........................................................................ 6.5. Effi Briest als Illustration ................................................ 142 142 146 148 149 151 B.7. Theorie der Modalitäten (Greimas) ....................................... 7.1. Von der Kompetenz zur Performanz ............................... 7.2. Modale Strukturen ........................................................ 7.2.1. Modale Aussagen und Übermodalisation ............... 7.2.2. Modalität auf der Strukturebene ........................... 7.2.3. Nutzen der Theorie der Modalitäten ..................... 7.2.4. Matrix der Greimas’schen Begriffe ......................... 158 158 160 160 161 163 164 B.8. Ricoeurs mimêsis II .............................................................. 8.1. Ricoeurs Hypothese zur Rolle der Zeit ............................ 8.2. Das Modell ................................................................... 8.3. Integration des Episodischen .......................................... 8.4. Neuschöpfung und Sedimentierung ............................... 168 168 170 173 174 B.9. Ricoeur vs. Greimas ............................................................. 9.1. Vergleich ...................................................................... 9.2. Roland Barthes als Vermittler? ........................................ 9.3. Resümee ....................................................................... 176 176 178 181 137 139 C. Das Subjekt – oder die Figur als Zentrum der Erzählung .................... 183 C.1. Das Ricoeur’sche Selbst ........................................................ 1.1. Die personale Identität ................................................... 1.1.1. Selbigkeit und Selbstheit ...................................... 1.1.2. Der problematische Begriff der Selbstheit .............. 1.2. Die narrative Identität ................................................... 183 183 183 186 191 9 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 1.2.1. Das erzählte Selbst als Zuspitzung der Dialektikvon Selbstheit und Selbigkeit .................. 1.2.2. Korrelation von Figur und Handlung .................... 1.2.3. Das narrative Schema und die Lebens-Erzählung .... Exkurs: Kritik an den Narrativisten ....................... 1.2.4. Literatur als Laboratorium .................................... C.2. Zwischen dem Selbst und den Anderen: Übergang zur Handlung ............................................................................ 2.1. Selbst-Erkenntnis I: Passivitätserfahrungen ...................... 2.2. Selbst-Erkenntnis II: Das Ausgreifen auf die Welt ............ 2.2.1. Die Begierde ........................................................ 2.2.1.1. Hegels Sicht auf die Begierde .................... 2.2.1.2. Von der Begierde zum Besitz .................... 2.2.1.3. Die Wette zwischen Faust und Mephistopheles ........................................ 2.2.2. Genuss und Arbeit ............................................... 2.2.2.1. Der Herr – mangelhaftes Für-sich-Sein im Genuss ............................................... 2.2.2.2. Der Knecht – Für-sich-Sein in der Arbeit .... 2.2.2.3. Das Herr-Knecht-Verhältnis in Erzählungen ............................................ 2.2.2.4. Resümee und Weiterführung .................... 191 191 193 195 198 203 203 205 206 206 208 210 213 213 214 216 219 D. Die Handlung oder der Strudel in die Entfremdung ........................... 221 D.1. Autonomie .......................................................................... 1.1. Autonomie und Handlung ............................................. 1.2. Die Intention ................................................................ 1.3. Der Initialentwurf ......................................................... 221 221 222 223 D.2. Begrenzung der Autonomie .................................................. 2.1. Der Welthintergrund ..................................................... 2.2. Die Psychologie der Figuren .......................................... 2.3. Die Konfiguration von Handlung ................................... 2.3.1. Von Praktiken über Lebenspläne zur Lebenserzählung .................................................. 2.3.2. narro ergo sum .................................................... 2.3.2.1. Die Selbstschätzung ................................. 2.3.2.2. Der Bezug auf andere ............................... 2.3.2.3. Die gerechten Institutionen ...................... 2.4. Welthintergrund als Mangel und Wert ........................... 226 226 227 230 10 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 231 234 235 236 238 240 D.3. Die Sorge ............................................................................ 3.1. Die Sorge und das 'Man' ................................................ 3.2. Der Ausbruch aus dem 'Man' ......................................... 3.3. Faust und die Sorge ....................................................... 243 243 245 247 D.4. Die Entfremdung ................................................................. 250 4.1. Traditioneller Entfremdungsbegriff ................................ 250 4.2. Exkurs: Das unglückliche als entfremdetes Bewusstsein? ... 253 D.5. Verfeinerung des Transformationsmodells II .......................... 5.1. Entfremdung der Gesellschaft und des Individuums ........ 5.2. Erster Versuch: Der Weg des Helden ............................... 5.3. Zweiter Versuch: Entfremdung und Ent-Entfremdung ..... 5.4. Exkurs Erzählvarianten .................................................. 5.5. Modifizierung des Transformationsmodells II ................. 5.6. Der Tod in Venedig als Illustration ................................. 258 258 259 261 265 266 270 E. Das Wissen ...................................................................................... 273 E.1. Kommunikation .................................................................. 1.1. Der fiduziäre Akt der Kommunikation ........................... 1.2. Manipulation und Interpretation .................................... 1.3. Exkurs zur Veridiktion ................................................... 274 274 275 278 E.2. Lüge, Wahrheit, Geheimnis und Falschheit ........................... 2.1. Sortierung im veridiktorischen Quadrat .......................... 2.2. Unaufrichtigkeit ............................................................ 2.2.1. Falschheit: Unaufrichtigkeit sich selbst gegenüber ........................................................... 2.2.2. Lüge: Unaufrichtigkeit anderen gegenüber ............ 2.3. Erkennen und Verkennen .............................................. 2.3.1. Wahrheit: Erkennen und Wiedererkennen ............ 2.3.2. Geheimnis: Verkennen ......................................... 2.4. Aufrichtigkeit und Unaufrichtigkeit in der Literatur ........ 281 281 282 E.3. Das Gewissen ....................................................................... 3.1. Die Rolle des Gewissens ................................................. 3.2. Herausforderung I: Vom guten und schlechten Gewissen ...................................................................... 3.2.1. Gewissen und Autonomie .................................... 3.2.2. Das beurteilende und handelnde Bewusstsein ........ 3.2.2.1. Das Königinnenduell ............................... 3.2.2.2. Der Ausgleich zwischen handelndem und beurteilendem Bewusstsein ................ 282 284 284 285 288 289 296 296 297 297 298 299 301 11 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 3.2.3. Kritische Blicke aufs Gewissen: Hegel und Nietzsche ............................................................ 3.2.3.1. Hegel ...................................................... 3.2.3.2. Nietzsche ................................................. 3.3. Herausforderung II: Aufforderung und Verantwortung ... 3.3.1. Das Aufgefordertsein ............................................ 3.3.2. Die Verantwortung .............................................. 3.4. Herausforderung III: Der Anteil der Andersheit am Gewissen ...................................................................... 3.4.1. Zusammenfallen von Selbst und Anderem ............ 3.4.2. Der Andere im Ruf – die ‚Eigentlichkeit‘ des Selbst .................................................................. 3.4.3. Resümee ............................................................. 303 303 305 307 307 309 313 313 314 316 F. Die Anerkennung ............................................................................ 317 F.1. Auseinandersetzung mit Thomas Hobbes .............................. 1.1. Hobbes’ Herausforderung .............................................. 1.2. Die Antwort auf Hobbes ................................................ 1.2.1. Axel Honneths Antwort ....................................... 1.2.1.1. Die erste Stufe des Selbstbewusstseins: das ununterschiedene Ich ......................... 1.2.1.2. Der Ausgang aus dem tautologischen Ich ... 1.2.1.3. Die zweite Stufe des Selbstbewusstseins ..... 1.2.1.4. Mangel der zweiten Stufe des Selbstbewusstseins und Ausblick auf die dritte Stufe .............................................. 1.2.1.5. Erreichung der dritten Stufe des Selbstbewusstseins .................................... 1.2.1.6. Die Anerkennung .................................... 1.2.1.7. Resümee .................................................. 1.2.2. Kampf um Anerkennung ...................................... F.2. Die Weiterführung – Frieden und Liebe ................................ 2.1. Die Friedenszustände ..................................................... 2.2. Die agape oder die Paradoxie von Gabe und Gegengabe ... 2.2.1. Die Gabe oder der Begriff des Schenkens ............... 2.2.2. Von der Gabe zur Anerkennung ........................... 2.2.3. Die Dankbarkeit und das ‚gute Empfangen‘ ........... 2.2.4. Das Gabe-Gegengabe-Verhältnis als feste gesellschaftliche Institution .................................. 2.3. Das Ideal der Liebe ........................................................ 2.4. Alex Capus’ Louise und Léon ......................................... 12 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 318 318 321 321 322 322 324 325 327 328 331 333 336 336 336 337 338 339 340 344 346 2.5. Die Theorie der Anerkennung und der Moralische Pakt ... 349 F.3. Resümee und Rückführung .................................................. 354 3.1. Die Liebe als Gegenmodell zum Moralischen Pakt? ......... 354 3.2. Von der Liebe zurück zur Fürsorge ................................. 355 Epilog .................................................................................................. 359 Danksagung ......................................................................................... 361 Literaturverzeichnis .............................................................................. 363 13 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Einleitung Ich gebe einen kurzen Überblick über das nun Kommende. Ich gehe von der Grundthese aus, dass Erzählungen, aber auch Dramen in der Regel einen strukturellen Unterbau haben, in dem sich die Figuren auf eine bestimmte Art und Weise aufeinander beziehen: Sie nehmen Herausforderungen an, treten in Konkurrenz zueinander, übernehmen Verantwortung, halten sich dabei an Zugesichertes und Versprochenes. In den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts haben sich französische Philosophen über einen solchen strukturellen Unterbau Gedanken gemacht. Bei Algirdas Julien Greimas stoße ich auf drei Elemente, nämlich Konkurrenz, Kommunikation und Kontrakt, die mit dem eben beschriebenen strukturellen Unterbau eine große Ähnlichkeit aufzuweisen scheinen. Es wird sich lohnen, so meine Idee, sich das Greimas’sche Modell genauer anzuschauen und dessen Nähe zu meiner Hypothese eines Moralischen Paktes nachzuzeichnen. Ein solcher Pakt nun hat zwei Seiten: zum einen beschreibt er die Struktur literarischer Werke – und zwar durchaus sinnstiftend –, zum anderen – und das rechtfertigt die Metapher des Paktes – das Verhältnis zwischen Erzähler und Figur wie auch zwischen Erzähler und Leser (diesem zweiten Verhältnis werde ich mich in einem Folgeband widmen). Die vorliegende Arbeit muss nun zweierlei leisten: zum einen die Elemente des Moralischen Paktes in der Struktur von Erzählungen und Dramen tatsächlich dingfest machen und zum anderen das Moralische des Paktes nachweisen. In Teil A suche ich gemeinsam mit Paul Ricoeur, ebenfalls einem französischen Philosophen aus der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, nach den moralischen Implikationen der Elemente des Moralischen Paktes. Auf dem Ricoeur’schen Weg durch seine ‚kleine Ethik‘ werden wir auch Aristoteles und Kant begegnen. In Teil B wende ich mich Greimas zu und versuche – ohne mich allzu sehr in linguistischen Tiefen zu verlieren –, die von ihm sogenannte semio-narrative Oberflächenebene anschaulich zu machen, eine Ebene, die unterhalb der letzten, der Diskursebene, als eigentlicher Lektüreebene zu liegen kommt. Belebt wird jene Strukturebene dann in Teil C, und zwar durch die Figuren oder, um mit Greimas zu sprechen, die Rollenträger oder Aktanten. Dort wird uns vor allem Ricoeur begleiten, vor allem mit seinen Überlegungen zur narrativen Identität des Individuums, wobei ich mich zunächst nur mit dem Selbst befassen werde, das seiner Identität vor allem im Selbstbezug gewahr wird. In Teil D greift das Selbst auf die Welt aus. Handelnd bezieht es sich auf eine Welt begehrenswerter Objekte, aber auch auf eine Welt mit weiteren Subjekten, und zwar auf eine konkurrierende, polemische Weise. Der Bezug auf die eigene materielle Umwelt wird vom Prinzip der Sorge überwölbt, in der das https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Selbst sich einzurichten aufgefordert ist, sich einzurichten unter einem herrschenden Man gesellschaftlicher Bedingungen. Hier wird Heidegger nützliche Hinweise geben und uns zum Phänomen der Entfremdung führen. Teil E nimmt sich nun des letzten Elements der handelnden Individuen an, des Wissens oder Bewusstseins. Das Wissen ist nicht nur Bedingung des Handelns, sondern konstituiert sich aus einem wechselseitigen Bezug der Selbste aufeinander und aus deren Einrahmung im gesellschaftlichen Man. Hier bildet sich die ‚Gewissheit seiner selbst‘ in Gestalt des Gewissens heraus, einer Institution, mittels derer das Subjekt sich selbst aufruft. Das Prinzip des Anderen wird im Gewissen zur Geltung kommen, ohne die Autonomie des Selbst infrage zu stellen. Im abschließenden Teil F lasse ich meine These von Ricoeurs Wegen der Anerkennung auf die Probe stellen: Sind Solidarität, Fürsorge und Liebe – allesamt vermeintliche Gegenmodelle zum Moralischen Pakt – nicht ebenso ‚erzählbar‘? Hier wird sich entscheiden, ob meine These oder mein Modell eines Moralischen Paktes als einer fundamentalen moralischen Struktur aufrechterhalten werden kann. Was die beiden gedanklichen Hauptquellen der vorliegenden Arbeit angeht, Algirdas Julien Greimas (1917-1992) und Paul Ricoeur (1913-2005), so bieten beide Strukturmodelle von Erzählungen an – das eine mehr linguistisch-strukturalistisch, das andere eher hermeneutisch. Aber beide suchen nach gemeinsamen Merkmalen literarischer Werke. Ich möchte die Modelle der beiden – Greimas’ Transformationsmodell wie Ricoeurs Modell einer dreifachen mimêsis – nicht zu Steigbügelhaltern degradieren, sondern ihnen mit dem erforderlichen Respekt vor ihrer gedanklichen Leistung begegnen. Das heißt, meine Arbeit soll nicht als Kritik an den Modellen der beiden missverstanden werden, sondern ich nehme sie als Impulsgeber für eigene Gedanken, für das Modellieren einer eigenen, modifizierten Struktur. Erstaunlich ist es immer wieder gewesen, wie sehr sich deren Modelle meinem nähern (oder eben auch umgekehrt). Wenn ich das Greimas’sche Transformationsmodell modifiziere, dann stelle ich sein Modell nicht, wie gesagt, infrage, sondern nehme es als Anregung dankbar auf, um die Elemente des Moralischen Paktes dort einzubetten oder gar wiederzufinden. Dass sich dabei hin und wieder Verschiebungen ergeben – so beispielsweise bei der Problematik der Entfremdung –, ist, wenn sich meine These als robust erweisen sollte, nur ein Gewinn. Die Wirkkraft Ricoeurs auf meine Arbeit geht zwar zunächst von seinem Modell einer dreifachen mimêsis aus, im Verlauf meiner Arbeit dann aber mehr und mehr von seinen Gedanken zum Subjekt und dessen Identitätsfindung über den Anderen. * 16 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Die hier vorliegende Arbeit gibt sich im Anspruch bescheiden. Um das nicht als Floskel stehen zu lassen, möchte ich in einer kurzen Übersicht mögliche Missverständnisse bei der Lektüre auflisten. – Der Untertitel meiner Arbeit mutet alles andere als bescheiden an. Mit ihm wird in Aussicht gestellt, das Fundamentalmoralische in der Literatur auszumessen. Einem solchen Anspruch muss ich allerdings Grenzen setzen. Zum einen behaupte ich nicht, dass sich jedes Werk der Literatur an die Vorgaben meines Modells hält. Oder positiv formuliert: Die moralische Struktur literarischer Werke ist als Horizont oder Folie zu verstehen, mit der der einzelne Autor kreativ umgehen kann. Dass das durchaus verschiedene Ausprägungen im Laufe der Literaturgeschichte1 annehmen kann, sollte nicht gegen meine These sprechen. Und zum anderen möchte ich mit meiner Begrenzung auf Dramen und Erzählungen nicht ausschließen, dass mein strukturaler Aufriss nicht auch auf Lyrik anwendbar wäre. Die Berücksichtigung von Lyrik hätte umfangreicherer Untersuchungen bedurft, die den Rahmen dieser Arbeit gesprengt hätten. – Der Moralische Pakt wird durch Figuren weder hergestellt noch bestimmt, vielmehr ist er ihnen vorausgesetzt. Die Figuren richten sich an ihm aus, handeln ihn aber nicht aus. Mit seinen drei Elementen – Konkurrenz, Austausch und Kontrakt – sorgt der Pakt dafür, dass das Individuum sich bewährt, er ist also mehr Handlungsrahmen und weniger ein Instrument für individuelle Normenbildung. Gleichwohl gilt: Figur wie auch Leser sind dem Moralischen Pakt nicht ausgeliefert, sie vermögen von seinen Vorgaben abzuweichen, aber das stellt das, worauf es mir ankommt, nicht auf den Kopf: Der Pakt ist und bleibt den Subjekten vorausgesetzt und verdankt sich nicht deren Aushandlungen. – Was die Primärliteratur angeht, so spielt sie in der vorliegenden Arbeit lediglich die Rolle einer Illustratorin, die die jeweils in Rede stehenden Untersuchungsaspekte ‚bebildert‘. Sie ist keinesfalls dazu imstande, meine Hypothese im strengen Sinne zu beweisen. Was ich mit illustrierenden literarischen Werken hin und wieder in Erinnerung bringen möchte, ist der Gegenstand meiner Untersuchungen, nämlich – bei aller philosophischen Reflexion – die schöngeistige Literatur. Mit Illustrationen begebe ich mich methodisch ohnehin auf dünnes Eis, weil ich die Elemente des Moralischen Paktes zunächst einmal auf einer Strukturebene ansiedele, die unterhalb der eigentlichen Lektüreebene liegt, also unterhalb der besonderen Figuren in ihren besonderen Handlungen an besonderen Orten zu besonderen Zeiten. Dieser Unsauberkeit eingedenk, habe ich mich dennoch für diesen Weg entschieden, um bei dem einen oder anderen Aspekt etwas für die Imagination des Lesers anzubieten. 1 … ein Aspekt, den ich ebenfalls im Folgeband zu berücksichtigen mir vornehme. 17 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. – Daraus könnte sich eine zweite Kritik speisen, nämlich die, dass ich den Forschungsstand zur literarischen Primärliteratur nicht berücksichtige. Das wäre sicherlich notwendig geworden, wenn ich sie anders als lediglich illustrierend genutzt hätte, aber unter dieser – sagen wir – verkürzten Betrachtung solcher Werke schlummern keine hermeneutischen Ansprüche. Insoweit halte ich es für legitim, nicht über meinen Tellerrand hinausgeschaut zu haben. Zudem: Eine solche Extension hätte nicht nur der Stringenz meiner ohnehin manchmal ausufernden Überlegungen geschadet, sondern auch der Kohärenz. – Aber nicht nur die literaturwissenschaftliche Forschungsliteratur, sondern auch die aus dem Bereich der Ethik, besonders dem Bereich, in dem Ethik und Narratologie sich begegnen, scheint von mir unberücksichtigt geblieben zu sein. Ja, das ist richtig, allerdings verdankt sich ein solches ‚Ausblenden‘ der Überzeugung, dass sich die Mehrzahl der ethisch-narratologischen Untersuchungen auf die ‚Oberfläche‘ von Erzählungen und nicht auf deren Strukturebene beziehen. Gerade das sichtbar Moralische ist zunächst einmal nicht Gegenstand meiner Arbeit. Um stellvertretend Karen Joistens Sammelband zur Ethik, zum Erzählen des Guten und Bösen2 herauszugreifen, so geht eine Vielzahl dortiger Beiträge von dem Standpunkt der Narrativisten aus, Erzählungen in ihrer Hilfsfunktion für ‚ethische Aushandlungsprozesse‘ zu verstehen – ich bin oben bereits darauf eingegangen. Selbst solche Beiträge, die sich mit Ricoeurs Ethik und Hermeneutik befassen und damit meine Überlegungen unmittelbar berühren, enden bei dessen Standpunkt, dass sich das Individuum in seiner Identität nur darüber erfasse, dass es sich erzähle; und es sich nur erzählen könne, wenn es sich moralisch begreife – mit Blick auf ein ‚gutes Leben‘. Darauf wird in meiner Arbeit ausführlich und vor allem kritisch eingegangen. Es geht mir in meiner Arbeit also darum, ein moralisches Strukturgerüst in Erzählungen und Dramen aufzufinden, das vom Rezipienten dechiffriert werden muss, um deren vollumfängliche Bedeutung zu entdecken – wie ‚sinnhungrig‘ (wie Assheuer oben gesagt hat) er auch immer sein mag. Die vorliegende Arbeit gibt sich bescheiden – wie eben ausgeführt – und zugleich unbescheiden, denn ich bin davon überzeugt, dass es auf einer Strukturebene erzählender und dramatischer Literatur tatsächlich so etwas gibt wie einen moralischen Horizont, vor dem unzählige Geschichten erzählt werden. 2 (Joisten 2007) 18 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. A. Moral Ethik und Moral In diesem Teil wird es um die grundsätzliche Frage gehen, was unter Ethik und Moral zu verstehen sei. Dabei geht es nicht um eine grundsätzliche und abschließende Beantwortung der Frage, was Moral und Ethik sind, sondern lediglich darum, welche Aspekte der Moral in der vorliegenden Arbeit von Belang sind. Vorausschickend seien aber dennoch zunächst zwei, drei grundsätzliche Gedanken gestattet, was die Unterscheidung von Ethik und Moral angeht. Die auf die Antike, insbesondere auf Aristoteles zurückgehende Idee ist die folgende: ‚Gutes‘ und ‚richtiges‘ Handeln ist nicht nur Gegenstand von Tradition und Konvention, sondern muss von der Vernunft überprüfbar und gegebenenfalls korrigierbar sein. Die Frage also nach dem ‚Was soll und darf ich tun?‘ wird aus einem naiven Verhältnis zum Überkommenen befreit und dem Urteil der Vernunft überantwortet.1. Daran schließt sich die Frage an, wer denn nun menschliches Handeln überprüft oder wessen Vernunft das Handeln beurteilt. Aristoteles scheint an zwei prüfende Instanzen zu denken, an das im Handeln begriffene Subjekt selbst und an die Wissenschaft. Wirft man einen Blick auf sein Seelenmodell,2 so findet man hier die genuinen Orte beider Instanzen. Die erste Instanz ist die phronêsis, die Klugheit3, die zügelnd auf die Affekte des Individuums einwirkt und ihm damit den Weg zum guten und richtigen Handeln eröffnet; die Mesotes-Lehre4 stellt dafür den Leitfaden bereit. Das von 1 2 3 4 So schreiben die Herausgeber des Handbuchs Ethik in ihrer Einleitung, dass Aristoteles folgende Überzeugung vertreten habe: „es lasse sich auf begründete Weise etwas darüber sagen, wie man gut und richtig handeln soll und welche personalen Qualitäten dies voraussetzt“ (Düwell 2002, p. 1). Die Seelenteile (Aristoteles stellt sich die menschliche Seele als dreigeteilte vor): (1) Nährseele (Wachstum, Reifung, Verfall) (2) Sinnenseele: Sinnesempfindungen; Strebevermögen (Streben nach Lustvollem, Vermeiden von Schmerz); Affekte (Furcht, Hass …) (3) Denkseele: theoretisch-wissenschaftliches Vermögen, praktisch-abwägendes Vermögen. Vgl. (Höffe 2005, p. 505 ff.). Vgl. auch Günther Biens Skizze in seinen Erläuterungen zum ersten Buch der Nikomachischen Ethik (Aristoteles 1972, p. 273). Die Klugheit, so führt Aristoteles in seinem sechsten Buch seiner Nikomachischen Ethik aus, sei „ein untrüglicher Habitus vernünftigen Handelns […] in Dingen, die für den Menschen Güter und Übel sind“ (Aristoteles 1972, pp. 1140b, 5 ff.). Aristoteles nennt die hier formulierten Tugenden sittliche oder ethische Tugenden. Psychische Dimension für diese Tugenden sei der Habitus (Disposition), nämlich „das, was macht, daß wir uns in Bezug auf Affekte richtig oder unrichtig verhalten“ (Aristoteles 1972, pp. 1105b, 26 ff.). Und etwas weiter unten sagt er: „Ein lobenswerter Habitus wird aber Tugend genannt“ (Aristoteles 1972, pp. 103a, 9 f.). https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. der phronêsis beeinflusste begehrende oder strebende Vermögen hat insofern auch etwas Vernünftiges an sich, als „es auf sie [die phronêsis] hört und ihr Folge leistet“ (Aristoteles 1972, pp. 1102b, 32)5. Die zweite Prüfinstanz ist jener Teil der Seele, der ebenso wie die phronêsis dem rationalen Vermögen des Menschen entspringt, sich aber unabhängig vom singulären Handeln als ‚reiner‘ Verstand betätigt. Hier geht die Arbeit der Vernunft über zur wissenschaftlichen oder philosophischen Betrachtung menschlichen Handelns in sogenannten dianoetischen Tugenden:6 in der Kunst, der Wissenschaft, in der bereits erwähnten Klugheit,7 in der Weisheit und dem Verstand.8 Die Unterscheidung von situationsbezogenem ‚Nachdenken‘ über richtiges Handeln und abstraktem ‚Nachdenken‘ über die handlungsleitenden Ideen selbst, also die Unterscheidung zwischen den Normen in ihrer praktischen Anwendung einerseits und deren Legitimität andererseits, mag in der vorliegenden Arbeit mit den Termini ‚Moral‘ und ‚Ethik‘ abgekürzt werden. Auch Aristoteles versteht seine Nikomachische Ethik in diesem Doppelcharakter: Er richte sich vor allem an jene Hörer, „die ihr Begehren und Handeln vernunftgemäß einrichten“ (Aristoteles 1972, pp. 1095a, 10 ff.), biete für diesen Zweck aber eine ‚Wissenschaft‘9 an, eine Disziplin, die er als Teil der ‚Staatslehre‘ verstan- 5 6 7 8 9 Stellt sich noch die Frage nach dem Willen. Die sittliche Tugend, so Aristoteles, sei ein Habitus der Willenswahl und diese wiederum ein überlegtes oder ‚denkendes Begehren‘. Und das Prinzip, „in dem sich beides, Denken und Begehren, verbunden finden, ist der Mensch“ (Aristoteles 1972, pp. 1139b, 6 f.). Es bleibt an dieser Stelle unklar, wer nun das Handeln des Individuums bestimmt: die Tugenden, die Disposition dazu oder der Wille, wie autonom auch immer er sein mag. Die Zeilenangaben leiden unter einer minimalen Unschärfe, weil in der Felix-Meiner-Ausgabe von 1972 die Zeilengrenzen im Text nicht markiert sind. … in der Kunstfertigkeit (technê) – deren Zweck im Hervorbringen liege –; im Wissen (epistêmê); in der bereits erwähnten Klugheit (phronêsis) – die auf den begehrenden Seelenteil mäßigend einwirke, deren Gegenstand also die einzelne Handlung sei –; in der Weisheit (sophia) und schließlich im Verstand oder in der Vernunft (nous) – dem göttlichen Substrat der menschlichen Seele. Man kann sich die Klugheit als dianoetische Tugend vorstellen, die mittels der ethischen Tugenden (Mesotes-Lehre) auf die Handlungen des Individuums Einfluss nimmt. Oder, wie Höffe es ausdrückt: Die Klugheit „bildet zu den ethischen Tugenden […] als notwendige dianoetische bzw. intellektuelle Ergänzung jene Tugend, die die Mitte zu wählen versteht“ (Höffe 2005, p. 452). Erst in der Lebensform der Betrachtungen oder der Erkenntnis überschreite der Mensch die Abhängigkeiten der politischen Lebensform (bios politikos), die nur eine Glückseligkeit ‚zweiten Ranges‘ gewähre. Der bios theôrêtikos sei hingegen nur lebbar, wenn der Mensch etwas Göttliches in sich habe, diese Lebensform sei die eines Freien und gewähre die Glückseligkeit schlechthin; vgl. (Höffe 2005, p. 587 f.). Hier stimme ich dem Herausgeber der Nikomachischen Ethik, Günter Bien, nur unter Vorbehalt zu, dass die Aristotelische Ethik nicht wissen wolle, „was die Tugend sei, sondern auf welche Weise sie erworben werden könne“ (Aristoteles 1972, pp. 1102b, XXXVII). 20 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. den wissen möchte, also einer Lehre, die das Wohl des Gemeinwesens im Auge habe.10 Von Moral und Tugend(en) soll also in dieser Arbeit immer dann die Rede sein, wenn das Individuum in bestimmten Situationen zum Handeln schreitet und sich dabei geltender Normen bedient; und von Ethik dann, wenn philosophische Anstrengung sich auf die Rechtfertigung jener Normen (innerhalb oder auch außerhalb historischer Kontexte) richtet. Ähnlich ist die Unterscheidung, die die Autoren des Handbuchs Ethik vornehmen: „Moral bezeichnet […] die Gesamtheit der Überzeugungen vom normativ Richtigen und vom evaluativ Guten11 sowie der diesen Überzeugungen korrespondierenden Handlungen […]. Unter Ethik dagegen verstehen wir hier diejenige Disziplin, welche diese faktischen Überzeugungen und Handlungen einer philosophischen Reflexion unterzieht.“ (Düwell 2002, p. 2). Oder noch kürzer, wie es Nissing/Müller sagen: Ethik habe Moral zum Gegenstand und Thema: „Sie ist selbst nicht Praxis, sondern Theorie der Praxis“ (Nissing, Jörn Müller 2009, p. 7). Um Missverstände von vornherein auszuschließen: Paul Ricoeur – einer der diese Arbeit begleitenden Philosophen – definiert Ethik und Moral anders als üblich, nämlich bezogen auf den Inhalt von Lehrmeinungen. Ethik bedeutet für ihn „die Ausrichtung [visée] auf ein erfülltes Leben“ (Ricoeur 2005a, p. 208) – das, was man für gut halte. Von Ethik wolle er also nur dann reden, wenn das teleologische Prinzip aus dem aristotelischen Erbe bemüht werde. Den Terminus Moral hingegen sieht er vor für „die Artikulierung dieser Ausrichtung in Normen“ (Ricoeur 2005a, p. 208) – auf das, was sich als geboten aufdränge. Von Moral redet er also dann, wenn sich das deontische Prinzip aus dem Erbe Kants kundtut. Die vorliegende Arbeit wird dort, wo es Missverständnisse geben könnte, auf die besondere Lesart Ricoeurs hinweisen. 10 11 Aristoteles scheint in meinen Augen beides zu wollen, Wissenschaft und Handlungsanleitung: „Da die gegenwärtige Untersuchung keine bloße Erkenntnis verfolgt, […], so müssen wir unser Augenmerk auf die Handlungen und auf die Art ihrer Ausführung richten“ (Aristoteles 1972, pp. 1103b, 26 ff.). Wogegen sich Aristoteles mit seiner praktischen Philosophie abgrenzt, ist das, was er innerhalb der dianoetischen Tugenden Weisheit nennt, also gegen eine Art von Metaphysik, die sich nicht um menschliche Angelegenheiten kümmere, sondern um die ‚allwürdigsten Objekte‘ (Sterne, das Göttliche, den Kosmos); vgl. (Aristoteles 1972, pp. 1102b, XLVII). Vgl. (Aristoteles 1972, p. 1094b passim). An dieser Stelle nur so viel: Das evaluativ Gute, so die Autoren des Handbuchs, sei abhängig von bestimmten Vorstellungen vom guten und gelingenden Leben (lediglich Status von Ratschlägen und Empfehlungen). Das moralisch Richtige hingegen sei immer schon verbunden mit einem universalen und kategorischen Geltungsanspruch (Vorrang vor allen anderen Aspekten); vgl. (Düwell 2002, p. 1 f.). 21 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. A.1. Der Moralische Pakt 1.1. Die Konstruktion „Es gibt in Roman und Drama eine Kunst der sittlichen Fuge“ (Matt 1995, p. 143). Die vorliegende Arbeit wird es mit einer Übereinkunft von Erzählinstanz und Leser zu tun haben, die ich metaphorisch Moralischen Pakt nenne. Geistiger Vater eines solchen Konstrukts ist Peter von Matt.12 Literarischer Text und Leser schlössen wechselseitig einen ‚moralischen Pakt‘ miteinander, der sehr grundsätzlich zu verstehen sei, weil „alle Lust und alles Vergnügen, die vom Text offeriert werden, nur zu gewinnen sind, wenn der Leser zu dem Normenzusammenhang ja13 sagt“ (Matt 1995, p. 36). Der Pakt, so von Matt, formuliere seine Bedingung in etwa folgendermaßen: „‚Wenn du, Leser, wenn du, Leserin, diesen Sohn14 ebenfalls nichtswürdig findest, den Vater aber des Mitleids wert, dann wird dir dafür all jenes Vergnügen zuteil, das der Text freizusetzen imstande ist‘“ (Matt 1995, p. 37). Ein solches Konstrukt eines Paktes liegt auch der vorliegenden Arbeit zugrunde. Allerdings weiche ich von der Einengung auf Lust, Vergnügen und Genuss15 des Lesers ab. In meinen Augen ist der Moralische Pakt eine ‚Vereinbarung‘ zwischen Text und Leser, die sich nicht nur auf der Diskursebene, also der ‚sichtbaren‘ Ebene des Textes, abspielt, sondern auf einer tieferen Ebene, in der Strukturen für das Handeln der Figuren angelegt sind. Von Matt hingegen bewegt sich auf der Oberflächenebene des Erzähltextes, also auf einer Ebene, auf der der Text vom Leser – um mit Paul Ricoeur16 zu sprechen – bereits refiguriert wird. Das Konzept des Moralischen Paktes in der vorliegenden Arbeit reicht tiefer in die Ebene der Konfiguration, also dorthin, wo es um grundsätzliche Bezüge der Figuren aufeinander geht. Wenn ich von Konkurrenz und Austausch als moralischen Kriterien der Struktur eines Erzähltextes sprechen werde, dann hat das zunächst einmal nichts mit Lektürelust oder -genuss zu tun. Gleichwohl streite ich die Geltung des von Matt’schen Paktes auf der Refigurationsebene nicht ab, nur beschränkt er sich damit auf das sichtbar Moralische. 12 13 14 15 16 Für die Metapher, vor allem aber für ihre Verwendung an prominenter Stelle meiner Arbeit – nämlich im Titel – bedanke ich mich herzlich bei Peter von Matt. Kursivsetzung durch mich, S.G. Hier bezieht sich von Matt auf Johann Peter Hebels ‚Biblische Geschichten‘ und hieraus auf den Anfangssatz der Geschichte ‚Davids Flucht vor seinem Sohn Absalom‘: „Unter allem Unglück das schmerzhafteste verursachte dem König sein eigener nichtswürdiger Sohn Absalom“ (Matt 1995, p. 34). Von Matt schreibt: Der moralische Gehalt eines Werkes sei das, „was ich selbst im Genuß des Textes für richtig halte“ (Matt 1995, p. 37). … vor allem Ricoeurs dreibändiges Werk Zeit und Erzählung; vgl. (Ricoeur 2007a) ff. 22 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Die ‚Lautlosigkeit‘17 des Paktes, von der von Matt spricht, verweist bereits auf die tieferen Schichten von Erzählwerken. Ich pflichte von Matt durchaus bei, wenn er davon spricht, dass sein moralischer Pakt nicht zwingend mit der Tür ins Haus falle, sich die Ästhetik der Moral darin zeige, dass „eine sittliche Regel dem Leser behutsam vorgerückt wird, mit lockenden Lauten angeboten zur Annahme und Zustimmung“ (Matt 1995, p. 39). Von Matt hat also schon die Türklinke in der Hand hin zur Strukturebene unterhalb der sichtbaren Textoberfläche. Abschließend weise ich auf eine weitere Differenz hin: In dem Modell von Peter von Matt geht es um ein Verhältnis von ‚Erzählerlist und Leserlust‘18, während die vorliegende Arbeit eine grundsätzliche Einigkeit in der Affirmation fundamentaler moralischer Werte behauptet, und zwar auf beiden Seiten des Textes, einerseits auf der des Autors und Erzählers wie andererseits auf der des Lesers. Was allerdings nicht bedeutet – und da stimme ich von Matt nochmals zu –, dass der Moralische Pakt nicht auch von den Beteiligten aufgekündigt werden könnte. 1.2. Die Elemente des Moralischen Paktes Der Moralische Pakt besteht aus drei Elementen, die zum Teil in einem Ableitungsverhältnis zueinander stehen. Grundelement ist die Konkurrenz (oder der Kampf), woraus sich – als Milderung und Verstetigung – der Tausch ableitet, der wiederum kommunikationstheoretisch betrachtet werden kann und das Phänomen des Vertrags (nicht nur in seiner juridischen Form) inhäriert. Allerdings reduziere ich den Moralischen Pakt nicht auf zwei Grundelemente (Konkurrenz auf der einen und Austausch inklusive Vertrag auf der anderen Seite), sondern halte nach wie vor an der Triade von Konkurrenz, Austausch und Kontrakt fest. 1.2.1. Konkurrenz „Jeder versucht, sich selbst zu optimieren, sein Ich zu verbessern, und dieses optimierte Selbst auch im besten Licht erscheinen zu lassen, von Instagram bis Facebook. Die Selbsttechniken der Ich-Optimierung sind das eine, aber sie sind auch nicht zu trennen von einer Ideologie, die die Konkurrenz zur eigentlichen Conditio humana des menschlichen Wesens erklärt und auch zum Motor von Fortschritt. Wirtschaftliche Prosperität sei nur durch Konkurrenz zu haben, also dadurch, dass Menschen gegeneinander und für das kleine fiese Eigeninteresse agieren, und auch der technologische 17 18 vgl. (Matt 1995, p. 37). vgl. (Matt 1995, p. 45). 23 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Fortschritt komme deshalb in die Welt, weil Einzelne andere Einzelne übertrumpfen wollen.“ (Robert Misik in ‚Die Anstrengung der vielen‘; Der Freitag Nr. 36, 6.9.2018, S. 18) Konkurrenz ist Kampf und setzt eine Begrenzung begehrter Güter voraus; das Bedürfnis übersteigt das Befriedigungspotential: „Und wenn daher zwei Menschen das gleiche verlangen, in dessen Genuß sie dennoch nicht beide kommen können, werden sie Feinde“ (Hobbes 1996, p. 103). Für Thomas Hobbes ist der von ihm sogenannte Naturzustand nicht unmoralisch, jedermann sollte zwar nach Frieden streben, aber wenn er ihn nicht erlangen könne, dürfe er „alle Hilfen und Vorteile des Krieges suchen und von ihnen Gebrauch machen“ (Hobbes 1996, p. 108) – so lautet sein erstes Naturgesetz der Vernunft. Einen so vorgestellten bellum omnium contra omnes19 in geordnete Bahnen zu lenken, ist eine Anstrengung, die historisch – also nicht modellhaft wie bei Hobbes – begrenzte Lösungsideen hervorbrachte: Ein (sich absolut erklärendes) Individuum, wenige (sich auszeichnende) Individuen,20 konsumieren Privilegien und hohe Anteile des Reichtums einer Gesellschaft21 – auf Kosten Nicht-Privilegierter. Wo sich dieses Verhältnis zwischen menschlichem Bedürfnis und gesellschaftlichem Reichtum in ein ständig sich perpetuierendes Produktionsprinzip wandelt, wo das Prinzip der Konkurrenz zur bindenden Grundlage der Ökonomie erklärt werden soll, muss für Stabilität gesorgt werden: Das System trägt Sorge für die Verkehrswege zwischen Bedürfnissen und Gütern, vor allem durch die Einführung einer Vermittlungsinstanz, des Tauschwerts. Setzt sich diese Vermittlungsinstanz als notwendige Bedingung des Güterzugriffs allgemeingesellschaftlich im Geldwesen durch, sind die Bedürfnisträger gezwungen, Bedingungen für deren Erwerb zu akzeptieren (zum Beispiel die eigene Arbeitskraft als Erwerbsquelle einzusetzen). Das System trägt ferner Sorge für die Rechtfertigung des Prinzips der Konkurrenz, im besten Fall als einer dem Menschen ‚naturwüchsig‘ zukommenden Lebensbedingung. Der Grad der dabei zugestandenen Bedürfnisbefriedigung, aber auch die mengenmäßige Zuteilung von Gütern verdankt sich allgemein akzeptierten Grundsätzen (historisch durchaus in buntem Wechsel, also von der Bevorzugung von ‚Gottes Lieblingskindern‘ bis hin zur scheinbar herkunftsneutralen ‚Leistung‘). 19 20 21 Für Hegel habe dieser Zustand nur soweit etwas Allgemeines, als es dort einen allgemeinen Widerstand und die Bekämpfung aller gegeneinander gebe, „worin jeder seine eigene Einzelnheit geltend macht, aber zugleich nicht dazu kommt, weil sie denselben Widerstand erfährt, und durch die Anderen gegenseitig aufgelöst wird“ (Hegel 1988, p. 251). … aber niemals alle – denn damit wäre die Voraussetzung der Konkurrenz überwunden. Denkbar wäre jedenfalls auch eine Lösung, die entweder auf die Ausweitung des Güterangebots zielt oder auf die Anpassung der Bedürfnisse an den Umfang des Gütervorrats. 24 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Je mehr Autonomie dem Individuum im Zuge der Entfaltung der modernen Gesellschaft zugestanden wird, desto mehr kommt die Moral ins Spiel. Sie sorgt für die Akzeptanz der von außen kommenden ‚Regeln‘, die damit ihren Zwangs- oder Verordnungscharakter zu verlieren scheinen. Und zuletzt betritt die Literatur das Spielfeld. Sie bildet, so die These der vorliegenden Arbeit, das Grundmodell der Konkurrenz ab und liefert in Bildern der Zumutung und Herausforderung die moralischen Maßstäbe gleich mit. Selbst wo literarische Werke sich bei der Explikation von moralischen Werten zurückzuhalten oder sie gar zu negieren und Orientierung gegen den Strom zu offerieren scheinen, kann sich das System auf Kultur-sozialisierte Leser verlassen, die das erste Grundelement des Moralischen Paktes – die Konkurrenz als unhintergehbaren Bezug der Individuen aufeinander – akzeptieren. 1.2.2. Austausch Tausch setzt Ungleiches gleich und sorgt für einen Händewechsel. Aufgrund einer den Gütern zukommenden Äquivalenz sind sie austauschbar und aufgrund einer Verschiedenheit sind sie auf die Güter- oder Wert-Einschätzung des jeweiligen Tauschpartners bezogen. Nach Hegel liege eine Willenskundgebung zugrunde, eigenes Eigentum aufzugeben und es in den anderen Willen übergehen zu lassen. Die Leistung (oder Sache) selbst weise einen Unterschied auf, den zwischen ihrer besonderen Beschaffenheit einer Substanz, dem Wert, „in welchem jenes Qualitative sich in quantitative Bestimmtheit verändert; ein Eigentum wird so vergleichbar mit einem anderen und kann qualitativ ganz Heterogenem gleichgesetzt werden. So wird es überhaupt als abstrakte, allgemeine Sache gesetzt“22 (Hegel 1970, p. 308). Der Tausch ist in entwickelten Gesellschaften die Gussform für die ungezügelte Konkurrenz um Güter, allerdings um ein weiteres Element zu einer höheren Legierung angereichert: die ausschließliche und dauerhafte Verfügung über die einmal in Besitz genommenen Güter: Privateigentum. Wenn die Verfügungsgewalt des Eigentums gesellschaftlich nicht garantiert wäre, wäre die Genussruhe dahin und Tausch hätte wenig Sinn. Es gäbe kein gesichertes Mein und Dein, „jedem gehört, was er bekommen kann, und so lange, wie er es halten kann“ (Hobbes 1996, p. 107). Tausch ist auf der einen Seite Einhegung der Konkurrenz oder, wenn man so will, Schadensbegrenzung, auf der anderen Seite aber auch Entfesselung: Wenn alles zum Objekt des Tauschs werden kann, dann wird der Tausch zum exklusi- 22 Das ist die Kernstelle, auf die Marx in der Bestimmung der Ware als Tauschwerts zurückgreifen wird. 25 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. ven Medium des Zugriffs auf Güter und damit zum vorrangigen ‚Überlebensmittel‘.23 Der Tausch schafft die Konkurrenz nicht aus der Welt, sondern überwölbt sie als Ideal: Auch im Tausch geht es um den Zugriff auf begehrte Güter, nur dass aus einseitiger Aneignung bzw. Deprivation als Konsequenz des Kampfes eine wechselseitige wird, in der der Verlust durch den beiderseitigen Gewinn nicht mehr als solcher registriert wird.24 Der Tausch ist nicht nur die ideale Spiegelung der Konkurrenz, sondern er streicht aus der Zusammenführung zweier Konkurrenzsituationen Verlust und Niederlage auf beiden Seiten heraus. Der Tausch setzt dabei zweierlei voraus: zum einen, wie bereits erwähnt, die exklusive Verfügungsmacht über das Gut, das ich in den Tausch einbringe, und zum anderen die Verlässlichkeit der Tauschpartner,25 sich an den Wechsel der Eigentumstitel zu halten. Hat der Tausch sich als allgemein geltendes Modell des Händewechsels in einer entfalteten Ökonomie etabliert, wird er selbst zum Gegenstand der Konkurrenz: Händler konkurrieren um Käufer, Käufer um den besten Preis. Exkurs Kommunikation Individuen treten sich im Tauschverhältnis als Privatbesitzer von Gütern gegenüber, die der jeweils Andere begehrt. Jeder Tauschakt ist auch ein Akt der Kommunikation. Greimas und Courtés stellen in ihrem Wörterbuch zur Semiotik und Sprache den Kommunikationsbegriff in einen generellen Zusammenhang.26 Menschliche Handlungen fänden auf zwei Achsen statt: Auf der einen – der ‚Achse der Produktion‘ – veränderten Menschen die Natur (‚action on things‘), auf der anderen – der ‚Achse der Kommunikation‘ – bezögen sich Menschen aufeinander (‚action on other persons‘). Diese zweite Achse der Kommunikation könne man auf zwei Arten interpretieren, als Kommunikation27 zwischen Subjekten oder als Übertragung von 23 24 25 26 27 Privateigentum ist eine soziale Konstruktion, die das bereits Angeeignete sichert und Freiraum schafft für kommende Aneignungen. Die Aristotelische Pleonexia – das Mehrhaben(wollen) – führe zu einem Zuviel an Gücksgütern und verstoße in der Überschreitung des rechten Maßes gegen den Geist der Gerechtigkeit; vgl. (Höffe 2005, p. 465 f.) Die Gier, die Verkehrung des Reichtums zum Selbstzweck, das Ansammeln des Geldes ins Unbegrenzte, erinnert Höffe an den Akkumulationsprozess des Kapitals; vgl. (Höffe 1999, p. 224) So viel zu einer Begleiterscheinung jener ‚Entfesselung‘. Der Tausch, so Greimas, sei erst dann realisiert, wenn nach seinem Vollzug die ausgetauschten Objekte ihren Wert für die Ausgangssubjekte verloren hätten: „if with every canceled relation, the value associated with S1 ceases to be a value for S2, and conversely“ (Greimas 1987, p. 101). Ein ausgeglichener Tausch, so Greimas, erfordere wechselseitiges Vertrauen. Tausch benötige also einen ‚fiduciary contract‘ zwischen den Tauschpartnern (vielleicht am besten mit ‚Vertrag auf Treu und Glauben‘ zu übersetzen); vgl. (Greimas 1987, p. 102). Vgl. (Greimas & Courtés 1982, p. 37 ff.). Kommunikation hier im engeren Sinne. 26 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Wertobjekten (‚transfer of objects of value‘). Ein solcher Wertetransfer, der sich – einseitig betrachtet – als Aneignung oder Verlust manifestiere, führe direkt zum Phänomen des Tauschs. Dieser sei ein wechselseitiges Geben und Nehmen zwischen Sender und Empfänger und sorge für die Zirkulation von Werten. Das Ideal eines solchen kommunikativen Aktes formuliert Habermas folgendermaßen: „Kommunikativ nenne ich die Interaktionen, in denen die Beteiligten ihre Handlungspläne einvernehmlich koordinieren; dabei bestimmt sich das jeweils erzielte Einverständnis an der intersubjektiven Anerkennung von Geltungsansprüchen“28 (Ricoeur 2005a, pp. 340, Anm. 71). Habermas definiert hier Kommunikation bereits vor dem Hintergrund von Konkurrenz und Austausch. Es geht um die Einvernehmlichkeit der Koordinierung: Jeder handelt so, dass auch dem Gegenüber seine Interessen zu verfolgen gestattet ist, beide erkennen die Ansprüche des Anderen an. Und diese Ankerkennung, wiewohl oben schon berührt, führt zum letzten Element des Moralischen Paktes, zum Kontrakt. 1.2.3. Kontrakt Verträge, so Hobbes, bestünden in nichts anderem als „in wechselseitiger Übertragung oder Austausch von Rechten“ (Hobbes 1996, p. 113). Die Übertragung könne mit der einer Sache einhergehen (Austausch von Waren), aber auch mit Vertrauen29 in die Einhaltung eines Versprechens oder der Treue, wenn die Leistungen der Vertragspartner in der Zukunft lägen. Doch ein solcher Vertrag, der Vertrauen voraussetze, sei nach Hobbes im Naturzustand nichtig, es gäbe dort keine zwingende Macht, die ‚Ehrsucht, Habgier, Zorn und andere Gemütsbewegungen‘30 zügeln könnte. Wer also im Naturzustand „die Leistung zuerst erbringt, liefert sich daher nur seinem Feind31 aus“ (Hobbes 1996, p. 111). Erst „wenn über beide eine öffentliche Macht gesetzt ist mit genügend 28 29 30 31 Ricoeur zitiert hier Jürgen Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/M. 1983, S. 68. Wie oben bereits angemerkt: Ein ausgeglichener Tausch, so Greimas, erfordere wechselseitiges Vertrauen. Tausch benötige also einen ‚fiduciary contract‘; vgl. (Greimas 1987, p. 102). Hobbes setzt voraus, was er bereits vorfindet: Menschen befänden sich ständig in Konkurrenz um Ehre und Würde, was zu Neid und Hass und schließlich zum Krieg führe. Das ist zwar angesichts des Bürgerkriegs in England in der Mitte des 17. Jahrhunderts nachvollziehbar, rechtfertigt aber nicht die Ausweitung auf noch so naheliegende Rückschlüsse auf die ‚Natur des Menschen‘. Kant sieht das am Ende des ersten Teils seiner Rechtslehre (Metaphysik der Sitten) ähnlich: Niemand müsse sich im Naturzustand des Zugriffs auf die Güter des Anderen enthalten, ja, es wäre geradezu töricht, auf eine gute Gesinnung des Anderen zu setzen: „denn was sollte ihn verbinden, allererst durch Schaden klug zu werden, da er die Neigung des Menschen überhaupt über andere den Meister zu spielen […] in sich selbst hinreichend wahrnehmen kann, und es ist nicht nötig, die wirkliche Feindseligkeit abzuwarten; er ist zu 27 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Recht und Gewalt, um die Leistung zu erzwingen“, sei der Vertrag gültig (Hobbes 1996, p. 114). Jene Macht sichere Beständigkeit und Dauerhaftigkeit der Verträge, indem sie die Einzelnen in Schrecken halte und deren Handlungen auf das gemeinsame Wohl lenke.32 Eine kurze Unterbrechung an dieser Stelle möge den Blick darauf lenken, was Hegel unter Verträgen versteht. Er leitet in seiner Enzyklopädie des Geistes33 den Vertrag vom Eigentum ab. Die Person34 finde ihre erste Erfüllung in einer äußerlichen Sache (als Mittel der Persönlichkeit). Indem sie ihren persönlichen Willen in die Sache hineinlege, werde der Besitz zu Eigentum35. Ihr Wille habe in der Sache ein ‚erkennbares Dasein‘, sodass die eine Person mit anderen freien und selbstständigen Personen – vermittelt über die Sache – zusammenkommen könne. Da der Wille der Person in dieser bestimmten Sache liege, könne diese Sache nur mit ihrem Willen an einen Anderen übergehen: der Vertrag.36 Zurück zu Hobbes. Der Vertrag, den die Individuen im Naturzustand miteinander schließen37 – jedes mit jedem, nicht mit dem künftigen Souverän –, führe sie aus jenem ‚elenden Kriegszustand‘ heraus. Ihr Motiv, ihr ‚letzter Zweck‘ sei die „Vorsorge für ihre Selbsterhaltung und dadurch für ein zufriedenes Leben“ (Hobbes 1996, p. 141). Zwar lasse sich der Mensch gern von seinen ‚Naturgesetzen‘ leiten – also von ‚Gerechtigkeit, Mäßigkeit, Billigkeit, Erbarmen‘, kurz von der Goldenen Regel38 –, aber nur so lange, wie er es ‚gefahrlos‘ tun könne. Ansonsten lasse er sich von seinen ‚natürlichen Gemütsbewegungen‘, von „Parteilichkeit, Hochmut, Rachedurst und dergleichen fortreißen“ (Hobbes 1996, p. 141). 32 33 34 35 36 37 38 einem Zwange gegen den befugt, der ihm schon seiner Natur nach damit droht“ (Kant 1975a, pp. 424, § 42). Vgl. (Hobbes 1996, p. 144). Zu Beginn seiner zweiten Abteilung zur Entwicklung des ‚objektiven Geistes‘: A. Das Recht; vgl. (Hegel 1970, p. 303 ff.). Person, so Hegel in § 488, sei das Bewusstsein, das sich in seiner Einzelheit als absolut freier Wille wisse (= das ‚Sichwissen‘ dieser Freiheit); vgl. (Hegel 1970, p. 306). Damit führt Hegel Eigentum als Zweck der Persönlichkeit ein. Wer im Eigentum die Bewährung seiner Freiheit und Selbstbestimmung sieht, nimmt jeden Angriff auf das Eigentum als Angriff auf seine Person, die mit allen Mitteln zu verteidigen gerechtfertigt erscheint. Oder schärfer formuliert: Privateigentum wird von Hegel als grundlegender oder erster Zweck des Personenbegriffs definiert (Erfüllung). Damit legitimiert sich alles Weitere, das sich aus dem Privateigentum ableitet, also aus einem Verhältnis, in dem die Verfügung über Sachen den Zugriff aller anderen ausschließt. Vgl. §§ 488-492, (Hegel 1970, p. 306 f.). Die Entscheidung, aus dem Naturzustand heraus in ein Vertragswerk willentlich und verlässlich einzutreten, überspringt Jahrhunderte der Sozialisation. In der Hobbes’schen Formulierung hört sich das so an: „andere so zu behandeln, wie wir behandelt zu werden wünschen“ (Hobbes 1996, p. 141). Ausführlicheres zur Goldenen Regel weiter unten im Abschnitt zur Fürsorge und Norm (siehe zweite Etappe des Spaziergangs Ricoeurs mit Kant). 28 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Da nun ‚Verträge ohne das Schwert‘ nur Worte und kraftlos seien, übertrügen die einsichtigen Bewohner im Ausgang aus dem Naturzustand all ihre Macht und Stärke einem Menschen oder einer Versammlung von Menschen, die künftig eben mit jenem Schwert – nach innen wie nach außen – drohten, um Sicherheit, Frieden und Wohlstand zu garantieren. In der Ermächtigung des Souveräns – des großen Leviathan oder sterblichen Gottes – unterwürfen sich die Einzelnen dessen Willen und Urteil und würden dadurch zu Untertanen. Diese Ermächtigung, so präzisiert Hobbes, sei mehr als ‚Zustimmung und Eintracht‘: „es ist eine wirkliche Einheit von ihnen allen in ein und derselben Person“39 (Hobbes 1996, p. 145). Ein solches Vertragsmodell zwischen den freien Subjekten, das sie bei Hobbes zu Untertanen macht, ist Bedingung und Verfahren zugleich für die Geschäfte innerhalb der tauschgeregelten Konkurrenz moderner Gesellschaften. Das Modell eines Vertrags zwischen allen Individuen einer Gemeinschaft, ihr Einverständnis, ihre vorher unbegrenzte Freiheit zugunsten von Sicherheit, Verlässlichkeit und Beständigkeit aufzugeben, findet sich in rechtlichen und moralischen Normen als Rahmen wieder, innerhalb dessen die Individuen in fast allen ihren Belangen miteinander in Beziehung treten. Ein solch fundamentales Verfahren, das Konkurrenz und Kampf nicht außer Kraft setzt, sondern eher ‚moderiert‘, ist auch jenseits von Ökonomie und Rechtsstaat wiederzufinden, nämlich im Privaten (Versprechen, Treue, Verlässlichkeit, ja selbst in der Liebe): ein von literarischen Erzählungen immer wieder favorisierter Gegenstand. Im nun Folgenden werde ich mich zunächst mit der Frage beschäftigen, inwieweit die Elemente des Moralischen Paktes sich überhaupt als moralisch qualifizieren lassen. Dieser Frage nach den moralischen Implikationen (auf nun folgenden Spaziergängen mit Ricoeur, Aristoteles und Kant) wird sich der Versuch anschließen, sie in der Struktur literarischer Erzählungen aufzuspüren. Dabei wird wiederum Ricoeur zu Wort kommen, aber auch Algirdas Julien Greimas, der in seiner Strukturalen Semantik von 1971 die Elemente des Moralischen Paktes bereits beim Namen nennt: Kampf – Kommunikation – Kontrakt. Sehr originell scheint meine Idee also nicht zu sein. Man wird sehen. 1.2.4. Die Paragraphen des Moralischen Paktes Um meiner Freude an Metaphern weitere Nahrung zu geben, möchte ich die des Moralischen Paktes als Gesetzes-Auszug visualisieren. Bei aller Autonomie beziehen sich literarische Figuren gemäß einem bestimmten Muster aufeinander: Sie stellen sich der Konkurrenz (subjektiv als Herausforderung erlebt), be39 Damit kommt Hobbes der aufklärerischen Identitätsthese im Rousseauschen contrat social schon bemerkenswert nah. 29 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. währen sich in ihr regelgemäß, erkennen den Anderen an (als ihresgleichen und dessen Freiheit als Grenze der eigenen Freiheit akzeptierend). Und sie lassen nicht nach, stehen auch nach einer Niederlage wieder auf, um sich der nächsten Herausforderung zu stellen. Dabei übernehmen sie Verantwortung für ihre Handlungen und halten Wort. Was aber ist nun das Moralische an diesem Pakt? Zunächst einmal das Naheliegende, das ins Auge Fallende: die Form. Die ethischen Komponenten des Paktes bestehen vor allem darin, als Sollenssätze dem Individuum gegenüberzutreten, der Figur wie auch – nur anders vermittelt – dem Leser40. Aber auch vom Inhalt her ist dieser Pakt durch und durch moralisch, seine Elemente sind ethischer Natur: Die Konkurrenz spiegelt sich subjektiv als Herausforderung, die anzunehmen als moralische Pflicht aufscheint – mehr oder weniger deutlich. Das zweite Element des Austauschs basiert auf der Werteäquivalenz der auszutauschenden Güter, möge die Wertzuschreibung noch so illusorisch, subjektiv oder ideal sein. Und zuletzt der Kontrakt: Hier liegt das Moralische auf der Hand, es gründet in der Verlässlichkeit der Vertragspartner, im Pacta-sunt-servanda-Prinzip vor aller rechtlichen Kodfizierung. Um abschließend einem möglichen Missverständnis vorzubeugen: Die Elemente des Moralischen Paktes sind nicht ins freie Belieben der Figuren gestellt, sondern sie bestimmen ganz grundsätzlich deren Verhalten. Sie sind so etwas wie Folie oder Hintergrund ihres Denkens und Handelns. Sie sind den Figuren als narratives Schema vorausgesetzt. 40 Das wird im Folgeband dieser Arbeit zu untersuchen sein. 30 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 31 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. A.2. Ricoeurs ‚kleine Ethik‘ Wenn in einer Arbeit wie dieser die Moral der Bezugspunkt für narratologische Überlegungen sein soll, dann erscheint es zwingend, sie zunächst umfänglicher in den Blick zu nehmen. Doch die Gefahr, sich gleich zu Beginn auf dem Feld der Ethik zu verlieren, darf hier nicht unterschätzt werden. Was also tun? Die Idee ist, gleich zu einem der beiden Protagonisten zu springen, die in der vorliegenden Arbeit die Hauptrolle spielen werden, nämlich zu Paul Ricoeur, der sich in seinem Gesamtwerk immer wieder mit der Ethik auseinandersetzt, vor allem in seinem Spätwerk Das Selbst als ein Anderer.41 Er entwirft dort eine ‚kleine Ethik‘42, in der vor allem Aristoteles und Kant43 prominente Plätze einnehmen: „Unser letztes Wort […] sei dem Hinweis gewidmet, daß die praktische Weisheit, nach der wir suchen, darauf abzielt, die phronèsis im Sinne des Aristoteles über die Moralität im Sinne Kants mit der Sittlichkeit im Sinne Hegels zu versöhnen“ (Ricoeur 2005a, p. 351). Damit wird eine vorschnelle Festlegung entweder auf einen teleologischen oder auf einen deontischen Ansatz vermieden, also auf die beiden grundsätzlichen Legitimationshorizonte moralischen Handelns: Handeln um eines für würdig erachteten Zieles willen (Teleologie) oder Handeln allein um der Pflicht willen (Deontologie). Unter ‚ethischer Ausrichtung‘ versteht Ricoeur „die Ausrichtung auf das ‚gute Leben‘ mit Anderen [autrui] und für sie in gerechten Institutionen“ (Ricoeur 2005a, p. 210). Das sind mindestens drei Implikationen, die im Folgenden betrachtet werden müssen: die des guten Lebens selbst, die eines solchen Lebens mit Anderen und die einer Letztausrichtung auf gerechte Institutionen.44 Auf einer ersten Wegstrecke seiner ‚kleinen Ethik‘ (in der 7. Abhandlung)45 lässt sich Ricoeur von Aristoteles begleiten, später dann wechselt er zu Kant. Den Etappen dieser Wegstrecken legt Ricoeur die Ordnung seiner Ethik zugrunde, ebendie Ordnung jener ‚ethischen Triade‘. 41 42 43 44 45 Ricoeur unterstellt seine Überlegungen zur Ethik einem narratologischen Erkenntnisinteresse. Die komplexen Handlungen narrativer Fiktionen seien reich an Antizipationen ethischer Natur, so Ricoeur: „Erzählen […] bedeutet einen imaginären Raum von Gedankenexperimenten auszubreiten, in denen das moralische Urteil im hypothetischen Modus durchexerziert wird“ (Ricoeur 2005a, p. 208). Zudem schlägt auch Liebsch vor, Zeit und Erzählung und Das Selbst als ein Anderer im Begriff der narrativen Identität konvergieren zu lassen; vgl. (Liebsch 1999, p. 22). … die er selbst so nennt: vgl. (Ricoeur 2005a, p. 351). Hegel und weitere Philosophen werden in der vorliegenden Arbeit lediglich gestreift, das philosophische Fundament dieser Arbeit ist ohnehin schon bedenklich breit angelegt. Ausführlich in Franz Prammers Beitrag auf dem eben genannten Kolloquium: (Breitling, S. Orth und B. Schaaff 1999, p. 13 ff.). Vgl. (Ricoeur 2005a, p. 207 ff.). 32 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 2.1. Ricoeurs Spaziergang mit Aristoteles: Das Selbst und das gute Leben Ricoeur und Aristoteles legen auf ihrem Spaziergang drei Etappen zurück. Auf der ersten sprechen sie über die Selbstschätzung des Einzelnen und die Rolle, die die Glückseligkeit dabei spielt. Auf der zweiten thematisieren sie Freundschaft – der Freund als zweites Selbst – und Fürsorge, wobei die Freundschaft in der Mitte zwischen Fürsorge und einem Zur-Verantwortung-gezogen-Werden zu liegen kommt. Das ihnen zugrunde liegende Prinzip der Gleichheit findet er dann auf der dritten Etappe als Gerechtigkeit der Institutionen wieder. Auf dieser dritten Etappe wird aus dem individuellen Angesicht der zweiten Etappe, für den das Selbst sorgt, ein jeder, dem Gerechtigkeit widerfährt. 2.1.1. Erste Etappe: Die Ausrichtung auf das ‚gute Leben‘ des Einzelnen Was oben in den einleitenden Gedanken zu Aristoteles bereits erwähnt worden ist, ist dessen zentrale Idee eines guten Lebens. Er geht von etwas in seinen Augen Selbstverständlichem aus, dass nämlich alles Wissen und Wollen auf ein Gutes ziele und das höchste Gut für den Menschen die Glückseligkeit (eudaimonia)46 sei. Es gehe, so erläutert Helmut Kuhn in einem Beitrag aus einer Festschrift für Gadamer, es gehe Artistoteles um eine ‚fundamentale Seinsbejahung‘, um das Ausgerichtetsein auf das Gute als Grundform menschlicher Tätigkeit: „Etwas intendieren heißt: dies Etwas als ein Gutes intendieren. Allem Tun liegt eine Bejahung zugrunde47, durch die der Tuende sich, das ist sein eigenes Sein, mitbejaht“ (Kuhn 1960, p. 123 f.). Glückseligkeit verstehe jeder anders, weil er sie konkret auf seine Interessen beziehe.48 Aristoteles aber will herausfinden, was sie für alle, für den Menschen ist. Da das, was ihn von anderen Lebewesen unterscheide, die vernünftige Tätigkeit seiner Seele sei, könne das höchste Gut oder die Glückseligkeit nur in einer der Tugend gemäßen Tätigkeit der Seele liegen, und zwar für die Dauer des gesamten Lebens. Tätigkeit versteht Aristoteles hierbei nicht nur als inneres Phänomen der Seele – der Habitus oder die Disposition allein genügten nicht –, sondern als wirkliche Tat, als Verrichtung49 von etwas Gutem. 46 47 48 49 Vgl. (Aristoteles 1972, pp. 1095a, 14 ff.). Durch die Entscheidung (prohairesis) werde ein Gegenstand gegenüber einem verneinten anderen bejaht. Prohaíresis und Praxis seien nicht dasselbe, erstere ist nach Kuhn die archê der Praxis. Näheres weiter unten in Bilanz und Exkurs. Der Gegenstand praktischer Philosophie sei Unbeständigkeit bzw. Ambiguität, so dass Aussagen nur eine ‚Zumeist‘-Geltung beanspruchen könnten. Das schlösse aber nicht aus, dass die Ethik zu verbindlichen, normativen Aussagen gelange, aber eben nur in der Unterschärfe normativer ‚Grundrisse‘; vgl. (Höffe 2005, pp. 75, zum Lemma arche). Vgl. (Aristoteles 1972, pp. 1098b, 30 ff.). 33 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Bleibt die Frage nach den Tugenden, die so unvermittelt in seine Definition der Glückseligkeit gefallen zu sein scheinen. Er erläutert, was er darunter versteht: die ‚Tüchtigkeit‘ (aretê: Bestheit, Vortrefflichkeit) der Seele, so etwas wie die Ausstattung der Seele, das Richtige tun zu können. Hier kommen, wie oben in einer Anmerkung bereits notiert, Tugend und Habitus oder Disposition zusammen; Tugend nennt Aristoteles einen ‚lobenswerten Habitus‘, die beste Haltung. Was deren Einnistung ins Individuum angehe, so ziele Belehrung einerseits auf Verstandes- oder dianoetische Tugenden – maßgebend für das theoretische Leben – und andererseits auf ethische Tugenden: Diese fänden durch Gewöhnung Eingang in den Charakter50 und leiteten das praktische, vor allem das politische Leben (denen man nach geglückter Einübung zur Haltung gern wie einem Vater folge).51 Auf solche ethischen Tugenden greife die phronêsis zu. Ricoeur greift die aAristotelische Idee des guten Lebens auf und bezieht die Tätigkeit der phronêsis auf ‚Praktiken‘ und ‚Lebenspläne‘. Praktiken seien zusammengesetzte Einheiten wie Berufe, Künste und Spiele, allerdings noch ohne konkrete Zweck-Mittel-Ketten. Sie seien Einheiten zweiter Ordnung, in denen sich Teilhandlungen einer Gesamthandlung unterordneten. Die Landwirtschaft sei eine Praktik, nicht aber das Pflügen oder das Starten des Traktors; das öffentliche Amt sei eine Praktik, nicht aber das Redenhalten; das Malen sei eine Praktik, nicht aber das Auftragen eines Farbflecks.52 Praktiken besäßen immer schon eine ethische, sinnstiftende Komponente, eine handlungsinterne Teleologie.53 Den engen Rahmen der Praktiken erweitert Ricoeur um Lebenspläne, um umfassende Lebensentwürfe,54 und fragt sich, ob es für die phronêsis einen Richtungsweiser gäbe, einen ergon,55 eine Aufgabe für ‚den Menschen als solchen‘. Immer wieder, so Ricoeur, überprüften wir, ob unsere Wahl der Praktiken unserem Lebensentwurf entspräche. Nur bleibe ebendieser Lebensentwurf oder die ‚Grenzidee‘ des ‚guten Lebens‘ ein ‚nebulöses Gebilde von Idealen‘ und zeige sich obendrein meist auch nur dann, wenn die Geschlossenheit der Prakti50 51 52 53 54 55 Vgl. (Aristoteles 1972, pp. 1103a, 15 f.). Vgl. auch Höffes Aristoteles-Lexikon, vor allem (Aristoteles 1972, pp. 1104b3, 3-8 und 1115b13). Vgl. (Ricoeur 2005a, p. 188 ff.). Ricoeur verweist hier auf A. MacIntyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt am Main/New York 1987. MacIntyre zufolge konstituierten die sogenannten immanenten Güter jene handlungsinterne Teleologie (auf phänomenologischer Ebene als Interesse und Befriedigung). Und immanente Güter, so Ricoeur, böten der Selbstschätzung eine erste Stütze, insofern wir uns selbst als die Urheber unserer Handlungen wertschätzten; vgl. (Ricoeur 2005a, p. 215 f.). Darauf wird weiter unten in Kapitel D.2 noch ausführlich eingegangen. Ergon (eigentlich Werk, Leistung) ist hier nicht nur als Richtungsgeber zu verstehen, sondern auch als Maßstab für die Gestaltung und Überprüfung der Qualität von Lebensentwürfen. 34 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. ken – Ricoeur nennt das deren ‚Selbstgenügsamkeit‘ – aufbreche, also in Krisensituationen, in denen das Individuum Zweifel über die bis dahin gültige Lebensorientierung befielen.56 Auch Aristoteles stellt sich die Frage nach den glücksvermittelnden Lebensformen. Im Wettstreit um die Glück verheißende Lebenskonzeption verlören Genussleben und gewinnorientiertes Leben; glückstauglich seien allein das politische (bios politikos) und das theoretische Leben (bios theôrêtikos). In der Hierarchie von Zielen sei das Glück das schlechthin höchste Ziel, das ‚zielhafteste‘ Ziel,57 wonach man nur um seiner selbst willen strebe. Hier wird die Luft schon sehr dünn: Was ist denn das höchste Ziel? Der aristotelische Begriff des Glücks erinnert Höffe an die ‚ontologische Definition von Gott‘: „Das Glück ist die Bedingung, die über die Zieltauglichkeit aller Ziele entscheidet“ (Höffe 1999, p. 228). Damit läge allerdings das Glück außerhalb der Zielbestimmung, als Bedingung der Wahl ‚korrekter‘ Ziele läge es ihnen voraus. Der Hinweis auf die ‚humane Selbstverwirklichung‘, den Höffe anbietet, belässt den letzten Zweck menschlichen Daseins immer noch im Ungefähren: „Sein wahres Selbst verwirklicht man in einem Leben gemäß dem Logos [der Vernunft]“ (Höffe 1999, p. 229). Das Problem ist und bleibt die ‚Unbestimmtheit des guten Lebens‘ oder die Frage: Wie verliert das gute Leben seine ‚nebulöse Bedeutung‘?58 Ricour gebe, so Prammer, lediglich den Weg an, „wie das ‚gute Leben‘ de facto gefunden wird, nämlich mit Hilfe der phronêsis, die selber wiederum entscheidend von der rechten ‚Überlegung‘ [bouleusis] bestimmt ist“ (Prammer 1999, p. 20). Die Idee des guten Lebens selbst aber bleibe unscharf, sie sei lediglich ein ‚Horizont‘ und die phronêsis verwirkliche sich in der Qualität des ‚Mit-sich-zu-RateGehens‘ des Klugen in singulären Situationen.59 In der Bilanz am Ende der Vorstellung der ‚kleinen Ethik‘ Ricoeurs wird noch einmal darüber zu sprechen sein. * Vorläufig festzuhalten bleibt für diesen ersten Aspekt der ‚ethischen Ausrichtung‘ der Bezug des Individuums auf seine Praktiken und Lebensentwürfe im Sinne eines glücklichen, gelingenden Lebens, ohne dass schon deutlich geworden wäre, worin die Güte eines solchen Lebens konkret besteht. Grundsätzlich werden aber an diesem Ausgangspunkt die Bedürfnisse des Einzelnen und de56 57 58 59 Hier werden bereits narrative Programme berührt; in umfassenden Lebensentwürfen, so fasst Schnell zusammen, trete die Narrativität in Form von Erzählungen auf: „Die Identität der Figur erwächst aus der Identität der Geschichte“ (Schnell 1999, p. 124). Ich will das aber der Übersichtlichkeit wegen an dieser Stelle nicht weiter verfolgen und komme später darauf zurück. Vgl. (Höffe 1999, p. 227). Vgl. hierzu (Prammer 1999, p. 20). … ohne den Blick von dem, was ihm als Menschen zukomme, ablenken zu lassen. 35 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. ren Verfolgung anerkannt; oder um es vorsichtiger zu formulieren: nicht infrage gestellt. So rudimentär und damit auch selbstverständlich das klingt, es ist das erste Moment des Moralischen Paktes. Und die Frage nach dem weiterhin unscharfen Glücks-Begriff? Hier keimt der Verdacht auf, dass die Einhaltung der Regeln die wesentliche Quelle des Glücks darstellt, der Tugendhafte allein deshalb ein gelingendes, glückliches Leben für sich beanspruchen kann, weil er die Regeln befolgt,60 Glückseligkeit sich dann einstellt, wenn das Individuum Regel-gemäß und damit wohlberaten durch die Welt der Handlungen navigiert. Die Frage nach den Gütern und Zielen wäre dann nur noch sekundär. Allerdings fällt sie nicht heraus, die Mesoteslehre61 taugt durchaus als Handreichung für offene Frage der Lebensführung. Und eine letzte Bemerkung. Die Paragraphen des Moralischen Paktes stellen nichts anderes dar: Worum der Held kämpft, ist allein seiner Wahl überantwortet, der Pakt gibt lediglich den Rahmen vor. Nicht zuletzt deshalb ist die Anzahl erzählbarer Geschichten endlos. 2.1.2. Zweite Etappe: Die Ausrichtung auf andere Der zweite Aspekt der ethischen Ausrichtung nimmt Bezug auf den Anderen. Der bisherige ausschließlich selbstreflexive Bezug der ‚Selbstschätzung‘, der alleinige Bezug auf das eigene gute Leben, wird damit überschritten, Ricoeur sucht nach einer Vermittlung zwischen ebenjener ‚einsamen Tugend der Selbstschätzung‘ und der Gerechtigkeit (als Tugend einer ‚politisch verstandenen Vielzahl von Menschen‘)62. Er fragt: „Wie verknüpft sich die zweite Komponente der ethischen Ausrichtung, die wir mit dem schönen Wort Fürsorge bezeichnen, mit der ersten?“ (Ricoeur 2005a, p. 220) 2.1.2.1. Die Freundschaft Zur Frage nach der Überschreitung des Selbst hin zum Anderen kann Aristoteles Auskunft geben. Freundschaft63 sei eine Tugend oder mit Tugend verbunden und ‚fürs Leben das Notwendigste‘: „Ohne Freundschaft möchte niemand leben, hätte er auch alle anderen Güter“ (Aristoteles 1972, p. 1155a, 5 f.). Freundschaft sei ‚gegenseitiges Wohlwollen‘ und zur Vollkommenheit reife sie 60 61 62 63 Ein Gedanke, den Kant mit seiner deontologischen Ethik auf die Spitze treiben wird. Die Mesotes-Lehre lässt das deontische Prinzips erahnen, ohne dessen Rigorosität zu übernehmen: Zügelung der Affekte, Verbot der Ausschläge zu den Extremen hin. Vgl. (Ricoeur 2005a, p. 221); zur Gerechtigkeit dann Näheres in den Ausführungen zum dritten Aspekt, den Institutionen. Vgl. (Aristoteles 1972, p. 1155a ff.). 36 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. zwischen ‚guten und an Tugend sich ähnlichen Menschen‘; ein Freund liebe den Anderen um seiner selbst willen und nicht auf Grund einer Nützlichkeit oder Lust, die der Andere einem zu verschaffen vermöge.64 In der Freundschaft (philia),65 so pflichtet ihm Ricoeur bei, überschreite die Selbstschätzung oder Selbstliebe (philautos) die Grenzen des Selbst zum Anderen hin, sie sei ein Begehren, das sich am Guten orientiere66 und den Rückbezug auf das Selbst ermögliche: „Wer so den Freund liebt, liebt zugleich, was ihm selbst gut ist. Denn der Gute wird, zum Freund geworden, für den ein Gut, dessen Freund er ist“ (Aristoteles 1972, p. 1157b, 33 f.). Damit sei, so Ricoeur, die Transzendenz zum Anderen hin nicht denkbar ohne den Bezug auf das Gute im eigenen Selbst67. Gleichheit sei die Grundlage für Reziprozität: In der Freundschaft, so Aristoteles, „wünschen sich beide Teile dasselbe“ (Aristoteles 1972, p. 1158b f.). Die Sprünge, die Ricoeur hier vom Selbst zum Anderen und zurück zum Selbst vollzieht, lassen sich streng genommen nicht aus Aristoteles’ Ausführungen herauslesen. Die Gleichheit, von der Aristoteles spricht, ist nicht mehr als ein nicht weiter begründetes Konstrukt eines Ideals, ein Konstrukt allerdings, das Ricoeur für wertvoll hält: Wechselseitigkeit und die Anerkennung des Anderen als Guten – und darin gründend sich selbst als aufs Gute fokussiert – verhindere auf jeden Fall ein ‚nachträgliches egologisches Abgleiten‘68. Doch das Problem bleibt ungelöst: Den Anderen in die Konstitution meines Selbst zu integrieren, müsste den Bereich der Gleichheit hin zur Andersheit transzendieren – und zwar als ein Modell, in dem nicht einfach Identität behauptet würde, sondern in dem das Anders-Sein, also die Differenz, im wechselseitigen Bezug positiv aufgehoben wäre und damit eben auf höherer Ebene erhalten bliebe. Bei Aristoteles allerdings überstrahlt die Vorstellung von Gleichheit und Identität die der Andersheit, der Freund, so sagt er, sei ein ‚zweites Selbst‘ und das höchste Maß der Freundschaft gleiche der Liebe, die man zu sich selbst habe.69 Auch der Tugendhafte sei von der Selbstliebe beseelt, wenn auch in einem höheren Grade, er liebe den ‚vornehmsten Teil seiner selbst‘ (seine Vernunft als das, was ihn von anderen Sinneswesen unterscheide), und so sei „der am meisten ein Liebhaber seiner selbst, der diesem seinem vornehmsten Teil in Liebe ergeben und willfährig ist“ (Aristoteles 1972, pp. 1168b, 33 f.) Auch der Glücklichste könne nicht für sich selbst bleiben, auch er benötige die Gesellschaft 64 65 66 67 68 69 Aristoteles schränkt aber ein, dass Nützlichkeit und Lust auch in vollkommenen Freundschaften nicht ausgeschlossen seien. Die philia ist nach Höffe eine auf der prohaíresis beruhende Haltung, die als ethische Tugend in der Mitte zwischen dem Gefallsüchtigen oder Schmeichler und dem Streitsüchtigen zu liegen komme; vgl. (Höffe 2005, p. 445 f.). Vgl. (Ricoeur 2005a, p. 223). Vgl. (Ricoeur 2005a, p. 224). Vgl. (Ricoeur 2005a, p. 224). Vgl. (Aristoteles 1972, p. 1166a). 37 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. von Freunden, weil er „ein sittliches und ihm verwandtes Handeln gerne sieht 70 und ein solches Handeln in einem guten und befreundeten Manne ihm entgegentritt“ (Aristoteles 1972, pp. 1170a, 3 f.). Was Ricoeur gefangen zu nehmen scheint, ist eine ‚Ethik der Gegenseitigkeit, des Teilens, des Zusammenlebens‘. Er sei auf seinem Spaziergang mit Aristoteles von der Selbstschätzung ausgegangen, die sich auf das gute eigene Leben ausrichte. In dieser Orientierung bereichere sodann die Freundschaft die ichbezogene Selbstschätzung, indem sie ihr die Idee der Gegenseitigkeit hinzufüge, eine „Gegenseitigkeit im Austausch zwischen Menschen, deren jeder sich selbst schätzt“ (Ricoeur 2005a, p. 229). Die notwendige Folge dieser Gegenseitigkeit, so kündigt Ricoeur an, werde die Gerechtigkeit sein. Doch zunächst erinnert er sich an den begrifflichen Begleiter der Freundschaft – die Fürsorge – und fragt nach deren Merkmalen, die über die Freundschaft hinausgingen. 2.1.2.2. Die Fürsorge Freundschaft sei eingerahmt von zwei Extremen, der Fürsorge auf der einen Seite und einem Zur-Verantwortung-gezogen-Werden auf der anderen; beide Pole seien ausgestattet mit dem Merkmal der Ungleichheit, das heißt mit einem jeweiligen Übergewicht des Selbst oder des Anderen. Das erste Extrem, das Zur-Verantwortung-gezogen-Werden, gehe vom Anderen aus und zwar in der Gestalt des ‚Meisters der Gerechtigkeit‘71, der das Selbst im Modus der Ethik unterweise. Man befinde sich hier zwar in der ‚Ordnung des Imperativs‘, also der Pflichtenethik,72 aber Ricoeur setzt darauf, „die Schicht der Verpflichtung zu untergraben und auf einen ethischen73 Sinn zu stoßen“ (Ricoeur 2005a, p. 231). Das Selbst werde zwar lediglich im Akkusativ von der Aufforderung des Meisters eingeholt, doch es verbleibe nicht im Passiv eines einberufenen Ich; die Aufforderung berufe sich auf eine Antwort74 des Selbst, mit der es die ‚Asymmetrie des Von-Angesicht-zu-Angesicht‘ kompensiere: Die Unterweisung durch den Anderen setze beim Selbst ein Vermögen des Gebens 70 71 72 73 74 Man muss die Schwäche im Begründungszusammenhang nicht belächeln – Aristoteles schreibt, dass wir unseren Nächsten leichter beobachten können als uns selbst –, wenn man bedenkt, dass er mit seiner Nikomachischen Ethik vor allem ein didaktisches Werk entworfen hat. Hier lehnt sich Ricoeur an Emmanuel Lévinas an: Totalität und Unendlichkeit, Freiburg/ München 1987. Dessen gesamte Philosophie, so Ricoeur, beruhe auf der Initiative des Anderen; vgl. (Ricoeur 2005a, p. 229). Die Pflichtenethik versucht Ricoeur zu konterkarieren, dazu dann ausführliche Erläuterungen im zweiten Teil seiner ‚kleinen Ethik‘ (der 8. Abhandlung in Das Selbst als ein Anderer), in der er sich von Kant ‚begleiten‘ lässt. Vgl. oben im Abschnitt zu ‚Ethik und Moral’ die besondere Ricoeur’sche Lesart der beiden Begriffe. Das Selbst werde durch den Anderen zur Verantwortung gezogen. 38 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. frei, das auf Ressourcen der Güte und der Rücksicht zurückgreife. In diesem Verhältnis der ethischen Unterweisung durch den Anderen stelle sich also am Ende Gleichheit in der praktisch zu verstehenden Antwort des Selbst her (also als Handlung). Im zweiten Extrem, der Fürsorge,75 stehe das Selbst als initiativ im Fokus und beziehe sich auf einen Anderen, der hier Leidender sei, dessen Handlungsfähigkeit, dessen ‚Tun-Können‘ zerstört sei. Dem Selbst komme dabei zu, Sympathie und Mitleid zu schenken. Aber auch hier finde eine Gleichstellung statt, denn beide gäben ihrem Gegenüber etwas: das Selbst aus seinem Handlungsvermögen, der Andere aus seiner Schwachheit76 heraus. Eine solche Gleichstellung schütze die ‚wahre Sympathie‘ davor, zum Erbarmen zu degenerieren, also zu einem Gefühl, in dem das Selbst heimlich nur seine eigene Verschonung genieße; in der wahren Sympathie finde das Selbst sich von allem berührt, was der Leidende ihm aus seiner Schwachheit heraus anbiete. Hierin, so Ricoeur, liege die größte Prüfung der Fürsorge: „Die Ungleichheit der Vermögen kann durch eine authentische Reziprozität im Austausch kompensiert werden, die sich in der Stunde des Todeskampfes in ein gemeinsames Murmeln der Stimmen […] flüchtet“77 (Ricoeur 2005a, p. 232). Ricoeur betont die Rolle der Gefühle78 für die Fürsorge: Vom Leiden des Anderen gehe nicht nur eine moralische Aufforderung aus, sondern es löse im Selbst Gefühle aus, „die sich spontan auf den Anderen zubewegen“ (Ricoeur 2005a, p. 233). Ricoeur fasst zusammen: Während die Freundschaft die Gleichheit voraussetze – im selben Wunsch, mit dem Anderen zusammenzuleben –, müsse sie in den beiden Extremen erst hergestellt werden: im ersten Extrem des Zur-Verantwortung-gezogen-Werdens dadurch, dass das Selbst die Autorität des Anderen anerkenne und Antwort gebe; und im zweiten Extrem der Fürsorge werde die Gleichheit „nur durch das gegenseitige Eingeständnis der Zerbrechlichkeit und letzten Endes der Sterblichkeit wiederhergestellt“ (Ricoeur 2005a, p. 234). Ricoeur fragt abschließend nach dem ‚Ort der Fürsorge auf der Entwicklungslinie der Ethik‘. Die Fürsorge füge der Selbstschätzung ein Bewusstsein 75 76 77 78 Die Rücksicht, die als Ressource vom Meister der Gerechtikeit bloßgelegt wird, ist die Brücke zur Fürsorge. Damit wird das Bild, das sich mit der Freundschaft als Mitte zwischen zwei Extremen im Sinne der Mesotes-Lehre aufgedrängt hat, wieder unschärfer. Was das Geben des Leidenden konkret sein soll, führt Ricoeur nicht aus: „Denn vom leidenden Anderen geht ein Geben aus, das eben nicht mehr aus seinem Vermögen zu handeln und zu existieren schöpft, sondern aus seiner Schwachheit selbst“ (Ricoeur 2005a, p. 232). Bei Ricoeur scheint die Fürsorge nun doch den Charakter der Barmherzigkeit, gar Selbstlosigkeit des Samariters anzunehmen, scheint die Moral ihm schon sehr die Feder zu führen. In einer Anmerkung bedauert Ricoeur, dass Phänomenologen die Beschreibung von Gefühlen vernachlässigt hätten. Und das heiße „zu vergessen, daß auch die Gefühle stark von der Sprache bearbeitet und, ebenso sehr wie die Gedanken, zu literarischer Würde erhoben worden sind“ (Ricoeur 2005a, pp. 233, Anm. 29). 39 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. des Mangels hinzu, eines Mangels, der ein Bedürfnis nach Freunden wecke: „Durch eine Rückwirkung der Fürsorge auf die Selbstschätzung79 nimmt das Selbst sich selbst als einen Anderen unter Anderen wahr“80 (Ricoeur 2005a, p. 234). Die Fürsorge scheint für Ricoeur der Schlüssel für den Übergang vom Selbst zum Anderen zu sein. Auch in seinem Aufsatz zur Annäherung an die Person von 1990 formuliert er es ähnlich: „Ich schlage vor, diese Bewegung des Selbst zum Anderen hin Fürsorge zu nennen, die auf den Anruf des Selbst durch den Anderen antwortet“ (Ricoeur 2005b, p. 230). Die Merkmale der Freundschaft, die Ricoeur nun aufzählt, sind, so ist zu erwarten, auch solche der Fürsorge (die die Gleichheit herstellt). Freundschaft zeichne sich durch Umkehrbarkeit der Rollen aus – das Du verstehe das Gegenüber ebenfalls als Ich –, aber auch durch Unvertretbarkeit der Person (was begleitet ist von der Wert-Schätzung der Unersetzlichkeit des Anderen)81 und schließlich durch Ähnlichkeit. Diese Idee der Ähnlichkeit sei das auszeichnende Merkmal sämtlicher Formen der Verbindung zwischen Selbst und Anderem, der Freundschaft wie der Fürsorge. Der Feststellung von Ähnlichkeit geht ein Vergleich voraus, so verwundert nicht, dass Ricoeur es zum ‚auszeichnenden Merkmal‘ des Verhältnisses zwischen Selbst und Anderem erklärt: Die Ähnlichkeit sei die „Frucht des Austausches zwischen Selbstschätzung und Fürsorge für den Anderen“ (Ricoeur 2005a, p. 235). Auch hier ein kurzer Blick in Ricoeurs Aufsatz Annäherungen an die Person: „Der Andere als meinesgleichen, dies ist das Gelübde der Ethik in Hinblick auf das Verhältnis zwischen Selbstschätzung und Fürsorge“ (Ricoeur 2005b, p. 230). Ricoeur sagt weiter: Der Austausch zwischen Selbstschätzung und Fürsorge „berechtigt dazu, zu sagen, daß ich mich nicht zu schätzen vermag, ohne den Anderen wie mich selbst zu schätzen“ (Ricoeur 2005a, p. 235). Ich könne mich selbst also nicht schätzen, wenn ich nicht den Anderen wie mich selbst schätzte – was unterstellt, dass der Andere auch ein ‚gutes‘ Leben anstrebt und sich selbst schätzt, so wie ich mich. Es liege also ein Vertrauen zugrunde, eine (bis dahin nur selbstbezogene) Bezeugung auf andere hin, denen zugesprochen werde, „etwas zu können und zu taugen“ (Ricoeur 2005a, p. 235). So weit unproblematisch. Aber es drängen sich Fragen auf: Vermag das Selbst sich nicht zu schätzen, ohne gleich den Anderen wie sich selbst schätzen82 zu müssen? Wo ist die logi79 80 81 82 Damit übernimmt die Selbstschätzung die Rolle des Übergangs vom Selbst zum Anderen (das Selbst als ein Anderer). Auch das wird später vertieft. „… Dies sei die Bedeutung des Aristotelischen ‚einer für den anderen‘ (allèlous), das die Freundschaft zu einer gegenseitigen macht“ (Ricoeur 2005a, p. 234). Der Fürsorgende antwortet auf die Wertschätzung des Anderen ihm gegenüber mit einer ebensolchen. Fürsorge, so Ricoeur, dürfe man nicht auf ‚eine stumpfe Pflicht‘ reduzieren; vgl. (Ricoeur 2005a, p. 235). Vgl. (Ricoeur 2005a, p. 235). 40 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. sche Brücke zwischen dem Selbst in seiner positiv verstandenen Selbstliebe (orientiert am guten Leben) und der Fürsorge für den Anderen? Warum kann das Selbst sich nicht selbst schätzen im ich-bezogenen Streben nach einem guten Leben? Der Grund hierfür müsste in einem Mangel des Strebens nach Glückseligkeit zu finden sein, die eben ohne Fürsorge und Freundschaft nicht zu erreichen wäre. Aber dafür legt Ricoeur keine schlüssige Ableitung vor. Was er indessen vorlegt, ist die Konstatierung eines Paradoxons: „So werden die Schätzung des Anderen als eines Sich-selbst (soi-même) und die Schätzung seiner selbst (soi-même) als eines Anderen von Grund auf gleichwertig“83 (Ricoeur 2005a, p. 235 f.). Es stellt sich bei solchen Formulierungen der Verdacht der Zirkularität wechselseitiger Schätzung ein. Das Karussell von Selbstschätzung und Fremdschätzung wird lediglich postuliert, mehr nicht.84 Es ist nicht so sehr der Schwindel, der einen in diesem Zirkel erfasst, sondern mehr der Verdacht, dass Ricoeur hier eine moralische Bedingung für die Gewissheit seiner Selbst formuliert, nämlich die der Anerkennung des Anderen als ein ‚Wie-ich-selbst‘. Erst in der Anerkennung der Anderen als seinesgleichen – wir werden in Teil F ausführlich darauf eingehen – könne sich das Selbst als Selbst schätzen oder lieben. Ricoeur nochmals in seinen Annäherungen an die Person: „In diesem Sinne begreife ich das Verhältnis des Selbst zu seinem Anderen nicht anders denn als Suche nach einer moralischen Gleichheit auf den verschiedenen Wegen der Anerkennung“ (Ricoeur 2005b, p. 231). Ricoeur verwandelt das Verhältnis von Selbstschätzung und Fürsorge dahingehend, dass das Dialogische der Primas ist und die zunächst als autonom betrachtete Selbstschätzung nur zu haben sei, wenn es dem Selbst gelinge, sich selbst ins Freundschaftliche oder Fürsorgliche zu transzendieren. * Ein weiteres Mal sei die Frage nach dem Bezug auf die Fundamentalmoral erlaubt. Lag der Bezug auf den Moralischen Pakt beim ersten Aspekt (der Ausrichtung auf das gute Leben) noch auf der Hand – dem Individuum wird die Verfolgung eigener Bedürfnisse zugestanden –, so scheinen Freundschaft und Fürsorge in grundlegender Opposition85 zum Selbstbezug des Individuums zu stehen. Sie scheinen den Weg zur Fundamentalmoral, also zum Orientierungspunkt der vorliegenden Arbeit, zu versperren und sich geradezu als Gegenmodell zur Konkurrenz etablieren zu wollen. 83 84 85 Und hier fragt Ricoeur: „Ist dies das Geheimnis des paradoxen Gebotes: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‘?“ (Ricoeur 2005a, pp. 236, Anm. 32) Mehr Aufschluss erwarte ich mir von Ricoeurs Ausführungen zur personalen und narrativen Identität unten in Teil C. Das geht bei Aristoteles so weit, dass der ‚gute Mann‘ für Freunde und Vaterland zu sterben bereit sei; vgl. (Aristoteles 1972, pp. 1169a, 19 f.). 41 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Ich könnte mich an dieser Stelle zurücklehnen und Fürsorge und Freundschaft als Ableitungsphänomene aus der Konkurrenz behaupten. Wo die Praxis der Fürsorge – im Blick auf den Leidenden – als ein Mangel erfahrbar würde, läge beiden – also der Fürsorge und der davon abgeleiteten Freundschaft – ein gesellschaftliches Verhältnis zugrunde, das Opfer oder Verlierer zeitigte. Das wird in Teil F zur Anerkennung wieder aufgegriffen und vertieft. Wenn ich mich allerdings nicht zurücklehnen will, dann ließe sich eine Spiegelung von Fürsorge und Freundschaft vor dem Hintergrund der Fundamentalmoral ausmachen. Allerdings nicht als Spiegel der Konkurrenz, sondern als Spiegel des zweiten Grundelements, des Austauschs. Was sich hier abzeichnet: die Transformation des Selbst zum Anderen, scheint wesentlich zu sein für die Transformation konkurrierender, kämpfender Subjekte zu regeleinhaltenden Subjekten des Austauschs. Es tauchen hier aber auch die solidarischen Verhältnisse auf, die Beziehungen zu Kombattanten und Helfern, zu Freunden und zur Familie. Allerdings liegen auch solchen ‚freundlichen‘ Verhältnissen oft Konkurrenz und Kampf zugrunde: Helfer geben dem Helden ‚Rüstung‘ und Kompetenz mit und Freunde und Familie übernehmen die Rolle letzter Legitimation der Annahme der Herausforderung zum Kampf. Kurz gesagt: Helfer als Mittel und Familie als Zweck86 der Konkurrenz. 2.1.3. Dritte Etappe: Die Ausrichtung auf gerechte Institutionen Der dritte Aspekt der ethischen Ausrichtung zielt auf gerechte Institutionen. Auch hier lässt sich Ricoeur noch einmal von Aristoteles leiten. Es geht dabei zunächst um den Übergang von der interpersonalen Ebene der Individuen zur gesellschaftlichen der Institutionen. Aristoteles nimmt sich des Themas der Gerechtigkeit an und richtet seinen Blick zunächst auf die Individuen, die sich gerecht oder ungerecht verhalten. Ungerecht sei der Habsüchtige, der Feind der Gleichheit und der Gesetzesübertreter87; und gerecht derjenige, der sich mäßige, Freund der Gleichheit sei und das Gesetz beachte. Gerechtigkeit gelte beim Publikum als die vorzüglichste Tugend und Aristoteles gibt dieser Meinung recht, denn Gerechtigkeit sei tatsächlich die Anwendung der vollkommenen Tugend, „weil ihr Inhaber die Tu- 86 87 Das bilden fast penetrant zeitgenössische Filme und Serien aus den USA ab. Der Habsüchtige strebe nach Gütern des ‚äußeren Glücks‘, ohne zu berücksichtigen, ob sie auch wirklich für ihn gut seien. Der Freund der Ungleichheit wolle zu viel des Guten nur für sich und akzeptiere zu wenig Lästiges oder gar Übeles; vgl. oben Fußnote im Abschnitt über den Austausch. Der Gesetzesübertreter schließlich sei ungerecht, was, so räumt Aristoteles ein, voraussetzt, dass Gesetze per se gerecht seien. 42 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. gend auch gegen andere ausüben kann und nicht bloß für sich selbst“88 (Aristoteles 1972, p. 1129b, 30 f.). Ist nicht Gerechtigkeit, so könnte man hier fragend einwenden, bereits per se ein Begriff, der ohne den Bezug auf den Anderen nicht denkbar wäre? Ist er nicht ein Begriff, der so etwas wie eine Grund-Dialogizität voraussetzt? Wie auch immer, Aristoteles lässt den Begriff der allgemeinen Gerechtigkeit hinter sich und fragt nach einer besonderen Art, die Teil der Tugend sei, aber nicht mehr mit ihr identisch89: die partikulare Gerechtigkeit. Sie unterscheide sich von der allgemeinen insoweit, als sie sich nicht auf alles beziehe, womit der Tugendhafte zu tun habe, sondern auf bestimmte Bereiche wie beispielsweise auf die Ehre, das Eigentum oder die Gesundheit. Die partikulare Gerechtigkeit lasse sich noch einmal aufteilen, und zwar in eine Art, die sich auf die Zuteilung von Gütern beziehe, und in eine andere, die den Verkehr der Einzelnen untereinander regele.90 Die erste Art ist die distributive Gerechtigkeit. Man müsse sich, so Aristoteles, das Gleiche als ein Mittleres zwischen Ungleichem vorstellen – wie auch das Recht als ein Mittleres zwischen einem Mehr und einem Weniger. Da das Recht nun mindestens zwei Personen voraussetze und zwei Sachen, in denen ihnen ihr Recht zustehe, so komme beiden Gleichheit zu, den Personen wie den Sachen. Richtmaß der Zuteilung bilde deren ‚Würdigkeit‘.91 Das Recht habe hier also etwas Proportionales: Das Verhältnis der Personen zueinander werde in einem Zuteilungsverhältnis der Sachen gespiegelt. Eine Geldverteilung aus öffentlichen Mitteln, so illustriert Aristoteles das Proportionale, werde beispielsweise nach dem Verhältnis der Leistungen92 der Bürger zueinander vorgenommen. Die zweite Art der partikularen Gerechtigkeit ist nach Aristoteles die kommutative oder ausgleichende Gerechtigkeit. Hierbei gehe es ebenfalls um eine anzustrebende Mitte, aber eine ausgleichende oder wiederherzustellende Mitte zwischen erlittenem Nachteil und sich angeeignetem Vorteil. Ein Richter sorge mit dem Strafmaß für einen Ausgleich, indem er dem Täter seinen Vorteil entziehe 88 89 90 91 92 Der Beste, so Aristoteles, sei, „wer seine Tugend nicht sowohl sich als anderen zugute kommen läßt. Denn dieses ist ein schweres Ding“ (Aristoteles 1972, p. 1130a 7 f.). Tugend und Gerechtigkeit seien dasselbe, aber sie stünden in einem jeweils anderen Bezugssystem: Fokussiere man den Habitus des Handelnden, dann rede man über Tugend schlechthin, fokussiere man hingegen die Beziehung auf den Anderen, so rede man von Gerechtigkeit. Vgl. (Aristoteles 1972, pp. 1130b, 30 ff.). Aristoteles weiß, dass die Würdigkeit nicht immer gleich verstanden würde, Würdigkeit könne eine Gesellschaft den Freien zusprechen oder den Besitzenden oder den Tüchtigen; vgl. (Aristoteles 1972, pp. 1131b, 25 ff.). Die arithmetische Gleichheit greife hier nicht, weil die Personen aufgrund ungleicher Verdienste ungleich seien und die Anteile damit ebenfalls; vgl. (Ricoeur 2005a, p. 245). 43 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. und dem Opfer den Schaden vergelte. Hier greift das Strafrecht korrigierend ein.93 Während die erste Art der Gerechtigkeit, die distributive, auf Gleichheit fuße (von Leistung und Anspruch) und zur Ungleichheit führe (der Verteilung nach Leistung), fuße die zweite Art, die kommutative oder ausgleichende, auf Ungleichheit (erlittener Schaden und erschlichener Vorteil) und führe zur Gleichheit im Ausgleich. Ricoeur nimmt die Anregungen Aristoteles’ auf und spinnt sie weiter. Konstitutiv für den Zusammenhalt einer Gesellschaft seien Institutionen: „Unter Institutionen werden wir hier die Struktur des Zusammenlebens einer geschichtlichen Gemeinschaft (Volk, Nation, Religion usw.) verstehen“ (Ricoeur 2005a, p. 236). Mit Blick auf bestehende Gesellschaften bleiben Ricoeur die Phänomene des Immer-mehr-haben-Wollens und der Ungleichheit nicht verborgen, die sich auf äußere und vergängliche Güter, auf Wohlstand und widriges Schicksal bezögen. Ricoeur fordert, Güter und Lasten nach Gerechtigkeitsprinzipien zu verteilen. Das Merkmal der Verteilung liefere den Baustein, der dem Begriff des Zusammen-Handeln-Wollens94 (nach Ricoeur der Grundkonstituente von Gemeinschaftsbildungen) bisher gefehlt habe. Der Begriff der Gerechtigkeit bezeichne einen Grundzug aller Institutionen, die die Aufteilung von Rollen, Aufgaben, Vor- und Nachteilen für die Gesellschaftsmitglieder regelten. Dabei habe die Idee des Teilens zwei Seiten: die Seite der Teilnahme des Einzelnen an einer Institution und die Seite der Aufteilung von Anteilen95 durch die Institutionen. Ricoeur würdigt am Ende seines Spaziergangs mit Aristoteles dessen Idee der Gleichheit, „ohne dabei dem Egalitarismus Vorschub zu leisten“ (Ricoeur 2005a, p. 245 f.). Ricoeur geht es vor allem um die ‚Kraft der Verbindung von Gerechtigkeit und Gleichheit‘, eine Verbindung, die auf die Fürsorge verweise: „die Gleichheit [ist] im Verhältnis zum Leben in den Institutionen, was die Fürsorge im Verhältnis zu den interpersonalen Beziehungen ist“ (Ricoeur 2005a, p. 245 f.). Während die Fürsorge dem Selbst einen Anderen als Angesicht96 anbiete, zeige ihm die Gleichheit in Institutionen ein Gegenüber, der ein Jeder sei. Auf dem oben erwähnten Forschungskolloquium zu Ricoeurs ‚kleiner Ethik‘ geht Prammer über dieses Analogieverhältnis zwischen Gleichheit/Gerechtigkeit und Fürsorge 93 94 95 96 Neben dieser unfreiwilligen Gerechtigkeit führt Aristoteles noch die freiwillige auf, die Tauschgerechtigkeit im freiwilligen Verkehr. Und hier sei das Recht wiederum die Mitte, „man erhalte das Seinige und erleide weder Verlust noch mache man Gewinn“ (Aristoteles 1972, p. 1132b 17 f.). Was uns hier zu weit von unserem Thema wegführen würde, wäre dennoch einer Lektüre würdig: Ricoeur stellt zum Beginn seiner Ausführungen zu den Institutionen Hannah Arendts Begriffe der Pluralität und Absprache vor; vgl. (Ricoeur 2005a, p. 237 ff.). Güter, Chancen, Rollen … Um die Geduld des Lesers nicht noch weiter zu strapazieren, erspare ich mir an dieser Stelle einen Exkurs zu Lévinas. 44 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. hinaus und unterstellt Ricoeur einen Ableitungsgedanken: „Daß der ‚Sinn‘ [sens] – vielleicht sollte man besser sagen: das ‚Gespür‘ – für Gerechtigkeit ein Teilmoment des ‚Wunsches nach einem erfüllten Leben‘ ist, ist für Ricoeur schon im Begriff des ‚Anderen‘ impliziert, sofern der Andere nicht nur das ‚Du‘ der interpersonalen Beziehung ist, sondern auch der ‚anonyme‘ Andere, der Andere ‚ohne Gesicht‘“ (Prammer 1999, p. 15). Über die Zulässigkeit eines Implikationsverhältnisses soll an dieser Stelle nicht gestritten werden, über den Übergang vom Ich zum Du und vom Ich zum gesichtslosen Du der Menge wird noch zu reden sein. Unser Ausflug zur Gerechtigkeit in den Institutionen hat uns über den Zentralbegriff der Gleichheit wieder zurück zur Fürsorge im interpersonalen Bereich geführt. Der in gesellschaftlichen Institutionen sich vergegenständlichende Gerechtigkeitssinn hat einerseits in der Anerkennung der ‚unersetzlichen‘97 Person auf die Fürsorge verwiesen und andererseits deren Begriff erweitert, indem er die Gleichheit auf die gesamte Menschheit98 ausgedehnt hat: „Im Gegenzug fügt die Gerechtigkeit der Fürsorge etwas hinzu, insofern das Anwendungsfeld der Gleichheit die gesamte Menschheit ist“ (Ricoeur 2005a, p. 246). * Was oben bereits zur Freundschaft und Fürsorge gesagt worden ist, gilt auch hier. Vor allem die Fürsorge ist nichts anderes als die Übertragung des Prinzips der Hilfe oder des Mangel-Überschuss-Ausgleichs vom individuellen auf den gesellschaftsinstitutionellen Bereich. Alle Institutionen einer Gesellschaft, die sich der Wohlfahrt verschreiben, sind zunächst einmal nichts anderes als eben Angebote der Hilfestellung oder -leistung, deren die mangelleidenden Individuen bedürfen. Was also in der individuellen Fürsorge noch als kontingent erscheinen mag, etabliert sich in Gestalt der Institution als Strukturphänomen einer modernen Gesellschaft. Der oben bereits erwähnte Verweis auf Opfer und Verlierer findet auch hier Anwendung, greift allerdings weiter aus. Eine Gesellschaft, die Institutionen mit moralischer Ausrichtung als notwendig erachtet, unterstellt Leiden und Opfer nicht nur als Randerscheinung. Hier scheint der Begriff des Mangels auf, nicht nur als Grundvoraussetzung im bedürfnisorientierten Zugriff auf Güter, sondern auch als Folge eines solchen Zugriffs, wenn man voraussetzt, dass begrenzte Güter unbegrenzten Bedürfnissen gegenüberstehen. Konkurrenz und Kampf scheinen immer wieder durch. 97 98 Vgl. (Ricoeur 2005a, p. 235). Auch wenn Ricoeur hier sehr weit ausgreift, die Ausdehnung der Fürsorge auf die Menschheit ist auf jeden Fall bemerkenswert. 45 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 2.1.4. Zwischenbilanz Aristoteles Was bringen Ricoeur und Aristoteles von ihrem Spaziergang für die Fundamentalmoral des Moralischen Paktes mit? Der Versuch eines kurzen Resümees. (1) Anerkennung individueller Bedürfnisse, sozusagen das Grundkorsett des Individuums vor allem Bezug auf andere. In Alltagspraktiken oder gar umfassenden Lebensentwürfen wird dem Einzelnen zugebilligt, sich auf ein glückliches Leben hin zu orientieren, wie auch immer er sein Glück definieren mag. (2) Freundschaft als wechselseitiger Bezug von Gleichen aufeinander bleibt zunächst eine Leerstelle, weist aber schon auf das Ideal des Austauschs hin, auf den Tausch von Vergleichbarem zwischen Ungleichen, auf die Äquivalenz der auszutauschenden Werte. Die Freundschaft sozusagen als der Euphemismus des Tauschverhältnisses. Die Fürsorge als die eine Rahmenseite der Freundschaft eröffnet den Blick auf die Voraussetzung der Konkurrenz oder die Kehrseite des Bedürfnisses: den Mangel. Aber auch die Fürsorge verweist auf den Austausch, sie zielt auf die Behebung des Mangels, allerdings nicht im Kampf oder in der Konkurrenz, sondern in einem Geben-Nehmen-Verhältnis. Die Fürsorge eröffnet den Blick auf die Konsequenzen der Konkurrenz, auf Opfer und Verlierer; der Leidende hat sein ‚Tun-Können‘ verloren; das Einzige, was er seinem Helfer anbieten kann, ist seine ‚Schwachheit‘. Hier kann sinnvollerweise nicht mehr auf das Ideal des Austauschs99 verwiesen werden, eher auf die Korrektur potentieller Schäden aus der Konkurrenz. Hier scheint der Begriff der Solidarität auf, allerdings in einem instrumentellen und funktionalen Sinn. Noch schärfer beleuchtet wird das im nächsten Punkt. (3) Gerechtigkeit in den Institutionen. Das Fürsorgeprinzip wird auf den Staat übertragen, der dafür sorgt, dass die Zukurzgekommenen vor einem existenzgefährdenden Grad des Mangels geschützt werden. Institutionen übernehmen hier eine Ausgleichsfunktion für ein Verhältnis der Individuen, das den Mangel als Grund und Folge mit sich führt. Generell verweisen die gerechten Institutionen auf den Rahmen, den der Moralische Pakt durchaus verpflichtend vorgibt: Seine Paragraphen gelten ebenso wie die Regeln der Institutionen für alle in gleichem Maße. Aber das sind nur erste Andeutungen einer Gesellschaft, die die Struktur von Konkurrenz und Austausch erst noch ausentwickeln wird. Aristoteles’ Perspektive ist noch sehr auf das Individuum ausgerichtet, das in einem freundschaftli99 … auch wenn Ricoeur hier eine Gleichheit ausfindig gemacht zu haben vermeint: das Geben von Schwachheit auf der einen Seite und das von Handlungsvermögen auf der anderen (siehe oben Abschnitt zur Fürsorge). 46 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. chen oder fürsorgenden Verhältnis zu anderen steht, einem Verhältnis allerdings, dem die Polis durchaus schon Rahmen und Ziele vorgibt. Aristoteles hat beides im Fokus: den Einzelnen mit seinem ihm zugestandenen Streben nach der eudaimonia auf der einen Seite und die Polis auf der anderen, die dem Einzelnen Orientierung und Ausrichtung vorgibt. Das Jedem-das-Seine-Prinzip Platons dockt an beiden Seiten an: am Individuum mit seinen Potentialen und Wünschen wie auch an der Gesellschaft, die für den sozialen Zusammenhang nützliche Tauglichkeiten des Individuums formuliert. Was Ricoeurs Ethik noch fehlt, sind die Bereiche von Norm und Überzeugung, die dem Leben in Gesellschaften einen stabilen Überbau geben. Er verabschiedet sich vorübergehend von Aristoteles und seiner teleologischen Perspektive auf ein gutes Leben und wendet sich der deontologischen Sichtweise Immanuel Kants zu. 2.2. Ricoeurs Spaziergang mit Kant: Die moralische Norm Ricoeur will im Gespräch mit Kant die bis eben betrachtete ethische Ausrichtung auf ein gutes Leben einer ‚Prüfung durch die Norm‘ unterziehen und dabei zeigen, dass bei Kant durchaus ein teleologisches Fundament zu finden sei. Für diese ‚Entdeckung‘ sucht er nach ‚systemeigenen Konflikten‘, innerhalb derer ein verborgenes Teleologisches aufscheine. Auf der ersten Etappe setzt er sich mit dem zentralen Begriff der Autonomie auseinander und sucht nach Elementen, die die reine Subjektivität einzuschränken in der Lage sind: die Achtung vor dem Gesetz und die Idee der Selbstgesetzgebung. Auf der zweiten Etappe wendet sich Ricoeur – wie schon bei Aristoteles – der interpersonalen Ebene zu. Hier entdeckt er die Goldene Regel als heimliche Seele des Kantischen Imperativs sowie die Idee der Menschheit als Selbstzweck. Die dritte Etappe schließlich führt zum Thema des deontischen Vertragsmodells. Auch hier vermeint Ricoeur Wurzeln des Guten aufspüren zu können, und zwar im Gerechtigkeitssinn und in der Verfahrensgerechtigkeit. 2.2.1. Erste Etappe: Autonomie des Selbst Ricoeur hakt sich also bei Kant unter und betritt mit ihm die abstrakten Gefilde der deontologischen Ethik. Wir sprächen, so Ricoeur, Normen vor jedem dialogischen Bezug eine universelle Bedeutung zu, insofern wir sie für schätzenswert hielten. Er bringt hier einen Faktor in Stellung, der die positiv verstandene Selbstliebe oder Selbstschätzung der Person ‚begründen‘ soll. 47 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 2.2.1.1. Der gute Wille Was unter teleologischer Denkweise das gute Leben sei, finde sich in der deontologischen als guter Wille wieder. Die Vernunft, so sagt Kant, sei uns als ‚praktisches Vermögen‘100 zugeteilt, also als eines, das Einfluss auf den Willen nehme und dabei einen an sich selbst guten Willen hervorbringe.101 Kant grenzt sich von Aristoteles ab: „Wäre nun an einem Wesen, das Vernunft und einen Willen hat, […] seine Glückseligkeit102 der eigentliche Zweck der Natur, so hätte sie ihre Veranstaltung dazu sehr schlecht getroffen, sich die Vernunft […] zur Ausrichterin dieser ihrer Absicht zu ersehen“ (Kant 1975b, p. 20). Glückseligkeit komme als Ziel nicht infrage, weil die Vernunft hierfür ein denkbar untaugliches Mittel wäre; tauglicher hierfür sei nach Kant der ‚Instinkt‘103. Welcher Sinn, so fragt Kant, liege denn aber nun im ‚praktischen Gebrauch‘ der Vernunft, wenn nicht im ‚Genuss des Lebens‘? Kant überlegt weiter: Die wahre Bestimmung der Vernunft (als praktisches Vermögen) müsse es sein, „einen nicht etwa in anderer Absicht als Mittel, sondern an sich selbst guten Willen hervorzubringen“ (Kant 1975b, p. 21 f.). Er erklärt damit den guten Willen zum ‚höchsten Gut‘ und ordnet alles Weitere ihm unter: Die Vernunft erkenne ihre höchste praktische Bestimmung in der ‚Gründung eines guten Willens‘, sollte das „auch mit manchem Abbruch, der den Zwecken der Neigung geschieht, verbunden sein“ (Kant 1975b, p. 22). Woran erkennt Kant nun diesen so hoch geschätzten guten Willen? Er zeige sich in der Pflicht, wobei Kant einschränkt, dass er hiermit ausschließlich die Handlung ‚aus Pflicht‘ verstehe – also eine, die um ihrer selbst willen erfüllt werde – und nicht die ‚pflichtgemäße‘ Handlung, zu der das Subjekt eine unmittelbare Neigung habe; nur eine Handlung aus Pflicht habe einen wahren sittlichen Wert.104 Der Einfluss der Neigung auf den Willen scheint damit vollends aus dem Spiel genommen zu sein, es „bleibt nichts für den Willen übrig, was ihn bestimmen könne, als, objektiv, das Gesetz, und, subjektiv, reine Achtung105 für dieses praktische Gesetz, mithin die Maxime,106 einem solchen Gesetze, 100 101 102 103 104 105 106 Das sieht Aristoteles im Grunde nicht anders: die Vernunft als praxis-orientiertes Vermögen, das den Menschen von anderen Lebewesen unterscheide. Vgl. (Kant 1975b, p. 21 f.). An einer späteren Stelle äußert sich Kant nochmals zur Glückseligkeit. Sie anzustreben, sie zu sichern, verstehe er durchaus als Pflicht, allerdings aus dem negativen Grund, dass ein Mangel an Zufriedenheit Grund für ‚eine große Versuchung zur Übertretung der Pflichten‘ sein könne; vgl. (Kant 1975b, p. 25). Bei Kant heißt das wirklich so. Vgl. (Kant 1975b, p. 23 f.). Die Maxime ist nichts anderes als die Bereitschaft, dem Gesetz Folge zu leisten, vermittelt durch das Motiv der reinen Achtung vor dem Gesetz. Kant versteht unter Maxime das ‚subjektive Prinzip des Wollens‘; vgl. (Kant 1975b, pp. 27, Anm. Sternchen). 48 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. selbst mit Abbruch aller meiner Neigungen, Folge zu leisten“ (Kant 1975b, p. 27). Aber wie kommt es dazu? Die Autonomie des Selbst oder die Willensfreiheit ist bei Kant ein eigentümliches Konstrukt. Er sagt: „ […] der Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft, unabhängig von der Neigung, als praktisch notwendig, d. i. als gut erkennt“ (Kant 1975b, p. 41). Mit der Freiheit kann es nicht allzu weit her sein, wenn der Wille eine eigentliche Wahl gar nicht mehr hat, so möchte man einwenden. Oder aber Wille und praktische Vernunft fallen ohnehin zusammen und beide wollen dasselbe, eben das Gute. Damit wird nun aus einer Wahlfreiheit – die es bei Aristoteles noch in Form der Entscheidung, der prohaíresis, gegeben hat107 – die Zustimmung zu einem vorausgesetzten Notwendigen. Und dennoch, so weiß auch Kant, fielen Wille und Vernunft nicht zusammen, es gebe immer noch einen Teil des Willens, der ‚gewissen Triebfedern‘ unterworfen sei. Hier scheint also eine zweite, völlig anders geartete ‚Autonomie‘ des Willens auf, eine Autonomie, die sich aus der empirischen Seite des Lebens, aus dem Selbst als Sinneswesen speist. Doch diese Seite ‚Autonomie‘ zu nennen, käme Kant nicht in den Sinn, für ihn ist diese dunkle Abteilung des Menschen nur etwas, das die Reinheit des Willens gefährde. Aber er ist so realistisch, den Menschen als ein Wesen anzuerkennen, dessen Wille sich der Vernunft verweigern könne, ihr ‚seiner Natur nach nicht notwendig folgsam‘ sei.108 Deshalb, so Kant, nehme die Vernunft gegenüber dem Willen die Form des Gebots an: Das objektive Prinzip (des Gut-Handelns) sei für den Willen nötigend und präsentiere sich ihm als Imperativ, als ein Sollen.109 Die Vernunft ist hier das Gebietende, der Wille das Gehorchende. Kant und Ricoeur begeben sich auf die Suche nach den Maximen oder praktischen Prinzipien, die die Kraft hätten, die subjektiven Zwecke der Subjekte einzuschränken, das werden sein: erstens die Universalität (die den Maximen Gesetzescharakter verschreibt), zweitens die Idee vom Menschen als Zweck an sich selbst und schließlich das Konstrukt der Selbstgesetzgebung. 2.2.1.2. Universalität Kant hält nur Imperative kategorischer Natur für würdig, Sittlichkeit in ihren Namen zu führen: also nur solche Sollenssätze, die um ihrer selbst willen be107 108 109 … auch wenn sie über das telos nicht entscheidet (wird in der Bilanz später noch einmal aufgegriffen). Vgl. (Kant 1975b, p. 41). Vgl. (Kant 1975b, p. 41 f.) Bei Hegel wird das Sollen aus der Unbestimmtheit des dem Guten sich zuwendenden Gewissens auftauchen; siehe unten in Kapitel E.3, die Ausführungen zum Gewissen, zum Guten und Bösen. 49 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. folgt zu werden beanspruchen. Der kategorische Imperativ sei Gesetz – er lasse „dem Willen kein Belieben im Ansehen des Gegenteils frei“ (Kant 1975b, p. 50) und lasse sich als abstrakte Formel denken, die nur das Gesetz und die Notwendigkeit der Maxime, dem Gesetz zu folgen, beinhalte: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die110 du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ (Kant 1975b, p. 51). Die Beziehung von Befehl und Gehorsam, so Ricoeur, habe Kant hiermit ‚nach innen verlegt‘, das Vermögen des Befehlens111 und Gehorchens112 demselben Subjekt zugeordnet.113 Ricoeur fragt Kant, ob die Autonomie tatsächlich so autonom sei, wie der Begriff es nahelege; ob es nicht bei ihm ‚Orte virtueller Aporie‘ gäbe, an denen der Autonomie ein Element zugesprochen werde, das ihren eigenen Begriff beschädige oder zumindest relativiere. Ja, stimmt Kant zu, in seiner ‚Dialektik der reinen praktischen Vernunft‘, habe er sich gefragt, wem der freie Wille – neben dem sittlichen Gesetz – noch ausgesetzt sei, also die Frage nach dessen Triebfedern114 gestellt. Dies sei vor allem die Selbstsucht, also die Summe aller Neigungen. Unterteilen könne man die Selbstsucht noch in Selbstliebe/Eigenliebe (ausschließliches Wohlwollen gegen sich selbst) und in Eigendünkel (Wohlgefallen an sich selbst). Die reine praktische Vernunft tue, so drückt sich Kant aus, der Eigenliebe nur soweit Abbruch, als sie sie auf den Umfang der ‚Einstimmung mit dem sittlichen Gesetz‘ begrenze;115 den Eigendünkel dagegen schlage die praktische Vernunft ‚gar nieder‘116. Das moralische Gesetz werde hiermit – indem es den Eigendünkel niederringe und demütige – Gegenstand der größten Achtung. Auch wenn man die Frage beiseite lässt, wer die Achtung generiert – wenn das, was geachtet wird, doch die Vernunft selbst ist –, Ricoeur jedenfalls sieht hier eine Verknüpfungsmöglichkeit zur teleologischen Ethik: Die Achtung sei diejenige Selbstschätzung, „die durch den Filter der universalen und zwingenden Norm hindurchgegangen ist, kurzum: Selbstschätzung unter der Herrschaft des Gesetzes“ (Ricoeur 2005a, p. 261). Während sich die Selbstschätzung 110 111 112 113 114 115 116 Akademie-Ausgabe: „von der“; vgl. (Kant 1975b, pp. 51, Anm. 1). Genau genommen taucht die Selbstgesetzgebung erst in einer weiteren Formulierung des kategorischen Imperativs auf, siehe weiter unten den Abschnitt zur Selbstgesetzgebung. Das wohl korrekte Paar von Zustimmung vs. Gehorchen wäre allerdings schwächer gewesen als das von Ricoeur benutzte von Befehlen vs. Gehorsam. Mit der Apodiktizität des Gesetzes, das dem Willen keine Alternative zugesteht, entfällt im Grunde auch die Option der Gehorsamsverweigerung und damit am Ende auch die Trennung von Befehl und Gehorsam. Vgl. (Ricoeur 2005a, p. 253). Subjektive Gründe des Begehrens. = ‚vernünftige Selbstliebe‘; vgl. (Kant 1975b, p. 193). Denn nur die Gesinnung, so Kant, die mit dem moralischen Gesetz übereinstimme, sei die erste Bedingung allen Werts einer Person; vgl. (Kant 1975b, p. 193). 50 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. auf ein gutes Leben ausrichte, orientiere sich die Selbstachtung an der gesetzgebenden Vernunft selbst. Die selbst generierte Achtung vor dem Gesetz als Retterin der Autonomie, so könnte man Ricoeurs Lösung zusammenfassen. Dass das Selbst die Leistung der Vernunft als eine Negation des selbstsüchtigen Willens, als Pflicht und Sollen registriert, schmälert in Kants Augen nicht dessen Autonomie, sondern nötige ihm die Achtung vor der Leistung seiner reinen Vernunft ab. 2.2.1.3. Mensch als Zweck an sich selbst Kant fragt weiter, wie es sein könne, dass die Vernunft für sich allein das Verhalten bestimme, er fragt nach dem Beweggrund117. Was er sucht, müsse an sich selbst einen absoluten Wert haben, müsse ein Zweck an sich selbst sein. Und das ist für ihn der Mensch118, die „Idee der Menschheit, als Zwecks an sich selbst“ (Kant 1975b, p. 61). Bis hierher hat Kant zwei Bedingungen genannt, die den subjektiven Zwecken Schranken setzten, die Universalität (der ersten Formel des kategorischen Imperativs) und den eben genannten Beweggrund der Vernunft, den Menschen als Zweck an sich selbst zu respektieren (die bereits auf die zweite Formel verweist und auf der zweiten Etappe noch einmal ausführlich zur Sprache kommen wird). 2.2.1.4. Selbstgesetzgebung Die Idee der Selbstgesetzgebung sei als dritte Einschränkung der reinen Subjektivität „die Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens“ (Kant 1975b, p. 63). In diesem Prinzip zeigt sich deutlich die Paradoxie des Kantischen Modells: „Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen, daß er auch als selbstgesetzgebend119 […] angesehen werden muß“ (Kant 1975b, p. 64). Das ‚auch‘ in ‚auch 117 118 119 Kant unterscheidet Beweggründe als ‚objektive‘ Gründe des Wollens (welche für alle vernünftigen Wesen gälten) von den ‚subjektiven‘ Gründen des Begehrens (die er, wie eben bereits angemerkt, Triebfedern nennt); vgl. (Kant 1975b, p. 59). … und nicht bloß als Mittel. Hier scheint die zweite Formulierung des kategorischen Imperativs auf, auf die auf der folgenden zweiten Etappe beim Übergang von der Autonomie zur Dialogizität eingegangen wird. Da die Gesetzgebung, so Kant, allen Wert bestimme, müsse sie selbst einen unbedingten Wert, eben Würde, besitzen. Und etwas später sagt er, dass die Würde der Menschheit eben in der Fähigkeit bestünde, allgemein gesetzgebend und zugleich dieser Gesetzgebung unterworfen zu sein; vgl. (Kant 1975b, p. 74). 51 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. als selbstgesetzgebend‘ vermag die Paradoxie nicht zu lindern. Entweder will ich etwas, dann muss ich es mir nicht als Gesetz verordnen; oder aber ich will es nicht, dann nützte ein Gesetz, das ich mir selbst gäbe, auch nicht viel. Ich müsste also das Gesetz wollen, das mir befiehlt – und damit begänne der Kreislauf von vorne. Diese Paradoxie aber soll hier nur am Rande bemerkt werden, die Idee der Selbstverpflichtung ist für die deontologische Ethik wesentlich und wird Ricoeur120 und uns weiter begleiten auf dem Weg einer ricour-originären Verknüpfung von teleologischem und deontologischem Ansatz. Zudem wäre es vermessen, das Kantische Modell unberücksichtigt zu lassen, was nicht zuletzt in der erzählenden und dramatischen Literatur immer wieder zum Tragen kommt: beispielsweise beim Helden, dem zwei Seelen, ach, in seiner Brust schlagen. Ricoeur stellt auch hier die Frage nach der Aporie von Autonomie und Passivität.121 Kant erinnert an seine ‚Kritik der praktischen Vernunft‘, dort habe er den Begriff des ‚Faktums der reinen Vernunft‘ eingeführt: „Denn reine, an sich praktische Vernunft ist hier unmittelbar gesetzgebend. Der Wille wird […] als reiner Wille, durch die bloße Form des Gesetzes als bestimmt gedacht“ (Kant 1975b, p. 141). Als Faktum der reinen Vernunft sei das Gesetz als gegeben anzusehen, dem der Wille unterworfen sei. Damit löst er die Aporie nicht auf, sie wird ein grundlegendes Element der Kantischen Konstruktion bleiben. 2.2.1.5. Konflikte der Autonomie Der eben dargestellten Aporie der Selbstgesetzgebung eingedenk, lenkt Ricoeur, wenn auch an späterer Stelle seines Werks, den Fokus auf die Rückführung der deontischen Ethik Kants auf verborgene Fundamente122 aus der teleo- 120 121 122 Für Ricoeur jedenfalls ist jenes dritte Prinzip unproblematisch, lediglich ein Ort, an dem man der Freiheit begegne, die den Willen in seiner fundamentalen Struktur ausmache; vgl. (Ricoeur 2005a, p. 255). Ein paar Zeilen weiter schreibt er: Der Gehorsam sich selbst gegenüber habe seinen Charakter der Abhängigkeit und Unterwerfung verloren. „Der wahre Gehorsam, so könnte man sagen, ist die Autonomie“ (Ricoeur 2005a, p. 256). So kann man die Paradoxie auch einebnen … Der dritte ‚Ort virtueller Aporie‘ ist nach Ricoeur der Hang zum Bösen. Ricoeur stellt die Frage, ob nicht seit Kant im Versuch, eine Deontologie der Moral von allen teleologischen Wurzeln der Ethik zu befreien, immer wieder die Ethik durchscheine. Dabei ist es einfach: Gerade in der Deontologie der Moral zeigt sich doch völlig ungeschminkt der Kern eines systemerhaltenden Miteinander-Umgehens. Und je diversifizierter Gesellschaft und Staat sich entfalten, desto mehr erlaubt sich der Staat, das Gesetzliche via Sozialisation den Individuen als Freiheit ‚zurückzugeben‘, so dass sie von sich aus sich so verhalten, wie es ein Gesetz vorzuschreiben kaum noch nötig hat. 52 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. logischen Ethik des Aristoteles. Schlüssel seien systemeigene Konflikte123 innerhalb der Kantischen Ethik, die selbst (Konflikt-)Situationen erzeuge, in denen die praktische Weisheit auf die ursprüngliche Intuition der teleologischen Ethik zurückzugreifen gezwungen sei, eben auf die Ausrichtung auf ein ‚gutes Leben‘. Ricoeur sucht also nach Konflikten, die innerhalb der Kantischen Pflichtenethik auftauchten und – so seine originelle Antwort – nach einer Lösung in der teleologische Ethik riefen. Konflikte erzeuge beispielsweise die Moralität dort, wo der Universalitätsanspruch – der sich auf Regeln berufe – mit der Anerkennung positiver, also nicht mehr universalistischer Werte aus geschichtlichen und gemeinschaftlichen Kontexten konfrontiert werde. Ricoeur – nun auf der Suche nach ‚Versöhnungen‘ – bettet die Autonomie in die Regeln von Gerechtigkeit und Gegenseitigkeit ein, entzieht ihr also den Charakter der ‚Selbstgenügsamkeit‘ und interpretiert sie in ihrer dialogischen Verfasstheit. Es ergebe sich eine neue Bestimmung des Verhältnisses von Autonomie und Heteronomie: Die Autonomie zolle der Heterogenität Tribut, Heterogenität verstanden als Andersheit. Ricoeur löst damit zwar nicht die Aporien der Autonomie, aber er hofft, das widersprüchliche Gegenüber unter dem Etikett der Andersheit ‚gefügiger‘ machen zu können. Was gewinnt aber Ricoeur, wenn er die Aporien der Autonomie aus dem Blickwinkel der Andersheit betrachtet? Ist das Gesetz nicht nach wie vor ein unversöhnliches Gegenüber, dem sich die Autonomie beugt (und damit sich selbst infrage stellt)? Unabhängig von der Stichhaltigkeit der Ricoeur’schen ‚Neuinterpretation‘ ist seinem Grundgedanken schon zuzustimmen: Kant lässt alle Bedingungen der Welt bis zur Unkenntlichkeit zusammenschnurren und inthronisiert in diesem leer gefegten Raum das völlig unabhängige und autonome Individuum, das sich, wie merkwürdig auch immer, selbst in vollständiger Freiheit Gesetze gibt. Und hier hakt Ricoeur ein, schon allein das Nachdenken über Gesetze unterstellt ja, so kann man ihm beipflichten, die Gemeinschaft, also die Anderen. Ricoeur spart nicht mit Vorwürfen. Kant wende das Prinzip der Universalität zu restriktiv an, ihn interessiere nur die Widerspruchsfreiheit. Diese Reduktion „stellt ein außerordentlich armes Konzept der Kohärenz vor, die ein System der Moral beanspruchen darf“ (Ricoeur 2005a, p. 334). Anders als Kant versuchten Moralphilosophen nach ihm Pflichten aus höchsten Prinzipien der Moral ‚krea- 123 Ricoeur stellt die Konflikte erst in seiner neunten Abhandlung dar, wobei er die Ebenen in umgekehrter Reihenfolge durchschreitet, also beginnend mit der der Institutionen, sich dann dem Anderen als Selbstzweck zuwendend und am Ende beim autonomen Selbst ankommend. Um der Übersichtlichkeit willen erlaube ich mir, die Aufdeckung der teleologischen Wurzeln in der deontologischen Ethik via Konfliktbegriff hier bereits zu integrieren. 53 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. tiver‘ abzuleiten und dabei im Blick auf konkrete Handlungsanweisungen eine ‚gewisse Produktivität des Denkens‘ walten zu lassen124. 2.2.1.6. Reich der Zwecke Kant will nichts von der Kritik Ricoeurs und dessen ‚kreativer‘ Rückführung auf die Teleologie hören, er knüpft an seine Überlegungen zur Autonomie noch einen weiteren ‚fruchtbaren Begriff‘ an, nämlich den eines ‚Reichs der Zwecke‘. Dieses Reich soll hier nur gestreift werden, weil es bereits auf die Folgeetappen der Dialogizität und der Institutionen verweist. Aber soweit das Reich der Zwecke etwas über die Autonomie des Selbst aussagt, mag ein kurzer Blick schon hier zu rechtfertigen sein. Das autonome, vernünftige Wesen trete mit anderen in ein gemeinsames Reich ein, wo es zugleich Glied der Gemeinschaft sei – den selbst gegebenen Gesetzen als Pflichten unterworfen – und Oberhaupt, weil es in seiner gesetzgebenden Funktion keinem anderen Willen untertan sei. Die Pluralität der Bewohner jenes Reiches ist reine abstrakte Quantifizierung, weil man zur Bestimmung jener Zwecke, so Kant, „von dem persönlichen Unterschiede vernünftiger Wesen, imgleichen allem Inhalte ihrer Privatzwecke abstrahiert“ (Kant 1975b, p. 66). Die einzelne Vernunft beziehe in einem solchen Reich der Zwecke jede seiner Maximen als allgemein gesetzgebend auch auf jeden anderen Willen, nicht nur auf sich selbst: Was allein ein Zweck an sich selbst sei, das habe nicht nur einen relativen Wert (einen ‚Preis‘, der eines Äquivalents bedürfe), sondern einen absoluten: die Würde.125 Das Reich der Zwecke ist für Kant also vorstellbar als eine ‚Welt vernünftiger Wesen‘, „und zwar durch die eigene Gesetzgebung aller Personen als Glieder“ (Kant 1975b, p. 72). Dieses Grundmuster taucht in Modellen des Kontraktualismus auf, wie es bereits oben im Modell von Thomas Hobbes berührt worden ist. Kants Zeichnung eines mundus intelligibilis darf allerdings nicht vorschnell mit der Bildung einer tatsächlichen Gesellschaft verwechselt werden. Gleichwohl weist ein solches Reich der Zwecke auf die prinzipielle Trennung auch eines realen Staatswesens (dem Ideal von Verpflichtung und Verbindlichkeit) von den partikularen Interessen seiner Bürger hin. Kants Perspektive scheint zwischen Autonomie und Heteronomie zu irrlichten, scheint sich immer wieder zu verfangen in Aporien und Paradoxien. Das Individuum kann sich das eine Mal für seine Partikularität, für seine Neigun124 125 Vgl. (Ricoeur 2005a, p. 334). Würde als innerer, unbedingter Wert, wie beispielsweise Treue im Versprechen, Wohlwollen aus Grundsätzen (nicht aus ‚Instinkt‘, wie Kant es ausdrückt). Vgl. auch (Kant 1975b, p. 67 f.). 54 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. gen entscheiden und das andere Mal für das kategorische und selbstgegebene Gesetz. Kant hat den realen Menschen im Blick, in dessen Innern er eine autonome Willenskraft im Reich einer reinen Vernunft entdeckt, die dem Menschen als Gattungswesen zukommt. Das ist Kants Idealismus, ja, aber das sollte nicht einfach als eine Denkrichtung abgetan werden, die sich keinen Bezug auf die Wirklichkeit zutraut. Das kritische Potential des Kantischen Idealismus wird am Ende dieses Spaziergangs gewürdigt. * Vor dem Übergang zur Dialogizität zwischen dem Selbst und dem Anderen lohnt die Frage, welchen Einblick uns das Kantische Modell in die Fundamentalmoral gibt. Das Selbst ist in seiner Autonomie im Vergleich zur antiken Ethik erheblich aufgewertet worden. Es ist zwar dem Sittengesetz unterworfen, aber es nimmt eine völlig neue, zusätzliche Rolle ein, nämlich die des Gesetzgebers. Das Individuum sieht sich mit Regeln konfrontiert, die es im Grunde zwar gar nicht in Frage stellen kann, weil es ihnen unterworfen ist, von denen es aber gleichzeitig weiß, dass sie am Ende die eigenen sind.126 Die Regeln der Konkurrenz und des Austauschs zu befolgen, ist so selbstverständlich wie das Streben nach der Erfüllung materieller Bedürfnisse. Die Kantische Autonomie versetzt das Individuum in eine paradoxe Lage: Es ist Gesetzgeber von Regeln, die für alle gelten und die durch eigene Neigungen und Bedürfnisse nicht verunreinigt sind; und zugleich ist es Untertan, Gefangener seiner Autonomie, die es von Grund auf achtet und respektiert. Den Regeln von Konkurrenz und Austausch sich zu unterwerfen, ist ein Akt des autonomen Willens, und zwar ungeachtet dessen, was Konkurrenz und Austausch einem damit praktisch bescheren. 2.2.2. Zweite Etappe: Fürsorge und Norm Ricoeur begibt sich nun mit Kant auf die zweite Etappe, die zur dialogischen oder interpersonalen Ebene führt, die die beiden schon auf der ersten Ebene bei der Besprechung der Konflikte der Autonomie des Selbst berührt haben. Im Gepäck der beiden liegt die zweite Formulierung des kategorischen Imperativs, die den Selbstbezug der ersten Formel um das Prinzip der Dialogizität ergänzt: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden Anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (Kant 1975b, p. 61) – und Kant raunt Ricoeur kurz vor dem Aufbruch zu: „Wir wollen sehen, ob sich dieses bewerkstelligen lasse“ (Kant 1975b, p. 61). 126 Aushaltbar ist eine solche Aporie, indem der Einzelne den Charakter des Gesetzes als eines Selbstgemachten vergisst. Marx wird diesem Phänomen mit dem Begriff der Entfremdung zu Leibe rücken. 55 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Ricoeur nimmt seine Idee der Achtung127 wieder auf und wendet sie auf die interpersonale Ebene an: Die Achtung, die man Personen schulde, sei kein äußerliches, heterogenes moralisches Prinzip, sondern entfalte bereits auf der Ebene der Verpflichtung (dem Gesetz gegenüber) ihre implizite dialogische Struktur.128 Den Anderen zu achten, so ist diese These zu verstehen, werde nicht von außen an das Selbst herangetragen, sondern sei bereits in der Selbstgesetzgebung der Autonomie enthalten. Für Ricoeur ist der Begriff der Achtung zentral: der „emblematische Titel der gesamten Lehre der Moralität“ (Ricoeur 2005a, p. 259). Doch aus welchem Faden ist die Verbindung vom Selbst zum Anderen gewebt? 2.2.2.1. Die Goldene Regel Es gebe, so Ricoeur, etwas wie eine Übergangsformel, die die Norm der Achtung im Kantischen Imperativ mit der dialogischen Struktur der aristotelischen Ausrichtung – also der Fürsorge129 – verbinde, und zwar einen jener Begriffe, die der Philosoph nicht zu erfinden brauche: die Goldene Regel. Neben negativen Formeln – ‚Was dir unlieb ist, tue keinem anderen‘ 130 – stünden positive131 wie ‚Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen‘132, wobei, so Ricoeur, das positive Gebot deutlicher das Wohlwollen zum Ausdruck bringe und damit konsequent zum christlichen Gebot der Nächstenliebe133 führe: ‚Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst.‘134 Die Goldene Regel, so Peter Welsen auf dem Forschungskolloquium in Münster, setze voraus, dass sich die Subjekte usprünglich in wechselseitiger Fürsorge gegenüberstünden, „also ihr Verhalten am Telos des Wohls des Anderen135 ausrichten“ (Welsen 1999, p. 30). 127 128 129 130 131 132 133 134 135 Auf der ersten Etappe hat Ricoeur die Achtung auf die Selbstgesetzgebung bezogen, hier erweitert er den Bezugsraum über das Selbst hinaus. vgl. (Ricoeur 2005a, p. 265). Fürsorge als gegenseitiger Austausch von Selbstschätzungen; vgl. (Ricoeur 2005a, p. 268). Ricoeur zitiert den Babylonischen Talmud, Schab 31a; vgl. (Ricoeur 2005a, p. 265). Hobbes stößt in der Formulierung seines zweiten Naturgesetzes im Naturzustand ebenfalls auf die Goldene Regel, und zwar auf die positive Fassung, allerdings ohne gleich in die Fürsorge abzugleiten: Ein Mensch solle bereit sein – unter der Bedingung, dass es andere auch seien –, seinem „Recht auf alle Dinge zu entsagen und mit so viel Freiheit gegen andere zufrieden zu sein, wie er anderen gegen sich selbst zugestehen würde“ (Hobbes 1996, p. 108). Dieses nun sei das ‚Gesetz des Evangeliums‘: „Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch“ (Hobbes 1996, p. 109). Ricoeur zitiert das Lukasevangelium, Lk 6,31; vgl. (Ricoeur 2005a, p. 265). Siehe auch unten Ausführungen zur agape in Kapitel F.2. Ricoeur zitiert das Matthäusevangelium, Mt 22,39; vgl. (Ricoeur 2005a, p. 266). … wenn der Maßstab auch der des eigenen Wohls ist. 56 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Die Norm der Gegenseitigkeit, die am stärksten in der affirmativen Formulierung im Lukasevangelium zur Geltung komme, stehe, so Ricoeur, kontrastierend einer Asymmetrie der Handlungsträger gegenüber, die sich erstrecke von einer ursprünglichen Asymmetrie zwischen dem Selbst, das tue, und dem Anderen, mit dem etwas getan werde, bis hin zur Machtausübung (in abfallender Linie von der sanften Beeinflussung bis zur Folter). Auf sämtliche Gestalten des Bösen antworte das Nein der Moral. Auf der Ebene der ethischen Ausrichtung sei die Fürsorge durch und durch affirmativ, sie sei die ‚heimliche Seele des Verbots‘: „Sie wappnet letzten Endes unsere Empörung (indignation), das heißt unsere Ablehnung der dem Anderen aufgezwungenen Entwürdigung (indignité)“ (Ricoeur 2005a, p. 268). 2.2.2.2. Menschheit vs. Person Ricoeur fragt, ob sich die der christlichen Nächstenliebe liegende ‚Norm der Gegenseitigkeit‘ auch bei Kant finden lasse. Die zweite Formel des kategorischen Imperativs belegt das Selbst wie auch seines Gegenübers mit einem spannungsgeladenen Begriffspaar, dem singulären Begriff der Menschheit136 und dem der Person als Zweck an sich selbst, der eine Verschiedenheit oder Pluralität der Individuen zu berücksichtigen verlange. Der Begriff der Menschheit überlagere die Polarität zwischen Handelndem und Erleidendem, die Andersheit137 werde, so Ricoeur, durch den Begriff der Menschheit geschwächt und nahezu eliminiert. Dem Begriff der achtungswürdigen Menschheit, der die Universalität garantiere, stellt Kant nun den der Person an die Seite, der davor schütze, so gelesen zu werden, dass den Einzelnen in ihrer Mannigfaltigkeit jede Originalität abgesprochen würde138: „Erst mit der Person tritt die Pluralität auf“ (Ricoeur 2005a, p. 272). Wie die Goldene Regel – sie leite, so Ricoeur, von der ersten zur zweiten Formulierung des kategorischen Imperativs über139 – gründe auch die zweite For136 137 138 139 Die ‚Menschheit’ sei ein singulärer Begriff im Unterschied zu dem einer abstrakten Allgemeinheit der ersten Formel (in der Allgemeinheit des Gesetzes). Durch die asymmetrische Beziehung der Macht eines Willens über einen anderen werde die Polarität noch dramatisiert. Allerdings, so gilt es hier einzuwenden, sei beides schon vorher zusammen gedacht worden: der Begriff der Menschheit als Legitimationsfolie im Hintergrund, vor der – durchaus im gebietenden Modus – die Behandlung des Anderen in seiner faktischen Besonderheit statthaben kann. Kant würde sich vermutlich gegen eine solche Vereinnahmung wehren. So schreibt er in einer Anmerkung zum Fall eines ‚lügenhaften Versprechens‘, dass hier nicht ‚das triviale: quod tibi non vis fieri etc‘ (Was du nicht willst, dass man dir tue …) zur Richtschnur oder Prinzip dienen könne. Die Goldene Regel könne nach Kant kein allgemeines Gesetz sein, denn sie „enthält nicht den Grund der Pflichten gegen sich selbst, nicht 57 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. mel auf einen Mangel, und zwar einen Mangel an Gegenseitigkeit. Die Achtung gegenüber der Person aber beanspruche nun, diesen Mangel aufzuheben, nämlich „dort Gegenseitigkeit zu etablieren, wo Mangel an Gegenseitigkeit herrscht“ (Ricoeur 2005a, p. 272). Die Idee der Menschheit tauche nun nicht mehr nur als Doppelgänger der Universalität aus dem Autonomieprinzip der ersten Formel auf, sondern ziele innerhalb des Personenbegriffs auf die wirkliche Andersheit.140 Und darin, so Ricoeur, finde „die zweite Formulierung des kategorischen Imperativs […] ihre volle Originalität wieder“ (Ricoeur 2005a, p. 272). Was nun die hier behauptete Korrelation von Person und Zweck an sich selbst angeht, dazu meldet sich Kant noch einmal zu Wort. Jeder Mensch stelle sich sein eigenes Dasein als Zweck an sich vor. Und weil sich jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein ebenso vorstelle, sei die Zweck-an-sich-Bestimmung nicht nur ein subjektives, sondern auch ein objektives Prinzip menschlicher Handlungen. Kant will dieses Prinzip der Menschheit allerdings nicht als ‚aus der Erfahrung entlehnt‘ verstanden wissen, sondern als objektives Prinzip, als objektiven Zweck, „der, wir mögen Zwecke haben, welche wir wollen, als Gesetz die oberste einschränkende Bedingung aller subjektiven Zwecke ausmachen soll“ (Kant 1975b, p. 63). Kant lässt uns an dieser Stelle wiederum etwas ratlos zurück. Mehr als eine Behauptung141 ist hier nicht herauszulesen, dass nämlich das Prinzip der Menschheit eben darauf beruhe, den Anderen als Zweck an sich selbst zu behandeln. Es ist, so könnte man Kant zugestehen, eben nur eine ‚Idee der Menschheit‘142 – der Mensch als Zweck an sich selbst –, aber in einer solchen wesentlichen Frage nach den Grundfesten der Moral keimt bei dem einen oder anderen Leser doch die Erwartung einer Begründung auf, die darüber hinausgehen sollte, den Selbstzweckcharakter des Menschen aus seiner Natur lediglich zu postulieren. Ricoeur bringt ein weiteres Mal die Goldene Regel ins Spiel, sie gehe von einer ursprünglichen Asymmetrie aus, der sie die Forderung nach Gegenseitigkeit entgegenhalte. Und sei es nicht legitim, so fragt er abschließend, „hinter der Goldenen Regel der Stimme der Fürsorge Gehör zu verschaffen, die ver- 140 141 142 der Liebespflichten gegen andere […], endlich nicht der schuldigen Pflichten gegen einander“ (Kant 1975b, pp. 62, Anm. Sternchen). Und was anderes, so fragt Ricoeur, bedeute das Verbot der ausschließlichen Mittelnutzung des Anderen als das Verbot einer Machtausübung über dessen Willen; einer Machtausübung, die sich in allen Formen der Gewalt entfessele und in der Folter gipfele? Vgl. (Ricoeur 2005a, p. 272). Entsprechendes gilt für den Personenbegriff Kants. Vernünftige Wesen, deren Natur „sie schon als Zwecke an sich selbst, d. i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet“, werden Personen genannt. (Kant 1975b, p. 60) Die Verbindung zwischen Personenstatus und Existenz als Zweck an sich selbst sei, so bemerkt Kant einsichtig, nur ein Postulat; vgl. (Kant 1975b, pp. 61, Anm. 1) und (Ricoeur 2005a, p. 273). Vgl. (Kant 1975b, p. 61). 58 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. langt, die Pluralität der Personen und deren Andersheit nicht durch die umfassende Idee der Menschheit zu entwerten?“ (Ricoeur 2005a, p. 274) Auch hier glaubt Ricoeur auf dem Weg von Konfliktpotentialen innerhalb der Kantischen Ethik zu einer kreativen Erweiterung hin zu verborgenen teleologischen Wurzeln gelangen zu können. 2.2.2.3. Konflikte der Dialogizität Konflikte fänden sich dort, so behauptet Ricoeur, wo die Andersheit der Personen nicht mehr mit den Regeln vereinbar sei, die die Universalität der Idee der Menschheit generierten. Kants Universalisierungsprobe ziele immer nur darauf, die Tauglichkeit einer Maxime qua Widerspruchsfreiheit zu beweisen, doch ihr fehle, so Ricoeur, der Bezug auf die konkrete Situation. Er schlägt vor, die Regel einer Prüfung durch Umstände und Folgen zu ergänzen. Die Ausnahme – bei Kant lediglich von einem Willen in Anspruch genommen, der sich der Universalisierungsprobe entziehe143 –, die Ausnahme also „erhält hier ein anderes Gesicht, oder vielmehr: Sie wird zu einem Gesicht [visage], insofern die wahre Andersheit der Personen aus jeder von ihnen eine Ausnahme macht“ (Ricoeur 2005a, p. 321). Ricoeur illustriert das an zwei Phänomenen, dem des Versprechens und dem des Engagements. Jedes Versprechen sei Ausdruck eines Treueprinzips anderen gegenüber und jedes Engagement eine ‚Antwort‘, eine ‚Verfügbarkeit‘ für andere.144 Hier finde ein ‚Exodus‘ der Selbst-Ständigkeit zur dialogischen Struktur statt, die Goldene Regel rücke „den Anderen in die Position eines Verpflichtenden, der auf mich zählt, und sie macht die Selbst-Ständigkeit zu einer Antwort auf diese Erwartung“ (Ricoeur 2005a, p. 324). Zur Achtung der Regel aus dem Selbstbezug der ersten Etappe komme hier nun die Achtung der konkreten Person hinzu, die Kant zwar nicht ausgeschlossen, aber ihres Eigengewichts in der abstrakten Idee der Menschheit145 beraubt habe. Der konkrete Fall, so Ricoeur, müsse den Konflikt der beiden Rücksichtnahmen (Regel und Person) aushalten und eine Ausnahme von der Regel zu- 143 144 145 In einen Widerspruch gerate der Handelnde erst, wenn er sich qua ‚Ausnahme‘ der Universalisierungsprobe entziehe. Sein Handeln lasse ihn vor dem Hintergrund der immer noch geltenden und doch bereits beschädigten Universalisierung in Widerspruch zu ihr geraten. Hier bezieht sich Ricoeur auf Gabriel Marcel, Sein und Haben, Paderborn 1954, S. 45; vgl. (Ricoeur 2005a, pp. 324, Anm. 47). In einer Anmerkung fügt Ricoeur hinzu: „Im Grunde genommen neigt die Idee der Menschheit […] dazu, die Andersheit des Anderen abzuschwächen, wenn nicht sogar aufzuheben“ (Ricoeur 2005a, pp. 321, Anm. 42). 59 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. gunsten der Besonderheit des Anderen gestatten.146 Die praktische Weisheit147 bestehe also darin, „der Singularität des Falles entsprechende Verhaltensformen zu erfinden“ (Ricoeur 2005a, p. 326). Wo die Achtung selbst zur Konfliktquelle werde, verweise sie auf den teleologischen Begriff der Fürsorge, und zwar im Sinne einer ‚kritischen‘ Fürsorge, die für den konkreten Fall die moralischen Bedingungen der Achtung überprüfe: „Auf dem Gebiet zwischenmenschlicher Beziehungen nimmt die praktische Weisheit die Form dieser kritischen Fürsorge an“ (Ricoeur 2005a, p. 331). Der Rat der praktischen Weisheit oder phronêsis im Einzelfall lautet am Ende vor dem Hintergrund der Goldenen Regel also: Ziehe im Konflikt die Achtung der Person der Achtung der Regel vor. * Die zweite Formulierung des kategorischen Imperativs spiegelt deutlich die in dieser Arbeit im Zentrum stehenden Elemente der Fundamentalmoral. Schon die Formulierung Kants erlaubt die Mittelnutzung des Anderen, dessen Zweckberücksichtigung lediglich einen ausschließlich instrumentellen Bezug auf ihn verbietet.148 In der Konkurrenz um Güter jedweder Art erleben sich die Individuen wechselseitig als Grenzen ihres freien Zugriffs auf die begehrten Objekte, sie sind gezwungen, um sie zu streiten. Die Einschränkung nun, den Anderen auch als Zweck an sich selbst zu achten, hebt die Konkurrenz nicht auf, sondern hegt sie ein, minimiert das, was Ricoeur als Ausübung von Macht und Anwendung von Gewalt beschreibt. Sich nicht wechselseitig die Köpfe einzuschlagen, sondern ‚zivilisiert‘ miteinander zu konkurrieren, bringt die zweite Formel des kategorischen Imperativs auf den Punkt. Auch der Austausch, also die Reziprozität eines solchen Mittel-Zweck-Bezugs der Individuen aufeinander, ist in nuce angelegt und gelangt zur vollen Blüte, wenn eine Gesellschaft ihn zum ausschließlichen ‚Verkehrsmittel‘ der Konkurrenz erklärt. Die Idee der Menschheit verweist im Grunde auf nichts anderes als eine abstrakte Gleichheit, die der Konkurrenz einen staatlich geschützten Rahmen gibt, in dem die Konkurrierenden sich insoweit als gleich(berechtigt) anerkennen, als sie sich den Verkehrsregeln unterwerfen. Und die Ricoeur’sche Einschränkung jener Idee der Menschheit durch die Achtung der Person lässt die besonderen Bedürfnisse durchscheinen, die sich in Konkurrenz und Tausch auf 146 147 148 Lege man den Fall der den Sterbenden geschuldeten Wahrheit vor, liege die praktische Weisheit in der Besinnung aufs Verhältnis von Glück und Leiden: Wieviel Lüge schützt den Sterbenden und wieviel Wahrheit kann man ihm zumuten? Hier kündigt sich die praktische Weisheit oder phronêsis als mächtiges Instrument der Ricoeur’schen Ethik an. Die Goldene Regel nimmt zumindest in ihrer affirmativen Formulierung mehr noch das wechselseitige Wohlwollen in den Blick als die erlaubte Mittelnutzung. 60 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. das je begehrte Gut richten, ohne dabei die Regeln des Tauschverhältnisses infrage zu stellen. 2.2.3. Dritte Etappe: Die Prinzipien der Gerechtigkeit Ricoeur blickt mit Kant noch einmal in das Reich der Zwecke mit der Absicht, auch auf der dritten Ebene der Institutionen die antike Teleologie aufzuspüren. Das ‚bedeutendsten Erbe‘, das die Ethik des Aristoteles der Moral Kants hinterlassen habe, sei die Idee des Gerechten. Sie blicke nach beiden Seiten zugleich: zur Seite des ‚Guten‘ – als „Ausweitung der Fürsorge für das gesichtslose ‚Jedermann‘ in der Gesellschaft“ (Ricoeur 2005a, p. 276) – wie zur Seite des ‚Legalen‘, des positiven Gesetzes. 2.2.3.1. Gerechtigkeit als Prozedur Die Deontik, so führt Ricoeur weiter aus, versuche, der Idee der Gerechtigkeit jeden teleologischen Grund zu entziehen, und stoße dabei auf die Idee des Vertrags, eine Idee, der es in der Prozedur einer imaginären Debatte149 gelinge, das Gute neben oder unter dem Gerechten zu entdecken. Ricoeur glaubt, auf einer vielversprechenden Fährte zu sein. Doch Kant winkt ab, das Rätsel der Gründung der Republik sei für ihn nur einer Randbemerkung wert, er setze „ohne weitere Begründung150 die Verbindung zwischen Autonomie oder Selbstgesetzgebung und Gesellschaftsvertrag voraus, durch den jedes Mitglied einer Menge auf seine wilde Freiheit verzichtet, um sie in Form der bürgerlichen Freiheit als Mitglieder einer Republik wiederzuerlangen“ (Ricoeur 2005a, p. 277 f.). Ricoeur aber gibt nicht auf und wendet sich für einen kurzen Abstecher John Rawls zu, der die Frage nach dem Gerechten durch eine prozedurale Theorie rein deontologisch zu beantworten versuchte. Ich bleibe mit Kant zurück, 149 150 Idee oder Modell einer imaginären Debatte, die zu einem Gesellschaftsvertrag und damit zum Verlassen des Natur- oder Urzustands der Menschen führt. Man möge, so Kant zu Beginn des zweiten Teils seiner Rechtslehre (Metaphysik der Sitten), sich die Menschen im Naturzustand so ‚gutartig und rechtliebend‘ denken, wie man wolle, so liege doch a priori die Vernunftidee vor, dass man nie vor der Gewalt des Anderen sicher sein könne und deshalb der erste Grundsatz sein müsse: „man müsse aus dem Naturzustand, in welchem jeder seinem eigenen Kopfe folgt, herausgehen und sich mit allen anderen […] dahin einigen, sich einem öffentlich gesetzlichen äußeren Zwange zu unterwerfen“ (Kant 1975a, pp. 430,§ 44). Das ist nicht mehr oder weniger ‚begründet‘ als bei Hobbes. 61 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. wir warten geduldig auf die Rückkehr Ricoeurs von seiner Exkursion zu Rawls’ Gerechtigkeit als Fairness.151 Nach seiner Rückkehr erläutert er seine Eindrücke. Zunächst einmal befreie die prozedurale Begründung der Gerechtigkeit – als einer Gerechtigkeit der Verfahrensweisen von Institutionen – tatsächlich die Moral von der teleologischen Perspektive der Antike;152 eine Befreiung, die Rawls durchaus dem Universalitätsanspruch Kants zu verdanken habe. Und auf allen drei Ebenen regiere die Autonomie: die des vernünftigen Willens im Selbst, die in der Setzung des Anderen als Zweck an sich selbst und schließlich die der Institutionen qua Gesellschaftsvertrag. Wie weit allerdings, so fragt Ricoeur, könne ein solcher ahistorischer Vertrag eine ‚geschichtliche‘ Gesellschaft binden? Hier werde deutlich, wie weit sich der Kontraktualismus von der Kantischen Autonomie der persönlichen Freiheit entfernt habe: „Hier gibt es kein zu übernehmendes Faktum der Vernunft,153 sondern den umständlichen Rekurs auf eine Theorie der Entscheidung im Kontext der Unsicherheit“ (Ricoeur 2005a, p. 285). Die prozedurale Auffassung Rawls’ beruhe auf einem Vorverständnis dessen, was als gerecht und als ungerecht zu gelten habe; dem Vertragsprocedere gingen bereits Gerechtigkeitsvorstellungen als verbindlich anerkannt voraus. Doch diese ‚Zirkularität‘ in Rawls’ Argumentation – die „erst zu wählenden Gerechtigkeitsgrundsätze sind im Ge- 151 152 153 In gebotener Kürze: Im Urzustand legen die Individuen unter einem Schleier des Nichtwissens (was ihre zukünftige Stellung in der Gesellschaft betrifft) Regeln für das Verhalten von Institutionen fest. Allerdings verfügen sie über Grundkenntnisse der menschlichen Psyche und der Grundgüter (Bedürftigkeit) wie auch über den Respekt vor dem sie bindenden Vertrag. In dem Gesellschaftsvertrag (der Fairness) einigen sie sich auf zwei Gerechtigkeitsgrundsätze, einerseits auf die bürgerlichen Grundfreiheiten und andererseits auf den fairen Zugang zu Ämtern und Positionen (was Ungleichheit schaffe). Was die Akzeptanz von Ungleichheit angehe, so formuliert Rawls für beide Bereiche ‚Vorrangsregeln‘: Ungleichheit bei den Grundfreiheiten werde nur toleriert, wenn sie um der Freiheit willen eingeschränkt werden müssten. Und Ungleichheit im Sozialen und Ökonomischen werde nur toleriert, wenn die Gerechtigkeit als oberstes Prinzip walte, und zwar nach Geltung des Differenzprinzips: Eine Chancen-Ungleichheit beispielsweise könne nur akzeptiert werden, wenn das die Lage des am schlechtesten Gestellten verbessere. Quelle: Jörg Schroths ethikseite.de: http://www.ethikseite.de/rawls-overview.html; abgerufen am 30.7.2018. Jede teleologische Betrachtungsweise sei im Rawlsschen Modell an das ‚Privatbewusstsein der Vertragspartner des gesellschaftlichen Paktes‘ verwiesen worden, auf diese Weise „konnte der Begriff des Gerechten vollständig von dem des Guten abgelöst werden“ (Ricoeur 2005a, p. 343). In seiner Kritik der praktischen Vernunft schreibt Kant zum kategorischen Imperativ: „Man kann das Bewußtsein dieses Grundgesetzes ein Faktum der Vernunft nennen, weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Bewußtsein der Freiheit […] herausvernünfteln kann, sondern weil es sich für sich selbst uns aufdringt […]“ (Kant 1975b, p. 141). 62 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. rechtigkeitssinn der Beteiligten bereits enthalten“154 (Mandry 1999, p. 49) – sei nichtsdestoweniger ein ‚gesunder Zirkel‘. Ricoeur schlägt vor, ein weiteres Mal zu seiner Methode zurückzukehren und nach den Konfliktpotentialen zu suchen, um das Teleologische im Deontischen auch hier auf der dritten Ebene der Institutionen aufzudecken. 2.2.3.2. Konflikte der Gerechtigkeit Die Konfliktfelder fänden sich dort, wo eine Verschiedenheit gesellschaftlich zu verteilender Güter und abweichende Beurteilungen auszumachen seien, so die These Ricoeurs. Wenn die ‚primären gesellschaftlichen Güter‘ – also die als gut zu qualifizierenden und gerecht zu verteilenden Güter – unterschiedlich eingeschätzt würden, eröffnete sich ein Feld möglicher Diskrepanz von Macht und Herrschaft,155 auf dem politische156 Entscheidungen einem Urteil oder einer Überzeugung in einem historisch besonderen Augenblick ausgeliefert würden – und zwar auf drei Ebenen: (a) … auf der Ebene der alltäglichen Diskussion (vor allem der der Öffentlichkeit, aber auch, wenn auch weniger alltäglich, der der Wahlen) stünden sich konkurrierende Ansprüche um Prioritäten oder Präferenzen gegenüber; (b) … beim Streit um die Schlüsselbegriffe einer guten Regierung, also um prinzipiell vieldeutige Begriffe wie Sicherheit, Freiheit, Gleichheit, Solidarität oder Wohlstand; (c) … auf der Ebene des Legitmationsprozesses der Demokratie selbst fülle die Fiktion des Gesellschaftsvertrags eine Lücke, denn nur sie mache als eigentliche Quelle der Herrschaft (der Regierenden) die Macht (des Staatsvolks) wieder sichtbar. Hier gelte es, so Ricoeur, den Grund für das originäre Zusammenleben-Wollen der Menschen wieder bewusst zu machen. Ricoeur schreibt der politisch verfassten Gesellschaft eine geradezu gemeinschaftsbildende Kompetenz zu: „Und weil die bürgerliche Gesellschaft als Ort konkurrierender Interessen ebenfalls keine organische Bindungen zwischen konkreten Personen herstellt, erscheint die politische Gesellschaft als das einzi154 155 156 … so zitiert Mandry Ricoeur. Herrschaft, so Ricoeur, leite sich aus dem Zusammen-Leben-Wollen ab, mache aber ihre Quelle, die Macht der Gesellschaft, vergessen. Diesen Zusammenhang findet man in der Diskussion über den Souveränitätsbegriff innerhalb der politischen Wissenschaften. Die Herrschaft der Regierenden fußt in der repräsentativen Demokratie auf der Macht des souveränen (Wahl-)Volkes. Ricoeur definiert die Politik „als die Gesamtheit jener organisierten Praktiken, die sich auf die Verteilung der – besser Herrschaft genannten – politischen Macht beziehen“ (Ricoeur 2005a, p. 312). 63 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. ge Mittel gegen die Fragmentierung in isolierte Individuen“ (Ricoeur 2005a, p. 308). Eine zweite Lesart des Verhältnisses von Gesellschaft und Individuen, so möchte ich zu bedenken geben, könnte folgende sein: Ausgangspunkt sind die isolierten, den Mitteln ihrer Reproduktion beraubten Individuen. Das Gemeinwesen sorgt nun – wie oben in den einleitenden Gedanken zu den Elementen des Moralischen Paktes schon ausgeführt – für zweierlei: Erstens setzt es die rechtlichen Rahmenbedingungen für das Kantische Mein und Dein, es setzt also die Geltung des Privateigentums durch. Und zweitens sorgt es für den Bestand dieser Ordnung, indem es den Individuen ihre Gewaltpotentiale nimmt und auf sich selbst als Gewaltmonopol konzentriert. Also könnte man die ‚Fragmentierung der isolierten Individuen‘, von der Ricoeur spricht, bereits als Resultat staatlichen Handelns betrachten. In einem dritten Schritt sorgt dann das Gemeinwesen mit seinem ökonomischen System für die Aufhebung jener Isolation: Der im rechtlichen Rahmen stattfindende Tausch auf der Grundlage von Privateigentum, Konkurrenz und vertraglicher Absicherung sorgt für die Verbindung der Individuen, für deren ökonomische Vergesellschaftung. Damit stellt ‚die bürgerliche Gesellschaft als Ort konkurrierender Interessen‘ doch so etwas wie eine ‚organische Bindungen zwischen konkreten Personen‘ her. Allerdings, und da ist Ricoeur jedenfalls zuzustimmen, immer schon unter dem Dach einer ‚politischen Gesellschaft‘. 2.2.3.3. Autonomie als Fiktion Ricoeur blickt noch einmal zurück und erinnert an die Selbstreferenz der Gründe auf allen drei Ebenen, er nennt das: die Selbst-Autorisierung der letzten Gründe. Auf der ersten Ebene komme die Autonomie zu liegen, auf der zweiten die Person als Selbstzweck und auf der dritten der Gesellschaftsvertrag. Während die Prinzipien auf den ersten beiden Ebenen sich selbst als existierend157 autorisierten oder ‚bezeugten‘, könne der Gesellschaftsvertrag auf der dritten Ebene der Institutionen sich nur auf eine Fiktion158 berufen. Warum, so fragt Ricoeur, gäbe es bei der Frage nach der politischen Körperschaft keine Au157 158 Die Autonomie des Selbst könne lediglich als ‚Faktum der Vernunft‘ bezeugt werden (Moralität existiere); die Person als Zweck an sich selbst existiere ebenfalls als praktisches Vorverständnis; vgl. (Ricoeur 2005a, p. 288). Rawls’ Modell ist vielleicht gar nicht so ahistorisch, wie es auf den ersten Blick scheint. Geht es ihm nicht um eine Legitimationsbasis für die Verteilung von Gütern und Chancen eben auch für seine zeitgenössische Gesellschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts? Rawls setzt doch immer schon die Gesellschaft voraus, in der er lebt oder wie er sie sich wünscht – wie vermutlich jede kontraktualistische Theorie – und leitet von diesem Bild eine Modellbasis ab, von der aus sich dann die reale oder erwünschte Gesellschaft einigermaßen stringent generieren lässt. 64 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. torisierung, keine voraussetzungslose Legitimation wie beim autonomen Individuum und dem Menschen als Selbstzweck? Vielleicht, so mutmaßt er, verberge die Fiktion – lediglich ein ‚imaginärer Vertrag‘ – das ursprüngliche Zusammenleben-Wollen159 der Völker. Sei ein solcher primärer Zweck der Vergesellschaftung erst einmal vergessen, bleibe eben nur eine Fiktion, eine Erzählung. Und wenn man, so räsoniert Ricoeur, nun den Zweifel bezüglich der Vertrags (lediglich als einer Fiktion) auch auf das Autonomieprinzip und damit auf die ersten beiden Ebenen anwendete, könnte sich die Autonomie nicht ebenfalls als Fiktion herausstellen? – Nämlich als „eine Fiktion, die dazu bestimmt ist, die vergessene Fundierung der Deontologie im Wunsch, gut zu leben, mit Anderen und für sie, innerhalb gerechter Institutionen, wettzumachen?“ (Ricoeur 2005a, p. 289) Ein bemerkenswertes Gedankenspiel: Das eben noch letztbegründende Autonomieprinzip sei selbst nur eine ‚Erzählung‘, eine Fiktion, die die Fundamente der Autonomie zudecke, unsichtbar mache: nämlich das Gut-leben-Wollen (für den Einzelnen, die Anderen und die Gesellschaft). Wäre es nicht reizvoller, beim ersten Ricoeur’schen Gedanken zu bleiben – bei der kantischen Autonomie als ‚Grund-Bezeugung‘ des Individuums und des Bezugs auf andere? Und dann nur noch das Prinzip der Autonomie auch auf der dritten Ebene der Institutionen aufzuspüren, in jenem merkwürdigen ‚Fiktionsphänomen‘ des Gesellschaftsvertrags? Das dürfte nicht schwierig sein: Jeder (Gesellschafts-)Vertrag setzt die Autonomie der Vertragsabschließenden voraus, wäre ohne sie gar nicht denkbar. Und damit sind wir ans Ende des Spaziergangs der beiden Philosophen angelangt, auf dessen letztem Drittel Kant mehr und mehr seinen deontologischen ‚Nachdenkern‘ hat Platz machen müssen. Ricoeur jedenfalls hat sein Ziel erreicht: Gleichgültig, auf welcher Ebene – der des Individuums, der der Gesellschaft oder der des Staates – man sich Kant nähere, dessen Deontik führe – konsequent zu Ende gedacht – zurück zu einer teleologischen Wurzel, zur Idee des ‚guten Lebens‘. So jedenfalls Ricoeur. * Was den Moralischen Pakt angeht, so zeichnet er sich hier mit dem Verweis auf die dritte Ebene der Institutionen schon genauer ab. Konkurrenz und Austausch sind schon gestreift worden, sie bleiben weiterhin unterstellt, hier aber kommt mit dem Vertrag ein Prinzip der Sicherung ins Spiel. Verträge sind, wie oben ausgeführt, die institutionelle Erweiterung von Versprechen, sie formulieren bindend das erwünschte Resultat eines Austauschs, möge dieses auch in der Zukunft liegen. Verträge erhalten in Institutionen ihre eigentliche materielle 159 … dem er offensichtlich mehr Realität oder Substanz zuschreibt als einem fiktiven Gesellschaftsvertrag. 65 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Absicherung, nämlich eine solche, die die Nicht-Einhaltung mit Sanktionen belegt. Ohne dieses Pacta-sunt-servanda-Prinzip wären Verträge keine Verträge, sondern lediglich die Vorform im dialogischen Verhältnis: Versprechen. 2.2.4. Zwischenbilanz zu Kant Ein weiteres Mal sollte nach den Ergebnissen des Spaziergangs – dieses Mal mit Kant – für den Moralischen Pakt gefragt werden, besonders interessant scheint die Frage, inwieweit Kant über die aristotelische Ethik hinausgeht. (1) Autonomie des Individuums als Aufwertung des Selbst, das sich nun zum Selbst-Gesetzgeber aufschwingt, ohne seine Rolle als den eigenen Gesetzen gehorchend aufzugeben. Mit dem Autonomiebegriff gesellt sich zur Anerkennung der individuellen Bedürfnisse (bei Aristoteles) die Bereitschaft des Individuums (als selbst erteiltes Gebot), sich den Regeln von Konkurrenz und Austausch zu unterwerfen. (2) Die Goldene Regel als Übergang von der ersten Formel des kategorischen Imperativs zur zweiten. Den Anderen nie nur als Mittel, sondern auch als Zweck an sich selbst anzuerkennen, markiert den Übergang von der unmittelbaren Konkurrenz (als Kampf) zum Austausch, in dem das Gegenüber ebenfalls anerkannt wird als eines, das sich in der gewaltfreien Prozedur des Tauschs auf ein begehrtes Gut des eigenen Bedürfnisses richtet. Von hier aus wird der Weg geebnet zu einer Gesellschaft, die den Tausch als fundamentales Verkehrsmittel der assoziierten Individuen institutionalisieren wird. (3) Der Mangel, der sich bei Aristoteles als Grundverhältnis der Fürsorge gezeigt hat, tritt auch bei der Goldenen Regel oder der zweiten Formel Kants auf: Mangel ist immer schon unterstellt als Movens der Individuen, sich überhaupt in das ‚Gesellschaftsspiel‘ von Konkurrenz und Austausch zu begeben. (4) Der Vertrag als Prinzip von Sicherheit und Verstetigung der Grundverhältnisse Konkurrenz und Austausch. Er erweitert das Versprechen (als Vorform) hin zu einem gesellschaftlichen Rahmen, der institutionell die Früchte von Konkurrenz und Austausch absichert. Das Pacta-sunt-servanda-Prinzip ist das moralische wie auch juridische Merkmal des Vertrags und sichert die Regeleinhaltung160 auf Dauer ab: moralisch als Verlässlichkeit und Ver- 160 Der Vertrag ist zunächst lediglich der Ausdruck der Autonomie der Individuen, sich auf die Selbstbeschränkung zu verpflichten und damit auf die ungezügelte Ausübung ihrer Autonomie zu verzichten. Allerdings löst sich der Vertrag von den Vertragspartnern, indem er sich ihnen im Rahmen des Rechtsstaats (mit Rechtsprechung und staatlichem Gewaltmonopol) als unan- 66 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. tragstreue,161 juridisch als Sanktionen verhängende Institution bei Nichteinhaltung. Der Vertrag nehme, so Ricoeur, auf der Ebene der Institutionen die Position ein, die die Autonomie auf der Ebene des Selbst innehabe. (5) Zuletzt ein Merkmal, das bereits das erste der Autonomie auszeichnete: das der Abstraktion. Das Kantische Individuum begreift sich in seiner Moralität als getrennt von seinen partikularen Neigungen und Interessen. Das zielt allerdings nicht auf die Elimination von Bedürfnissen, sondern auf deren Verträglichkeit mit denen anderer. Denn, so sagt auch Kant: Das Individuum ist mehr als der freie Wille der reinen Vernunft, ist mehr als ein altruistischer Charakter. Die Abstraktion sichert via Anerkennung der Regeln von Konkurrenz und Austausch den Weg, auf dem der Partikularität Genüge getan, auf dem den individuellen Bedürfnissen Raum gegeben wird. Es lässt sich noch eine zweite Perspektive der Abstraktion festhalten: die Absehung vom historischen Kontext. Der Anspruch eines Gesellschaftskorsetts aus Konkurrenz und Austausch ist schlechterdings umfassend, seine Geltung Ewigkeit beanspruchend. Nun könnte man Ricoeur vorhalten, dass er Kants radikalen Universalitäts-Idealismus aufweiche. Bedenkenswert ist ein solcher Einspruch auf jeden Fall, denn all das, was Kant kategorisch auszuschließen sich bemüht hat, das holt Ricoeur durch die Hintertür von sogenannten Konfliktfeldern wieder herein: historische Kontexutalisierung, Umstände der jeweiligen Situationen, Achtung des Anderen als besonderer Person. Wie originell oder kreativ auch immer das Aufspüren eines teleologischen Fundaments in der Kantischen Pflichtenethik sein mag, eine besondere Vorsicht bei der Lektüre der Ricoeur’schen Ethik scheint auf diesem Feld angeraten zu sein. * Solange Ricoeur von Kant Abschied nimmt, sei mir ein kleiner Exkurs zu dessen Modernität gestattet. Schon Aristoteles ist vom ‚guten Leben‘ ausgegangen, sein Ziel war eine funktionierende Polis, innerhalb derer die Mitglieder sich Regeln gemäß einzurichten haben. Er dachte noch im Fahrwasser des Polismodells seines Lehrers, jedem das Seine und das ohne extreme Auswüchse. Die Mesoteslehre ist eine Erziehungsanleitung für eben jenen Charakter, der sich möglichst perfekt zu integrieren weiß. Und die dianoetischen Tugenden162 sind zunächst einmal nichts weiter als zusätzliche Kompetenzen derjenigen, die mit einer entsprechenden Grundbegabung ausgestattet sind und den Anderen den Weg weisen. 161 162 greifbare Institution gegenüberstellt. Das ist der Aspekt der Autonomie des Vertrags, der für Sicherung und Verlässlichkeit sorgt. … individuell abgesichert durch das erste Prinzip, das der Autonomie, der höchstmöglichen Achtung der Regeln. … also die Verstandestugenden – die für das theoretische Leben maßgebend sind. 67 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Und Kant? Scheint er nicht hinter die Idee des guten Lebens zurückzufallen? Nein – und das aus zweierlei Gründen. Zum einen bleibt uns Aristoteles die Konkretisierung seiner Vorstellung eines guten Lebens schuldig (bis auf die Illustration der jeweiligen Mitten zwischen Extremen). Zum anderen ist Kants Modell im Gegensatz zu dem der Antike ein nicht affirmatives – und ein durchaus herrschaftskritisches. Kant beschwört nämlich in seiner Ethik zwei Eigenschaften des Menschen, die die Reduktion des Individuums auf den Untertanen im Absolutismus zu sprengen in der Lage sind: Autonomie zum einen und Rücksicht zum anderen. Mit dem ersten Begriff der Autonomie stellt Kant die Gesetzeshoheit des Fürsten (legibus solutus) infrage – sozusagen der polemische Einstieg in die Fürstenkritik –, sodann dehnt er die Autonomie auf den Untertanen aus – und zwar auf jeden als Teil der Menschheit –, um ihr dann in einem dritten Schritt dessen Unterwerfungsbereitschaft zur Seite zu stellen. Daraus wird ein zukünftiges, modernes Individuum, das sich ‚aus guten Gründen‘ und bewusst ‚unterwirft‘. Mit diesem Gedanken ist die Idee des bürgerlichen Individuums geboren: Es hat sich emanzipiert vom Befehl des absolutistischen Herrschers und findet seine neue Rolle in der Selbstgesetzgebung. Der Absolutismus wird transzendiert zu einem Modell der Demokratie, die von ihrer Idee her nur noch für die Rahmenbedingungen einer intakten Gesellschaft sorgt. Da der Bürger die Souveränität an seine Repräsentanten abgegeben hat und diese zugleich nicht veräußern kann, trägt er das Verhältnis von Befehl und Gehorsam in sich selbst aus: Aus der Legislative – die er seinen politischen Vertretern überlässt – wird Moral. Respekt, Achtung, Würde, alles Begriffe, die Kant in diese selbstgesetzgebende Autonomie verpflanzt. Bei der Begründung der Autonomie greift Kant nach den (gottfernen) Sternen: Nichts weniger als die Menschheit sei der letztbegründende Zweck um seiner selbst willen. Der zweite Begriff der Rücksicht nimmt ebenfalls die am Horizont aufscheinende bürgerliche Gesellschaft vorweg, hier allerdings mehr im polit-ökonomischen Sinn: den Anderen nicht nur als Mittel, sondern auch als Selbstzweck zu behandeln. Hier gilt es, beide Umgangsformen mit dem Anderen in gleichem Maße zu berücksichtigen: Der Andere ist eben Mittel im Bezug der Individuen aufeinander (durchaus im Sinne der Heterogenität, also der subjektiven Zwecke zu verstehen) wie auch Zweck für sich selbst: Dem Anderen wird auch praktisch die Verfolgung eigener Zwecke zugestanden, was dessen Benutzung über ein bestimmtes Maß hinaus verbietet; die Zweckzubilligung setzt der Mittelbenutzung des Anderen Grenzen und eröffnet Freiräume autonomen Handelns. Noch eine dritte Perspektive wird bei Kant deutlich. Wenn die Paradoxie von Befehl und Gehorsam in einem Individuum internalisiert wird, bedarf es keiner politischen Verfassung mehr, die für Gehorsam mit brachialen Mitteln zu sorgen hat, sondern einer, die das eigene Gewaltmonopol vor der überstrah- 68 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. lenden Einsicht der Bürger ins große Ganze der Gesellschaft klein halten und damit fast unsichtbar machen kann. Eine gelingende Staatsbürgererziehung auch und vor allem im Moralischen erspart das drohende Schwert nach innen. Kant zeigt der künftigen bürgerlichen Gesellschaft den Weg aus der ‚selbstverschuldeten Unmündigkeit‘ ihrer Mitglieder, bringt zum Abschluss der Epoche der Aufklärung deren Ideen auf den Punkt: autonomes Denken (in Grenzen), öffentliche Debattenkultur und als impliziter Auftrag an die folgenden Generationen: den Idealismus der Aufklärung in Erziehung und Bildung praktisch werden zu lassen. Das bedeutet nicht zuletzt für den Kulturbereich, in vorderster Linie mitzustreiten.163 2.3. Ricoeurs 'Neue Argumentationsethik' Ricoeur zieht Bilanz und bündelt seinen Versuch, das Teleologische und Deontologische miteinander zu ‚versöhnen‘, in einer neuen Argumentationsethik. Die Habermassche Diskursethik nutzt er hier als Folie und erweitert sie, wie eben schon die Pflichtenethik Kants, um den Blick in die wirkliche Welt. Die Aristotelische ‚kritische phrônesis‘ wird in den Rang einer Kunst erhoben, mittels derer das Individuum in einem historischen Kontext zu moralischen Situationsurteilen zu kommen in der Lage ist. 2.3.1. Diskursethik Am Ende seiner ‚kleinen Ethik‘ wendet Ricoeur sich auf dem Weg zu einer ‚Neuinterpretation‘164 des Kantischen Erbes der Habermasschen Diskursethik zu, in der die dialogische Dimension des Moralprinzips fokussiert wird. Habermas sagt, die Konsistenzforderung bei moralischen Urteilen laufe darauf hinaus, „daß jeder […] prüfen möge, ob er wollen kann, daß auch jeder andere, der sich in einer vergleichbaren Situation befindet, für sein Urteil dieselbe Norm in Anspruch nimmt“.165 Die ‚fundamentalste Frage‘, die Habermas aufwerfe, sei die nach der Begründung dieses Universalisierungsgrundsatzes, der ein argumentatives Einverständnis ermögliche.166 Ricoeur greift diesen Grundsatz auf, weil er direkt zu seinem Ansatz führe: Der Diskursethik gehe es nicht nur um jenen Versuch einer Letzt163 164 165 166 Wie Theater und Literatur diesem Auftrag literarhistorisch zu folgen bereit sind, wird in einer Anschlussarbeit in einem Durchgang durch die Epochen zu zeigen sein. Erste Elemente seiner ‚Neuinterpretation‘ sind die oben schon erläuterten teleologischen Wurzeln unterhalb der Konflikte aus Universalität und Besonderheit (Autonomie und Heterogenität). Ricoeur zitiert Jürgen Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt am Main 1983, S. 74; vgl. auch (Ricoeur 2005a, pp. 341, Anm. 72). Vgl. (Ricoeur 2005a, p. 340). 69 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. begründung167, sondern auch „um eine progressive Überprüfung auf der Ebene der wirklichen Praxis“ (Ricoeur 2005a, p. 343).168 Das Universalisierungsprinzip ist und bleibt aber auch bei Habermas ein ideales Prinzip einer ‚unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft‘. Das Prinzip ist ein Anspruch, der sich immer wieder mit der Begrenztheit realer Diskurszirkel reibt. Letztlich ist das Universalisierungsprinzip der Traum einer Deckung von Autonomie (der Argumentation) und Konsens aller.169 Denn auch auch hier steht am Ende die Frage: Wer entscheidet? Das Bewusstsein, das Kant zu einem ‚Faktum der Vernunft‘ erklärt hat? Wird hier nicht bereits vorausgesetzt, was es erst zu erreichen gilt? Habermas behauptet, beim praktischen Diskurs angelangt zu sein,170 aber trifft das zu? Ist sein Modell nicht ebenso fiktiv oder hypothetisch wie Rawls’ Urzustand? Habermas setzt mit seinen Begriffen von Kommunikation und Universalisierung nicht nur den Einigungsrahmen der Konkurrenz und des Austauschs voraus, sondern auch den Einigungszwang qua Universalisierung, heißt bei ihm: qua virtueller Zustimmung aller, die von den praktischen Konsequenzen der im Diskurs gefällten Urteile betroffen sein werden. Damit stößt man am Ende wieder auf Kant, bei der Widerspruchsfreiheit des Arguments, das dann konsequent auch keines wirklichen Diskurses mehr bedarf, sondern, wie bei Kant, von jedem Einzelnen nur nachvollziehbar sein muss. Das ist sicherlich kein Zirkel, aber eben doch ein Rückfall in eine deontologische Ethik, die die Diskursethik gerade weiterentwickeln wollte. Ricoeur hätte seine Bedenken noch schärfer formulieren können, wenn er sagt: „So greift die Transzendentalpragmatik im praktischen Feld die transzendentale Deduktion Kants wieder auf“ (Ricoeur 2005a, p. 341 f.). Es fragt sich allerdings, ob die Habermassche Formulierung ‚in-einer-vergleichbaren-Situation‘ nicht schon den Ausweg aus jenem Rückfall ins Idealistisch-Deontische markiert. 167 168 169 170 Das mag für unsere Zwecke ausreichen, die offene Diskussion zwischen Apel und Habermas über die Frage der ‚Letztbegründung‘ kann der Interessierte bei Ricoeur nachlesen: (Ricoeur 2005a, p. 341 f.). Auf diesen Unterschied der Standorte kommt es Ricoeur vor allem an, man dürfe bei der Untersuchung des Universalitätsanspruchs nicht verwechseln, ob man dessen Durchführung im Blick habe (mit der Geschichtlichkeit des Diskurses) oder dessen grundsätzliche Rechtfertigung. Vgl. (Ricoeur 2005a, p. 342). … auch wenn er relativierend seinen Idealismus eingesteht: „Von Diskursen will ich nur dann sprechen, wenn der Sinn des problematisierten Geltungsanspruches der Teilnehmer konzeptuell zur der Unterstellung nötigt, daß grundsätzlich ein rational motiviertes Einverständnis erzielt werden könnte, wobei ‚grundsätzlich‘ den idealisierenden Vorbehalt ausdrückt: wenn die Argumentation nur offen genug geführt und lange genug fortgesetzt werden könnte“ (Habermas 1981, p. 71). 70 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 2.3.2. Entwurf einer 'Neuen Argumentationsethik' Es gelte nun, dem geschichtlich und kulturell determinierten Charakter moralischer Urteile sein Recht zukommen zu lassen. Ricoeur nimmt wirkliche Diskurse in einer wirklichen Gesellschaft in den Blick. Je abstrakter in der politischen Praxis debattiert würde – bis hin zur Legitimation der Demokratie selbst –, desto unbestimmter würden die Ziele. Entscheidungen aber müssten gefällt werden, mittels derer „die Gesellschaften den angehäuften Ratlosigkeiten praktisch ein Ende bereiten“ (Ricoeur 2005a, p. 344). Und auch auf der zwischenmenschlichen Ebene träten immer wieder Fragen auf wie beispielsweise solche, die nach der Behandlung derjenigen fragen, die noch nicht oder nicht mehr das ‚Kriterium einer achtungsbegründenden Humanität‘ erfüllten (das endende und das werdende Leben). Ricoeur warnt vor der Rigorosität einer bedingungslosen Argumentationsethik – er nennt das deren ‚Säuberungsstrategie‘. Was bei Kant die Rolle der zu eliminierenden Neigungen gespielt habe, übernähmen vor dem Richterstuhl des Habermasschen Universalismus ‚erstarrte Konvention und Tradition‘. Als Lösung schlägt Ricoeur eine neue Argumentationsethik vor, in der Kontextualisierung und Universalität zusammen gedacht würden, in der sich ein Gleichgewicht in Situationsurteilen herstellen lasse zwischen dem Universalitätsanspruch des Arguments und der Anerkennung kontextueller Besonderheiten.171 Um sich über die Formen ihres Zusammenlebenwollens klar zu werden, griffen Individuen zunächst (im vor-argumentativen Bereich) auf Sprachspiele wie Erzählungen zurück (Praktiken, Lebenspläne, Lebensgeschichten), um ‚im Modus der Fiktion unerahnte Lebensweisen‘ 172 zu erkunden. In diese Überzeugungen nun greife die Argumentationskompetenz ein mit dem Ziel, das ‚beste Argument zu extrahieren‘. Der Argumentation komme die Aufgabe zu, als kritische Instanz innerhalb der Überzeugungen diese in den Rang ‚wohlerwogener Überzeugungen‘ zu erheben: Ein ‚Gesicht der praktischen Weisheit‘ sei damit „die Kunst des Gesprächs, in der die Argumentationsethik sich im Konflikt der Überzeugungen erprobt“ (Ricoeur 2005a, p. 350 f.). 171 172 Am Beispiel der Menschenrechte erläutert Ricoeur die Dialektik von Universalitätsanspruch und Kontextualismus. Es bestehe der Verdacht, dass die Menschenrechte ‚die Frucht einer dem Abendland eigenen Kulturentwicklung‘ seien. Diesen Vorwurf des Ethnozentrismus weist Ricoeur mit einem Paradox zurück: Zum einen müsse man den Universalitätsanspruch mit den den Menschenrechten innewohnenden Werten aufrechterhalten und andererseits eben diesen Anspruch auf der Ebene der konkreten Lebensformen zur Diskussion stellen. Der Weg zu einem möglichen Konsens (im Streit mit anderen Kulturen) könne nur das Ergebnis einer gegenseitigen Anerkennung und einer grundsätzlichen Bereitschaft sein, auch zunächst fremde Sinnangebote zu akzeptieren. Vgl. (Ricoeur 2005a, p. 348). 71 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Franz Prammer schließt hieran seine Überlegungen auf dem Forschungskolloquium in Münster an. Konflikte in konkreten Situationen seien ‚mit den Ressourcen der ‚Moral‘ nicht lösbar‘.173 Das führe Ricoeur wieder zur praktischen Weisheit oder kritischen phronêsis der antiken Ethik zurück. Kritisch sei die phronêsis insofern, als sie zwar auf Überzeugungen und Traditionen zurückgreife, diese aber nicht unbefragt übernehme, so dass eine kritische Prüfung zu ‚wohlerwogenen Überzeugungen‘ führe. Wo die Moral nicht mehr weiterwisse, bewährten sich die kritische phronêsis oder die praktische Weisheit, indem sie in ihren überlegten Entscheidungen auf den Horizont des ‚guten Lebens‘ verwiesen. Deontologie und Teleologie seien nach Ricoeur nun versöhnt, in der Überlegung des Klugen käme ihre Verschränkung zu ihrem höchsten Ausdruck. Ricoeur blickt am Ende seiner ‚kleinen Ethik‘ zurück: Ausgegangen sei er von der ‚naiven‘ phronêsis im Aristotelischen Sinn. Sodann habe er mit Kant den Bereich der Pflicht durchmessen, einer Pflicht, die verlange, dass nicht sei, was nicht sein solle (vor allem das dem Anderen zugefügte Leid). Und schließlich sei er auf die Konflikte innerhalb der drei Bereiche – des Einzelnen, des Anderen und der Gesellschaft – gestoßen, die ihm den Weg zurück zu einer ‚kritischen‘ phronêsis gewiesen hätten: „Im Durchgang durch die öffentliche Debatte, das freundschaftliche Gespräch und den Austausch der Überzeugungen bildet sich das moralische Situationsurteil“ (Ricoeur 2005a, p. 351). 2.4. Bilanz und Exkurs Wohin haben uns die Spaziergänge mit Aristoteles und Kant (mit Abstechern zu Rawls und Habermas) geführt? Was die drei Ausgangsthesen Ricoeurs zu Beginn seiner Spaziergänge betrifft, so bestätigen sie sich am Ende: Ricoeur zieht den teleologischen Ansatz dem deontischen vor, gesteht aber dem deontischen eine Korrekturkompetenz zu und kehrt schließlich zum kritisch-teleologischen zurück. Auf die Frage nach der ‚stets fragilen‘ Vermittlung von Teleologie, Deontologie und praktischer Weisheit – die ihm vom Forschungskolloquium in Münster schriftlich gestellt worden ist – fasst Ricoeur seinen Ansatz in einem Antwortschreiben zusammen. Er gehe von der alltäglichen Erfahrung der moralischen Verpflichtung aus, also von einer objektiven Norm und einem subjektiven Gefühl des Verpflichtetseins. Von diesem Ausgangspunkt aus könne man in zwei Richtungen gehen, zum einen zurück zum Wunsch nach einem guten Leben und zum anderen nach vorne zu konkreten Situationen. Aber nur in der Verbindung beider Wege trete der Wunsch nach einem guten Leben in der Praxis in Erscheinung. 173 Hier bezieht sich Prammer auf die deontische Ethik; vgl. (Prammer 1999, p. 23). 72 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Was von Aristoteles als Kurzschluss nicht weiter gefüllt worden sei – der Übergang von der Tugend (Charakter, vernünftige Wahl …) zu den Tugenden (Mesotes-Lehre) –, erledige Kant: Dessen Errungenschaft sei es, die moralische Verpflichtung zu einem Ort gemacht zu haben, von dem aus man zu dem Wunsch, „gemäß der Tugend zu leben,174 zurückgeht und zu den Tugenden, zu den konkreten Gestalten der ‚Anwendung‘ der Tugend auf konkrete Situationen fortschreitet“ (Ricoeur 1999, p. 204). Abschließend fragt Ricoeur rhetorisch, ob nicht in dem Anfangspostulat der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten schon der Bezug zum guten Leben inhäriert sei: „Es ist überall nichts in der Welt […] zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille“ (Kant 1975b, pp. 18, BA 1). 2.4.1. Prohaíresis als Motor der Handlung Guter Wille bei Kant und gutes Leben bei Aristoteles – das scheinen die Fixsterne der beiden zu sein. Und Ricoeur? Nun, er neigt zunächst einmal Aristoteles zu; das gute Leben, so Prammer, bilde für Ricoeur den eigentlichen Gegenstand seiner ‚visée étique‘.175 Die gesamte Ethik, so sagt Ricoeur, setze den unerschöpflichen Gebrauch des Prädikats ‚gut‘ voraus; die erste große Lehre, die uns Aristoteles hinterlassen habe, sei „die fundamentale Verankerung der Ausrichtung auf das ‚gute Leben‘ in der praxis“ (Ricoeur 1999, p. 211). Damit wird die Kernprämisse der vorliegenden Arbeit berührt: Es gäbe überhaupt keine Ethik, keine teleologische, keine deontologische Ausrichtung, keinen Moralischen Pakt, wenn nicht der banalste Bezugspunkt in Augenschein genommen werden würde: der Bezugspunkt des Handelns. Das Handeln wird uns im Teil D der vorliegenden Arbeit begegnen, das Handeln der Figuren in Erzählwerken ist die Basis, an der keine narratologische Analyse vorbeikommt. Also lohnt es sich, sozusagen als Übergang von der etwas langatmigen Darstellung der Ricoeur’schen Ethik zur narratologischen Untersuchung des moralischen Gehalts von Erzählwerken, nochmals Aristoteles zu Wort kommen zu lassen und die Begriffe der praxis und der prohaíresis, also des Handelns und der Entscheidung oder Absicht, zu klären – um am Ende den Kreis zur phronêsis, zur praktischen Weisheit aus Ricoeurs neunter Abhandlung,176 zu schließen. Denn über die praktische Weisheit oder kritische phronêsis führt Ricoeurs Königsweg zum moralisch begründeten Situationsurteil. 174 175 176 Hier wirft Ricoeur ein weiteres Mal das gute und das tugendgemäße Leben in einen Topf. Vgl. (Prammer 1999, p. 16); auch weiter unten sagt Prammer, dass Ricoeur die Ethik als „visée de la ‚vie bonne‘“ bestimme (Prammer 1999, p. 19). … zum Selbst und und der praktischen Weisheit; vgl. (Ricoeur 2005a, p. 291 ff.). 73 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Die Ausführungen von Helmut Kuhn aus dem Jahr 1960 erhellen womöglich den Begriff des Wählens oder der Entscheidung, also dessen, woraus das Handeln177 als ‚Bewegung‘ entspringe; die prohaíresis setze die Handlung in Bewegung wie der Entwurf des Baumeisters das Bauen. 2.4.2. Willenswahl und Überlegung Die prohaíresis habe einen zweifachen Ursprung (archê), zum einen eine seelische Triebkraft (orexis), zum anderen den logos. Nur: Wie kommt die Triebkraft zur Wahl und damit am Ende zur Handlung? Denn allein durch das Erfassen eines telos, so Aristoteles, gelange man nicht zur Handlung, erst die Erwägung178 oder Überlegung (bouleuesthai) bringe die nötige Helligkeit hervor.179 Die prohaíresis gehe auf diesen doppelten Ursprung zurück: auf das Dunkel des Nicht-Vernünftigen (des Triebes oder der Gier) und auf das Licht der Vernunft: 177 178 179 … und zwar das überlegte oder vorbedachte Handeln; vgl. (Aristoteles 1972, pp. 1111b, 16). Prammer übersetzt die bouleusis mit ‚Mit-sich-zu-Rate-Gehen‘; vgl. (Prammer 1999, p. 17). Die prohaíresis, so schreibt Christof Rapp, die ‚präreferentielle Wahl‘, in der man der einen Möglichkeit den Vorzug vor einer anderen gebe, grenze Aristoteles gegen das Begehren, das Wollen und das bloße Meinen ab. Begehren beurteile nicht, das Wollen ziele auch auf unerreichbare Dinge und dem Meinen ginge es nicht ums Tun. Der prohairesis ginge demgegenüber die Überlegung (bouleusis) voraus, die Abwägung oder Planung; und die Entscheidung führe konsequent zur Handlung, sie gehe auf ein Streben (orexis) entsprechend der vorausgegangenen Erwägung zurück; vgl. (Rapp 2006, p. 121 ff.). 74 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. „Was der Logos bejaht, das erstrebt der Trieb (orexis), und so wird die ‚praktische Wahrheit‘180 […] getroffen“ (Kuhn 1960, p. 126). So erst zeige sich der Mensch als ‚vernünftig gewordene Triebkraft‘. Die Überlegung richte sich auf Machbares – „so ist auch die Willenswahl ein überlegtes Begehren von etwas, was in unserer Macht steht“ (Aristoteles 1972, pp. 11113a, 11 f.) – und auf solche Dinge, „die meist in gewisser Weise verlaufen, aber auch anders verlaufen können“ (Kuhn 1960, p. 127)181. Was das überlegende Individuum seiner prohaíresis vorlege, seien die Mittel; das Ziel (telos) der Handlung sei nicht Gegenstand der Erwägung, Aristoteles setzt die Ziele als um ihrer selbst willen182 voraus: „So wollen wir z. B. die Gesundheit, die Mittel dazu aber wählen wir, und wir wollen die Glückseligkeit183 und sagen, daß wir sie wollen, dagegen zu sagen, daß wir sie wählen, geht nicht an“ (Aristoteles 1972, pp. 1111b, 37 ff.). 2.4.3. Die Klugheit und der Kluge Der Kreis zur phronêsis, zur Klugheit, schließt sich. Klug sei derjenige, der sich auf das Erwägen, das Sich-Beraten (bouleuesthai) verstehe. Für ein vorgegebenes Ziel suche das Erwägen (als Schrittmacher der prohaíresis) nach geeigneten Mitteln, und zwar „nach dem unter gegebenen Umständen jeweils besten Mittel“ (Kuhn 1960, p. 129). Hier taucht das Situationsurteil auf, auf das Ricoeur so großen Wert legt. Die Erwägung sei in jedem ihrer Schritte geleitet durch das ‚Worin‘ der Handlung, die konkrete Situation,184 zu der vor allem die handelnde Person selbst gehöre. Der Kluge benötige neben der Kenntnis des Allgemeinen auch solche des Einzelnen, weil sich Handeln immer auf das Einzelne und Konkrete beziehe, der Kluge sei jemand mit ‚viel Erfahrung‘. Die Klugheit suche und überlege, sei eine Art ‚Beratschlagung‘. Und die ‚Wohlberatenheit‘ (euboulia) stelle nun den Bezug aufs gute Handeln her, sei eben die Richtigkeit der Überlegung und lasse „uns das Gute treffen“ (Aristoteles 1972, pp. 1142b, 22). 180 181 182 183 184 Hier taucht bei Kuhn die praktische Weisheit auf, wie sie Ricoeur nennt. Vgl. auch (Aristoteles 1972, pp. 1111b, 30 f.). Gleich zu Beginn seiner Nikomachischen Ethik sagt Aristoteles: „Wenn es nun ein Ziel des Handelns gibt, das wir seiner selbst wegen wollen, […] so muß ein solches Ziel offenbar das Gute und das Beste sein“ (Aristoteles 1972, pp. 1094a, 18). „Das Leben selbst im Glück seiner tätigen Fülle ist also das Ziel“ (Kuhn 1960, p. 129). Die Kenntnis, die wir uns im Umgang mit konkreten Dingen aneigneten, sei die Erfahrung (empeiria); (Kuhn 1960, p. 131). 75 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 2.4.4. Praxis und Verantwortung Aristoteles’ Theorie ist praktische Theorie, „eine herrscherliche und baumeisterliche Lehre, die das menschlich Gute im Dasein des Einzelnen und des Staates zu erfassen und zu erhalten hilft“ (Kuhn 1960, p. 131) Wenn Praxis so begriffen werde, dass der Mensch als Ursprung seines Tuns gesehen werde, dann liege der Begriff der Verantwortung der prohaíresis zugrunde, denn, „nur dort können wir getadelt werden, wo Wahl und damit die Möglichkeit des Anders-handelns vorliegt“ (Kuhn 1960, p. 132). Für Aristoteles ist, wie gesagt, ein Fehlgehen185 prinzipiell denkbar: Der Wille gehe zwar auf den Zweck, doch „meinen die einen, er gehe auf das Gute, die anderen, er gehe auf das gut Scheinende. […] Das ist aber bei dem einen dies, bei dem anderen ist es das, und unter Umständen das Gegenteil vom ersten“ (Aristoteles 1972, pp. 1113a, 15 ff.). Wenn aber nun alle gut zu handeln glauben, stellt sich die Frage nach der Verantwortung: „Soll aber niemand an dem Schlechten, was er tut, selber schuld sein, sondern es aus Unkenntnis des Zieles tun, indem er dadurch das Beste für sich zu erreichen glaubt?“ (Aristoteles 1972, pp. 1114 b, 4 f.) Aristoteles unterscheidet solche Menschen, denen von Natur aus das Gute als erstrebenswertes Ziel erscheine,186 und solche, die eben nicht mit einer solchen Segnung ausgestattet seien; solche Menschen (die ‚Menge‘) würden durch die Lust betrogen, die lediglich ein Gut zu sein scheine. „Darum wählen sie die Lust, als sei sie ein Gut, und fliehen den Schmerz, als sei er ein Übel“ (Aristoteles 1972, pp. 1113a, 34 f.). Allerdings blieben trotzdem ihre Handlungen ‚freiwillig‘, „weil dem schlechten Mann die gleiche Selbstbestimmung bezüglich seiner Handlungen, wenn auch nicht bezüglich des Zieles, zukommt“ (Aristoteles 1972, pp. 1114b, 20 ff.). Die Frage der Verantwortung scheint nach wie vor in der prohaíresis zu liegen, nicht in der Bestimmung der Ziele. Aus dem Dilemma kommt Aristoteles zunächst auch nicht heraus: Ein schlechtes Ziel mit passenden Mitteln zu erreichen, wäre ein nicht zu verurteilendes Handeln. Denn prohaíresis und Überlegung zielen ja auf ein Gutes, wenn es auch nur ein scheinbar Gutes ist. Und bezüglich des Ziels schreibt Aristoteles, wie eben zitiert, dem ‚schlechten Mann‘ ein Defizit an Selbstbestimmung zu. Läuft also die Aristotelische Perspektive auf eine Exkulpation nicht-tugendhafter Handlungen hinaus? 185 186 Die Verfehlung im Allgemeinen liest Kuhn als eine solche, die auf das telos gehe (vgl. (Kuhn 1960, p. 133)). Aber das schließt Aristoteles aus, wenn er die prohaíresis auf die Mittelwahl reduziert und das telos als vom Willen zu bestimmenden ansieht; vgl. (Aristoteles 1972, pp. 1113a, 15 f.). Solche von der Natur Bevorzugte seien mit einem ‚geistigen Gesichtssinn‘ geboren, „um vermöge desselben richtig zu urteilen und das wahrhaft Gute zu erwählen“ (Aristoteles 1972, pp. 1114b, 6 f.). Wir werden bei der ‚Schönen Seele‘ der Weimarer Klassik wieder auf diese Sichtweise stoßen. 76 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Nein, Aristoteles verweist auf Erziehung und Lehre. Die ‚ethischen Tugenden‘ seien das Angebot an denjenigen, dem die Ansicht des Guten nicht mit in die Wiege gelegt sei: Das Wissen über das Ziel menschlichen Daseins, über das ‚wahre telos‘, werde vermittelt über Erziehung187 und Gewöhnung:188 „Daher müssen wir uns Mühe geben, unseren Tätigkeiten einen bestimmten Charakter zu verleihen; denn je nach diesem Charakter gestaltet sich der Habitus“189 (Aristoteles 1972, pp. 1103b, 22 f.). Überzeugend ist das nicht. Wenn Erziehung und Lehre den Habitus beim Individuum prägen, dann könnte man von Verantwortung doch nur dann reden, wenn der zu Erziehende sich aus freiem Willen auch gegen seinen Erzieher wenden könnte. Das aber würde den Willen bereits voraussetzen, der sich doch erst als das Ziel von Erziehung im Habitus herausbilde. Der Unwissende oder ‚schlechte Mann‘ gerät nach aristotelischer Sicht in Gefahr, zur Marionette von Erziehung und Gewöhnung zu werden – sicherlich kein aufklärerischer Ansatz. Kuhn glaubt nun, die ‚Lücke‘ bei Aristoteles schließen zu können, und zwar mit einer Tiefenschicht, die in Lebenskrisen sichtbar werde, in ‚Notstandswahlen‘190. Dort verbündeten sich Lebenstiefe und Lebensoberfläche, dort zeige sich das telos: „[…] der umfassend-besonnene Blick auf den menschlichen Stand zeigt ihn als Notstand, bedroht […] durch Verderb in Verfehlung des dem Menschen zugedachten Guten“ (Kuhn 1960, p. 139). Was Kuhn hier als ‚Rettung‘ der Aristotelischen Lücke anbietet, ist lediglich der Verweis auf das Gute als telos, das aus verborgenen Tiefen der Seele aufsteige und sich dem Menschen als Führer durch die Widrigkeiten des Lebens andiene, ja sogar als Leitinstanz für das Leben als Ganzes. Damit wäre das Gute dann doch wieder vorausgesetzt und was sich enthüllte, wäre schon da, nämlich etwas „Vorgewusstes jenseits der gesuchten archê, des Ursprungsaktes im Grunde des Daseins“ (Kuhn 1960, p. 139). 187 188 189 190 Was die Praxis der Erziehung angeht, so bezieht sich Aristoteles auf seinen Lehrer Plato: „Darum muß man, wie Plato sagt, von der ersten Kindheit an einigermaßen dazu angeleitet worden sein, über dasjenige Lust und Unlust zu empfinden, worüber man soll. Denn das ist die rechte Erziehung“ (Aristoteles 1972, pp. 1104b, 11 ff.). „Es ist also richtig gesprochen, daß man durch Handlungen der Gerechtigkeit ein gerechter und durch Handlungen der Mäßigkeit ein mäßiger Mann wird“ (Aristoteles 1972, pp. 1105b, 9 f.). Habitus (hexis) als die dauerhafte Gestalt, die dauerhaften Verhaltensweisen eines Menschen. Eine solche ‚Notstandswahl‘, wie Kuhn diese besondere prohaíresis nennt, begründe die moderne Staatstheorie, von Macchiavelli bis Hobbes, die zur Lehre vom absoluten Staat führe, zu einer „Destruktion aller sittlichen Maßstäbe“ (Kuhn 1960, p. 138). Dieses Modell ist für ihn ein ‚schlechtes Modell‘, aber es offenbare eine Kraft, „die aus der Tiefe die alltäglich-oberflächlichen Motivierungen durchbricht“ (Kuhn 1960, p. 138). Wenn Kuhn die Idee des Vertragsmodells nicht mit einem Handstreich von sich gewiesen hätte – als ‚schlechtes Modell‘ –, wäre er womöglich bei näherem Hinschauen auf die fundamentalmoralische Ebene des neuzeitlichen Individuums gestoßen. 77 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Fast drängt sich hier der Gedanke an Platons Politeia auf, an jene Wahl des Selbst als Re-Inkarnation des nach und nach erinnerten Wissens.191 Aber selbst wenn das eigene telos sich zeigte, es bliebe dennoch vorausgesetzt, nicht mehr und nicht weniger. Und die Verantwortung? ‚Freiwilligkeit‘ spricht Aristoteles dem Individuum dann zu, wenn es selbst Ursprung (archê) seiner Handlung sei; demgegenüber sei eine Handlung nur dann unfreiwillig, wenn sie Zwang (einem äußeren Ursprung) oder, wie oben gesagt, Unwissenheit geschuldet sei. Die prohaíresis ist nun die Brücke zwischen freiem Willen und Handlung, denn ihr Kernmerkmal ist genau das, was der Zuschreibung von Verantwortung zugrunde liegt: Der Betreffende müsse Ursprung seiner Handlung sein: „Ein jeder hört nämlich auf zu überlegen, wie er handeln soll, wenn er den Anfang der Handlung auf sich selbst zurückgeführt hat, und zwar auf das, was das Herrschende in ihm ist. Das ist nämlich das Wählende“ (Aristoteles 1972, pp. 1113a, 5 ff.) – die prohaíresis. Die Frage nach der Verantwortung scheint für Aristoteles beantwortet zu sein: Der Einzelne verantwortet seine Entscheidung, seine prohaíresis, und den adäquaten Einsatz seiner phrônesis – unabhängig davon, ob das telos, also der letzte Zweck der Handlung, zu rechtfertigen ist. Im gelingenden Fall ist der Nicht-Wissende oder Telos-Uneinsichtige polisgerecht sozialisiert, im schlechten Fall – ihm fehlt die Kompetenz der Wohlberatenheit – eben nicht, wofür er konsequent nicht zu verurteilen wäre. Erst in Krisensituationen, so schlägt Kuhn vor, könnte man ihn zur Rechenschaft ziehen, und zwar dann, wenn er sich wissend für ein schlechtes telos entschiede. Ich finde mich mit einem Mal mitten in der Diskussion des Selbst wieder, der personalen (und vermutliche auch narrativen) Identität. Es ist also hohe Zeit, diesen abschließenden Exkurs zu beenden. So viel sei an dieser Stelle festzuhalten: Die Frage nach dem Guten, die nicht nur Ausgangspunkt Aristoteles’ und Ricoeurs gewesen ist, sondern auch unserer Arbeit, kehrt hier am Ende der Darstellung der ‚kleinen Ethik‘ Ricoeurs mit aller Macht zurück. Auch Stefan Orth bemerkt auf dem Forschungskolloquium in Münster die Nähe Ricoeurs zum Konzept des guten Lebens. Wenn auch Ricoeur den Begriff der ‚Urbejahung‘ – der auf Jean Nabert192 zurückgehe – nicht explizit aufgreife, lasse er 191 192 Platon bietet in seiner Politeia die Geschichte einer ‚tausendjährigen Wanderung‘ der Seele an, die mit Wahl und Los des künftigen Menschen- oder Tierlebens beginnt. Nachdem ein gewähltes Geschick an eine Spindel der Unabänderlichkeit geheftet worden sei, begäben sich die Seelen zum Gefilde der Vergessenheit, wo sie vom Flusse ‚Sorglos‘ tränken und alles Bisherige vergäßen. Ein Unwetter treibe sie um Mitternacht in alle mögliche Richtungen, wo sie in ihr neues Leben einträten. Sokrates beschließt seine Geschichte mit dem Rat, Glaukon möge nun im Wissen um die Unsterblichkeit der Seele immer mit Vernunft Gerechtigkeit üben. Denn dann würden wir uns selbst und den Göttern lieb sein; vgl. (Platon 1973, p. 253 f.). Zu Jean Nabert, so Orth, habe sich Ricoeur immer wieder als einem seiner wichtigsten Lehrer bekannt; vgl. (Orth 1999, p. 59). 78 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. sich in dessen Interpretation der ‚Ausrichtung auf ein gutes Leben‘ unschwer wiederfinden. 2.4.5. Rückblick und Vorschau Warum am Ende dieses ersten Kapitels noch einmal ein solches Aufheben bezüglich Aristoteles? Erst im Durchgang durch die ‚kleine Ethik‘ Ricoeurs ist deutlich geworden, dass er nur in der pragmatischen Ethik des Aristoteles fündig werden kann, was die Beurteilung des Einzelfalls angeht (‚situations singulières‘). Und nur darin liegt der Schlüssel für die noch verschlossene Tür zur Narration. Denn mit Aristoteles marschiert Ricoeur geradlinig auf das Selbst als tätiges Individuum zu, also auf die Kernelemente einer erzählten Welt im Sinne einer dihêgêsis: auf Figur und Handlung in konkreten Situationen, die sich der Beurteilung des Lesers stellen. Und in diesem Geiste – was zu zeigen sein wird – wird Ricoeur in seinem jüngeren Werk wieder zu Aristoteles zurückkehren, dem vielleicht originären Türöffner zur Narration. Schon einmal ist Ricoeur von Aristoteles ausgegangen (und von Augustinus), aber in Zeit und Erzählung hat ihn die Fokussierung auf die Zeiterfahrung in einen sehr engen Kanal von solchen Werken geführt, die eben vor allem die Zeit thematisieren. Hier hingegen, also in Das Selbst als ein Anderer, öffnet sich ein weites Feld von thematisch nicht verengten Elementen von Erzählungen. Was im nun folgenden zweiten Teil zu zeigen sein wird. * Und was nehme ich aus den Spaziergängen mit? Verweist Ricoeurs ‚kleine Ethik‘ auf die Elemente des Moralischen Paktes? Ich fasse zusammen: Die Autonomie findet sich als Selbstbezugs-Berechtigung wieder, als Erlaubnis, eigenen Bedürfnissen nachzugehen, aber auch als Unterwerfungsbereitschaft unter selbstgegebene Regeln, die die Autonomie nicht infrage stellen. Sodann die Fürsorge: Sie ist nicht nur praktische Konsequenzen aus den destruktiven Folgen der Konkurrenz, sondern lenkt auch den Blick auf die Gleichheit der Interagierende, auf die wechselseitige Anerkennung des Anderen als gleichberechtigten Tauschpartners mit eigenen Bedürfnissen. Das dritte Element der Ethik innerhalb der gerechten Institutionen, der Gesellschaftsvertrag, verweist unmittelbar auf das Vertragsprinzip und damit auf Zuverlässigkeit und Beständigkeit, letztlich auf die Rolle der Moral als Institution des bürgerlichen Individuums.193 193 Weiter unten werden wir über das Gewissen sprechen und damit auch über den Institutionscharakter der Moral innerhalb des Individuums. Siehe Kapitel E.3 zum Gewissen. 79 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. B. Die Struktur der Erzählung Figur und Handlung: Das sind keine originellen Gegenstände einer Analyse, die nach den moralischen Fundamenten von Erzählungen und Dramen zu suchen beansprucht. Die Frage, die zunächst beantwortet werden muss, ist die nach dem Ort, an dem Literatur strukturell den Moralischen Pakt – also Konkurrenz, Austausch und Vertrag – berührt. Mehr noch: mein Erkenntnisinteresse nimmt Ausschau nach einem Ort, an dem unabhängig von den je besonderen Handlungen und Figuren eine Folie, ein Hintergrund aufgespannt wird, der ein Grundmuster von Handlungsgefüge und involvierten Figuren im Sinne einer Fundamentalmoral bereithält. Der französische Strukturalismus der sogenannten Pariser Schule1 um Algirdas Julien Greimas herum vermag hierzu erste Antworten zu geben.2 B.1. Greimas’ Drei-Ebenen-Modell Greimas zeichnet ein Textstrukturmodell, das unterhalb der sichtbaren Ebene (zwischen Text und Leser) zwei weitere Ebenen ansiedelt: eine semio-narrative unterhalb der obersten Ebene und eine Tiefenebene, die beiden zugrunde liegt. Auf der untersten Ebene werden die Grundbedeutungen generiert, auf der mittleren werden sie Figuren zugeordnet und erlauben erste narrative Aussagen und auf der dritten, der eigentlichen Oberflächen- oder Diskursebene, werden die Inhalte zu dem, was sich dem Leser für dessen Lektüre anbietet. 1 2 Herman Parret erläutert in seiner Einführung zum Sammelband Paris School Semiotics (Theory) das ‚Label‘ der ‚Ecole des Paris‘. Es sei als der Markenname der Groupe de Recherches Sémiolinguistiques an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris Ende der 1970er Jahre bekannt geworden. Richtungsweisend für die Schule wurde vor allem das von Greimas und Courtés 1979 herausgegebene Wörterbuch zur Semiotik (Sémiotique. Dictionnaire raisonné de la théorie du langage); die Idee eines Wörterbuchs erlaubte es den Semiotikern, ihre Theorie ständig zu vertiefen und zu ergänzen (die zweite Auflage erschien 1986). Dass die Mehrzahl der Forscher, die sich mit dem Label identifizierten, nicht aus Paris kam, sei nur am Rande vermerkt. Für ihr ‚semiotisches Projekt‘ engagierten sich Wissenschaftler wie Algirdas Julien Greimas, Denis Bertrand, Jean-Claude Coquet, Jean Petitot, Peter Stockinger, Eric Landowski, Jacques Fontanille u.a.; vgl. (Parret 1989, p. vii ff.). Dass es hierzu Gegenstimmen gibt, soll nicht verschwiegen werden: „Es habe sich als unmöglich herausgestellt, die historische Vielfalt von mündlichen und schriftlichen Erzähltexten auf die Einheit einer logisch artikulierbaren narrativen Grundstruktur zurückzuführen, wie es das generative Modell von Algirdas J. Greimas impliziere“ (KolkenbrockNetz 1988, p. 261). Kolkenbrock-Netz hat zu Beginn eines Beitrags zur Diskursanalyse und Narrativik Elisabeth Gülich zitiert: Elisabeth Gülich, Ansätze zu einer kommunikationsorientierten Erzähltextanalyse; in: W. Haubrich (ed), Erzählforschung I, Göttingen 1976, S. 226 f. https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 1.1. Die Strukturale Semantik „Ein naives Erstaunen stellt sich ein, wenn man über die Situation des Menschen nachzudenken beginnt, wie er vom Morgen bis zum Abend und vom vorgeburtlichen Stadium bis zum Tod buchstäblich von den Bedeutungen angesprungen wird, die ihn von überall her beanspruchen, und von den Nachrichten [message], die ihn in jedem Augenblick und unter allen denkbaren Formen erreichen.“ (Greimas 1971, p. 4) * Algirdas Julien Greimas geht in seinem Frühwerk Strukturale Semantik (Sémantique structurale, 1966) – einem ‚Meilenstein in der Entwicklung der Semantik‘3 – von der Frage nach Sinn und Bedeutung4 elementarer Einheiten aus, um am Ende ganze Texte erfassen zu können – so der Anspruch. Er will nach dem Vorbild der Linguistik5 Grundelemente der Sprache auch auf semantischer Ebene ausfindig machen, und zwar solche Elemente, die unabhängig von der je konkreten Äußerung ihre Struktur abbilden. Ein zunächst problematisch erscheinendes Unterfangen, weil Greimas im Bereich der Bedeutung Elemente aufzuspüren sich vornimmt, die noch vor aller konkreten Bedeutung eine strukturbildende Potenz haben sollen. Man darf die Bedeutung der Strukturalen Semantik nicht kleinreden, sie befördert nicht nur die Entwicklung der Linguistik, die sich laut Greimas bis dahin in einem ‚Engpass‘ von semantischen Forschungsanstrengungen befunden habe, sondern auch der Semiotik, wie es Christine Ohno in ihrer Grundlegung der Semiotischen Theorie der Pariser Schule6 ausführlich darstellt. Dass in den Folgejahren der Ansatz der Strukturalen Semantik – von mikrosemantischen Einheiten zu vollständigen Texten vorzudringen – die Semiotik tatsächlich zu beleben imstande war, auch wenn Greimas sie nicht als eine semiotische Theorie verstanden haben möchte, liegt auf der Hand, denn die Semiotik berührt insofern die Linguistik, als die Sprache unter anderen Zeichensystemen selbst ein Bedeutung tragendes und damit semiotisches System darstellt. 3 4 5 6 Vgl. (Ohno 2003, p. 78). Auf einem Vortrag in Toronto 1985 erläutert Greimas das ‚semiotische Projekt‘ ‚in terms of the history‘. Nach einer ersten Stufe, die er mit einem Beitrag zur Aktualität des Saussurismus (1956) identifiziert, gehe die zweite Stufe der Entfaltung dieses Projekts auf das Jahrs 1964 zurück: Roland Barthes und er hätten getrennt voneinander Seminare zu Hjelmslevs linguistischen und semiotischen Theorien gegeben. Barthes habe seine Forschungsergebnisse in Elemente der Semiologie veröffentlicht, er selbst in seiner Arbeit Strukturale Semantik (Paris 1966). Um 1970 herum sei dann der Versuch unternommen worden, die Elemente der Narrativität genauer zu fassen; vgl. (Greimas 1988b, p. 542). Mit seiner Untersuchung möchte er die Semantik aus ihrem ‚Schattendasein‘ (neben der ‚leuchtenden Linguistik‘) befreien, er möchte die ‚arme Verwandte der Linguistik’ angemessen einkleiden; vgl. (Greimas 1971, p. 3). Vgl. (Ohno 2003, p. 78 f.). 82 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Der Aufwertung der Semantik mit linguistischem Werkzeug beizuwohnen, darauf möchte ich, soweit es vertretbar ist, verzichten; zu weit würde dieser Weg in die Tiefen linguistischer Terminologie führen, zu weit würde er sich vom eigentlichen Gegenstand der vorliegenden Arbeit entfernen.7 Was diese Arbeit allerdings auf keinen Fall unberücksichtigt lassen darf, ist das Strukturmodell von Erzähltexten, wohin Greimas’ Überlegungen ihn führen werden. Prägnanter als in der bereits erwähnten Strukturalen Semantik8 stellt er ein Drei-Ebenen-Modell in dem Beitrag Elemente einer narrativen Grammatik9 aus einer späteren Aufsatzsammlung (On Meaning10/Du Sens)11 vor. Greimas’ Strukturale Semantik werde ich aber nicht aus den Augen verlieren. Greimas’ Grundgedanke ist es, dass eine sichtbare Ebene von einer immanenten unterschieden werden müsse, von einer Ebene, die „eine Art gemeinsamen strukturellen Stamm bildet, in dem die Narrativität vor ihrer Manifestation plaziert und angeordnet ist“ (Greimas 1972, p. 48). Greimas differenziert diesen Gedanken zu einem Drei-Ebenen-Modell: – auf einer Tiefenebene kämen die Kernelemente von Sinn und Bedeutung zu liegen; – auf einer mittleren Oberflächenebene würden Inhalte für die dritte Ebene vorbereitet, sortiert und arrangiert; – auf der dritten Ebene, der Erscheinungs- oder Diskursebene, würden die Inhalte kommunizierbar; erst hier erhielten sie ihr konkretes Gewand und ihren konkreten sprachlichen Ausdruck12, denen man als Leser begegne. Denis Bertrand macht in seinem Beitrag Narrativity and Discursivity im Theorieband zur Semiotik der Pariser Schule die Voraussetzungen eines solchen Modells deutlich: Erstens habe man es mit Texten als relativ ‚autonomen Universen‘ zu tun und zweitens mit Ebenen, die nicht beanspruchten, mit Ebenen empirischer Bedeutungsevidenz zu korrespondieren: „They are constituted as meta-linguistic levels linked with one another and convertible into one another“ (Bertrand 1989, p. 108). Allein unsere Erfahrung zeige uns, so Bertrand, 7 8 9 10 11 12 Und zu sehr müsste ich vortäuschen, zu sein, was ich nicht bin: Linguist und Semiotiker. In der Strukturalen Semantik spricht Greimas auch von Ebenen: Immanenz, Manifestation und Diskurs. Dieser Beitrag ist für den von Heinz Blumensath herausgegebenen Band Strukturalismus in der Literaturwissenschaft 1972 von Irmela und Jochen Rehbein ins Deutsche übertragen worden; vgl. (Greimas 1972, pp. 47, Anm.). Ich beziehe mich im Weiteren auf die englische Übersetzung On Meaning, die in Theory and History of Literature (Bd. 38) 1987 erschienen ist. Deshalb nun auch englischsprachige Zitate und eigene Übertragungen ins Deutsche aus dem Englischen, nicht aber aus dem Französischen des Originals (Du sens, Essais sémiotique, Paris 1970). Mit Du Sens und dem Wörterbuch Sémiotique sei Greimas laut Christine Ohno zu seiner ‚Standardtheorie‘ gelangt – in Weiterentwicklung seines ‚ersten Entwurfs einer Theorie der Bedeutung‘ in seiner Strukturalen Semantik. Vgl. (Greimas 1987, p. 48). 83 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. dass wir während der ‚semiosis‘13 Abstraktionen vollzögen, dass wir intuitiv unabhängig von der Besonderheit der jeweiligen Kodierung dieselbe Geschichte entdeckten, ob nun in einem Text, einem Film, einem Comic-Strip, einem Theaterstück oder einem Gemälde.14 Zwar kritischer, aber die Metaphorik jenes Ebenenmodells ebenfalls hervorhebend, äußert sich Cesare Segre – und das scheint eine anschlussfähige Sprachreglung zu sein: Der Versuch, von einer Tiefenstruktur per ‚Transformationsregeln‘ zum Erzähltext zu gelangen, sei zwar absurd, aber das Ebenenmodell sei dennoch nützlich: „Ebenen und Generierung bleiben somit zwei Metaphern, die als solche, wohlbemerkt: nur als solche, vollkommen akzeptabel sind“ (Lücke 2002, pp. 14, Anm. 9).15 Nicht das Modell sei absurd, sondern eben nur der Versuch, mittels Transformationsregeln von der Tiefenstruktur zu einem Erzähltext zu gelangen; über die ‚Generierungspotenz‘ der Tiefenstruktur wird gleich noch zu reden sein. 1.2. Die Tiefenebene Greimas erinnert sich an ein Kolloquium in Konstanz 1971: „Die germanistischen Teilnehmer redeten so sehr auf einem Oberflächenniveau, dass unsere Ausführungen über die narrativen Strukturen als Frucht des Illusionismus erschienen, absolut unvereinbar mit dem, was sie machten. […] In den Augen der Deutschen waren wir alle Narren! Heute erscheinen die narrativen Strukturen der Oberfläche als völlig akzeptabel.“ (Ohno 2003, p. 15) Das Fundament des Greimas’schen Modells ist die sogenannte Tiefenebene. Sie enthalte (wie auch die zwei weiteren Ebenen) einen statischen und einen dynamischen Bereich16, eine Tiefensemantik und eine Tiefensyntax. 13 14 15 16 Semiose ist der Vorgang der Zeichenbildung (produktiv wie rezeptiv). Für Charles Sanders Pierce – dem ‚Vater‘ der allgemeinen Semiotik – ist die Semiose die ‚Handlung des Zeichens‘, also der Prozess, „durch den das Zeichen auf seinen Interpreten […] einen kognitiven Effekt ausübt“ (Nöth 2000, p. 62). Vgl. (Bertrand 1989, p. 108). Lücke zitiert hier Cesare Segre, Erzählforschung, narrative Logik und Zeit; in: Segre, C., Literarische Semiotik, Dichtung – Zeichen – Geschichte, Stuttgart 1980, S. 75 Jede Grammatik, auch die hier berührte Tiefengrammatik, enthalte eine Morphologie (Terme oder Bedeutungseinheiten) und eine Syntax (Operationsregeln); vereinfacht: ein rudimentäres Lexikon und ein Buch von Regeln, nach denen sinntragende Einheiten zu generieren sind. 84 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Tiefensemantik In der ‚Elementarmorphologie‘ der Tiefensemantik werde das Inventar potentieller Bedeutung bereitgestellt, Seme17 würden im Verhältnis zueinander definiert und bildeten Beziehungsgeflechte nach den Relationskategorien konträr, kontradiktorisch und implizierend/komplementär. Greimas stellt ein solches Beziehungsgeflecht modellhaft im sogenannten Semiotischen Quadrat18 dar, in dem, so beschreibt es Paul J. Perron, die Elementarstruktur von Bedeutung als eine binäre semische Kategorie erscheint, die zwei konträre Seme mit den Relationen Konjunktion, Disjunktion, wechselseitiger Voraussetzung und Implikation zusammenbringe.19 Oder wie es Ricoeur in einer ausführlichen Kritik der Greimas’schen Narrativen Grammatik beschreibt: Wenn irgendetwas etwas bedeute, komme es nicht deshalb zustande, weil man intuitiv begreife, was es bedeute, sondern weil man ein absolut elementares System von Beziehungen auslegen könne, eine Beziehung von Kontraktionen und Konträrem.20 17 18 19 20 (1) Auf der semiologischen Ebene enthalte ein Lexem invariante Bedeutungskerne, sogenannte ‚Seme‘. Greimas nennt sie Kern-Seme, sie machten den positiven Bedeutungsinhalt aus, unabhängig und noch vor seiner Verwendung innerhalb der manifesten Rede. Jenes positive permanente Bedeutungsminimum wird sozusagen vom Kern-Sem ‚mitgeliefert‘. Solche ‚nuklearen Seme‘ bezögen sich auf die wahrnehmbare Welt. (2) Auf einer zweiten, der semantischen Bedeutungsebene, werde das Kern-Sem angereichert durch sogenannte ‚Kontext-Seme‘ (oder Klasseme), einer Kategorie von Semen, die je nach Aktualisierung im Satz ein- oder ausgeblendet würden. Eingeblendet würden sie, wenn sich mindestens noch ein weiteres dieser Kontextseme in der Satzumgebung befinde; beide Kontextseme generierten dann Bedeutung, während die anderen nicht-aktualisierten Kontextseme, die kein Gegenüber fänden, im Dunkeln der Virtualität blieben. Nur ein iteratives oder nochmaliges Auftauchen desselben Kontextsems in einem zweiten Lexem/Wort habe einen ‚Bedeutungseffekt‘ auf das Ausgangslexem. Bedeutungsgenerierend wirken hier also die Kernseme wie auch die aus dem Satzumfeld kommenden kontextuellen Seme, denn Letztere dienten dazu, „die Welt (in ‚Klassen‘, z.B. /tierisch– menschlich/) zu kategorieren“ (Lücke 2002, p. 86). Aus diesem Grund werden die Kontextseme auch Klasseme genannt. Auch Christine Ohno befasst sich ausführlich mit Kern- und Klassemen und verweist dabei auf die Arbeit von Katz und Fodor (The Structure of a Semantik Theory, 1963), deren Unterscheidung von distinguisher und marker sie übernimmt: Kernseme bezögen sich auf Wahrnehmungselemente als Distinktoren; Klasseme auf konzeptuelle Elemente als Marker; vgl. (Ohno 2003, p. 105 ff.). Abschließend noch ein Beispiel von Greimas: Das Lexem ‚bellen‘ mit dem Kernsem ‚intentional produziertes Geräusch‘ werde erst durch das Klassem ‚Tier‘ oder ‚Mensch‘ auf Satzebene konkretisiert. Und je nachdem, ob ein zweites Lexem das Kontextsem ‚Tier‘ (einen Hund beispielsweise) oder ‚Menschen‘ (einen Kommissar) anbiete, konkretisiere sich die Bedeutung des Lexems ‚bellen‘. Vgl. (Greimas 1971, p. 42 f.). Das Quadrat als Darstellung der logischen Gegensatzrelationen gehe auf ein seit der aristotelischen und mittelalterlichen Logik bekanntes Modell zurück; vgl. (Nöth 2000, p. 117). Vgl. Paul J. Perron in der Einleitung zu On Meaning das Semiotische Quadrat; (Greimas 1987, p. xxviii). Vgl. (Ricoeur 1989, p. 5). Ugo Volli beschreibt den Unterschied der beiden Verhältnisse folgendermaßen: (a) kontradiktorisch (s1 vs. s1): widersprüchlich; 85 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Tiefensyntax In der Tiefensyntax komme Dynamik ins Spiel, das Material werde organisiert, es lägen Regeln vor, nach denen mit den Termen21 umgegangen werden könne. Die Kontradiktion beispielsweise stelle auf der morphologischen Ebene binäre Schemata bereit, während sie auf der syntaktischen Ebene Bewegung erzeuge: „als Operation wird die Kontradiktion einen der Terme des Schemas negieren, 21 (b) konträr (s1 vs. s2): gegensätzlich, keine gemeinsamen Elemente; Gegensätze kulturell variant (Farbe: weiß vs. schwarz; Politik: rot vs. schwarz …); (c) subkonträr (nicht s1 vs. nicht s2): Polarität aufrechterhaltend, aber Zwischenbereiche zulassend (Grautöne zwischen nicht-weiß und nicht-schwarz); (d) implizierend (s1 vs. nicht s2): Der eine Term enthält den anderen: Was weiß ist, ist zugleich nicht-schwarz. Vgl. (Volli 2002, p. 72 ff.). Terme sind nach Greimas und Courtés Schnittpunkte von Relationen (‚intersection points of relations‘). Diese Sichtweise ist dem Strukturalismus geschuldet, für den jedes semiotische System „simply a network of relations“ sei (Greimas & Courtés 1982, p. 338). So bestünden auch natürliche Sprachen nur aus Differenzen (darüber wird noch zu sprechen sein). Jeder Term könne, müsse aber nicht in natürlichen Sprachen lexikalisiert werden. 86 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. um dessen kontradiktorischen Term zu bejahen“22 (Greimas 1972, p. 53). Die Operationen seien hier ‚gerichtet‘ oder, um es metaphorisch zu sagen, sie ermöglichen ‚Entscheidungen‘: Die Negation eines Terms (Disjunktion) ist zugleich und zwar zwingend die Bejahung (Konjunktion, Assertion) des kontradiktorischen Gegenübers. Das Semiotische Quadrat lasse sich also, wie gezeigt, auf der Tiefenebene semantisch wie auch syntaktisch betrachten. Von der elementaren semantischen Morphologie (Relation, statisch) lasse sich ein Übergang zu einer Syntax (Operation, dynamisch) der Bedeutungsgenerierung konstruieren; und zwar durch ein Subjekt, einen ‚Bedeutungsproduzenten‘. Dieses Subjekt dürfe man sich nicht als ein bestimmtes menschliches Subjekt vorstellen, sondern – so, wie es die Wissenschaft fordere – als ein ‚austauschbares Subjekt‘23. Das Inventar auf der statischen Seite im ‚semantischen Universum‘ enthalte eine Totalität von (kulturell bedingten) Bedeutungspotentialen vor ihrer Artikulation.24 Ein solcher (Struktur‑)Sinn [meaning] werde erst nach seiner Umwandlung durch den Bedeutungsproduzenten zur Bedeutung [signification]: „‚Bedeutung‘ ist also eine metalinguistische Aktivität, die durch die Transkodierung von Sinn erzeugt wird“ (Lücke 2002, p. 65).25 Den Übergang vom Sinn zur Bedeutung sieht Greimas als eine Prozedur der Artikulation, als eine Art kontinuierlicher Explosion.26 Erst so entstehe der Reichtum27 des Diskurses. Die ‚Prozedur‘ einer horizontalen Umwandlung (Transformation innerhalb einer Ebene) dürfe nicht verwechselt werden mit der ‚vertikalen Konvertierung‘ von der fundamentalen Syntax auf der Tiefenebene in die semio-narrative Oberflächenebene, von der gleich die Rede sein wird. Ein abschließender Gedanke drängt sich noch auf: Wenn das Prinzip der Gegensätzlichkeit (Kontrarietät, Kontradiktorik …) das semiotische Quadrat prägt, dann ist dies insoweit eine originelle Einführung in die Grundelemente der Narrativität, als dort Gegensätze den Ausgangspunkt erzählenswerter Stoffe bilden und zugleich – gar nicht einmal mehr so implizit – das Fundamentalver22 23 24 25 26 27 Ein Gegenstand ist weiß und damit wird die Kontradiktion ‚nicht-weiß‘ negiert. Allerdings nur innerhalb der kontradiktorischen Relation. Subkonträr sind Abstufungen denkbar. „[…] operations in which the operating subject is no longer a human subject but, just as science demands, a substituable subject“ (Greimas 1988b, p. 554). In einem 1983 geführten Gespräch mit Peter Stockinger spricht Greimas von einem ‚Bedeutungsnetz‘, das vor der Ebene des Zeichens liege. Vgl. (Greimas 1983, p. 267). Vgl. (Lücke 2002, p. 70). „As a linguist I see this [passage from meaning to signification] in the procedure of articulation, a sort of continuous explosion“ (Greimas, 1988b, p. 559). Ob der Vorwurf der Reduktion, der Verarmung von Sinn und Bedeutung, der Greimas zuweilen gemacht wird, Berechtigung hat, wird zu untersuchen sein. Ricoeur jedenfalls glaubt sich mit seinem hermeneutischen Ansatz immer schon auf der Seite derjenigen, die auf den Reichtum erzählerischer Texte, auf eine erweiterte, eine ‚amplifizierende Interpretation‘ verweisen, „die auf das Mehr an Sinn achtet“; vgl. (Ricoeur 2005b, p. 28). 87 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. hältnis der Individuen zueinander in der Konkurrenz spiegeln. Konsequent wird sich das Prinzip der Gegensätzlichkeit auf der nun darzustellenden mittleren Ebene als Prinzip der Polemik wiederfinden. 1.3. Die semio-narrative Oberflächenebene „Die Buntheit der Erzähloberfläche […] wird durch Reduktion auf wiederkehrende Grundmuster gleichsam ausgefiltert – ein Prozess der Akkomodation, der das Neue, das jeden Augenblick aufglüht und vergeht, in die langsamere, gleichförmigere Arbeit der kulturellen Semiosis überführt.“ (Koschorke 2013, p. 38) Kommen wir also zur zweiten Ebene, einer Ebene, die verspricht, elementare Aussagen bereitzustellen, im besten Fall Elemente narrativer Programme. Greimas zieht zwischen der eben dargestellten ersten Ebene der Tiefengrammatik und der dritten, der Diskursebene,28 ein Zwischendeck ein. Wenn er für eine solche ‚intermediäre semiotische Ebene‘ den Begriff der Oberfläche benutzt, dann warnt er davor, ihn umgangssprachlich oder gar abwertend zu verstehen, er weise lediglich auf eine semiotische Stufe hin, von der aus erst „mit Hilfe einer letzten Umkodierung“ in sprachliche Diskurse (also auf die dritte Ebene) übergegangen werden könne (Greimas 1972, p. 54). Und noch einer weiteren einleitenden Erläuterung bedarf es an dieser Stelle. Greimas scheint die Tiefengrammatik zum Generierungssubjekt erklären zu wollen, er schreibt: „Damit die Tiefengrammatik […] Erzählungen produzieren kann […]“, bedürfe sie auf der mittleren Ebene besonderer Repräsentationen (Greimas 1972, p. 54). Greimas scheint sich die Tiefenebene als etwas vorzustellen, das sich anreichernd29 sich in eine höhere Ebene verwandelt30. Einmal abgesehen von der Mystik einer solchen Subjektivierung müsste damit die Tiefengrammatik in potentia alles bereitstellen, was auf den folgenden beiden Ebenen zur Entfaltung käme. Greimas’ Idee ist, dass logische Strukturen der Tiefenebene sich in anthropomorphe Strukturen in einfachen und modalen Aussagen konvertierten.31 28 29 30 31 Erst auf der Diskursebene, so Greimas, erfüllten menschliche und personifizierte Protagonisten Aufgaben, bestünden Proben, erreichten Ziele; vgl. (Greimas 1972, p. 54). Anreicherung im Sinne einer ‚höheren Sinngliederung‘; vgl. (Greimas, 1983, p. 273). Perron beschreibt diese ‚Anreicherung‘ im Vorwort zu On Meaning wie folgt: „[…] in proceeding from the deep level to the surface levels the surface must be considered as richer than the deep level: ‚Consequently any conversion must be viewed as equivalence and as a surplus of signification‘“ (Greimas 1987, p. 30 (xxx)). Die Tiefenebene werde allein durch eine logische Syntax gebildet – ohne Rücksicht auf zeitliche oder räumliche Merkmale –, während die semio-narrative Oberflächenebene anthropomorpher Natur sei; vgl. (Greimas, 1983, p. 273). 88 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Eine solche Sichtweise unterstützt Roland Barthes – knapp und präzise: „Die Ebenen sind Operationen“ (Barthes 1988, p. 107). Barthes bezieht sich dabei auf E. Bach, der Ebenen als ein ‚System von Symbolen oder Regeln‘ auffasse.32 Dass eine solche Konvertierungsleistung als Generierungsakt33 von Erzählungen taugen würde, so dass alle Folgeoperationen auf höheren Ebenen voraussagbar und berechenbar wären, stelle ich ebenso infrage34 wie Ricoeur: „But then nothing would happen. There would be no events. There would be no surprise. There would be nothing to tell“ (Ricoeur 1989, p. 8). Ricoeur könne auch nicht nachvollziehen, wie ein achronisches Modell die Bedingungen für Narrativiät enthalten solle: Reiche es aus, Beziehungen als gerichtete Operationen zu verstehen? Erlaubten uns diese Dinge, von Narrativisation zu sprechen? Ricoeurs Generalverdacht ist, dass Greimas die narrative Dimension des Diskurses von Anfang an missverstanden habe.35 Auch Kolkenbrock-Netz schließt sich der Kritik Ricoeurs an und wirft Greimas vor, die jeweilige historisch-gesellschaftliche Funktion narrativer Sinnstrukturen ausgeklammert zu haben.36 Mir geht es nicht darum, Greimas’ Modell zu verteidigen – das wäre wissenschaftlich begründet wohl auch nicht zu haben –, aber es lohnt sich, noch einmal Greimas zu Wort kommen zu lassen. Auf der Abschluss-Session eines Kolloquiums zu den Universals of Narrativity 1984 in Toronto37 erläutert Greimas gegenüber Ricoeur: Wir müssten feststellen, dass menschliche Gesellschaften Sprichwörter, Rätsel, Geschichten auf dieselbe Art und Weise erfänden und sie 32 33 34 35 36 37 Barthes zitiert E. Bach: „‚In etwas vagen Begriffen kann eine Ebene als ein System von Symbolen, Regeln usw. aufgefaßt werden, die man verwenden muß, um Ausdrücke darzustellen‘„ (E. Bach, An Introduction to Transformational Grammar, S. 57 f.); vgl. (Barthes 1988, pp. 138, Anm. 14). Scharfenberg fasst das folgendermaßen zusammen: „Alle strukturalen Modellbildungen basieren also auf der Analyse von konstitutiven Grundelementen der Narration, aus denen die höherstufigen sprachlich-narrativen Niveaus – bis hin zur diskursiven Einheit der Narration – zu (re-)konstruieren seien, so die methodische Grundauffassung“ (Scharfenberg 2011, p. 181). … wie auch Scharfenberg: „Aus der analytisch vollzogenen Isolierung von narrativen Elementen folgt nicht das Gelingen der komplementären Rekonstruktion der Synthese“ (Scharfenberg 2011, p. 201). „Even more, the whole enterprise can be suspected of having, from the outset, misunderstood the narrative dimension of discourse“ (Ricoeur 1989, p. 9). Vgl. (Kolkenbrock-Netz 1988, p. 271). Auch Christine Ohno berichtet von ‚einer gewissen Ernüchterung‘, die nach anfänglicher Euphorie in die Wissenschaftswelt eingekehrt sei, in ihren Augen sei das Modell ‚überstrapaziert‘ worden. Wollte man das semiotische Quadrat (s. u.) in seinem streng logischen Aufbau auf alle narrativen Handlungsverläufe anwenden, die mit dem Helden und seinem Gegenspieler zu tun haben, dann, so Ohno, müsse man mit Fehlinterpretationen rechnen. Sie rät zu einer ‚flexiblen‘ Handhabung, um die verschiedenen Formen von Gegensätzlichkeit angemessen modellieren zu können: kontradiktorische, konträre Begriffe, aber auch solche, „die nur in einem konkreten Text die Funktion gegensätzlicher Begriffe erhalten“ (Ohno 2003, p. 433). Greimas und Ricoeur diskutierten auf dem Kolloquium zu Universalien der Narrativität am 17. Juni 1984 am Victoria College der Universität von Toronto. Übertragen ins Englische wurde die Diskussion von Paul Perron und Frank Collins. 89 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. – mutatis mutandis – auf dieselbe Art erzählten. Wenn wir also über semio-narrative Strukturen sprächen, hätten wir es in der Tat mit einer Art narrativer Universalien zu tun, mit Merkmalen des menschlichen Geistes. Von dieser semio-narrativen Ebene müsse aber die diskursive Ebene streng unterschieden werden, weil es Individuen seien, die Diskurse erfänden – und dabei narrative Strukturen benutzten, die bereits existierten. Deshalb stellt Greimas sich das Subjekt der Aussage als eine Art von Trichter vor, in den die narrativen Strukturen Tropfen für Tropfen fielen und an dessen Ende Diskurse herauskämen.38 Das könnte der Beginn einer Antwort auf Ricoeur sein. Greimas ist sicherlich zuzustimmen, dass es Redensarten, Rätsel oder Märchenstoffe gibt, die auf transkulturell vergleichbare Erzählmuster zurückgehen. Die Frage, ob es nun so etwas wie ein kulturübergreifendes kollektives Gedächtnis für erzählbare Stoffe gibt, kann nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit sein. Wesentlich für unser Erkenntnisinteresse bleibt die mittlere, die semio-narrative Ebene, denn sie, so meine These, ist der genuine Ort des Moralischen Paktes. 1.4. Einfache narrative Aussagen In Abgrenzung zur Tiefenebene, auf der syntaktische Operationen39 vollzogen würden, fände man, so Greimas, auf der semio-narrativen Oberflächenebene zwar ebenfalls ein ‚syntaktisches Tun‘, aber eines, das die anthropomorphe Dimension einführe, also ein menschliches Subjekt40 (oder ein personifiziertes). Das Tun auf dieser Ebene sei als sprachliches Tun zu verstehen, als ein ‚in Nachricht transkodiertes Tun‘. Auf dieser Ebene kämen elementare Aussagen zu liegen, Aussagen über elementare Funktionen von Rollen (von Aktanten41, wie es bei Greimas heißt) wie das Fischen des Fischers: EN42 = F(A) – wobei unter Funktion die Aktualisierung und unter Aktant das Subjekt des Tuns verstanden wird. Die Illustration des Fischers kann hier in die Irre führen, Greimas spricht noch nicht von der Diskursebene, sondern lediglich von der Elementarstruktur einer Aussage, die ein Subjekt und dessen Tätigkeit bereithält, unabhängig – 38 39 40 41 42 „I thus imagine the subject of enunciation as a kind of funnell into which the narrative structures are poured drop by drop, and from which discourse emerges“ (Greimas, 1988b, p. 555). … für Greimas ein autonomer metasprachlicher Vorgang. So hört es sich an, wenn der Linguist aus Greimas spricht: „Anders gesagt, das Tun ist eine Operation, die durch Adjunktion des Klassems ‚menschlich‘ spezifiziert wird“ (Greimas 1972, p. 55). Der Begriff des Aktanten (Rollenträgers) ist bei Greimas wesentlich und wird an späterer Stelle ausführlich besprochen. EN = énonciation narrative = Aussage; und zwar die Aussage als Prozess, als ‚thinking thought‘, nicht als ‚thought thought‘; vgl. (Greimas, Joseph Courtés 1989, p. 563). 90 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. und das ist zunächst einmal schwer nachzuvollziehen – „von dem Inhalt, der in dieses oder jenes Tun eingesetzt werden kann“ (Greimas 1972, p. 56). Auf der Ebene der Semio-Narrativität liegen also vor allem Rollenpotentiale und entsprechende Tätigkeitspotentiale43 vor, die man sich weder figurativ noch thematisch, weder zeitlich noch örtlich konkretisiert vorstellen darf. Und noch eine Bemerkung: Das Subjekt, von dem Perron oben bei der horizontalen Umwandlung (von der semantischen zur syntaktischen Ebene innerhalb der Tiefenstruktur) gesprochen hat, darf nicht gleichgesetzt werden mit dem Subjekt, von dem hier auf der semio-narrativen Ebene die Rede ist. Und weiter darf man dieses Subjekt auch nicht mit dem konkreten Autor verwechseln, der auf der Diskursebene das konkrete Geschehen zeit- und ortsbestimmt dem Leser vorstellig machen wird. 43 Aktant und Funktion sind hier noch vollständig äquivalent (= isotop). 91 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. B.2. Ricoeurs mimêsis I Nach diesem kurzen Überblick über die ersten beiden Ebenen des Greimas’schen DreiEbenen-Modells geht es nun um einen zunächst parallel anmutenden Entwurf, und zwar Paul Ricoeurs Modell einer dreifachen mimêsis. Auf der ersten Stufe geht es um pränarrative Strukturen, also solche, die der Leser bereits mitbringt, bevor er sich auf eine konkrete Lektüre einlässt: ein Vorverständnis, das sich auf Handlungen – mit einem Begriffs- und Symbolnetz – und auf Zeiterfahrungen bezieht. Der Blick auf die Aristotelischen Begriffe Fabel und Fabelkomposition wird uns direkt in das Ricoeur’sche Modell führen. 2.1. Mythos und mimêsis Aristoteles arbeite, so Ricoeur, mit dem Begriffspaar mimêsis und mythos – dem ‚melodischen Kern‘44 der Fabel, wie er es nennt. Mimêsis bedeute erst einmal nicht mehr als Nachahmung (oder Darstellung) einer Handlung. Mimêsis sei keine Strukturbegriff, sondern bezeichne einen Vorgang, genauer: die Tätigkeit des ‚Zur-Darstellung-Bringens‘.45 Und der Mythos? Ricoeur versteht darunter zunächst einmal ebenfalls einen Prozess, nämlich die eigentliche Zusammensetzung von Handlungselementen zu einem Ganzen, also die Kunst, ‚Fabeln aufzubauen‘. Ricoeur scheint der Unterschied von Vorgang und Produkt hier nicht wesentlich zu sein, der Unterschied also zwischen dem kreativen Prozess des Handlungsaufbaus und dessen Ergebnis, der Fabel46 – als die man gemeinhin den mythos versteht. Worauf es Ricoeur anzukommen scheint, ist die größtmögliche Nähe der beiden Begriffe mimêsis und mythos, denn die Aristotelische Poetik zwinge ihn dazu, „Nachahmung oder Darstellung der Handlung und Handlungsaufbau zusammenzudenken und durcheinander zu definieren“. (Ricoeur 2007a, p. 59) Um der Nähe beider Begriffe willen setzt Ricoeur die Elemente,47 die eine Fabel nach Aristoteles ausmachen, in ein hierarchisches Verhältnis, in dem ganz oben der ‚Hauptteil‘ – „ja sozusagen als die ‚Seele‘ der Tragödie“ (Ricoeur 2007a, p. 59) –, nämlich die Handlung thront. Auch auf die Gefahr hin, eine mögliche Irritation noch zu verstärken, möchte ich dem Leser hier ein weiteres Zitat Ricoeurs anbieten, in dem er die Frucht seiner Aristoteles-Lektüre zusammenfasst: „Die einzige Anweisung, die uns 44 45 46 47 Vgl. (Ricoeur 2007a, p. 56 ff.). Vgl. (Ricoeur 2007a, p. 57). Der Mythos sei, die drückt es Scharfenberg aus, das ‚Objekt der mimetischen Operation‘, aber eben, so verstehe ich Ricoeur, auch die Operation der Handlungsgestaltung selbst; vgl. (Scharfenberg 2011, p. 138). Fabel, Charakter, Rede, Absicht, Szenerie und Musik; vgl. (Ricoeur 2007a, p. 58); Ricoeur zitiert hier Aristoteles’ Poetik, 50a, 7-9. 92 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Aristoteles gibt, ist denn auch die, den mythos, also die Zusammensetzung der Handlungen, als das ‚Was‘48 der mimêsis zu konstruieren“ (Ricoeur 2007a, p. 60). Hier also stehen sich die beiden Begriffe im Verhältnis von Gefäß (mimêsis) und Inhalt (mythos) gegenüber. Und wieder schiebt sich das Verständnis des mythos als Produkt in den Vordergrund. Ich schlage vor, nach solchen Begriffsbemühungen zum einfachen Konzept zurückzukehren: Unter mimêsis möge die Nachahmung einer Handlung verstanden werden und zwar mit dem Schwerpunkt auf der Tätigkeit, also auf dem Nachahmen selbst, und zwar als „genuin schöpferische (Konfigurations-)Tätigkeit49 begriffen“ (Scharfenberg 2011, p. 139). Unter mythos hingegen soll die nach Regeln der Erzählkunst vollzogene Komposition einer Fabel50 verstanden werden. Hier liegt der Schwerpunkt auf dem Produkt, dem literarischen Werk. Ich bin mir dessen bewusst, dass es Ricoeur um die Dynamik des Begriffspaares geht, gerade und vor allem um genügend Distanz zum Strukturalismus: er verteidigt „den Primat der fabelkomponierenden Tätigkeit gegenüber jeder Art von statischer Struktur, von zeitlosen Paradigmen, von überzeitlichen Invarianten“ (Ricoeur 2007a, p. 57). So weit, so gut. Das Ricoeur’sche Modell unterscheidet sich grundsätzlich von dem Strukturmodell Greimas’. Ricoeur beginnt mit einem der Lektüreproduktion und -rezeption vorgelagerten semantischen Begriffsnetz von Handlungen (mimêsis I), geht über zur eigentlichen Konfigurationstätigkeit des literarischen Werks (mimêsis II) und gelangt schließlich zur Vollendung des Werks in dessen Lektüre (mimêsis III); oder prägnanter: Es geht ihm um einen Prozess durch die dreifache mimêsis hindurch, einen Prozess, „durch den die Textkonfiguration zwischen der Vorgestaltung (préfiguration) des praktischen Feldes und seiner Neugestaltung (refiguration) in der Rezeption des Werkes vermittelt“ (Ricoeur 2007a, p. 88). Während die Semiotik allein von der Abstraktion der mimêsis II ausgehe, ohne das Vorher und das Nachher des Textes zu berücksichtigen, sei es Aufgabe der eigenen, der Ricoeur’schen Hermeneutik, „die Gesamtheit der Vorgänge zu rekonstruieren, durch die ein Werk sich von dem undurchsichtigen Hintergrund des Lebens, Handelns und Leidens abhebt, um von einem Autor an einen Leser weitergegeben zu werden, der es aufnimmt und dadurch sein Han48 49 50 Dem Was als dem Gegenstand der Handlung sind Charakter und Absicht untergeordnet; und diesen wiederum das Wodurch (Mittel) und das Wie (Modus); vgl. (Ricoeur 2007a, p. 58). … einer Tätigkeit also, die den Handlungsaufbau bereits im Sinne der Fabelkomposition erschaffe. Die mimêsis kopiere nicht Wirklichkeit, sondern stelle den Bruch dar, der den Fiktionsraum eröffne. „Der Wortkünstler erzeugt keine Dinge, nur Quasi-Dinge; er erfindet ein Als ob“ (Ricoeur 2007a, p. 77). Vgl. hierzu auch Scharfenberg, der in einer Anmerkung auf die Identität von Mythos und Fabel bei Aristoteles hinweist: nämlich als „ein bestimmtes Arrangement der Geschehnisse bzw. eine Handlungsstruktur“ (Scharfenberg 2011, pp. 138, Anm. 565). 93 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. deln verändert“ (Ricoeur 2007a, p. 88). Während also für die Semiotik die einzige Referenz der literarische Textes bleibe, bemühe sich die Hermeneutik darum, den gesamten Bogen der praktischen Erfahrungen zu rekonstruieren, in dem Werke, Autoren und Leser miteinander in Beziehung träten. Ohne ihn beim Namen zu nennen, spricht Ricoeur auch über Greimas. Die Fabelkomposition setze bereits ein Vorverständnis der Welt des Handelns voraus. Oder anders: Wenn die Fabel eine ‚Handlungsnachahmung‘ sei, dann erfordere ihr Verständnis eine vorgängige Kompetenz, nämlich „die Fähigkeit, die Handlung überhaupt an ihren Strukturmerkmalen zu erkennen“ (Ricoeur 2007a, p. 90). Eine zweite erforderliche Kompetenz sei es, die ‚symbolische Vermittlung‘ von Handlung zu erkennen; und eine dritte, zeitliche Züge der symbolischen Gliederung zu erkennen, auf denen die Eignung der Handlung beruhe, erzählt zu werden, und vielleicht sogar das Bedürfnis, sie zu erzählen. Nun im Einzelnen zu diesem ‚Vorverständnis der Welt‘. 2.2. Semantik menschlichen Handelns Ricoeur spannt ein ‚Begriffsnetz der Handlungssemantik‘ auf, handlungsimmanente Begriffe, die die Fragen nach dem Was, Warum, Wer, Wie und dem Mit wem oder Gegen wen beantworteten: – – – – Ziele, die den Handelnden verpflichteten; Motive, die erklärten, warum jemand etwas tue oder getan habe; handelnde Subjekte, die für ihr Werk, ihre Tat verantwortlich seien; Umstände (günstige oder ungünstige), denen die Handelnden ausgesetzt seien. Die Umstände schlössen auch Kompetenzen und Wissen ein; – Interaktionen mit anderen – in Form von Kooperation, Wettbewerb oder Kampf; – Ausgang der Handlung, der über Glück oder Unglück entscheide. Über ein solches Begriffsnetz zu verfügen, stellt für Ricoeur die Kompetenz des praktischen Verstehens dar. Wie verhält sich nun, so fragt er, jenes praktische Verstehen zum narrativen Verstehen? Jede Erzählung mache Gebrauch von unserer Vertrautheit mit dem Begriffsnetz der Handlung aus unserer Lebenswelt: Ein narrativer ‚Minimalsatz‘ sei ein Handlungssatz der Form: „X macht A unter diesen und jenen Umständen und unter Berücksichtigung der Tatsache, daß Y unter denselben oder anderen Umständen B macht.“ Und nun folgt ein Satz, der gar nicht ernst genug genommen werden kann: „Thema aller Erzählungen ist letztlich das Handeln und das Leiden“ (Ricoeur 2007a, p. 92). Es gebe keine Strukturanalyse von Erzählungen, die nicht Anleihen bei einer Phänomenologie des ‚Tuns‘ mache. Vor aller Differenz von erlebter und erzählter Handlung ist festzuhalten, dass die Handlung nicht nur für Aristoteles die ‚Seele‘ des Werks ist (bei ihm war es die Tra- 94 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. gödie), sondern auch für Ricoeur und – so möchte ich in Erinnerung rufen – ebenfalls für Greimas. Beide Philosophen inthronisieren die Handlung als Regierungschefin in Erzählungen, beide Modelle könnte man vorläufig und im weiten Sinne als ‚theories of action‘ betrachten. 2.3. Symbolik menschlichen Handelns Die zweite Kompetenz des Vorverständnisses betrifft die Symbolik, einen kulturvarianten Vorrat an Elementen. Die Symbolik ist für Ricoeur eine Bedeutungsschicht, die der Handlung bereits innewohne und „von den anderen Akteuren des gesellschaftlichen Spieles entschlüsselt werden kann“ (Ricoeur 2007a, p. 95). Jede Kultur verfüge über ein ‚Symbolnetz‘, vor dem Handlungen beschrieben werden könnten. Die Geste des Armhebens lasse sich je nach Kontext deuten (Gruß, Taxi-Ruf, Stimmabgabe …). Vor ihrer Deutung seien die Symbole ‚handlungsinterne Interpretanten‘51. Die Symbolik verleihe der Handlung eine Vorform ihrer ‚Lesbarkeit‘. Man könne von „[…] einem Quasi-Text sprechen, sofern die als Interpretanten verstandenen Symbole die Bedeutungsregeln liefern, nach denen ein bestimmtes Verhalten interpretiert werden kann“ (Ricoeur 2007a, p. 96). Das erscheint insoweit unproblematisch, als man einen Ausschnitt menschlichen Handelns durchaus in diesem Sinne verstehen kann. Eine Hochzeit beispielsweise oder eine kirchliche Zeremonie sind voll von symbolischen Handlungen und Gesten, die ‚lesbar‘ sein müssen, um innerhalb des Kulturkreises verstanden werden zu können. Ricoeur verweist auf Clifford Geertz’ ‚thick description‘52, eine Kulturtheorie, die sich semiotisch und hermeneutisch versteht.53 51 52 53 Vgl. (Ricoeur 2007a, p. 95). Auf Charles Sanders Pierce – dem Begründer der neueren Allgemeinen Semiotik (so Windried Nöth) – geht der Begriff des Interpretanten zurück. Pierce ersetze mit ihm den der Bedeutung. Das Zeichen als wahrnehmbares Objekt heiße bei ihm Repräsentamen, denn es repräsentiere das Objekt, allerdings nicht als materielles ‚Ding‘, sondern als etwas, was unseren Geist erreiche, also selbst wiederum zum Zeichen werde (Vorwissen vom Repräsentierten). Im Geist des Interpreten werde nun der Interpretant erzeugt (die Bedeutung), der selbst Zeichencharakter habe. Vgl. (Nöth 2000, p. 63 f.). Geertz übernimmt den Begriff der ‚dichten Beschreibung‘ von Gilbert Ryle, der zwischen einer ‚dünnen Beschreibung‘ (dessen, was man vom Standpunkt einer ‚photographischen Beschreibung‘ beobachten könne) und einer dichten unterscheide. Letztere sei Gegenstand des Ethnographen, der einem Phänomen eine Hierarchie von Bedeutungen zuordnen könne; so sei beispielsweise das Augenzwinkern deutbar als Zucken, Zwinkern, Scheinzwinkern, Parodie oder geprobte Parodie. Vgl. (Geertz 1987, p. 10 ff.). Geertz sagt einleitend: „Ich meine mit Max Weber, daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher […] eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht“ (Geertz 1987, p. 9). 95 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Ricoeur thematisiert im Rahmen des symbolischen Vorverständnisses einen weiteren Aspekt, die Moral. Der Symbolbegriff enthalte nicht nur Regeln der Beschreibung und Interpretation, sondern auch solche der Norm. Wie die biologischen oder genetischen Codes seien auch die kulturellen Codes VerhaltensProgramme, die dem Leben ‚Form, Ordnung und Richtung‘ gäben. Und wo die genetischen oder biologischen Codes ihre Wirksamkeit einbüßten, springe die kulturelle Regelung ein und überschreibe sie: „Bräuche, Sitten54 […] treten somit an die Stelle der genetischen Codes“ (Ricoeur 2007a, p. 96). Auch das ist keine überraschende Erkenntnis. Ein Kreis von Handlungen ist im Rahmen einer gegebenen Kultur mit Bedeutungen ‚aufgeladen‘, die durchaus moralischer Natur sein können. Das Töten eines Menschen ist in Kriegszuständen einer Gruppe lizensierter Personen gestattet, moralisch also nicht verwerflich, während es ansonsten geahndet wird. Handlungen könnten damit anhand einer Skala moralischer Präferenzen beurteilt werden. Der relative Wert einer Handlung im Vergleich zu einer anderen könne auf die Handelnden selbst ausgedehnt werden, auf deren ethische Qualitäten.55 Die ethische Beschaffenheit der Handlung, so Ricoeur abschließend, sei „selbst nur eine Folge des Hauptzuges der Handlung, immer schon symbolisch vermittelt zu sein“, und gehe damit der Fiktion voraus (Ricoeur 2007a, p. 98). Ein solcher Satz mag irritieren. Wenn Handlungen auf der Bühne vom Publikum – geschult im Verständnis kulturvarianter Handlungen – nicht nur als solche verstanden werden (auch ohne deren Erläuterungen), sondern auch als Ausdruck eines bestimmten Charakters der Handlungsträger (gut/böse), dann taucht der Verdacht auf, dass Ricoeur seine Ausführungen zum Bedeutungsnetz allgemeiner und umfassender verstanden haben möchte. Meinem Verständnis nach ist die Idee eines solchen Netzes in einem nur sehr begrenzten Umfang nachvollziehbar: Wenn ich einen Tisch anhebe, dann liegt alles, was über die Bedeutung ebendes Tischanhebens hinausgeht – Absichten zum Beispiel, die sich damit verknüpfen, mögen sie moralisch akzeptabel oder verwerflich sein –, nicht in der Handlung selbst. Erst wenn ich jemanden herbeiwinke, um mir zu helfen, weil der Tisch zu schwer ist, handle ich symbolisch oder einfacher ge- 54 55 Ricoeur bezieht sich darauf, was Hegel der Sittlichkeit zurechnet, also auf einen Bereich, der der reflektierten Moralität vorausgehe; vgl. (Ricoeur 2007a, p. 96). Hieran schließt Ricoeur die Kurzdebatte an, ob eine ethische Neutralität des Schriftstellers gegenüber seinen Charakteren möglich und wünschenswert sei. Er verneint die Frage, denn eine solche Neutralität würde „eine der ältesten Funktionen der Kunst aufheben, die nämlich, ein Laboratorium zu bilden, in dem der Künstler im Modus der Fiktion ein Experiment an den Werten vornimmt“ (Ricoeur 2007a, p. 97). Selbst für den Versuchsleiter einer solchen Anordnung wäre die moralische Parteilichkeit nicht zwingend notwendig, ja, im Gegenteil: Wäre nicht ein neutraler Autor für ein solches Experiment geeigneter? 96 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. sagt: Die Geste des Winkens ist selbst ein Zeichen, das durch Andere interpretiert werden muss, um in meinem Sinne verstanden zu werden. 2.4. Zeitlichkeit menschlichen Handelns Ricoeur deckt zum Abschluss seiner mimêsis I als drittes Merkmal des Vorverständnisses von Handlung eine ‚pränarrative Struktur der Zeiterfahrung‘ auf und stellt sie den bisher dargestellten Bedingungen des Verstehens – dem semantischen Begriffsnetz und der Symbolik – zur Seite. Ihm geht es in seinem Werk zentral um diese Zeiterfahrung und er glaubt, dass das bereits von unseren Alltagsgeschichten nahegelegt werde. Aber allzu banal möchte er mit dieser Fragestellung nicht verstanden werden, es gehe ihm nicht um eine allzu offensichtliche Korrelation zwischen Elementen des Begriffsnetzes und dieser oder jener Zeitdimension56, sondern um ein Wechselverhältnis von Handlung und Zeitdimension. Augustinus habe gezeigt,57 dass es lediglich eine dreifache Gegenwart gebe, die Gegenwart der Zukunft (ich verpflichte mich jetzt, etwas morgen zu tun), die Gegenwart der Vergangenheit (ich habe jetzt die Absicht, etwas zu tun, weil ich gerade eben daran gedacht habe) und die Gegenwart der Gegenwart (ich tue jetzt etwas, weil ich es jetzt tun kann: Die tatsächliche Gegenwart des Tuns bezeuge die virtuelle Gegenwart des Tunkönnens).58 Es komme, so Ricoeur, darauf an, wie die Alltagspraxis diese drei Gegenwarts-Modi zueinander ins Verhältnis bringe, denn „diese praktische Verflechtung ist die elementarste Vorform der Erzählung“ (Ricoeur 2007a, p. 99). Und hierbei könne Heideggers Philosophie der Zeit ‚eine entscheidende Rolle spielen‘. Sowenig ich die Zeitproblematik bei Augustinus vertiefe, so wenig werde ich das bei Heidegger tun (anders als Ricoeur, der sich beiden ausgiebig widmet). Die in Erzählungen thematisierte Zeitlichkeit ist weder Thema der vorliegenden Arbeit noch thesenrelevant. Weiter unten werde ich mich – allerdings erst im Zusammenhang mit der Frage nach Handlung und Entfremdung59 – mit einem Begriff befassen, der für Heidegger und Ricoeur zentral zu sein scheint und das Konzept des Moralischen Paktes unmittelbar berührt, mit dem der Sorge. 56 57 58 59 Korrelation von Vorhaben und Zukunft, von Motivation und Vergangenheit und von ‚Ich tue‘ und Gegenwart; vgl. (Ricoeur 2007a, p. 98). Auf Augustinus’ 11. Buch seiner Bekenntnisse geht Ricoeur sehr ausführlich im 1. Kapitel ein, überschrieben mit ‚Die Aporien der Zeiterfahrung‘; vgl. (Ricoeur 2007a, p. 15 ff.). Ich begnüge mich hier mit der Zusammenfassung aus dem vorliegenden 3. Kapitel zur dreifachen mimêsis. Vgl. hierzu (Ricoeur 2007a, p. 99). Siehe unten Teil D Die Handlung. 97 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Eine kurze Erläuterung des Zusammenhangs von Zeit und Sorge mag an dieser Stelle nun doch nützlich sein. Heidegger differenziert die Zeitlichkeit auf drei Ebenen – Zeit im eigentlichen Sinne, Zeit als Geschichtlichkeit und sogenannte Innerzeitigkeit. Auf der dritten Ebene der Innerzeitigkeit würden, so der Kommentar Ricoeurs, „das ‚In‘ des Seins in der Zeit hervorgehoben“ (Ricoeur 2005b, p. 189), die Innerzeitigkeit beschreibe „unser Verhältnis zur Zeit als das, ‚worin‘ wir täglich handeln“ (Ricoeur 2007a, p. 100). Die Innerzeitigkeit widerstehe der Einebnung einer linearen Zeitvorstellung als ‚unendlicher Abfolge beliebiger Jetze‘.60 Solange die Uhrzeit als vom Tag abgeleitet erscheine, sprächen wir auf der Ebene der Innerzeitigkeit, denn der Tag sei „eine Größe, die unserer Sorge und der Welt entspricht, in der es ‚Zeit ist‘, etwas ‚zu‘ tun […]. Es ist die Zeit der Werke und der Tage“ (Ricoeur 2007a, p. 102). Auf die Sorge, wie gesagt, komme ich weiter unten zu sprechen. Auch möchte ich an dieser Stelle nicht über das große Ziel Ricoeurs sprechen, dass er nämlich der Narration die Fähigkeit zutraue, Probleme mit der Zeit zwar nicht zu lösen, ihre Widersprüchlichkeiten aber in eine Verlaufsform zu bringen: ‚Uralte Weisheit‘ besinge die Kürze des menschlichen Lebens angesichts der Unermesslichkeit der Zeit,61 sie fange das ‚wahre Paradox‘ ein, wie er es in dem oben schon zitierten Aufsatz von 1984 formuliert: „In kosmischem Maßstab ist die Dauer unseres Lebens unbedeutend, und dennoch ist diese kurze Zeitspanne, in der wir auf der Bühne der Welt erscheinen, gerade der Ort, von dem jede Frage nach Bedeutsamkeit ihren Ausgang nimmt“ (Ricoeur 2005b, p. 189). 2.5. Einschätzung des Modells Bevor Greimas wieder aufgerufen wird, muss die Frage beantwortet werden, welche Erkenntnispotenz Ricoeurs mimêsis I enthält und welches Verhältnis sie zum Modell Greimas’ einnimmt. Greimas interessiert grundsätzlich nur der Text – weiter unten wird das in der Kritik am Strukturalismus noch einmal berührt – und damit weder eine Prä- noch eine Re-Figurations-Ebene bei der Produktion und Rezeption von Texten. So Ricoeur. Allerdings: Was Ricoeur an Elementen der mimêsis I herausarbeitet – Begriffsnetz der Handlung, Symbolik und Zeitlichkeit –, sind zwar Bedingungen des Verständnisses von Handlungen, sie reichen aber bereits weit in die Texte 60 61 Heidegger nennt eine solche Vorstellung einer linearen Zeit vulgäre Zeit. Das Nacheinander, so Ricoeur, sei eine Ordnungsrelation, die in der Welt sei, bevor sie in die Seele komme (vgl. (Ricoeur 2007c, p. 22)) Allerdings lasse sich das Jetzt (zwischen dem Vorher und Nachher) erst durch das innere Erleben eines Individuums an die erlebte Gegenwart koppeln und damit dann auch erst Vergangenheit und Zukunft differenzieren. Er sucht nach Versöhnungsmöglichkeiten von phänomenologischer und kosmischer Zeit. Aber, wie gesagt, das gehört nicht zu den Themen der vorliegenden Arbeit. 98 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. hinein, sind sozusagen Grundelemente, die durchaus im Text aufgefunden werden können. Sie gehören nicht nur zum „Vorverständnis, das dem Dichter und seinem Leser gemeinsam ist“ (Ricoeur 2007a, p. 103), sondern sie sind als textliche Elemente Grundkonstituenten einer Erzählung. Ricoeur spricht selbst von der ‚Phänomenologie des Tuns‘ und es fällt immer noch schwer, Ziele, Motive, Bezüge des Selbst zum Anderen, Umstände, ja sogar ethische Implikationen als Elemente eines verständnisvoraussetzenden Begriffsnetzes anzuerkennen. Solche Elemente kommen nicht aus dem Nichts, sie werden immer schon in der praxis, im handelnden Bezug des Selbst auf den Anderen generiert und gepflegt. Man könnte Ricoeurs Begriffsnetz als Sammlung von Kategorien verstehen, und zwar vor aller konkreten Bestimmtheit (was ist Zweck, was sind Mittel, was Umstände der je besonderen Handlung). Ricoeur wird aber so sehr von der Hermeneutik und der Phänomenologie angezogen und er meidet andersherum so sehr den Strukturalismus, dass er zuweilen die Ebenen nicht so scharf konturiert, wie es Greimas oder Strukturalisten tun. Auch Greimas befasst sich mit handelnden Subjekten, mit deren Zielen und Motiven, mit den Interaktionen und den Umständen; auch Greimas befasst sich mit den Codes, die dem Leben Richtung und Ordnung geben; auch Greimas befasst sich mit der Zeiterfahrung der handelnden Figuren. Ich möchte aber nicht die Differenz der beiden nivellieren. Ricoeur arbeitet sich mit seinem Modell der mimêsis I an Verständnis- oder Verstehensvoraussetzungen ab, Greimas hingegen entwirft eine abstrakte bedeutungsgenerierende Matrix noch weit vor den Elementen der Ricoeur’schen Vorverständniskompetenz, einer Kompetenz, die für Greimas sicherlich nichts mehr in einer ‚Tiefenebene‘ zu suchen gehabt hätte. Beide Modelle haben ihre Schwächen, aber beide Modelle bewegen sich auf Ebenen, die für die vorliegende Arbeit vor allem von Belang sein werden: auf Ricoeurs mimêsis II und auf Greimas’ semio-narrativer Oberflächenebene. Dorthin wollen wir uns nun wenden. 99 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. B.3. Greimas’ Aktantenmodell Wir wenden uns nach dem Intermezzo der Ricoeur’schen mimêsis I wieder Greimas zu. Wir verließen ihn bei seinen ersten Überlegungen zu einfachen narrativen Aussagen. Solche Aussagen sagen etwas über die Rollenpotentiale der Figuren aus, auf der semio-narrativen Ebene nennt Greimas sie Aktanten. Dieser Terminus ersetze sowohl den des Charakters als auch den der ‚dramatis personae‘ 62 und gehe über diese insoweit hinaus, als er Tiere, Objekte und Ideen mit einschließe. 3.1. Modell der Aktanten In seiner 1970 herausgegebenen Aufsatzsammlung Du Sens befasst sich Greimas zunächst mit der oben bereits eingeführten narrativen Grammatik (also der Handlung in seiner elementaren Struktur), anschließend mit sogenannten Wert-Objekten (auf die sich das Handeln richtet) und dann mit den Figuren der Handlung, mit den Aktanten und Akteuren. Diese Reihenfolge ist sicherlich nicht zwingend, weil ein Netz von Begriffen vor einem liegt, in dem diese sich sozusagen wechselseitig voraussetzen. Aktanten und ihre Begehrlichkeiten (bezogen auf Wert-Objekte) werden erst in der Handlung sichtbar und umgekehrt: keine Handlung ohne Akteure, keine Akteure ohne Handlung. Ich könnte Greimas hier einfach folgen, möchte allerdings um der Plausibilität willen nun doch mit den Aktanten beginnen, sie anschließend innerhalb ihres Bezugs auf Wert-Objekte klassifizieren und abschließend zur Handlung kommen und dort weitere Elemente aufzudecken versuchen.63 Greimas stellt sich Aktanten als Rollenpotentiale vor, die auf der strukturellen Ebene eines Textes angesiedelt sind. Sobald sie sich in Figuren auf der letzten Oberflächenebene manifestierten, hätten wir es mit Akteuren, also mit ‚Distributionen‘ der Aktanten zu tun. Projiziert auf den narrativen Diskurs, nehme der Akteur eine Anzahl oder einen Ausschnitt aus aktantiellen Rollen an, jeweils bestimmt durch seine Position in einer Narrationssequenz sowie durch seine modale Investierung, seine ‚morphologische‘ Investierung. Aktanten könnten also in verschiedenen Akteuren repräsentiert werden, wie auch umgekehrt ein und derselbe Akteur verschiedene Aktanten in sich vereinen könne. Zurück zu den Aktanten. In seiner Strukturalen Semantik von 1966 ist Greimas noch einen anderen Weg als in der späteren Aufsatzsammlung Du Sens gegangen; dort siedelt sich sein Verständnis von Aktanten grundsätzlicher an. Der 62 63 Die Einführung des Aktantenbegriffs habe vor allem für literarische Texte den Vorteil, „the term of character as well as that of ‚dramatis persona‘„ zu ersetzen (Greimas & Courtés 1982, p. 5). Die elementaren narrativen Handlungselemente liegen ja bereits vor. 100 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Rezipient64 müsse beim Akt der Bedeutungsgenerierung semantische MikroUniversen erfassen, Weltausschnitte sozusagen, denn das gesamte semantische Universum sei „viel zu gewaltig […], um in seiner Ganzheit ergriffen zu werden“ (Greimas 1971, p. 158). Für diesen elementaren Verstehensprozess nutze der Rezipient bereits semantische Einheiten, sogenannte aktantielle Modelle: „das semantische Mikro-Universum kann nur in dem Maße […] als eine Bedeutungsgesamtheit definiert werden, wie es in jedem Augenblick vor uns als ein einfaches Schauspiel, als eine aktantielle Struktur auftauchen kann“ (Greimas 1971, p. 158). Handlung und Figur also als Kerneinheit des Verstehens, das scheint der Sinn jener Schauspiel-Metapher zu sein. Und diese Kerneinheit versetzt den Rezipienten in die Lage, das unbegreifliche Gesamtuniversum in verfügbare, für ihn nun erfassbare Mikro-Universen zu transformieren.65 Hier treffen Greimas und Ricoeur aufeinander. Auch für Ricoeur wird der Verstehensprozess, wie eben gezeigt, durch vorgelagerte semantische und symbolische Bedeutungsnetze ‚eingerahmt‘. Mit dem Unterschied allerdings, dass Greimas sich stärker auf die Handlungen von Rollenträgern fokussiert. Zudem muss hier bedacht werden: Nicht nur die Ebenen, auch deren Grenzen zueinander sind in beiden Modellen völlig unterschiedlich. Ganz grob und vorläufig gesagt: Ricoeur bietet kein Analogon zu Greimas’ Tiefenebene an, seine beiden Ebenen der mimêsis I und II finden Parallelen am ehesten auf Greimas’ zweiter und dritter Ebene. Unterstützung für seine Sicht findet Greimas bei „dem Meister des russischen Formalismus“ – so nennt ihn Ricoeur (Ricoeur 2007b, p. 59) –, bei Vladimir Propp. Dieser brachte 1928 in Leningrad seine Morphologie des Märchens heraus. Für Greimas eines der Pionierwerke zu einer aktantiellen Analyse literarischer Texte, in diesem Fall von russischen Märchen. Greimas beschreibt in seinem Vortrag66 in Toronto 1985 seinen eigenen ‚theoretischen Genius‘ als ‚Form von Bastelei‘ (‚bricolage‘),67 er habe sich ein wenig bei Lévi-Strauss bedient und eben auch ein wenig bei Propp. 64 65 66 67 Hier ist das Individuum gemeint, das sich in einem Verstehensprozess seine Welt anzueignen bestrebt ist. Die Mikro-Universen kann man als Ausschnitte aus dem semantischen Universum verstehen, die die kulturelle Welt des Individuums abbilden. Das semantische Universum wäre damit nichts anderes als der Gesamtvorrat, aus dem sich jeder Kulturkreis und daraus dann wiederum jedes Individuum bedienen kann. Vgl. (Greimas, 1988b, p. 541). Die Welt des Bastlers, so Levi-Strauss, „die Welt seiner Mittel ist begrenzt, und die Regel seines Spiels besteht immer darin, jederzeit mit dem, was ihm zur Hand ist, auszukommen“ (Lévi-Strauss 2013, p. 30). 101 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Propp weist einunddreißig Funktionen einem siebenköpfigen Märchenpersonal68 zu, einem ‚definitiven Inventar von Aktanten‘. Greimas fühlt sich nicht nur in seiner Annahme bestätigt, dass eine beschränkte Anzahl aktantieller Terme hinreiche, „um der Organisation eines Mikro-Universums Rechnung zu tragen“ (Greimas 1971, p. 161), sondern er fühlt sich berufen, deren ‚ungenügend formalen Charakter‘ vernünftig zu modifizieren und zu kategorisieren. 3.2. Die Aktantenpaare Mit der Schauspiel-Metapher69 der aktantiellen Struktur bezieht sich Greimas auf Lucien Tesnières. Greimas war vor allem von dessen Idee ‚sehr beeindruckt‘, elementare Aussage mit einem Schauspiel zu vergleichen. Die Funktionen der traditionellen Syntax seien vergleichbar mit ‚von Worten gespielten Rollen‘ – das Subjekt führe die Handlung aus, das Objekt sei von der Handlung betroffen –, die Aussage sei also in der Tat „nichts als ein Schauspiel, das sich der homo loquens selbst aufführt“ (Greimas 1971, p. 158). Klaus Welke fasst diese ‚Gründungsmetapher‘ folgendermaßen zusammen: „Wie bei einem Drama sind die Aktanten an dem Ereignis, das sich auf der Bühne abspielt, unmittelbar beteiligt. Sie agieren in Umständen. Das sind die Kulisse und zeitliche, kausale, modale Umstände“ (Welke 2011, p. 44). Die vier Aktanten – Subjekt vs. Objekt und Adressant vs. Adressat – sind nun laut Greimas symmetrisch in Gestalt von zwei Akteuren vereinigt: ‚synkretisiert‘, wie es bei ihm heißt. Subjekt vs. Objekt Das erste der aktantiellen Modelle ist für Greimas die Subjekt-Objekt-Relation.70 Sie sei mit dem Sem71 ‚Begehren‘ investiert, das auf der dritten Ebene, der Diskursebene, in ‚Suche‘ transformiert werde, wo aus einem ‚Tun-Können‘ ein 68 69 70 71 Villain – donor (provider) – helper – sought-for-person – dispatcher – hero – false hero; vgl. (Greimas 1971, p. 160) (Verräter – Schenker/Unterstützer – Helfer – Gesuchter – Auftraggeber – Held und falscher Held). Die Schauspiel-Metapher hat noch eine andere Quelle. Greimas untersucht nicht nur die Propp’sche Morphologie des Märchens, sondern auch E. Souriaus Versuch, 200.000 dramatische Situationen zu bündeln (Les 200000 Situations dramatiques, Paris 1950). Dem Strukturalismus Saussures verbunden – „all language is by nature relational and not substantial“ (Greimas & Courtés 1982, p. 28) –, fühlen sich die Autoren verpflichtet, auch den Begriff der Kategorie nur zu benutzen, um Verhältnisse zu bezeichnen und nicht die Elemente dieser Verhältnisse. So sei es möglich, von der Kategorie ‚männlich/weiblich‘ zu sprechen, nicht aber von einer Kategorie ‚männlich‘ oder ‚weiblich‘ allein. Auf die Binarität wird in Kürze bei der Kritik des Strukturalismus eingegangen. Wie oben schon in einer Anmerkung erläutert, ein Sem ist entweder Kernsem – also der invariante, positive Bedeutungskern auf semiologischer Ebene – oder Kontextsem, das je nach Aktualisierung auf der semantischen Ebene ein- oder ausgeblendet wird. 102 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. ‚Tun‘ werde. Die erste aktantielle Kategorie – die Greimas eine ‚teleologische Relation‘ zu nennen ‚anrege‘ – sei also in der Lage, Erzähl-Elemente hervorzubringen, die sich auf der Diskursebene in einer Suche72 manifestierten. Adressant vs. Adressat Die Identifizierung der zweiten aktantiellen Kategorie springe nicht mehr so ins Auge wie die erste, weil sie sich oft gemeinsam mit ihr in Gestalt eines Akteurs präsentiere. So sei der Liebende Subjekt und Adressat73 und die Geliebte Objekt und Adressant.74 Aber auch umgekehrt sei die Trennung des Aktanten in zwei Akteure denkbar, so illustriert es Ohno an der Präsentation desselben Adressanten zu Beginn einer Erzählung als ‚manipulierenden Adressanten‘ und am Ende als ‚judizierenden‘, der die Handlung des Helden vorm Hintergrund des Wertesystems überprüfe und den Helden entsprechend sanktioniere.75 Adjuvant vs. Opponent Die dritte aktantielle Kategorie geht nun über die monoperspektivische Prägung der ersten beiden Kategorien hinaus und lässt den Gegenspieler, das AntiSubjekt, – allerdings nur sehr schemenhaft – am Horizont auftauchen. Der Adjuvant bringe Hilfe im Sinne des Begehrens, der Suche oder auch einfach, indem er Kommunikation ermögliche. Der Opponent76 hingegen behindere das suchende Subjekt auf dessen Weg zur (Wieder-)Erlangung des Wert-Objekts. Auf den ersten Blick, so Greimas, sehe es so aus, „als ob neben den Hauptbeteiligten jetzt in dem auf eine axiologische Leinwand projizierten Schauspiel Aktanten erschienen sind, die in schematisierter Weise die Gutes und Schlechtes wirkenden Kräfte der Welt repräsentieren, als erschienen Inkarnationen des 72 73 74 75 76 Die Figur des Faust könnte nach diesem Modell die Sem-Investierung des Begehrens illustrieren, allerdings zunächst nicht auf eine weitere Figur bezogen, sondern auf die Erkenntnis des ‚inneren Zusammenhalts der Welt‘. Hier liegt keine Verwechselung vor, Greimas führt das nicht weiter aus, aber ich verstehe ihn hier folgendermaßen: Der Liebende fühlt sich als von der Liebe der Geliebten ‚angesteckt‘, er fühlt sich als Empfänger ihrer Liebe. Bei Propp, so erläutert Greimas, sei der Adressant der Auftraggeber (‚dispatcher‘), der dem Helden (dem Liebenden) eine Mission auferlege – in unserem Fall wohl ein ‚Erobere mich!’. Oder es kann ein Entscheidungsmonolog auf der Bühne zwei Aktanten in einem Akteur zusammenziehen, selbst dann, wenn die Bühnenfigur einen Befehl oder Wunsch einer anderen hin- und herbewegt. Am Ende einer solchen Erwägungsschleife steht nämlich immer: Tu es oder unterlass es! Vgl. (Ohno 2003, p. 185). Später wird Greimas (und auch Courtés) die Rolle des Opponenten diversifizieren und den hier aufgeführten Paaren wird ein neues hinzugefügt: Subjekt vs. Anti-Subjekt. 103 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Schutzengels und des Teufels des mittelalterlichen christlichen Dramas77“ (Greimas 1971, p. 164). Doch sie müssten nicht zwingend als selbstständige Akteure in Erscheinung treten, der ‚sekundäre Charakter‘ dieser aktantiellen Kategorie berechtige dazu, mit ein wenig ‚Wortspielerei‘ zu sagen, dass Adjuvant und Opponent ‚Umstands-Partizipanten‘ seien, keine wirklichen Figuren. Man könnte also dieses ‚Aktanten‘-Paar mehr als ‚aspektuale Kategorie‘ betrachten denn als ‚aktantielle‘, als Manifestationen von ‚Circumstanten‘ eines Aktanten, ja selbst als Disposition innerhalb einer Figur, als „Projektionen des Willens zu handeln und der vermeintlichen Widerstände des Subjekts selbst […], die für wohltätig (bénéfique) oder unheilvoll (maléfique) bezüglich seines Begehrens gehalten werden“ (Greimas 1971, p. 164 f.). 3.3. Korrektur des Aktantenmodells Vier Jahre später differenziert Greimas in Du Sens die Aktanten-Kategorien und nimmt das Subjekt aus der Kategorie Subjekt vs. Objekt heraus und stellt es einem neuen Aktanten gegenüber, dem Anti-Subjekt (das, wie oben bereits erwähnt, nur als Hintergrund des Opponenten auftaucht, der für sich nur eine ‚dienende‘ Funktion übernimmt). Und damit habe der Objekt-Aktant kein Gegenüber78 mehr. Hier also die erweiterte aktantielle Struktur (mit Begleitüberlegungen zur Projektion auf die Diskursebene): (a) Objekt-Aktant Greimas unterscheidet die Objekt-Aktanten nach ihrem Modus der Zuschreibung – als objektive oder subjektive Werte.79 Objektive Werte hätten Werte, subjektive seien Werte. Auf der dritten, der Diskursebene, zeigten sich die objektiven Werte individualisiert und unabhängig, während die subjektiven Werte sich gleichzeitig als Subjekte und Objekte manifestierten. Die zu bergende Schatztruhe, der heilige Gral sind objektive Werte, die vom Helden begehrte Königstochter ein subjektiver Wert (also Objekt und Subjekt zugleich). Oder: Die Liebesbrief-Sammlung Effis, die Innstetten entdeckt und ihn zu weiteren Schritten veranlassen wird, stellt einen objektiven Wert dar, während Effi als 77 78 79 Wird die aktantielle Kategorie Adjuvant–Opponent auf der Diskursebene in konkreten Akteuren inkarniert, so legen diese dem Leser in der Regel Parteilichkeit nahe, womit er der moralischen Implikation und damit der Autorenintention folgt. Das Wert-Objekt hat zwar kein unmittelbares Gegenüber (im Assertions-Negations-Verhältnis), aber es inhäriert zwei oppositionelle Aktanten, die sich begehrend auf es beziehen. Zur Mangel- und Wertproblematik siehe auch unten D.2. 104 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Akteurin einen subjektiven Wert repräsentiert: Als Heldin ist sie Subjekt der Handlung und als von Innstetten Umworbene wie auch später von ihm Manipulierte ist sie Objekt.80 Zusammenfassend: Objektaktanten sind entweder unabhängig (disjoined, wie es bei Greimas heißt) oder Subjekt und Objekt in Personalunion (conjoined).81 (b) Adjuvant und Opponent Aktantielle Rollen, die die Kompetenz des Subjekts definierten, manifestierten sich entweder im Subjekt oder aber (zeitweise) getrennt von ihm, so dass ein weiterer Akteur aufgerufen wäre, der als Helfer die befristete Trennung manifestierte – mit der Aufgabe, sie aufzuheben. Entsprechend behindert der Opponent die Suche des Subjekts. (c) Adressant und Adressat Adressaten könnten auch ihre eigenen Adressanten sein. Der Akteur subsumiere hier zwei aktantielle Rollen.82 (d) Subjekt und Anti-Subjekt Beide Aktanten könnten sich in einem Akteur vereinigen, beispielsweise in Faust: „… and thus, as just one actor, carry out an ‚interior battle‘ to the end (Faust)“ (Greimas 1987, p. 112). Einen Kampf mit sich selbst ausfechten, eine solche Manifestation der beiden aktantiellen Rollen von Subjekt und Anti-Subjekt ist sicherlich eine naheliegende Investierung von Akteuren psychologischer Romane. In ihrer Sémiotique aus dem Jahre 1979 werden Greimas und Courtés ein weiteres Mal auf das Aktantentmodell eingehen. Das semiotische Quadrat sorge für eine Unterscheidung jedes der vier Aktanten (Subjekt, Objekt, Adressat und Adressant). Jeder Aktant,83 so Greimas, finde seine Referenz in einer der beiden 80 81 82 83 Noch ein Beispiel: Die Schmuckschatulle, die Mephistopheles besorgt, hat einen objektiven Wert, unabhängig von ihrer Funktion im Spiel der Werbung Fausts um Gretchen. Martha hingegen hat einen subjektiven Wert, sie ist als Adjuvant Subjekt, sie verfolgt eigene Interessen (Werbung um Mephistopheles), aber auch Objekt, wenn sie von Mephistopheles als nützlicher Mediator zwischen Faust und Gretchen instrumentalisiert wird. Vgl. (Greimas 1987, p. 112). So beispielsweise Faust, der sich selbst auffordert, unter Studium der Zeichen des Nostradamus den Erdgeist aufzurufen. … also Subjekt, Objekt, Adressat und Adressant. 105 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Deixes,84 ‚verdopple‘ sich damit in eine positive wie negative Spielart85: so das Subjekt in das Gegensatzpaar Subjekt vs. Anti-Subjekt. Die Autoren weisen darauf hin, dass die Terme 'positiv' und 'negativ' nicht prinzipiell investiert werden könnten mit Inhalten des Guten oder Bösen. In der Verteilung auf das semiotische Quadrat hörten die Charaktere auf, ausschließlich ,gut‘ oder ,böse‘ zu sein.86 Es gehe hier nur um die sehr grundsätzlich zu verstehende Aktantenstruktur, die hinreichend zu fassen sei in ihrer Dichotomie „in terms of their conformity or nonconformity to the deixes in question“ (Greimas 1987, p. 108). 3.4. Die Energetik der Aktanten Bis hierher – trotz aller ‚Vertiefungen‘ nach 1966 – ist das Modell einfach und überschaubar und Greimas zufolge auch nur brauchbar für die ‚Analyse mythischer Manifestationen‘. Die Einfachheit dieses Modells beruhe darauf, „daß es ganz und gar auf dem Objekt des Begehrens basiert ist“ (Greimas 1971, p. 165). Auf das Objekt nämlich ziele das Begehren des Subjekts wie auch die Kommunikation zwischen Adressant und Adressat. Christine Ohno ergänzt: Das Objekt sei das, worum es gehe, nicht das, was handele oder erleide, es sei Gegenstand der Kommunikation (Emission oder Empfang eines Objekts), in seiner narrationskonstituierenden Kraft sei es unabdingbar: „Das Objekt kann […] nur in seiner Eigenschaft als Wertobjekt für das Subjekt das Fortschreiten, die Triebkraft der Erzählung verständlich machen“ (Ohno 2003, p. 182). Noch hat Greimas das Propp’sche Inventar der Funktionen nicht auf ein strukturales Modell reduziert, er hat bis hierher – also in seinem 10. Kapitel der Strukturalen Semantik – lediglich nach dem strukturellen Rahmen der Aktivitäten von Aktanten gesucht. Er schließt mit der Frage, was die ‚Energetik‘ der Aktanten ausmache. Es gehe auf dieser Ebene noch nicht um die Dynamisierung der zum Akteur manifestierten Aktanten, sondern ausschließlich um deren Potential noch vor ihrer Distribution auf Akteure. Dieses Potential nennt Greimas die ‚Trägheitskraft‘87 des Aktanten, wobei diese Kraft nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass der Aktant bereits über eine Grundenergie verfüge, die einen 84 85 86 87 Deikten oder Marker beziehen sich auf den Bereich der Aussage und auf deren zeitliche und räumliche Koordinaten (ich, du, jetzt …), hier geht es um die positive oder negative Konnotation; vgl. (Greimas & Courtés 1982, p. 71 f.). Das ‚positive Subjekt‘ (positive Deixis) findet seine Verdopplung eigentlich im ‚nicht-negativen Subjekt‘ – wie das ihm gegenüberstehende negative oder ‚Anti-Subjekt‘ (negative Deixis) sich im ‚nicht-positiven Subjekt‘ gedoppelt sieht. Aber so will es Greimas nicht verstanden haben. Er stellt dem Akanten nur jeweils dessen Anti-Aktanten gegenüber. „Here the ‚characters‘ cease to be exclusively ‚good‘ or ‚bad‘“ (Greimas 1987, p. 108). ‚Trägheitskraft‘ ist wohl zu verstehen als eine Kraft, die erst einmal als rein potentielle = nicht realisierte vorzustellen ist, sich also im Zustand der Ruhe = Trägheit befindet. 106 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. bestimmten, mehr oder weniger engen Handlungskanal nahelege. Die aktantielle Struktur, so Greimas, sei eine „Konstellation von ‚Kräften‘“, die in der Lage seien, „‚Einflüsse‘ auszuüben und auf die ‚Schicksale‘ einzuwirken“ (Greimas 1971, p. 171). 107 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. B.4. Der Greimas’sche Weg Greimas’ Nähe zum Strukturalismus hat sich bereits oben in seinem Drei-Ebenen-Modell gezeigt, hier nun sorgt diese Nähe für weitere gedankliche Experimente. Greimas verarbeitet die Märchen-Morphologie Vladimar Propps durchaus kreativ: Er sortiert und reduziert die Propp’schen Funktionen des Märchenpersonals und bettet diese Reduktionen in Kategorien ein, die der Erzählung einen strukturalen Aufbau geben. Diese Kategorien sind die sogenannten drei Ks: Kontrakt – Kampf – Kommunikation. Die Nähe zum Moralischen Pakt ist unübersehbar. 4.1. Die Methode Ich muss den Leser ein weiteres Mal um Geduld bitten. Bevor die Reduktion der Propp’schen Funktionen durch Greimas nachgezeichnet werden soll, sei – eigentlich längst überfällig, weil bereits mehrfach berührt88 – ein Wort zu dessen Methode erlaubt. Greimas’ methodisches Handwerkszeug Greimas favorisiert die Methode der Binarisation und trifft damit eine grundsätzliche und erkenntnisleitende Entscheidung über den zu untersuchenden Gegenstand, dass dieser nämlich im Grunde binär aufgebaut sei und dass sich in all seinen Tiefen und Verästelungen dieses Bauprinzip binärer Oppositionen wiederfinden lasse.89 Er gehe, so beschreibt es Bärbel Lücke, „vom Primat der Relation vor der Singularität (Identität) bei der Erkennbarkeit der Objekte der Welt“ aus (Lücke 2002, p. 84). Oder einfacher gesagt: Greimas geht von einfachen narrativen Elementen aus, die für sich genommen keine Bedeutung haben, sondern allein einen funktionell-differentiellen Wert.90 Die Methode der Binarisation trägt in sich schon das zweite Element des strukturalistischen Zugriffs auf die Welt: das der Differenz. Wenn zwei Seiten einen Gegenstand umfassend beschreiben, dann stehen sie in einem Ausschlussverhältnis zueinander – die eine ist nicht die andere und vice versa – und zum anderen komplettieren sie sich in dem Sinne, dass etwas eben dieses ist, wenn es etwas anderes nicht ist. 88 89 90 Vgl. oben Ausführungen zu dem Modell der Aktanten. Der ‚Semiotiker‘ oder ‚Linguist‘ Greimas beruft sich auf den Urvater der Semiotik, auf Ferdinand de Saussure. Bereits 1956 habe Greimas einen Aufsatz zur ‚Aktualität des Saussurismus‘ veröffentlicht; vgl. (Greimas, 1988b, p. 540). So auch Scharfenberg: Es komme innerhalb des strukturalistischen Paradigmas den „narrativen Elementen keine Bedeutung an sich, sondern allein ein funktionell-differentieller Wert“ zu (Scharfenberg 2011, p. 200) 108 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Schon zu Beginn seiner Strukturalen Semantik nimmt Greimas eine Bestimmung ganz in diesem Sinne vor, und zwar die Grundbestimmung seines Untersuchungsgegenstands, der Bedeutung: Wir erfassten in unserer Wahrnehmung mindestens zwei ‚Terme-Objekte91‘ als simultan anwesend und setzten sie in Beziehung. Das sei die einfachste Definition von 'Struktur‘, nämlich die „Anwesenheit von zwei Termen und der Relation zwischen ihnen“ (Greimas 1971, p. 14)), und diese erfasste Relation zwischen Termen sei die notwendige Bedingung von Bedeutung.92 Die Relation zwischen den Terme-Objekten hat einen doppelten Aspekt, den der Gemeinsamkeit – sonst könnte ich sie nicht miteinander vergleichen: das tertium comparationis – und den der Verschiedenheit – ansonsten fielen sie in eins.93 Das ist zwar nachvollziehbar, aber eben auch nur trivial. Ich kann die Bedeutung von ‚Mädchen‘ und ‚Jungen‘ nur erfassen, wenn die Terme einen Unterschied (Geschlecht) aufweisen und ein Gemeinsames (heranwachsende Menschen); gäbe es keine Jungen, fielen Mädchen zusammen mit ‚jungen Menschen‘ und würden sich wiederum unterscheiden von alten Menschen und beide wiederum von der Tierwelt etc. Wenn keine Unterschiede wahrnehmbar wären,94 versänke alles in ein Einheitsgemenge, keine Differenzierung läge vor, keine Wahrnehmung und keine Bedeutungszuschreibung wären mehr möglich. Aber jede Differenzierung setzt, so könnte man einwenden, eine ‚singuläre‘ Bestimmung der Elemente voraus. Leugnete man das, geriete man sehr schnell in einen Zirkel und würde sich erschöpft zurücklehnen und von jeder weiteren Erkenntnisabsicht Abstand nehmen. Denn die Gedankenform sähe so aus: Der Gegenstand ist, was er nicht ist; und um zu bestimmen, was er nicht ist, müsste die gleiche Prozedur wieder in Gang gesetzt werden, bis ins Unendliche.95 91 92 93 94 95 Für unsere Zwecke reicht es völlig aus, jene ominösen ‚Terme-Objekte‘ als das zu nehmen, was uns in der Wahrnehmung überhaupt eine Unterscheidung ermöglicht (in der einfachsten Form eines Gegenstandes vor einem Hintergrund). Auch Paul J. Perron betont in seiner Einführung zu Du Sens: Auf der Suche nach jener Bedeutungsstruktur sei Greimas auf grundlegende Relationen gestoßen, die keine Terme definierten, sondern – vergleichbar mit phonologischen Relationen – ‚Wert-Stellen‘ (positional values), also Orte, die einzig auf rein relationale Art und Weise definiert seien: „[…] founding relations that do not define terms, but rather in much the same way as in phonological paradigm, positional values, places that are defined in a purely relational fashion“ (Greimas 1987, p. xxix). Zwei Terme – am Beispiel ‚Landstraße‘ und ‚Bundesstraße‘ – beziehen sich aufeinander, und zwar in doppelter Hinsicht, einmal über das Element ‚Straße‘ als Konjunktion und das andere Mal über die Elemente ‚Bundes‘ und ‚Land‘ als Disjunktionsmarker. Wenn es kein Licht gäbe, brauchte Dunkelheit, die dann ‚alles‘ wäre, nicht weiter bestimmt zu werden. Was allerdings nicht ausschlösse, Helligkeit mit all ihren Merkmalen positiv zu bestimmen, auch wenn ihr das negative Gegenüber der Dunkelheit fehlte. Das sehen allerdings die Strukturalisten anders. Vermutlich wollten auch Strukturalisten nicht so grundsätzlich verstanden werden, sonst hätten sie kaum ihre Gedanken zu Papier gebracht. Greimas stimmt dem Gedanken 109 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Greimas sympathisiert mit diesem die Singularität leugnenden Standpunkt 96. So schreibt er gemeinsam mit Courtés in der Sémiotique unter dem Lemma ‚Seme‘: „The seme is not an autonomous, atomistic element; it exists only because of the differential gap that opposes it to other semes. In other words, the nature of semes is purely relational and never substantial“97 (Greimas & Courtés 1982, p. 278). Christine Ohno äußert vorsichtige, höfliche Bedenken: „Ich selbst lege in meiner Arbeit die These zugrunde, dass ein Begriff nicht ausschließlich durch die Relation zu einem anderen Begriff Bestimmtheit erhält, wenngleich diese Relation für die Bedeutung des Begriffs ein konstitutives Moment darstellt“ (Ohno 2003, pp. 183, Anm. 17). Es sei nicht zu begründen, „warum oppositionellen Strukturen eine besondere Wichtigkeit vor anderen Charakteristika semantischer Einheiten zukommen sollte“ (Ohno 2003: 291). Exkurs zum Strukturalismus Auch Ricoeur nimmt eine kritische Stellung zum Strukturalismus ein. In der Einleitung zu seiner dreifachen mimêsis kritisiert Ricoeur: Die Textsemiotik gehe allein von der Konfiguration des literarischen Textes (der mimêsis II) aus, „ohne das Vorher und das Nachher98 des Textes zu betrachten“ (Ricoeur 2007a, p. 88), also ohne die Elemente der mimêsis I und mimêsis III. In seiner intellektuellen Autobiographie drückt er das so aus: Barthes, Greimas und Genette sei gemeinsam, „daß sie sich unter Ausschluß der angeblichen Intention des Autors allein an die Strukturen des Textes hielten“ (Ricoeur 2005b, p. 31). 96 97 98 grundsätzlich zu, dass etwas sich dadurch bestimme, was es nicht sei: „Zunächst ist evident, dass es [das Wort ‘tête’ (Kopf)] aufgrund der Tatsache, daß es mit thème [Thema], terre [Erde], thèse [These] etc. kommutierbar ist, einen negativen Inhalt besitzt“ (Greimas 1971, p. 37). Doch anschließend sucht er nach einem ‘positiven Inhalt‘, den er im Kernsem (siehe oben Fußnote zu Semen im Abschnitt zur Tiefenebene) zu finden glaubt: „Beim gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse wollen wir diesen positiven Inhalt als Sem-Kern ansehen und […] annehmen, daß er ein permanentes Sem-Minimum, eine Invariante darstellt“ (Greimas 1971, p. 37). Selbst Autoren, die mit profunden Analysen des Greimas’schen Werkes auf sich aufmerksam gemacht haben, tun sich schwer mit dessen Strukturbegriff. Wenn Objekte nicht ‚an sich‘ erkannt werden können, dann, so Bärbel Lücke, nur über ihre Bestimmungen oder Besonderheiten. Die logische Falle wird aber nicht beiseite geräumt, dass nämlich jene Besonderheiten nur als ‚Werte (Terme)‘ erkannt werden könnten, „d.h. in ihrer Beziehung zueinander, als Differenz zwischen den Werten“ (Lücke 2002, p. 75). Die Elemente der Relation könnten also nicht erkannt werden, sehr wohl aber die Beziehung als solche: ein Mysterium! Dass sich die traditionelle Semiotik in ihren Zeichenmodellen Ferdinand de Saussure und seiner dyadischen Zeichenstruktur verbunden weiß, wundert nicht; so Greimas und Cortés in ihrer Sémiotique: „a natural language, for example, is made up only of differences“ (Greimas & Courtés 1982, p. 338). Ricoeur spielt hier auf die Rolle der präfigurativen mimêsis I und der refigurativen mimêsis III seines Modells an. 110 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Das mag als Kernvorbehalt gegen den Strukturalismus gelesen werden, den Ricoeur hier zu Gehör bringt: Der Strukturalismus gehe nicht nur vom Text und seinen Strukturen aus, sondern er verbleibe auch dort, igele sich ein, ohne die ‚präfigurativen‘ Voraussetzungen eines Handlungsverständnisses und ohne den Leser bei der abschließenden ‚refigurativen‘ Konstruktion der Textbedeutung in den Blick zu nehmen. Der Semantik nun aber gesteht Ricoeur ein Potential zu, der Relations-Sackgasse des Strukturalismus zu entkommen: Sie habe den Begriff des Diskurses wieder salonfähig gemacht, indem sie das Subjekt des Diskurses wieder berücksichtigt und damit den Weg geebnet habe „für eine Infragestellung eines der fundamentalen Axiome des Strukturalismus, nämlich des Verbots, auf irgend etwas Außersprachliches zurückzugreifen“, die Semantik öffne „den Diskurs […] auf die Welt hin“ (Ricoeur 2005b, p. 34). Sehen wir, was Greimas dazu sagt. Auf der oben schon erwähnten Konferenz in Toronto 1985 leitete er seinen Vortrag99 On Meaning100 mit Bemerkungen über den Strukturalismus ein. Im Gegensatz zum amerikanischen Strukturalismus, so Greimas, gehe es dem französischen zentral um die Bedeutung als der wesentlichen Dimension der Sprache.101 Seine Aufgabe sei es nun, den Begriff der Bedeutung als Struktur zu erfassen; die Analyse führe ihn dann zu einer Struktur, die als minimale Bedingung von Bedeutungsgenerierung metalinguistisch repräsentiert102 werden und von dort aus dann in Bedeutung transkodiert werden könne. So weit, so gut und bereits eben im vorausgegangenen Abschnitt kommentiert. Was leistet der Strukturalismus? Und wo schießt er übers Ziel hinaus? Bedeutungseinheiten sind Elemente, die für sich nichts aussagen, die lediglich disjungieren und konjugieren, darin ist Ricoeur zuzustimmen.103 Aber was verbindet und trennt, muss bereits etwas wie einen Bedeutungskern in sich tragen, sonst ließen sich die Elemente nicht aufeinander beziehen. Jede ‚kombinatorische Möglichkeit‘ setzt eine Kernbedeutung der zu kombinierenden Elemente voraus, zumindest semantische Haken und Ösen, die zusammengeführt werden können. Auch der Poststrukturalismus kann letztlich keine Lösung anbieten. Statik vs. Dynamik, Fixierung von Sinn vs. Flüssigkeit von Sinn, immer wieder wird 99 100 101 102 103 Vgl. (Greimas, 1988b, p. 539 ff.). Nicht zu verwechseln mit der englischen Ausgabe seiner Aufsatzsammlung Du Sens, die auf Englisch unter dem Titel On Meaning erschienen ist. … woran Greimas mit seiner wohl nicht ganz ernst gemeinten Bemerkung anschließt, dass er in diesem Sinne ‚Poststrukturalist‘ sei. Greimas hat hier sein semiotisches Quadrat im Auge. Solche Bedeutungseinheiten „‚sind nur kombinatorische Möglichkeiten; sie sagen nichts aus, sie verbinden und trennen bloß‘“; zitiert von (Scharfenberg 2011, p. 201). 111 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Derrida gegen Greimas in Stellung gebracht. Bärbel Lücke104 stellt ihn Greimas gegenüber und zitiert Derrida: Für diesen gehöre Greimas zur logozentristischen Tradition, „‚die vorgab, den Sinn, die Wahrheit […] der Bewegung der Bedeutung zu entziehen‘“ (Lücke 2002, p. 94), wobei Lücke die Stelle ‚Bewegung der Bedeutung‘ unterstreicht. Die wunde Stelle des Strukturalismus – Bedeutung auf reine Relation zu verkürzen – kritisert der Poststrukturalismus nicht, im Gegenteil, er wertet diese Schwachstelle sogar auf zu einem ständigen Hin und Her innerhalb solcher Relationen, zu einem freischwebenden Spiel der ‚différance‘.105 Man muss Greimas nicht vor Derrida oder Lücke oder sonstwem retten – auch in der vorliegenden Arbeit wird kritische Distanz zu ihm gewahrt –, aber den Strukturalisten gegen den Poststrukturalisten auszuspielen, führt lediglich in ein akademisches Nirgendwo, verliert sich in einer unabschließbaren Verweisungsschleife.106 So viel zu Greimas’ Methodik. 4.2. Reduktion des Propp’schen Modells Greimas fängt Feuer: Gibt es vielleicht so etwas wie einen Bauplan der Bedeutungskonstitution noch vor aller inhaltlichen Realisierung, und zwar differenzierter als mit dem aktantiellen Modell repräsentierbar? Das entscheidende Moment in Propps Analyse sei nicht, so seine Idee, die Auflistung des Märchenpersonals, sondern die Auflistung der einunddreißig Funktionen107. Auf seiner nun folgenden ‚weiteren Exploration‘ hofft er, dass das umfangreiche Funktionen-Inventar Propps dahingehend reduzierbar sei, dass er damit am Ende ‚ein Funktionen-Ganzes als eine einfache Struktur‘108 abbilden könne. Er werde die Funktionen bündeln, von Redundanzen befreien und vor allem von der Diskursebene wegrücken, um sie am Ende distinkten Aktanten zuord104 105 106 107 108 Ich zitiere Lückes Begeisterung für Derrida: Komplexen Termen könne man nur über die ‚differance‘ beikommen, alle Differenz (auf die Greimas aufbaut) sei in sich gespalten, „so dass sie wieder erlöschen wird, um neu zu erscheinen im sich stets aufschiebenden strategischen ‚Spiel‘ der Bedeutung“ (Lücke 2002, p. 45). Dass sich Bedeutung im ‚ständigen Implodieren des semiotischen Vierecks‘ herstelle, ist nicht nur eine absurde Vorstellung, sie führt konsequent auch zum Abschied von wissenschaftlicher Erkennbarkeit. Die différance sei die Instanz, „die die Bedeutung (den Sinn) in der Bewegung immer erst erzeugt und wieder – im Prozess, im Spiel der Bewegung – durchstreicht und zu einem neuen Sinn hin verschiebt“ (Lücke 2002, p. 15). „[…] es kann nicht länger über Sinn verfügt werden; fortgerissen von einer endlosen Bedeutungsbewegung, ist er nicht mehr aufzuhalten. Das System der Zeichen hat kein Draußen“ (Lücke 2002, p. 15). Keine Funktion, so Ricoeur, lasse sich ohne ihre Zuschreibung zu einer handelnden Figur (Ricoeur nennt sie ‚Personen’) definieren. Handlungen setzten Handelnde immer voraus. Jede der handelnden Personen beziehe sich auf einen entsprechenden ‚Handlungskreis‘, auf eine Gruppierung von Funktionen. Vgl. (Ricoeur 2007b, p. 65). vgl. (Greimas 1971, p. 178). 112 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. nen und damit elementare Relationen sichtbar machen zu können, die einer Erzählung innewohnten. Greimas nennt diese Prozedur ‚Homologisierung‘. Bedingung für das Zusammenfügen zweier disjunktiver Funktionspaare sei die Übereinstimmung in ihrer Sem-Kategorie,109 so dass ‚homologisierte funktionale Strukturen‘ sich herausbildeten – wie beispielsweise A vs. A:110 agreement vs. non-agreement. Beide Elemente seien der gemeinsamen Kategorie Kontrakt subsumiert, stünden aber – wie oben schon erwähnt – in einem Gegensatzverhältnis zueinander, zu Beginn der Erzählung führe der Kontrakt zu Verrat und Entfremdung, am Ende zur Reintegration in die Gemeinschaft Greimas’ Ziel ist es, zu einer ‚paradigmatischen Interpretation‘ zu gelangen, die „unabhängig von der syntagmatischen Abfolge-Ordnung“ sei (Greimas 1971, p. 189), unabhängig also von der Erzählsukzession. Am Ende will er ein Werkzeug in der Hand halten, mit dem es möglich werde, so etwas wie eine „obligatorische Folge der Funktionen“ zu benennen (Greimas 1971, p. 178) – und zwar über die Verengung auf Mythen oder Märchen hinaus. Das Reduktionsverfahren nachzuzeichnen, war meine ursprüngliche Absicht, aber das ist, wie sich herausgestellt hat, weniger erhellend, als wenn ich gleich versuche, Reduktion und Transformation zu verknüpfen: die Neuordnung der Propp’schen Funktionen und zugleich das daraus folgende Transformationsmodell Greimas’ daraufhin zu untersuchen, ob die drei Hauptelemente – Kontrakt, Prüfung und Kommunikation – in klarer Trennung und unter Vermeidung von Redundanzen dem Leser vor Augen gestellt werden können. 4.2.1. Vladimir Propps Morphologie des Märchens Nach Vladimir Propp111 verlässt ein Familienmitglied das Haus und lässt den späteren Helden mit einem Verbot zurück, das der Held allerdings missachtet. Es taucht eine weitere Figur auf,112 der Gegenspieler. Er spioniert den Helden aus und wird dabei von Informationszuträgern unterstützt, aus des Helden Sicht ein Verrat. Damit gelingt es dem Gegenspieler, den Helden zu überlisten und ein Gut zu erbeuten. Dieser Schaden oder Verlust bringt die eigentliche Märchenhandlung in Gang. Der Held macht sich mit einem Auftrag auf den Weg, den Mangel zu tilgen, er verlässt das Haus. 109 110 111 112 Die Sem-Kategorie (Großbuchstaben) verknüpft disjunkte Sem-Elemente (Kleinbuchstaben) und umfasst sie in ihrer elementaren Bedeutungsstruktur: s vs. nicht-s. A = agreement A = Negation Agreement (Bruch, Nichteinhaltung …) (Propp 1975, pp. 31-66) … was in der Regel der Verbotsüberschreitung des künftigen Helden geschuldet ist. 113 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 114 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Doch um den Gegenspieler zu finden, bedarf es einer Zutat, meist in Form einer Kompetenz oder eines Mittels, worüber der Held bis dahin noch nicht verfügt. Eine neue Figur, der Schenker oder Geber, tritt als Vermittler auf. Aber die Zutat ist nicht kostenlos, der Held wird auf die Probe gestellt. Besteht er sie, so erhält er das notwendige Hilfsmittel, im Märchenkorpus Propps ein Zaubermittel. Den Gegenspieler zu finden, ist unproblematisch, dem Helden wird der Weg zu ihm gewiesen. Beide treffen im direkten Zweikampf aufeinander, in dem der Held gezeichnet, verwundet wird. Aber er siegt am Ende, er kann mit dem Gut nach Hause zurückkehren, der Mangel ist behoben. Auf dem Weg dorthin wird ihm zwar noch nachgestellt, dann aber wird er vor seinen Verfolgern gerettet. Zu Hause angekommen, wird er zunächst nicht erkannt. Dort tritt ein ‚falscher Held‘ auf, der ihm das nach Hause gebrachte Gut oder die Lorbeeren der Rückeroberung streitig macht. Der Held muss eine weitere Aufgabe lösen, um der Frucht seiner Abenteuerfahrt nicht verlustig zu gehen. Er löst die Aufgabe und wird als ‚Retter‘ erkannt (wie auch auf der anderen Seite der falsche Held erkannt wird). Das Märchen findet mit einer Reihe von Sanktionen sein Ende. Der Held darf sich als Retter zeigen (Transfiguration113 heißt das bei Propp), der Feind wird bestraft, sofern noch lebendig und greifbar, der Held besteigt den Thron und/oder hält Hochzeit. Propp macht deutlich, dass eine solche Sequenz ein sehr grobes Modell eines Märchens darstellt – von mir hier noch einmal simplifiziert: Allein für den Empfang des Zaubermittels listet Propp neun Verlaufsformen auf. Und er fügt hinzu, dass ein Märchen durchaus aus der Verflechtung mehrerer Sequenzen bestehen könne. Ricoeur114, der sich wie Greimas mit der Propp’schen Analyse kurz befasst hat, stellt zusammenfassend vier Grundthesen auf: – Funktionen seien Grundelemente des Märchens, die sich in ihrer Bedeutung für den Gang der Handlung definierten. – Die Zahl der Funktionen sei begrenzt. – Die Reihenfolge der Funktionen sei ein und dieselbe, was die ‚unauslöschliche Rolle der Chronologie‘ im Propp‘schen Modell zeige. – Die Reihe der Funktionen zeige eine ‚Urform des Zaubermärchens‘. Ricoeur attestiert Propp eine Unentschiedenheit, einen „latenten Konflikt zwischen einer mehr teleologischen Auffassung der Reihenfolge der Funktionen und einer mehr mechanischen Auffassung ihrer Verkettung“ (Ricoeur 2007b, p. 62). 113 114 Was eigentlich nur die Integration des Helden in die Gesellschaft meint, gerät durch den Propp’schen Ausdruck einer Transfiguration in die Nähe des Apotheotischen. Vgl. (Ricoeur 2007b, p. 60 f.) 115 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Ricoeur denkt dabei vor allem an die Ausgangssituation (ursprüngliche Schädigung), die eher eine Eröffnung als eine Funktion und nicht anders als teleologisch115 zu verstehen sei, also im Verhältnis zur Fabel als einem Ganzen stehe. Um allerdings die Figuren nicht völlig an den Rand seiner Untersuchung zu drängen, teilt Propp seine Funktionen in sieben Handlungskreise116 auf. Handlungskreis und Figur könnten hierbei kongruent sein, die Figur könne mehrere Kreise umfassen oder aber ein Handlungskreis verteile sich auf mehrere Figuren (Propp 1975, p. 79 ff.). Propp schließt eine Analyse der Attribute der Figuren117 an: Alter, Geschlecht, Stand oder Ähnliches seien historisch kontingent, die Vielfalt der Figuren spiele sich auf der Oberflächen-Ebene des Märchens ab, konstant seien nur die Funktionen. Das Verhältnis von Handlungskreis und Figur findet sich bei Greimas als Differenz von Aktant und Akteur wieder. 4.2.2. Greimas’ erste Reduktion des Propp’schen Modells Eine sehr vorläufige Skizze, die zu zeigen versucht, wie Greimas die Propp’schen Funktionen in einem ersten Anlauf neu sortiert. In dieser ersten Reduktion, die er am Propp’schen Modell vornimmt, geht es noch nicht um die Transformation in ein eigenes Modell. Dazu weiter unten mehr. 115 116 117 Kompensation der Schädigung Die sieben Handlungskreise sind folgende: der des Gegenspielers, des Schenkers, des Helfers, der Zarentochter, des Senders, des Helden und des falschen Helden. Die Funktionen sind, wie gesagt, konstant, während „Nomenklatur und Attribute der handelnden Personen […] variable Märchenelemente“ seien (Propp 1975, p. 87) 116 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 4.2.3. Von der Reduktion zur Transformation Greimas nennt – im Rahmen einer narrativen Semiotik118 – das Ergebnis seiner Homologisierungsanstrengung Transformationsmodell. Auf der semio-narrativen Oberflächenebene korrespondiere die elementare Transformation mit Operationen der Konjunktion und Disjunktion zwischen Subjekten und Wert-Objekten. Wenn man eine Erzählung als eine Durchführung (‚trajectory‘) begreife, also von einem Inititalpunkt zu einem Endpunkt, dann beschreibe ein ‚transformation algorithm‘ ebenjene Durchführung: „discourse than appears as a string of transformations“ (Greimas & Courtés 1982, p. 350). 118 „in the framework of narrative semiotics“ (Greimas & Courtés 1982, p. 350) 117 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Am Ende blickt Greimas auf drei Elemente, die in den Propp’schen Märchen mehrmals auftauchen können: Kontrakt, Kampf und Kommunikation. Der Kontrakt werde durch das Paar ‚Aufforderung vs.119 Annahme‘ konstituiert, der Kampf durch ‚ Konfrontation vs. Sieg‘, die Kommunikation durch ‚Emission vs. Empfang‘. Anfangs- und Endreihe der Funktionspaare stünden im Verhältnis der Korrektur zueinander, die Anfangsreihe ist die Negativtransformation der Endreihe. Oder umgekehrt: Die Endreihe hebt die Negation der Anfangsreihe auf (Negation der Negation), die Reintegration hebt Verrat und Entfremdung vom Anfang auf: „Endlich kann man die Konvention treffen, die Anfangsreihe120 als Alienation und die Endreihe als Reintegration zu bezeichnen“ (Greimas 1971, p. 187). 119 120 Wie schon erwähnt, man darf sich das Greimas’schen ‚vs.‘ nicht zwingend als Zeichen einer Gegensatzrelation vorstellen. Täuschung (durch den maskierten Verräter), Unterwerfung (des getäuschten Helden), Mangel (Diebstahl, Entführung); vgl. (Greimas 1971, p. 185 f.). 118 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. B.5. Die Greimas’sche Ernte: das Transformationsmodell Die drei Kategorien, denen Greimas die Propp’schen Funktionen von Erzählungen zugeordnet hat, werden nun einer ersten Untersuchung unterzogen. Die Prüfung (oder der Kampf) kommt ohne oppositionelles Gegenüber aus, trägt aber als Skelett der Erzählung deren Fleisch: die Handlung; zudem ist die Prüfung für Greimas die conditio humana des Menschen in seiner geschichtlichen Einbettung. Das zweite Element, der Kontrakt, ist der Impulsgeber für die Handlung, sowohl anfangs als ein gebrochener oder beschädigter Vertrag wie auch am Ende der Erzählung als ein erfüllter. Die Kommunikation ist das dritte Element, sie ist das Gleitmittel, sie wird von Greimas in erster Linie als Übertragung von Werten verstanden, im negativen Sinne der Privation wie im positiven der Attribuierung. 5.1. Das Modell Greimas hat die Propp’schen Funktionen reduziert, gebündelt und den drei Kategorien Kampf, Kontrakt und Kommunikation subsumiert.121 Damit werde es möglich, die Erzählung als ‚einfache achronische Struktur‘122 zu erfassen. Er löst sich damit von der syntagmatischen Abfolge von Erzählelementen – also der Ordnung Propps123 – und setzt die Funktionen in Beziehung zueinander. Dass er hierbei seiner Logik der Binarisation treu bleibt, ist nicht nur konsequent, sondern zeugt vom Anspruch, die Interpretation ganzer Texte auf die Grundelemente der Bedeutungsgenerierung zurückführen zu können. Greimas hat sich für eine solchen Trennung zwischen Synchronie und Diachronie von Claude Lévi-Strauss inspirieren lassen: Dass sich die zeitliche Abfolge von Erzählelementen auf der syntagmatischen Achse in ihrer Handlungslogik anders darstellt als der Strukturbezug von homologisierten Funktionspaaren (in Kategorien) auf der paradigmatischen Achse, ist eigentlich keiner Erwähnung wert, wenn sich hier nicht zeigte, dass Greimas die Struktur innerhalb seines späteren Drei-Ebenen-Modells bereits geahnt hat. 121 122 123 Bis hierher habe er mit dem Material Propps eine Ordnung geschaffen, die in ihren Kernelementen der Bedingung elementarer Bedeutungsgenerierung genüge. Deshalb auch die weitläufige, in der vorliegenden Arbeit nicht weiter dargestellte linguistische Vorarbeit Greimas’ in den ersten neun Kapiteln seiner Strukturalen Semantik. Vgl. (Greimas 1971, p. 189). Das Ordnungsprinzip Propps verdankt sich mehr der Chronologie der Erzählereignisse, weniger dem, was Greimas unter einer strukturalen Ordnung versteht. Im oben schon erwähnten Gespräch mit Peter Stockinger spricht Greimas von seiner ‚Verblüffung‘, als er entdeckte, dass es sich bei den Propp’schen Funktionen „um eine bestimmte Form des syntagmatischen Ablaufs handelt, die durch die Projektion paradigmatischer Kategorien auf die syntagmatische Ebene entsteht“ (Greimas, 1983, p. 269). 119 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Von Syntagmatik oder Diachronie der Erzählung befreit, untersuche ich nun nacheinander die drei K’s Greimas’ und sehe ihm dabei zu, wie er ein strukturales Modell von Erzählungen konstruiert. So zumindest sein Anspruch. 120 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 121 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 5.2. Die Prüfung Die Prüfung schiebe sich, so Greimas, zwischen Kontrakt und Konsequenz,124 sie selbst sei in der Regel Mittel für einen außerhalb liegenden Zweck. Die Prüfung also (oder der Kampf) habe keinen Inhalt, sondern beruhe auf dem Inhalt der Konsequenz, „der, wie man sieht, getrennt, unabhängig vom Kampf, manifestiert wird“ (Greimas 1971, p. 196). Eine solche Formulierung gelingt vermutlich nur einem eingefleischten Strukturalisten. Auch wenn der Kampf seinen Zweck außerhalb seiner selbst haben mag – anders als beim Spiel –, dann ist er als Mittel doch nicht gleich jeden Inhalts beraubt.125 Für den Helden jedenfalls ist innerhalb der Erzählung der Durchgang durch die Prüfungen wesentlich, nur so kann es zur Wiederherstellung der beschädigten Ordnung kommen. Das sieht am Ende auch Greimas so, die Prüfung sei substantieller Bestandteil der Reihe, die mit einer Negation beginne und mit der Negation der Negation ende, von einer Alienation (Verrat) zu einer Reintegration in der Gesellschaft führe. Wir berühren den Punkt gleich noch einmal, wenn es um die Prüfung als Grundkonstante des Menschen geht. Die Prüfung selbst stelle zwei Funktionen gegenüber, nämlich ‚Konfrontation vs.126 Gelingen‘. Die drei Prüfungen seien mit je eigener semantischer Konsequenz investiert – und damit mit einem je eigenen narrativen Schema ausgestattet: die qualifizierende Prüfung mit der Kompetenzerweiterung des Helden, die entscheidende oder Haupt-Prüfung mit dem Sieg über den Gegner und die glorifizierende mit der Wiedererkennung des Retters. Wollte man die Prüfung oder den Kampf im Schema eines semiotischen Quadrats abbilden, so ließe sich das vielleicht folgendermaßen darstellen: 124 125 126 In der Greimas’schen Schreibweise: A vs. F + c (A = agreement; F = fight; c = consequence – so ist zumindest zu vermuten). Ein Hammer beispielsweise ohne seine Funktionen lässt sich immer noch material bestimmen (wenn ich auch seine Tauglichkeit nicht erfasse, die ihn aus funktioneller Perspektive ausmacht). Auch hier wird wieder deutlich, dass mit ‚vs.‘ nicht Kontradiktion gemeint sein muss, denn sonst stünde der Konfrontation die Nicht-Konfrontation oder die Einigung gegenüber und dem Gelingen das Scheitern. 122 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 5.2.1. Die Diachronie der Prüfung Die Prüfung unterscheide sich von den anderen Elementen einer Erzählung darin, dass sie kein oppositionelles Gegenüber habe127 – so zumindest behauptet es Greimas. Er schreibt ihr gar einen ‚diachronischen Status‘128 zu: Sie konstituiere schon allein die ‚diachronische Definition der Erzählung‘.129 Man möchte an dieser Stelle nicht mit Greimas darüber streiten, ob die ‚Alleinstellung‘ der Prüfung tatsächlich eine hinreichende Bedingung dafür ist, dass sie als Strukturelement allein für das Syntagmatische der Erzählung verantwortlich zeichne. Wobei man hier nicht der Versuchung erliegen sollte, Diachronie und Synchronie oder Syntagma und Paradigma gegeneinander auszuspielen. Strukturell jedenfalls, so liegt der Gedanke nahe, weist die Prüfung auf ein Oppositionsverhältnis hin, sozusagen intern auf aktantieller Ebene: Prüfer/ 127 128 129 Das Funktionspaar der Prüfung lasse sich nicht im Sinne der anderen Bündelungen kategorisieren, die Prüfung sei die einzige „asymmetrische funktionale Sequenz, d.h. es [= das Funktionspaar, S.G.] präsentiert sich in keinem Moment der Erzählung in seiner negativen Form“ (Greimas 1971, p. 189). Vgl. (Greimas 1971, p. 190). Vgl. (Greimas 1971, p. 190 f.). Etwas später ergänzt Greimas: Die Prüfung führe eine diachronische Dimension ein – als figurativer Ausdruck des Transformationsmodells: Sie erkläre zugleich die oppositionellen Inhalte der ihr vorausgehenden und nachfolgenden Strukturen. 123 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Aufgabe vs. Prüfling oder deutlicher: gegeneinander antretende Kämpfer. Und dieses Merkmal der Prüfung sorgt nun tatsächlich für die Diachronie: Nur in der Aktion zeigt sich die Opposition der Kontrahenten. Was die Prüfung als solche angeht – also außerhalb des erzählerischen Parcours –, so differenzieren Greimas und Courtés in ihrer Sémiotique das Phänomen. Eine Prüfung habe ein zusammenführendes und ein trennendes Element, das zusammenführende nennen sie ‚reflexive Konjunktion‘ – der Geprüfte greife auf ein Gut zu (Kraftfülle, begehrtes Objekt …) –, das trennende ‚transitive Distinktion‘ – der Geprüfte ‚enteigne‘130 den Prüfenden seiner Kompetenz. Also Zugriff beim (aktiv) Siegenden oder Geprüften, Enteignung beim (passiv) Besiegten oder Prüfenden. Wenn man nun, so fahren die Autoren fort, allein die reflexive Konjunktion der Prüfung in ein narratives Programm131 übersetzte, dann seien Sender und Empfänger132 in ein und denselbem Akteur investiert. Aktualisierte man nun aber zusätzlich die transitive Disjunktion, dann brauchte es zumindest eines weiteren Subjekts, das (als Anti-Subjekt) ein umgekehrtes narratives Programm ausführe. Im letzten Fall träte die polemische Struktur der Erzählung deutlich hervor.133 Das Davor oder der Kontrakt Der Prüfung gehe, wie oben gesagt, ein Kontrakt voraus. Beide basierten auf einem Mangel und definierten dessen Aufhebung als Ziel (mit inkludierter Belohnungsaussicht oder ohne). Man dürfe eine solche Reihe aber nicht, so Greimas, zwingend als Grund-Folge-Verhältnis betrachten, die Konsequenz sollte eher als freie Folge gelesen werden: Einer Prüfung könne ein Kontrakt vorausgehen, müsse aber nicht; beide, Kontrakt wie Prüfung, könnten auch allein auftreten. Der Schluss, den Greimas daraus zieht, ist gewagt: Wenn die Aufeinanderfolge von Kontrakt und Prüfung nicht als ‚obligatorisch‘ der Erzählung auferlegt werde und wenn sie qua Redundanz dennoch als erstarrte Sequenz erscheine, so verleihe das der Prüfung nur die Bedeutung, „die Freiheit des Helden zu be- 130 131 132 133 Die Autoren nennen die transitive Disjunktion tatsächlich ‚dispossession‘; vgl. (Greimas & Courtés 1982, p. 339) . Für die qualifizierende Prüfung gilt allerdings, dass der Prüfer oder der Qualifizierende seine Kompetenz nicht verliert. Vgl. unten die Ausführungen zur asymmetrischen oder partizipativen Kommunikation. Unter einem narrativen Programm versteht Greimas die Transformation von einem Zustand in einen anderen (zum Beispiel bim Verlust oder beim Erwerb eines Wert-Objekts). … oder Subjekt der Handlung und Subjekt des Zustands, wie es die Autoren grammatikalisch ausdrücken; vgl. (Greimas & Courtés 1982, p. 339). Vgl. (Greimas & Courtés 1982, p. 339). 124 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. stätigen“ (Greimas 1971, p. 190). Greimas spricht hier auf der Strukturebene dem Helden eine Willensfreiheit zu, die ihn aus einer Marionetten-Rolle (in der Erfüllung des Kontrakts) entlässt. Man müsse sich den Helden als jemanden vorstellen, der in der Lage sei, Herausforderungen anzunehmen, auch wenn er nicht dazu aufgefordert werde. Aber ist der Gedanke Greimas’ schlüssig? Mich einem Kampf zu stellen, bedarf immer einer Herausforderung, auch wenn ich selbst Adressat und Adressant in einer Person bin.134 Zeigt sich die Freiheit des Subjekts nicht vielmehr in der Handlungsalternative: die Herausforderung anzunehmen oder abzulehnen, den Vertrag anzuerkennen oder ihn zu brechen? Die Freiheit des Helden erschließt sich also mehr aus der prüfungsvorgelagerten Übertretung des Verbots. Aber selbst bei einer zwanglosen, akzeptierten Annahme des Kontrakts muss die Freiheit des Subjekts mitgedacht werden. Freiheit ist bereits im Kontrakt unterstellt, ansonsten reduzierte sich jeder Auftrag auf das Verhältnis von Befehl und Befolgung, also auf ein intaktes HerrKnecht-Verhältnis. Die Freiheit zeigt sich nicht im Kontrakt, sondern sie ist notwendige Bedingung des Kontrakts überhaupt. Verträge hätten keinen Sinn, wenn nicht autonome Individuen aufeinanderträfen, Individuen, die zurechnungsfähig freie Entscheidungen zu treffen in der Lage wären und die schließlich Verantwortung für die Konsequenzen der Vertragsunterzeichnung übernehmen könnten. Das Danach oder die Teleologie Die Konsequenz einer Prüfung sei in jedem Fall Folge des partiellen Kontrakts, der vor ihr etabliert worden sei: „Die Konsequenz ist also die Sanktion dieses Kontrakts, der Beweis seiner Realisierung, und impliziert die teilweise Wiederherstellung des gebrochenen globalen Kontrakts“ (Greimas 1971, p. 196), also die stufenweise Aufhebung des Mangels bis hin zur finalen Wiederherstellung der beschädigten Ordnung nach der dritten, der glorifizierenden Prüfung. Die Konsequenzen darf man allerdings nicht vorschnell, wie einleitend schon erwähnt, mit den Zwecken gleichsetzen, die die Prüfungen überwölben. Zwecke sind in der Regel Bestandteil des vorausgehenden Kontrakts – einmal mehr, einmal weniger ausdrücklich formuliert –, sie definieren das Wozu der Prüfung und sie folgen als erfüllte Zwecke der gelungenen Prüfung. Die Konsequenz aus der qualifizierenden Prüfung ist der Erwerb von Kompetenzen, ihr Zweck aber die Zurichtung des Helden für den entscheidenen Kampf; die Konsequenz aus der Hauptprüfung ist der Sieg über das Anti-Subjekt, ihr Zweck aber die Wiedererlangung des geraubten Gutes; die Konsequenz der glorifizierenden Prüfung ist die Wiedererkennung des Helden und 134 Auf die Nähe der Herausforderung zum Kontrakt wird weiter unten noch einmal eingegangen. 125 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. dessen ‚Auszahlung‘, ihr Zweck aber ist ein anderer: entweder auf den Retter bezogen die Legitimation der ‚Reparaturleistung‘, die ‚Konfirmation‘ des Wiedererkannten;135 oder auf die Gesellschaft bezogen, die Wiederherstellung der beschädigten Ordnung.136 Das ist auch der Grund für die Doppelbenennung der dritten Prüfung, einmal als glorifizierend und das andere Mal als sanktionierend. In der Verherrlichung des Helden als Retters wird zugleich die beschädigte Ordnung restituiert und ihr der Held wieder subsumiert; diese Rückführung in die Ordnung ist eben beides: die Anerkennung der Autonomie des Helden wie auch dessen Unterwerfung unter die wiederhergestellte Souveränität der Gesellschaft.137 Bei der Betrachtung der Konsequenzen wird die teleologische Ausrichtung deutlich. Scharfenberg geht diesbezüglich mit Greimas ins Gericht: Es stelle sich die Frage, ob die ‚Wiederherstellung des Vertrags‘ tatsächlich als ausschließliches telos der Narration fixiert werden könne – das sei, so beruft sich Scharfenberg auf Ricoeur, nur eine Kategorie von Erzählungen, wenn nicht sogar nur von Märchen – und ob die Erfüllung des Vertrags damit die Potentiale von Erzählungen unnötig verenge: „Der teleologischen Fixierung der Affirmation des Vertrags als finalem Wert, dem die gesamte Handlungslogik funktional untergeordnet wird, entspricht derart der systematische Ausschluss von Handlungsalternativen und Emergenz-Potenzialen innerhalb der Erzählung“ (Scharfenberg 2011, p. 187). Allerdings muss man einwenden, dass erstens der Vertrag nicht finaler Wert oder Zweck aller Bemühungen des Helden ist, sondern die Wiederherstellung des vorherigen Gesellschaftszustands ohne Mangel oder Beschädigung; und zweitens werden erst auf der Diskursebene aus Aktanten Akteure und diese verfügen in der Regel sehr wohl über Handlungsalternativen. Die Diskursebene ist per se eine Ebene mit Emergenz-Potenzialen von erheblichem Variantenreichtum, was Zeit, Ort und Personal und ebendessen Handlung angeht. Dennoch ein irritierendes Ergebnis: zunächst freie Folge und Willensfreiheit der Handelnden und am Ende eine teleologische Zurichtung des Geschehens? Ich werde einen weiteren Aspekt mit in die Betrachtung der Prüfung aufnehmen müssen, den Aspekt des Handelnden oder Aktanten. 135 136 137 Reintegration als Rückführung des Helden in die Arme seiner Gesellschaft. Reintegration als Beseitigung des Mangels. Auch Ohno begreift die Sanktion als „die explizite Unterordnung unter das System der Werte“ (Ohno 2003, p. 204). Wir werden beim Thema der Entfremdung noch einmal darauf stoßen. 126 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 5.2.2. Prüfling und Triebkräfte Wie einleitend ausgeführt, fußt die erste Greimas’sche Definition der Erzählung auf ihrer diachronischen Ordnung und reduziert diese auf eine Sequenz von Prüfungen, die sich als eine Abfolge menschlicher Verhaltensweisen zeigen. Die Prüfung weise „alle Attribute der geschichtlichen Tätigkeit des Menschen auf, die irreversibel, frei und verantwortlich ist“ (Greimas 1971, p. 195). Der Prüfling Die Interpretation der Prüfung – als ‚geschichtlicher Tätigkeit‘ des Menschen – erlaube es, sie als „ein organisiertes Ganzes von mythischen Verhaltensweisen [zu betrachten], die von den geschichtlichen, wahrhaft diachronischen Transformationen Rechenschaft ablegt“ (Greimas 1971, p. 195). Ein Satz, der schnell überlesen werden kann, aber in seiner Bedeutung für die vorliegende Arbeit nicht unterschätzt werden darf. Greimas beschreibt hier en passant die Prüfung nicht nur als Kern der russischen Märchen, sondern er spannt den Bogen weit auf und erklärt die Prüfung zur mythischen Abbildung dessen, was den Menschen in seiner geschichtlichen Einbettung auszeichne: sich für seine Handlungen frei zu entscheiden und deren Konsequenzen auf sich zu nehmen – beschreibbar, so Greimas, mit den drei Attributen menschlicher Tätigkeit: Irreversibilität (was getan ist, ist getan), Freiheit und Verantwortung.138 Damit erhebt er Konkurrenz oder Kampf zu einem ganz grundsätzlichen Phänomen, das den Menschen innerhalb seiner ‚Geschichtlichkeit‘ ausmache: die Prüfung als anthropologische Konstante, als conditio humana. An kaum einer anderen Stelle zeigt sich der Moralische Pakt so deutlich wie hier. Prüfung und Kampf sind Phänomene der Konkurrenz, oft in ihrer noch nicht zivilisationsgebändigten Form, sozusagen in ihrer archaischen Gestalt (gleichwohl auf der Diskursebene auch auf höheren Zivilisationsstufen modellierbar). Die Prüfung wird von einem entscheidenden Element der Fundamentalmoral begleitet, von der Herausforderung. Diese spiegelt das Sollen, die Kraft der Ingangsetzung wider, sie geht eine Verbindung mit der Motivation des Helden ein, selbst bis zu einem Punkt, an dem das moralische Du sollst bis zur Unkenntlichkeit hinter dem Ich will verschwindet. In jedem Fall verknüpft die Herausforderung Prüfung und Akteur. Was treibt den Prüfling also an? 138 (a) Irreversibilität: Was einmal getan worden ist, ist nicht mehr zurücknehmbar, niemand kann in seine Vergangenheit zurückgreifen und etwas ‚ungeschehen‘ machen; (b) Freiheit: Das Individuum ist frei in seiner Entscheidung und trägt damit auch die Last der Konsequenzen; was zum dritten Attribut überleitet, zur (c) Verantwortung: Die Konsequenz aus der Prüfung sei unumgänglich, die irreversible Entscheidung also des Menschen, der sich der Prüfung stellt, „gibt so dem in den historischen Prozeß verwickelten Menschen die Weihe der Verantwortlichkeit“ (Greimas 1971, p. 195). 127 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Die Triebkräfte Die in den drei Prüfungen eingeschlossenen Triebkräfte sind nach Greimas die Qualifikation in der ersten Prüfung, die Suche in der zweiten und das Nachsuchen in der dritten. Es gelte in jedem Fall, einen Mangel aufzuheben. Die drei Kräfte richteten sich auf die jeweilige Konsequenz (Kompetenzerwerb, Sieg übers Anti-Subjekt, Erkennung des Helden139 und Belohnung). Auf diese Weise „werden die Triebkräfte in die Struktur der Prüfung integriert und nehmen zusätzlich an ihrer Definition teil“ (Greimas 1971, p. 191). Aus der Perspektive der Akteure könnte man die Triebkräfte als ‚Motivatoren‘ definieren, die für den Übergang von der Modalität (wollen, müssen, sollen, dürfen) zur Handlung sorgen. Was Greimas hier vorstellt, sind Erzählelemente mit Impulscharakter: Impuls für den Helden, etwas zu tun oder sich in eine bestimmte Richtung zu bewegen, Impuls für den Leser, in seiner Lektüre fortzufahren. Die Spannung, die sich für beide, für Figur wie für Leser, aufbaut, ist dem Umstand geschuldet, dass alle drei Triebkräfte – Qualifikation, Suche und Nachsuche – jeweils auf eine Prüfung hinauslaufen, die als ihre Konsequenz das eben Erstrebte im Gelingensfall zeitigt.140 Treibende Kraft, Impuls, Mediator – die Prüfung scheint bei Greimas durchaus mit energetischen Kräften im Erzählparcours aufgeladen zu sein. Was die Energie der Prüfungen allerdings erst freisetzt, liegt außerhalb, sozusagen im Rahmen von Erzählbeginn und -ende. Werfen wir also gemeinsam mit Greimas einen Blick auf die anderen beiden Grundelemente von Erzählungen, zunächst auf den Kontrakt und anschließend auf die Kommunikation. Zudem schlage ich vor, die Triebkräfte141 nicht zu eng mit dem Strukturelement der Prüfung zu verknüpfen, Greimas selbst spricht davon, dass die Triebkräfte sich nur in der Verknüpfung mit der Konsequenz der Prüfung als Haupttriebkräfte zeigten. Die Einbettung der Prüfung in die Struktur der Triebkräfte ist unbestritten, aber letztere stehen ihrer Natur nach in einem Spannungsverhältnis, in dem die Prüfungskonsequenz eben nur eine Seite darstellt. Was also noch aussteht, ist die Ab-quo-Seite. Reden wir also endlich über das zweite Strukturelement der Erzählung, über den Kontrakt, das ‚Davor der Prüfung‘. 139 140 141 Nach Greimas’ Transformationsmodell hätte man hier etwas anderes erwartet, nämlich die Spannung zwischen ‚nicht-c2‘ (Täuschung/Unterwerfung) und ‚c2‘ (Enthüllung des Pro- und Antagonisten). Ich würde die Triebkraft ‚Aufklärung‘ nennen. Aber das ist vom Ausdruck ‚Nachsuchen‘ nicht weit entfernt. Je weniger der Leser dem Helden das Gelingen zutraut, desto spannender wird die Lektüre. Allerdings nur bis zu einem gewissen Grade. Wenn die Chance des Gelingens beispielsweise durch äußere Umstände gegen Null geht, droht die Spannung abzufallen. Greimas überschreibt sie zu Recht mit ‚Die dramatische Triebkraft der Erzählung‘; vgl. (Greimas 1971, p. 191). 128 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 5.3. Der Kontrakt Selbst wenn man im Sinne Greimas’ die Prüfung als Kern der Erzählung nähme, könnte sie eine Erzählung nicht hinreichend beschreiben. Alle Elemente der Prüfung empfingen ihre „semantische Investierung, ihre Bedeutung […] erst vom Kontext, d.h. von den Sequenzen der Erzählung, die der Prüfung vorausgehen oder ihr nachfolgen“ (Greimas 1971, p. 191 f.). Greimas verknüpft mittels seines Reduktionsverfahrens142 zwei der Propp’schen Funktionen (Aufforderung und Annahme) in der ‚Etablierung des Kontrakts‘ (A) und zwei weitere Funktionen (Verbot und Übertretung) im ‚Bruch des Kontrakts‘ (A).143 Die Homologisierung beider Verhältnisse führe, wie oben beschrieben, zu einer Kategorie, nämlich zu A vs. A: Etablierung vs. Bruch des Kontrakts. 142 143 „Das vergleichende Vorgehen, das Identitäten, die sich konjungieren, und Oppositionen, die sich disjungieren lassen, sucht, kann nunmehr auf die Gesamtheit der inventarisierten Funktionen Anwendung finden“ (Greimas 1971, p. 181). Hiermit ist nicht der Vertrag zwischen Auftraggeber und Held zu verstehen, sondern die Beschädigung des ‚globalen Vertrags‘, dessen Wiederherstellung dann der Vertrag, der mit dem Helden geschlossen wird, als Aufgabe formuliert. Ich werde das weiter unten während der Modifizierung des Greimas’schen Transformationsmodells genauer erläutern. 129 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 5.3.1. Definition 'Kontrakt' In ihrer Sémiotique geben Greimas und Courtés die Minimalbedingungen fürs ‚contracting‘ an, wie sie für jede Art von Kommunikation gälten, nämlich eine ‚phatische Funktion144‘, die die Spannung oder Erwartung einerseits und Entspannung oder Erfüllung der Erwartung andererseits etabliere. Eine solche intersubjektive Struktur eröffne zwar Handlungsmöglichkeiten, schränke dabei aber die Freiheit beider Vertragspartner ein.145 Vor jedem Vertragsabschluss stünden also, so fassen die Autoren zusammen, vorbereitende Komponenten; sie nennen das den ‚impliziten Kontrakt‘. Zum Vertrag selbst. Zunächst könne man zwei Arten unterscheiden: – Im unilateralen Vertrag mache ein Subjekt einen Vorschlag (proposal), während ein zweites Subjekt ein Versprechen abgebe oder eine Verpflichtung eingehe (commitment), ohne weitere Verknüpfung. Die Geltung jeder der beiden einseitigen ‚Leistungen‘, so kann die Definition gedeutet werden, wird nicht von der jeweils anderen Seite berührt. – Im bilateralen oder reziproken Vertrag seien Vorschlag und Versprechen miteinander verwoben. Ich verweise auf meine Ausführungen zum Austausch oben in Teil A146: Verlust und Gewinn, Verzicht und Aneignung gleichen sich aus; der Tausch überschminkt gewissermaßen die negative Seite der Konkurrenz. – Modal formuliert, könnten beide, der Vorschlag wie das Versprechen der Vertragspartner, als Wunsch (wanting) interpretiert werden,147 dass die vorgeschlagene Handlung durchgeführt würde. Der Vertrag erscheine also als die Organisation reziproker kognitiver Aktivitäten, die die Transformation 144 145 146 147 Die phatische Funktion der Kommunikation oder auch Anredefunktion habe die Aufgabe, den kommunikativen Kanal zu öffnen und offen zu halten. Die funktionale Differenzierung der Kommunikation geht auf Roman Jakobson zurück; vgl. (Ricoeur 1991, p. 217 ff.). An anderer Stelle schlagen Greimas und Courtés vor, statt von ‚phatischer Funktion‘ (Jakobsen) von ‚phatischer Intention‘ zu sprechen, weil sie der Kommunikation eigentlich vorausginge, sie zuallererst begründe (‚lays the foundation for communication‘). Der ‚phatische Akt‘ sei mehr als ein körperlicher zu verstehen: „comparable to the glance or to gestures of greeting or of welcome“ (Greimas & Courtés 1982, p. 232). „ […] an opening toward the future and toward possibilities for action“ und „a constraint [Zwang] which somehow limits the freedom of each of the subjects“ (Greimas & Courtés 1982, p. 59). Vgl. oben Ausführungen zum Austausch in Kapitel A.1 zu den Elementen des Moralischen Paktes. Auf der Seite des Versprechens könne noch ein Müssen (having-to) hinzukommen. 130 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. der Wünsche in Realität bewirkten.148 Im Verhältnis von Leistung und Gegenleistung schlummert, so kann man ergänzen, der aristotelische Begriff der ausgleichenden Gerechtigkeit.149 5.3.2. Der Kontrakt innerhalb von Erzählungen Nicht nur das im vorausgegangenen Abschnitt zur Prüfung besprochene Konsequenzverhältnis hat eine substantielle, erzählgestaltende Kraft, sondern eben auch der Kontrakt. Ob als Annahme oder als Bruch, assertorisch oder negierend, er ist bei jedem wesentlichen Fortschritt der Handlung anwesend, er ist sogar dem Handlungseinsatz zu Beginn der Erzählung vorausgesetzt, nämlich als Geltung einer etablierten Ordnung (die dann im Laufe der Erzählung verletzt und am Ende restituiert wird). Das narrative Schema stellt die Funktion des Vertrags nach Greimas folgendermaßen dar: Er werde anfangs zwischen Sender und Empfänger etabliert und regiere dann die narrative Entfaltung der Erzählung. Dem Vertrag folge auf der Seite des Subjekts dessen ‚Weg‘ oder ‚Parcours‘ (trajectory) als sein vertragsfixierter Beitrag und auf der Seite des Senders die Sanktion oder Glorifizierung am Ende der Erzählung. Damit sei es Greimas möglich,150 die einunddreißigste Funktion aus der Propp’schen Liste, die Hochzeit, ‚neu zu interpretieren‘. Denn sie setze den anfangs gebrochenen Kontrakt – sozusagen den globalen oder Gesellschaftsvertrag – nach allen Peripetien wieder ein. Die Hochzeit selbst müsse als Kontrakt151 gelesen werden und als letzter Kontrakt der Erzählung werde sie durch die Übergabe des Objekts des Begehrens oder des Lohnes an den Helden ‚konsolidiert‘.152 Die Vertragsstruktur liege also Erzählungen als narratives Schema zugrunde, das erst in seiner syntagmatischen Projektion auf die Diskursebene auseinanderfalle in Etablierung, Bruch, Wiederabschließen und Ausführung153. Einzuwenden ist allerdings, dass ein solches Schema sich nicht erst auf der Diskursebene finden lässt, die Beziehung zwischen Etablierung (A) – Bruch (A) – Wiederabschließen eines Vertrags (A) ist durchaus als Strukturelement auf der semio-nar148 149 150 151 152 153 „[…] the contract appears as an organization of reciprocal cognitive activities which bring about the transformation of the modal competence of the subjects involved“ (Greimas & Courtés 1982, p. 59). Vgl. oben Teil A, Abschnitt zur dritten Etappe auf Ricoeurs Spaziergang mit Aristoteles. Ich springe hier zu Greimas’ Strukturaler Semantik zurück. Die Hochzeit sei „ein Kontrakt, der zwischen dem Adressanten, der dem Adressaten das Objekt der Suche anbietet, und dem Subjekt-Adressaten, der es annimmt, geschlossen wird“ (Greimas 1971, p. 181). Vgl. (Greimas 1971, p. 181). „[…] as the establishment, the breaking, the re-establishment, and the execution of the contract“ (Greimas & Courtés 1982, p. 60). 131 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. rativen Oberflächenebene zu finden. Und die Ausführung in der Reihe des narrativen Schemas ist nichts anderes als die im Vertrag als Versprechen inkludierte Leistung. Und noch eine Bemerkung: In meinem modifizierten Modell weiter unten wird der Bruch des ‚Gesellschaftsvertrags‘ zu einem Abschluss eines neuen ‚Individualvertrags‘ führen – mit dem Ziel, die Beschädigung des ersten zu heilen (A1 –> A2 –> A1). Was oben154 bei den Voraussetzungen der Prüfung zur Herausforderung gesagt worden ist, kann nun ergänzt werden. Sie selbst kann als Strukturgelenk zwischen Prüfung und Akteur, genauer als das Angebot eines prüfungsbezogenen Kontrakts betrachtet werden.155 Wo das Anti-Subjekt oder der Prüfer den zu Prüfenden herausfordert, da ist die Vertragsform plausibel anwendbar und siedelt sich in unmittelbarer Nähe zum Moralischen Pakt an: Lass dich auf den Kampf, die Prüfung ein und du erhältst im Falle des Sieges, des Gelingens ein Gut. Aber nicht weniger plausibel ist die Anwendung auf den Fall, dass der Prüfling sich selbst herausfordert. Dann nämlich verdoppelt er sich in Adressant und Adressat und schließt mit sich selbst den Vertrag, die Herausforderung anzunehmen und für alle Konsequenzen Verantwortung zu tragen. Oben in Teil A zum Austausch156 habe ich den Vertrag die ‚Moderation‘ von Konkurrenz und Kampf genannt, sozusagen als ‚zivilisatorische Errungenschaft‘ über den Kampf aller gegen alle. In Erzählungen taucht der Vertrag als Rahmen für Prüfung und Konkurrenz auf, der den Kampf nicht zwingend ‚zivilisiert‘, sondern ihn auch in seiner ursprünglichen Schärfe und ‚Nacktheit‘ freilegen kann. Offensichtlich weniger ein Rückfall in den bellum-omnium-Status als vielmehr die Re-Inthronisation eines ursprünglichen Prinzips aller menschlichen Bezüge aufeinander. Der Kampf wird nicht in einem zivilisierten Verfahren (wie dem Tausch) modifiziert, sondern ungeschminkt eingefordert. Dass die Prüfung kultiviertere Formen des Umgangs als den rohen bellumomnium annehmen kann,157 soll damit nicht ausgeschlossen werden, aber die Grundstruktur der direkten Konfrontation von Aktanten (selbst als Akteure auf der Diskursebene in einem Akteur) scheint bei Greimas eine Conditio sine qua non zu sein. 154 155 156 157 Vgl. Ausführungen zur Prüfung. … was sich im Bewusstsein des Helden oft auch nur in Gestalt der Modalitäten Wollen oder Müssen spiegelt. Vgl. oben Ausführungen zum Austausch in Kapitel A.1 zu den Elementen des Moralischen Paktes. Diese ‚späte‘ Errungenschaft des Vertrags kann auch das revitalisierte Prinzip des Kampfes in narrativer Transformation modifizieren oder sublimieren. 132 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 5.4. Die Kommunikation Grundsätzlich gilt es anzumerken, dass die Kommunikation als eines der drei ‚K‘ auf einer anderen Ebene liegt als seine Nachbarn. Kommunikation als Austausch ist dem Kampf wie dem Kontrakt immer schon vorausgesetzt. Ohne verbale und gestische/symbolische Kommunikation kommt kein Vertrag zustande und auch eine Prüfung benötigt eine Kommunikationsebene, bis hin zum Austausch von Kräften und Kenntnissen. Die Kommunikation ist sozusagen das Grundgerüst, in das alle weiteren Elemente der Erzählung implementiert werden. 5.4.1. Definition Kommunikation Wenden wir uns zunächst wieder der Sémiotique von Greimas und Courtés zu, und zwar dem Lemma ‚Communication‘.158 Die Autoren berufen sich auf Roman Jakobson, der das Bühlersche triadische Schema (Ausdruck, Appell, Darstellung) erweitert. Jakobsen unterscheidet zwischen sechs Faktoren – Adressat und Adressant, Botschaft, Kontext (oder Referent), Code und physischer/psychologischer Kontakt.159 Allerdings, so Greimas und Courtés, sei das Sechs-Funktionen-Schema für die Diskursanalyse kaum tauglich, es sei einerseits zu allgemein für eine angemessene Klassifikation und andererseits zu speziell, da es sich auf verbale Kommunikation beschränke. Die Autoren wollen den Rahmen eines zu engen Kommunikationsbegriffs zugunsten eines analytischen Zugriffs auf erzählerische Werke sprengen. Menschliche Handlungen fänden auf zwei Achsen statt: Auf der einen – der ‚Achse der Produktion‘ – veränderten Menschen die Natur (‚action on things‘), auf der anderen – der ‚Achse der Kommunikation‘ – bezögen sich Menschen aufeinander (‚action on other persons‘). Diese zweite Achse untersuchen die Autoren nun näher. Man könne sie – fußend auf dem Konzept der Kommunikation als Austausch (‚exchange‘) – auf zwei Arten interpretieren, einerseits als Übertragung von Wertobjekten (‚transfer of objects of value‘) und andererseits als Kommunikation zwischen Subjekten. Die Terminologie der Autoren ist etwas gewöhnungsbedürftig, aber sie leuchtet ein, wenn man sich vor Augen führt, dass Kommunikation zunächst als Übertragung von etwas zwischen Sender und Empfänger gefasst werden kann, so dass nachvollziehbar wird, dass dieses Etwas auch etwas Materielles 158 159 Vgl. (Greimas & Courtés 1982, p. 37). Der letzte Faktor, das phatische Moment, meint das Zustandekommen und die Aufrechterhaltung der verbalen Kommunikation, das Gleitmittel sozusagen im Getriebe (damit auch notwendige Bedingung des Kontrakts). 133 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. sein kann. Zudem darf man den Terminus Austausch nicht von vornherein auf ein do ut des reduzieren, auch eine einseitige Handlung wie der Diebstahl eines begehrten Gutes hat auf beiden Seiten eine Veränderung zur Folge: auf der einen Fülle, auf der anderen Leere (Mangel). Symmetrische Kommunikation Wenn im Zeichen der Konfrontation in Erzählwerken Subjekte und Wertobjekte aufeinander stießen, dann habe man es, so Greimas in Du Sens, mit einer doppelten Übertragung zu tun. Auf der Ebene der Objekte müsse die Übertragung als Privation und Attribution, also als Beraubung und Verleihung/Aneignung interpretiert werden: „[…] wenn der Objektwert dem herrschenden Subjekt attribuiert wird, so nur, weil das beherrschte Subjekt gleichzeitig von der Privation des Objektwerts betroffen wird“ (Greimas 1972, p. 62). Auf einer zweiten Ebene, der der Subjekte, kämen Wünsche und Pflichten ins Spiel. Sender und Empfänger könnten nicht als leere Positionen von Quelle oder Ziel eines Werte-Transfers betrachtet werden, sondern als ‚kompetente Subjekte‘, die sich in einem besonderen Moment ihres Daseins160 befänden. In der symmetrischen Kommunikation herrsche Solidarität vor, sie setze auf vollzogene Konjunktion und Disjunktion.161 Hier gilt es Vorsicht walten zu lassen: Bei solidarischem, symmetrischem Tausch kann ein Austausch mit beiderseitigem Zugewinn assoziiert werden, hier aber meint Solidarität ein Weggeben auf der einen Seite und ein Annehmen auf der anderen. Asymmetrische oder partizipative Kommunikation Es gebe allerdings im Gegensatz zur gewöhnlichen Kommunikation Diskurse, in denen ein transzendenter Sender – absolut, souverän, ultimativ – Kompetenzen oder auch materielle Güter anbiete, ohne auf sie verzichten zu wollen oder einen Verlust162 zu akzeptieren. In einer solchen asymmetrischen Kommunikation falle dem Sender die hyperonymische Rolle zu und dem Empfänger die 160 161 162 Bei den Autoren heißt es becoming, also Werden statt Dasein. „… understood as a transformation bringing about, in a solidary way, the disjunction of the object from one of the subjects and its conjunction with the second subject“ (Greimas 1987, p. 103). Zu denken wäre dabei vermutlich an die Gnade Gottes oder daran, was der absolute Herrscher an seine Untertanen ‚austeilt‘. 134 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. hyponymische.163 Der Empfänger erhält etwas, ohne dass dem Sender etwas abhandenkommt.164 Es gebe noch den Sonderfall der verbalen Kommunikation, in der die Partizipation als Regel auftrete: Der Sender von Wissen ist dessen nicht enteignet,165 sondern das Wissen „remains a shared knowing“ (Greimas 1987, p. 103). Das Begreifen Ein letzter erwähnenswerter Aspekt betrifft einen Unterschied, der die mentale Seite des Begreifens (‚grasping of signification‘) berührt und sich einerseits als empfangene Kommunikation (received) und andererseits als bereitgestellte (appropriate) zeige. Der Empfänger könne den vollen Besitz der Bedeutung erst erlangen, wenn er über eine bestimmte Art von Rezeptionskompetenz verfüge, eine Kompetenz, die die Autoren mehr als eine psychologische Haltung und Bereitschaft denn als ein mentales Mindestmaß an Verständnisfähigkeit166 verstehen.167 Um sich die Rede eines Anderen also anzueignen, bedürfe es zu einem gewissen Grad des Glaubens.168 5.4.2. Kommunikation im Strukturmodell Zurück zur Strukturalen Semantik. Greimas bündelt, wie oben zur ‚Homologisierung‘ erläutert, sechs der Propp’schen Anfangsfunktionen zu Paaren: Erkundung vs. Auskunft, Täuschung vs. Unterwerfung und Verrat vs. Mangel169. Sie stellten zu Beginn der Erzählung eine ‚Abfolge von Unglücken‘ oder Verlusten dar170 (Alienation). Dieser Anfangssequenz stehe, wie oben schon erläutert, eine Sequenz am Ende der Erzählung gegenüber, und zwar nun positiv konnotiert, als Erwerbungen (Reintegration). 163 164 165 166 167 168 169 170 Ein Hyperonym bedeutet übergeordneter, Hyponym untergeordneter Begriff: Dem Hyperonym ‚Medikament‘ stehen die Hyponyme ‚Pille‘, ‚Dragee’ oder ‚Kapsel‘ gegenüber. „[…] will not thereby be in a relation of solidarity […] with a renunciation on the part of the sender“ (Greimas 1987, p. 103). Der ‚Geber von Kenntnissen‘ transferiere ein kognitives Objekt, ohne dass die eigene Kenntnis abnehme. Das erinnert an Ricoeurs Modell der mimêsis I, der Vorverständnisstruktur beim Rezipienten. „equipped with a form of wanting and of being-able-to-accept“ (Greimas & Courtés 1982, p. 39). „[…] communication is far less causing-to-know […] than causing-to-believe and causing-to-do“ (Greimas & Courtés 1982, p. 39). Vgl. auch unten Kapitel E.1 zur Kommunikation. Ähnlich wie beim ersten Funktionspaar wechselt hier ein Objekt den Besitzer, der Verrat nimmt die Form des Diebstahls oder der Entführung an, was den Helden oder dessen Familie/Gesellschaft in den Status des Verlustes, des Mangels versetzt. Vgl. (Greimas 1971, p. 185). 135 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Gemeinsam sei diesen Paaren die „Struktur der Kommunikation171 (d.h. des Austauschs), die die Übermittlung eines Objekts (der Nachricht, der Kraftfülle, des Guten) aufweist“ (Greimas 1971, p. 186). Greimas liest den Text hier ‚implizit‘, wie er es nennt, wenn er die Strukturmerkmale achronisch identifiziert.172 Hier stünden sich Negation und Assertion gegenüber, Abwesenheit und Anwesenheit von Ordnung, Alienation und Reintegration173. Erst eine zweite, die diachrone Lektüre, ziehe die zeitliche Disposition der Terme in Betracht und lasse „uns diese als voneinander impliziert ansehen“ (Greimas 1971, p. 192): Aus der Beschädigung der Ordnung (A) folge die Entfremdung (C) – „In einer Welt ohne Gesetz sind die Werte verkehrt“ – und aus der Reintegration (C) folge die Restitution der alten Ordnung (A). Die diachronische Lektüre ist uns im Strukturmodell bereits begegnet, als Greimas die drei Prüfungen als eine Reihe von Konsequenzen betrachtet hat.174 Was die Korrespondenzpaare angeht, so schlage ich eine abstraktere Fassung für die Strukturebene vor, die das Gemeinsame der Kommunikationselemente zu erfassen versucht, kehre dafür aber noch einmal zu den konkreten Ausführungen Greimas’ zurück. Der Gegenspieler oder Verräter täusche anfangs sich verstellend oder maskierend den Helden. Dieser unterwerfe sich zwar oder lasse sich eben täuschen, aber dieser Akt lasse ihn ebenfalls als Träger einer Maske erscheinen, nämlich als einfältig und leicht hinters Licht zu führen. Der eigentliche Kern des Helden sei noch nicht offenbart (auch noch nicht zwingend ihm selbst). Täuschung und Unterwerfung enthielten also das Moment der Verkleidung oder Verstellung: als Maske der Täuschung beim Verräter und als Maske der Unterwerfung beim Helden. Die Elemente Maskierung, Täuschung, Verstellung und Verrat prägen, so könnte man Greimas ergänzen, den Spannungsbogen vom Beginn der Erzählung – mit dem Bruch des ‚Gesellschaftskontrakts‘ – bis zur Wiedererkennung und Restitution am Ende. Vor dem anfänglichen Bruch und nach der abschließenden ‚Hochzeit‘ dominiert ein (meist nicht mehr erzählter) statischer Zustand der ‚Wahrheit‘, dazwischen aber herrscht eine (erzählenswerte) Dynamik, die zwischen Lüge und Wahrheit oszilliert. Erst am Ende kommt es zur Aufklä171 172 173 174 Hervorhebung durch mich. Vgl. (Greimas 1971, p. 192). … und zwar als ‚voller Genuss der Werte’ oder als deren Wiederherstellung, die „die Rückkehr zur Herrschaft des Gesetzes möglich“ mache (Greimas 1971, p. 192). Abgekürzt stellt Greimas die achronische Lektüre folgendermaßen dar: A vs. A und C vs. C. Zur Nomenklatur: A = Existenz des Kontrakts = Ordnung A = Abwesenheit des Kontrakts / der Ordnung [Übertretung, Bruch] C = Kommunikation = Genuss der Werte = Re-Integration C = Störung der Kommunikation = Alienation [Täuschung, Verrat, Unterwerfung, Mangel]; vgl. auch (Greimas 1971, p. 192). A –> C –> C –> A. 136 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. rung, die Wahrheit wird erkannt. Der Gegenspieler wird enttarnt, zeigt sich in seiner wahren Natur; ebenso der Held im Zuge seiner ‚Transfiguration‘: „Der Held erscheint in seinem ganzen Glanz, angetan mit königlichen Kleidern; er manifestiert seine eigentliche Heldennatur“ (Greimas 1971, p. 186). Verstellung, Maskierung, Lüge: Greimas’ semiotisches Quadrat zur Wahrheit175 listet neben der Wahrheit die drei wahrheits-relativierenden Spielarten auf: Lüge, Geheimnis und Falschheit. Die Lüge ist das, was nur so scheint, aber nicht ist, das Geheimnis das, was zwar ist, aber unsichtbar bleibt, und die Falschheit das, was weder so scheint noch so ist. Die Maske selbst, so könnte man sagen, ist die Lüge, das dahinter verborgene Gesicht das Geheimnis und jemand, der weder Maske noch seine Identität zeigt, die Falschheit. Während die Lüge das Behauptete noch als Sein vorstellig machen will, legt die Falschheit oder die Unwahrheit auf diesen Schein keinen Wert mehr. 5.4.3. Individuum vs. Gesellschaft – oder die Willensfreiheit Greimas geht noch einen Schritt weiter. Der Kontrakt korrespondiere mit dem sozialen Bereich, die Kommunikation mit dem individuellen oder interindividuellen. Die Erzählung könne man als eine Korrelation zwischen dem ‚Los des Individuums176 und dem der Gesellschaft‘177 begreifen: Der individuelle Bereich (Kommunikation/Austausch) zeichne sich durch die Übermittlung symbolischer Objekte aus: einer Aussage/Nachricht178 (C1) zu Beginn, dann einer Kraftfülle179 (C2) und schließlich des Objekts des Begehrens (C3).180 Die strukturale Proportion von Verrat und Reintegration, so fasst Greimas zusammen, setze „in der Tat die Alternative zwischen dem der Werte entäußerten Menschen und dem, der sich ihrer Fülle erfreut“, frei (Greimas 1971, p. 192). 175 176 177 178 179 180 Siehe unten im Kapitel E.2. zur Lüge und Wahrheit. Hier deuten sich die vier semantischen Felder von Daniel Candel Bormann an (Bormann 2013), das Feld der Gesellschaft, der Natur, der Metaphysik und des Individuums. Individuum und Metaphysik (auch in der Rolle eines zusätzlichen Kräfte- oder Kompetenzspeichers oder auch als überweltlicher Ratgeber) gehören zusammen und zielen auf die Wiederherstellung der verletzten Ordnung. Einzig die Natur ist ein Bereich, der so, wie Bormann es formuliert, bei Greimas nicht auftaucht. Was Bormann semantisches Feld der Natur nennt, könnte man bei Greimas vorläufig als einen ‚jungfräulichen‘, reinen, ungestörten Zustand der Ordnung vor allem Eingriff des Gegenspielers identifizieren. Vgl. (Greimas 1971, p. 192). „eine Art von ‚gefrorener‘ Rede (parole ‚gelée‘)“ (Greimas 1971, p. 193). … das Zuführen oder Rauben von Handlungsenergie des Helden. C1 = das Objekt der Kommunikation, die ‚gefrorene Rede‘ (Modalität des savoir); C2 = die Kraftfülle, die einer Figur zuerteilt oder geraubt werde (Modalität des pouvoir); C3 = Transfer des Objekts des Begehrens (Modalität des vouloir); vgl. (Greimas 1971, p. 193). 137 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Der soziale Bereich (Kontrakt/Ordnung) weise auf den ersten Blick ebenfalls die Form der Kommunikation auf: Ein Adressant heiße einen Adressaten zu handeln. Doch hier gehe es vor allem um den Kontrakt, der Adressant trete dem Adressaten mit einer ‚Injunktion‘ gegenüber, entweder mit einer ‚Invitation zum Tun‘ oder aber mit dem Verbot einer bestimmten Handlung. Die einfache Relation zwischen Befehl und Verpflichtung gelte auch dann, wenn der Adressat dem Auftrag nicht Folge leiste: Die Übertretung sei in Wahrheit eine Selbst-Injunktion, „die die Negation des Adressanten aufweist und an seine Stelle den Adressaten setzt“ (Greimas 1971, p. 194). Damit werde auf der Ebene der Aktanten die ‚Negation der Negation‘ (sich einem Verbot widersetzen) positiv, indem der Adressat sich selbst ‚befiehlt‘, das Verbot des Adressanten nicht zu achten oder dessen Befehl nicht auszuführen. In der Funktion der Injunktion konstituiere sich, so Greimas, der Willensakt. Oder anders gesagt: Der Bruch des Kontrakts nehme hier eine weitere, positive Bedeutung an: ‚die Affirmation der Freiheit des Individuums:181 „Folglich ist die von der Erzählung gesetzte Alternative die der Entscheidung zwischen der Freiheit des Individuums (d.h. der Abwesenheit des Kontrakts) und dem akzeptierten sozialen Kontrakt“ (Greimas 1971, p. 194). Hier findet sich also, was wir oben noch bei der lediglich fakultativen Verknüpfung von Kontrakt und Prüfung ergänzt haben: Das Negative der Übertretung transportiert auch für Greimas’ das Positive der Willensfreiheit. Doch eines sollte man noch bedenken: In dem Verstoß gegen den Kontrakt kann sich zwar die Willensfreiheit zeigen, sie muss es aber nicht; denn auch im Fall der Befolgung eines Auftrags kann sich die Autonomie des Individuums bewähren, nicht nur in der Wahl der Mittel, sondern auch in der Affirmation der mit dem Auftrag verknüpften Ziele und Zwecke. Es kann nicht um die Alternative Freiheit vs. Akzeptanz gehen, wie es Greimas nahelegt, sondern die Alternative selbst ist der Gegenstand freier Entscheidung: einer Entscheidung zwischen Akzeptanz und Ablehnung der Ordnung. Die Willensfreiheit ist bereits der Struktur des Kontrakts inhäriert. Damit sei für Greimas die wirkliche Bedeutung des Volksmärchens entschlüsselt: „Die individuelle Freiheit zieht die Alienation nach sich; die Reintegration der Werte muß mit einer Einsetzung der Ordnung, d.h. durch den Verzicht auf diese Freiheit, bezahlt werden“ (Greimas 1971, p. 194). Dass das nun die ‚wirkliche Bedeutung des Volksmärchens‘ ausmache, mag dahingestellt bleiben, was allerdings festzuhalten ist: Volksmärchen wie Mythen182 geht es, wie Greimas sagt, um ‚ein Präsentmachen von Widersprüchen‘. Und diese Widersprüche entzündeten sich eben an der Reibung von Gesell181 182 Vgl. (Greimas 1971, p. 194). Hier bezieht sich Greimas auf Lévi-Strauss’ ‚L’analyse morphologique des contes russes‘; vgl. (Greimas 1971, p. 194). 138 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. schaft und Individuum. Und damit hat Greimas am Ende sicherlich recht: Das Aufeinandertreffen von individueller Freiheit und sozialer Ordnung ist auch über Märchen hinaus eine häufig anzutreffende Anfangskonstellation von Erzählungen. Im Abschnitt zur Entfremdung183 werde ich darauf noch näher eingehen. Das bisher nahegelegte Unterstützungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft kann auch ein oppositionelles sein, ob nun darüber hinaus eine Idee oder ein Ideal hinter dem aufbegehrenden oder sich verweigernden Helden steht oder nicht – mit allen Zwischentönen, die die Literatur hörbar macht wie beispielsweise Innstetten,184 der die Regeln der Gesellschaft exekutiert, obwohl er zu ihnen eine distanzierte Haltung einnimmt. Vielleicht wäre eine konfliktfreie Konstellation gar nicht erzählenswert, am Ende sogar gar nicht erzählbar. Wenn abschließend Greimas Erzählungen die Aufgabe zuschreibt, Permanenz und Veränderung zu vermitteln, also einerseits die Affirmation der notwendigen Ordnung und andererseits die Freiheit, diese Ordnung infrage zu stellen,185 wenn Greimas also glaubt, Erzählungen besäßen eine mythisch anmutende Qualität, nämlich Widersprüche zu neutralisieren, dann wage ich ihm ein weiteres Mal zu widersprechen. Gerade Erzählungen leben von der Bewegung der Figuren in Konfliktfeldern, von deren Eintauchen in Widersprüche und Kämpfe. Dass Widersprüche am Erzählende gelöst werden oder auch nur eine Verlaufsform finden, mag ein Gleichgewicht durchaus wiederherstellen, es reduziert damit aber nicht die gesamte Erzählung auf ein neutrales ‚Äquilibrium‘.186 5.5. Resümee und Überleitung zum modifizierten Transformationsmodell Die Begleitung Greimas’ durch dessen Strukturale Semantik findet hier ihr Ende. Was für uns von Interesse war, ist geduldstrapazierend und hoffentlich genügend deutlich herausgearbeitet worden. Ich fasse die Ergebnisse der Greimas’schen Anstrengung kurz zusammen. In seinem Transformationsmodell entdeckt er sozusagen drei Gefäße für die 183 184 185 186 Siehe Kapitel D.4 zur Entfremdung. Vgl. Fontane, Effi Briest. „[…] die Erzählung vermittelt […] den Eindruck des Äquilibriums und neutralisierter Widersprüche“ (Greimas 1971, p. 196). Man muss die Erzählung schon als Ganzes betrachten, um den Gedanken nachvollziehen zu können – dass die Erzählung eher die Widersprüche neutralisiere als dass es sie schroff aufeinanderprallen lasse. Für die Elemente der Erzählung, einzeln betrachtet, trifft das sicherlich nicht zu. Und diese ‚Einzelbetrachtungen‘ finden im Lauf der Lektüre ja permanent statt. Erst bei Bildung einer globalen Kohärenz der Gesamtbedeutung des Werks am Ende der Lektüre blickt der geübte Leser auf eine Neutralisierung von Widersprüchen – so sie denn im Werk überhaupt gestiftet worden ist. 139 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Propp’schen Funktionen, seine drei ‚K‘: Kampf, Kontrakt und Kommunikation. Die letzen beiden nehmen zu Erzählbeginn eine negative Bestimmung an (Verrat, Entbehrung) und am Ende eine positive. Der Kampf sorgt in dreierlei Gestalt für die Durchführung der Geschichte, er bildet jeweils die Mitte zwischen einem vorgelagerten Kontrakt und seinen Konsequenzen. Überwölbt – allerdings nicht determiniert – werden alle drei Kämpfe (qualifizierende, Entscheidungs- und sanktierende/glorifizierende Prüfung) vom vorausgesetzten globalen oder gesellschaftsbezogenen Kontrakt, ihnen sind aber auch jeweils Individualkontrakte vorgelagert, häufig in Gestalt von Herausforderungen. Der Kontrakt sorgt für die Bindung des ausersehenen Individuums an die Ausführung der Kämpfe. Der Kontrakt stellt (mit sanktionendrohendem Hintergrund) sicher, dass der Held nicht kneift, er reicht sozusagen hinein in seinen Geist und seine Seele und spiegelt sich dort in der Modalität des Müssens.187 Die Kommunikation als drittes Gefäß für die Propp’schen Funktionen fasst Greimas sehr weit, für ihn ist sie im Grunde immer Austausch, verbale Kommunikation wie auch Händewechsel materieller Güter. Die Kommunikation ermöglicht nicht nur Kampf und Kontrakt, sie ist das Gleitmittel der Übergänge in Erzählungen. Dass ich hier nicht den Kontrakt einem weit verstandenen Begriff der Kommunikation unterordne (und Greimas ebenfalls nicht), ist der Absicht geschuldet, die durchaus disjunktiven Investierungen von Kontrakt und Kommunikation im Erzähldiskurs deutlich im Fokus zu behalten. Um im Bild zu bleiben: Die Kommunikation ist das Gleitmittel (für Objekte wie auch für Worte), der Kontrakt ist der verpflichtende Impulsgeber für Handlungen und der Kampf oder die Prüfung ist der Vollzug der via Kommunikation und Kontrakt vorbereitenden Handlungen. Greimas schließt das elfte Kapitel seiner Strukturalen Semantik mit dem Versuch ab, sein Transformationsmodell188 auf die Analyse des Psychodramas anzuwenden, also auf ein Korpus von Erzählungen, die ganz und gar individuell und nicht – wie das Märchen – kollektiv sind, Erzählungen nämlich von einem von Wahnvorstellungen befallenen Kind während einer psychodramatischen Behandlung.189 Aber das führt ihn, wie er anschließend zugibt,190 nicht zu einer Allgemeinheit des Transformationsmodells. 187 188 189 190 … oder auch des Dürfens und Wollens. Dazu weiter unten in Kapitel B.7 zur Theorie der Modalitäten. Noch einmal in prägnanter Zusammenfassung: Was in dem Greimas’schen Modell transformiert wird, sind die zu ‚Paketen‘ zusammengeschnürten Funktionen (Propps), die mittels der Erzählung aus einer Negativkonnotierung in eine affirmative überführt = transformiert werden. Vgl. (Greimas 1971, pp. 197-204). Vgl. (Greimas 1971, p. 205). 140 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Das stellt die bisherige Beschäftigung mit Greimas’ Strukturaler Semantik nicht infrage; auch Christine Ohno sieht das ähnlich: „Trotz dieser Schwächen hat bereits diese erste Konzeption der Narrativik191 Aufsehen erregt, und dies mit gutem Grund, da es hier gelang, die Grundzüge einer Theorie der Narrativik zu entwerfen, die sich als entwicklungsfähig erweisen sollte“. (Ohno 2003, p. 154) Dieses Zitat ist für die vorliegende Arbeit insoweit anschlussfähig, als es einen weiteren Impuls für das folgende Vorgehen gibt. Greimas’ Transformationsmodell hat, so meine Überzeugung, so viel Potential für das, wonach er sucht: nämlich für die Sprengung der engen Grenzen russischer Volksmärchen192. Ich werde versuchen, das ständige Lavieren zwischen Struktur und Diskursebene hinter mir zu lassen und die Elemente auf der semio-narrativen Ebene zu belassen, ohne das Diachronische der Diskursebene immer wieder bemühen zu müssen. Was allerdings nicht heißt, dass hin und wieder auch von mir Bezug auf die Erzähl- und Dramenliteratur genommen wird193. Es wird um eine Freilegung des Greimas’schen Potentials gehen. Der Vergleich mit Ricoeurs mimêsis II (Konfiguration eines Erzähltextes) böte sich an dieser Stelle an, aber ich schlage einen anderen Weg ein: Ich bleibe zunächst noch beim eben behaupteten Potential und suche nach einer Modifizierung des Greimas’schen Materials. Ein solcher Versuch soll uns zu den Antriebskräften der Tranformationen führen – das werden die von Ohno eingeforderten Aktanten sein,194 genauer: deren Modalitäten – und damit zu einem Aktanten-/Handlungsgerüst auf der semio-narrativen Ebene. 191 192 193 194 … gemeint ist die Strukturale Semantik. Greimas möchte zeigen, dass „das in der Märchen-Erzählung erkannte Modell […] auf Erzählungen unterschiedlicher Figuration Anwendung findet“ (Greimas 1971, p. 197). … besonders in den folgenden Kapiteln. Greimas, so Ohno, falle in seinen letzten beiden Kapiteln hinter seine Argumentation zurück, auf die im zehnten Kapitel eingeführten Aktanten käme er gar nicht mehr zurück, stattdessen erkläre er nun Kategorien wie Leben/Tod zu Aktanten und lege damit eigentlich keine Vertiefung des Aktantenmodells vor, sondern eine thematische Analyse; vgl. (Ohno 2003, p. 152). 141 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. B.6. Verfeinerung des Transformationsmodells I Das Greimas’sche Transformationsmodell wird einer Modifizierung unterzogen, indem die homologisierten Strukturen zum einen aus der Perspektive der Gesellschaft und zum anderen aus der des Individuums betrachtet werden: Vertrag und Kommunikation, aber auch die Klammer zwischen Erzählbeginn und Erzählende werden in Societas- und Individuationselemente differenziert. 6.1. Modifizierung Was lässt sich aus dem Transformationsmodell Greimas’ – so meine Frage – für mehr als lediglich russische Zaubermärchen fruchtbar machen? Prüfung, Kommunikation, Kontrakt, Reise, Grenze, Herausforderung: All diese Begriffe sind entweder zu konkret oder zu abstrakt. Mir schwebt hier keine Neusortierung vor, sondern geringfügige Modifikationen an der einen oder anderen Stelle. Allerdings muss man bei aller gut gemeinten Modifizierung der deduktiven Falle entgehen, nämlich Erzählungen und Dramen ein Strukturmodell aufzupfropfen. Auch nicht das des Moralischen Paktes. Wie also könnte ein modifiziertes Modell aussehen, das märchenüberschreitend hermeneutiktauglich wäre und über die Strukturale Semantik hinausginge? Der Anspruch, den ich hier formuliere, ist teilweise eine Rückführung des Reduktionsverfahrens Greimas’, sozusagen der Versuch einer Extension der Reduktion. Wenn ich von einem Modell für Erzählungen spreche, dann immer nur unter Vorbehalt; ich behaupte in der vorliegenden Arbeit keine generelle Übertragbarkeit eines solchen Modells auf alle Erzählungen oder Dramen. Manche Erzählungen nutzen das Modell, manche verzichten auf Elemente und präsentieren sich sozusagen als Rumpferzählungen unter Maßgabe des Greimas’schen Modells. Noch einmal grundsätzlich: Der Idee einer Modifizierung des Transformationsmodells liegt die Hoffnung zugrunde, dass die Elemente des Moralischen Paktes immer wieder durchscheinen und sich als die eigentliche Basis des Modells charakterisieren lassen. Rekapitulieren und bündeln wir also, was brauchbar sein könnte. Dabei erlaube ich mir, den einen oder anderen bereits weiterführenden Gedanken zu formulieren. Zudem werden der Lesbarkeit zuliebe die zusammengehörigen Strukturelemente auf eine Achse projiziert, die die Diachronie teilweise mit aufnimmt. Das mag akzeptabel sein, solange diese Achse den Blick auf das Strukturelle der Elemente nicht allzu sehr verstellt. So findet sich beispielsweise die Restitution der gesellschaftlichen Ordnung (A1) am ‚diachronischen‘ Ende der Erzählung, bezieht sich strukturell aber auf die Störung der Ordnung (A1) am Anfang. Oder andersherum – mit Fokussierung des Strukturalen vorm Dia- 142 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. chronischen: Es findet sich die dritte, die glorifizierende Prüfung im mittleren Block, im ‚Gehäuse‘ der Prüfungen, obschon sie diachronisch ans Ende gehört. 143 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 144 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 145 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Einen solchen Synkretismus leistet sich auch Greimas und er mag heuristisch zu rechtfertigen sein. Und die in der vorliegenden Arbeit formulierten Überlegungen verstehen sich nicht als der Linguistik oder dem Strukturalismus verpflichtet. Ich werde in den folgenden Abschnitten die Skizze zu beschreiben versuchen, indem ich ihre Elemente nacheinander vorstellen werde: Kontrakt, Kommunikation und Prüfung. Im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit wird uns die Modifizierung des Greimas’schen Modells begleiten und an der einen oder anderen Stelle zu einer Verfeinerung einladen, sozusagen zum ‚Feintuning‘ der nun folgenden Modifizierung. 6.2. Kontrakt Geltung der Ordnung: Kontrakt A(Ges) Ausgangspunkt einer Erzählung ist die Infragestellung einer Ordnung. Das setzt deren Geltung voraus, deren Genese in der Regel vor dem Erzählbeginn liegt. Was der ‚Geschichte‘ außerhalb der eigentlichen Erzählung zugrunde liegt, ist ein ‚Ordnungs- oder Gesellschaftsvertrag‘. Ich nenne diesen ‚globalen Vertrag‘ die Grundbedingung der Erzählung. Wiederherstellung der Ordnung: Kontrakt A(Ind) Zwischen Adressant und Adressat, zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer wird eine Abmachung getroffen, um die Beschädigung der Ordnung A(Ges) aufzuheben. Diese Vereinbarung ist wesentlich für die gesamte Erzählung, denn wenn sie ausbliebe, würde das Figurenpersonal sich mit der Beschädigung abfinden, es gäbe nichts weiter zu erzählen. Grundlage dieses Individual-Vertrags ist die obige Grundbedingung der geltenden Ordnung im Gesellschaftsvertrag A(Ges); die Wiederherstellung der beschädigten Ordnung ist sozusagen der Grundmotivator. Es liegt hier keine zwingende Verteilung auf besondere Akteure vor, eine Figur auf Diskursebene kann durchaus beide Aktanten in sich aufnehmen, sich also selbst verpflichten. Der Individualkontrakt A(Ind) lässt sich aus zweierlei Perspektiven bestimmen: – Zweck 1 (Gesellschaft): Die Ausführung des Auftrags wird im Gelingensfall zur Wiederherstellung der Ordnung führen, das ist sozusagen die gesellschaftliche Perspektive, eine Perspektive, die der Adressat weder kennen noch verinnerlicht haben muss. Das ist sozusagen der Standpunkt der Herrschaft. 146 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. – Zweck 2 (Individuum): Für die Ausführung wird im Gelingensfall dem Adressaten eine Belohnung in Aussicht gestellt. Das muss dem Helden nicht vermittelt werden, aber sie ist bei Greimas als Strukturklammer von Anfang und Ende mit angelegt. Es scheint mir wesentlich, diese beiden Perspektiven oder Ebenen deutlich zu unterscheiden, also die Wiederherstellung des globalen Kontrakts A(Ges) und die Aufhebung des konkreten Mangels195, was sich im Kontrakt A(Ind) zeigt. A(Ind) ist immer nur die Konsequenz aus der Beschädigung des globalen Vertrags A(Ges), er ist der nachrangige Vertrag, der dafür sorgen soll, dass der Gesellschaftsvertrag wieder in Geltung gesetzt wird. Wiederherstellung der Ordnung und das Gut, wonach der Held sucht und wofür es zu kämpfen lohnt196, müssen nicht identisch sein. Der Unterschied von Gesellschaftskontrakt und Individualkontrakt ist leicht zu identifizieren, aber wie verhält es sich mit dem Verhältnis zwischen Infragestellung/Verrat (C(Info)) und der Wiedergutmachung (A(Ind))? Ist es nicht denkbar, dass nicht nur der Gegenspieler als Verräter auftritt und den Helden hinters Licht führt? Wie oben erläutert, schreibt Greimas vor allem im Zeichen der Freiheit197 dem Helden die Fähigkeit zu, den Auftrag des Adressanten nicht oder nur zum Schein anzunehmen. Der Verrat führte dann nicht nur zur Beschädigung der globalen Ordnung (A(Ges)), sondern könnte sich auch als Missachtung des Vertrags zwischen Auftraggeber und Adressaten (A(Ind)) zeigen. Ortswechsel, Überschreitungen von Grenzen, die Topografie von Heimat und Fremde sind auf der Diskursebene erzählbare Bilder für die wechselnde Verortung des Helden im Spannungsverhältnis von etablierter und beschädigter Ordnung, zwischen Integration und Alienation, zwischen Heimat und Fremde. Die Alienation individuationis also, die Verstellung oder Entfremdung des Helden auf seiner Reise macht die dritte Prüfung nach Rückkehr in die Heimat überhaupt erst notwendig, eine Prüfung, die eben nicht nur überprüft, ob die rettende Hand auch tatsächlich die des (nicht wiedererkannten) Helden ist, sondern auch, ob hinter der Maske des Helden, die für die Wiedererlangung des geraubten Gutes in der Fremde notwendig gewesen ist, sich der Sohn der Heimat verbirgt. 195 196 197 Greimas hat meines Erachtens auf diese Strukturdifferenz nicht genügend hingewiesen. Zur Illustration: auch das ausgleichende Urteil eines Richters berücksichtigt in der Rechtsprechung beide Perspektiven: die individuelle (Genugtuung für das Opfer, Nichtwiederholung der Tat) und die gesellschaftliche (Heilung des verletzten Rechts, Abschreckung), zwei Perspektiven, die ins Strafmaß mit einfließen. Siehe auch oben Ausführungen zur Prüfung in Kapitel B.5. Zur Erinnerung: Irreversibilität (was einmal getan worden ist, ist nicht mehr zurücknehmbar), Freiheit (Entscheidungsfreiheit) und daraus abgeleitet die Verantwortung; vgl. (Greimas 1971, p. 195). 147 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 6.3. Kommunikation Alienation societatis: Kommunikation C(Info) und C(Wert) Die Infragestellung der Ordnung oder Entfremdung (Alienation),198 womit die Erzählung beginnt, kann vom Anti-Subjekt, einer außermenschlichen Kraft, aber auch vom Helden selbst vollzogen werden. Der Vollzug nimmt die Gestalt eines Austauschs an.199 Täuschung, Verstellung oder Maskierung tauchen aufseiten des Verräters und/oder Gegenspielers hier erstmals auf. Mit der Kombination aus Kommunikation und Kontrakt kommt das polemische Prinzip in die Erzählwelt: Der Verrat C(Info) kommt zwischen Modalität und Performanz zu liegen und setzt die Handlung in Gang, deren erste Konsequenz der Vertragsbruch A(Ges) ist. Das Gut wechselt die Hände, einer Aneignung steht eine Privation gegenüber: C(Wert). Alienation individuationis: Kommunikation C(Info) und C(Komp) Der Held ist zweierlei Alienationen ausgeliefert. Zum einen fehlen ihm noch die Kompetenzen, es mit dem Anti-Subjekt aufzunehmen; oder er kennt seine noch verborgenen Fähigkeiten nicht, sich ihm entgegenzustellen. Greimas übernimmt von Propp die Funktion der Unterwerfung200 und beschreibt damit das, was ich oben ‚dem-Gegenspieler-auf-den-Leim-Gehen‘ genannt habe. Wird die Ordnung zunächst vom Anti-Subjekt ‚verraten‘ C(Info), so kann sie anschließend auch vom Adressaten negiert werden, ohne dass er sich dessen bewusst sein muss. Die zweite Alienation, mit der der Held konfrontiert ist, führt auf eine weitere Ebene, die des Weges des Helden: Häufig wird sie sich auf der ‚Heldenreise‘, bei der Überschreitung der Grenze zu einem anderen, gefährlichen, dunklen Ort zeigen. Die Maske kann sich, so könnte man es pointiert sagen, auch erst während seiner Reise in sein Gesicht einbrennen.201 Täuschung und Verrat (Geheimnis, Lüge und Falschheit) erstrecken sich über die gesamte Erzählung – also das gesamte Gebiet zwischen den statischen prä- und postnarrativen Elementen der ‚Wahrheit‘ –, können also, wenn auch nicht zwingend, ebenso das Verhältnis Adressant vs. Adressat beschreiben. Wesentlich für den Beginn der Erzählung ist nur die Alienation societatis. Was die Option einer Entfremdung des Helden schon bei Annahme des Auftrags an198 199 200 201 Der Begriff einer auf eine Gesellschaft bezogenen Entfremdung ist problematisch. Mehr dazu im Kapitel D.4. … Austausch im obigen Sinne von Sender vs. Empfänger, wobei das Opfer der Beschädigung oder des Mangels als Empfänger gesehen wird. Bei Propp lautet die siebte Funktion: „Das Opfer fällt auf das Betrugsmanöver herein und hilft damit unfreiwillig dem Gegenspieler“ (Propp 1975, p. 35). Näheres zur Alienation individuationis, wie bereits erwähnt, im Teil D zur Handlung. 148 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. geht, so ist sie nur eine Variante innerhalb der Erzählstruktur. Im Teil D zur Handlung wird der Frage nach der Entfremdung des Individuums noch ausführlich nachgegangen. Reintegration: Kommunikation C(Info) Rückkehr in die Gesellschaft, Heimholung des begehrten Gutes: Das ist das Ziel des Kontrakts A(Ind). Hier kommt wieder zusammen, was vorher geschieden war. Der Kontrakt ist erfüllt, die Ordnung kann wiederhergestellt, der rettende Held re-integriert werden, indem er der nun wieder geltenden Ordnung ‚unterworfen‘ wird. Im Falle einer vorherigen Entfremdung des Helden führt hier ein zweistufiger Weg zur Reintegration: zum einen über die Wiederherstellung der Ordnung, zum anderen über die Wiederaufnahme des ‚verlorenen Sohnes‘. Was als glorifizierende oder sanktionierende Prüfung bei Propp und Greimas auftaucht, hat in diesem modifizierten Modell mehr die Qualität einer weiteren Kommunikationseinheit: Der Held wird erkannt und in die Arme geschlossen, die erwartete oder unerwartete Belohnung202 wird ihm in einer Zeremonie dargebracht. Hier schließen sich die auf der Diskursebene getrennten Elemente der im Kontrakt vereinbarten Leistungen zusammen, hier stehen sich – auch und vor allem für den Leser – die zur Entfremdung führende Kommunikation und die entdeckende gegenüber: aus Verstellung und Maskierung wird Aufklärung, gelingende Kommunikation. Heilung der Gesellschaft: Kommunikation C(Wert) Das Gut kehrt in die Hände des legitimen Eigentümers, der Heimatgesellschaft, zurück. Die Gesellschaft ist wieder mit sich im Reinen, ebenfalls mit dem Helden, so er sich denn als der ‚wahre‘ Held bestätigt hat. 6.4. Prüfung Prüfungen sind diskursiv das Fleisch der Erzählung und strukturell das Mittel für die eben beschriebenen Zwecke. Sie sind, da hat Greimas recht, die Mediatisierung zwischen Anfang und Ende, zwischen Mangel und Rückerstattung/ Wiedergutmachung; ich habe das in der Skizze ‚Relais‘ genannt. Allen Prüfungen geht eine Herausforderung voraus, die den Helden zur Auseinandersetzung 202 Ein Sonderfall des realisierten Tauschs sei das Gegengeschenk (‚counter-gift‘ oder ‚reciprocal gift‘), hier fielen die Subjekte der oppositionellen narrativen Programme zusammen: Wenn das Objekt der beiden Transfer-Operationen dasselbe bliebe, wäre am Ende der ‚status quo ante‘ wiederhergestellt: Der Held bringt dem König die geraubte Tochter zurück und bekommt sie zur Frau: vgl. (Greimas 1987, p. 100). 149 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. ‚einlädt‘ (sie gehört – obschon kommunikativ realisiert – zum Strukturelement des Kontrakts). Dass der Held Prüfungen bestehen oder Kämpfe ausfechten muss, ist in der Kommunikation zum Kontrakt geregelt, dass er die Prüfungen annehmen wird, ist der Herausforderung203 geschuldet, die die letzten Zweifel und Vorbehalte aus des Helden subjektiver Perspektive zum Schweigen bringt. Selbst wenn er sich dem Vertrag widersetzt oder ihn gar bricht, gehorcht er der eigenen inneren Stimme, die eben jene Verweigerung zur Pflicht erklärt, diese sozusagen in die Form eines Vertrag mit sich selbst gießt. Der Kontrakt ist in allen Prüfungen involviert, also das Einverständnis, für alle Prüfungskonsequenzen die Verantwortung zu übernehmen. Die Herausforderung ist zum einen das Angebot eines Kontrakts und zum anderen Ausdruck der Auftrags-Internalisierung im Helden. Die Prüfung, so Greimas, sei in nuce eine minimale Erzählung, sie enthalte alle notwendigen Konstitutionselemente einer ‚narrativen Einheit‘: Kontrakt – Kampf – Kommunikation. Erst aus einer Verschachtelung oder Verkettung mehrerer Prüfungen entspringe die Spannung zwischen einem ‚Grundkontrakt‘ (oder globalem Ausgangskontrakt) und der Konsequenz des letzten Kontrakts am Ende der Erzählung. Deshalb, so ist zu vermuten, hat Greimas der Prüfung einen solchen zentralen Stellenwert im Aufbau von Erzählungen zugeschrieben. Was aber legitimiert eine solche Perspektive? Man könnte ja auch vom Kontrakt als Zentrum der Erzählstruktur ausgehen, stellt er sich doch als Grundmotivator der gesamten Erzählung wie auch als Anstoß jeder einzelnen Prüfung dar. Was könnte also die zentrale Stellung der Prüfung rechtfertigen? Eine Legitimationsgrundlage könnte die Verschwisterung von Prüfung und Handlung sein. Die eigentliche, ‚erzählenswerte‘ Handlung tritt erst mit der Prüfung auf den Plan. Und der Kontrakt lässt sich eben weniger als Handlung beschreiben: Am Ende ist der Kontrakt dann doch mehr Sprach-Handeln, das in seiner Erzählbarkeit natürlichen Restriktionen unterliegt.204 Im Kontrakt wird vor allem kommuniziert, er ist häufig ein rein sprachgebundenes Vehikel zwischen Absicht/ Modalität und noch ausstehender Handlung, er evoziert eher Handlung als dass er sie selbst ist. Die drei Prüfungen, von denen Greimas spricht, scheinen keine obligatorischen Elemente auf Strukturebene205 zu sein, sondern nur der Kampf als solcher. Allerdings muss man einwenden, dass der Held auch auf Strukturebene nicht mit beliebigen Prüfungen konfrontiert wird: Er muss die Kompetenz für 203 204 205 Das Phänomen der Herausforderung ist bereits oben angesprochen worden. Bei einer Erzählung von Sprach-Handlungen (als alleinigem Gegenstand der Erzählung) haben wir es mit einer dihêgêsis zweiter Ordnung zu tun. Greimas macht das deutlich, wenn er von den Prüfungen als figurativem Ausdruck des Transformationsmodells spricht; vgl. (Greimas 1971, p. 190 f.). 150 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. den Kampf mit dem Anti-Subjekt erlangen, er muss die dann folgende Entscheidungsprüfung bestehen und am Ende seine Vortrefflichkeit von der Gesellschaft bestätigen oder anerkennen lassen. Dass das auf der Diskursebene in unzähligen Varianten durchgespielt werden kann, bedarf keiner Erläuterung. Vor dem Hintergrund von Alienation und Reintegration ließen sich, so Greimas, nun die Konsequenzen der Prüfungen deutlicher erfassen: Deren Rolle „besteht darin, die unheilvollen Auswirkungen der Alienation aufzuheben, die ihrerseits aus der Übertretung der etablierten Ordnung resultierte“ (Greimas 1971, p. 187). Keine überwältigende Erkenntnis an dieser Stelle, denn ein solcher Zusammenhang ist ja mehrfach erwähnt worden206. Die Relevanz des Strukturelements Kampf oder Prüfung sollte hinlänglich klar geworden sein, als Relaisstation scheint sie für die Erzählstruktur und damit für die gesamte dritte Ebene, die Diskursebene, unverzichtbar zu sein. * Erzählungen gehen nach dem Greimas’schen Transformationsmodell von einem Mangel aus, die Gesellschaft nimmt Schaden und ist nicht mehr die unverbrüchliche Ordnung, die sie vorher gewesen ist. Wie sich der Mangel begründet, wie er zustande kommt, ist auf der Strukturebene zunächst einmal sekundär. Einen Mangel erleidet aber auch das Individuum, das zu dessen Behebung aufgerufen ist – allerdings aus anderer Perspektive. Der Held ist nicht ein einfacher Auftragnehmer, der für die Wiederherstellung der beschädigten Ordnung aufgerufen wird, sondern rückt selbst von der Gesellschaft ab. Um mit der Greimas’schen Terminologie zu sprechen: Nicht nur die Gesellschaft entfremdet sich von ihrer eigenen Ordnung, sondern das Individuum entfremdet sich von seiner Gesellschaft, erleidet sozusagen eine Entfremdung zweiten Grades oder aber löst sich aus seinem Entfremdungskorsett. Ich nehme diesen letzten Gedanken im übernächsten Teil D zur Handlung wieder auf. 6.5. Effi Briest als Illustration Ich unterbreche den theoretischen Diskurs und versuche, das modifizierte Transformationsmodell an einer Erzählung aus dem 19. Jahrhundert zu illustrieren. Das darf man auf keinen Fall als einen Geltungsbeweis lesen, sondern 206 Was die oben bereits erwähnten semantischen Felder von Daniel Bormann (Bormann 2013) angeht, so stehen Metaphysik und Gesellschaft am Anfang der Erzählung, die Individualität kommt als Transferzentrum zwischen Alienation und Reintegration zu stehen, wo sie nur im Bedingungsrahmen der Natur agieren kann (Voraussetzungen auch der individuellen Physis; aber auch der Topografie des Weges); und am Ende kommt noch einmal Metaphysik (nunmehr geheilt) und die Gesellschaft zum Tragen. In einem Satz: Metaphysik und Gesellschaft schicken das naturgebundene Individuum auf den (naturbedingten) Weg der Rettung der Metaphysik und damit auch der Gesellschaft. 151 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. eben nur als reine Illustration. Wenn die Wahl hier auf Fontanes Effi Briest fällt, dann möge das der Leser als Zufallswahl werten. Die Modifizierung des Greimas’schen Modells öffnet zwei Perspektiven auf Fontanes Werk. Der globale Vertrag A(Ges) wird im Erzählverlauf erst spät gebrochen, davor geht es vor allem um die Negation eines Individualkontrakts (A(Ind)). Im Einzelnen: Ehe-Vertrag Der Beginn des Romans führt über den Antrag des Landrats Baron Geert von Innstetten zum Ehe-Vertrag. Der Vertrag wird eigentlich mit den Eltern (und mit diesen nur als Stellvertretern einer gesellschaftlichen Ordnung) geschlossen, Effis Mutter besetzt nicht nur den Adjuvantenaktanten, sondern tritt auch als Werberin für Innstetten auf: „ein Mann von Charakter, von Stellung und guten Sitten“ (Fontane 2012, p. 21). Der Vertrag nun basiert auf der Täuschung,207 dass Innstettens Werbung nicht auf Effis Glück als obersten Zweck zielt, sondern auf ihre Anpassung an gesellschaftliche Ansprüche im ‚Kessiner Kreise‘ seines Wohnorts. Insoweit fungiert dieser Vertrag auch als Verrat; Effis Mutter ist als mehr Opponent als Adjuvant. Im (Ehe-)Vertrag spielt Effi nicht die Rolle der ‚Retterin‘ einer Beschädigung, sondern ihr fällt die Rolle der Bestätigung der Ordnung zu, die Rolle, eine Regel der Gesellschaft praktisch zu affirmieren. Effi wird als oberflächliche, als halb Jugendliche,208 halb Erwachsene eingeführt, für ihre Mutter ist sie anspruchslos,209 „sie lebt in ihren Vorstellungen und Träumen“ (Fontane 2012, p. 28). Die Siebzehnjährige glaubt zwar an die Liebe, aber ihr folgen als Lebensziele ganz dicht ‚Glanz und Ehre‘ und ‚Zerstreuung‘.210 207 208 209 210 C(Info): Werbung und Glücksverheißung als Verrat. Noch in Kessin wird Effi später sagen: Die Worte ‚liebes Spielzeug‘ erinnerten sie daran, „wie jung ich bin, und daß ich noch halb in die Kinderstube gehöre“ (Fontane 2012, p. 114). Eine besondere Form der Anspruchslosigkeit: nur den Luxus akzeptierend und auf die zweite Wahl lieber verzichtend, wenn die erste sich nicht realisieren lasse. Vgl. (Fontane 2012, p. 28). „[…] ja, Zerstreuung, immer was Neues, immer was, daß ich lachen und weinen muss. Was ich nicht aushalten kann, ist Langeweile“ (Fontane 2012, p. 38). Im Gespräch mit seiner Frau nennt Briest das später ‚Vergnügungssucht und Ehrgeiz‘ ihrer Tochter; vgl. (Fontane 2012, p. 46). 152 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Die Akteurin Effi besetzt beide Aktanten, die Rolle des Subjekts und die des begehrten Objekts,211 das vom Anti-Subjekt212 entwendet wird.213 Schwelle zur fremden, aber immer noch bekannten Welt Das Verlassen der elterlichen Welt Hohen-Cremmen und die Ankunft im hinterpommerschen Kessin, das ist Effis Weg in die Fremde;214 kein Weg zurück in den Naturzustand, aber doch in eine zweite, berlinferne Welt mit eigenen Regeln. Die Lösung von der Welt ihrer Kindheit und Jugend zeigt sich im Versuch, sich die fremde Welt anzuverwandeln, dort heimisch zu werden: „Man muß doch immer dahin passen, wohin man nun mal gestellt ist“ (Fontane 2012, p. 83). Effi kommen Adjuvanten zu Hilfe, besonders der Apotheker Alonzo Gieshübler – in Steffis Augen „der einzige richtige Mensch hier“ (Fontane 2012, p. 79), der letztlich mit für Effis Anpassungs-Maskierung sorgt, unter dieser Maskierung aber auch für eine langsame Reifung ihrer Souveränität.215 Auch und vor allem wird ihr Innstetten ein Fremder bleiben, sehr viel später – wieder zurück in Berlin – wird sie zurückblicken und ihrer Mutter sagen: „Innstetten […] hatte so was Fremdes. Und fremd war er auch in seiner Zärtlichkeit. Ja, dann am meisten; es hat Zeiten gegeben, wo ich mich davor fürchtete“ (Fontane 2012, p. 247). Der Schritt in die Fremde tauscht aber lediglich die Entfremdungsorte aus, weniger die Entfremdungsgrade. Zuletzt und grundsätzlich sind die Anpassungsrichtlinien in Kessin nicht von denen in Berlin verschieden. Innstetten wird immer mehr als Anti-Subjekt demaskiert, die Heirat könnte der Leser im Nachhinein überspitzt als ‚Entführung‘ deuten: nicht für das Glück Effis gesorgt, sondern sie ihren Eltern entrissen zu haben, könnte ihm als Verrat an einer höheren Ordnung (der wahren Liebe …) angelastet werden. Der Spuk des Chinesen und der tanzenden ‚Vorhänge‘ im Dachgeschoss ihres Wohnhauses sind Unterwerfungsmittel oder Mittel der Zähmung, die Effi völlig verängstigen.216 Major von Crampas wird das später auf den Punkt bringen: 211 212 213 214 215 216 Greimas hat das oben ‚subjektiven Wert‘ genannt. Siehe B.3. Korrektur des Aktantenmodells. Effi ahnt noch vor der Hochzeit die zweite Natur von Innstetten, sie gesteht ihrer Mutter: „Er ist so lieb und gut gegen mich und so nachsichtig, aber … ich fürchte mich vor ihm“ (Fontane 2012, p. 41). C(Wert): Effis Weg in die Fremde, der Verlust von Freiheit (vgl. Schaukelmetapher), ihre Alienation. So Innstetten zu Effi: „Die ganze Stadt besteht aus solchen Fremden“ (Fontane 2012, p. 53) Auch Effi fühlt sich lange noch fremd in der Kessiner Welt: „So gut es ihr ging, sie fühlte sich trotzdem wie in einer fremden Welt“ (Fontane 2012, p. 102). C(Komp): Neben Gieshübler wird später auch Major von Crampas ‚kompetenzerweiternden‘ Einfluss auf Effi haben. Vgl. (Fontane 2012, p. 85). 153 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Wenn Innstetten unterwegs sei, dann stünde das Haus allein, aber „solch Spuk ist wie ein Cherub mit dem Schwert …“ (Fontane 2012, p. 153). Effi empfindet später rückblickend – nachdem sie sich emanzipiert haben wird – jenen ‚Angstapparat aus Kalkül‘ als beleidigend und grausam.217 Schwelle zur eigentlich fremden Welt Effis Verhältnis mit Crampas ist die eigentlich fremde Welt: einerseits individuelle Befreiung aus ihrer Opferrolle und andererseits ein gravierender Verstoß gegen die Regeln der gesellschaftlichen Ordnung. Für sie ist das Spiel mit Crampas nur ein weiteres Element ihrer Zerstreuung, sie nimmt in ihrer Erläuterung das Anfangsbild des Romans wieder auf, das der Schaukel, des Springens und Fliegens: Auf dem Schaukelbrett stehend, empfinde sie in dem Gefühl „‚jetzt stürz ich‘, etwas eigentümlich Prickelndes, einen Schauer süßer Gefahr“ (Fontane 2012, p. 136). Allerdings durchlebt sie ihre Affäre mit Crampas in Maskierung: Das Verbotene, das Geheimnisvolle hatte Macht über sie und sie lebte sich „in ein verstecktes Komödienspiel218 mehr und mehr hinein“. (Fontane 2012, p. 194) Das Abenteuer mit Crampas ist für Effi kein bewusst vollzogener Emanzipationsschritt gegenüber den gesellschaftlichen Anforderungen (also dem Entfremdungsrahmen gegenüber, in dem sie sich eingerichtet hat), sondern mehr ein ‚Spiel‘, im eigentlichen Sinne eine Maskerade, ein Spiel innerhalb der entfremdenden Verhältnisse, der Berliner wie der Kessiner. Auch das Ablegen der Maske (also die Beendigung der Affäre) zeigt eine bemerkenswerte Distanz zu ihren eigenen Gefühlen. Doch am Ende lässt die Affäre Effi wachsen, so bestätigt ihr Innstetten, noch unwissend: „[…] du hattest so was von einem verwöhnten Kind, mit einem Mal siehst du aus wie eine Frau“ (Fontane 2012, p. 206). Ihr Abenteuer wird aus dieser Perspektive zu einer Tauglichkeitsprüfung, Crampas übernimmt die Adjuvantenrolle und Effi reift zur Frau heran. Retardierendes Moment Die Rückkehr nach Berlin – noch in vermeintlich heiler Familienwelt – empfindet Effi als Befreiung: „Nun bricht eine andere Zeit an, und ich fürchte mich nicht mehr“ (Fontane 2012, p. 233). Sie kommt seelisch allerdings nicht zur Ruhe, sie empfindet Angst und vor allem Scham, allerdings nicht wegen ihrer Schuld,219 sondern wegen ihres ‚Lügenspiels‘,220 ihrer Verstellung und Maskie217 218 219 220 Vgl. (Fontane 2012, p. 154). Kursivsetzung durch mich. Das zeigt ein weiteres Mal, dass der Seitensprung für Effi nicht mehr als ein Spiel zur Zerstreuung war. Vgl. (Fontane 2012, p. 250). 154 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. rung. Hier nähert sie sich ihrem eigentlichen, unentfremdeten Kern, der Wahrhaftigkeit.221 Bruch des gobalen Vertrags Erst mit Effis und Crampas’ Affäre wird die gesellschaftliche Ordnung infrage gestellt, erst hier wird der globale Vertrag gebrochen: A(Ges). Und die Gesellschaft ruft den Widersacher aus dem Verhältnis zu Effi (A(Ind)) auf, um die Schmach zu tilgen. Hier nun wechselt das Anti-Subjekt seine Rolle zum Subjekt, ihm gebührt es nun, die Strafe der Gesellschaft zu exekutieren.222 Entscheidungsprüfung Der Entscheidungsprüfung setzt sich Crampas stellvertretend für Effi in einem Duell aus und bezahlt mit seinem Leben (auch Effi wird später mit ihrem frühen Tod ihre Schuld bezahlen). In der Konsequenz wird das anfängliche AntiSubjekt seines Gutes beraubt, so Innstetten: „Und diese Komödie muß ich nun fortsetzen und muß Effi wegschicken und sie ruinieren, und mich mit …“ (Fontane 2012, p. 279). Innstetten erfüllt den gesellschaftlichen Auftrag, die Beschädigung wiedergutzumachen, ohne dass er überzeugt ist: Jenes „uns tyrannisierende Gesellschafts-Etwas, das fragt nicht nach Charme und nicht nach Liebe und nicht nach Verjährung. Ich habe keine Wahl. Ich muß“ (Fontane 2012, p. 271). Noch deutlicher sein Sekundant oder besser: sein Adjutant Wüllersdorf: „[…] unser Ehrenkultus ist ein Götzendienst, aber wir müssen uns ihm unterwerfen, solange der Götze gilt“ (Fontane 2012, p. 272). Am Ende bringt Innstetten seine Kritik am gesellschaftlich Gebotenen auf den einfachen Punkt: Kultur und Ehre – „[…] dieser ganze Krimskram ist doch an allem schuld“ (Fontane 2012, p. 330). Innstetten wird zum Exekutor der beschädigten Ordnung, in einer Rolle, die ihm äußerlich bleibt.223 Er ist einer Emanzipation vom gesellschaftlichen Entfremdungsrahmen näher als Effi. Während sie gegen die gesellschaftlichen Regeln verstößt, bleibt sie doch fast vollständig in jenem Rahmen eingebunden. Und während Innstetten sich handelnd den gesellschaftlichen Regeln unterwirft, entfernt er sich kognitiv deutlich von deren Sinnhaftigkeit. 221 222 223 In dieser besonderen Perspektive wäre ein Vergleich mit der Figur der Iphigenie naheliegend. Allerdings wird Effi im entfremdenden Rahmen bis zuletzt verbleiben. Wollte man spielerisch beide Perspektiven oder Ebenen verknüpfen, stünde Innstetten in beiden Rollen sich selbst gegenüber: als Subjekt oder Held im gesellschaftlichen Auftrag (den er nur gedanklich, nicht aber praktisch ablehnt) stellt er sich dem Anti-Subjekt im Duell, also sich selbst im Verhältnis zu Effi. Aber eine solche Verknüpfung wäre sinnlos, weil sie eben beide Perspektiven zusammenwürfe und die Verhältnisse eher verdunkelte als erhellte. Erst am Ende schreibt Innstetten sich selbst einen Teil der Schuld zu, und zwar seinen Eitelkeiten und seinem Hang zum Schulmeistertum; vgl. (Fontane 2012, p. 329). 155 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Sanktionierende Prüfung Die glorifizierende wird zur sanktionierenden Prüfung, sie führt zur Bestrafung Effis und stellt die Geltung der Ordnung wieder her. Effis Rückkehr nach Berlin, die Entziehung ihrer Tochter, ihre Reue und Demut sind die Münzen, mit denen sie die Wiederherstellung der Ordnung bezahlt. Auch das Anti-Subjekt wird bestraft, Innstetten verliert ebenfalls sein Glück, so bestätigt Wüllersdorf: „Innstetten, Ihre Lage ist furchtbar, und Ihr Lebensglück ist hin“ (Fontane 2012, p. 269). Effi bleibt trotz ihrer Anpassungs- und Wiedergutmachungsbemühung ihrer Gesellschaft entfremdet; oder besser: Die Gesellschaft akzeptiert ihre Demut nicht, Effi bleibt ‚ausgestoßen‘: „Die Welt, in der Du gelebt hast, wird Dir verschlossen sein“, schreibt ihr ihre Mutter (Fontane 2012, p. 292), was sich nicht nur in der eltlerlichen Verweigerung ihrer Rückkehr nach Hohen-Cremmen zeigt, sondern auch in der Entfremdung ihrer zehnjährigen Tochter Annie. Das ist der erzählerische Kern der sanktionierenden Prüfung. Die Bestätigung ihrer Isolierung durch ihre Tochter224 raubt ihr den letzten Lebensmut, exekutiert also letztlich die Strafe in ihrem vollen Umfang. Gesellschaft Bei Fontane wird deutlich – wie beispielsweise auch in Irrungen, Wirrungen –, dass die Gesellschaft am Ende die Beschädigung ihrer Ordnung wieder korrigiert, sich aber nicht mit den ihr entfremdeten Subjekten versöhnt. Damit wird die Legitimität der gesellschaftlichen Ordnung vor der Folie subjektiver Wünsche und Begehrlichkeiten infrage gestellt. Die Sympathie des Erzählers verschiebt sich zugunsten der Subjekte, ohne deren Standpunkten in der dihêgêsis Geltung zuteil werden zu lassen. Oder gerade eben darin. Effis früher Tod225 ist die höchstmögliche Strafe der dritten Prüfung, Reue und Demut genügen nicht (woran selbst gesellschaftlich hochrangige Adjuvanten wie die Ministerin nichts ändern können). Effi stirbt versöhnt mit Innstetten und der gesellschaftlichen Ordnung, sie stand aus ihrer Perspektive niemals ‚außerhalb‘ – und nimmt ihre Strafe an: „[…] ich sterbe mit Gott und Menschen versöhnt, auch versöhnt mit ihm“ (Fontane 2012, p. 337); er habe ‚in allem recht gehandelt‘. Nach Effis Tod lässt Fontane noch einmal die Schuldfrage aufblitzen, indem er Effis Mutter fragen lässt: „[…] ich will nicht schuldlos ausgehen in dieser Sache, ob sie nicht doch vielleicht zu jung war“ – eine Frage, die der alte Briest an den Leser weitergibt: „Ach, Luise, laß … das ist ein zu weites Feld“ (Fontane 224 225 … was sich deutlich in der Antwortschleife Annies zeigt: „O gewiß, wenn ich darf“ (Fontane 2012, p. 314). Die Krankheit „zehrte still das Leben auf“ (Fontane 2012, p. 320). 156 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 2012, p. 339). Aber so weit ist das Feld gar nicht. Wüllersdorf und Innstetten kennen den Schuldigen: Kultur und Ehre, eben den ganzen Krimskram gesellschaftlicher und kultureller Vorgaben. 157 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. B.7. Theorie der Modalitäten (Greimas) Auf der Suche nach dem Gelenk zwischen Aktant und Handlung führt uns Greimas in seine Theorie der Modalitäten ein. Vor aller Performanz oder Handlung könne die Kompetenz als ein ‚Set von Modalitäten‘ mit Wollen, Wissen und Können betrachtet werden. Einfache modale Aussagen, die das Begehren des Subjekts beschreiben, erweitern sich zu solchen der Übermodalisation, in denen ein zweiter Aktanten ins Spiel kommt, dessen Intention sich auf eine Handlung des anderen bezieht. Am Ende dieses Ausflugs in die Theorie der Modalitäten wird sich ein nur sehr begrenzter Nutzen dieser Theorie für unsere Fragestellung zeigen. 7.1. Von der Kompetenz zur Performanz Greimas’ Modell scheint die Erzählung (mit welchen Einschränkungen auch immer) strukturell einigermaßen erfasst zu haben. Aber fehlt ihr noch etwas? – Noch offen scheint die Frage zu sein, wie die Aktanten (und dann auch die Akteure auf der Diskursebene) von ihren Zwecken oder Absichten zur eigentlichen Handlung gelangen, wie sie von ihrer Kompetenz zur Performanz übergehen. Es stellt sich also die Frage, ob es dazwischen so etwas wie eine Gelenkstelle gibt, die untersuchungswert ist. Greimas bietet hier tatsächlich etwas an, nämlich ein Geflecht aus Wollen, Können, Dürfen und Müssen. Erst die Modalitäten führten die Aktanten zur eigentlichen praxis. Letztlich geht es hier um die oben in der Bilanz zu Teil A erläuterten prohaíresis, also um die Frage, durch welche Kräfte und Eigenschaften das Individuum zur Entscheidung und damit zur Handlung gelangt. Wenn Rollen übernommen würden, komme es zur snytagmatischen Entfaltung der handlungsbereiten Aktanten, zur ‚syntagmatic progression‘.226 Auf einem narrativen Weg (trajectory) kann einem Aktanten eine bestimmte Anzahl von aktantiellen Rollen zufallen, die von seiner Position in der jeweiligen Narrationssequenz wie auch von seiner modalen Investierung227 definiert würden.228 So würde beispielsweise der Subjekt-Aktant nach und nach mit einem ‚wanting-to-do‘, ‚knowing-how-to-do‘ oder einem ‚being-able-to-do‘ ausgestattet (Stufen des Kompetenzerwerbs). Die aktantielle Rolle ist nach Greimas und Courtés das, was dem an einer bestimmten Position der Erzählung stehenden Aktanten – in seinem aktantiellen Status – modal bereichere (‚surplus which is 226 227 228 Vgl. (Greimas & Courtés 1982, p. 6). Greimas und Courtés unterscheiden zwischen syntaktischer Definition des Aktanten (Position in der Narrationssequenz) und dessen morphologischer oder modaler Investierung. Ein Held sei nur in einem bestimmten Teil der Erzählung ein Held, weder zwingend davor noch danach. Vgl. (Greimas & Courtés 1982, p. 5 f.). „Thus defined morphologically (by their modal content), and syntactically (by the position of the actant in the narrative trajectory)“ (Greimas & Courtés 1982, p. 6). 158 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. added‘). Allerdings darf man auf der semio-narrativen Ebene noch keine thematischen Rollen erwarten, die erst bei der Konstitution der Akteure auf der dritten, der Diskursebene, in den Blick kommen229. Noch einmal: Die aktantielle Rolle wird bestimmt durch die Stellung der Figur im narrativen Gefüge wie auch in ihrer modalen Ausstattung. Um das Subjekt (oder das Anti-Subjekt) als handelnd zu erfassen, also als Träger von Performanz – wie Greimas es nennt –, bedürfe es zunächst einer entsprechend handlungsbedingenden Kompetenz. In ihrem Zeitschriftenbeitrag The Cognitive Dimension of Narrative Discourse befassen sich Greimas und Courtés 1988 ein weiteres Mal mit der Verknüpfung von Kompetenz und Handlung und nehmen dafür die Gedanken Greimas’ aus Du Sens auf: Voraussetzungslogisch impliziere die Performanz eine vorherige Kompetenz und ‚motivationslogisch‘ müsse das Subjekt eine Kompetenz erwerben, um zum ‚Performer‘ zu werden. Diese Folge beschreibe der Schluss post hoc, ergo propter hoc230: Handlung nach der Kompetenz, als wegen ihr. Die Autoren betrachten Kompetenz als ein Set von Modalitäten231, das aus folgenden Elementen bestehe: ein Wollen-zu-tun (,volition-to-do‘), ein Wissen-zutun (,cognition-to-do‘) und ein Können-zu-tun (,power-to-do‘). Das Wollen-zutun sei die Spannung zwischen Virtualisierung und Aktualisierung, das Wissenzu-tun die Erinnerung an vergangene analoge Handlungen und das Können-zutun232 der Zuwachs an zukunftszugewandter Potenz aufgrund neuer Erkenntnisse. Aktantielle Rollen, so schließt Greimas seine Überlegungen in Du Sens ab, ließen nun klar unterscheiden zwischen den Aktanten selbst und deren Rollen, die die Erzählung nach und nach an die Akteure investiere. 229 230 231 232 „The conjunction of actantial roles and thematic roles defines the actor“ (Greimas & Courtés 1982, p. 343). Wörtlich übersetzt: mit diesem, folglich wegen diesem. Weil-Verbindungen in Erzählungen, so Koschorke, begnügten sich mit einer schwachen Motivierung. „Das Elixier der Narration besteht gerade in dieser Interferenz – in der nicht vollständig determinierten Zone zwischen den Modalitäten der Verknüpfung“ (Koschorke 2013, p. 75) – was den Leser anrege, die Geschichte probeweise durch Handlungsgründe zu ergänzen. Es stellt sich die Frage, ob die Modalitäten wirklich ausschließlich den Kompetenzen angehören. Mit der Ausnahme des Willens kann man die Frage fürs Subjekt bejahen. Was allerdings damit nicht schon feststeht, sind Verlauf und Ausgang der Performanz. Denn dort stehen sich zwei kompetente Subjekte gegenüber. Erst in der Performanz entscheidet sich die Qualität der jeweiligen Kompetenz, und das zunächst völlig unabhängig davon, ob sich die Subjekte konkurrierend gegenüber- oder sich solidarisch zur Seite stehen. In jedem Fall beschreibt die Kompetenz lediglich die Handlungs-Tauglichkeit, nicht die Handlung selbst oder gar deren Konsequenzen. Jede Kompetenz ist ein ‚Können-von-etwas‘, die Performanz ist dann die Realisierung, die Durchführung jenes ‚Etwas‘. In der Qualifikation des Subjekts scheint der Vollzug der Kompetenz immer schon auf, aber eben nur im Status des ‚Noch-nicht‘ oder der ‚Simulation‘, wie es bei Greimas an anderer Stelle heißt; vgl. (Greimas 1987, p. 110). 159 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Wenden wir uns damit nun dem zu, was die Aktanten antreibt oder bewegt: ihren Modalitäten. 7.2. Modale Strukturen Im Gespräch mit Peter Stockinger erklärt Greimas Folgendes: Begonnen habe die Konstruktion einer ‚autonomen semio-narrativen Syntax‘ mit einer ‚kleinen Theorie des Umlaufs von Wertobjekten‘233, „d.h. mit der Tatsache, daß eine Erzählung auf der Verschiebung von Wertobjekten aufbaut“ (Greimas, 1983, p. 271). Damit nun die Objekte umlaufen könnten, benötige man Subjekte, die die Objekte anzögen oder abstießen. Die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt spiegele sich in narrativen Programmen wider, die eben für die Verschiebung der Objekte verantwortlich seien. Und hierfür, so Greimas, benötige es Wissen234 und Kommunikation auf der Seite der Subjekte. Er habe nun den Umlauf der Wertobjekte mit der Modalität des Wissens zusammengebracht und damit eine neue, eine ‚modale Syntax‘ erzeugt. Und gar nicht bescheiden sagt er abschließend: „Ihre Erstellung war die zweite Revolution235 in der Semiotik und charakterisiert die Forschungsdekade der siebziger Jahre“ (Greimas, 1983, p. 271). 7.2.1. Modale Aussagen und Übermodalisation „Die Einführung der Modalität des Wollens in die Oberflächengrammatik gestattet die Aufstellung von modalen Aussagen mit zwei Aktanten, dem Subjekt und dem Objekt. Die Achse des Wunsches, die sie verbindet, gibt die Berechtigung, sie ihrerseits semantisch als ein mögliches Performanz-Subjekt und ein in einem Wert eingesetztes Objekt zu interpretieren.“ (Greimas 1972, p. 57) Greimas vertieft seine Untersuchung zur Typologie narrativer Aussagen. Er fügt der einfachen narrativen Aussage236 das Modalverb wollen hinzu. In einer so erweiterten Aussage träten zwei Aktanten auf, das anthropomorphe Klassem Wollen237 setze auf der einen Seite ein Aktant-Subjekt ein und auf der anderen ein Aktant-Objekt,238 worauf sich das Wollen des Subjekts ausrichte. Die modale 233 234 235 236 237 238 Vgl. (Greimas, 1983, p. 271). Wissen zählt bei Greimas zu den Modalitäten. Die erste Revolution war nach Greimas die Entdeckung der Tiefen- und semio-narrativen Oberflächenstruktur (beeinflusst von Lévi-Strauss und eben Propp); vgl. (Greimas, 1983, p. 269). EN = F(A), siehe oben in B.1 Ausführungen zur einfachen narrativen Aussage. Woher Greimas auch immer die Modalität abgeleitet hat, sie wird tatsächlich zu einem wesentlichen Moment des Übergangs zum Handeln. Aktanten sind nicht zwingend Subjekte. 160 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Aussage könne also interpretiert werden als „‚Wunsch zur Realisierung‘ eines Programms“ (Greimas 1972, p. 56). Oder auch einfach als Begehren. Schon in der einfachen Struktur der modalen Aussage wird Disjunktion vorausgesetzt: Warum sollte jemand etwas wollen, wenn er es schon hätte? Also schon vor aller polemischen Struktur – also vor dem Bezug auf weitere SubjektAktanten – ist der Modalität des Wollens bereits die Trennung von dem Objekt des Begehrens inhäriert. Handlung oder Performanz ist dann nur die logische Konsequenz der Artikularisierung des virtuell Erwünschten, nämlich – in der Greimas’schen Terminologie – der Transformation der Disjunktion in Konjunktion: das Zusammenkommen mit dem Objekt seiner Begierde.239 Ein Aktant-Subjekt begehrt also ein Aktant-Objekt und ist im Begriff, ein virtuelles Programm in ein aktualisiertes zu transferieren. Es befindet sich an der Schnittstelle zur Handlung. Greimas knüpft an die Frage nach der ‚Spannung‘ an, die sich zwischen einem Nullpunkt einerseits und einer Stelle andererseits erstrecke, an der Absicht in Handlung umschlage. Eine solche Spannung könne durch ‚modale Überdeterminationen‘240 erfasst werden. Darunter versteht er das Movere des Subjekts, Antrieb also oder Motivation. Eine modale deontische Struktur beispielsweise zeige sich, so Greimas und Courtés in deren Sémiotique, wenn die modale Aussage des having-to-do eine Handlungsaussage überdeterminiere – im Sinne einer Impuls-Überlagerung. Aus der einfachen modalen Aussage des ‚Ich will dieses Objekt‘ wird sozusagen eine verdoppelte im Sinne eines ‚Ich will dass du dieses und jenes tun willst‘. 7.2.2. Modalität auf der Strukturebene Ein kurzer Überblick über die Modalstrukturen soll die Arbeitsweise Greimas’ nicht nur veranschaulichen, sondern auch überprüfen, ob die Modalität tatsächlich der missing link zwischen Subjekt und Handlung und damit für unser Untersuchung hilfreich ist. Greimas setzt Handlung und Sein in vier Bestimmungsverhältnisse und hofft damit, eine Struktur von Modalitäten hinreichend abbilden zu können. Neben der Performanz, also dem Tun (bei Greimas heißt das: ‚von der Handlung zum 239 240 Der Gegenstand des Wunsches – das Aktant-Objekt – könne weiter differenziert werden in solche Objekte, die keines zweiten Aktant-Subjekts bedürften und sich nicht auf die Ordnung des Tuns bezögen, sondern auf die des Habens oder Seins: ‚Peter will einen Apfel‘ (Haben); ‚Peter will gut sein‘ (Sein). Solche attributiven Aussagen bildeten Unterklassen der distributiven. Die Klassifizierung von Aussagen führt uns an dieser Stelle aber nicht weiter. In ihrer Sémiotique definieren Greimas/Courtés Modalisation wie folgt: „[…] modalization can be conceived as the production of a so-called modal utterance, which over-determines a descriptive utterance“ (Greimas & Courtés 1982, p. 193). 161 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Sein‘), siedelt er die Kompetenz an (‚vom Sein zur Handlung‘); und ihnen zur Seite stellt er die weiteren Kombinationsmöglichkeiten von Handlung und Sein: die veridiktorischen Modalitäten (‚vom Sein zum Sein‘) im Sinne von ‚Wahrheitsspielen‘241 und die faktitiven Modalitäten (‚von der Handlung zur Handlung‘), womit sich ein Subjekt auf ein anderes mit der Intention beziehe, dass dieses etwas tue. Dass die letztgenannte faktitive Modalität für die Analyse von Aktanten die entscheidende ist, wundert nicht: Ein modales Subjekt, so Greimas, beziehe sich initiierend, instruierend (causing-to-do)242 auf ein Subjekt der Handlung, das den Impuls empfange und etwas tue oder unterlasse. Das modale Subjekt bringe das modalisierte Subjekt dazu, etwas herzustellen (causing-sth-to-be-made), etwas zu lernen (causing-to-know) oder/und etwas zu glauben (causing-to-believe).243 Während der Auftraggeber oder Adressant in diesem Verhältnis mit kognitiven Modalitäten ausgestattet sei, verfüge der Held oder Adressant über pragmatische. Das wird in Kürze näher erläutert. Am Beispiel der faktitiven Modalitäten demonstriert Greimas sein Untersuchungsdesign. Acht Paarungen seien denk- und konstruierbar244 und stünden der Wahl des pragmatischen (also des später handelnden) Subjekts in dem Moment zur Verfügung, in dem es mit dem Angebot eines Kontrakts konfrontiert werde; also in dem Moment, in dem ihm ein Adressant – mithilfe einer faktitiven Modalität – den Inhalt seines Angebots, Befehls oder seiner Botschaft übermittele. Der Adressat könne das Vertragsangebot nun entweder akzeptieren (in einer der vier kompatiblen Modalitäten) oder ablehnen (inkompatible Modalitä- 241 242 243 244 … „as the framework within which cognitive activity, epistemic in nature, is carried out“ (Greimas & Courtés 1982, p. 369). In ihrer Sémiotique engen Greimas und Courtés den Zusammenhang nicht so ein wie Greimas allein in seinem Du-Sens-Beitrag: Während er dort nur von der pragmatischen Kompetenz von S1 spricht (die von der kognitiven Performanz von S2 regiert werde), erweitern die Autoren die modalisierte Aussage zu einer von Kompetenz und Performanz; vgl. (Greimas & Courtés 1982, p. 115). Nur so ist der Zusammenhang nachvollziehbar. Die faktitive Modalität, so verspricht Greimas, werde sich als eine der wesentlichen Kategorien zeigen: „[…] as one of the universals that could account for a number of signifying human practices“ (Greimas 1987, p. 127). Kompatible Modalitäten: – aktiver Gehorsam: etwas tun müssen und gleichzeitig wollen – passiver Wille: weder müssen noch wollen, etwas nicht zu tun – passiver Gehorsam: etwas tun müssen und nicht wünschen, es nicht zu tun – aktiver Wille: etwas wollen, ohne dass es untersagt ist Inkompatible Modalitäten: – passiver Widerstand – aktiver Widerstand – passive Willenlosigkeit – aktive Willenlosigkeit oder -schwäche (abulia). 162 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. ten). Eine solche Entscheidung zu treffen, gehöre zur kognitiven Performanz245 des Adressaten. Auch könne man aufgrund einer solchen Typologie – aus der Perspektive nun wieder des Adressanten – zwei Arten von Kontrakt unterscheiden: Kontrakt als Befehl und Kontrakt als Erlaubnis (wobei der Übergang zum Tun-Müssen hier nur optional sei).246 Ich wage zu behaupten, dass eine solche ‚homologisierende‘ Gegenüberstellung von Modalitäten im Grunde kaum erkenntnisfördernd ist. Die Matrix, die Greimas anbietet, leitet meines Erachtens nicht zu einem tieferen Verständnis der Vertragsschließung in Erzählungen, sondern befriedigt eher das Interesse des Linguisten an solchen Kombinationsspielen247. Dem interessierten Leser sei das vertiefte Studium der Greimsschen Ausführungen ans Herz gelegt. 7.2.3. Nutzen der Theorie der Modalitäten Was hat Greimas oder haben wir mit ihm bisher erreicht? Seine Ansprüche sind bescheiden, er möchte nur Anstöße für ‚zukünftige Forschungen‘ geben, dass man später beispielsweise eine Theorie der Handlung (‚theory of performance‘) in zwei Richtungen entwickeln können sollte, in eine Theorie der Manipulation und eine Theorie der (engeren) Handlung (theory of action); Ähnliches erwartet er für eine Theorie der Kompetenz. Was wir aus Greimas’ Überlegungen zu den modalen Strukturen mitnehmen können, ist begrenzt. Allein die eben erwähnte ausschließliche Zuordnung der kognitiven Modalitäten zum Auftraggeber und der pragmatischen zum Adressaten macht stutzig. Meiner Einschätzung nach zeichnen sich alle Aktanten durch Tun und Wissen aus, und zwar an jedem Punkt der syntagmatischen Linie. Betrachten wir exemplarisch zunächst den Auftraggeber oder Adressanten und anschließend den Auftragnehmer oder Helden. 245 246 247 Was Greimas hier als ebenso fruchtbringend in Aussicht gestellt hat, löst er gemeinsam mit Courtés in deren Sémiotique ein, nämlich die Konfrontation von Tun-Müssen (virtualisierende Modalität) und Tun-Können (aktualisierende Modalität). Einem bestimmten modalen Wert (having-to-…) stünde ein anderer (being-able-to-…) gegenüber: – der Vorschrift der Gehorsam – dem Verbot die Machtlosigkeit – der Erlaubnis die Freiheit – der Wahlfreiheit die Unabhängigkeit; vgl. (Greimas & Courtés 1982, p. 23 f.). (a) Kontrakt als Befehl (injunctive contract): Verfügungsvertrag: having-to-do => wanting-to-do; (b) Kontrakt als Erlaubnis (permissive contract): wanting-to-do => having-to-do (hier ist der Übergang zum Tun-Müssen nur optional – was nachvollziehbar ist: Eine Erlaubnis führt nicht zwingend zur erlaubten Handlung; vgl. (Greimas 1987, p. 137). Mehr noch: Wenn ich beispielsweise von aktiver Willenlosigkeit oder Willensschwäche rede, dann führt die Modalität wanting-not-to-do in die Irre, denn hier wird ja gerade ein Wille vorausgesetzt, etwas nicht zu tun, weshalb das wanting-not-to-do sich völlig richtig genauso in der Beschreibung des aktiven Widerstands wiederfindet. 163 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Wenn der Auftraggeber den Helden zu einer Handlung anstoßen will (= causing-to-do), dann sind Kompetenz und Performanz bei ihm vorausgesetzt, vor allem eine kognitive Kompetenz – worum geht es, warum ist etwas zu tun, welche Schritte sind nötig? –, letztlich also ein Wissen über Zweck und Mittel.248 Diese kognitive Kompetenz muss aus dem Zustandsstatus heraus auf einen Handlungsvollzug übertragen werden: Der Held muss überzeugt werden. Während eine solche Performanz als Sprachhandlung an das Kognitive gebunden bleibe, komme die kognitive Kompetenz des Adressanten im veridiktorischen Bereich zu liegen249. Auch beim Helden erschöpft sich die modale Struktur nicht in pragmatischer Kompetenz und Performanz. Denn auch er muss zunächst rezeptiv den Auftrag, das Angebot, den Befehl kognitiv verarbeiten, um ihn annehmen oder ablehnen zu können. Also wird auch er im Bereich des Veridiktorischen zu einem Schluss kommen müssen. Diese konstruktive mentale Leistung setzt auch bei ihm eine kognitive Kompetenz voraus. Die pragmatische Kompetenz taucht auf der syntagmatischen Strecke erst später auf, dort nämlich, wo der Held seine Schritte, seine Mittel wählt oder auch erst von einem Adjuvanten dafür tauglich gemacht wird. Das Pragmatische auf dem Feld des Faktitiven ist unproblematisch: Das eine Tun (in der Kompetenzaufrufung oder -aneignung) führt zu einem anderen Tun, das das eigentliche Ziel des causing-to-do des Auftraggebers ist. Die faktitive Modalität schließt sozusagen die veridiktorische mit ein, wie sichtbar oder unsichtbar der Adressant auch immer für den Adressaten innerhalb der Fiktion (oder für den Leser außerhalb) ist. Ich möchte nicht den Greimas’schen Ansatz verwerfen, sondern lediglich für eine höhere Flexibilität in der Zuschreibung modaler Strukturen auf die Aktanten werben, um zu vermeiden, was bei der Lektüre Greimas’ sich leicht einstellen kann: die Vermutung nämlich, dass er allzu sehr von einer formalen, linguistisch geprägten Verteilungs- und Paarungslogik verführt worden ist. 7.2.4. Matrix der Greimas’schen Begriffe Greimas scheint sich in in seinen ‚vorbereitenden‘ Gedanken zu einer Theorie der Modalitäten250 etwas verloren zu haben. Er sagt am Ende, dass er seinen Aufsatz begonnen habe mit dem Vergnügen, die Existenz eines zu untersuchen248 249 250 Wie sehr auch die Frage nach den geeigneten Mitteln der phrônesis des Helden überlassen werden kann, die Richtung wird ihm in der Regel vorgegeben. Kenntnis des Seins, auch wenn es sich auf dem Quadrat der Wahrheit unterschiedlich positionieren kann, sich also als Lüge, Falschheit, Wahrheit oder Geheimnis kleiden kann. Toward a Theory of Modalities – so der Titel seines Du-Sens-Beitrags. 164 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. den Bereiches aufzudecken, im Laufe der Arbeit aber zu einer immer fortgeschritteneren Entfaltung des Themas gekommen sei, ohne allerdings den weiten Bereich der Modalität genügend erforscht zu haben. Er nimmt sich vor, in einem späteren Beitrag über epistemische Modalitäten nachzudenken. Was die vorliegende Arbeit angeht, so sind die geernteten Früchte mager oder, um im Bild zu bleiben, unreif. Niemand bezweifelt die Relevanz der Modalitäten, wenn es um die Beschreibung des ‚subjektiven Faktors‘ innerhalb von Erzählungen geht; auch bezweifelt niemand die Bedeutung jener Modalitäten, wenn zwei Subjekte aufeinandertreffen. Aber das Auflisten denkmöglicher Kombinationen von Modalitäten erscheint dann doch mehr dem Spieltrieb des Linguisten geschuldet zu sein als dem Anspruch auf brauchbaren Erkenntnisgewinn. Oder anders gesagt: Greimas’ Versuch eines Theorieansatzes zeigt sich als merkwürdige Gemengelage von Übererfüllung und Lückenhaftigkeit. Es sei dennoch erlaubt, die Begriffe, die Greimas uns in seinem Beitrag angeboten und erläutert hat, in einer Skizze zu visualisieren (siehe folgende Seite). Der Ansatz einer Theorie der Modalitäten schien im Anschluss an die Untersuchung der aktantiellen Rollen vielversprechend, weil ich für sie eine höhere Trennschärfe erwartet hatte. Auch war die Lektüre der Modalitäten-Theorie von der Hoffnung begleitet, tiefer in die Struktur der Erzählfiguren einzudringen, denn was anderes als diese Struktur spiegeln die Paragraphen des Moralischen Paktes? Unterm Strich vermitteln die Ergebnisse aber nur, was ohne intellektuellen Aufwand leicht erschließbar gewesen wäre. Es mutet zum Teil so an, als ob der Chemiker das aus dem Hahn strömende Etwas auf Molekularebene beschriebe, um am Ende dann – heureka! – festzustellen, dass es sich um Wasser handelt. Das having-to-do beispielsweise im semiotischen Quadrat führt zu nichts weiter als dazu, wozu einen einfaches Nachdenken über die Modalitäten des Müssens und Dürfens führen würde. Selbst die Konfrontationen von Modalitäten ergeben am Ende mehr ein diffuses Bild, was deren Wert für die Vertiefung aktantieller Rollen angeht. Spiele mit dem semiotischen Quadrat führten Greimas zu merkwürdigen Unterscheidungen wie zu einem passiven Willen251 oder zu einer aktiven Willensschwäche. Aber auch manche ‚erschlossene‘ Ergebnisse scheinen banal zu sein: Eine Vorschrift unterstellt erwarteten Gehorsam, ein Verbot eigene Macht, eine Erlaubnis begrenzte Freiheit252 und Wahlfreiheit endlich wirkliche Unabhängigkeit. – Ach! 251 252 Selbst das ‚Ich will etwas tun, tue es aber nicht‘ unterstellt doch einen aktiven Willen, der eben das Tun verhindert, also dem (ebenso aktiven) Tun-Wollen im Weg steht. Und wenn der Wollende gefesselt sein sollte, dann gebräche es dem Willen nicht an Aktivität, das Nicht-Tun läge auf einer anderen Ebene als der eines Willensmerkmals. … in dem Sinne einer Freiheit, die nur soweit zugestanden wird, wie eben der Erlaubnisgebende in seiner Machtfülle zu geben bereit ist. 165 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 166 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Ich kehre zu den Aktanten zurück, verlasse nun aber Greimas und wende mich wieder Ricoeurs zu, nämlich seiner Theorie der narrativen Identität – in der Hoffnung, hier eher fündig zu werden, mehr zu erfahren über die Strukturen der figurativen Komponenten einer Erzählung – und damit über die Verankerung des Moralischen Paktes auch und gerade in der Struktur des Erzählpersonals. 167 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. B.8. Ricoeurs mimêsis II Die dreifache mimêsis Ricoeurs kommt hier zu ihrer zweiten Stufe, der Ebene der Konfiguration. Konfiguriert werden unzusammenhängende, zerstreute und lediglich am Faden der Chronologie aufgereihte Ereignisse, indem sie sich einer ordnungsstiftenden Kausalität und Finalität unterordnen: Das Dissonante werde, so Ricoeur, in Konsonanz überführt und der auktoriale Akt pendele zwischen Sedimentierung und Neuschöpfung. 8.1. Ricoeurs Hypothese zur Rolle der Zeit Ricoeurs Ansatz ist kühn. Nicht so sehr wegen des bereits bekannten Zusammenhangs der dreifachen mimêsis: dass nämlich die mimêsis II, also die Textkonfiguration, zwischen der Vorgestaltung (préfiguration) des praktischen Feldes und seiner Neugestaltung (refiguration) in der Rezeption des Werkes vermittelt“ (Ricoeur 2007a, p. 88). Kühn ist Ricoeurs Ansatz vielmehr in der Hypothese, die er auf die Probe stellen möchte: dass nämlich „[…] die Zeit in dem Maße zur menschlichen wird, in dem sie sich nach einem Modus des Narrativen gestaltet, und daß die Erzählung ihren vollen Sinn erlangt, wenn sie eine Bedingung der zeitlichen Existenz wird“ (Ricoeur 2007a, p. 87). Die Frage, die sich dem Leser der Ricoeur’schen Hypothese stellt, ist folgende: Wird hier nicht die Bedingung des Narrativen, nämlich auf einer Zeitlinie zu verlaufen (wie alle Handlungen des Kreatürlichen), zu einem Konstituens des Narrativen erklärt? Liegt hier, so der Verdacht, eine Verdrehung zweier Bedingungsverhältnisse vor? Wird das Verhältnis zwischen Zeit und Narration womöglich auf den Kopf gestellt, so dass die Narration zur Bedingung der Zeit(erfassung) erklärt werden kann? Wird hier nicht unter der Hand eine Grundlage oder Bedingung – was nun einmal die Zeit (und auch der Raum) ist – in einen Grund verwandelt? Liegen wir mit unserem Alltagsbewusstsein253 falsch, die Zeit lediglich als Voraussetzung allen Geschehens und Handelns zu nehmen? Wenn von Handlung und Geschehen erzählt wird, so der naheliegende Gedanke, dann wird sicherlich auch und völlig unproblematisch die zeitliche Einbettung mit konstituiert. Die Zeit kann über ihre Rolle als Bedingung von Handlung und Geschehen hinaus auch selbst zum Gegenstand werden: Es wird dann von der Zeit erzählt. Aber auch das erscheint mir unproblematisch. Und es überrascht nicht, dass Ricoeur nur solche Erzählungen als Illustrationen bemüht, die er ‚Fabeln von der Zeit‘ nennt.254 253 254 … und daran wage ich mich anzulehnen. Thomas Manns Zauberberg, Virgina Woolfs Mrs. Dalloway und Marcel Prousts Recherche. 168 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Ricoeurs Anspruch geht aber weit darüber hinaus und evoziert weitere Fragen: Wird die Zeit wirklich erst dann zur menschlichen Zeit, wenn sie sich nach dem ‚Modus des Narrativen‘ gestaltet? Die Grundelemente der Sukzession – das Vorher und das Nachher im ‚Dann-und-dann‘-Modus – machen noch keine Erzählung aus, sondern eben nur das Durchlaufen von etwas Zukünftigen durch die Gegenwart in die Vergangenheit (vgl. die Äußerungen eines Gedichtvortragenden bei Augustinus).255 Und der zweite Teil der Ricoeur’schen These – der vollständige Sinn einer Erzählung sei erst unter der Bedingung der zeitlichen Existenz zu haben – bürdet dem Leser die Last auf, die Erzählung erst als Bedingung der zeitlichen Existenz begriffen zu müssen. Man wird Ricoeur zugutehalten, dass er die Handlung nie aus den Augen verloren hat, weil er nach wie vor von mimêsis spricht, also der Nachahmung von Handlung. Dennoch neigt er dazu, die Rolle der Zeit in Erzählungen überzustrapazieren. Erst die narrative Konstruktion von Zeit, so ist Ricoeur zu verstehen, erlaube dem Menschen, Zeit als seine, eben als menschliche zu erfassen. Dass hier ein Zirkel256 zwischen Erzählen und zeitlichem Sein vermutet werden könne, gesteht Ricoeur selbst ein, weist allerdings ein mögliches Bedenken als rhetorische Frage zurück: „Verurteilt dieser Zirkel nun das ganze Unternehmen dazu, nur eine gewaltige Tautologie darzustellen?“ Er hoffe zeigen zu können, „daß der Zirkel etwas anderes sein kann als eine tote Tautologie“ (Ricoeur 2007a, p. 89). Das Verhältnis zwischen Zeit und Erzählung bleibt aber ein verworrenes, verwickeltes – oder wie Stefanie Bläser es nennt: ein ‚intrikates‘.257 Es kann nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit sein, Ricoeur weiter auf seinem Pfad der Zeitkonstituierung durch Erzählungen zu begleiten. Das würde uns zu weit entfernen von unserer These eines Erzählungen zugrunde liegenden Moralischen Paktes. Was unserem Anliegen allerdings von Nutzen zu sein scheint, sollte betrachtet werden, und das ist eben die dreifache mimêsis als Modell. 255 256 257 Ricoeur zitiert Augustinus: „‚So zerspannt sich diese meine lebendige Tätigkeit in die Erinnerung dessen, was ich aufgesagt habe, und die Erwartung dessen, was ich noch sagen will. Gegenwärtig dagegen ist mein Aufmerken, durch welches das Zukünftige hindurchschreiten muß, daß es zur Vergangenheit werde‘“ (Ricoeur 2007a, p. 37). Augustinus habe gezeigt, so Ricoeur weiter, dass es lediglich eine dreifache Gegenwart gebe, die Gegenwart der Zukunft (ich verpflichte mich jetzt, etwas morgen zu tun), der Vergangenheit (ich habe die Absicht etwas zu tun, weil ich gerade eben gedacht habe …) und der Gegenwart (ich tue etwas jetzt, weil ich es jetzt tun kann): Gegenwart des Tunkönnens. Ein menschliches Zeitbewusstsein ist der Konstruktion von Erzählungen vorausgesetzt, die nun wiederum Basis einer ‚menschlichen Zeiterfahrung‘ sei. Es drängt sich immer wieder die Frage auf, was nun was bedingt. Die Zeit die Erzählung oder diese jene? Oder ist alles eine Frage der Prädikation? Die Zeit wird zur menschlichen nur als narrative? Und das Narrative bedarf der Zeitlichkeit, um sich zu konstituuieren? Irritierend … Vgl. (Bläser 2015, p. 25). 169 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 8.2. Das Modell „Der Wortkünstler erzeugt keine Dinge, nur Quasi-Dinge; er erfindet ein Als-ob.“ (Ricoeur 2007a, p. 77) Mit der mimêsis II wendet sich Ricoeur nun dem ‚Reich des Als ob‘ zu, dem zweiten Referenzrahmen des Narrativen neben der wirklichen Vergangenheit (die sich in historischen Erzählungen niederschlage).258Inwieweit das narrative Verstehen über das praktische hinausgehe, was die Erzählung also dem Begriffsnetz der mimêsis I hinzufüge, zeige sich in diskursiven Merkmalen; während das Begriffsnetz synchroner Natur sei (und damit von paradigmatischer Ordnung),259 seien die Regeln der narrativen Komposition (mimêsis II) diachronischer Art (und damit syntagmatischer Ordnung). Die mimêsis II vermittelt nicht nur die prä-figurative mit der re-figurativen Ebene, sondern sie leistet auch als Kon-figuration selbst eine Vermittlung, und zwar eine dreifache:260 – Vermittlung zwischen singulären Ereignissen und erzählter Geschichte. Die Ereignisse seien (im Rahmen der Geschichte) mehr als der Einzelfall und die Geschichte mehr als die bloße Aufzählung von singulären Ereignissen: „Kurz, die Fabelkomposition ist der Vorgang, der aus einer bloßen Abfolge eine Konfiguration macht“ (Ricoeur 2007a, p. 106). – Die Fabel vereinige heterogene Faktoren „wie Handelnde, Ziele, Mittel, Interaktionen, Umstände, unerwartete Resultate usw“ (Ricoeur 2007a, p. 106). 258 259 260 Auf der Ebene der mimêsis II werden allerdings noch nicht Referenz- oder Wahrheitsprobleme berührt. Paradigmatische Relationen sind solche der Struktur: Das Lexem Apfel kann Beziehung aufnehmen grün, faul, wurmstichig, golden, aber das ist ein virtueller, synchron angebotener Vorrat, den die paradigmatische Beziehung vorhält. Die paradigmatische Achse ist die Verbindung, die jedes Element mit einem anderen virtuell eingeht, „die an dessen Stelle stehen könnten und ihm damit in gewissem Sinne ähnlich sind“ (Volli 2002, p. 50). Erst in der Aktualisierung einer diachronen Rede wird aus der paradigmatischen Beziehung eine snytagmatische, sozusagen die in die Zeitlinie gesetzte Relation von Apfel und grün (die alle anderen Angebote des Paradigmas für diesen Vorgang solange ausschließt, bis ein weiteres Element wie wurmstichig ebenfalls aktualisiert würde). Diese Art, so Volli, besteht „in der eigentlichen raum-zeitlichen Kontiguität, d.h. dem Umstand, daß ein gewisses Element da ist, und dazu ein weiteres und dazu noch eines usf“ (Volli 2002, p. 49 f.). Erst nach Abschluss einer syntagmatischen Beziehung im Satz oder Text bleibt der Rest des Nicht-Aktualisierten im Dunkel des Sprachvorrats. Mit den Worten Vollis zusammengefasst: Auf der syntagmatischen Achse stehen die Elemente im Verhältnis der ‚Nachbarschaft‘, auf der paradigmatischen im Verhältnis der ‚Ersetzbarkeit’. Es ist mehr derselbe Vorgang, nur aus verschiedenen Perspektiven betrachtet: aus einer Ereignisabfolge wird eine Geschichte, dabei wird Heterogenes unter die Einheit dieser Geschichte subsumiert, indem das Chronologische unter die Herrschaft von Kausalität und Finalität gestellt wird. 170 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Hier leiste die Konfigurationstätigkeit den Übergang vom Paradigmatischen (als Vorrat) zum Syntagmatischen der narrativen Linie. Ricoeur bezeichnet den Konfigurationsprozess als ‚dissonante Konsonanz‘,261 weil er alle paradigmatisch vorliegenden Elemente der Handlungssemantik der mimêsis I in eine syntagmatische Ordnung bringe, aus dem Dissonanten, dem Zerstreuten, des ‚Vorrats‘ ein einheitliches Werk bilde, eben etwas Konsonantes, ZusammenKlingendes. – Vermittlung zwischen Zeitmerkmalen. So knapp wie möglich: Die Konfiguration verbinde zwei Zeitdimensionen, eine episodische = chronologische Dimension und eine konfigurierende = nicht-chronologische. Vereinfacht: eine erste Dimension des Nacheinanders und eine zweite des Weswegens oder Zusammenhangs. Während die episodische Dimension die narrative Zeit in die Nähe der linearen Zeitvorstellung (‚dann-und-dann‘, ‚und so weiter‘, in Übereinstimmung mit der unumkehrbaren Ordnung der Zeit) bringe, verwandle die konfigurierende Dimension die Episodenfolge in eine bedeutungsvolle Totalität, ordne sie einem ‚Thema‘ unter. Eine Geschichte nachvollziehen heiße, bekannte Episoden als zu diesem (Erzähl-)Ende führend zu erfassen. Ricoeur und Greimas kommen sich hier ganz nah. Nur dass eben Greimas diesen ‚disparaten Faktoren‘ wie Aktanten, Zielen, Umständen und deren Handlungen sehr viel mehr Aufmerksamkeit zu schenken scheint als Ricoeur (dem es ja vor allem um Zeiterfahrungen geht). Eine erste Synthetisierung stellt Greimas bereits vor der Diskursebene heraus, nämlich die strukturale Synthetisierung auf der semio-narrativen Ebene vor jeder erzählten Handlung. Während Ricoeur die Vermittlung zwischen chronologischen und nicht-chronologischen Zeitstrukturen hervorhebt,262 lässt sich Greimas nicht durch die Zeit beschränken, sondern arbeitet den Bezug der handelnden Aktanten aufeinander als Grundstruktur heraus und siedelt den diachronen Vollzug der Handlungen dann erst auf der dritten, der Diskursebene, an, auf der die nun zu Akteuren ‚gereiften‘ Aktanten mit Zeit, Raum und Themen investiert werden. Für Ricoeur hingegen ist jene konfigurierende Dimension die Grundbedingung für die Rezeption und damit weitet er den Blick über Greimas hinaus und 261 262 Den Begriff der dissonanten Konsonanz hat Ricoeur bereits im ersten Kapitel von Zeit und Erzählung eingeführt (Auseinandersetzung mit Augustinus und Aristoteles). Das tragische Modell, so Ricoeur, sei ein Modell nicht der Konsonanz, sondern der dissonanten Konsonanz und damit ein Gegenstück zur distentio animi (der Augustinischen ‚Zerspanntheit’ der Gegenwart in eine dreifache Gegenwart, die der Vergangenheit, die der Gegenwart und die der Zukunft). Die von der Fabel beherrschten Episoden verliehen dem Werk Breite und damit ‚Ausdehnung’. Was Aristoteles verbanne, „sind nicht die Episoden, sondern die episodische Textur“ (Ricoeur 2007a, p. 72) – nicht also die Inhalte, sondern lediglich die Merkmale der Zufälligkeit in ihrer Aufeinanderfolge. Das ist für ihn die ‚innere Dialektik der Fabel‘. 171 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. trifft auf den Leser:263 „Die Geschichte verstehen heißt zu verstehen, wie und warum die einander folgenden Episoden zu diesem Schluß geführt haben, der keineswegs vorhersehbar war, doch letztlich als annehmbar, als mit den zusammengestellten Episoden kongruent erscheinen muß“ (Ricoeur 2007a, p. 108). Die Zeit, so Ricoeur, werde nun selbst erfahrbar: „Es ist, als drehte die erinnerte Sammlung die sogenannte ‚natürliche‘ Zeitordnung um. Indem wir das Ende im Anfang und den Anfang im Ende lesen, lernen wir es auch, die Zeit selbst gegen den Strich zu lesen264 […]“ (Ricoeur 2007a, p. 109). Nun ja, am Anfang liest der Rezipient noch kein Ende, aber es ist deutlich, worauf Ricoeur hinauswill. Es stellt sich nur die Frage, ob er nicht auch hier Gefangener seiner Zeit-Fixierung geworden ist. Natürlich kehrt sich im Rückblick bei der Deutungszuweisung die natürliche Zeitenfolge um, aber das ist eben, wie oben schon von Ricoeur selbst erwähnt, eine gedankliche Arbeit, die nicht an die Starrheit zeitlicher Linearität gebunden ist. Dass beim Deutungsrückblick solche kausalen Zusammenhänge erschlossen werden, die während der ersten Lektürebemühung nur schwer zu haben gewesen waren, ist noch lange kein Grund dafür, die Zeit zum Konstituens von Erzählungen zu erklären. Hier liegt meines Erachtens die einfache Gedankenarbeit des Lesers vor, der rückblickend (aber auch vorausahnend) Zusammenhänge stiftet und ganz bewusstseins-natürlich in der Zeit springen kann und sich bei der Nachzeichnung kausaler Zusammenhänge über das logische und nicht-chronologische Nacheinander Rechenschaft ablegen265 kann – allerdings nicht muss. Die gelesene Erzählung stupst den Leser nicht einmal an, sich über die Zeitstruktur Gedanken zu machen – sehr wohl aber über kausale Zusammenhänge. Und das so zusammengesetzte und mit Kausalklammern versehene Geschehen wird im imaginativen Bewusstsein des Lesers am Ende wieder als chronologische Reihenfolge abgebildet. Ricoeur konzentriert das eigentliche Lektüre-Erlebnis auf das Ende einer Erzählung, an dem die Bedeutungstotalität tatsächlich erst sichtbar wird. Damit aber wird die Dialektik von Retention und Protention, von Erinnerung an bereits Gelesenes und Erwartung des Kommenden zu jedem Zeitpunkt der Lektüre zu sehr an den Rand geschoben. Problematisch erscheint mir die Vorstellung, dass erst im Nachhinein eine verknüpfende Rezeption des Episodischen möglich sei. Neben den erwähnten Retentionen und Protentionen spielt auch 263 264 265 … der erst in der mimêsis III untersucht wird. Schon die Fortsetzung des Zitats deutet darauf hin, dass die Zeit eben nicht aus den Angeln gehoben wird (siehe meine Kursivsetzungen): „[…] nämlich als eine Rekapitulation der Ausgangsbedingungen eines Handlungsverlaufes in seinen letzten Konsequenzen“ (Ricoeur 2007a, p. 109). Die Linearität des Geschehens in der Zeit wird allerdings auch hier nicht auf den Kopf gestellt. Die Logik der Kausalität lässt sich im Rückblick (aber auch im vermutenden Vorblick) das eine (Ursache) vor dem anderen (Wirkung) denken – und umgekehrt. 172 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. die Lesesozialisation266 des Rezipienten eine Rolle. Das soll an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. 8.3. Integration des Episodischen Die Fabel vereinige das Episodische, Nicht-Notwendige, das Zufällige, die singulären Ereignisse. Und zwar verkette sie nach Aristoteles doch eigentlich nur Notwendiges und Wahrscheinliches. Also, so schließt Ricoeur, beruhe die Handlungsstruktur „auf dem handlungsimmanenten Zusammenhang und nicht auf äußeren Zufällen“ (Ricoeur 2007a, p. 70). Aristoteles habe die ‚einheitlichen‘ Fabeln im Blick, von denen er die ‚episodischen‘ absondere. Bei Letzteren liege eine unwahrscheinliche Abfolge vor, ein ‚Nacheinander‘ von Handlung und Geschehen, während die einheitliche Fabel von einem ‚Durch-einander‘ bestimmt sei, und zwar im Sinne einer kausalen Verkettung der Handlungselemente und nicht im Sinne des Chaotischen; das mache bei Aristoteles die Bedeutung von Wahrscheinlichkeit aus. Ricoeur fasst zusammen: „Die Fabelkomposition ist bereits ein Hervortreten des Intelligiblen aus dem Akzidentellen, des Universellen aus dem Vereinzelten, des Notwendigen oder Wahrscheinlichen aus dem Episodischen“ (Ricoeur 2007a, p. 71). Es stellt sich die Frage, ob es ‚bloß Episodisches‘ in Erzählungen überhaupt gibt, ohne daraus gleich – wie Aristoteles – eine eigene Art von Fabel zu konstruieren; und wenn ja, welche Rolle ein solcher Typus spielt. Für Ricoeur ist das Zufällige generell Bestandteil der Erzählung, er nennt es das Dissonante: Überraschungsmomente, Unstimmigkeiten, eben Zufälle. Das Episodische verleihe dem Werk Breite und ‚Ausdehnung‘. Was Aristoteles laut Ricoeur verbanne, sei lediglich eine episodische Textur, also eine zufällige Folge von Episoden. Aber – so muss man nun fragen – selbst wenn die Aneinanderreihung von Zufälligem einer Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit folge, müsste dann nicht die einzelne Episode die Verknüpfungsanker in sich enthalten? Womit sie das rein Zufällige verlöre und sich damit ihres Charakters als Episode entledigte. Aristoteles entdecke das Zufällige, die ‚Bedrohung des Sinnvollen durch das Sinnlose‘,267 vor allem in der überraschenden Wendung, in der peripeteia. Indem die Fabel das Dissonante (Schicksalsschläge) in das Konsonante (die Ordnung) einfüge, „nimmt sie das Erschütternde ins Intelligible auf“ (Ricoeur 2007a, p. 75). Die Fabel wolle die dissonanten Ereignisse notwendig und wahrscheinlich machen und sie dadurch reinigen oder läutern. 266 267 Superstrukturen als textsortenspezifische ‚Erwartungen‘ des geübten Lesers, die seine Lektüre begleiten; vgl. (Rosebrock, Nix, Daniel 2017, p. 19). Vgl. (Ricoeur 2007a, p. 74). 173 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. So viel zur Ausgangsfrage, ob ‚bloß‘ Episodisches in Erzählungen denkbar ist – auch wenn es eben bei Aristoteles zunächst einmal nur um Tragödien geht. Die Antwort, die Ricoeur gibt, ist ein Ja, das sich allerdings im Zuge seiner Begründung zu einem Nein wandelt. Denn sobald ich dem Zufall, dem Schicksal, das den Helden unverdient ins Unglück stürzt, eine erzählerische Funktion zubillige, verliert es seinen freischwebenden, akzidentiellen Charakter und wird zu einem notwendigen Element der Geschichte. Sobald eben dem Episodischen eine Funktion zuerkannt wird – das ‚Erschütternde‘ bei Aristoteles –, dann verliert es seinen Charakter als Zufallselement in einer Erzählung. Es ist mehr als ein Farbtupfer. Roland Barthes formuliert es folgendermaßen: „In der Ordnung des Diskurses ist alles Erwähnte per definitionem erwähnenswert: sollte ein Detail […] sich hartnäckig gegen jede Funktion sperren, so erhielte es letztendlich dennoch die Bedeutung des Absurden oder des Nutzlosen: entweder ist alles sinnvoll oder nichts“ (Barthes 1988, p. 109). Alles, was den Raum zwischen von ihm sogenannten Kardinalfunktionen – den ‚Scharnieren der Erzählung‘ – fülle, das verlangsame oder beschleunige den narrativen Raum,268 das ‚sättige‘ den Diskurs, bringe ihn ‚in Schwung‘.269 Barthes nennt diesen zweiten Funktionstypus Katalysen. Darauf werde ich im Resümee zum Teil B noch einmal zurückkommen. 8.4. Neuschöpfung und Sedimentierung Neben den eben besprochenen zwei Dimension des konfigurierenden Aktes – der episodischen und der konfigurierenden Dimension – gebe es, so Ricoeur, zwei weitere Merkmale. Eine Geschichte weise Merkmale einer Tradition auf – nicht als ‚toten Rückstand‘ verstanden, sondern als „lebendige Weitervermittlung einer Neuschöpfung“ (Ricoeur 2007a, p. 110). Unter Tradition versteht Ricoeur ein ‚Wechselspiel‘, und zwar zwischen Neuschöpfung und Sedimentierung,270 was für einen ‚narrativen Schematismus‘ sorge. Dem kreativen Schreibprozess stelle die Tradition sedimentiertes Material zur Verfügung: Überkommenes und Überliefertes, eine „Grammatik, die der Gestaltung neuer Werke als Regel dient“ (Ricoeur 2007a, p. 112), – und zwar 268 269 270 Vgl. (Barthes 1988, p. 112). Vgl. (Barthes 1988, p. 114). Für dieses Wechselspiel als Oberbegriff die Tradition anzubieten, halte ich für keinen glücklichen Einfall Ricoeurs. 174 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. auf drei Ebenen oder innerhalb dreier Erzählparadigmen:271 Form, Gattung272 und Typus. Dieser Sedimentierung stehe nun das Potential der Neuschöpfung gegenüber. Für das Wechselspiel der beiden bietet Stefanie Bläser eine elegante Metapher an, die des Experimentierraums273. Die mimêsis II oszilliert also zwischen einerseits dem Korsett der drei Erzählparadigmen der Sedimentierung (Form, Gattung, Typen) und andererseits der Freiheit einer Neuschöpfung, zwischen der Leitung durch vorgegebene Regeln und einer kalkulierten Abweichung. In diesem Zwischen- oder Experimentierraum lägen „alle Stufen der ‚geregelten Deformation‘“274 (Ricoeur 2007a, p. 112). * Man könnte an dieser Stelle dazu neigen, den Moralischen Pakt – wenn man denn die Ricoeur’sche Terminologie übernähme – dem Schematismus zuzuschlagen, ihn also als ein weiteres, viertes Erzählparadigma der Sedimentierung zu betrachten. Eine solche Zuordnung hätte den Reiz, den Moralischen Pakt zum einen als etwas dem Schreibprozess Vorgegebenes zu beschreiben, zum anderen aber auch als etwas Variables, etwas, das im Laufe der Literaturgeschichte immer wieder Modifikationstendenzen unterläge. Ich werde diesen faszinierenden Gedanken in einer weiteren Arbeit aufgreifen, die vorliegende würde ein solches Unternehmen sprengen. 271 272 273 274 (a) Die Form ist die Anforderung der mimêsis II an Autor und Erzähler, Episodisches in eine zusammenhängende Geschichte zu transformieren (Form der dissonanten Konsonanz). (b) Unter Gattung versteht Ricoeur Modelle (Roman, Tragödie, Komödie, Lyrik), Genres also, die ebenfalls bestimmte Vorgaben für den kreativen Prozess bereithalten. (c) Und zuletzt der Typus, das ist das Einzelwerk, dessen kausale Handlungsfolge über die Singularität des Werkes hinausgeht und so etwas wie einen Typus generiert: Ilias, König Ödipus, Faust … Ricoeur betrachtet das Paradigma der Gattung spezifischer als ich, historischer: Für ihn habe die Gattung der griechischen Tragödie (die den mythos zu einem tragischen einenge) die spätere Entwicklung der westlichen Dramenliteratur weitgehend beherrscht; vgl. (Ricoeur 2007a, p. 111). Ein historischer Blick auf die Gattungsentwicklung ist für die vorliegende Arbeit nicht vorgesehen. „Die Erzählparadigmen […] eröffnen den Experimentierraum, in dem Neuschöpfungen stattfinden können“ (Bläser 2015, p. 35). „Märchen, Mythos und überhaupt die traditionelle Erzählung liegen dicht am ersten Pol. Je weiter man sich jedoch von der traditionellen Erzählung entfernt, desto mehr werden Irregularität und Abweichung zur Regel“ (Ricoeur 2007a, p. 112). 175 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. B.9. Ricoeur vs. Greimas Nach so umfangreichen Ausführungen zu Greimas und Ricoeur: Was unterscheidet die beiden? Was sind ihre Stärken und Schwächen? Und schließlich: Kann man sie miteinander vermitteln? Und wie wurden sie von Zeitgenossen wahrgenommen? Wir lassen abschließend kurz Roland Barthes zu Wort kommen. 9.1. Vergleich Reizvoll für einen Vergleich der beiden Philosophen ist ihr direktes Aufeinandertreffen am 17. Juni 1984 am Victoria College der Universität von Toronto. Sie traten in einer Abschluss-Session des Kolloquiums zu ‚Universalien der Narrativität‘ auf.275 Ricoeur behauptet, dass die Oberfläche mehr als eine Widerspiegelung der tiefen Struktur sei. Umgekehrt: Er gehe davon aus, dass sich ausschließlich die Textoberfläche auf einer Tiefenebene spiegele276: „Pushing this to the limit, I would say finally that the deep structure reflects the surface and not the contrary“ (Greimas, 1988b, p. 554). Greimas’ Antwort ist naheliegend: abstrakte Operationen auf der Tiefenebene, Anthropomorphisierung der tiefen Strukturen auf der semio-narrativen Ebene. Das Anwachsen von Bedeutung von der tiefen zur Oberflächenebene dürfe man nicht mit der ‚horizontalen Bedeutung‘ verwechseln, damit befinde man sich bereits auf der dritten, der Diskursebene. Die davor liegende jedoch, die zweite, eben die semio-narrative Ebene, enthalte ‚narrative Universalien‘,277 so dass man sagen könne, dass Individuen, die ‚Diskurse erfänden‘, also Schriftsteller und Dichter, narrative Strukturen benutzten, die bereits existierten: „I thus imagine the subject of enunciation as a kind of funnel [Trichter, S.G.] into which the narrative structures are poured drop by drop, and from which discourse emerges“ (Greimas, 1988b, p. 555). Ricoeur hält an seiner Behauptung fest, dass die dritte, die Diskursebene ihre eigenen Regeln habe. Zu den Propp’schen Kategorien der Funktionen und Aktanten müsse eine dritte hinzukommen, die der Enunziation, des Erzählens selbst. Das Figurative auf der Diskursebene habe seine eigene Dimension: Erzähler, Charakter, point of view, narrative Stimme – „These are constraints of 275 276 277 Vgl. (Greimas, 1988b); ins Englische übertragen von Paul Perron und Frank Collins. Wenn sich tatsächlich Phänomene der Oberfläche (die dort ihren Ursprung haben) lediglich auf einer Tiefenebene spiegelten, dann wäre die Frage naheliegend, wozu man eine tiefe Ebene dann überhaupt noch benötigt. Ich würde zögern, einen solchen Begriff zu verwenden, selbst die Strukturen des Moralischen Paktes, die ich als Grundlage von Erzählungen ausgemacht zu haben glaube, sind nicht völlig unempfindlich gegenüber sozio-historischen Einflüssen. Darauf wird in einer Folgearbeit zur vorliegenden eingegangen werden. 176 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. a different kind which are immediately figurative but not by derivation“ (Greimas, 1988b, p. 558). Ich möchte das an dieser Stelle nicht weiter vertiefen, weil es eben die dritte Ebene berührt, die in der vorliegenden Arbeit nur am Rande erwähnt und erst in einer Folgearbeit untersucht werden wird. Nur kurz an dieser Stelle: Greimas hält zwar daran fest, den Übergang vom Sinn zur Bedeutung nach wie vor als einen von der Tiefen- zur Oberflächenebene zu charakterisieren, ausgehend von einfachen Oppositionen bis hin zu einer Art ‚sukzessiver Explosion‘ von Bedeutungen auf der Diskursebene. Dass die Oberflächenfigurativität eine eigene Kreativität oder besser Produktivität enthalte, gesteht Greimas Ricoeur zu, möchte aber seine ‚Grundterme‘ von Tiefe und Oberfläche nicht über Bord werfen. Einen Text zu verstehen (auch dessen Geheimnisse oder Verwirrungen), könne, so Greimas in seinem Abschluss-Statement, nur mit dem ‚armseligen‘ Werkzeug, das den Semiotikern und Linguisten zur Verfügung stehe, begonnen werden, und zwar via Transkodierung eines Satzes oder Textes in einen anderen: „In doing so perhaps I have not exhausted the totality of meaning, which is regrettable, but unfortunately it is impossible to do otherwise“ (Greimas, 1988b, p. 562). Ist es am Ende so, dass man Greimas aufs Achronische, auf die reine Strukturbeziehungen reduzieren kann und Ricoeur hingegen aufs Diachronische, auf die Hermeneutik einer erzählten Geschichte? Ich denke nein, Ricoeur scheut sich nicht davor, sich dem Narrativen unter einem strukturalen Aspekt zu nähern (Modell der dreifachen mimêsis). Und Greimas scheut sich nicht davor, das Diachronische zu berücksichtigen – und zwar nicht nur auf der dritten, der Diskursebene, sondern bereits auf der semio-narrativen Ebene, wenn er beispielsweise bei der Beschreibung des Elements der Prüfung das Prinzip des Syntagmatischen, also des Zeitlichen ins Spiel bringt. Nur eben dass er an der Trennung der Strukturebenen festhält. Anders hingegen Ricoeur, der im Abstand von Vertrag und Prüfung die distentio des Geistes auftauchen lässt, einen Zeitprozess, der in Fristen, Umwegen, Schwebezuständen zum Ausdruck komme, weiterhin in den Alternativen, Verzweigungen und kontingenten Zusammenhängen und schließlich in der Unvorhersehbarkeit, ob die Suche des Helden nun gelinge oder scheitere. „So verweist die Syntax des Aktantenmodells auf die Fabel der Poetik des Aristoteles“ (Ricoeur 2007b, p. 84). Aber hat Greimas278 nicht auch die zeitliche Dimension berücksichtigt? Und ja, so möchte man für Greimas Partei ergreifen: Die Syntax des Aktantenmodells verweist problemlos auf die Konfigurationsebene, in ihrer Transfiguration zu Akteuren haben es die Aktanten mit Umständen zu tun 278 Und hier ist Scharfenberg auch nicht zuzustimmen, dass die strukturalistische (und damit auch die Greimas’sche) Auffassung die narrative Zeitlichkeit marginalisiere, „indem sie auf die schlichte Chronologie der aufgereihten narrativen Ereignisse oder auf zeitlose bzw. a-historische Strukturen reduziert wird“ (Scharfenberg 2011, p. 199). 177 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. oder allgemeiner: mit der Kontingenz der Welt. Und nur dort bekommen Freiheit und Verantwortung ihren Spielraum, nur dort kann sich zeigen, ob die Figuren ihre Ziele erreichen oder nicht. Stärken und Schwächen Abschließend möchte ich versuchen, Ricoeur und Greimas in ihren Stärken und Schwächen zu erfassen. Ricoeurs Modell der dreifachen mimêsis bietet eine umfassendere Perspektive als Greimas, besonders was der eigentlichen Konfiguration der Fabel vorausgeht und was ihr folgt, also die mimêsis I und III. Greimas’ Modell ist im Vergleich enger, geht dafür aber mehr in die Tiefe. Ricoeur siedelt sein Modell der mimêsis II auf einem merkwürdig anmutenden ‚philosophischen‘ Podest an, was nicht nur der Lektüre der Aristotelischen Poetik geschuldet ist, sondern mehr noch seiner Fokussierung auf die Zeit-Problematik. Greimas verliert sich trotz seiner Sorgfalt im Umgang mit seinem Modell immer wieder im Formal-Linguistischen (vor allem in seinem Ansatz einer Theorie der Modalitäten). Während der hermeneutische Ansatz Ricoeurs von ihm nicht genügend ausgeschöpft wird (angesichts der Beschränkungen auf die Zeitproblematik), kann sich Greimas nicht aus den engen Grenzen des Strukturalismus befreien. Und was ist beiden zugutezuhalten? Greimas kommt sicherlich das Verdienst zu, so etwas wie eine prä-diskursive Ebene zu modellieren, auf der noch vor jeder narrativen Konkretisierung Rollenmodelle als Impulsgeber möglicher Handlungsschemata aufeinandertreffen. Und Ricoeurs Verdienst? Er ist von der Idee beseelt, den narrativen Diskurs auf die Welt hin zu öffnen: „Indem die Semantik erlaubte, zwischen dem, was gesagt wird, und dem, worüber etwas gesagt wird, zu unterscheiden, öffnete sie nach meiner Auffassung den Diskurs erneut in Richtung auf etwas anderes als ihn selbst, nämlich auf die Welt hin.279 Sprechen, das bedeutete wieder, über die Welt sprechen“ (Ricoeur 2005b, p. 34). 9.2. Roland Barthes als Vermittler? Ich möchte – und damit nun wirklich die teils langatmigen Ausführungen zur Struktur von Erzählungen zu einem Ende bringend – Roland Barthes aufrufen, der sich vielleicht als so etwas wie eine Brücke zwischen Greimas und Ricoeur anbieten könnte. Zunächst einmal scheint er sich in seinem Aufsatz zur strukturalen Analyse von Erzählungen280 mehr dem Lager der Strukturalisten zuzunei279 280 Kursivsetzung S.G. 1966 veröffentlicht. Vgl. (Barthes 1988, p. 102 ff.). 178 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. gen, die ihn gelehrt hätten, dass Erzählungen entweder nur ‚ein bloßes Gefasel von Ereignissen‘ seien oder aber mit anderen Erzählungen eine gemeinsame Struktur teilten.281 Barthes neigt Greimas’ Ansatz zu, es erscheine ihm vernünftig, „der strukturalen Erzählanalyse die Linguistik selbst als Modell zugrunde zu legen“ (Barthes 1988, p. 104). In seinem zweiten Kapitel macht sich Barthes Gedanken über eine (von ihm provisorisch eingeführte) erste Erzählebene, der von Funktionen. Dort berührt er unter anderem die ‚funktionale Syntax‘ und damit den Gegenstand, um den Ricoeur und Greimas so leidenschaftlich streiten: die Frage nach dem Vorrang des Chronologischen vor dem Logischen oder umgekehrt. Barthes gibt auch hier dem Strukturalismus den Vorzug; die Temporalität, so sagt er, bilde nur eine strukturelle Klasse des Diskurses, die ‚wirkliche‘ Zeit sei lediglich eine referentielle oder ‚realistische‘ Illusion.282 Woran es den strukturalistischen Modellen (von Bremond über Lévi-Strauss und Greimas bis Todorov) allerdings mangele, sei es, dass sie eine große Anzahl von Kardinalfunktionen283 nicht erfassten. Hierzu ein kurzer Exkurs zu dem, was ich oben in B.8284 schon berührt habe: Alles, so Barthes, deute darauf hin, „daß die treibende Kraft der narrativen Aktivität die Verwechslung von zeitlicher Folge und logischer Folgerung ist, das Nachfolgende in der Erzählung als verursacht von285 gelesen wird“ (Barthes 1988, p. 113). Verantwortlich für dieses ‚Zerreiben von Logik und Zeitlichkeit‘ sei ein Gerüst von Kardinalfunktionen, von den ‚Risikomomenten‘ der Erzählung. Solche Kardinalfunktionen seien die Scharniere der Erzählung, oft nur unspektakuläre Ereignisse wie das Klingeln eines Telefons: Den Hörer abnehmen oder nicht, davon hänge der Fortgang der Geschichte ab. Zwischen diesen Alternativpunkten der Erzählung lägen die sogenannten Katalysen, Barthes nennt sie Sicherheitszonen, Ruhepausen. Funktional seien sie insoweit in der Erzählung eingebunden, als sie für den Kontakt zwischen Text und Leser sorgten: Sie beschleunigten, verzögerten, resümierten, nähmen vorweg und verunsicherten sogar manchmal den Leser. Die Kerne oder Kardinalfunktionen bildeten das logische Gerüst, die Katalysen füllten es nach einem ‚endlosen Wucherungsmodus‘ aus286: „die Erzählung ist, wie der Satz, endlos katalysierbar“ (Barthes 1988, p. 115). 281 282 283 284 285 286 Vgl. (Barthes 1988, p. 103). … die eben nur dem Referenten und nicht der Erzählung angehöre. Vgl. (Barthes 1988, p. 117). Siehe oben die Ausführungen zur Integration des Episodischen (im Abschnitt zu Ricoeurs mimêsis II). Zur Integration des Episodischen. Hier bezieht sich Barthes auf den schon erwähnten Post-hoc-ergo-propter-hoc-Irrtum; vgl. B.7. Vgl. (Barthes 1988, p. 115). 179 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Wenn Barthes sagt, dass die funktionelle Deckung der Erzählung nach der Organisation von Relais verlange, „deren Basiseinheit nur durch eine kleine Gruppierung von Funktionen gebildet werden kann“287 (Barthes 1988, p. 118), dann hätte das Greimas ähnlich formulieren können. Und wenn Barthes davon spricht, dass solche Sequenzen (oder Kardinalfunktionen) nicht nur den ‚Code von Erzählungen‘ beschrieben, sondern es ebenfalls denkbar sei, dass sie „einer dem Leser (Zuhörer) selbst innewohnenden Metasprache angehören,“ (Barthes 1988, p. 119), dann stellt sich hier die Assoziation der Elemente des Moralischen Paktes fast von allein ein, einer Struktur eben, die sich Erzähler wie Leser für die Produktion wie für die Rezeption teilen. Dennoch: Barthes bewegt sich mit seinen Ausführungen – besonders deutlich bei seinen Illustrationen aus dem James-Bond-Film Goldfinger – deutlich auf der Greimas’schen Diskursebene. Das ist nicht als Kritik zu verstehen, auch Greimas bebildert seine Gedanken zur Struktur immer einmal wieder mit Elementen aus einer Erzählung, aber Barthes Ausführungen zu Sequenzen, Kardinalfunktionen, Katalysen und Indices288 füttern den Verdacht, dass es ihm tatsächlich in erster Linie um die Filmanalyse und weniger um die Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus gegangen ist. Sein drittes Kapitel zu den Handlungen beginnt Barthes mit einer Reflexion auf die Figuren, denn der Protagonist, so Barthes, stelle seit Propp die strukturale Erzählanalyse ständig vor dasselbe Problem, das er folgendermaßen beschreibt:289 Erstens gebe es keine einzige Erzählung ohne Protagonisten oder besser ‚Agenten‘ (ohne sie bliebe jede Handlung ‚inintelligibel‘); zweitens ließen sich die Agenten nicht im Begriff der ‚Person‘ fassen; und schließlich werde der Begriff der ‚Person‘ womöglich den narrativen Agenten übergestülpt. Greimas, so Barthes, habe nun versucht, mit seinem Aktantenmodell das Problem in den Griff zu bekommen, er habe vorgeschlagen, „die Protagonisten der Erzählung nicht nach dem, was sie sind, sondern nach dem, was sie tun, zu beschreiben und einzuteilen“ (Barthes 1988, p. 123) – aufzuteilen nämlich auf 287 288 289 … und er sie dann, Bremond folgend, Sequenz nennt. Roland Barthes unterscheidet zwischen distributionellen und integrativen Klassen von Funktionen. Die distributionellen (die er dann ‚Funktionen‘ nennt) entsprächen denen Propps (Relation zwischen Einheit und Korrelat: Abnehmen des Telefonhörers vs. Auflegen). Die zweite Klasse der integrativen Einheiten umfassten alle Indizien, also Verweise auf anderes: so Einheiten, die auf die Charaktere der Figuren verwiesen; oder solche, die für das Nachempfinden der Atmosphäre von Belang seien. Während die Funktionen (distributionell) syntagmatische Aufträge hätten (Verweis auf ergänzende oder folgerichtige Handlungen), seien die Indizien paradigmatisch angelegt (der Charakter des Helden könne indiziert sind, ohne einmal explizit zur Sprache zu kommen); vgl. (Barthes 1988, p. 111 f.). Vgl. (Barthes 1988, p. 122 f.). 180 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. die drei großen ‚semantischen Achsen‘ Kommunikation, Wunsch/Suche und Prüfung.290 All das ist dem Leser der vorliegenden Arbeit hinlänglich bekannt. Was dann bei Barthes folgt, sind Überlegungen zur Narrarivität, vor allem aber zur Rezeption literarischer Werke, zu einem Thema also, das hier noch nicht berührt wird. Bestätigt nun Barthes lediglich den strukturalistischen Ansatz Greimas’? Oder nähert er sich durch seinen cineastischen Blick auf Erzählungen der Intention Ricoeurs, den narrativen Diskurs auf die Welt hin öffnen zu wollen? Sicherlich schließen sich beide Annahmen nicht wechselseitig aus. 9.3. Resümee Wir kommen zum Ende des Teils über die Struktur der Erzählung. Greimas’ Transformationsmodell blieb, wie ich bisher zu zeigen versucht habe, die Basis einer Modifizierung, die den Moralischen Pakt als Grundlage narrativer Strukturen deutlich werden ließ, und zwar deutlicher als die Ausführungen Ricoeurs zur mimêsis II. Für eine weitere Verfeinerung des Transformationsmodells werde ich nun Ricoeurs Forschungen mehr würdigen können als bisher. Vor allem seine Werke Das Selbst als ein Anderer und Wege der Anerkennung loten die bisher vermisste Tiefe aus, vor allem was die Problematik des Subjekts (der narrativen Identität), des Gewissens und der Anerkennung angeht. Überhaupt bietet Ricoeurs eigene Lektüre diverser Philosophen eine ganze Reihe wertvoller Gedanken auf der Suche nach den Elementen des Moralischen Paktes. Die Frage nach dem Subjekt ist immer wieder berührt worden, besonders die nach dessen Identität. Ricoeur schlägt das große Kapitel der narrativen Identität auf, das die Figur zu ihrem Gegenüber führen wird, zum ‚Selbst als einen Anderen‘. Oder mit Ricoeur aus seinem Aufsatz zur Narrativen Identität291 von 1987 gesprochen: „Ausgehend von der Identität der Erzählung, wie sie sich aus der Fabelkomposition ergibt, werden wir zu der Identität der Figuren der erzählten Geschichte übergehen“292 (Ricoeur 2005b, p. 211). 290 291 292 Barthes kennt offensichtlich noch nicht die Greimas’sche Unterscheidung der strukturalen Elemente der drei K’s von den drei Triebkräften des Helden auf der Diskursebene – Qualifikation, Suche und Nachsuche. Vgl. (Ricoeur 2005b, p. 209 ff.). „… und von dort zu der Identität des Selbst, wie sie sich im Akt des Lesens abzeichnet.“ – Dieser dritte Aspekt der narrativen Identität wird erst Gegenstand einer Folgearbeit. 181 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. C. Das Subjekt – oder die Figur als Zentrum der Erzählung C.1. Das Ricoeur’sche Selbst Das Individuum erfasse, so Ricoeur, seine Identität vor allem und in erster Linie über die Erzählung seiner selbst. Er nennt das narrative Identität. Eine solche ‚erzählte‘ Identität sei immer ein besonderes Verhältnis zwischen zwei Identitätsmodi, zwischen Selbstheit und Selbigkeit, zwischen Selbst-Ständigkeit und Charakter. Das sich erzählend erfassende Selbst gehöre derselben narrativen Vernunft an wie die Fabelkomposition. Nur als erzählbares Selbst, also über die Identität einer Geschichte, komme das Individuum zu seiner Identität. 1.1. Die personale Identität Ricoeur möchte, so kündigt er zu Beginn seiner fünften Abhandlung1 in Das Selbst als ein Anderer an, der personalen Identität auf den Grund gehen. Hierfür, so formuliert er ganz unbescheiden, versuche er, „die narrative Theorie neu auszuarbeiten“ – und zwar eben in Hinblick „auf ihren Beitrag zur Konstitution des Selbst“ (Ricoeur 2005a, p. 142). Er beansprucht mit seinem 1990 veröffentlichten Werk seine narrative Theorie aus Zeit und Erzählung aus dem Jahr 1983 nochmals überdenken zu wollen, dieses Mal aber nicht mit Blick auf die Phänomenologie der Zeit, sondern auf die Konstitution des Selbst. Da ich den Zeitaspekt, wie mehrfach erwähnt, für die vorliegende Arbeit ohnehin als nicht förderlich einschätze, hoffe ich, mit der Figuren- oder genauer: mit der IdentitätsPerspektive einer präziseren Strukturerkenntnis narrativer Werke näherzukommen. 1.1.1. Selbigkeit und Selbstheit Ricoeur unterscheidet zwei Aspekte oder Modi des Selbst, den Modus der Selbigkeit (idem, mêmeté, sameness) und den der Selbstheit (ipse, ipséité, selfhood). 1 Vgl. (Ricoeur 2005a, p. 141 ff.). https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Die Selbigkeit oder die idem-Identität Die Selbigkeit des Individuums beziehe sich auf Beständigkeit und Fortbestand2; sie sei die Antwort auf die Frage nach dem Was. In seinem Aufsatz ‚Narrative Identität‘3 von 1987 ergänzt Ricoeur: Das Idem-Identische meine eine ‚sehr starke‘ Ähnlichkeit, ‚Gleichartigkeit‘, die ‚Unveränderlichkeit in der Zeit‘. Der Gegenbegriff hierzu sei die Veränderlichkeit.4 Die Selbstheit oder die ipse-Identität Die Selbstheit des Selbst beziehe sich hingegen auf dessen Veränderungen, auf die Frage nach dem Wer. Im eben genannten Aufsatz ergänzt Ricoeur: Das ipseIdentische meine die Identität mit sich selbst, allerdings ohne „Festlegung in Bezug auf die Permanenz, die Beständigkeit, die Beharrlichkeit in der Zeit, wie Kant sagt“ (Ricoeur 2005b, p. 209). Und hier laute der Gegenbegriff Andersheit oder Fremdheit.5 Dass die Gegenbegriffe im Verhältnis zueinander keine Oppositionsterme sind, zeigt, dass sich die beiden Modi idem und ipse nicht gegeneinander ausspielen lassen. Sie gehören beide zur Konstitution des Selbst, ohne wechselseitig sich ausschließende Parameter zu sein. Selbigkeit dominiert Selbstheit: der Charakter In der Frage des Charakters überlagere oder dominiere das Was das Wer, das idem das ipse. Ursprünglich habe er selbst, so Ricoeur, den Charakter für unveränderlich6 gehalten, doch nun stelle er die Unwandelbarkeit in Frage.7 „Der Charakter, so würde ich heute sagen, bezeichnet die Gesamtheit der dauerhaf2 3 4 5 6 7 Ricoeur differenziert weiter, zur Selbigkeit gehörten die numerische Identität (Einzigkeit), die qualitative Identität (größtmögliche Ähnlichkeit) und die ununterbrochene Identität. Vgl. (Ricoeur 2005b, p. 209 ff.), erstmals in den Heidelberger Jahrbüchern 31 1987 erschienen, übersetzt von Robert Kremer. Vgl. (Ricoeur 2005b, p. 209). Ob Selbstheit oder Selbigkeit, es handelt sich in beiden Fällen um Modi der Identität, bei aller Fragilität der Konstrukte geht es immer um die Einheit des Individuums. Das Kategorienpaar Stabilität vs. Veränderung hierfür zu verwenden, halte ich für nicht ganz unproblematisch, denn beide Modi der Identität meinen ja eben zunächst einmal etwas Gleichbleibendes. Anfangs habe er, so Ricoeur über sich selbst, Charakter als das absolut Unwillentliche gekennzeichnet, das wir nicht verändern, sondern nur akzeptieren könnten (als nicht gewählte Perspektive). Zehn Jahre später – also mit L’homme faillible von 1960 – habe er Charakter als eine endliche Perspektive identifiziert, die die Öffnung des Individuums auf die Welt zwar beeinflusse, aber selbst auch beeinflussbar sei. Vgl. (Ricoeur 2005a, p. 148 f.). Ricoeur bezieht sich in Das Selbst als ein Anderer auf seinen 1960 geschriebenen Aufsatz zur Fehlbarkeit des Menschen, in dem er die These von der Unwandelbarkeit des Charakters zu relativieren begonnen habe; vgl. (Ricoeur 2005a, p. 149). 184 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. ten Habitualitäten eines Menschen, auf Grund deren man eine Person wiedererkennt“ (Ricoeur 2005a, p. 150). Dauerhaftigkeit und Beeinflussbarkeit widersprächen sich nicht, Ricoeur legt dem Habitus zwei Verbindungen zugrunde: – In der Gewohnheit oder in der ‚Geschichte des Charakters‘ überdecke die Sedimentierung die Innovation,8 also das Zur-Gewohnheit-Gewordene die ursprüngliche Wahl eines solchen Verhaltens im noch prä-habituellen Status. Aus dem Werden werde ein Gewordenes, das das Werden überdeckt, das ipse verschwinde im idem. – Woher nimmt das Individuum nun aber die Inhalte, die sich zum Habitus sedimentieren? Zum Erwerb von Gewohnheiten gesellten sich Identifikationsangebote aus Gesellschaft, Kultur und dem jeweiligen Sozialisationsumfeld.9 Der Prozess der Verinnerlichung annulliere ‚den Initialeffekt der Andersheit‘ oder verlege ihn von außen nach innen.10 In der Annahme von Gewohnheiten mache das Selbst sich also nicht nur zu einem Anderen (der es vorher nicht war), sondern identifiziere sich auch buchstäblich mit Anderen: mit Werten, mit Idealen, mit Helden. Wenn solche Vorbilder gesamtgesellschaftlich anerkannt seien, könnten sich darin Gruppen wie auch ganze Gesellschaften (wieder)erkennen. Selbstheit dominiert Selbigkeit: das Worthalten Hier gewinne umgekehrt die Selbstheit gegenüber der Selbigkeit die Oberhand. Ein Versprechen zu halten, verneine den Wandel und rechtfertige sich allein durch sich selbst: in der Selbstverpflichtung und im Vertrauen des Anderen auf meine Treue. Die ‚Selbst-Ständigkeit‘ des gehaltenen Wortes stehe allein im Zeichen des ipse, das der Unterstützung des idem nicht (mehr) bedürfe (wie des Charakters). Das Worthalten aus Treue vermöge dem Wandel der Zeit standzuhalten, selbst wenn sich meine Meinung oder meine Wünsche änderten.11 Birgit Schaaff formuliert es folgendermaßen: „Im Versprechen lehnt das Selbst sich gegen die Zeit auf, indem es den Wandel negiert“12 (Schaaff 1999, p. 8 9 10 11 12 Auf dieses Begriffspaar sind wir oben schon im Rahmen von Neuschöpfung und Sedimentierung gestoßen (mimêsis II). Der Habitus verbinde sich mit der „Gesamtheit der erworbenen Identifikationen […], durch die Anderes in die Zusammensetzung des Selben eingeht“ (Ricoeur 2005a, p. 151). Vgl. (Ricoeur 2005a, p. 151). Vgl. (Bläser 2015, p. 65). In ihrem Beitrag auf dem oben bereits erwähnten Münsteraner Forschungskolloquium macht sich Schaaf Gedanken über die Identifikationsmodi Ricoeurs. Das ipse könne im Versprechen als ‚Leistung des Selbst‘ begriffen werden, während das idem als ‚schlichtes Beharren im Sein‘ definiert werden könne. 185 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 145). Und dazu benötige das Selbst eben gerade den Wandel in der Zeit, vor dessen Kulisse es allein seine Qualität beweisen könne.13 So plausibel es auch klingen mag, aber die Zuordnungen der Beständigkeit zur Selbigkeit und des Wandels zur Selbstheit aus der obigen ersten Definition Ricoeurs haben etwas Irritierendes. Hier muss Licht ins Dunkle gebracht werden. 1.1.2. Der problematische Begriff der Selbstheit Die personale Identität, so Ricoeur, koppele beide Momente aneinander, das der Beharrlichkeit (Das Was-bin-ich im Sinne der Selbigkeit) und das der Veränderung (Das Wer-bin-ich im Sinne der Selbstheit). Die Person sei immer beides, Beständigkeit und Veränderung. Ziehen wir einen der jüngeren Kenner des Ricoeur’schen Lebenswerkes zu Rate. Stefan Scharfenberg14 scheint zunächst in seiner Ricoeur-Lektüre die Zuschreibung von Beständigkeit (ad Selbigkeit) und Wandel (ad Selbstheit) ohne Bedenken zu übernehmen, der Ricoeur’sche Charakterbegriff umfasse beide Momente, das der Selbstheit, das offen für Modifikationen sei, und das der Selbigkeit, das das beharrliche Moment ausmache. In der Aneignung bestimmter Handlungskonzepte, Werte und Normen gewinne das Subjekt Stabilität, „die ununterbrochene Kontinuität im Wandel und schließlich die Beständigkeit in der Zeit, welche die Selbigkeit definieren“ (Ricoeur 2005a, p. 152). In späteren Ausführungen zur Refiguration (also zur mimêsis III) kehrt Scharfenberg noch einmal zur Selbstheit und Selbigkeit zurück. Ich beschränke mich hier auf solche Stellen, die im besten Fall das immer noch etwas dunkle Verhältnis der Identitätsmodi zu erhellen vermögen. Der Begriff des idem, der Selbigkeit, bereitet keine Probleme, es ist die bruchlose Kontinuität des Individuums. Doch der Begriff der Ipseität ist unscharf. Was macht sie denn nun aus? Beharrlichkeit als Merkmal hat ja bereits die gegenüberliegende Idemnität abonniert, also Veränderlichkeit? Aber das ipse soll doch gerade gegenüber aller Veränderung als verlässlich, demnach dann doch als ‚beständig‘ sich auszeichnen? Dem Begriff des ipse versucht Scharfenberg sich über den Begriff der Sorge15 zu nähern. Scharfenberg bezieht sich auf Heidegger: Es gebe auf der einen Seite ein Selbst, ein ‚Ich‘, das sich den gesellschaftlichen Anforderungen ausliefere, 13 14 15 Selbst ein nicht gegebenes Versprechen kann eingehalten werden, so wie das, das der Liebhaber der sich trennenden Geliebten nicht gibt: „Léon Le Gall hielt sein verweigertes Versprechen und näherte sich nie, kein einziges Mal, der Banque de France […]“, also Orten, an denen er Louise zu begegnen Gefahr gelaufen wäre (Capus 2013, p. 151). Hierzu vgl. (Scharfenberg 2011, p. 342 f.). Auf die Sorge werden wir im anschließenden Teils D zur Handlung ausführlich zu sprechen kommen. 186 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. sich dem verschreibe, was üblicherweise ‚be-sorgt‘ werden müsse – ein ‚selbstvergessenes Ich-besorge‘16 – und auf der anderen Seite ein Selbst, das im Zeichen eines ‚eigenen Selbstseinkönnens‘ zur ‚Selbst-ständigkeit‘ gelange. Ich nehme diesen Impuls auf und schlage mit Unterstützung der Heidegger’schen Terminologie folgende Lesart des Begriffs der Selbstheit oder Ipseität vor: Das Ricoeur’sche Selbst (ipse) zeigt sich in der Besinnung auf das ‚eigenste Seinkönnen‘,17 einer Besinnung, die ständig neu vollzogen werden muss: Das Individuum in seinem In-der-Welt-Sein ist unablässig Bedingungen ausgesetzt, unter denen es sich immer wieder neu entwerfen muss. Die Ipseität ist als Potenz zu verstehen, die in dem ständigen Wandel der Lebensläufe einzugreifen in der Lage ist. Aber auch in Fällen, in denen sie nicht einzugreifen scheint, in denen sich das Individuum den gesellschaftlichen Anforderungen (Heidegger nennt das das Man) vollständig unterwirft, ihnen ‚verfällt‘, bleibt das ipse des Individuums als Potenz erhalten. Die Ipseität wird also nicht nur denjenigen Individuen zugesprochen, die in einem Akt der Emanzipation ihr ‚eigentliches Seinkönnen‘ entdecken und in Angriff nehmen, sondern jedem Individuum. Unterstützt werden könnte meine Lesart von Sartres Gedanken zur personalen Identität. Das Für-sich oder die Selbstheit, so schreibt Sartre in ‚Das Sein und das Nichts‘, sei „selbst dahinten, […] in den Fernen seiner Möglichkeiten. Und diese freie Notwendigkeit, dahinten zu sein, was man in Form von Mangel ist, konstituiert die Selbstheit“ (Sartre 1991, p. 213). Die Welt könne nur das sein, was das Individuum auf sich hin überschreite.18 Aus dieser Perspektive sei die Welt selbst ‚Ichheit‘, die Welt sei meine, weil sie von Möglichkeiten heimgesucht werde; und diese Möglichkeiten gäben ihr ihre Einheit und ihren Sinn als Welt19 – für das jeweilige Selbst, so möchte man ergänzen, das sich aus seinen ‚weltlichen‘ Möglichkeiten immer wieder neu wählt. Martin W. Schnell formuliert in seinem Beitrag zur ‚narrativen Identität und Menschenwürde bei Ricoeur‘20 auf dem Forschungskolloquium 1997 in Münster einen Satz, der eine solche Verknüpfung der Überlegungen Ricoeurs mit den Heidegger’schen Gedanken aufscheinen lässt; Schnell sagt: „Während der Charakter das Was des Wer ausmacht, zeugt das ‚Wort-Halten‘ […] von der 16 17 18 19 20 Scharfenberg zitiert Heideggers Sein und Zeit, Tübingen 1986, S. 322; vgl. (Scharfenberg 2011, pp. 340, Anm. 1410). Auch das werde ich unten in Kapitel D.3 zur Sorge ausführlich behandeln. Mein Mögliches sei beispielsweise der gestillte Durst; er suche meinen jetzigen Durst heim, aber sei sich nicht bewusst als gestillter Durst, sondern nur als Bewusstsein von dem Glas-das-sich-austrinken-lässt: „Der Durst läßt sich also auf das Glas hin transzendieren, von dem er Bewußtsein ist“ (Sartre 1991, p. 214). Als Korrelat des Bewusstseins suche das ausgetrunkene-Glas das volle Glas als sein Mögliches heim und konstituiere es als ein auszutrinkendes Glas. Vgl. (Sartre 1991, p. 214 f.). Vgl. (Schnell 1999, p. 117 ff.). 187 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. ‚Selbst-Ständigkeit‘ (SaA 153) des Wer, die nicht in den Was-Eigenschaften des Charakters abgestürzt ist“ (Schnell 1999, p. 122 f.). Es ist das Verb ‚abstürzen‘, das an Heidegger erinnert. Man könnte den Abstand zwischen Heidegger und Ricoeur folgendermaßen überbrücken: – Die Identität der Selbigkeit oder der Charakter spiegelt den Einfluss der Anderen auf das Selbst, die Übernahme von Werten, Haltungen und Handlungen anderer. Das ist das Verfallen an die Heidegger’sche Alltäglichkeit des Man, die Entfremdung in der Gesellschaft: Charakter als Vorrat übernommener Gewohnheiten. – Die Identität der Selbstheit oder Selbst-Ständigkeit hingegen nimmt aus dem Angebot des Man bewusst etwas auf oder auch nicht, denn vor allem bestimmt es sich selbst, es ist in dem Maß un-entfremdet, als es seine eigenen zukünftigen Lebensphasen autonom entwirft. Schärfer formuliert: Das ipse kann per se nicht entfremdet sein, weil es sich strukturell außerhalb des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft befindet. Es ist und bleibt die unberührbare Potenz, die Macht, die sich fürs Mitmachen oder aber fürs Eigene entscheidet. Das ipse wäre nach meiner Lesart im ureigenen Sinn Autonomie – oder der autonome Kern der Identität, sozusagen das Tor zum eigentlichen Seinkönnen, zum Eigen-Entwurf. Wie eben erwähnt, kann sich das ‚man-ferne‘ Identitätspotential auch für das Korsett gesellschaftlicher Anforderungen entscheiden, sich an das Von-außen-Kommende anpassen, aber auch hier bleibt das ipse unbeschadet und kann sich jederzeit zum Einspruch aufraffen. Von einer Dialektik von Selbstheit und Selbigkeit zu sprechen – wie Ricoeur es tut21 –, wäre in dem Sinne zu rechtfertigen, als die Ipseität der Identitätsmodus ist, wonach das Selbst sein Verhältnis zur Welt selbst-ständig einrichtet oder ‚un‘-selbst-ständig hinnimmt und sich damit eine Position im Verhältnis von Autonomie und Heteronomie wählt22 (um im Begriffsfeld des Existentialismus zu bleiben). Und die Idemnität ist der andere Identitätsmodus, erkennbar für andere als Ähnlichkeit der Person mit sich zu anderen Zeiten und an anderen Orten: Aussehen, Gewohnheiten, Charakterzüge (die den Einfluss der Ipseität bei der Annahme von Charaktereigenschaften verbergen). Allerdings fällt es schwer, innerhalb dieser Lesart noch eine saubere Dialektik zu erkennen, denn beide Modi nehmen an der Identitätsbestimmung des Selbst unterschiedlichen Anteil: das idem mit dem genetisch Zugeteilten,23 dem 21 22 23 „Die Dialektik der Selbigkeit und der Selbstheit wohnt so der ontologischen Konstitution der Person inne“ (Ricoeur 2005b, p. 245). Ich bin mir der Paradoxie einer autonomen Entscheidung für die Heteronomie bewusst. In Das Selbst als ein Anderer spricht Ricoeur von der „Beständigkeit des genetischen Codes des biologischen Individuums“ (Ricoeur 2005a, p. 146). 188 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. gesellschaftlich Vermittelten und dem individuell Angeeigneten; und das ipse in seiner Autonomie und mit seiner Fähigkeit zur Selbstbestimmung. Vielleicht wäre, so mein Vorschlag, das Bild einer idem-ipse-Achse tauglicher, einer Achse, auf der das Selbst situationsentsprechend sich einrichtet. Oder besser noch das Bild von zwei Achsen, einer idem- und einer ipse-Achse. Und zwischen diesen beiden oszilliert das Selbst hin und her, wobei es auf beiden Achse immer wieder neue Positionen einzunehmen in der Lage ist.24 Wir kommen damit auf Ricoeur zurück. In beiden Verbindungen, die der Habitus25 einnimmt, zeigen sich deutlich die Pole der Identität in ihrer jeweiligen Überlegenheit über den anderen Pol: Im Sediment des Charakterzuges dominiere das idem und verdecke im Grenzfall, so Ricoeur, die vorangehende Innovation vollständig (also das Sich-zu-eigen-Machen). Und in der Entscheidung für Werte, Ideale und Helden bis hin zur völligen Verschmelzung mit einer ‚Sache‘, die man über sein Leben stelle, dominiere das ipse, das als Treue oder Loyalität Ausdruck der Selbst-Ständigkeit sei. Während das ipse in der Verfestigung zum Habitus vor dem idem verschwindet, strahlt es weit sichtbar auf dem Gipfel seiner Macht dort, wo es trotz aller Einflüsse und Wandlungen in einem Leben sich in der Treue einer Idee, einer Sache, einem Vorbild oder eben auch dem ‚gegebenen Wort‘ gegenüber behauptet. Ich möchte meinen Leser nicht verwirren. In der Entscheidung für Werte oder eine ‚Sache‘ spricht das ipse, in der Treue, in der ‚Anhänglichkeit‘ diesen Werten oder dieser Sache gegenüber scheint das ipse noch durch, aber in der ritualisierten Verehrung von Werten oder Helden und in der gewohnheitsmäßigen Ausübung von Praktiken oder Ritualen im Namen der Sache spielt das idem die entscheidende Rolle. Was die Irritation der Ricoeur’schen Definition verursacht hat, war die schwer verständliche Zuordnung von Beharrlichkeit zum idem und von Veränderlichkeit zum ipse. Plausibler erscheint mir umgekehrt die Zuordnung von Stabilität zum ipse – zum unberührbaren Kern der Autonomie – und von Wandelbarkeit oder Beeinflussbarkeit (durch Natur oder Gesellschaft) zum idem. Falle ich mit einer solchen Deutung hinter Ricoeur auf Kant zurück? Im Kapitel zur ‚Phänomenologie des fähigen Menschen‘ aus seinen Wegen zur Anerkennung schreibt Ricoeur, dass das Selbst der Autonomie „ein Synonym für den Willen [ist], der sich […] mit dem Gesetz verbindet.“ Wir haben das bereits oben im Teil A zur Ethik besprochen, als es um das Selbst in seiner Union von Gesetzgeber und Untertan ging; insoweit kann man hier Ricoeur zustimmen. Doch widersprechen möchte ich seiner Behauptung, dass das ‚auto‘ bei Kant 24 25 Ein solches Zwei-Achsen-Modell verhinderte den Zwang zur Reziprozität, also einen Verlust oder eine Schwächung auf der Seite des einen Modus zwangsläufig mit einem Zugewinn oder einer Stärkung auf der Seite des anderen Modus zu verknüpfen. Siehe oben Ausführungen zum Charakter (im Abschnitt zur Selbigkeit und Selbstheit). 189 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. nicht mehr zur Sprache komme.26 Das Selbst ist doch gerade in seiner Autonomie, wenn man so will, ein willentlicher Kern, der das Gesetz eben zu dem seinigen erklärt. In seiner Doppelrolle unterwirft sich das Selbst sich selbst als Gesetzgeber. Dazu ist oben genügend gesagt worden. Wenn ich von Identität rede, dann beziehe ich mich schon immer auf jenen ‚Zwischenraum‘27 zwischen Selbigkeit und Selbstheit, auf die Spannung zwischen dem Vorrat an sedimentierten Charakterzügen einerseits und der Fähigkeit andererseits, unabhängig von der Selbigkeit (auch überraschende und von bis dahin geltenden Charakterzügen abweichende) Entscheidungen zu treffen, Lebenspläne zu ent- und verwerfen sowie aktiv = selbstbestimmt in das In-der-Welt-Sein einzugreifen. Vielleicht ist ein solcher ‚Rückfall‘ auf Kant der zu zahlende Preis für den Versuch, ein wenig Licht in das Dunkle des Begriffes der Selbstheit zu bringen. Wozu abschließend noch etwas gesagt werden muss, ist die Rolle der Identität in der Zeit. Zunächst einmal scheint es banal zu sein, die Selbigkeit mehr der Vergangenheit zuzuordnen28 und die Selbstheit der Zukunft. Während die Frage nach dem idem auf die Wiedererkennung des Individuums zielt,29 geht die Frage nach dem ipse auf die Potenz zurück, sein zukünftiges Selbst zu entwerfen. Gerade der Ricoeur’sche Oppositionsbegriff zur Selbstheit, die Fremdheit – nicht der der Veränderlichkeit, sondern eben der der Andersheit30 – weist unterschwellig den Weg zu Sartre und Heidegger, den Weg zum ‚eigentlichen Seinkönnen‘ als Emanzipation vom entfremdeten Verfallensein ans Man31. Ich möchte Ricoeur nicht allzu sehr vereinnahmen oder künstlich in die Nähe zum Existentialismus bringen, mein Anliegen war es lediglich, den dunklen Begriff der Selbstheit, den uns Ricoeur vorlegt, etwas greifbarer zu machen, operationalisierbarer für unsere Zwecke, wenn man so will. Denn im folgenden Abschnitt wird es um die narrative Identität gehen, in der das Selbst seine ‚Dialektik von Selbstheit und Selbigkeit‘ erst entfalten kann. So zumindest die Ricoeur’sche These. 26 27 28 29 30 31 „Das ‚auto‘ der Autonomie […] wird nie als solches thematisiert“ (Ricoeur 2006, p. 121). So nennt es Ricoeur; vgl. (Ricoeur 2005a, p. 182). „die Erinnerung neigt zur Identität-Selbigkeit hin“ (Ricoeur 2006, p. 165). Frage nach der Gleichheit, was ist unverändert geblieben, was rettet sich als Unveränderliches aus der Vergangenheit in die Gegenwart? Vgl. hierzu (Ricoeur 2005b, p. 209). Ich werde, wie gesagt, in Teil D zur Handlung darauf zurückkommen. 190 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 1.2. Die narrative Identität 1.2.1. Das erzählte Selbst als Zuspitzung der Dialektik von Selbstheit und Selbigkeit „Die narrative Identität eliminiert diese Art der Identität [des idem] ja keineswegs, sondern setzt sie in ein dialektisches Verhältnis zur Identität des ipse.“ (Ricoeur 2006, p. 135) In Zeit und Erzählung verwendet Ricoeur den Begriff der Identität vor allem im Zusammenhang mit der mimêsis II, also der Konfiguration einer Geschichte: Der Konfigurationsprozess binde das Disparate, synthetisiere das Heterogene; das einzelne Ereignis als das Überraschende werde als Bestandteil einer Geschichte (im nachträglichen Verständnis) zu einem notwendigen Bestandteil, das Diskordante werde zum Element des Konkordanten. Nun die These Ricoeurs: Die Figur gehöre derselben ‚narrativen Vernunft‘ an wie die Fabelkomposition. Die Identität der Figur sei „als eine Übertragung der zunächst auf die Erzählhandlung angewandten Fabelkomposition auf sich selbst“ zu verstehen. (Ricoeur 2005a, p. 176) Ein solcher Analogieschluss mag zunächst heuristisch hinnehmbar sein, wenn er denn zu brauchbaren Erkenntnissen führt. 1.2.2. Korrelation von Figur und Handlung Aus der Korrelation von Handlung und Figur ergebe sich, so Ricoeur, eine innere Dialektik der Figur. Während sie sich auf der Ebene der Konkordanz auf ihre Einzigartigkeit in der Einheit ihres Lebens beziehe (‚Totalität‘), werde sie auf der Ebene der Diskordanz32 mit unvorhersehbaren Ereignissen, mit ‚Unterbrechungseffekten‘33 konfrontiert. Die von der Fabelkomposition gestiftete Synthese aus Konkordanz und Diskordanz vereinnahme das Unvorhergesehene und erkläre die zunächst nur kontingent erscheinenden ‚Unterbrechungen‘ nachträglich zu einer der Lebensgeschichte der Figur zugehörigen ‚Notwendigkeit‘. Zufall werde so in ‚Geschick‘ verwandelt. Die Erzählung konstruiere eine narrative Identität der Figur, indem sie die erzählte Geschichte als Einheit konstruiere: „Es ist die Identität der Geschichte, die die Identität der Figur bewirkt“ (Ricoeur 2005a, p. 182).34 32 33 34 Konkordanz: concordantia, lat. = Übereinstimmung, Harmonie, ‚eines Herzens’; Diskordanz: discordantia, lat. = Widerspruch; Missklang, Unstimmigkeit in der Komposition. Bei Galen Strawson ist das wirkliche Leben durchdrungen von solchen Unterbrechungen: „Every life comes with a thrilling stack of counterfactuals“ (Strawson 2018, p. 183). Ich möchte das nicht allzu beckmesserisch betrachten, aber Ricoeur bemüht hier eine einfache Analogie von Fabelkomposition und Figuren als Handlungsträgern. Zudem 191 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Folgende vorläufige Überlegung sei erlaubt: Ricoeurs Grundidee – sozusagen das Fundament seiner Gedanken – scheint die Übertragung eines narrativen Ordnungs- oder Gestaltungsprinzips auf die Figur (und am Ende auf den Leser) zu sein. Das Konfigurationsprinzip in Dramen und Erzählungen ist das der Konkordanz, das diskordante Elemente ‚vereinnahmt‘, ohne sie in ihrer NichtVorhersehbarkeit zu leugnen. Das ist weiter oben bereits erläutert worden.35 Die Witz ist nun: Wenn ich die Phänomene der Konkordanz und Diskordanz auf das Individuum übertrage, dann verwandele ich tatsächlich das Individuum (ob nun Person oder Figur) strukturell in ein narratives Individuum, ein Individuum, das seine Identität nicht anders zu bestimmen vermag als als erzählbare. Für eine Figur innerhalb einer diêghêsis ist das sicherlich richtig, denn sie ist eben Teil davon und vom Autor in ihrer narrativen Identität erschaffen worden. Und entsprechend wird sie auch vom Interpreten ‚gelesen‘. Die Identität siedelt sich aus Ricoeur’scher Perspektive auf den Achsen des idem und ipse an, in der Regel unter der Dominanz der Selbigkeit, der Aufnahme des Anderen in das Selbst, vor allem der gesellschaftlichen und kulturellen Vorgaben. Daneben wird das Selbst nun mit dem Überraschenden, dem Unvorhersehbaren konfrontiert – und hier nähert sich eben die Identität dem ipse. Und entsprechend konstruiert Ricoeur das Analogon: So wie die Konfiguration einer Erzählung das Überraschende, die Einbrüche in die Geschichte integriert, so kommen Selbigkeit und Selbstheit in einem erzählbaren Ganzen zusammen. So weit Ricoeur. Ich werde mich weiter unten mit diesem Modell noch einmal kritisch auseinandersetzen. 35 kommt hier eine eigentümliche Idee von Dialektik zum Tragen, wenn die ‚Synthese‘ nichts anderes sein soll als die Vereinnahmung des einen Pols durch den anderen: die Komposition konkordiere das zunächst diskordant Erscheinende. Siehe oben im Kapitel B.8.: ‚Integration des Episodischen‘. 192 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 1.2.3. Das narrative Schema und die Lebens-Erzählung Das narrative Schema formuliere eine gewünschte Abfolge von narrativen Programmen, „die auf einem ‚Tun-Wollen‘ (vouloir-faire) beruht, d.h. auf dem Bedürfnis, dem Leben einen Sinn, ein ‚Rückgrat‘ zu geben. Diese Eigenschaft erklärt vielleicht die hohe Allgemeinheit dieses ideologischen Modells.“36 (Greimas, 1983, p. 270) Der Begriff des narrativen Schemas geht auf Greimas zurück. Wie oben erläutert, schreibt er der Prüfung einen ‚diachronischen Status‘37 zu, die allein die ‚diachronische Definition der Erzählung‘38 definiere. In ihrer Sémiotique39 greifen Greimas und Courtés diesen Gedanken nochmals auf und erkennen in der Wiederholung der drei Prüfungen40 ein ‚kanonisches narratives Schema‘, sozusagen ein narratives Muster.41 Nun knüpfen die Autoren daran einen weiteren Gedanken an. Sie schreiben der Idee des narrativen Schemas als eines ‚hypothetischen Modells der allgemeinen Organisation von Narrativität‘ eine sinnstiftende Funktion für das Leben des Subjekts zu: „the narrative schema constitutes a kind of formal framework within which is recorded ‚life meaning‘ with its three essential domains“ (Greimas & Courtés 1982, p. 204), nämlich mit der Qualifikation, die das Subjekt ins Leben einführe, mit der Realisation in Handlungen und schließlich der ‚Sanktion‘, die allein den ‚Sinn‘ (‚meaning‘) der Handlungen bestätigen könne und das Individuum als ein ‚subject of being‘ installiere.42 Ein hoher Anspruch, den die Autoren hier formulieren, ein Anspruch, der nicht kleiner wird, wenn man sich vor Augen führt, dass das narrative Schema – nach Greimas so etwas wie ein ‚weltanschaulicher‘43 Rahmen – auf einer polemischen Struktur der Individu36 37 38 39 40 41 42 43 Aus einem Gespräch mit Peter Stockinger 1983 in Paris. Vgl. (Greimas 1971, p. 190); siehe auch oben im Kapitel B.5. Erläuterungen zur Prüfung im Greimas’schen Transformationsmodell. Vgl. oben Ausführungen zur ‚Diachronie der Prüfungen‘ (in B.5. Die Prüfung). Dort wurde erläutert, dass die Prüfungen eine Relais-Funktion zwischen den Kontrakten spielten. Auch diesen Gedanken nehmen Greimas und Courtés wieder auf: Die Vertragsstruktur „seems to dominate the whole narrative schema“ (Greimas & Courtés 1982, p. 206). Vgl. Lemma Narratives Schema in (Greimas & Courtés 1982, p. 203 ff.). ‚qualifying, decisive and glorifying’; vgl. (Greimas & Courtés 1982, p. 204). Ein solches Schema muss vor aller konkreten Investierung auf der Diskursebene hinreichend allgemein sein. Vgl. (Greimas & Courtés 1982, p. 204). Auch unter dem Lemma Subjekt wiederholen die Autoren diesen Gedanken: „[…] the narrative schema is a hypothetical model of general organization of narrativity, that attempts to account for the forms by which the subject conceives its life as a project, realization, and destiny“ (Greimas & Courtés 1982, p. 321). Greimas blickt in seinem Vortrag On Meaning 1985 in Toronto auf seine Forschung zurück, er habe aus der Entdeckung von Konstanten bei Propp vorgeschlagen, das von diesem untersuchte Volksmärchen als ein weltanschauliches narratives Schema zu betrachten: mehr oder weniger als das menschliches Streben nach dem Sinn des Lebens, nach dem Sinn des individuellen wie auch kollektiven Lebens: „… this is more or less man‘s quest 193 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. en im Bezug aufeinander gründet, dem ‚performing subject‘ also von vornherein ein Anti-Subjekt gegenüberstellt: „Indeed, the narrative schema is at first defined as a polemical and/or contractual structure, implying the presence […] of an anti-subject which the subject has to confront“ (Greimas & Courtés 1982, p. 321). Hier berühren sich die Idee eines narrativen Schemas und die des Moralischen Paktes. Beide bilden Handlungs- oder Verhaltensrahmen ab, die das Subjekt mit Sinn füllt und dann ins eigene Leben als Projekt, das es zu verwirklichen gilt, überträgt, gegebenenfalls auch als eigenes ,Schicksal‘. Ich möchte es überspitzt formulieren: Das narrative Schema ist vom ersten Kontrakt an bis zur letzten Prüfung die Verlaufsform der Elemente des Moralischen Paktes. Das narrative Schema ist also nicht nur sinnstiftendes oder ideologisches Modell für die Erfassung des Individuums in seiner ‚Identität‘, sondern sozusagen das Gefäß für die Elemente des Moralischen Paktes. Zurück zu Ricoeur. Auch er scheint mit der Idee des narrativen Schemas zu sympathisieren, so schreibt er in seinem Aufsatz Annäherung an die Person von 1990,44 dass die Person sich unter ‚der Herrschaft eines Lebens‘ entfalte und auf diese Art sich der ‚Zusammenhang eines Lebens‘ konstituiere.45 Dabei stelle sich die Frage nach der Identität eines Individuums, das im Laufe seines Lebens mit sich identisch bleibe. In den Schlussfolgerungen am Ende des dritten Bandes von Zeit und Erzählung streicht Ricoeur noch einmal die Rolle der narrativen Identität heraus, in der sich das Wer erfasse. Die narrative Identität konstituiere vor allem die Ipseität, beziehe Veränderung und Bewegung ein und refiguriere unaufhörlich die Geschichte eines Lebens durch alle Geschichten, die ein Subjekt über sich selbst erzähle. „Diese Refiguration macht das Leben zu einem Gewebe erzählter Geschichten“ (Ricoeur 2007c, p. 396) Ricoeur und Greimas scheinen beide davon überzeugt zu sein, dass – um bei den Begriffen Ricoeurs zu bleiben – die personale Identität sich nur über die narrative herstellen, besser: erzählen könne.46 Auch in einem zweiten Punkt kommen sich Greimas und Ricoeur sehr nahe, nämlich in der Idee einer einrahmenden Kontraktstruktur. Ricoeur schließt seine Annäherungen an die Person mit dem Gedanken ab, dass Personen, Gemeinschaften und Institutionen47 ihre Identität narrativ in der Dialektik von Verän- 44 45 46 47 for the meaning of life, for the meaning of individual life and for the meaning of collective life“ (Greimas, 1988b, p. 543). Vgl. (Ricoeur 2005b, p. 227 ff.). Vgl. (Ricoeur 2005b, p. 245). Erst in der narrativen Identität, wie oben bereits zitiert, finde die Dialektik von Selbstheit und Selbigkeit ihren Ausdruck; vgl. (Ricoeur 2006, p. 165). … nach der ternären Struktur seiner ‚kleinen Ethik‘: Sorge um sich selbst, Sorge um den Anderen und Sorge um die Institutionen; vgl. (Ricoeur 2005b, p. 244). 194 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. derung und Aufrechterhaltung durch ‚Eid und Versprechen‘ vereinbarten.48 Im Band III seines Hauptwerks Zeit und Erzählung hat sich Ricoeur schon einmal auf Gesellschaft und Institutionen in ihrem Bezug auf die Identitätsstiftung des Subjekts bezogen: „Die Ipseität ist somit diejenige [die Erzählung, S.G.] eines Selbst, das seine Bildung den Werken der Kultur verdankt, die es auf sich selbst appliziert hat“ (Ricoeur 2007c, p. 396). Nach meiner modifizierenden Lesart kann sich die Ipseität nicht durch die Kultur ‚bilden‘ lassen, sondern stellt so etwas wie den Kern des sich selbst entwerfenden (oder auch unter-werfenden) Selbst dar. Auch das ist, das räume ich gerne ein, eine idealistische Sichtweise. Exkurs: Kritik an den Narrativisten „Die meisten von uns haben nur eine einzige Geschichte zu erzählen. Damit meine ich nicht, dass uns im Leben nur einmal etwas geschieht. Es gibt unzählige Ereignisse, aus denen wir unzählige Geschichten machen. Aber nur ein Ereignis ist von Bedeutung, nur eins ist letzten Endes erzählenswert. […] Aber da haben wir schon das erste Problem. Wenn das die einzige Geschichte ist, dann hat man sie auch am häufigsten erzählt und wieder erzählt, wenn auch – wie in diesem Fall – vor allem sich selbst. Dann lautet die Frage: Bringt einen dieses Erzählen und Wiedererzählen der Wahrheit des Geschehens näher, oder führt es weiter davon weg?“ (Barnes 2019, p. 11 f.) Einer der Hauptkritiker der Lebenserzählungsthese ist Galen Strawson. Im Fokus seiner Kritik stehen vor allem eine psychologische wie auch eine ethische narrative These. Auf seinen Aufsatz Against Narrativity49 wird in narratologischer Literatur hin und wieder verwiesen, ich möchte mich aber in der gebotenen Kürze zunächst auf einen anderen Beitrag beziehen, auf seine 2018 erschienenen Überlegungen zum Unstoried Life aus dem Sammelband Things That Bother Me.50 Er beginnt mit dem Standpunkt, gegen den er in seinen Ausführungen dann polemisieren wird: „Here are some claims I don’t believe. ‚We are all storytellers, and we are the stories we tell.‘ […] ‚We make sense of our lives … by turning them into stories.‘ […] ‚The self … only comes to exist through its being narrated.‘“ (Strawson 2018, p. 177) 48 49 50 Damit verknüpft er einen Abschluss-Appell: „Suchen wir keine feste Substanz hinter diesen Gemeinschaften, aber verweigern wir ihnen auch nicht die Fähigkeit, sich vermittels einer schöpferischen Treue im Verhältnis zu Gründungsereignissen aufrechtzuerhalten, durch die sie in der Zeit errichtet werden“ (Ricoeur 2005b, p. 248 f.). (Strawson 2008). Vgl. (Strawson 2018). 195 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Die psychologische Seite Die Vertreter solcher Thesen – Strawson nennt sie ‚the narrativists‘, zu denen also auch Greimas und Ricoeur gehören – gingen davon aus, dass die Menschen ihr Leben auf eine narrative Weise erlebten, „as having the form of a story, or perhaps a collection of stories“ (Strawson 2018, p. 179). Einer der ersten Vertreter dieser These – Alasdair MacIntyre51 –, auf den sich explizit auch Ricoeur bezieht,52 sagt: „We are never more (and sometimes much less) than the co-autors of our own narratives. Only in fantasy do we live what story we please“53 (Strawson 2018, p. 183). Eine solche Sichtweise halte sich hartnäckig, so habe Marya Schlechtmann noch 2014 formuliert: „[…] we constitute ourselves as persons … by developing and operating with a (mostly implicit) autobiographical narrative which acts as the lens through which we experience the world“54 (Strawson 2018, p. 186). Die Hoffnung, dass Strawson als Non-Narrativist dagegen nun tiefgründig argumentiert, bleibt unerfüllt, er lässt Autoren oder Philosophen schlichtweg von einem entgegengesetzten Standpunkt auftreten, das war es dann auch schon. Also schauen wir noch kurz in den Aufsatz Against Narrativity. Es gebe, so Strawson, Individuen, die tendierten dazu, ihr Leben als zusammenhängende Diachronie zu betrachten, und andere, die es mehr als Anhäufung von Episoden55 sähen. Das mag für eine phänomenologische Betrachtung infrage kommen, hat aber kaum argumentatorisches Gewicht, um seinen Standpunkt zu rechtfertigen. 51 52 53 54 55 „Aladair MacIntyre is perhaps the founding figure in the modern Narrativity camp“ (Strawson 2008, p. 197). Ricoeur übernimmt den Begriff des Co-Autors direkt: „Indem ich die Erzählung eines Lebens verfasse, dessen Urheber – was die Existenz anbelangt – ich nicht bin, mache ich mich – was seine Bedeutung anbelangt – zu seinem Co-Autor“ (Ricoeur 2005a, p. 198). Strawson zitiert hier Alasdair MacIntyre, After Virtue, London 1981, S. 199. Strawson zitiert Marya Schlechtmann, Staying Alive, Oxford 2014, S, 100. Exemplarisch für die episodische Haltung ruft Strawson Rilkes Malte auf (das kursiv Gesetzte zitiert Strawson): „Aber auch bei Sterbenden muß man gewesen sein, muß bei Toten gesessen haben in der Stube mit dem offenen Fenster und den stoßweisen Geräuschen. Und es genügt auch noch nicht, daß man Erinnerungen hat. Man muß sie vergessen können, wenn es viele sind, und man muß die große Geduld haben, zu warten, daß sie wiederkommen. Denn die Erinnerungen selbst sind es noch nicht. Erst wenn sie Blut werden in uns, Blick und Gebärde, namenlos und nicht mehr zu unterscheiden von uns selbst, erst dann kann es geschehen, daß in einer sehr seltenen Stunde das erste Wort eines Verses aufsteht in ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht“ (Rilke 2000, p. 22); vgl. auch (Strawson 2008, p. 193). 196 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Die ethische Seite Den zweiten, ethischen Aspekt56 problematisiert Strawson als ‚ethical Narrativity thesis‘, „according to which a richly Narrative outlook on one’s life is essential to living well, to true or full personhood“ (Strawson 2008, p. 189). Er wendet sich in seiner Untersuchung auch Ricoeur zu und ist irritiert ob dessen Frage, wie denn anders ein Subjekt der Handlung seinem Leben einen ethischen Charakter geben könne als es in eine narrative Gestalt gebracht zu haben. Eine solche Sichtweise, so Strawson, gehe auf MacIntyre zurück, der die Einheit eines individuellen Lebens als eine erzählte Einheit sieht und das dann ebenfalls unter dem Gesichtspunkt der Ethik präzisiert: Die Einheit eines Lebens „is the unity of a narrative quest. […] A quest for what? … a quest for the good … the good life for man is the life spent in seeking for the good life for man“57 (Strawson 2008, p. 197). Das Leben in Form einer Erzählung und in ‚Ausrichtung auf ein ‚gutes‘ Leben‘ – das ist der Schlussstein der Ricoeur’schen ‚narrativen Einheit eines Lebens‘. In letzter Konsequenz, so noch ein Randgedanke, müssten sich dann auch die sich dem ‚Bösen‘ verschriebenen Personen oder literarischen Figuren als Protagonisten eines ‚guten Lebens‘ verstehen. Was im ersten Moment abwegig klingen mag, erschiene auf einem zweiten Blick als durchaus bedenkenswert.58 Das soll an dieser Stelle aber genügen. * Erinnert man sich an den Moralischen Pakt, dann löst sich womöglich der Streit zwischen den Narrativisten und Non-Narrativisten in Wohlgefallen auf. MacIntyre kommt dem Pakt am nächsten, wenn er von quest, also der Suche spricht. Eine solche ethische Komponente des narrativen Schemas teilen sich unzählige 56 57 58 Was das Ethische angehe, so seien nach Strawson die Narrativisten selbst streng diachronische Persönlichkeiten und übertrügen ihre Besonderheit als Charakteristikum auf alle Anderen (vgl. (Strawson 2008, p. 198)). Dass Strawson an anderer Stelle den Narrativisten einen Hang zur Religiosität unterstellt (vgl. (Strawson 2008, p. 196 f.)), ist Unsinn. Aber der dahinter stehende Gedanke ist bemerkenswert, dass nämlich religiöser Glaube das Individuum in den Mittelpunkt stellt und das Leben als gottgefälliges Werk, als moralische Einheit konstruiert. Und so fügt Strawson noch eine Fußnote ein, nämlich über die Tatsache (‚fact‘), „that religious belief in general, ostensibly self-denying, is one of the fundamental vehicles of human narcissism“ (Strawson 2008, pp. 197, Anm. 23). Strawson zitiert hier Alasdair MacIntyre, After Virtue, London 1981, S. 203 f. Hat nicht Christopher Nolan in seiner Batman-Trilogie Subjekt wie Anti-Subjekt aus ihrer jeweiligen Perspektive ,richtig‘ handeln lassen? Will nicht auf der einen Seite Batman Gotham vor dem Verbrechen reinigen oder schützen? Und will nicht auf der anderen Seite die Gesellschaft der Schatten (Ras-al-Goul und Bane) das Gleichgewicht der Gerechtigkeit wiederherstellen, indem sie Gotham auslöscht? Der Joker im mittleren Teil hat vor allem die Funktion, Batman aufzuzeigen, dass er sich keinerlei Regeln unterwerfen dürfe, wolle er wirklich siegen, also unmoralisch handeln müsse, um sein höheres moralisches Ziel zu erreichen. 197 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Erzählungen und Dramen. Sie sind aber schon ‚stories‘, keine Abbildungen von Lebensgeschichten (ich vernachlässige einmal die biografische Literatur), sie sind konstruiert, enthalten so etwas wie einen Plan und integrieren funktional alles Episodische. Dort und erst einmal nur dort ist die narrative Identität auf den Achsen der Selbigkeit und Selbstheit angesiedelt. Die personale Identität, so räume ich ein, nimmt seine Positionsbestimmung ebenfalls auf diesen Achsen vor, und zwar immer wieder neu, sozusagen von Episode zu Episode. Ob aber dieses Procedere auf eine Gesamtlebenserzählung hinausläuft, ist mehr als fraglich, da stimme ich Strawson zu. Die Leser fiktiver Literatur werden kulturell konfrontiert mit narrativen Schemen, konfrontiert mit den Elementen des Moralischen Paktes, mit den Herausforderungen, die es anzunehmen gilt, mit der Suche nach welchem Gral auch immer, mit vertraglicher Bindung und Versprechung, mit Lohn und Leistung, mit Enttäuschung und Wiederaufstehen. Wie aber nun solche Schemata der Narration in die personale Identität des Lesers integriert werden, davon wird in einer zukünftigen Arbeit zu sprechen sein. 1.2.4. Literatur als Laboratorium „Würde somit59 die ethische Neutralität des Künstlers nicht zugleich eine der ältesten Funktionen der Kunst aufheben, die nämlich, ein Laboratorium zu bilden, in dem der Künstler im Modus der Fiktion ein Experiment an den Werten vornimmt“ (Ricoeur 2007a, p. 97). Wie führt Ricoeur nun idem und ipse zusammen – wenn der narrativen Identität die Vermittlerrolle zufallen soll? Sie biete, so seine Antwort, ‚imaginative Variationen‘ an, in denen eine Identität narrativ ‚durchgespielt‘ werde: „In diesem Sinne erweist sich die Literatur als ein weiträumiges Laboratorium für Gedankenexperimente, in denen die Variationsmöglichkeiten narrativer Identität auf den Prüfstand der Erzählung gestellt werden“ (Ricoeur 2005a, p. 182). Wenn Ricoeur diese ‚Leistung‘ der narrativen Identität eine ‚Vermittlung‘ zwischen den Identitätsmodi nennt, kann das nicht mehr meinen als eine jeweilige Position auf den Achsen des idem und ipse einzunehmen. Eine ‚Vermittlung‘ im dialektischen Sinne ist hier weder zu erkennen noch zu erwarten. Ricoeur illustriert eine solche Leistung der narrativen Identität in Erzählungen mit einem Blick auf die Literaturgeschichte: 59 Vor diesem Zitat spricht sich Ricoeur dafür aus, dass eine Neutralität des Künstlers weder möglich noch wünschenswert sei; vgl. (Ricoeur 2007a, p. 97). 198 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. – Märchen und Volkserzählungen stünden im Zeichen der Selbigkeit, in dem stabile Charaktere vorgefertigte Rollen zur Darstellung brächten: Kohärenz von Figur und Konstanz ihres Charakters bis zum Ende der Geschichte. – Der Entwicklungs- und Bildungsroman des 19. Jahrhunderts bringe mehr die Figurenentwicklung, die Selbstheit zur Darstellung: „Identität wird dynamischer und wandelbarer und muss in Interaktion mit der Umwelt ausgeformt werden“ (Bläser 2015, p. 68). Nach meiner Lesart dominiert auch hier die Selbigkeit, also die Aufnahme der Ansprüche und Forderungen des Anderen (der Gesellschaft) ins Selbst. Auch das wird im Folgeband zu besprechen sein. – Zwischen Märchen und Bildungsroman, in denen das idem bzw. das ipse dominiere, stünde der klassische Roman, in dem das idem schwächer werde, ohne ganz zu verschwinden.60 – In Erzählungen der ‚Zersetzung der Identität‘ löse sich die Identität der Figur auf (wie bei Joyce, Kafka, Musil). Aber selbst hierbei sei die Frage nach dem Wer, also nach dem Selbst, immer noch virulent. Man könne allerdings sagen, dass die Frage nach dem ‚Wer bin ich?‘ keinen Halt mehr in der Frage ‚Was bin ich?‘ habe: „Die Selbstheit hat sich gewissermaßen von der Selbigkeit abgelöst“ (Ricoeur 2005b, p. 246). Im Extremfall zerfallen die beiden Achsen, zwischen denen das Selbst in seiner jeweiligen Positionsbestimmung sich verortet. Ricoeur erklärt also das Märchen zum Paradigma für die Dominanz der Selbigkeit mit Stabilität und Rollenfixierung des Helden. Aufgehoben oder ‚verflüssigt‘ werde diese Struktur im Entwicklungsroman, der nicht nur eine Figur mit dominierender Selbstheit ins Zentrum stelle, sondern ihr auch noch die Priorität vor der Handlung zuspreche. Das Verhältnis von Handlung und Figur muss man sich, zumindest was den Strukturgedanken Ricoeurs angeht, beweglich vorstellen, je nachdem, wo die narrative Identität auf den Achsen zu liegen kommt. Mehr noch: Ist eine solche Flüssigkeit nicht auch innerhalb einer Textsorte innerhalb einer literarischen ‚Epoche‘ zu beobachten? Liegen nicht zwischen einer Figur wie Hans im Glück – mit einem tatsächlich äußerst stabilen Charakter – und einer Figur wie dem Mann ohne Eigenschaften eine Vielzahl von Varianten, die die Ricoeur’sche Matrix von Selbigkeit und Selbstheit ganz unterschiedlich ‚besetzen‘? Sollte man nicht Vorsicht walten lasse bei schablonenhaften Zuschreibungen? Ist am Ende der Märchenfigur tatsächlich jedes Entwicklungspotential abzusprechen61? Und sind auf der anderen Seite Romanhelden aus dem beginnenden 20. Jahrhundert wirklich auf dem Sprung, in rei- 60 61 Vgl. hierzu (Ricoeur 2005a, p. 182 f.). Zum Beispiel die Einsicht, die der Held aus Prüfungen oder Kämpfen gewinnt. 199 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. ner Autonomie sich ständig neu zu erfinden?62 Vor einer simplifizierenden eindeutigen Verortung der Figuren auf den Achsen der Selbigkeit und Selbstheit sollte man sich hüten. Grundsätzlich ist festzuhalten und darin Ricoeur auch zuzustimmen, dass Figuren mehr im Zeichen der Selbigkeit oder mehr im Zeichen der Selbst-Ständigkeit konzipiert werden können, dass sie mehr mit stabilem Charakter in feststehenden Rollen zur Darstellung gebracht werden können (bis hin zu einfachen Typisierungen) oder mehr mit einem ‚unfertigen‘ Charakter, der sich erst im Laufe der Erzählung formt.63 Die narrative Identität zeigt in Erzählvarianten die Reibung zwischen den Ansprüchen der Gesellschaft und dem autonomen Selbst des Helden, sofern dieser noch nicht völlig als verkrusteter Charakter den Entfremdungskräften der Gesellschaft verfallen ist. Die Autonomie der Figuren sollte grundsätzlich vorausgesetzt werden, ansonsten würde sich jegliche narrative Identität auflösen, aus autonomen Individuen würden Automaten – sicherlich kein ‚Personal‘ erzählenswerter Geschichten.64 Auch wäre dann der Moralische Pakt ein wertloses Strukturmodell, denn eine Figur ohne Autonomie könnte vom Erzähler nicht als Anschauungsmaterial für Konkurrenz und Austausch genutzt werden, es könnte ihr keinerlei Verantwortung65 für ihr Handeln zugeschrieben werden. Gleichwohl ist die Reduktion der Figur auf eine Rest-Autonomie (auf ihren ipse-Anteil) Gegenstand literarischen Schreibens – wie in Büchners Woyzeck –, was die Geltung des Moralischen Paktes aber nicht außer Kraft setzt, sondern ihn pointiert zur Anschauung bringt, wenn auch wie im Fall Woyzeck unter kritischer Intention. Büchner führt exemplarisch Identitätsverlust und Subjektschwäche vor. Abseits der Problematik einer ‚Dialektik‘ von Selbigkeit und Selbstheit ist Ricoeur insoweit zuzustimmen, als Erzählungen tatsächlich ein Experimentierfeld für die Gestaltung von Identitäten eröffnen. Aber ganz gleich, wo der Held auf der Spannungslinie zwischen Selbigkeit und Selbstheit zu liegen kommt, in jedem Fall wird er mit den Prinzipien von Konkurrenz und Austausch konfrontiert. Aber auch unabhängig von den Elementen des Moralischen Paktes ist das Phänomen der narrativen Identität durch und durch ein ethisches.66 Ricoeur 62 63 64 65 66 Mit dem Bildungsroman und noch stärker mit dem ‚Roman des Bewusstseinsstroms‘, so Ricoeur, kehre sich das Verhältnis von Fabel und Figur um, die Fabel werde in den Dienst der Figur gestellt: „So erreicht man den äußersten Pol der Variation, an dem die Figur aufgehört hat, ein Charakter zu sein“ (Ricoeur 2005a, p. 183). „Identität wird dynamischer und wandelbarer und muss in Interaktion mit der Umwelt ausgeformt werden“ (Bläser 2015, p. 68). Olimpia in Hoffmanns Der Sandmann trüge als alleiniges ‚Personal‘ sicherlich keine Geschichte, sie ist eher als Spiegel des inneren Zustands Nathanaels von erzählerischem Belang. Das wird sich in Zukunft angesichts der Entwicklung von KI womöglich ändern. Auf das Thema der Verantwortung komme ich im Kapitel E.3. zum Gewissen zu sprechen. … und zwar auf einer anderen Ebene als derjenigen, die Strawson für seine Breitseiten gegen die Narrativisten nutzt. 200 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. sagt dazu in einem eigenen Kapitel67 aus Das Selbst als ein Anderer Folgendes: Narrative und ethische Theorie näherten sich gerade auf dem Feld der Identitätsproblematik, dort nämlich, wo der zweite Pol des ‚Variationsspektrums‘ der Identität in den Blick komme, das ipse, das sich am Ende durch Verlässlichkeit, Auf-einen-zählen-Können, am Ende durch Verantwortung (‚Hier sieh mich‘) auszeichne. Für mich qualifiziert hingegen vor allem das Heidegger’sche ‚eigenste Seinkönnen‘ das Selbst – worauf ich im anschließenden Teil D zum Handeln noch umfänglicher eingehen werde. Einverstanden bin ich hingegen mit seinen weiteren Ausführungen: Die narrative Identität sei im ‚Zwischenbereich‘68 auf den Identitätsachsen anzusiedeln, sie ‚narrativisiere‘ den Charakter, indem sie ihm seine ‚Bewegung‘ zurückgebe, die bis dahin in erstarrter Disposition und sedimentierter Identifikation verschwunden war. Das Unkenntliche der Entscheidung für oder gegen etwas, das das Selbst einmal ins Eigene zu implementieren beabsichtigt hat, so könnte man formulieren, wird in der Erzählung wieder sichtbar, der Anteil der Selbstheit beim Aufbau der Selbigkeit. Narrativität macht bei aller augenscheinlichen ‚Beständigkeit‘ oder ‚Starrheit‘ der Idemnität den verborgenen, autonomen Kern der Ipseität sichtbar und erzählbar, ganz gleich, welche Lesart man fokussiert, Ricoeurs oder die von mir vorgeschlagene. * Es sei mir abschließend noch eine kritische Bemerkung zu Ricoeurs Erkenntnisinteresse gestattet, die unsere unterschiedlichen Lesarten vielleicht etwas aufhellt. Ricoeurs Plan war es, den Prozess der mimêsis II – die ‚dissonante Konsonanz‘ – auf die Figur zu übertragen: Diese gewinne nur durch Narrativisierung ihre Identität, also durch die Integration des Zufälligen (= einem Zufallenden) in die eigene, einzigartige Totaltät. Die Frage drängt sich auf, ob die Identitätsmodi dafür geeignet sind. Für Ricoeur ist die Sache klar, seine Absicht leuchtet gut sichtbar durch: Die Idemnität (Beständigkeit) ordnet er der Konsonanz zu, die Ipseität der Dissonanz (vor der das ipse sich behauptet oder beweist). Man könnte allerdings – meiner Lesart eingedenk – auch umgekehrt argumentieren: Die Ipseität als gleichbleibender Kern des autonomen Subjekts sorgt für die Einheitlichkeit, die ‚Totalität‘ des ganzen Lebens, während die Idemnität mit ihren Elementen der Andersheit ein Ort prinzipieller Wandelfähigkeit ist – vor aller Ähnlichkeit mit sich selbst zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten. Zwischen diesen beiden Lesarten eingeklemmt, käme man erst zur Ruhe, wenn man sich vom Ricoeur’schen Anspruch verabschiedete, dass der Prozess 67 68 Die ethischen Implikationen der Erzählung, vgl. (Ricoeur 2005a, p. 200 ff.). Vgl. (Ricoeur 2005a, p. 203). 201 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. der Fabelbildung sich in der Identitätsgewinnung des Subjekts widerspiegele. Haben wir, so frage ich nochmals, es nicht eher mit Achsen der beiden Identitätsmodi zu tun, auf denen sich das sich formende Selbst ansiedelt? Vielleicht sollte man sich die Identitätsstiftung als etwas Fließendes, Bewegliches vorstellen zwischen dem Pol der Heterogenität – Anpassung, Gewöhnung und Charakter – und dem der Autonomie – Selbst-Ständigkeit und Willensfreiheit. Und wenn sich das Individuum schon ‚erzählen‘ wollte, dann müsste es mitnichten Unvorhersehbares, Kontingentes als ‚Gemeintes‘, als ‚Schicksal‘ erklären, nicht Dissonantes auf Biegen und Brechen in Konsonantes verwandeln. Der nächste Untersuchungsschritt wird dorthin führen, wo das Selbst seiner eigenen Selbstheit gewahr wird, sich als Selbst erfasst und durchdringt. Ein Schritt, der zur Frage führt, welchen Bedingungen sich das Individuum hierbei gegenübersieht, Bedingungen womöglich, die außerhalb des Selbst liegen. Die Frage führt also direkt zum Anderen und dessen Rolle in der Konstitution des Selbst – oder zum Ricoeur’schen Titel ‚Das Selbst als ein Anderer‘. 202 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. C.2. Zwischen dem Selbst und den Anderen: Übergang zur Handlung Spätestens an dieser Stelle drängt sich der Verdacht auf, dass meine Sortierung an ihre Grenzen stößt. Sobald sich das Selbst von seiner ersten Passivitätserfahrung des Eigenleibes löst und sich auf die Welt außerhalb seines Egos bezieht, da verlässt es seine Passivität und greift aktiv und handelnd auf die Welt aus. Was nun zur Begierde, zum Besitz und zu Genuss und Arbeit gesagt wird, darf getrost vom Leser der vorliegenden Arbeit dem folgenden Teil D zur Handlung zugeschlagen werden. Warum ich ihn dennoch – als Zwischenkapitel – hier im Teil C zum Subjekt belasse, ist allein dem Umstand geschuldet, dass zum einen das Subjekt als begehrendes, genießendes und arbeitendes nach wie vor im Zentrum meiner Betrachtung steht und zum anderen der folgende Teil D zur Handlung am Autonomieprinzip des Selbst anknüpfen und dessen Beschränkungen durch Andere stärker in den Fokus nehmen wird – in der Hoffnung, dass damit Teil D schlank und übersichtlich mir aus der Feder fließe. 2.1. Selbst-Erkenntnis I: Passivitätserfahrungen „Dass die Andersheit nicht von außen her zur Selbstheit hinzukommt, gleichsam um deren solipsistische Verirrung zu verhindern, sondern daß sie zum Sinngehalt und zur ontologischen Konstitution der Selbstheit gehört, dies ist ein Zug, der diese […] Dialektik stark von derjenigen zwischen Selbstheit und Selbigkeit unterscheidet“. (Ricoeur 2005a, p. 382) Ricoeur sucht nach einem Zugang zur Andersheit69 und zwar aus dem ‚Zentrum der Selbstheit‘70 heraus. Er glaubt, sie nicht als solche71 aufspüren zu können, sondern nur in ihrer phänomenologischen Gestalt, in der Gestalt von variierenden Passiverfahrungen des Selbst – über einen Zugang also, dessen Bedeutung zunächst einmal dunkel bleibt. Vermuten könnte man, dass das Bewusstsein im Modus der Passivität seine Inhalte nicht selbst und nicht handelnd generiert, denn im nicht-passiven Zustand der Aktivität bezieht es sich ja auch und vor allem auf sich selbst, auf eigene Zwecke und sich anbietende Mittel. In der Erfahrung der Passivität liegen die Gründe des Affiziertseins außerhalb des Selbst (auch im grammatikalischen Sinn), eben im Anderen. Ricoeur differenziert die Arbeitshypothese eines ‚Dreifußes der Passivität, mithin der Andersheit‘ 72, in drei Passivitätserfahrungen: die Erfahrung des Eigenleibes als Vermittlung 69 70 71 72 … für Ricoeur eine ‚Meta-Kategorie‘; vgl. (Ricoeur 2005a, p. 383). Vgl. (Ricoeur 2005a, p. 383). … als ontologische, wie Ricoeur sagt. Vgl. (Ricoeur 2005a, p. 384). 203 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. zwischen Selbst und Welt, sodann die Erfahrung des Anderen in intersubjektiven Beziehungen und schließlich die Erfahrung des Gewissens.73 Ricoeur hat sich hier offensichtlich von Hegel inspirieren lassen, der in seiner ‚Phänomenologie des Geistes‘ drei Modi des Selbst unterschieden hat:74 das erste Selbst als substanzloses Selbst, das sich nur auf sich bezieht (von der Allgemeinheit noch abgetrennt), das zweite Selbst als der ‚sich wiedergegebene Geist der Entzweiung‘75 (das Allgemeine oder, wenn man so will, das ‚Außen‘ als Gegenstand und Inhalt des Selbst) und das dritte Selbst schließlich als das Gewissen, also die, wenn man so will, Rückkunft des durch das Andere hindurchgegangene Ich bei sich selbst. Hier nun die drei Passivitätserfahrungen Ricoeurs: Die erste Passivitätserfahrung, die Erfahrung des Eigenleibes, ist schnell erfasst. Husserl, so Ricoeur, habe Leib und Körper unterschieden, das Subjekt nehme seinen Leib nicht bloß als Körper wahr, sondern als das einzige Objekt innerhalb der Welt, dem es erfahrungsgemäß Empfindungsfelder zurechne, „das einzige, in dem ich unmittelbar schalte und walte“76 (Ricoeur 2005a, pp. 390, Anm. 32). Der Leib sei das ‚ursprünglichste Meinige‘ und gehe jedem Vorsatz voraus, gebe dem ‚Ich will‘ seine Wurzel. Der zweite Schritt sei nun die Verweltlichung des Leibes, damit der Körper unter Körpern erscheinen könne. Dabei werde aus der ‚eigenen Andersheit‘ eine fremde: „Denn mein Leib erscheint nur insofern als ein Körper unter anderen Körpern, als ich selbst […] ein Anderer unter allen Anderen bin“ (Ricoeur 2005a, p. 390). Die eigene organische Ausstattung verdoppele sich also in Leib – auf sich selbst bezogen – und Körper – Teil der Welt und zugänglich auch für Andere. Das soll hier genügen. Die zweite Passivitätserfahrung, Erfahrung des Anderen, stellt sich – anders als die erste – zu einer raschen Erfassung quer. Den Übergang vom Selbst zum Anderen zu begreifen, ist eines der Hauptanliegen der Ricoeur’schen Anstrengungen, ein Übergang, den Greimas noch nicht problematisiert hat, sondern immer schon vorausgesetzt und fast unvermittelt zum polemischen Prinzip erweitert hat. Anders nun bei Ricoeur. In der Erfahrung des Anderen werde das Selbst zunächst vom Anderen berührt und erkenne sich dadurch77. Die Frage sei, wie sich dieses von außen kommende Andere als Merkmal des Selbst zeige: das Selbst eben als ein Anderes. An73 74 75 76 77 Auf den dritten ‚Fuß‘ der Passivität, das Gewissen, komme ich in Kapitel E.3 zu sprechen. Vgl. (Hegel 1988, p. 416 ff.). Vgl. (Hegel 1988, p. 416). Ricoeur zitiert hier Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana I, Den Haag 1950, § 44, S. 128; vgl. (Ricoeur 2005a, pp. 390, Anm. 32). Diesem Modus der Selbsterkenntnis steht das ego gegenüber, das sich selbst setze; vgl. (Ricoeur 2005a, p. 395). 204 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. knüpfend an die erste Passivitätserfahrung, erfasse sich das Selbst im Modus der ‚Bedeutungsübertragung‘: „Die Bedeutung ego wird auf einen anderen Körper übertragen, der als Leib auch die Bedeutung ego erhält“ (Ricoeur 2005a, p. 402). Der Ausdruck alter ego drücke Ähnlichkeit und Asymmetrie aus. Das alter darin spiegele die Asymmetrie, die der analogischen Übertragung immer schon vorausgehe. Und das ego in ‚alter ego‘ verleihe jener Andersheit die Bedeutung der Ähnlichkeit, „nämlich das Eingeständnis, daß der Andere nicht dazu verdammt ist, ein Fremder zu bleiben, sondern mein Mitmensch [semblable] werden kann, nämlich jemand, der wie ich ‚Ich‘ sagt“ (Ricoeur 2005a, p. 402). Ricoeur holt sich nicht nur Unterstützung von Husserl, sondern auch von Lévinas. Daran anknüpfend, böte sich an, weiterhin den Blick über Ricoeurs Tellerrand hinaus zu wagen, denn meiner Einschätzung nach gäben Überlegungen beispielsweise von Sartre wie auch von Heidegger wertvolle Einsichten in die Transformationsstruktur zwischen Selbst und Anderem. Was allerdings gegen eine weitere Vertiefung, vor allem gegen die Lektüre der Sartre’schen Philosophie des Blicks spricht, ist vor allem die Gefahr eines Überbordens der vorliegenden Arbeit wie auch zu befürchtende Einbußen in der Lektürestringenz. Schon oft genug habe ich die Geduld des Lesers auf zum Teil lästige Proben gestellt. Mit dem dritten ‚Fuß‘ der Passivität, dem Gewissen, werde ich mich unten in Kapitel E.3 ausführlich beschäftigen. Wenden wir uns hier nun dem aktiven Bezug des Selbst auf die Welt zu. 2.2. Selbst-Erkenntnis II: Das Ausgreifen auf die Welt Das selbstbewusste Individuum schreitet in die Welt hinaus und stößt auf agierende Andere. Ricoeur geht es um den anderen Genus verbi, um das aktive Ausgreifen des Subjekts, allerdings immer noch unter der Perspektive der Selbst-Erfahrung. Das ist der Grund für die Platzierung hier im Teil C zum Subjekt. Es ist ein generelles Problem der Gliederung der vorliegenden Arbeit, dass ich immer wieder sozusagen strukturell vorgreifen muss auf spätere Teile, in diesem Fall auf Teil D zur Handlung. Da es hier aber vor allem um die SelbstErfahrung des Selbst geht, möge die Platzierung der folgenden Ausführungen im Subjekt-Teil zu rechtfertigen sein.78 Ricoeur führt uns zu Hegel, den es hier durchaus zu lesen lohnt. Hegel verfolgt den Weg des Selbstbewusstseins zu sich selbst, einen Weg, der mit der Einverleibung des Gegenübers beginnt, womit es sich seine (einseitige) Selbständigkeit gegenüber dem Leben beweise: die Begierde. 78 Genauso gut hätte ich das nun Folgende als Gelenkstelle zwischen Subjekt und Handlung deklarieren können. Es bliebe aber an derselben Stelle. 205 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 2.2.1. Die Begierde Das Selbstbewusstsein sei sich „seiner selbst nur gewiß durch das Aufheben dieses Anderen, das sich ihm als selbständiges Leben darstellt; es ist Begierde.“ (Hegel 1988, p. 125) 2.2.1.1. Hegels Sicht auf die Begierde Zugriff des Selbst auf Objekte: Verzehr Im dritten Band seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften79 sagt Hegel Folgendes zur Begierde: Das sich selbst reflektierende Ich beziehe sich auf sich selbst und zugleich auf ein Nicht-Ich, das es als ein Nichtiges gegen sich betrachte. In diesem Widerspruch betrachte das Ich das äußerliche Objekt als ein nur ‚scheinbar Selbständiges‘. Es setze das Objekt subjektiv und die eigene Subjektivität objektiv: Das Subjekt schaue in dem Objekt „seinen eigenen Mangel,80 seine eigene Einseitigkeit an, sehe im Objekt etwas zu seinem eigenen Wesen Gehöriges und dennoch ihm Fehlendes.“ Vgl. (Hegel 1970, p. 217). Der Zugriff aufs Objekt – also die praktische Überwindung des Widerspruchs – und die sich anschließende Befriedigung seien ein Verzehren: Darin würden Subjektivität und Objektivität miteinander vermittelt. Auf der einen Seite hebe das Subjekt seinen Mangel auf – sein Zerfallen in ein leeres Ich und ein auf ein Äußeres bezogenes Ich – und auf der anderen Seite verliere das Objekt seine Fremdheit, im Verzehr werde es dem Subjekt buchstäblich ‚einverleibt‘.81 Ich formuliere diesen Grundgedanken folgendermaßen: Im Mangel ist tatsächlich das Subjektive ‚unvollständig‘, ein Aspekt des Subjektiven (Gegenstand des Bedürfnisses) ist noch getrennt von seiner notwendigen Ergänzung, der Befriedigung. Damit liegt ein Teil des Subjektiven in einer ihm äußerlichen Objektivität, in einer Trennung von ihm.82 Erst im ‚Einverleiben‘ des Objekts als Gegenstandes des Bedürfnisses und Mittels der Befriedigung hebt das Subjekt die Trennung auf und sorgt am Ende für eine ‚Subjektivierung der Objektivität‘. 79 80 81 82 Vgl. (Hegel 1970, p. 215 ff.); § 426 ff. Das formuliert Sartre in seinen Ausführungen zum Für-sich-Sein ähnlich: Die Begierde müsse ihr ‚eigener Mangel an… sein‘: „Die Begierde ist Seinsmangel, sie wird in ihrem innersten Sein von dem Sein heimgesucht, nach dem sie Begierde ist“ (Sartre 1991, p. 187). Das Objekt wird auch insoweit als subjektiv gesetzt, als es dem Subjekt als eben nur für dessen Bedürfnis, für die Aufhebung des Mangels existent erscheint. … und so verstehe ich die Hegelsche ‚Objektivierung der Subjektivität‘. 206 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Zugriff des Selbst auf andere Subjekte: Kampf Stoße das Selbstbewusstsein nun auf andere Selbstbewusstseine,83 stelle sich zunächst jener Prozess der Verdoppelung des Selbstbewusstseins einseitig dar, als ‚Ungleichheit‘ beider84. Das eine Individuum beziehe sich laut Hegel85 auf ein anderes als ‚gemeinen Gegenstand‘. Noch in seiner reinen Abstraktion als Selbstbewusstsein gefangen, zeige es sich hier als reine Negation des ihm gegenüberstehenden Gegenständlichen, es zeige, dass es an kein bestimmtes Dasein geknüpft sei, nicht einmal an das eigene Leben. Ein solcher Bezug aufeinander ziele auf den Tod des jeweils Anderen, durchaus das eigene Leben aufs Spiel setzend: „Das Verhältnis beider Selbstbewußtsein86 ist also so bestimmt, daß sie sich selbst und einander durch den Kampf auf Leben und Tod bewähren“ (Hegel 1988, p. 130). Beide erhöben die Gewissheit ihrer selbst, für sich zu sein, zur ‚Wahrheit an dem Anderen‘. Alles an ihnen sei verschwindendes Moment: Nur so könne das Leben gewagt werden. Es gelte, das eigene Außersichsein (im Anderen) aufzuheben, und zwar in absoluter Negation. Der Tod des Anderen schließt also auch den möglichen eigenen Tod nicht aus. Allerdings hebe der Tod nun die Wahrheit auf, auf die es dem Bewusstsein ankomme – die Gewissheit seiner selbst –, denn der Tod sei die ‚natürliche Negation‘ des Bewusstseins.87 Diese erste Erfahrung des tätigen Selbstbewusstseins ist also nicht die ‚absolute Vermittlung‘ mit dem Anderen, sondern es erfährt sich und das andere Selbstbewusstsein als jeweils seiendes Bewusstsein – „oder Bewußtsein in der Gestalt der Dingheit“88 (Hegel 1988, p. 132) –, und zwar das eigene als selbständiges Bewusstsein, als Für-sich-Sein, das andere als unselbständiges, als Für-Andere-Sein89: „[…] jenes ist der Herr, dies der Knecht“ (Hegel 1988, p. 132). 83 84 85 86 87 88 89 Der Übergang vom seelenlosen Objekt zum Gegenüber mit eigenem Selbst/Ich fällt bei Hegel äußerst knapp aus: Das Ich müsse nun jene subjektive ‚Aufladung‘ des Objekts in diesem selbst auffinden, das Andere ebenfalls mit einem ‚Ich‘ erfüllen. Damit habe das Selbstbewusstsein „das Andere mit dem Ich erfüllt, aus etwas Selbstlosem zu einem freien, zu einem selbstischen Objekt, zu einem anderen Ich gemacht“ (Hegel 1970, p. 219). Die Brücke vom Selbst zum Anderen ist nach wie vor nicht einfach zu haben. Auch bei Hegels Angebot einer ‚Entwicklung‘ des Selbstbewusstseins bleibt unklar, aus welchem Mangel heraus sich das Ich in ein Selbst und einen Anderen verdoppelt, woraus sich so etwas wie ein Übergang überhaupt erst konstruieren ließe. Zudem tauchen bei ihm die Begriffe der Anerkennung und des Anerkanntseins unvermittelt auf – worauf ich im Teil F weiter eingehen werde. Hierfür nun wieder in Hegels Phänomenologie des Geistes geblättert. Das ist kein Tippfehler, Hegel schreibt die Pluralform tatsächlich so. „[…] denn wie das Leben die natürliche Position des Bewußtseins […] ist, so ist er [der Tod] die natürliche Negation desselben, die Negation ohne die Selbständigkeit, welche also ohne die geforderte Bedeutung der Anerkennung bleibt“ (Hegel 1988, p. 131). … womit das Gegenüber als Selbstbewusstsein nicht geleugnet wird. Ich habe hier die Sartre’sche Terminologie benutzt. 207 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. In seinem Kommentar zu Hegels Phänomenologie sagt Bertram zu Recht, dass jene erste Erfahrung des Selbstbewusstseins so verstanden werden könne, „dass er [Hegel] einen agonalen Naturzustand im Sinne von Thomas Hobbes’ bellum omnium contra omnes zeichnet“ (Bertram 2017, p. 107). Ein so verstandener Naturzustand führe dann, so Bertram, zu der nächsten ‚experimentellen Konstellation‘, die Hegel durchspiele, zu der von Herr und Knecht.90 * Hier bietet sich wieder einmal ein kurzer Blick auf den Moralischen Pakt an. In dieser ersten (weltausgreifenden) Erfahrung des Selbstbewusstseins konstituiert sich das Individuum als ein kampfbereites, das den Anderen als verachtungswürdigen Konkurrenten ansieht und (noch) nicht als einen Anzuerkennenden. Das ist der einfache und erste Bezug des Helden auf das Anti-Subjekt, der Held unterliegt oder bewährt sich im Kampf. In rohen Konkurrenzsituationen ist der Tod des Gegenübers tatsächlich eine Option: Das gewährt das eigene Überleben wie auch den eigenen auf Dauer gestellten Zugriff auf umkämpfte Güter. Nur wenn das Überleben des Kontrahenten für die Beschaffung oder Herstellung weiterer erstrebenswerter Güter von Belang ist, wäre dessen Tod kontraproduktiv. Hier nähert man sich bereits dem Übergang zur Tauschgesellschaft. Ebenso würde die Einführung des Privateigentums den Tod des Konkurrenten zumindest überflüssig machen und der Staat wäre bereits vorausgesetzt, womit aber eben auch die rohe Konkurrenz durch zivilisierte Formen entschärft wäre. Bevor ich für den ersten Zugriff auf die Welt eine passende Illustration aus der Literatur anbiete, sei noch ein kurzer Blick auf den Übergang von der Begierde zum ungestörten Genuss erlaubt, dem auch Sartre sich widmet: dem Besitz. 2.2.1.2. Von der Begierde zum Besitz Vor jedem Recht auf Nutzung, so Sartre in ‚Das Sein und das Nichts‘, existiere Eigentum als ‚spontan hergestellte Beziehung‘ zwischen dem Individuum und dem konkreten Ding91. Die Eigenschaft des Gegenstands, besessen zu sein, erscheine dem Besitzer wie auch den Anderen als ‚Teil seines Seins‘, die Besitzverbindung sei eine ‚interne Seinsverbindung‘.92 Das Für-sich affiziere den Gegenstand ideal mit dieser Bedeutung, die ‚Besessenheit widerzuspiegeln‘.93 Die Be- 90 91 92 93 Ich werde in Kürze noch einmal auf das Herr-Knecht-Verhältnis eingehen. Vgl. (Sartre 1991, p. 1005): Der Dieb, so Sartre, halte sich für den Eigentümer des Geldes, das er gestohlen habe. Vgl. (Sartre 1991, p. 1007). Vgl. (Sartre 1991, p. 1008). 208 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. gierde94 sei also mehr als die nach einem einzelnen Gegenstand, sie ziele auf eine Verschmelzung zur Einheit ‚Besitzender-Besessenes‘. Die Innerlichkeit des Ich und die Äußerlichkeit des Nicht-Ich fänden in der Einheit des ‚Meinen‘ eine eigene Seinsbeziehung, dort fänden das Für-sich und das Mögliche ideal zusammen95. Das klingt nach philosophischer Überhöhung des Eigentumsbegriffs. Schon bei Hegel haben wir im ersten Teil der vorliegenden Arbeit Ähnliches gehört. Ebenso geht es im Hobbes’schen Krieg aller gegen alle um die Aneignung der Welt. Und jedes Drama, jede Erzählung hat eine ‚Eigentums- oder Aneignungsfrage‘ zum Thema. Ob das einfache Greimas’sche Modell nun den Mangel in Märchen als Handlungsvoraussetzung setzt oder wir weiter unten in unserer Modifikation die Ent-Entfremdung des Helden fokussieren, in jedem Fall geht es um die Aneignung oder Wiederaneignung von etwas Getrenntem. Ob Verschmelzung mit seinem ‚eigentlichen Inititalentwurf‘ oder Wiedervereinigung mit einem entwendeten Gut, das ‚Sein‘ ist erst dann (wieder) ‚vollständig‘, wenn die Einheit von Für-sich und An-sich im Haben (wieder)hergestellt ist. Das Für-sich als Grund seiner selbst im An-sich: Das sei Aneignung, allerdings nur idealiter: „nichts anderes […] als Symbol des Ideals des Für-sich oder Wert“96 (Sartre 1991, p. 1014). Der Besitzende, so Sartre, strebe danach, „sein Sein an-sich, sein Draußen-sein zu genießen“ (Sartre 1991, p. 1014). Doch auch und vor allem im Reich des Pragmatischen stoße das Ich im Draußen auf weitere Individuen. Das Sein, auf das der Andere sein Für-sich projiziere, könne sich bereits in meinem Besitz befinden: „So ist Besitzen außerdem eine Verteidigung gegen den Anderen“ (Sartre 1991, p. 1014). Das hat Hobbes schon für den Naturzustand formuliert. Und noch jedes Konzept eines sich anschließenden Gesellschaftsvertrags nimmt sich dieser Gefahr an und verwandelt den individuellen Aneignungsbesitz in ein rechtliches Verhältnis, das des Privateigentums. Abschließend sucht Sartre nach der Bedeutung oder Bestimmung des besessenen Gegenstands. Sartre behauptet: „besitzen heißt über einen Gegenstand die Welt besitzen wollen“ (Sartre 1991, p. 1022). Was nachzuvollziehen ist, ist die Idee, dass das In-der-Welt-Sein ein Entwerfen ist, die Welt zu besitzen und zwar nach der Maßgabe, was dem Für-sich mangelt.97 Aber die ganze Welt? Sartre begegnet solchen Einwänden, indem er betont, dass jede Wahl eine individuelle sein müsse, um konkret werden zu können. Es sei immer dieses Sein, 94 95 96 97 Hier kann Hegel eigentlich nur die Begierde vor Augen haben, die nicht unmittelbar im Verzehr mündet. Vgl. (Sartre 1991, p. 1009). Was Sartre hier betonenswert erscheint, ist der symbolische oder ideale Charakter der Besitzbeziehung. Keine ‚Gebärde des Benutzens‘, so Sartre, realisiere den Eigentumsgenuss wirklich, der symbolische Wert (nicht der Gebrauchswert) könne nicht genossen werden; vgl. (Sartre 1991, p. 1014). Vgl. (Sartre 1991, p. 1022). 209 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. das ich zu meiner Situation machte, ich konzipierte es nicht, ich imaginierte es nicht, sondern dieses Sein müsse existieren, man müsse ihm ‚begegnen‘.98 Sartre formuliert am Ende: „Denn wo immer das Sein ist, […] es ist in seiner primären Kontingenz ein individuelles Abenteuer“ (Sartre 1991, p. 1024). Ein Abenteuer, so möchte ich ergänzen, das unzählige Erzähler immer wieder von Neuem zu erzählen sich anschicken. Wenden wir uns schließlich, wie angekündigt, einer literarischen Illustration des oben Ausgeführten zum Zugriff des Selbst aufs Objektive zu. 2.2.1.3. Die Wette zwischen Faust und Mephistopheles Beim Übergang vom Pakt99 zur Wette100 wirbt Mephistopheles mit seiner Kompetenz: Er will Faust mit seinen ‚Künsten‘ geben, was noch kein Mensch gesehen habe.101 Faust fragt ihn spöttisch nach seinen Zauberkräften und kanzelt ihn als jemanden ab, der das hohe menschliche Streben – nämlich das Fausts – nicht zu fassen in der Lage sei. Faust weiß Mephistopheles einzuschätzen, weiß, dass er ihm Zerstreuung anzubieten vermag (allerdings auch nicht mehr): „Doch hast du Speise, die nicht sättigt, hast / Du rotes Gold, das ohne Rast, / Quecksilber gleich, dir in der Hand zerrinnt, / Ein Spiel, bei dem man nie gewinnt, / Ein Mädchen, das an meiner Brust / Mit Äugeln schon dem Nachbar sich verbindet, / Der Ehre schöne Götterlust, / Die, wie ein Meteor, verschwindet“ (Goethe 2007, p. Vs 1678 ff.). Und abschließend – als Vorbereitung seines Wettangebots – treibt Faust seine Forderung ironisch auf die Spitze: „Zeig mir die Frucht die fault, eh’ man sie bricht, / Und Bäume die sich täglich neu begrünen!“ (Goethe 2007, p. Vs 1686 f.), mit anderen Worten: Nun, Mephisto, bring mich mit den sinnlichen Genüssen zusammen, die mich ohnehin nicht befriedigen können (jeder Genuss trägt seine Negation – die faulende Frucht – schon in sich) und geh dann alle Genüsse mit mir durch, die immer wieder dasselbe sind: Bäume, die ihre Blätter – im verzehrenden Genuss – abwerfen und im nächsten Moment sich neu begrünen, neue Begierden wecken. Dieser Auftrag schreckt Mephistopheles tatsächlich nicht, denn das – die Zerstreuung – ist sein Metier. Ob er nun der Dialektik Fausts hat folgen können oder nicht. Zur faulenden Frucht noch ein passendes Zitat Hegels aus seiner Enzyklopädie: Subjekt und Objekt vermittelten sich zwar, aber die Befriedigung sei etwas Vorübergehendes, eine immer wieder von Neuem angeregte Objektivierung, 98 99 100 101 Vgl. (Sartre 1991, p. 1023). Ich diene dir im Diesseits, du mir im Jenseits. ‚Werd’ ich zum Augenblicke sagen …’ Vgl. (Goethe 2007, p. Vs 1671 ff.). 210 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. „die niemals ihr Ziel absolut erreicht, sondern nur den Progreß ins Unendliche herbeiführt“102 (Hegel 1970, p. 218). Die Befriedigung generiert im Moment des Genusses die nächste Begierde; in jeder Befriedigung befindet sich bereits in statu nascendi das Verlangen nach Neuem. In diesem Zusammenhang sei noch ein kurzer Seitenblick auf Sartre gestattet: „Das Verlangen tendiert durch sich selbst fortzubestehen, der Mensch hängt wild an seinem Verlangen“ (Sartre 1991, p. 210). Eine ‚Koinzidenz des Sich‘ hingegen – das in die Schönheit des Augenblicks versonnen blickende Ich Fausts – ist auch für Sartre nicht denkbar, denn das durstgestillte Für-sich sehe sich immer mit einem neuen Horizont von Möglichkeiten konfrontiert, womit es sich also weiterer Mängel bewusst würde: „Daher die ständige Enttäuschung, die die Stillung begleitet, das berühmte: ‚Das ist alles?‘“ (Sartre 1991, p. 210) Mephistopheles also vermag Faust lediglich Zerstreuung anzubieten, Bedürfnisse, die in ihrer Befriedigung wieder neue zeugen. Und sollte Mephistopheles es tatsächlich schaffen, Faust endgültig zufriedenzustellen und damit sein lebenslanges Streben zu beenden, dann möge er ihm gehören: „Kannst du mich mit Genuß betrügen: / Das sei für mich der letzte Tag!“ (Goethe 2007, p. Vs 1696 f.) Faust scheint sich von seinem ursprünglichen Erkenntnisdrang verabschiedet zu haben, so wird er später erläutern: „Der große Geist hat mich verschmäht, / Vor mir verschließt sich die Natur. / Des Denkens Faden ist zerrissen, / Mir ekelt lange vor allem Wissen. / Laß in den Tiefen der Sinnlichkeit / Uns glühende Leidenschaften stillen!“ (Goethe 2007, p. Vs 1746 ff.) Er scheint sich mit Mephistopheles auf eine Stufe zu stellen – „In deinen Rang gehör’ ich nur“ (Goethe 2007, p. Vs 1745) –, weiß aber mehr als dieser von der ‚schlechten Unendlichkeit‘ der Bedürfnisbefriedigung, von der Hegel spricht. Was Mephistopheles an Genuss und Ergötzen zu liefern sich anschickt, das hat für Faust eben einen anderen Charakter, so dass er Mephistopheles ein weiteres Mal korrigiert: „Du hörest ja, von Freud’ ist nicht die Rede. / Dem Taumel weih’ ich mich, dem schmerzlichsten Genuß, / Verliebtem Haß, erquickendem Verdruß“ (Goethe 2007, p. Vs 1765 f.). Die Wettformel, die Faust anbietet – „Werd’ ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! du bist so schön!“ (Goethe 2007, p. Vs 1699 f.) –, spiegelt noch auf einer anderen Ebene dessen Überlegenheit, spielt mit der Unmöglichkeit einer ‚festzuhaltenden‘ Gegenwart: Ein Augenblick als solcher ist für den Menschen nicht fassbar. Allerdings, so muss man hier einschränken, formuliert Faust seine Wettbedingung auch nur als Situation, in der ihn der Wunsch nach einem solchen Augenblick übermannen könnte, und zwar im Sinne von: Wenn ich dereinst mir eine ‚währende‘ Gegenwart wünsche, gehöre ich dir, Teufel! 102 Ähnliches findet sich in seiner Phänomenologie des Geistes: Noch nicht zu seiner Wahrheit gelangt, enthalte das Selbstbewusstsein Momente, die ihm als isoliert gälten und die Form eines unmittelbaren Wollens „oder Naturtriebs [haben], der seine Befriedigung erreicht, welche selbst der Inhalt des neuen Triebes ist“ (Hegel 1988, p. 238). 211 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Faust verfängt sich nicht in der Aporie eines ‚dauernden Moments‘, sondern sagt einfach, dass der immerwährende Kreislauf von Bedürfnis und Befriedigung niemals durchbrochen werden könne, die Sorge oder das Be-Sorgen des Individuums immer nur von außen, letztlich nur durch den Tod beendet werden könne 103 – er sich aber sehr wohl eine Situation vorstellen könne, in der er sich einem spontanen Wunsch nach Dauer ergäbe – auch wider besseres Wissen. Ein weiterer Aspekt drängt sich auf, den Faust allerdings nicht so formuliert. Die Sinnenwelt könne ihn auf Dauer niemals so zufriedenstellen, wie es eben die ersehnte Erkenntnis dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält, vermocht hätte. Nur in dieser der Erkenntnis wäre das Paradox einer ‚dauernden Gegenwart‘ zu erreichen, die Erkenntnis einer ‚Wahrheit‘, die ihre Gültigkeit nicht mehr an die einzelnen Ekstasen der Zeit104 knüpft, sondern alle Zeitzustände auf einen ausdehnungslosen Punkt zusammenschrumpfen ließe und nur da seine Gültigkeit beansprucht. Die Rede ist von der Ewigkeit. Die Natur der sinnlichen Befriedigung ist zwar so etwas wie die Absicherung dagegen, die Wette zu verlieren. Doch das ist nur zweitrangig. Faust verabschiedet sich von seiner ursprünglichen Intention einer umfassenden Welterkenntnis: „Mein Busen, der vom Wissensdrang geheilt ist, / Soll keinen Schmerzen künftig sich verschließen, / Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, / Will ich in meinem innern Selbst genießen“ (Goethe 2007, p. Vs 1768 ff.). Faust kennt die widersprüchliche Natur von Genuss und Befriedigung, aber er sucht sie nachgerade, denn er hofft, dass gerade in stetem Wechsel von „Schmerz und Genuß, / Gelingen und Verdruß“ (Goethe 2007, p. Vs 1756 f.) die Bestimmung der Menschheit – wenn auch schon nicht mehr der Welt – zu finden sei. Zwar scheint er das Ziel einer geistigen Durchdringung der Schöpfung aufgegeben zu haben, aber er hält weiterhin daran fest, die Zusammenhänge – wenn auch nicht begrifflich – zu erfassen, nämlich im stellvertretenden Durchleben des menschlichen Genießens und Leidens: „Mit meinem Geist das Höchst’ und Tiefste greifen, / Ihr [der Menschheit] Wohl und Weh auf meinen Busen häufen, / Und so mein eigen Selbst zu ihrem Selbst erweitern“ (Goethe 2007, p. Vs 1772 f.). Auch hier geht es, wenn man so will, um Entgrenzung, um Aufhebung seiner Einzelheit. Goethe bietet mit Faust eine vertrackte Konstellation an. Die teuflische Macht wird mit der göttlichen Lizenz ausgestattet, den Menschen – stellvertretend in Faust – von seinem gottgefälligen Weg abzubringen. Das und nur das ist das Ziel Mephistopheles’, nämlich mit seinen Zauberkünsten Faust auf die Seite des eben nicht gottgefälligen Lebens, des reinen Sinnengenusses, zu füh103 104 Der auf Dauer gestellte Bedürfnis-Zirkel könnte nur durch den Tod unterbrochen werden, der selbst nun allerdings nur möglich wird, wenn der Bedürfniszirkel durchbrochen wird. Faust scheint auf diesen Zirkel zu setzen. Die drei Zeitperspektiven Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. 212 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. ren. Die letzte Entscheidung gegen Gott wäre dann Fausts Wunsch, die Welt der Genüsse auf Dauer zu stellen. Doch Faust durchschaut die Dialektik von Genuss und Gier – was ihn eine Zeit lang am Leben hält – und zielt auf etwas anderes als Mephistopheles: Er nutzt dessen Zauberkünste nicht dazu, sich in die Welt der Sinnlichkeit genießend zu verlieren, sondern er modifiziert seinen Erkenntnisdrang weg von der Vernunft und hin zum Nach-Erleben dessen, was die Menschheit ‚durchfreut‘ und durchleidet. Und Gottes Plan? Die Figur des Faust ist ja von vornherein nicht wie Hiob als gottesfürchtig, allenfalls in einer abgeschwächten Form des Pantheismus entworfen. Erst am Ende kommt Faust in den ‚Genuss‘ dessen, was den Menschen in seinem Streben ausmacht, in den ‚Genuss‘ der Sorge. Erst sie lässt ihn sein Selbst auf das Selbst der Menschheit erweitern. Das wird weiter unten beim Begriff der Sorge im Teil D zur Handlung noch einmal aufgegriffen. 2.2.2. Genuss und Arbeit Wie oben erwähnt, gelangt Hegel in seinen Überlegungen zur Entfaltung des Selbstbewusstseins zunächst zum Herr-Knecht-Verhältnis. Dieses weise nun den Grundwiderspruch auf, dass das Selbstbewusstsein sich selbst als Ich im Anderen anschaue und zugleich das Andere als „absolut gegen mich selbständiges anderes Objekt“ (Hegel 1970, p. 219). Dieser Widerspruch münde in den Trieb, sich als freies Selbst zu zeigen. Auf dieser ersten Stufe der Anerkennung werde der Andere noch nicht als gleicher und freier respektiert, sondern lediglich als im Kampf zu unterwerfender: „[…] denn ich kann mich im Anderen nicht als mich selbst wissen, insofern das Andere ein unmittelbares anderes Dasein für mich ist; ich bin daher auf die Aufhebung dieser seiner Unmittelbarkeit gerichtet“ (Hegel 1970, p. 219 f.). Die Rolle des Herrn sei das für sich seiende Bewusstsein, das durch ein anderes Bewußtsein mit sich vermittelt sei. Genauer: Die Kontrahenten des Kampfes gehen in verschiedenen Modi aus dem Kampf heraus. Während der Herr sich das Sein unterwirft, das ihm im Kampf nur als ein Negatives gegolten hat, beweist der Knecht sich als unselbständig. Der Herr tötet nicht sein Gegenüber, sondern unterwirft es sich. 2.2.2.1. Der Herr – mangelhaftes Für-sich-Sein im Genuss Als Selbstbewusstsein beziehe sich nun der Knecht auf die ihm anvertrauten ‚Dinge‘, allerdings ohne deren Selbständigkeit vollends aufheben zu können: Er 213 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. könne sie nicht vernichten,105 sondern lediglich bearbeiten. Der Herr hingegen beziehe sich unmittelbar und rein negativ auf das bearbeitete Ding, und zwar im Genuss. Der Herr genießt, der Knecht arbeitet. Was der Begierde angesichts der Selbständigkeit des Dings nicht gelinge, gelinge dem Genuss: „[…] der Herr aber, der den Knecht zwischen es [das Ding] und sich eingeschoben, schließt sich dadurch nur mit der Unselbständigkeit des Dinges zusammen, und genießt es rein; die Seite der Selbständigkeit [des Dinges] aber überläßt er dem Knechte, der es bearbeitet“ (Hegel 1988, p. 133).106 Das Selbstbewusstsein in der Rolle des Herrn, so könnte man Hegel hier verstehen, schiebt zwischen sich und der Selbständigkeit des Dings den unterworfenen Knecht, der ihm die zur Genusskompatibilität umgestalte Natur zuführen wird. Das Anerkanntsein des Herrn durch den Knecht zeichnet sich durch den Mangel aus, dass das Bewusstsein des Knechts das Unwesentliche sei und das, was der Knecht tue, eigentlich das Tun des Herrn sei. Das wesentliche Tun liege nicht beim Für-sich-Sein, sondern einzig im Verhältnis zwischen Herrn und Knecht. Die ‚Wahrheit der Gewissheit seiner selbst‘, so schließt Hegel seinen Gedanken ab, finde der Herr also parodoxerweise nur im unwesentlichen Bewusstsein des Knechts: „Die Wahrheit des selbständigen Bewußtseins ist demnach das knechtische Bewußtsein“ (Hegel 1988, p. 134). 2.2.2.2. Der Knecht – Für-sich-Sein in der Arbeit Hegel dreht also den Spieß um. Während das Selbstbewusstsein des Herrn sich nicht als das, was es sein wolle, nämlich reines Für-sich-Sein, im Knecht zu spiegeln vermöge, gehe das zurückgedrängte Bewusstsein des Knechts in sich und entdecke seine ‚wahre Selbständigkeit‘. Zunächst scheine für den Knecht der Herr das Wesen107 zu sein.108 Aber in der Bearbeitung des Dings gelange er zu seinem Für-sich-Sein. Während die Befriedigung des genießenden Bewusstseins des Herrn nur ein ‚Verschwinden‘ darstelle – es fehle ihm die ‚gegenständliche Seite‘ oder das ‚Bestehen‘ –, sei die Arbeit des Knechts ‚gehemmte Begierde, aufgehaltenes Verschwinden‘: „Die negative Beziehung auf den Gegenstand wird 105 106 107 108 Das würde die völlige Selbständigkeit des Selbstbewusstseins gegenüber einem unselbständigen Ding voraussetzen. Was beim Knecht (mit seiner begrenzten Selbständigkeit) nicht gegeben ist. Vgl. (Hegel 1988, p. 133). … also das Für-sich-Sein, die Wahrheit, wie es bei Hegel heißt. Die erste Erfahrung des Knechts sei die Angst um sein eigenes Wesen: „denn es [das dienende Bewusstsein] hat die Furcht des Todes, des absoluten Herrn, empfunden“ (Hegel 1988, p. 134). In dieser Angst sei es ‚innerlich aufgelöst‘ worden. Diese ‚absolute Negativität‘ – dieses ‚absolute Flüssigwerden alles Bestehens‘ – sei nun das Bewusstsein des Knechts für es selbst. 214 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. zur Form desselben, und zu einem Bleibenden“ (Hegel 1988, p. 135). In diesem ‚formierenden Tun‘ komme der arbeitende Knecht zu seinem Für-sich-Sein.109 Das dienende Bewusstsein „wird also durch dies Wiederfinden seiner durch sich selbst eigner Sinn, gerade in der Arbeit, worin es nur fremder Sinn zu sein schien“ (Hegel 1988, p. 136). Es drängt sich die Frage auf, ob hier nicht die eigentliche Beziehung des Herrn auf den Knecht allzu schnell verlassen wird – und zwar die des Machtgefälles. Bewährt sich nicht gerade darin die Selbständigkeit und das Für-sich-Sein des Herrn – so sehr man sich auch mit der Hegel’schen ‚Umkehrung‘ anzufreunden vermag? Und ist der Genuss am Ende nichts weiter als die Frucht jener Unterwerfungs-Anstrengung? Was Hegel beim Knecht als bleibendes Fürsich-Sein und beim Herrn als vernichtendes oder verzehrendes Für-sich-Sein herausarbeitet, liegt auf völlig verschiedenen Ebenen: Die Selbständigkeit des Knechts ist nur eine scheinbare, weil seine Tätigkeit sich zwar bleibend vergegenständlicht, aber nicht für ihn – Mangel an Verfügungsgewalt über das Arbeitsprodukt –, sondern für andere. Das ist der Aspekt der Entfremdung, den Marx nach Hegel deutlich herausarbeiten wird. Und wenn der Herr die Früchte fremder Arbeit verzehrt, hebt er seine Machtposition, sein Für-sich-Sein, nicht auf,110 sondern bestätigt es gerade im Verzehr der Früchte der Sklavenarbeit. Ich stimme Bertram zu, der schreibt: „Insofern ist der Kommentar, das knechtische Bewusstsein sei die Wahrheit des selbstständigen Bewusstseins, auch ironisch“111 (Bertram 2017, p. 112). Die Entfremdung des Knechts innerhalb des Arbeitsverhältnisses bleibt erhalten – die Struktur von Unterwerfung und Machtverteilung wird ja nicht angetastet –, auch wenn der Knecht allein sich mit den Widerständigkeiten des Materials herumschlagen muss und qua Geschicklichkeit sich die Natur gemäß fremden Gebrauchszwecken ‚aneignet‘. Er richtet sich in der Heidegger’schen Sorge ein, ohne sich seinem ‚eigentlichen Seinkönnen‘ zuwenden und sich damit von der fremdbestimmten Sorge emanzipieren zu können, so sehr er sich auch seine eigene Geschicklichkeit zugutehält. Von hier aus schlägt Hegel nun nicht, wie zu erwarten wäre, eine Brücke zum Eigensinn des Knechts, sondern er greift zurück auf die dem Unterwerfungsakt vorausgehende Furcht. Eigensinn schreibt er nur einem solchen Knecht zu, der sich nicht vollends unterwirft. Durchleide das dienende Bewusstsein nicht die absolute Furcht, sondern habe nur ‚einige Angst ausgestan- 109 110 111 Das dienende Bewusstsein trete „nun in der Arbeit […] in das Element des Bleibens […]; das arbeitende Bewußtsein kommt also hiedurch zur Anschauung des selbständigen Seins, als seiner selbst“ (Hegel 1988, p. 135). Das Machtverhältnis zwischen ihm und seinem Knecht wird weder beschädigt noch aufgezehrt. … wobei allerdings die Frage offen bleibt, ob Hegel seine Ausführungen hätte ironisch verstanden haben mögen. 215 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. den‘, so sei seine eigene Substanz nicht vollständig von dem ihm fremden Wesen angesteckt, so bleibe ein Rest von Für-sich-Sein, dem es angehöre: „der eigene Sinn ist Eigensinn, eine Freiheit, welche noch innerhalb der Knechtschaft bestehen bleibt“ (Hegel 1988, p. 136). Hegel relativiert nicht das Grundsätzliche, das er zum Paradox von Selbständigkeit und Unselbständigkeit der beiden Rollen gesagt hat, sondern er wirft abschließend einen Blick auf die Phänomenologie der Knechtsrolle. Neben den allgemeinen, sozusagen reinen Bestimmungen des dienenden Bewusstseins gebe es in dessen Existenzweise einen Rest an Freiheit, nämlich den Eigensinn, den sich der Knecht erhält, weil er eben nicht, von Todesangst geschüttelt, sich dem Herrn unterworfen, sondern sich – aus welchen Gründen auch immer – ihm verdingt hat. 2.2.2.3. Das Herr-Knecht-Verhältnis in Erzählungen Wenn wir noch einen Moment bei der phänomenologischen Seite des HerrKnecht-Verhältnisses bleiben wollen, dann zeigt sich der Eigensinn des Knechts durchaus als literarisches Thema, als Unernsthaftigkeit oder positiv: als Freiheit, die dem Knecht112 Spielräume jenseits der Zwecke des Herrn eröffnet.113 In einer solchen Freiheit kommt, so möchte man einer Assoziation nachgeben, das ipse der Knechtsidentität zur Erscheinung. Sofern die Figur im Rollengefüge der Erzählung oder des Dramas nur eine Nebenrolle einnimmt, könnte es zunächst zu einer Irritation kommen, und zwar zwischen eben jener Funktion einer Nebenrolle und dem Kern des Werkes, das ipse sichtbar machen zu wollen. Doch warum, so der zweite Gedanke, soll nicht die Teilautonomie Marinellis in Lessings Emilia beide Zuschreibungen vereinen: die des Instruments des Prinzen und zugleich die einer Selbst-Ständigkeit im Sinne der narrativen Identität? Eröffnet nicht eine solche Figurenkonzeption eine reizvolle Komplexität für den Interpreten – und sorgt sie nicht für einen Lektüregenuss wie ein ausgefeiltes Menü eines Sternekochs für den Gourmet? 112 113 Eine extreme Verselbständigung des Knechts hat Lessing mit seiner Figur des Marinelli in seinem Stück Emilia Galotti auf die Bühne gestellt. Am Ende schickt ihn der Prinz in die Verbannung und räsoniert anschließend zwar über sich selbst, nicht ganz ohne Selbstmitleid, beklagt sich darin aber vor allem über seinen Knecht Marinelli: „Ist es, zum Unglücke so mancher, nicht genug, daß Fürsten Menschen sind: müssen sich auch noch Teufel in ihren Freund verstellen?“ (Lessing 2004, p. 93). Der Eigensinn des Dieners hat erzählerisch noch eine eigene Bedeutung: die der Kompetenz-Vermittlung zwischen Adjuvanten und Helden. Was dem Helden noch an Geschicklichkeit für den Kampf mit dem Anti-Subjekt fehlt, vermittelt ihm der Helfer. Wenn man das Verhältnis Held vs. Adjuvant als eines zwischen Herrn und Knecht liest, dann ist die Arbeit des Knechts die Aus-‚Bildung‘ des Herrn selbst – sozusagen als seines Arbeitsgegenstandes. 216 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Goethes Faust Die Selbständigkeit des Knechts taucht in Goethes Faust in drei Konstellationen auf: Gott betrachtet Faust als seinen Knecht; Mephistopheles dient Faust, aber auch dem Herrn, wenn auch schon in gottgewollter, nur relativer Selbständigkeit (worin sich am Ende dann doch das Große und Ganze des göttlichen Plans realisiert). – Faust wahrt sicherlich Selbständigkeit gegenüber Gott (nur so ist die Autonomie des Menschen zu retten), aber seine Rettung am Ende erfolgt – märchenhaft – via Eingriff der Engel. Auch die Abkehr von seinem Erkenntnisstreben (gottgefällig war sein Streben ohnehin nicht, eher Ausdruck einer Hybris) könnte noch als gottgewollt durchgehen. Zuletzt liegt vielleicht auch seine schuldhafte Verstrickung (Tod Gretchens, aber auch Valentins und deren Mutter) noch im göttlichen Plan oder in der zulassenden NichtEinmischung Gottes. – Die Selbständigkeit des Dieners der Hölle gegenüber Faust ist in dessen ‚Vermenschlichung‘ eingeschrieben: Er wirkt auf Faust ein, überredet ihn, führt ihn, manipuliert ihn womöglich, aber er ‚verzaubert‘114 Faust nicht, was durchaus in seiner ‚teuflischen Macht‘ gelegen hätte. – Beim dritten Verhältnis zwischen Gott und Mephistopheles ist die Selbständigkeit des Knechts am Anfang deutlich formuliert: Mephistopheles fordert Gott heraus, seine teuflischen magischen Kräfte an dessen ‚Knecht‘ Faust zu erproben und Gott damit zu beweisen, dass es mit seiner Herrenrolle nicht weit her ist – worauf sich Gott überlegen-schmunzelnd problemlos einlassen kann, denn die Autonomie des Menschen ist, wie schon gesagt, zentraler Bestandteil seiner Schöpfung. In jedem Fall manifestieren sich deutlich die Knechte handelnd in der Welt, die Herren setzen mehr die Rahmen und sorgen für die Bedingungen des Handelns. E.T.A. Hoffmanns Madame Scuderi115 Cardillac, so erzählt Brusson Madame Scuderi,116 wird mit einem Trieb117 nach Gold und Juwelen geboren. Er wird Goldschmied und dieser Trieb raubt ihm 114 115 116 117 Ansonsten geht Mephistopheles großzügig mit seinen ‚Zauberkräften‘ um. Vgl. (Hoffmann 2001). Vgl. (Hoffmann 2001, p. 53 ff.). Jener Trieb verdankt sich einem pränatalen Traum. So erzählt Cardillac Brusson von einem Vorfall während der Schwangerschaft seiner Mutter. Von einer Juwelenkette eines Kavaliers sei sie derart fasziniert gewesen, dass sie sich ihm an den Hals geworfen habe; im Griff nach der Kette sei der Mann tot niedergesunken und habe Cardillacs Mutter mit zu Boden gerissen. Aus dessen Umklammerung habe die traumatisierte Frau erst von anderen befreit werden müssen; vgl. (Hoffmann 2001, p. 64). 217 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. immer dann den Lebensmut, wenn er Auftrags-Schmuck an seine Kunden ausliefern muss. Bald kann er nicht anders, als sie bei der ‚Rückholung‘ seiner Werke umzubringen. Dann erst gelangt er zu Ruhe und Zufriedenheit, weiß aber, dass er seinem ‚bösen Stern‘ weiterhin ausgeliefert sein wird. Eine solche Wiederbeschaffung ist keine Emanzipation des dienenden Bewusstseins vom Herrn, sondern reine Pathologie. Die Distanz von der Realität führt eine solche ‚romantische‘ Figur zwar in eine andere Welt, aber in eine durch und durch krankhafte Wahn-Welt. Selbst Cardillac als Künstlerfigur hebt sich auf, Kunst lebt vom Publikum, Kunst entfaltet seine Aura im Museum, in der Galerie, ja selbst an der Wand des Sammlers bleibt sie Kunst,118 weil sie ein genießendes Publikum – wie klein auch immer – hat. Cardillac hingegen genießt seine ‚Sammlung‘ in seinem Kabinett nicht, ist nur Getriebener. Die Wieder-Aneignung ist im Grunde Verlust, die in Cardillacs Schmuckkabinett zurückgebrachten Dinge verlieren alles, was sie auszeichnet, ihren Gebrauchswerts, ihren Tauschwert, ja sie verlieren selbst ihre Eigenschaft, Kunst- oder Arbeitsprodukte zu sein, sie verschwinden buchstäblich in der Unsichtbarkeit seines Kabinetts. Das drückt noch einmal Cardillacs Wunsch an Brusson aus, seine ‚Reichtümer‘ (die eigentlich schon längst nur noch Skelette von Reichtümern sind) nach seinem Tod ‚in Staub zu verwandeln‘. Cardillac ist vielleicht eine Figur, die sich auf eine verrückte Art vom Tauschverhältnis zu emanzipieren versucht, die das Für-Andere-Sein im Arbeitsprodukt in ein zurückholendes Für-sich-Sein verwandelt und dabei zurückfällt auf die Hegelsche Entwicklungsstufe des Selbstbewusstsein, das sein Gegenüber nur insoweit anerkennt, als es es im Kampf unterwirft oder gar tötet. Arbeitsprodukte spiegeln dem Bewusstsein deren Sinn zurück, aber nur solange sie nicht auf den Markt getragen werden. Dort verlieren sie den Sinn des arbeitenden Bewusstseins und erhalten einen neuen, den eines zu realisierenden Tauschs (gegen einen anderen Gebrauchswert oder gegen Geld, das ist hier unerheblich). Kommt der Tausch nicht zustande, fällt der Gegenstand auf seinen ‚ersten Sinn‘ zurück, auf seine Gebrauchswertmerkmale. Verrückt allerdings, wer wie Cardillac diese Transformation nicht mitmacht. * Auch in der Feier des selbständigen Knechts zeigt sich der Moralische Pakt: Das Individuum unterwirft sich den Bedingungen von Konkurrenz und Austausch und strebt auf diesen Bahnen nach seinem Glück. Die Grundstruktur bleibt trotz aller Emanzipation bis hin zur modernen Gesellschaft erhalten, das Indivi118 Hannah Arendt geht in ihrem Beitrag zu Kultur und Politik allerdings weiter, sie knüpft eine notwendige Verbindung von Kunst und Öffentlichkeit und schließt Kunstwerke damit aus der Privatheit kategorisch aus: „In der Verborgenheit des Privaten und des Privatbesitzes kommen sie nicht zur Geltung, und gegen private Lebensinteressen müssen sie geschützt werden“ (Arendt 1958, p. 1139 f.). 218 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. duum unterwirft sich jenen Bedingungen und deren rechtlichen und moralischen Rahmen, die es nach gelungener Sozialisation qua Überzeugung zu seiner zweiten Natur macht. Im Herr-Knecht-Verhältnis werden die letzten, offenen Fragen des Für-sichund Für-Andere-Seins beantwortet. In der bürgerlichen Gesellschaft ist alles vom Widerspruch des Für-sich- und Für-Andere-Seins geprägt. Das Tauschverhältnis ist die Verlaufsform119 dieses Paradoxons. 2.2.2.4. Resümee und Weiterführung Spätestens mit diesem Abschnitt zur Selbst-Erkenntnis II, also zum Zugriff des Individuums auf die Welt, ist die Ebene der Passivität des Selbst verlassen worden. Begierde, Genuss und Arbeit sind fundamental mit dem Tun des Individuums verbunden, auch wenn ich mich innerhalb meiner Ausführungen zunächst für die Untersuchung des Subjekts (und nicht der Handlung) entschieden habe – sozusagen im Schlepptau der Hegel’schen Gedanken zur Entfaltung des Selbstbewusstseins. Nun aber gilt es, endlich das Tor zur Handlung weit zu öffnen. Und – wie schon mehrfach erwähnt und was ich ein weiteres Mal zu bedenken geben möchte: Die Trennung von Subjekt, Handlung, Wissen und Anerkennung ist und bleibt artifiziell. Der Vorbereitung aufs Kommende genug, fokussieren wir nun das Tun der Individuen und geben damit den Blick auf deren aktive Selbsterfahrung120 frei: „A. J. Greimas hat schließlich vorgeschlagen, die Protagonisten der Erzählung nicht nach dem, was sie sind, sondern nach dem, was sie tun, zu beschreiben und einzuteilen“ (Barthes 1988, p. 123). 119 120 Der einfache Warentausch ist die niedrige Entwicklungsstufe des wechselseitigen Fürsichseins, erst wenn er sich von der Gebrauchswertseite der Tauschprodukte löst und die Vermittlung dem allgemeinen Tauschwert, dem Geld, überlässt, erreicht er die höchste Entwicklungsstufe, die das zugrunde liegende Konkurrenzverhältnis vollends vernebelt. … immer noch eingedenk dessen, dass der dritte Modus der Passivitätserfahrungen noch aussteht: das Gewissen. Siehe unten Kapitel E.3. 219 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. D. Die Handlung oder der Strudel in die Entfremdung Alle Formen gesellschaftlicher Fähigkeiten beziehen sich „letztendlich auf ein und denselben anthropologischen Fundus […], nämlich die Charakterisierung des Menschlichen überhaupt durch das Vermögen zu handeln, die agency.“ (Ricoeur 2006, p. 174 f.) D.1. Autonomie Dem Willen, so Sartre, liege auf einer tiefer liegenden Ebene die Intention zugrunde. Die Intention entscheide über Zwecke, der Wille über Mittel, über deren Angemessenheit sich das Individuum täuschen könne. Es betrachte seinen Wille fälschlicherweise als Macht – aus einer narzisstischen Kränkung heraus. 1.1. Autonomie und Handlung Warum rückt die Autonomie1 oder Freiheit des Subjekts erst hier in Teil D zur Handlung in den Fokus? Aus einem einfachen Grund. Bei einem Selbst, das man sich als ausschließlich für-sich-seiend vorstellt, ganz ohne Bezüge auf andere Individuen, fielen Autonomie und Selbst zusammen, ohne dass die Autonomie als Grenze, als bedroht, als beschädigt oder auch nur als erstrebenswert in Erscheinung träte. Das Selbst wäre nur das, was es ist. So banal das klingt, so deutlich zeigen sich die Konsequenzen für den Autonomiebegriff. Erst wenn das Selbst in seiner Handlung auf Andere stößt, gerät seine Freiheit in den Blick als gefährdete, zu verteidigende oder einzuschränkende. Die Autonomie im solipsistischen Status des Selbst würde, wie gesagt, als Grenze nicht wahrgenommen werden können. Von Freiheit zu reden, ist also erst dann sinnvoll, wenn andere ihr Grenzen setzen. Sartre fasst im vierten Teil seines Werks ‚Das Sein und das Nichts‘ sein ‚ontologisches Verständnis der Freiheit‘ zusammen. Weder seine ‚lange Diskussion‘ dieses Verständnisses noch die vollständige Zusammenfassung ist im Rahmen der vorliegenden Arbeit zielführend, allerdings können ein paar Ansätze zur Autonomie hier durchaus von Nutzen sein. Wagen wir einen Blick darauf. 1 Die Autonomie ist der Kern aller ethischen Überlegungen, wie in Teil A der vorliegenden Arbeit beschrieben. Die Autonomie des Individuums zu leugnen, würde einer Kernschmelze aller philosophischen Ethik gleichkommen. https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 1.2. Die Intention „In Wirklichkeit genügt es nicht zu wollen: man muß wollen wollen.“ (Sartre 1991, p. 772) Es irritiert zunächst, wenn Sartre den Leser mit der These konfrontiert, dass Entscheidungen bereits getroffen seien, wenn der Wille interveniere. Willentliches Handeln sei nicht-spontanes Handeln, also begleitet von einem reflexiven Bewusstsein. Das Ziel des Willens sei es nicht, zu entscheiden, welcher Zweck erreicht werden solle, sondern er richte sich lediglich „auf die Art, in der dieser bereits gesetzte Zweck erreicht werden soll“ (Sartre 1991, p. 783). Das allerdings sei nicht – um es salopp zu sagen – nach dem Geschmack des Selbst. Das Individuum wolle sich ‚zurückgewinnen‘, wolle Autonomie und Willen zusammendenken und sich nicht Emotionen und Spontaneität unterworfen sehen. Es idealisiere den Willen als Macht, sich auf bestimmte Zwecke hin selbst zu entwerfen, so dass es sagen könne: „‚Ich habe getan, was ich wollte‘“ (Sartre 1991, p. 784). Doch das ist und bleibe ein Ideal, es sei, so Sartre, evident, dass das reflexive Bewusstsein des Willens seine Grundlage oder Bedingung in einem tieferen Entwurf habe, einem Entwurf aus einer tieferen Intention. Es liege dem Willen oder dem reflexiven Bewusstsein immer schon eine solche Region zugrunde, in der so etwas wie ein ursprünglicher Entwurf seine Heimstatt habe. Wobei betont werden müsse: Auch in diesen tieferen Schichten sei das Individuum durch und durch autonom: „So haben wir eine Freiheit erreicht, die tiefer ist als der Wille“2 (Sartre 1991, p. 784). In der Wahl3 der Intention enthülle sich die Welt, sie zeige sich nach dem gewählten Ziel als ‚so oder so‘, in ‚dieser oder jener Ordnung‘.4 Hier würden Zwecke gesetzt und von dort aus das Gegebene eingeschätzt.5 Der Mensch also greift handelnd in die Welt ein, indem er sie so, wie er sie vorfindet, nicht als gegeben gelten lässt, sondern ihr eine neue Gestalt gemäß seinen individuellen Zwecken zu geben beabsichtigt. Das Gegebene erscheint – 2 3 4 5 Hier berührt Sartre das aristotelische Modell der prohaíresis, also der Wahl oder Entscheidung, der ebenfalls ein Ziel (telos) zugrunde liege, das selbst nicht Gegenstand ihrer Wahl sei. Siehe oben im Kapitel A.2 den Abschnitt zur Bilanz. Eine Wahl ohne Willen? Denn die Intention liegt ja laut Sartre dem Willen voraus. Auf jeden Fall liegt, um es mit Aristoteles zu sagen, eine mit dem telos vertraute prohaíresis vor. Sartre versucht zu illustrieren: Ich habe Hunger und wähle ein Gasthaus am Ende der Straße. Die Intention tauche doppelt auf und erhelle die Welt: Zum einen werde der Zweck – das gute Essen – als Sinn dieser Straße entworfen und zum anderen definiere sich die Intention als mein Mögliches (als Struktur meiner Subjektivität). Das eine sagt etwas über die zweckbezogene Welt aus (setzendes oder ‚thetisches Bewusstsein‘), das andere kennzeichnet das nicht-setzende Bewusstsein als Möglichkeiten entwerfende Kompetenz; vgl. (Sartre 1991, p. 827). Der Mensch sei „das Sein, das macht, daß es Gegebenes gibt, indem es mit ihm bricht und es im Licht des Noch-nicht-existierenden erhellt“ (Sartre 1991, p. 828). 222 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. mit Sartre’scher Formulierungskunst – nur im Rahmen ‚einer es enthüllenden Nichtung‘.6 1.3. Der Initialentwurf Der erste Entwurf oder Initialentwurf lasse sich nicht mehr von einem vorausgehenden aus interpretieren. Die Wahl beziehe sich auf die Welt und könne jederzeit korrigiert werden: In der Freiheit, ein ‚totales Mögliches‘ zu entwerfen, könne ich meinen ‚primäre Entwurf jederzeit nichten und vergangen machen‘.7 Wir seien uns bewusst, dass wir ständig das ‚Steuer herumreißen‘ und unsere gewählte Zukunft untergraben könnten: „So sind wir fortwährend von der Nichtung unserer aktuellen Wahl bedroht“ (Sartre 1991, p. 805). Paradox: Die Freiheit der Wahl ist deren eigene Bedrohung. Sartre verweist auf Schriftsteller, die oft von der Konversion ihrer Helden erzählen, von den „wunderbaren Augenblicke[n], wo der frühere Entwurf sich in der Vergangenheit auflöst im Licht eines neuen Entwurfs, der auf dessen Trümmern auftaucht“ (Sartre 1991, p. 823). Hier kann ich Sartre nur zustimmen, das Umwerfen eines Lebensentwurfs zugunsten eines neuen findet sich in Erzählungen häufig gerade im Übergang des Helden von der alten in eine neue Welt, von seiner Entfremdung, seinem Alltagsleben in eine neue Welt, die sich dem Helden als Grundlage eines neuen Initialentwurfs anbietet. Die Autonomie des Individuums bezieht sich darüber hinaus auf sekundäre Möglichkeiten, ohne dass die fundamentalen Zwecke aus dem Initialentwurf mitwirkten. Sartre unterscheidet zwischen einem unreflektierten Bewusstsein, das sich nie über sich selbst täuschen könne – als spontane Projektion seiner selbst auf seine Möglichkeiten hin8 –, und einem reflektierten Bewusstsein, einem Bewusstsein, das Sartre bereits als ein mit Willen ausgestattetes eingeführt hat. Dieses ‚reflektierte Bewusstsein‘ bringe ‚tausend Irrtumsmöglichkeiten‘ mit sich: „Es ist also möglich, daß ich mir, auf Grund von Irrtümern über mich selbst reflexiv, das heißt auf der Willensebene, Entwürfe auferlege, die meinem Initialentwurf widersprechen“ (Sartre 1991, p. 816). Auch hier drängt sich die Parallele zur Aristotelischen prohaíresis auf, die in der Wahl der Mittel fehlgehen könne und der Wohlberatenheit bedürfe, im besten Fall der Kenntnis des telos. Das ‚Ich-kann-tun‘, so Ricoeur in seinen Wegen zur Anerkennung, bezeichne die Fähigkeit, „in der physischen und sozialen Umgebung des handelnden Sub6 7 8 Vgl. (Sartre 1991, p. 754). Eine Handlung, so sagt Sartre drei Seiten später, sei eine Projektion des Für-sich auf das, was nicht sei, nicht umgekehrt: „[…] kein faktischer Zustand kann das Bewußtsein dazu bestimmen, ihn als Negativität oder Mangel zu erfassen“ (Sartre 1991, p. 757). Vgl. (Sartre 1991, p. 831). Vgl. (Sartre 1991, p. 816). 223 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. jekts Ereignisse eintreten zu lassen“ (Ricoeur 2006, p. 128), in den ‚Lauf der Welt einzugreifen‘. Und vor aller juristischen Bedeutung ziele die Zuschreibung9 darauf ab, „einen Teil der Veränderung in der Welt jemandem zuzuordnen, der als ihr Agens bezeichnet wird“ (Ricoeur 2005b, p. 241). Sie sei das ‚hegemonische Band‘, das das Was und das Wie an das Wer binde. Aristoteles unterscheide zwischen Dingen, die in unserer Macht stünden, und solchen, die von Ursachen wie der Natur oder dem Schicksal abhingen.10 Das Tunkönnen beschränke sich auf ein ‚Anfangenkönnen,11 das den Folgehandlungen eine ‚Art von Ganzheit‘ verleihe. Hier berühren sich die Idee des existentialistischen Initialentwurfs und die des Ricoeur’schen Anfangenkönnens, wenn sie auch nicht zusammenfallen. Beide haben ethische Implikationen, worüber noch zu sprechen sein wird.12 Vom Initialentwurf zur Praxis scheint nur ein kleiner Schritt notwendig zu sein, es ist der Schritt einer grundsätzlichen Handlungskompetenz, eben des Ricoeur’schen ‚Ich-kann‘. * In Erzählwerken begegneten dem Leser Offenlegung oder Änderung des Initialoder Hauptentwurfs häufig zu Beginn, wenn der Held, wie Greimas herausgearbeitet hat, von einem Adressanten13 einen Auftrag erhält. Denkbar sind für Greimas aber auch Helden, die sich erst später im Laufe der Erzählung über Auftrag und Handlung Rechenschaft ablegen. Was die sekundäre Wahl angeht, so muss der Held im Greimas’schen Transformationsmodell seine Kompetenzen (die auch erst über die Schulung durch einen Mentor erlangt werden) auf einen bestimmten Zweck hin ausrichten und sie dann ins Engagement,14 also in die eigene, autonome Handlung integrieren. 9 10 11 12 13 14 Die Zuschreibung ist noch im vormoralischen Bereich angesiedelt, erst die Anschuldigung verwandelt sie in die moralisch geprägte Zurechnung. Vgl. obige Erläuterungen in Kapitel A.2, Bilanz und Exkurs. Hier bezieht sich Ricoeur auf Kant, der in seiner Transzendentalen Dialektik neben der Naturkausalität eine als frei angesehene Ursache anerkenne, nämlich ein Vermögen, „‚eine Reihe von sukzessiven Dingen oder Zuständen von selbst anzufangen‘ (A 448, B 478)“ (Ricoeur 2006, p. 131). Ein nicht-intentionales, aber begründetes Geschehen nennt Sartre kausal. Auf die Frage ‚Warum hat Brutus Cäsar an den Iden des März ermordet?‘ gebe es zwei Bedeutungen der Weil-Antwort: Die erste bezeichne die Ursache im Sinne einer geregelten Abfolge (Brutus tritt aus dem Kreis der Senatoren heraus, zieht ein Messer usw.), die zweite den Grund zum Handeln, Brutus’ Absicht. Das Motiv sei im Begriff der zu vollziehenden Handlung logisch impliziert. Ich werde in Kürze bei der Besprechung von Praktiken und Lebensplänen im Kapitel D.2., Konfiguration von Handlung, darauf zurückkommen. … der durchaus mit dem Helden als Akteur auf der Diskursebene zusammenfallen kann. Die Freiheit des Individuums ist nach Sartre immer Engagement, nie ein nur unbestimmtes Können. 224 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Die sekundären Möglichkeiten enthalten allerdings auch Ablenkunspotentiale gegenüber der Durchführung des Auftrages oder des eigenen Initialentwurfes. Von hier aus ließe sich auf das Episodische, das Unerwartete, das Unvorhersehbare15 in Ricoeurs Modell der mimêsis II eine Brücke schlagen. 15 Siehe oben Kapitel B.8 zu Ricoeurs mimêsis II. 225 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. D.2. Begrenzung der Autonomie Das autonome Subjekt bewohnt die Welt nicht allein. Oder anders: Es nimmt die Welt immer schon als Bedingung seines Handelns in Kauf. Dieser Welthintergrund begrenzt also Freiheit oder Autonomie des Individuums und konfiguriert zugleich dessen Handlungen. Praktiken, Lebenspläne und Lebensentwürfe kommen hier zur Sprache. Zur Sprache kommt aber auch Ricoeurs Vorstellung der Selbst-Bestimmung: Das Selbst komme nur als handelndes und damit als erzählbares zu sich selbst; und erzählbar sei es sich nur, wie oben gezeigt, in seiner Verpflichtung auf ein gutes Leben: Ethik also als weiteres Element des Welthintergrundes. 2.1. Der Welthintergrund „Anstatt ‚sich zu machen‘, scheint der Mensch ‚gemacht zu werden‘ durch das Klima und das Land, die Rasse und die Klasse, die Sprache, die Geschichte der Kollektivität, der er angehört, die Vererbung, die individuellen Umstände seiner Kindheit, die angenommenen Gewohnheiten, die großen und kleinen Ereignisse seines Lebens.“ (Sartre 1991, p. 833) Hält man an der Idee eines Initialentwurfs als Ortes der absoluten Freiheit des Menschen fest, dann liegt dieser Freiheit doch etwas voraus, das ihre Absolutheit relativiert: mein ‚primäres Sein als In-der-Welt-Sein‘16. Worauf auch immer das Individuum zugreift, es sei nur vor dem ‚Welthintergrund‘ zu erfassen, als der sich ihm die Welt anbietet. Sartre sagt, mein ‚Freiheitsakt‘ sei „die Wahl meiner selbst in der Welt und gleichzeitig Entdeckung der Welt“ (Sartre 1991, p. 800). Das, was das Individuum als seine Welt entdeckt – so meine These –, ist nicht nur Grundlage seiner Entwürfe auf Basis seiner Möglichkeiten, sondern es ist auch schon eingerahmt durch die Elemente des Moralischen Paktes. Das Individuum bezieht sich in seinen Entwürfen immer schon auf Konkurrenz und Austausch. Auf diesem Fundament befindet sich das Individuum noch nicht im Modus des Erwägens, der Moralische Pakt ist, so vereinnahme ich den Sartre’schen Ausdruck: ‚Grundlage jeder Erwägung‘17. Vor diesem Welthintergrund nun erhebt sich das autonome Individuum und bestimmt Zwecke und Haltungen im Licht des als ursprünglich und für alle geltenden Weltenbaus. Sartre illustriert das an einem Beispiel. Ein Felsblock in der Landschaft ist zunächst einmal neutral, „das heißt, er erwartet,18 durch einen Zweck erhellt zu werden, um sich als widrig oder als hilfreich zu erweisen“ (Sartre 1991, p. 834). Entweder hebt er sich vom Welthintergrund nicht ab – ich bemerke ihn nicht weiter – oder aber er wird zum Gegenstand eines se16 17 18 Vgl. (Sartre 1991, p. 798). Vgl. (Sartre 1991, p. 800). Man mag an dieser Stelle Sartre die verfehlte personifizierende Metapher nachsehen. 226 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. kundären Entwurfs: Ich will ihn besteigen oder ich bewundere ihn als Element eines harmonischen Landschaftsbildes. Ob also als neutral, widerständig oder unterstützend, in jedem Fall wird er in eine Situation gerückt, die von meiner Zwecksetzung bestimmt wird: „Das Gegebene […] enthüllt sich nur im Licht der ent-werfenden Freiheit“ (Sartre 1991, p. 844). Das Ich, so Sartre, finde sich in einer ‚schon bedeutenden Welt‘ vor, konfrontiert mit Bedeutungen, die unabhängig von seiner Wahl bereits gälten. Die Techniken, derer ich mich zur Aneignung der Welt bediente, seien kollektive und schon konstituierte Techniken, deren Sinn außerhalb von mir definiert worden sei. Die Welt enthülle sich mir voller kollektiver Techniken, die meine faktische Zugehörigkeit zu den Kollektivitäten Mensch, Nation, Beruf, Familie bestimmten. Das Individuum in seiner Freiheit bleibe unangetastet, aber es sei eben nur ‚frei in Bedingtheit‘19. Man sollte aber die Bedeutung jener ‚Bedingtheit‘ bei Sartre nicht überbewerten, zum Verhältnis von Freiheit und Bedingtheit sagt er ein paar Seiten weiter: Die Techniken sich anzueignen, zu ‚verinnern‘, bedeute, über sie hinaus zu sein, ihren Technikcharakter zu transzendieren. Alle Rollen, in denen ein Individuum sich wiederfinde, ob als Franzose, als Arbeiter, würden durch den Initialentwurf des Individuums überschritten. Die Merkmale der Welt-für-denFranzosen hätten keine Selbständigkeit, „es ist vor allem seine Welt, das heißt die durch seine Zwecke illuminierte Welt“ (Sartre 1991, p. 901). Der Widerstand, den die Welt mir entgegensetze – bei Sartre heißt das ‚Widrigkeitskoeffizient des Gegebenen‘ –, sage etwas über die Art aus, wie ich an meinen Zwecken festhalte. Hiermit berührt Sartre die Erzählelemente der Kompetenzvermittlung. Die Zurichtung des Helden, seine Vorbereitung auf Prüfung und Kampf (bis hin zur grotesken Parodie der Faustschen Verjüngung in der Figur Aschenbachs) werden maßgeblich definiert durch die Sartre’schen ‚Situationen‘, also durch solche Ausschnitte der erzählten Welt, in denen der Held nach Maßgabe seines Initialentwurfs seine Zugriffe auf sie gestaltet.20 Wie gesagt, ihren Sinn erhalten die Widerstände nur durch die freie Zweck-Wahl des Helden. 2.2. Die Psychologie der Figuren Wir könnten uns, so Sartre, als groß und edel oder aber als niedrig und gedemütigt wählen. Die Literatur ist voll davon. 19 20 Vgl. (Sartre 1991, p. 895). Siehe dazu auch weiter unten im Abschnitt zur Konfiguration von Handlung Die Situation ist bei Sartre das Gegebene, „ist rohes Existierendes, das man auf sich nimmt, um es überschreiten zu können“ (Sartre 1991, p. 877) – und zwar ganz konkret: Zweck der Freiheit sei es, dieses Gegebene zu verändern. 227 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Der Entschiedene, der Fels in der Brandung, der Starke Wenn Hauke Haien in Storms Schimmelreiter sich in die Technologie des Deichbaus einliest,21 so richtet er sich gemäß seinem Zweck der Landgewinnung zu. Die Widerständigkeit des kaum zu bändigenden Meeres spiegelt die Kühnheit des Entwurfs, aber auch die Größe einer dafür erforderlichen Kompetenz. Die Freiheit, so Sartre, könne allerdings, wie oben schon erwähnt, nicht entscheiden, ob der zu besteigende Fels – oder bei Haien das zu zähmende Meer – sich für die eigenen Zwecke eigne oder nicht22: „Das ist Teil des rohen Seins des Felsens“ (Sartre 1991, p. 844). Zunächst enthüllt sich das Gegebene vor der Freiheit nur grundsätzlich als widerständig,23 aber erst als tatsächliches Hindernis enthüllt sich dessen Widrigkeitskoeffizient, sichtbar werdend über die ‚erworbenen Techniken‘ des Handelnden. Hauke Haien entdeckt die Widerständigkeit des Meeres erst im tatsächlichen Deichbau. Dort erfährt er sich auch selbst, erfährt, bis zu welcher Konsequenz er an seinem Zweck festzuhalten den Mut aufbringt. Erst die Sturmflut wird ihm die Mängel seiner Mittel aufzeigen (also auch der Mittel, die er technologisch einzusetzen in der Lage gewesen ist) und – allerdings hier nur noch für den Leser deutbar – die Überhöhung seines Initialentwurfs, seine Hybris. Das erzählerische Thema der Landgewinnung scheint archaische Fundamente des Menschseins zu berühren. Die Aneignung der Welt durch das menschliche Für-sich an der Schnittstelle der Elemente Wasser und Land24 stellt bei Faust wie bei Haien ganz grundsätzlich die Frage nach Gelingen und Scheitern im Umgang mit den Naturgewalten, und zwar so grundsätzlich, dass der Wert, ja die ‚Heiligkeit‘ des Inititalentwurfs den Wert des eigenen ‚natürlichen‘ Lebens überstrahlt. Der Ritt Haiens in die tosenden Fluten rettet ja nicht sein Projekt, sondern ist im Grunde ‚sinnloser‘ Endkampf in einer Konkurrenz, die den Menschen hier nur als Verlierer kennt. Aus der Konkurrenz unter Menschen ist Haien vor Ole Peters als Sieger hervorgegangen, aber im Kampf mit ‚höheren Gewalten‘ unterliegt er, ganz mitleids- und gnadenlos. Ähnlich ergeht es Faust in seinem Gewölbekeller nach der Anrufung des Erdgeistes. 21 22 23 24 „An Sonntagnachmittagen, oft auch nach Feierabend, saß Hauke mit einem tüchtigen Feldmesser zusammen, vertieft in Rechenaufgaben, Zeichnungen und Rissen; war er allein, dann ging es ebenso und endete oft weit nach Mitternacht“ (Storm 1999, p. 71). Vgl. (Sartre 1991, p. 843 f.). … oder eben helfend (heißt bei Sartre Verwendungskoeffizient). Eine andere Archaik spiegelt die Land-Meeres-Grenze in Tod in Venedig. Dort weist der Blick aufs Meer auf Mythologie und Menschenferne, am Ende auf das Reich des Todes. Und dorthin folgt Aschenbach der Einladung durch den winkenden Tadzio. 228 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Der Zögerliche, der Schwankende, der Schwache Wir könnten uns, so Sartre, auch als ‚Fliehende, Ungreifbare, Zögernde‘ wählen: „[…] wer sich als gedemütigt realisiert, konstituiert sich dadurch als ein Mittel, gewisse Zwecke zu erreichen: […] unser Entwurf kann sein, unser Fürsich-sein vollständig durch unser Für-Andere-sein absorbieren zu lassen“ (Sartre 1991, p. 817). Eine so gelebte Minderwertigkeit sei das Instrument, uns ‚einem Ding ähnlich zu machen‘.25 Begleitet werde diese Wahl von Scham, Wut und Bitterkeit, denn der gegenpolige Maßstab von Größe und Gelingen sei immer schon unterstellt: „Wählen, ein minderwertiger Künstler zu sein, heißt notwendig wählen, ein großer Künstler sein zu wollen: sonst würde die Minderwertigkeit weder erlitten noch erkannt“ (Sartre 1991, p. 818). Ein solches Auseinanderklaffen, eine solche Dualität werde nach Sartre aber bereits von unserer Freiheit initial entworfen; eine Dualität, die sich in ‚unaufrichtigem‘26 Willen manifestiere, Großes zu schaffen, um dann im Scheitern die eigene Minderwertigkeit ermessen zu können.27 Wer also unter Minderwertigkeit leide, „hat gewählt, sein eigener Peiniger zu sein. 28 Er hat die Scham und das Leiden gewählt“ (Sartre 1991, p. 820). Die Figur in einer Erzählung, die sich als medioker einschätzt, muss die Minderwertigkeit nicht als Eigenkonzept gewählt haben, sondern kann einfach nur realistisch seine eigenen Fähigkeiten einschätzen; eine andere Figur jedoch, die sich ständig mit dem ‚Auseinanderklaffen von willentlich verfolgtem Zweck und am Ende wirklich erreichtem Zweck‘29 konfrontiert, hat Sartre zufolge ihre Minderwertigkeit als Initialentwurf gewählt. Effi Briest, so könnte man mutmaßen, hat ihre anfängliche Unterwürfigkeit Innstetten gegenüber gewählt und leidet zunächst kaum daran. Erst der befreiende Augenblick, in dem sie sich Crampas öffnet, könnte man als ihren Zugriff auf die fundamentale Ebene eines Für-sich-Seins lesen, als die eigentliche Lösung aus ihrer elterlichen und gesellschaftlichen Prägung. Ohne diese Sicht auf die Freiheit der individuellen Zurichtung der Welt und Einrichtung in der Welt sind Erzählungen nicht denkbar. Ein Held wie 25 26 27 28 29 Vgl. (Sartre 1991, p. 818). Sartre definiert die Unaufrichtigkeit im ersten Teil seines Werks über das Nichts wie folgt: In der Unaufrichtigkeit sich selbst gegenüber kehre „das Bewußtsein seine Negation, statt sie nach außen zu richten, gegen sich selbst“ (Sartre 1991, p. 120). „Wählen, ein minderwertiger Künstler zu sein, heißt notwendig wählen, ein großer Künstler sein zu wollen: sonst würde die Minderwertigkeit weder erlitten noch erkannt“ (Sartre 1991, p. 818). Nur eine nicht weiter kommentierte Nebenbemerkung: Sartre unterstellt dem Minderwertigkeits-Patienten beim Psychoanalytiker, dass er die Behandlung mit Unaufrichtigkeit und Böswilligkeit beginne und sein Streben dahin gehe, die Behandlung scheitern zu lassen. Nähere sich der Analytiker dessen Initialentwurf, begänne der Patient zu lügen, indem er beispielsweise die Heilung vorspiele. Oder die Behandlung abbreche; vgl. (Sartre 1991, p. 821 f.). Vgl. (Sartre 1991, p. 818). 229 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Woyzeck stößt nicht nur an die Grenzen seiner diegetischen Welt, sondern auch an die der Erzählung oder des Dramas. Wie schon erwähnt: Jenseits eines Determinismusverdachts der Figur gegenüber muss es einen Bereich von RestAutonomie geben, ansonsten fände das Stück weder Leser noch Zuschauer. 2.3. Die Konfiguration von Handlung Ricoeur fasziniert die Idee, dass die narrative Theorie eine ‚Schlüsselstellung‘ zwischen Handlungstheorie und ethischer Theorie einzunehmen vermag und damit einen Übergang von der Zuschreibung zur Zurechnung einer Handlung an einen Handelnden vollziehen könne.30 Ricoeurs Hoffnung auf eine solche Leistung der narrativen Theorie geht zurück auf seine Konstruktion der narrativen Identität analog zur Konfigurationsleistung der mimêsis II. Ich habe das oben darzustellen versucht. Wenn nun, so spielen wir probeweise Ricouers Gedanken durch, das Individuum erst über eine ‚Dialektik‘ von Kontingentem und einheitlicher Lebensgeschichte zu seiner Identität gelangte, dann müsste das Auswirkungen auf seine Handlungen haben, sind sie doch wesentlicher Inhalt seiner Lebensgeschichte. Die einzelne Handlung wäre dann immer schon im Zusammenhang mit einem größeren Ganzen (hier dem Leben des Individuums) zu denken. Unter einem solchen Einheitsgesichtspunkt würde das Dissonante konsonant oder das Kontingente Bestandteil einer einheitlichen Lebensgeschichte: Wie ein Autor also Dissonantes einer Geschichte in Konsonantes einer Erzählung verwandele, so verfahre auch das Individuum, das sich in seiner narrativen Identität aus dem Zerstreuten seines Lebens eine zusammenstimmende Lebenserzählung konstruiere. Damit müssten, so Ricoeurs Folgegedanke, die Handlungen selbst Merkmale enthalten, die sie erzählbar machten. Lassen wir an dieser Stelle den Ruf des Banalitätsverdachts nicht zu laut werden und hören Ricoeur weiter zu. Er verspricht, von der Betrachtung der Handlung zur Erzählbarkeit und von dort zu deren moralischen Implikationen zu kommen. Bleiben wir also noch einen Moment bei seiner sechsten Abhandlung aus Das Selbst als ein Anderer. Das Verhältnis von Fabel und Figur, so Ricoeur, werfe nur dann ein neues Licht auf das Verhältnis von Figur und Handlung, wenn eine Ausweitung des praktischen Feldes vorgenommen würde.31 Und der Herausarbeitung einer solchen ‚Hierarchie von Praxiseinheiten‘32 will sich Ricoeur nun widmen. Zunächst den Praktiken, über die wir bereits im ersten Teil der vorliegenden Arbeit auf dem Spaziergang von Ricoeur und Aristoteles gespro- 30 31 32 Vgl. (Ricoeur 2005a, p. 186 f.). Vgl. (Ricoeur 2005a, p. 187). Vgl. (Ricoeur 2005a, p. 188). 230 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. chen haben;33 sodann den Lebensplänen und zuletzt der Einheit einer Lebenserzählung. 2.3.1. Von Praktiken über Lebenspläne zur Lebenserzählung Im Gegensatz zu Basishandlungen (Körperhaltungen und körperliche Grundhandlungen) sei der Rest des praktischen Feldes auf die Beziehung des ‚um…zu‘ aufgebaut34: In linearen Folgen seien Handlungen Zweck-Mittel-Verknüpfungen und über mehrere Handlungsketten hinaus Verbindungen von Finalität (Absichten) und Kausalität (Ergebnisse eines Handlungsstrangs als Bestandteile neuer Kausalketten). Demgegenüber seien Praktiken Einheiten zweiter Ordnung, und zwar als Konfigurationseinheiten, innerhalb derer sich Teilhandlungen in ‚Umfassungsverhältnissen‘ aufeinander bezögen. Vereinigt würden Teilhandlungen über ‚Sinngesetze‘ oder ‚konstitutive Regeln‘, die ihnen Bedeutungen im Modus des Gelten-als verliehen35, allerdings ohne moralisch sein36 zu müssen. Die Regeln der Praktiken verwiesen noch auf ein zweites Merkmal, auf das der Interaktion. Praktiken bezögen sich immer auch auf Handlungen anderer und trügen ihnen Rechnung. Hier taucht der Andere auf, als Partner (in Kooperationen) oder Konkurrent (im Konflikt oder Wettstreit). Ricoeur betont, dass auch das Unterlassen und Dulden ‚Tatsachen der Interaktion‘ seien37: „Eigentlich hat jede Handlung ihre Vollzieher und ihre Erleidenden“ (Ricoeur 2005a, p. 193). Auf solche komplexen Handlungseinheiten beziehe sich in ihrer mimetischen Tätigkeit die narrative Operation – allerdings, so schränkt Ricoeur ein, nicht auf sie als ‚fertig ausgearbeitete narrative Szenarien‘, sondern auf sie in einer ihnen zukommenden ‚pränarrartiven Qualität‘, wie er sie in seinen Ausführungen zur mimêsis I beschrieben habe.38 Es seien gerade diese Aspekte der Handlung, die Erzählungen anschaulich machten. Hier erinnert sich vielleicht der Leser der vorliegenden Arbeit an die Bartheschen Katalysen39 in ihrer diskurs-sättigenden Funktion, auch blitzt hier Greimas’ Aktantentheorie auf, deren polemisches Prinzip Ricoeur in seiner Theorie der Praktiken zu adaptieren 33 34 35 36 37 38 39 Siehe oben A.2, Spaziergang Ricoeurs mit Aristoteles, erste Etappe Ricoeur bezieht sich hier und im Folgenden auf die analytische Handlungstheorie; vgl. (Ricoeur 2005a, p. 188). Solche Regeln verknüpfen selbst Gesten mit Bedeutung, so beispielsweise in unserem Kulturkreis das Nicken mit Zustimmung oder Bejahung. Vgl. (Ricoeur 2005a, p. 190). Hier tauchen Fragen der Macht, Fragen der Gewalt als ‚Zerstörung der Handlungsfähigkeit eines Subjekts durch einen Anderen‘ auf; vgl. (Ricoeur 2005a, p. 193). Vgl. (Ricoeur 2005a, p. 193). Siehe oben Kapitel B.8 zur Integration des Episodischen. 231 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. scheint: „Gerade ihnen40 verleiht die Erzählung die polemische Form eines Wettstreits zwischen narrativen Programmen“ (Ricoeur 2005a, p. 193). So wie Greimas und Courtés die erste Kommunikationsbeziehung im Verhältnis von Subjekt und begehrtem Wertobjekt festmachen, so könnte man Ricoeurs Interaktion innerhalb von Praktiken zunächst einmal als regelgeleitete Auseinandersetzung des Individuums mit widerständigen Gegenständen verstehen (im Sinne der Naturaneignung). Erst auf einer zweiten Ebene würden Individuen miteinander interagieren, und zwar kooperierend wie auch konkurrierend; manche Spiele illustrieren das augenfällig mit ausgefeilten Regeln für die Zusammenarbeit wie auch für den Wettbewerb. Bevor ich auf die ‚höhere Organisationsstufe‘, die Lebenspläne, schaue, wo sich Ricoeur zufolge das gleiche Verhältnis von Praxis und Erzählung zeige, möchte ich für einen kurzen Exkurs beim polemischen Prinzip verweilen. Exkurs zum polemischen Prinzip Dass die Erzählung den Praktiken die ‚polemische Form eines Wettstreits‘ verleihe, führt fast geradlinig ein weiteres Mal zu den Elementen des Moralischen Paktes. Greimas habe, so Ricoeur, mit seinem Aktantenmodell das Verhältnis von Handlung und Figur ‚radikalisiert‘. Was die Figur angehe, so verweise Greimas auf die Komprimierung der Propp’schen Funktionen; und was die Handlung angehe, so weise bereits das Vorverständnis auf der Ebene ‚schlichter narrativer Vernunft‘ auf das polemische Prinzip, dass nämlich „die Handlung eine Interaktion und diese Interaktion der Wettstreit zweier abwechselnd sich bekämpfender und konvergierender Vorhaben ist“ (Ricoeur 2005a, p. 180). Beim Wiederlesen des Propp’schen Schemas – so Greimas und Courtés in ihrer Sémiotique – erkenne man deutlich die darunter liegende polemische Struktur.41 Das Volksmärchen enthalte beides, die Geschichte des Helden und seiner Suche als auch die des Bösewichts. Zwei narrative Durchführungen (trajectories) entfalteten sich in zwei gegensätzliche Richtungen, immer eingedenk, dass die Kontrahenten nach demselben Wertobjekt strebten. Greimas und Courtés vertiefen ihren Gedanken: „On closer inspection this conflictual structure is […] one of the opposing poles – the other being the contractual structure – of the confrontation. Even the most peaceful exchange implies the confrontation of two contrary wantings and the conflict is inscribed within the framework of a network of tacit conventions“ (Greimas & Courtés 1982, p. 205). Die Konfrontation also umfasse die Pole Konflikt und Kontrakt, die Autoren bestätigen damit nicht nur Greimas’ Konzept zum narrativen Schema, sondern treffen hier ein weiteres Mal auf den Moralischen Pakt. Kern der 40 41 … den Aspekten der Interaktion der Praktiken; vgl. (Ricoeur 2005a, p. 193). „With this rereading of the Propprian schema, the decisive step was taken in recognizing the polemical structure underlying it“ (Greimas & Courtés 1982, p. 205). 232 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Narrativität sei das Kontroverse menschlichen Miteinanders, selbst der friedlichste Tausch unterstelle die Begehrlichkeit einem Objekt gegenüber, eine Begehrlichkeit zweier sich gegenüberstehender oder konkurrierender Subjekte42. Eine solche Konfliktstruktur sei im Netzwerk impliziter (oder stillschweigender) Konventionen eingeschrieben, wie es die Autoren formulieren. – Exkurs Ende – Ricoeur grenzt nun Lebenspläne von Praktiken ab: Berufsleben, Familienleben, Freizeitleben, all das positioniert er zwischen Praktiken und Lebensentwürfen,43 wobei das Individuum zwischen der Komplexität von Praktiken und der Vagheit von Idealen und Entwürfen zu vermitteln44 versuche. Lebenspläne kann man vielleicht als Operationalisierungen abstrakter Lebensentwürfe verstehen. Das praktische Feld der Lebenspläne konstituiere sich als Doppelbewegung von ansteigender Komplexität (gegenüber dem ‚vagen Horizont der Ideale45 und Entwürfe‘) und abnehmender Spezifikation (gegenüber der Bestimmtheit der praktischen Tätigkeiten): „Die Lebenspläne bilden […] die mittlere Zone eines Austausches zwischen der Unbestimmtheit der leitenden Ideale und der Bestimmtheit der Tätigkeiten“ (Ricoeur 2005a, p. 194). In einem solchen Spiel doppelter Bestimmtheit lasse sich ein Leben ‚erzählen‘. Fassen wir zusammen. Sorgen also schon die Praktiken als pränarrative Strukturen für die Erzählbarkeit von bestimmten Rollen, die das Individuum in der Gesellschaft übernimmt, so die Lebenspläne für die Konfiguration einer Vielzahl von Rollen unter der leitenden Idee eines Lebensentwurfs. Der Sinn von Lebenserzählungen ist oben in Kapitel C.146 ausreichend kommentiert worden. Warum kommt das hier bzw. bei Ricoeur noch einmal zur Sprache? – Nun, Ricoeur sprengt mit seinen Gedanken zur ‚narrativen Einheit 42 43 44 45 46 … oder, um präzise zu übersetzen: die Konfrontation zweier gegensätzlicher ‚wantings‘; allerdings sind die Begehrlichkeiten oder auch Mängel nicht gegensätzlich, sondern richten sich aufs selbe Wertobjekt; gegensätzlich sind sie nur insoweit, als die Aneignung des Objekts durch ein Subjekt die Perpetuierung des Mangels beim anderen Subjekt zur Folge hat. In Teil A habe ich der Einfachheit halber Lebensentwürfe und Lebenspläne als ein und dasselbe behandelt. Hier stellt sich die Frage, ob der Existentialismus nicht zu einer schärferen Betrachtung in der Lage ist. Sind für Heidegger oder Sartre Praktiken nicht genau das, was das Man vom Individuum verlangt? So dass die Lebensentwürfe sich in der Emanzipation von den Praktiken der Gesellschaft beweisen, im Modus des Losreißens-von. Demgegenüber vermitteln nach Ricoeur die Lebenspläne lediglich moderat die Praktiken und Lebensentwürfe. Dieser vage Entwurf dürfte im Idealfall gesellschaftlicher Sozialisation ähnliche ‚Verbindlichkeiten‘ aufweisen wie der Moralische Pakt. Das ist auch sein Zweck wie seine Funktion: die Ideale als vage Hintergründe der individuellen Lebensentwürfe vorzuzeichnen – und das Individuum immer wieder auf Linie zu bringen, falls es auf eine abweichende Bahn geraten ist. Siehe im Kapitel C.1 den Abschnitt zum narrativen Schema und zur Lebens-Erzählung. 233 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. eines Lebens‘ den bisherigen Rahmen, in dem es ihm auf den ersten Blick lediglich um die Erzählbarkeit von Lebensausschnitten und Lebensplänen gegangen ist. Das schien – bis auf die prinzipielle Kritik an den Narrativisten47 – unproblematisch zu sein und konnte sicherlich noch mit Greimas’ Aktantentheorie zusammengedacht werden. Nur jetzt stößt Ricoeur eine weitere Tür auf, und zwar zur Ethik. Ein ganzes Leben als narrative Einheit zu begreifen, so behauptet er, setze eine neue Perspektive frei: Die Zusammenfassung des Lebens in Form einer Erzählung richte es auf ein gutes Leben aus. Und dieser Gedanke einer Ausrichtung auf ein ‚gutes‘ Leben bilde „den Schlußstein von MacIntyres wie unserer Ethik“, so Ricoeur (Ricoeur 2005a, p. 194). 2.3.2. narro ergo sum Ricoeur unternimmt den Versuch, ethische Implikationen in der Person und ihrem Handeln – sozusagen ontologisch – festzumachen. Genau genommen, setzt er die ethische Konstitution der Person bereits voraus und stellt ihr als analoge Erläuterung sein ethisches Dreigestirn zur Seite, seinen ‚Leitfaden für die Erforschung‘48: den Bezug des Individuums auf sich selbst, auf den Anderen wie auf Institutionen. Es scheint ihn nicht zu stören, dass er dem Individuum überstülpt, was der Forscher lieber als Resultat einer Ableitung gesehen hätte. Ricour ist überzeugt davon, in der Erzählbarkeit eines guten Lebens das Konstituens personaler Identität entdeckt zu haben. In verkürzender Prägnanz: Die personale Identität ist nur als narrative zu haben und diese nur als ethische oder ‚Narro, ergo sum‘. In der siebten und achten Abhandlung aus Das Selbst als ein Anderer spürt Ricoeur der ethischen und moralischen Ausrichtung des Selbst nach. Das ist zwar bereits oben in Teil A zur ‚kleinen Ethik‘ Ricoeurs ausgeführt worden, aber eine Wiederaufnahme an dieser Stelle rechtfertigt sich im Zusammenhang mit den Begrenzungen der Autonomie des Selbst: Auf jeder der drei Stufen des êthos hat das Selbst mit Sollenssätzen zu tun, die es einengen. 47 48 Vgl. oben Kapitel C.1, Abschnitt zur narrativen Identität. Das ternäre êthos-Modell sei geeignet, „einen Leitfaden bei der Erforschung der anderen* Schichten der Konstitution der Person zu liefern“ (Ricoeur 2005b, p. 228 f.). * Die Schichten der Person (in einer ‚hermeneutischen Phänomenologie‘) sind nach Ricoeur: der sprechende Mensch, der handelnde Mensch, der Mensch als erzählender und viertens der verantwortliche Mensch; vgl. (Ricoeur 2005b, p. 228). 234 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 2.3.2.1. Die Selbstschätzung Auf der selbstbezüglichen Ebene nehme sich das Individuum als Urheber seiner eigenen Taten wahr und verantworte damit alle seine Handlungen im Rahmen von Lebensplänen und Praktiken unter der Maßgabe eines ‚guten Lebens‘. Sogenannte immanente Güter, gemessen an Maßstäben der Vortrefflichkeit, verliehen den Praktiken ihren Sinn und zeigten sich phänomenologisch als Interesse und Befriedigung des Individuums. Solche Maßstäbe der Güte lieferten der Selbstschätzung des Individuums eine erste Stütze,49 „insofern wir in der Schätzung unserer Handlungen uns selbst als deren Urheber schätzen“50 (Ricoeur 2005a, p. 216). In diesem Doppelbezug des Individuums – auf sich selbst als Urheber wie auf die Maßstäbe der Vortrefflichkeit der Praktiken – gelange es unter dem Schirm der Idee eines guten Lebens zur Selbstschätzung oder -liebe. Der Begriff des ‚guten Lebens‘, so Ricoeur, sei für die Einbindung des Individuums in Praktiken und Lebensplänen ein ‚Horizont‘ oder eine ‚Grenzidee‘. Vom Inhalt her betrachtet, sei das ‚gute Leben‘ für jedermann „ein nebulöses Gebilde von Idealen und Erfüllungsträumen“ (Ricoeur 2005a, p. 218), von ihrem ‚epistemischen Status‘ jedoch bringe diese ‚Grenzidee‘ den Zusammenhang von phronêsis und phronimos ins Spiel. Zwischen unserer Ausrichtung auf ein gutes Leben und unseren alltäglichen, partikularen Entscheidungen bewegten wir uns, so Ricoeur, ständig in einem hermeneutischen Zirkel – was allerdings mehr ein Hin und Her ist zwischen der Ausrichtung auf ein gutes Leben und der auf die je besonderen Anforderungen des Falls, in dem das Selbst Entscheidungen vornimmt. Wie auch immer, eine solche ständige Kontroverse, die das Individuum mit sich selbst führe, ziele darauf, Lebensideale und Einzelentscheidungen unter einen Hut zu bringen. Könnte sich das Selbst dann auf die Angemessenheit seiner Auslegung berufen, komme es am Ende einer solchen Kontroverse zur Selbstschätzung. Aus der Gewissheit, selbst Urheber seiner Handlungen zu sein, gewinne das Individuum die Überzeugung, „in einer momentanen und provisorischen Annäherung an das gute Leben gut zu urteilen und gut zu handeln“ (Ricoeur 2005a, p. 219). 49 50 Hier beruft sich Ricoeur auf A. MacIntyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt a.M. / New York 1987; vgl. (Ricoeur 2005a, p. 216). In den Annäherungen an die Person von 1990 formuliert Ricoeur: Das Individuum schätze sich als Selbst ein, „das fähig ist, absichtlich zu handeln, das heißt, gemäß überlegten Gründen, und das außerdem in der Lage ist, seine Absichten in den Lauf der Dinge durch Initiativen zu inskribieren, welche die Ordnung der Absichten in jene der Ereignisse der Welt einflechten“ (Ricoeur 2005b, p. 229). 235 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 2.3.2.2. Der Bezug auf andere An welcher Stelle nun gelingt der Übergang von der Selbstschätzung zur fürsorgenden Schätzung des Anderen? Ricoeur stellt klar, dass ‚selbst‘ zu sagen nicht ‚ich‘ zu sagen bedeute.51 Das Selbst werde, wie eben dargestellt, wegen seiner Fähigkeiten geschätzt, also wegen seines Urteilen- und Tun-Könnens. An dieser Stelle könnte sich lohnen, noch einmal auf Ricoeurs Aristoteleslektüre zurückzukommen und damit die losen Enden aus dem Teil A52 der vorliegenden Arbeit wiederaufzunehmen und aus der aktuellen Perspektive der Begrenzung der Autonomie des handelnden Individuums zu betrachten: Freundschaft und Fürsorge. Bei beiden liegt die ethische Implikation auf der Hand, aber Ricoeur will mehr als bloße Plausibilität. Die eine oder andere Redundanz mit Teil A wird nun nicht zu vermeiden sein. Freundschaft zeichne sich durch zweierlei aus, einerseits durch ein am Guten orientiertes Begehren und andererseits durch das Verhältnis der Reziprozität: den Anderen zu lieben, wie man selbst sei – bis hin zum Wunsch nach einem Miteinanderleben.53 Wie oben in Teil A ausgeführt, liebe das Selbst im Freund das Gute, das ihm den Rückbezug auf das Gute in ihm selbst ermögliche. Das ist, wie oben gesagt, nicht mehr als ein zirkulär anmutendes Ideal. Ricoeurs Enttäuschung darüber, dass Aristoteles keinen ausdrücklichen Begriff der Andersheit anbiete54, ist nachvollziehbar. Als Erklärung des Übergangs vom Selbst zu Anderen ist nicht überzeugend, dass selbst der Glücklichste den Freund in dessen Rolle benötige, um das zu besorgen, was er aus sich heraus nicht bewirken könne; auch vermag nicht zu überzeugen, dass er einer Gesellschaft von Freunden bedürfe, weil er deren Handeln (und darin spiegelnd sein eigenes) gerne als sittliches sähe. Doch warum vertieft sich Ricoeur hier in die Lektüre der Aristotelischen Ethik? Dessen Gedanken, so Ricoeur, legitimierten durchaus seine eigene Idee, „daß die Selbstschätzung das originäre reflexive Moment der Ausrichtung auf ein gutes Leben darstellt. Die Freundschaft bereichert die Selbstschätzung, ohne ihr etwas wegzunehmen. Sie fügt ihr die Idee der Gegenseitigkeit im Austausch zwischen Menschen, deren jeder sich selbst schätzt, hinzu“ (Ricoeur 2005a, p. 229). Nun, Freundschaft mag – phänomenologisch betrachtet – durchaus als ‚Bereicherung‘ der Selbstschätzung gesehen werden, aber ein zwin- 51 52 53 54 Vgl. (Ricoeur 2005a, p. 220). … auf der zweiten Etappe des Spaziergangs von Ricoeur und Aristoteles (A.2.) Erst aus der Perspektive der Pflichtenethik verwandele sich die Reziprozität, „die auf der moralischen Ebene, wenn die Stunde der Gewalt schlägt, von der Goldenen Regel und vom kategorischen Imperativ der Achtung gefordert werden wird“ (Ricoeur 2005a, p. 223). Erst Hegel verdopple das Bewusstsein in zwei Selbstbewusstseine, die sich zunächst über die Idee des Kampfes aufeinander bezögen. 236 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. gender Kausalnexus zwischen Selbstschätzung und Freundschaft ist hier nicht nachvollziehbar. Auch die beiden Pole, charakterisiert durch Ungleichheit, zwischen denen als Mitte sich die Freundschaft mit ihrer Kernbestimmung der Gleichheit ansiedelt, sind oben in Teil A erläutert worden: auf der einen Seite das Zur-Verantwortunggezogen-Werden mit der Initiative beim Anderen in Gestalt des Meisters der Gerechtigkeit55 und auf der anderen die Fürsorge, die initiativ vom Selbst ausgehe. Aber auf beiden Polen lösten die Initiativen beim jeweils Anderen Reaktionen aus, die die Asymmetrie zwischen ihm und dem Selbst aufhöben: auf der Seite der Verantwortung die Antwort des Selbst auf die Unterweisung durch den Meister der Gerechtigkeit und auf der Seite der Fürsorge Gefühle und Einsicht in die Fragilität56 menschlichen Lebens, ausgelöst durch die Schwachheit des Leidenden. Die Fürsorge führt nun nicht zwingend von einem Mangel des Selbst zur Aufhebung des Mangels im Bezug auf den Anderen, sondern setzt bereits einen ethischen Bezug auf andere voraus, einen Bezug, der sich eben als Freundschaft oder Fürsorge zeigt. Meines Erachtens führt kein Element des Selbst oder der Selbstschätzung notwendig zum Perspektivenwechsel zwischen Ich und Anderem. Ein solcher Wechsel setzte ein moralisches Bewusstsein oder Gewissen voraus, das vom Selbst um seiner selbst willen nicht erst hier generiert würde (wie von Ricoeur nahegelegt), sondern bereits zum praktischen Einsatz käme. In Teil A drängte sich die Frage nach der Transzendenz vom Selbst zum Anderen auf sowie der Verdacht der Zirkularität wechselseitiger Schätzung des Selbst und des Anderen. Was stutzig machte, war Ricoeurs zirkulär anmutender Kurzschluss, dass das Selbst sich nicht schätzen könne, wenn es den Anderen nicht wie sich selbst schätze. Warum, so drängt sich die Frage auf, denn nicht? Auf phänomenologischer Ebene ist sicherlich die Rückwirkung von Freundschaft und Fürsorge auf die Selbstschätzung denkbar, aber die beiden zur zwingenden Voraussetzung der Selbstliebe zu erklären, ist nun doch gewagt. Doch wie gewagt der Schluss auch sein mag oder wie zirkulär auch Begründungsschleifen sein mögen, wir berühren hier den Kern des Ricoeur’schen Gedankengebäudes, seine ‚Inspiration‘, die ihn in späteren Jahren zu seiner Theorie der Anerkennung führen wird, in der er beides unter einen Hut zu bringen versucht, nämlich das polemische Prinzip und die wechselseitige Anerkennung in einem ‚Kampf um Anerkennung‘. Unten in Teil F wird darüber zu sprechen sein. 55 56 Der Meister der Gerechtigkeit verbiete Mord und gebiete Gerechtigkeit; und er ziehe das Selbst zur Verantwortung (das Selbst befinde sich nur im ‚Akkusativ der Aufforderung‘). Vgl. (Ricoeur 2005a, p. 234). 237 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 2.3.2.3. Die gerechten Institutionen Auf der dritten Trias-Ebene – der der gerechten Institutionen – geht es Ricoeur um das grundlegende Verhältnis im Gefüge des ‚Zusammen-Leben-Wollens‘, vor allem also um den Bereich der Macht, den er dem Volk zurechnet (und nicht der Herrschaft, deren Legitimität sich nur dem Bezug auf die Macht des Volkes verdanke). Die Macht nun liefere der ethischen Ausrichtung auf ein gutes Leben den ‚Anwendungsort‘: die Gerechtigkeit. Auch über Gerechtigkeit und Gerechtigkeitssinn ist in Teil A gesprochen worden, erinnerungswürdig an dieser Stelle ist Ricoeurs Parallelführung von Gerechtigkeit (mit dem Kern der Gleichheit) und Fürsorge: Was die Fürsorge auf der zweiten Ebene innerhalb der interpersonalen Beziehungen sei, das sei das Prinzip Gleichheit in den Institutionen57 – mit einem Unterschied allerdings, dass nämlich die Fürsorge dem Anderen ins Angesicht blicke, während einem die Gleichheit im Bereich der Institutionen den Anderen als Jeden gegenüberstelle. Der Gerechtigkeitssinn weite das Kriterium der Gleichheit maximal auf die gesamte Menschheit aus. Das ist purer Idealismus, was Ricoeur auch zugibt, wenn er einräumt, dass das, was Freundschaft voraussetze, nämlich Gleichheit, in Gesellschaften nur Zielformulierung bleibe.58 * Wir sind mit Ricoeur über die Praktiken oder allgemeiner: über die praxis auf deren Erzählbarkeit und von dort auf die ethischen Inskriptionen der handelnden Individuen gestoßen, die sich narrativ nur moralisch zu begreifen in der Lage seien: in der Selbstschätzung, in der Rücksicht auf andere und schließlich im Wunsch, in gerechten Institutionen zu leben. Wir sind mit Ricoeur also zum Ausgangspunkt seiner ‚kleinen Ethik‘ zurückgekehrt. Was für ein Konstrukt! Für Ricoeur scheint sich das Individuum nur dann selbst kohärent erfassen zu können, wenn es Kontingentes in Intentionales verwandelt und wenn es sich den drei Ebenen der Idee des guten Lebens zuwendet: als Selbstschätzung eines ‚Ich-kann‘, als ‚Fremdschätzung‘ und als Gerechtigkeitssinn, der das, was auf der zweiten Ebene als Gleichheit angelegt ist, auf die gesamte Menschheit ausdehnt. Zur Erinnerung: Wir befinden uns immer noch im Bereich der Begrenzung der Autonomie des Individuums. Die Moral nun aus der Struktur von Handlungen abzuleiten, ist, wie gesagt, gewagt: Sie kommt meines Erachtens erst via Gewissen ins Individuum, und zwar bei der Adaption des allgemein anerkann- 57 58 Vgl. (Ricoeur 2005a, p. 245 f.). In der Gerechtigkeit sei Gleichheit nur eine proportionale Gleichheit, „während Freundschaft nur zwischen gleichrangigen gutgesinnten Menschen herrscht“ (Ricoeur 2005a, p. 224). 238 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. ten Das-tut-man oder Das-tut-man-nicht59. Über die Erzählbarkeit komme ich aber nie und nimmer zur Moral. Es sei denn, ich setzte wie Ricoeur und MacIntyre die Einheit eines ganzen Lebens mit der Einheit eines guten Lebens gleich. Wir sind sozusagen beim Schlussstein der Ricoeur’schen kleinen Ethik angelangt und kehren damit zum Dreischritt der Identitätskonstitution zurück: personale Identität <– narrative Identität <– ethische Identität. Wir fassen diesen Dreischritt noch einmal kurz zusammen, schon allein weil er für das gesamte Ricoeur’sche Werk substantiell zu sein scheint: – Für Ricoeur fallen autonome und ethische Identität des Subjekts zusammen – und zwar vor aller ethischen Prägung qua Gewissen. Selbstschätzung und Fremdschätzung scheinen sich für ihn wechselseitig zu bedingen. Ethik übernimmt bei Ricoeur nicht die Rolle eines die Autonomie einschränkenden Prinzips, sondern eines unabdingbaren Konstituens des Selbst. In seiner Theorie der Anerkennung60 wird er konsequent polemisches Prinzip und Anerkennung zusammenzubringen versuchen. – Für Ricoeur fallen auch narrative und ethische Identität zusammen. Das setzt allerdings das ganze Leben mit einem guten Leben gleich. Die Lebenserzählung setzt sich dem Richterstuhl des Zuhörers aus, der aus Zuschreibung Zurechnung mache61, das Leben wird aus der Position des Hier-sieh-mich!62 erzählt. – Zudem scheint hier der eigentliche Sinn der Ricoeur’schen Lesart der Ipseität auf: Ricoeur versteht die Selbstheit oder Selbst-Ständigkeit nicht – wie ich – als Kern der individuellen Autonomie, als Heidegger’sche Stimme des ‚eigensten Selbstkönnens‘, sondern als Verlässlichkeit, als Worthalten. Das Hierstehe-ich oder Hier-sieh-mich ist meiner Lesart nach nicht so sehr die Einladung an die Anderen, mich nach Moralmaßstäben zu be- oder verurteilen, sondern mehr der Ruf aus den Tiefen des Individuums, zu denen die Gesellschaft mit ihren Sozialisationsanstrengungen keinen Zutritt hat. 59 60 61 62 Das wird weiter unten wieder aufgegriffen. Vgl. Teil F. Der Zuhörer bringt also den moralischen Standpunkt schon mit.. Wenn ein Individuum seine Lebensgeschichte unter dem Zurechnungsaspekt erzähle, so verantworte es sich für sein Leben: „Hier sieh mich!“[1] (Ricoeur 2005a, p. 205). Ricoeur verweist hier auf Walter Benjamins Beitrag zum Erzähler, in dem dieser daran erinnere, dass die Kunst des Erzählens eine Kunst des Erfahrungsaustauschs sei. Und im Erfahrungsaustausch „werden alle Handlungen gutgeheißen oder mißbilligt und die Handelnden gelobt oder getadelt“ (Ricoeur 2005a, p. 201). 239 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 2.4. Welthintergrund als Mangel und Wert Wenden wir uns einer anderen Seite der Autonomiebegrenzung zu, dem Mangel und Wert, also dem Welthintergrund aus subjektiver Perspektive. Und schlagen hierfür nochmals bei Sartre63 nach. Das Individuum64 finde sich in einer Welt vor, die seinen Bedürfnissen und Zwecken nicht entspricht, die noch als mangelhaft erscheint. Die Welt selbst allerdings (in die das Individuum sich geworfen findet) könne für sich keinen Anlass von Mangel aufweisen, das An-sich der Welt außerhalb der Für-sich-Perspektive sei völlig ‚zweckfrei‘ das, was es sei. Das Individuum, so Sartre, verwandle sich erst in ein Für-sich, wenn es das werde, was ihm mangele: „Was sich als das eigene Mangelnde jedes Für-sich darbietet und was sich streng definiert als etwas, was genau diesem Für-sich und keinem anderen mangelt, das ist das Mögliche des Für-sich“ (Sartre 1991, p. 200 f.). Erst in der Nichtung dessen, was sei, ergreife das Individuum das eigene Für-sich-Sein, und zwar in der Realisierung seiner Möglichkeiten.65 Hier zeige sich die Verwandtschaft von Mangel und Möglichkeit, beide kämen nur durch den Menschen zur Welt. Das An-sich der Natur könne keine Möglichkeiten ‚haben‘. Die Bedeutung des Mangels für das Handeln schlechthin und damit auch für das Handeln des narrativen Figurenensembles liegt also in der Aneignung der Welt oder im Überschreiten der so-seienden Welt auf einen Zweck hin, der sich über das subjektiv gesetzte Mangelhafte bestimmt.66 Ein weiterer Begriff taucht mit der Sartre’schen Bestimmung des Mangels auf, einem Begriff, den wir bereits aus dem Greimas’schen Transformationsmodell kennen: dem Begriff des Wertes. Erst in der Aneignung der Welt durch Individuen komme, so Sartre, ‚der Wert in die Welt‘.67 Er sei das ‚Verfehlte aller Mängel, das Sattsein, nicht das Mangelnde, nicht der Hunger.68 Der Wert ist also etwas, was der Welt – also den Gegenständen, Handlungen oder Personen – zugeschrieben wird, nichts, was ihr ontologisch vor aller sub- 63 64 65 66 67 68 Vgl. (Sartre 1991, p. 184 f.). Bei Sartre heißt es auch: die ‚Ichheit (moiité)‘ der Welt. Die Ichheit sei flüchtig und doch immer anwesende Struktur, die ich lebte. Die Welt (sei) meine, weil sie von Möglichkeiten heimgesucht werde; und diese Möglichkeiten gäben ihr ihre Einheit und ihren Sinn als meine Welt; vgl. (Sartre 1991, p. 214 f.). Die Möglichkeit ist nach Sartre „als Zugehörigkeit zu einem einzelnen Sein gegeben, von dem sie ein Können ist“ (Sartre 1991, p. 203). Dass das Handeln ein Sorgen-um, ein Be-Sorgen ist, wird weiter unten noch ausreichend besprochen. Vgl. (Sartre 1991, p. 195). Der Wert „ist als der Sinn und das Jenseits jedes Überschreitens, er ist als das abwesende An-sich, das das Für-sich-sein heimsucht“ (Sartre 1991, p. 196). 240 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. jektiven Valorisierung zukomme. Der Wert lade das Selbst auf,69 indem es sich als Für-sich entwirft. Und dieses noch nicht zu sein, sei eben der Mangel. Der Wert werde erlebt, so Sartre, als der Sinn des Mangels, der ‚mein gegenwärtiges Sein‘ ausmache.70 Die einfache Konstruktion eines wertbestimmenden Für-sich-Seins des Individuums führt uns auf Erzählungen zurück: Der Wert ist das, worum es zu kämpfen lohnt, er wird vom begehrenden Subjekt bestimmt, das die als mangelhaft erlebte Realität auf eine zu korrigierende hin überschreitet, eben auf diesen Wert71 hin. Der Wert wird häufig zum unerreichbaren Ideal, so in der Welt der Weimarer Klassiker oder Romantiker. Das Verfehlte ist der Leitstern, aber jedes Überschreiten des mangelgeprägten Existierenden kämpft ewig mit dem Mangel. Es kommt dabei nicht auf die Erreichung der Vollkommenheit an, sondern auf das Überschreiten des defizitären Jetzt, wie klein der Schritt auch immer sein mag und wie viele defizitäre ‚Morgen‘ dem Selbst noch bevorstehen. Für Erzählungen oder Dramen sind drei Reaktionen des Helden auf seinen mehr oder weniger bewussten Mangel denkbar: Er reagiert nicht angemessen und verbleibt in seinem Mangel (Woyzeck); er behebt den Mangel, schöpft also seine Möglichkeiten aus (Iphigenie, im Grunde die Mehrzahl der Helden); oder er überschreitet in Hybris seine Möglichkeiten und verfehlt sein Ziel (Faust, Hauke Haien).72 Man muss sich allerdings fragen, ob nicht grundsätzlich Handlungen und Kompetenzprofil (Möglichkeiten) des Helden kohärieren, ob nicht Woyzeck trotz seines Scheiterns – wie auch die Figur des Grenouille aus Patrick Süskinds Das Parfum – das ihm Mögliche getan hat, ob nicht Hamlet zwar entschiedener hätte handeln können (von außen betrachtet), aber seine Eigenschaft ‚Zögerlichkeit‘ von vornherein den Kreis alternativer Handlungen einengt; und ob nicht Faust und Hauke Haien das ihnen Mögliche unternommen haben, aber an Um- und Überwelt gescheitert sind. Wenn der Auftrag an den Helden ergeht, sich seiner Möglichkeiten bewusst zu werden und sich seiner Kompetenzen und Mittel im Dienst der zu erreichenden Ziele zu bedienen, so ist eine Fehleinschätzung oder eine Nicht-Kenntnis seiner Möglichkeiten nur vorüberge69 70 71 72 … was auch andersherum zutrifft: Das Selbst lädt das Objekt (an-sich ‚wertfrei‘) mit Wert auf. Vgl. (Sartre 1991, p. 198). Greimas nennt es ‚Wert-Objekt‘. Während der letzten Arbeiten am neuen Deich nimmt Hauke Haien sein Werk in Augenschein. Es ist vollendet, der ‚Hauke-Haienkoog‘ ist geschaffen: „Der Schimmel ging in stolzem Galopp; vor seinen Ohren aber summte es: ‚Hauke-Haienkoog! Hauke-Haienkoog!‘ In seinen Gedanken wuchs der neue Deich zu einem achten Weltwunder, in ganz Friesland war nichts seines Gleichen! Und er ließ den Schimmel tanzen; ihm war, er stünde inmitten aller Friesen; er überragte sie um Kopfeshöhe, und seine Blicke flogen scharf und mitleidig über sie hin“ (Storm 1999, p. 104 f.). 241 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. hend: so beim Greimas’schen Aufrufen des Helden zu seiner Aufgabe, die ihn nur anfangs in Unkenntnis seiner Fähigkeiten überfordert.73 * Wenn Sartre das Für-sich-Sein oder die Selbstfindung über den Weg des Mangels konstruiert, dann spiegelt das die Elemente des Moralischen Paktes, und damit auch, so mein abschließender Gedanke hierzu, die Beziehung des Subjekts auf das Anti-Subjekt. Wer seine Realität, sein In-der-Welt-Sein, bereits ‚ontologisch‘ als defizitär erlebt, ist gezwungen, auf die Gegenstände seiner Bedürfnisse zuzugreifen. Hier kommt nun der Andere ins Spiel, der – wenn er auf denselben Gegenstand zugreift – daraus ein per se problematisches Verhältnis macht: „Der Konflikt ist der ursprüngliche Sinn des Für-Andere-seins“ (Sartre 1991, p. 638). Diese doppelte Problematik – das Noch-nicht-in-meinen-Händen-Halten einerseits wie die auf denselben Wert gerichtete Begehrlichkeit des Anderen andererseits – führt konsequent und scheinbar ‚naturgegeben‘ zum rohen Modus der Konkurrenz oder auch zu einem zivilisierten des Austauschs, der das Ideal eines beidseitigen Gewinns beansprucht: Es gibt etwas, das mir mangelt, und zwar ausschließlich mir und keinem Anderen. Und wenn der Andere genau dieses Mir-Mangelnde besitzt und etwas ihm Mangelndes sich in meinen Händen befindet,74 dann gibt es nur Gewinner. Die Konkurrenz um dieses Mangelnde ist in nuce aber immer noch unterstellt. Der Moralische Pakt ist bei aller Freiheit die fundamentale Beschränkung der Autonomie des Selbst. Oder positiv formuliert: Er ist die Einladung ans autonome Individuum, sich in den Grenzen seiner Paragraphen zu bewegen und sich mit Aussicht auf Gewinn dort dann auch zu bewähren. Wohin führen uns die Gedanken Sartres, dass der Mangel etwas sei, was das Individuum noch nicht sei, und dass der Wert der Sinn des Mangels sei? Sie führen zur Sorge oder zum Be-Sorgen. Sorgend verlässt der Held die eigene Welt und durchschreitet die fremde. 73 74 Aufgelöst wird die Spannung durch den Adjuvanten. Ein gesellschaftlich anerkannter Tauschwert in Geldgestalt wird solche Grenzen sprengen. 242 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. D.3. Die Sorge Der Mangel motiviert das Individuum dazu, ihn auszuräumen, motiviert es mithin zur Sorge. Diese ist Ausdruck der Anpassung an gesellschaftliche Zwänge, bei Heidegger heißt das: des Verfallenseins des Individuums ans Man. Erst der Ausbruch aus diesem ‚falschen‘ Leben erlaube es ihm, zu sich zu kommen, sich selbst zu verwirklichen oder – noch einmal Heidegger – zu seinem ‚eigensten Seinkönnen‘ zu gelangen. 3.1. Die Sorge und das 'Man' „Die Erzählung erzählt auch die Sorge. In gewisser Weise erzählt sie nur die Sorge.“ (Ricoeur 2005a, p. 200) Rüdiger Safranski liest75 parallel zu Heideggers Sein und Zeit dessen Vorlesung Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles aus dem Wintersemester 1921/22 an der Universität Marburg: „Das Zauberwort, durch das Heidegger das Alltägliche und Gewöhnliche plötzlich wie verwandelt erscheinen läßt, heißt: Sorge. ‚Leben ist Sorgen, und zwar in der Neigung des Es-sich-leicht-Machens‘ (GA 61, 10976)“ (Safranski 2015, p. 135). Und weiter: „Indem ich besorgend handle, bin ich mir selbst vorweg. Ich habe etwas vor mir, im räumlichen und zeitlichen Sinn, um das ich mich bekümmere, das ich verwirklichen will“ (Safranski 2015, p. 135). Das Besorgen habe vor allem einen zeitlichen Horizont,77 man „besorgt die Zukunft, damit man in der Vergangenheit nichts versäumt haben will“ (Safranski 2015, p. 135). Die Pointe liege bei Heidegger nicht in der doch recht banalen Aussage zur den drei Zeit-Ekstasen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern in dem Gedanken, dass man im Besorgen sich nicht nur voraus-, sondern auch verlorengehe. Die Welt des Besorgens decke mich zu, ich sei mir selbst verborgen, ich ‚lebte mich fest‘ in den zu besorgenden Bezügen. Ein solches Leben sei nach Heidegger ruinös, das faktische Leben werde zu einem Nichts, es verliere sich im ‚ruinanten Dasein‘.78 Ich möchte hier nicht in den Sog der Heidegger’schen Phänomenologie geraten, denn das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit richtet sich, wie 75 76 77 78 … in seinem Buch Ein Meister aus Deutschland: (Safranski 2015). Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, Vorlesung 1921/22; in: Martin Heidegger, Gesamtausgabe. Ausgabe letzter Hand. Vittorio Klostermann Verlag, Frankurt/M.; vgl. (Safranski 2015, pp. 135, S. 481 und 501). Die ‚Tendenz zum Leichtnehmen und Leichtmachen‘ findet sich auch in Sein und Zeit: (Heidegger 1979, p. 128). Die Sorge als ein Sich-vorweg-Sein gebe dem Seinkönnen des Menschen ein Dasein, zeige ihm dabei aber immer schon sein Ende des In-der-Welt-Seins auf, seinen Tod. Die Sorge ist für Heidegger die auf Zukunft und Tod gerichtete Zeitlichkeit. So führt Safranski aus: „Für diesen Vorgang, daß das Leben aus sich hinauslebt und sich in dem Besorgten festlebt und bei alledem sich selbst entgeht, prägt Heidegger den Terminus Ruinanz“ (Safranski 2015, p. 135 f.). 243 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. mehrfach gesagt, nicht auf die Zeitanalysen Heideggers und Ricoeurs, sondern eben nur und ausschließlich auf die strukturellen Merkmale von Erzählungen und Dramen. Deshalb wird im Folgenden Heidegger auch nur an dem Punkt berührt, an dem er über die Sorge im fundamental-existentialen Sinn spricht.79 Darüber zu reden, wird sich lohnen, weil damit das Greimas’sche Transformationsmodell ein weiteres Mal aus einer abweichenden Perspektive gelesen werden kann. Dabei wird es vor allem um die Problematik der Entfremdung gehen, um die Frage, wem gegenüber und wo sich der Held ‚entfremdet‘. Heidegger führt in seiner ‚Fundamentalanalyse80‘ Folgendes aus: Im alltäglichen Miteinandersein habe der Andere dem Individuum81 dessen Sein abgenommen, der Andere aber nicht als Einzelner oder Summe aller Anderen, sondern als Neutrum, als ‚das Man‘, das in seiner Unauffälligkeit des Alltäglichen seine ‚eigentliche Diktatur‘ entfalte: „Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt; […] wir finden ‚empörend‘, was man empörend findet. Das Man […] schreibt die Seinsart der Alltäglichkeit vor“ (Heidegger 1979, p. 126 ff.). Die Neugier des dem Man Verfallenen verknüpfe sich mit dem Gerede, das ihm sage, ‚was man gelesen und gesehen‘ haben müsse. Neugier und Gerede seien als alltägliche Seinsmodi Entwurzelungen82 und gäben sich „die Bürgschaft eines vermeintlich echten ‚lebendigen Lebens‘“83 (Heidegger 1979, p. 173). Das Individuum sei in das Man ‚zerstreut‘ und habe sich (als das eigentliche Selbst) noch nicht gefunden, zunächst „ist das Dasein Man und zumeist bleibt es so“84 (Heidegger 1979, p. 129). Im Modus des Besorgens halte das Man mit seiner Selbstgewissheit und Entschiedenheit das Individuum fest, das Man fördere sogar „eine wachsende Un79 80 81 82 83 84 Den zweiten Teil von Heideggers Hauptwerk habe ich nicht einmal nur stiefmütterlich behandelt, sondern radikal ‚übersehen‘. Was der erste Teil zur Fundamentalanalyse erhellt hat, das verdunkelt in meinen Augen der zweite Teil über Dasein und Zeitlichkeit. Ich sollte vielleicht vorsichtiger formulieren: Die Analyse des Seins unter der Perspektive der Zeitlichkeit ist nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Wo in Erzählungen die Zeit auftaucht, lese ich sie ganz naiv im Sinne der Innerzeitigkeit (sie beschreibe „unser Verhältnis zur Zeit als das, ‚worin‘ wir täglich handeln“ (Ricoeur 2007a, p. 100)). … einer Analyse, die Heidegger seiner eigentlichen ‚Dasein-und-Zeit-Analyse‘ voranstellt und die für die vorliegende Arbeit auch nur von Interesse ist. Bei Heidegger heißt das ‚Dasein‘. … im Gegensatz zu Sicht und Rede, die bei Heidegger positiv konnotiert sind (nämlich als solche, die dem ‚eigentlichen Seinkönnen‘ zugehörten). Im öffentlichen Leben des Man sei nicht mehr entscheidbar, was auf echtem Verstehen gründe und was nicht. Das ‚lauteste Gerede‘ und die ‚findigste Neugier‘ hielten den Betrieb in Gang, nämlich da, „wo alltäglich alles und im Grund nichts geschieht“ (Heidegger 1979, p. 174). Slavoj Zizek sagt ganz ähnlich in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung, vielleicht noch eine Spur mehr der Misanthropie verfallen: „Mein Freund Yanis Varoufakis denkt immer, die Menschen seien […] manipuliert. Er denkt, man müsse den Menschen wieder eine Stimme geben, damit sie aufwachen können. Ich glaube, das Problem ist, dass die meisten Menschen gar nicht aufwachen wollen“ (Zizek 2019, p. 25). 244 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. bedürftigkeit hinsichtlich des eigentlichen befindlichen Verstehens“ (Heidegger 1979, p. 177); nur im Schein eines vollen und echten ‚Lebens‘ beruhige das Man das Individuum, für das, so formuliert es Heidegger, alles in bester Ordnung sei und alle Türen offen stünden. Es entlaste den Einzelnen,85 treffe bei ihm auf die ‚Tendenz zum Leichtnehmen und Leichtmachen‘ und verfestige so seine ‚hartnäckige Herrschaft‘. „Die versuchend-beruhigende Entfremdung des Verfallens führt […] dazu, daß sich das Dasein in ihm selbst verfängt“ (Heidegger 1979, p. 178). Eine solche Beruhigung allerdings, so Heidegger, sei alles andere als ein Stillstand, sie treibe das Selbst in die ‚Hemmungslosigkeit des Betriebs‘ und steigere damit das Verfallen: das Verfallen oder der Absturz „in die Bodenlosigkeit und Nichtigkeit der uneigentlichen Alltäglichkeit“ (Heidegger 1979, p. 178). Dieser Absturz – das eigene Dasein werde „in die Uneigentlichkeit des Man hineingewirbelt“ (Heidegger 1979, p. 179) – halte das Selbst ständig fern vom Entwerfen der eigenen Möglichkeiten. 3.2. Der Ausbruch aus dem 'Man' Wie entkommt das Individuum jenem allumfassend vereinnahmenden Man? Wie sprengt es dessen Korsett? Erst über die Angst, so Heidegger, werde das Individuum in der Lage sein, zum echten Sein seines Daseins vorzudringen. Die Angst86 zeige sich in einer besonderen Befindlichkeit, der der Unheimlichkeit87 oder des ‚Nicht-zuhauseSeins‘. Während das Zuhausesein das ‚Wohnen-bei‘, das ‚Vertrautsein-mit‘ sei – die Öffentlichkeit88 des Man bringe das selbstverständliche ‚Zuhause-sein‘ in die durchschnittliche Alltäglichkeit des Daseins89 –, hole die Angst das Individuum aus seinem verfallenden Aufgehen (im Man) in das ‚Eigentliche‘ seiner Welt zurück. Die Vertrautheit breche in sich zusammen, das Individuum sei 85 86 87 88 89 Das Man setze die Durchschnittlichkeit durch, ebne alle besonderen Seinsmöglichkeiten ein, nehme dem Individuum die Verantwortung für seine Entscheidungen ab, die ohnehin im Sinne des Man gefällt würden. Bei Heidegger muss man Angst und Furcht unterscheiden. Die Angst ergreife, wie gleich noch ausgeführt wird, das Individuum angesichts seines ‚eigentlichen Seinkönnens’, während die Furcht das sei, was das besorgende, verfallene Individuum empfinde: „Furcht ist an die ‚Welt‘ verfallene, uneigentliche und ihr selbst als solche verborgene Angst“ (Heidegger 1979, p. 189). Heidegger hebt etwas später hervor, dass es der Dunkelheit nicht bedürfe, um das Unheimliche zu empfinden, schränkt allerdings ein: „Im Dunkeln ist in einer betonten Weise ‚nichts‘ zu sehen, obzwar gerade die Welt noch und aufdringlicher ‚da‘ ist“ (Heidegger 1979, p. 189). Die Öffentlichkeit, so schreibt Heidegger an anderer Stelle, sei die Seinsart des Man. Wobei man heute alle Formen der digitalen Öffentlichkeit, das gesamte Umfeld der social media mitdenken darf; vgl. (Heidegger 1979, p. 138). Vgl. (Heidegger 1979, p. 188 f.). 245 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. nun vereinzelt90, allerdings als ein In-der-Welt-Sein, das sozusagen in den Modus eines ‚Un-zuhause‘ gerate. „Nichts anderes meint die Rede von der ‚Unheimlichkeit‘“ (Heidegger 1979, p. 189). Einem solchen emanzipierten Individuum91 gehe es in seinem In-der-WeltSein nun um sich selbst und hier komme das ‚sichentwerfende Sein zum eigensten Seinkönnen‘92 zu liegen. Das Individuum sei in diesem Zustand über sich hinaus (sich-vorweg), oder einfacher formuliert: Das Individuum ist in eine Welt geworfen und wird dabei mit dem konfrontiert, was es noch nicht ist,93 aber sein könnte, also mit einer Vorstellung (wie undeutlich auch immer), was es aus sich und der Welt machen könnte: das Wozu und Wohin. Und das macht ihm Angst. Angst vor dem Verlust von Sicherheit ergreift auch Raimund Gregorius, die Hauptfigur aus Pascal Merciers Nachtzug nach Lissabon. Die Entscheidung zu gehen, bahnt sich an, wenn auch noch nicht ausgereift. Lange betrachtet der Gymnasiallehrer für alte Sprachen seine Schüler, einen nach dem anderen, er denkt darüber nach, wie viel Leben sie noch vor sich haben, und er verlässt am Ende der Stunde das Klassenzimmer und lässt seine Büchertasche zurück: „Wenn er jetzt ging, dann mußte er auch von diesen Büchern weggehen […], selbst wenn er in diesem Augenblick […] keine Ahnung hatte, was das eigentlich hieß: weggehen“ (Mercier 2004, p. 22). Auf dem Weg aus dem Schulhaus erinnert er sich an die Stunde vor Schulbeginn, in der er eine geheimnisvolle Frau vor dem Suizid bewahrt hat: „Sie war die Spur einer Besucherin aus einer anderen, fernen Welt, und Gregorius betrachtete sie mit einer Andacht, wie er sie archäologischen Funden gegenüber zu empfinden pflegte“ (Mercier 2004, p. 22). Die Entscheidung für den Aufbruch ist nun gefallen, Gregorius empfindet ein beunruhigendes, aber auch befreiendes Gefühl, „daß er im Begriff stand, sein Leben im Alter von siebenundfünfzig Jahren zum erstenmal ganz in die eigenen Hände zu nehmen“ (Mercier 2004, p. 24). Als er später im Zug sitzt, ist ihm, „als ließe der Zug, der jetzt aus dem Bahnhof rollte, auch ein Stück von ihm selbst hinter sich zurück“ (Mercier 2004, p. 46). Eine solche Ablösung vom entfremdeten Leben könnte man idealtypisch kaum besser illustrieren. 90 91 92 93 … im Modus des solus ipse; vgl. (Heidegger 1979, p. 188). … nach Heidegger’scher Terminologie: dem ‚Dasein als Seiendes‘. Das Heidegger’sche Dasein auf das Individuum zu verkürzen, wird seiner Philosophie nicht gerecht, ich ersetze seinen Begriff auch nur dann, wenn es – sozusagen heuristisch – im jeweiligen Zusammenhang lesefreundlicher wird. Vgl. (Heidegger 1979, p. 191). Das Dasein „‚überschreitet‘ die Welt, insofern es sich selbst als nicht an sich seiend und als nicht die Welt seiend setzt“ (Sartre 1991, p. 74). Das Dasein sei mit dem Vermögen ausgestattet, im ‚Nicht-Sein‘ aufzutauchen. 246 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 3.3. Faust und die Sorge Während sich Gregorius aus der harten Schale der alltäglichen Sorge befreit hat, scheint Faust am Ende seines Lebens von ihr eingeholt zu werden. Auf der Höhe seiner Macht – am Ende des zweiten Teils der Tragödie – ist er unzufrieden. Er wünscht sich den ‚Genuss‘ seines Weltbesitzes, und zwar im Blick von einem Sitz in den Linden: „Zu sehn, was alles ich getan, / Zu überschaun mit einem Blick / Des Menschengeistes Meisterstück“ (Goethe 2007, p. 11246 ff.). Da dieses Stück Land nicht ihm gehört,94 gibt er Mephistopheles95 den Auftrag, die dort wohnenden Philemon und Baucis ‚zur Seite zu schaffen‘ und auf ein anderes Gut umzusiedeln. Doch Mephistopheles lässt die beiden in deren Hütte verbrennen. Die Eigenmächtigkeit dieses ‚unbesonnenen wilden Streichs‘ verflucht Faust – was nun der Allegorie der Sorge durchs Schlüsselloch in seinen Palast einzudringen erlaubt. Faust – noch allein – hadert zunächst mit seinem Schicksal, wünscht sich, frei von seinem Begleiter96 zu sein, denn nur dann wäre es der Mühe wert, ‚ein Mensch zu sein‘. Das sei er einmal gewesen, aber dann sei Mephistopheles aufgetaucht: „Das97 war ich sonst, eh’ ich’s im Düstern suchte, / Mit Frevelwort mich und die Welt verfluchte. / Nun ist die Luft von solchem Spuk so voll, / Daß niemand weiß, wie er ihn meiden soll“ (Goethe 2007, p. 11408 ff.). Das ist Ausdruck, gar Einladung der Sorge, die nun selbst auftritt und sich Faust als ‚ewig ängstlicher Geselle‘ vorstellt – „Stets gefunden, nie gesucht, / So geschmeichelt wie verflucht. –“ (Goethe 2007, p. 11430 f.) Doch Faust habe sie bis dahin nicht gekannt, er habe immer nur begehrt und vollbracht und dann wieder gewünscht. Er hat, so könnte man ergänzen, den immerwährenden Kreislauf der Sorge pragmatisch vollzogen, aber eben vor dem Hintergrund seiner zauberkräftigen Begleitung ohne Furcht und ohne Angst. Nur deshalb hat Faust die Sorge nicht gekannt, die Flucht ins Sinnenleben ist er mithilfe Mephistopheles’ angetreten, und zwar in der angstfreien Sicherheit des Gelingens: Begehren – Vollbringen – (neues) Begehren … Was Faust von seinen Mitmenschen weiter unterscheidet, ist sein Ausgangspunkt: Er stand bereits vor seiner ‚Eigentlichkeit‘, vor seinem Lebensentwurf, nämlich die Welt in ihrem innersten Zusammenhang begreifen zu wollen. Dass er sich dabei vergriffen hatte, machte ihm der Erdgeist klar; woraus Faust den Schluss zog, eben jene menschsein-bedingten Grenzen abzuwerfen und im Tod zur ge- 94 95 96 97 Die friedliche, idyllische Welt von Philemon und Baucis auf einer Düne – das Gegenkonzept zu Fausts Kolonialisierungsprojekt – weist einen Bestand uralter Linden auf, die Faust sich als ‚Sitz‘ ausersehen hat. … der ihn dazu ermuntert: „Was willst du dich denn hier genieren? / Mußt du nicht längst kolonisieren?“ (Goethe 2007, p. 11273 f.). Mephistopheles mit seinen magischen Kräften. Bezug auf: „ein Mensch zu sein“ (Goethe 2007, p. 11407). 247 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. wünschten Ent-Grenzung zu gelangen. Doch seine Erinnerung hielt ihn vom Suizid ab, der Boden für Mephistopheles’ Auftritt war bereitet. Worauf sich die beiden später bei der Wette dann einigen, ist ein Spiel. Ein Spiel deshalb, weil nicht die Angst vorm nackten, ‚eigensten Seinkönnen‘ Faust aufbrechen lässt, sondern weil die von übermenschlichen Kräften begleitete Reise in solche Bereiche führen wird, die Faust bis dahin verschlossen gewesen sind; ein Spiel auch deshalb, weil nicht nur mit Fausts Privatheit, sondern auch mit dem gesellschaftlichen Man (dem weltlichen wie dem kulturellen) ausgiebig und sorgenfrei gespielt wird. Zurück zu Faust II und zur Sorge. Niemals sei Faust stehengeblieben: „Im Weiterschreiten find’ er [der Tüchtige] Qual und Glück, / Er, unbefriedigt jeden Augenblick!“ (Goethe 2007, p. 11451 f.) Das ständige sich selbst nährende Begehren oder das ständige Unbefriedigtsein hat Faust davor geschützt, seine Wette gegen Mephistopheles zu verlieren, kein einziger Augenblick – die Gegenwart – ist so erfüllend gewesen, dass er Vergangenheit und Zukunft zugunsten einer ‚währenden‘ Gegenwart auszulöschen gewünscht hätte. Die Sorge kontert geschickt, an die Weltenreise Fausts anknüpfend: Wen sie einmal besitze, dessen Inneres verdunkle sie, seine Schätze seien nicht genießbar: „Glück und Unglück wird zur Grille, / Er verhungert in der Fülle“ (Goethe 2007, p. 11461 f.) Und ein weiteres Mal macht sie deutlich, dass sie ein Phänomen der Zeitlichkeit sei, der sorgenvolle Mensch sei nur in der Zukunft ‚gewärtig‘ – in einer, so könnte man formulieren: in einer schlechten Unendlichkeit – und „so wird er niemals fertig“ (Goethe 2007, p. 11466). Doch Faust weist den Bezug auf sich zurück und schilt die Sorge der Litanei und des Unsinns, er werde ihre Macht nicht anerkennen. Da greift sie zum letzten Mittel, nämlich Faust in der Blindheit mit ihr zu konfrontieren, ihn in der verbleibenden Innenschau mit seinen Mitmenschen gemein zu machen, die ‚im ganzen Leben‘ blind seien: „Die Menschen sind im ganzen Leben blind, / Nun, Fauste, werde du’s am Ende!“ (Goethe 2007, p. 11497 f.) Das ist das Heidegger’sche Verfallensein in die Alltäglichkeit des Man,98 das ist die ‚Blindheit‘ gegenüber dem ‚eigensten Seinkönnen‘, das ist der ‚Normalzustand‘ des Menschen, mit dem die Sorge Faust nun konfrontieren will. Doch Faust nimmt seine Blindheit an, die ihn zwar in eine immerwährende Nacht verbannt, aber neue Klarheit zu verschaffen scheint: „Allein im Innern leuchtet helles Licht“ (Goethe 2007, p. 11500). Nichts lenkt ihn mehr ab, er hält an seinem Wunsch fest, zu sehen, was ‚alles ich getan‘ – nur hierfür muss er nun seine Knechte wecken, um sie stellvertretend für ihn sehen zu lassen: „Vom Lager auf, ihr Knecht! Mann für Mann! / Laßt glücklich schauen, was ich kühn ersann“ (Goethe 2007, p. 11503 f.). 98 „[…] das verfallende Sein beim besorgten innerweltlichen Zuhandenen“ (Heidegger 1979, p. 192). 248 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Bereits in obiger Einleitung zum Sorge-Abschnitt habe ich Rüdiger Safranski zitiert, der in Heideggers Vorlesung den zeitlichen Horizont des Besorgens herausgearbeitet hat: man „besorgt die Zukunft, damit man in der Vergangenheit nichts versäumt haben will“ (Safranski 2015, p. 135). Die Pointe, so habe ich gesagt, bestehe in dem Gedanken, dass man im Besorgen sich nicht nur vorausgehe, sondern auch verloren. Diese Pointe hat Goethe seiner Faust-Figur angedeihen lassen, allerdings in der Sorge um die Rückschau auf das im Leben Geleistete, sozusagen in der Sorge um all das, worum man sich im Leben hätte sorgen können. Faust scheint im Genuss dieses letzten Blicks auf sein Leben, dieses letzten Augen-Blicks nun der Schönheit seines ‚Meisterwerks‘ gewahr zu werden, eines Augenblicks, der zum Verweilen einlädt und den Blick nicht mehr weiter auf Ungetanes, Unerledigtes lenkt. Der immer wieder vorübergehende Augenblick weicht einer Verstetigung im ästhetischen Genuss. Da der Augenblick kein Blick mit Fausts Augen mehr ist, sondern nur noch Imagination der Beschreibung oder besser: der Fiktion der Lemuren, ist Faust zugleich frei von weiteren sich aufdrängenden Augenblicken. Die Zukunft, die für den sorgenden Menschen allein ‚gewärtig‘ sei, ist für Faust nun selbst zur Gegenwart geworden, Faust scheint zufrieden, glücklich gar, ‚fertig geworden‘ zu sein. Er sprengt damit den Zirkel des ‚Immer-voraus-Schauens‘ und zwar ironischerweise mit dem Mittel einer endlich zu sich zurückkehrenden und bei sich in der Befriedigung verbleibenden Begierde, im ‚ewigen‘ Genuss. Und eine weitere Ironie mischt Goethe hier mit ein: Er lässt zum einen Faust noch einmal mit den Zeiten spielen, indem er die Wettformel mit der Zukunft verknüpft – im Vorgefühl eines zukünftigen Glücks genießt er jetzt den höchsten Augenblick – und erhebt zum anderen die Sorge in den Rang eines Ideals: Das zukünftige Glück, vor dem in diesem Moment Faust erschauert, ist das Bild eines künftig tätigen Lebens auf dem dem Meer abgetrotzten Neuland: das sorgend freie Volk auf freiem Grund: „Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, / Der täglich sie erobern muß“ (Goethe 2007, p. 11575 f.). Und Mephistopheles? Erst der Verlust des Faustschen Sehsinns ermöglicht es Mephistopheles, auf seinem Terrain, dem der Sinne, Faust buchstäblich hinters Licht zu führen. Aber diese Irreführung ist banal, unter Umständen ironisch. Faust missdeutet als Neulandgewinnung, was eigentlich seine Grablegung ist. Mephistopheles’ Manipulation (also seine Lüge) ist eine kleine Rache an Faust, aber selbst ein Irrglaube, denn das Ablenkungs-Spiel der Engel mit ihm wird die himmlische Rettung Fausts erlauben. 249 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. D.4. Die Entfremdung Die Sorge lässt unter der vermeintlich schützenden Hand des Man das Individuum sich in einem nur scheinbaren Zuhause einrichten: Es hört nicht auf die Stimme seines eigentlichen ‚Seinkönnens‘ und orientiert sich voll und ganz am Man – es hat sich von sich selbst entfremdet. Das Phänomen der Entfremdung finden wir nicht nur bei Heidegger, sondern auch Hegel berührt es in seinem dreistufigen Modell des unglücklichen Bewusstseins. Vom Entfremdungsbegriff erwarten wir uns einen weiteren Impuls für die Modifizierung des Greimas’schen Transformationsmodells, vermochte doch seine einfache Zuordnung von Alienation und Reintegration schon oben nicht zu überzeugen. 4.1. Traditioneller Entfremdungsbegriff Von Entfremdung reden wir meist dann, wenn ein Individuum etwas tut, was von dessen ‚eigentlichem Eigenen‘ abweicht, wenn das Individuum also Zwecke verfolgt und dabei der Illusion erliegt, dass es eigene Zwecke seien. Die Aufnahme also von etwas handlungsbestimmendem Nicht-Eigenen ins Selbst mag als ein wesentliches Merkmal von Entfremdung gelten und damit rechtfertigen, sich bereits hier in Teil D zum Handeln mit dem Phänomen auseinanderzusetzen. Ich ziehe für dieses Kapitel vor allem Rahel Jaeggis Arbeit zur Entfremdung aus den Frankfurter Beiträgen zur Soziologie und Sozialphilosophie99 zurate. Jaeggi gibt zunächst einen Umriss des Entfremdungsbegriffs: „Eine entfremdete ist eine defizitäre Beziehung, die man zu sich, zur Welt und zu den Anderen hat“ (Jaeggi 2005, p. 23). Dieses Defizit erfahre der Betroffene als ‚Verarmung‘ von Beziehungen: Er erfahre sich selbst nicht als ‚wirksam‘ und die Welt als bedeutungslos und indifferent. Vertiefend beschreibt Jaeggi Merkmale der Entfremdung: – Sinn- und Machtverlust. Das Subjekt erfahre sich den Verhältnissen gegenüber als entmächtigt und erfasse die entfremdete Welt nicht (mehr) als sinnvolles Ganzes. – Zugleich eigen und fremd. Die Verhältnisse seien nicht losgelöst vom Individuum, sie (fremd)bestimmten es; das Individuum sei Opfer und Täter zugleich (verfolge fremde Ziele als die eigenen).100 99 100 Eine Reihe, die nach eigenem Anspruch ein neues Kapitel in der Geschichte des Frankfurter ‚Instituts für Sozialforschung‘ aufzuschlagen sich vornimmt; vgl. (Jaeggi 2005). Dass sich das Ich sich auch selbst gegenüber entfremden kann, liegt auf der Hand: auch eine ‚Selbstenfremdung‘ verweist bei allem Selbstbezug auf die Aufnahme eines Anderen in das Selbst. 250 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. – Beziehung der Beziehungslosigkeit. Die Entfremdung stelle eine Beziehung als Nicht-Beziehung dar; Jaeggi zitiert Hondrich: „‚they101 are yours but you are alienated from them‘“102 (Jaeggi 2005, p. 43). Jaeggi schließt daran ihre Kritik der Entfremdungskritik an. Enfremdungskritische Ansätze seien nach Jaeggi solche Theorien über die Entfremdung, die bereits ‚sachlogisch‘ eine Kritik an den entfremdeten Verhältnissen enthielten. Die Verwendung des Entfremdungsbegriffs unterstelle diesen kritischen Theorien zufolge in der Regel eine Norm, die beschädigt worden sei: die ganze Gesellschaft, der ganze Mensch. Der Entfremdungsbegriff unterstelle immer etwas wesenhaft ‚Eigenes‘, beispielsweise die ‚Natur des Menschen‘, so dass damit der entfremdete Zustand per definitionem ‚logisch-ontologisch‘ ins Unrecht gesetzt werde. Das Einverständnis oder die ‚subjektive Zufriedenheit‘, die das entfremdete Subjekt womöglich gegenüber den Verhältnissen empfinde, sei, so zitiert Jaeggi Herbert Marcuse, „‚ein falsches Bewußtsein, das gegen seine Falschheit immun ist‘“103 (Jaeggi 2005, p. 47). Eine solche Perspektive aber, so kritisiert Jaeggi, sei ‚paternalistisch‘, formuliere, was gut für jemanden sei, auch ohne dass dieser es subjektiv so sehe. Das Problem sei, dass Entfremdungskritik sich als kritisch verstehe, aber bei der Begründung objektivierbarer Kriterien versage und auf vermeintlich anthropologische Konstanten verweise wie eben die Natur des Menschen. Ein solches Ideal, so Jaeggi, verkenne das Freiheitspotential des Individuums. Was Jaeggi nun als eigenen ‚rekonstruierten‘ Entfremdungsbegriff anbietet, lädt allerdings selbst zur Kritik ein. Sie schlägt vor, das Normative des Unentfremdeten zu minimieren, also den Maßstab, an dem gemessen wird, ob Entfremdung vorliege.104 Sie definiert ein unentfremdetes Leben als ‚Vollzug des eigenen Lebens‘, und zwar als ‚Aneignung‘ der Verhältnisse, „in denen man lebt und von denen man bestimmt ist105“ (Jaeggi 2005, p. 51). Die Problematik einer solchen Formulierung springt ins Auge und läuft auf ein Anpassungsverhalten des Individuums hinaus: Ich bin nicht entfremdet, wenn ich die mich bestimmenden Verhältnisse akzeptiere. Unterstützung findet Jaeggi bei Ernst Tugendhat106: Auf der Suche nach einem ‚wahrhaften Wollen‘ entfernt er die Inhalte vom Wollen und landet bei einem Skellet des ‚Wie des Wollens‘. Dass ein Wille ohne Inhalt eine leere Abs101 102 103 104 105 106 … die Verhältnisse. Ted Honrich, Alienation, in ders. (Hg.), Oxford Companion to Philosophy, 1995, S. 21; vgl. auch (Jaeggi 2005, p. 263). Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Darmstadt, Neuwied 1982, S. 31 f.; vgl. auch (Jaeggi 2005, p. 264). Sie möchte den Entfremdungsbegriff ‚sparsam beschreiben‘; vgl. (Jaeggi 2005, p. 51). Kursivsetzung durch mich. Jaeggi bezieht sich auf Ernst Tugendhat, Antike und Moderne Ethik, in: ders., Probleme der Ethik, Stuttgart 1986. 251 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. traktion ist, scheint weder Tugendhat noch Jaeggi ein Problem zu sein, ermöglicht ihnen doch diese Konstruktion – sozusagen durch die Hintertür –, nichtsubjektive Inhalte wieder in den Willen einzuschleusen oder bloß-subjektive auszuschließen, letztlich also Vorgaben zu konstruieren, die vom Individuum in seiner subjektiven Befindlichkeit gerade nicht präferiert werden.107 Das so ‚gereinigte‘ Subjekt erlebe sich selbst, so Jaeggi, als autonomen Bestimmer seines Lebens. Und darauf kommt es ihr an, auf die ‚Funktionsfähigkeit‘ des Wollens, so nennt sie es, darauf, dass das Individuum sagen kann: „‚ich will – frei – wollen können‘“ (Jaeggi 2005, p. 53). Das ist, wie schon bei Greimas, eine sonderbare Vorstellung von Willensfreiheit. Zum einen hält Jaeggi an der Autonomie des Subjekts fest: Mensch zu sein, bedeute, „sich das, was man will und tut, selbst zuschreiben, es verantworten und sich damit identifizieren zu können“ (Jaeggi 2005, p. 54). Zum anderen aber sollten das Selbst und die Welt nicht beliebig angeeignet werden, sondern immer schon in Hinblick auf ein ‚gelingendes Leben‘ im Rahmen einer vorausgesetzten Sozietät, wenn auch, das macht Jaeggi zigmal deutlich, ihr Ansatz unter dem Aspekt einer Teleologie sehr ‚sparsam‘ sei. Im Laufe ihre Ausführungen gerät aber jene ‚sparsame‘ Berücksichtigung108 eines guten Lebens immer mehr in den Hintergrund und die abstrakte Willensfreiheit, die Ausrichtung des Willens auf ‚das Wie von Aneignungsprozessen‘ (getrennt vom ‚Was‘) in den Vordergrund. Nach Jaeggis ‚Rekonstruktion‘ des Begriffs möchte sie nun umgekehrt unter Entfremdung weniger den ‚Abfall von einem versöhnt-gelingenden Zustand‘ verstehen als mehr die ‚Stockung und Stillstellung‘ von solchen ‚Aneignungsprozessen‘ (des eigenen Lebens) oder ‚Erfahrungsprozessen‘. Der Perspektivenwechsel vom ‚Was‘ zum ‚Wie‘, vom Inhalt zur Methode führt – konsequent durchdacht – zu einem Individuum, das beherzt und ‚experimentierend‘ das eigene Leben gestaltet (‚sich aneignet‘), sich dabei an den vorausgesetzten Gegebenheiten orientiert und deshalb scheitern oder auch Erfolg haben kann. Am Ende hat man es mit einem entleerten Entfremdungsbegriff zu tun – Stillstellung oder Nicht-Vollzug des eigenen Lebens –, der allerdings, wie gezeigt, ebenfalls eine normative Rückseite aufweist: Lebe dein Leben, ohne die dich einrahmenden Verhältnisse infrage zu stellen! 107 108 So schreibt Jaeggi, dass das subjektive Wollen „nicht subjektiv im Sinne zufälliger und nichtbewerteter Präferenzen“ sei (Jaeggi 2005, p. 52), (Kursivsetzung durch mich). Ihr Ansatz, so Jaeggi, sei „in entscheidender Hinsicht sparsam, was den positiven Bezug auf Ideen eines ‚gelingenden Daseins‘ angeht“ (Jaeggi 2005, p. 59). Muster substantieller Sittlichkeit erkennt sie nicht an. 252 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 4.2. Exkurs: Das unglückliche als entfremdetes Bewusstsein? Hegel versteht unter einem unglücklichen Bewusstsein ein in sich entzweites Bewusstsein, worin es seine Verdoppelung im Herr-Knecht-Verhältnis in sich zurücknehme, ohne die Seiten miteinander zu versöhnen. Zum einen sei es Bewusstsein, das sich auf das Einzelne, das ‚Wandelbare‘ der Welt beziehe, und zum anderen begreife es sich als das Wesen, als das ‚Unwandelbare‘ selbst.109 Fausts Leben als Akademiker schmerzt ihn, die Fragmentarisierung der Realität verwirrt ihn, er erlebt die Verdoppelung seines Bewusstseins – zwei Herzen, ach, in seiner Brust – und dieses Erleben ist für ihn so unerträglich, dass es ihn nach der Auflösung des Widerspruchs drängt. Er hält die Spannung nicht aus zwischen dem Hegel’schen ‚Unwandelbaren‘ einerseits, also seiner Sehnsucht nach der Erkenntnis dessen, was die Welt in ihrer Vielfältigkeit zusammenschließt, zu einer ‚Einheit‘ verbindet, und dem ‚Wandelbaren‘ andererseits, dem Kontingenten,110 der ‚Einzelheit‘. In seinem Wunsch, das Unwandelbare zu erkennen, sieht er sich mit der Sinnlichkeit konfrontiert, „mit der ganzen Sprödigkeit eines Wirklichen“ (Hegel 1988, p. 147). Seine Hoffnung, doch noch zur Erkenntnis des Allumfassenden zu kommen, „muß Hoffnung, das heißt, ohne Erfüllung und Gegenwart bleiben, denn zwischen ihr und der Erfüllung steht gerade die absolute Zufälligkeit“ (Hegel 1988, p. 147). Verzweifelt spielt Faust mit dem Gedanken an Selbstmord. Doch Goethe lässt Kirchenglocken und vermeintlichen Engelsgesang ihn darauf hinweisen, dass die Versöhnung nur im Aushalten dieser Spannung zu haben sei. Zurück zu Hegel: Er stellt das entzweite Bewusstsein auf drei Entwicklungsstufen, auf die der Andacht, die von Arbeit und Begierde und die der Aufopferung. Das unglückliche Bewusstsein als Andacht Das abstrakte Denken, so Hegel, verhalte sich zu seinem Gegenstand, dem Unwandelbaren, nicht denkend, sondern in Andacht: „Sein Denken als solches bleibt das gestaltlose Sausen des Glockengeläuts oder eine warme Nebelerfüllung“. (Hegel 1988, p. 148) Goethe lässt Faust das Glockengeläut ganz real gegenübertreten, das ihn in ein andächtiges Sich-Erinnern versetzt und ihn Abstand von seiner Suizidabsicht nehmen lässt. Doch jenes Gefühl der Andacht bemächtigt sich schon vorher Fausts, Hegel scheint die Faustfigur vor Augen gehabt zu haben: „Wie es [das Bewusstsein] so auf einer Seite, indem es sich im 109 110 Bertram erläutert: Es sei zugleich Bewusstsein vom Wesen des Denkens (des Allgemeinen oder Unwandelbaren) und Bewusstsein vom Denken als einer ‚kontingenten Aktivität‘ (dem Wandelbaren); das erste Bewusstsein beziehe sich aufs Göttliche, das zweite auf die Partikularität, das jeweils Einzelne; vgl. (Bertram 2017, p. 118). … also solchen Sachverhalten, die weder notwendig bestehen noch notwendig nicht bestehen. Ihr Bestehen hängt vom Zufall ab; vgl. (Kirchner, et al 2018, p. 358). 253 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Wesen zu erreichen strebt, nur die eigne getrennte Wirklichkeit ergreift …“: Faust wird bei der Lektüre des Makrokosmoszeichens wie auch bei der Anrufung des Erdgeistes auf sich selbst, auf sein ‚erbärmliches‘ irdisches Leben zurückgeworfen. Hegel setzt seinen Satz fort: „… so kann es auf der anderen Seite das Andere nicht als Einzelnes, oder als Wirkliches ergreifen“ (Hegel 1988, p. 149): Den Erdgeist muss Faust in seiner Trennung von ihm als metaphysische Macht am Ende ‚zusammenstürzend‘ anerkennen, er gleiche, wie der Erdgeist es ihm klarzumachen versucht, lediglich dem Geist, den er selbst begreife, nicht aber ihm, dem ‚erschaffenden‘ Geist.111 Faust scheitert in seiner Anrufung höherer Mächte, weil er sich zu deren Höhen nicht emporzuschwingen vermag: Aus dem Widerspruch des unglücklichen Bewusstseins kommt er nicht heraus. Aber auch die Andacht, also der kontemplative Pol des Widerspruchs ist nicht Fausts Heimat. Der Osterspaziergang führt ihn schließlich heraus aus seiner Studierstube, seiner Gruft, und konfrontiert ihn mit der sinnlichen Wirklichkeit, in der gerade Arbeit (bei Handwerkern und Bauern) und Begierde (der Liebenden) sich ihm auf der Bühne einer erwachenden Natur präsentieren. Das unglückliche Bewusstsein als Genuss und Arbeit In seiner Einzelheit, so führt Hegel weiter aus, kehre das Individuum über Begierde und Arbeit zu sich zurück, gelange zur Gewissheit seiner selbst: Das unglückliche Bewusstsein finde sich dort allerdings nur als begehrend und arbeitend,112 es bleibe bei einem ‚gebrochenen Verhältnis‘ von Subjektivität und Objektivität. Die sich gegenüberstehenden Pole Fürsichsein des Individuums und Ansichsein der Wirklichkeit kommen auf dieser Entwicklungsstufe noch nicht zusammen, das tätige Diesseits stehe auf der einen Seite, die passive Wirklichkeit auf der anderen. Beide zu vereinen, sich also die Wirklichkeit anzuverwandeln, sie als Unwandelbare zu genießen, das ist der Kern der Wettformel Fausts: Wenn ich im Genuss zum ‚Unwandelbaren‘ käme, wäre ich bei mir und Gott zugleich und bedürfte keiner weiteren Suche mehr. Nur: Faust zweifelt daran, dass Mephistopheles ihm einen solch ‚schönen Augenblick‘ zu servieren in der Lage ist. Faust scheint sich des Widerspruchs bewusst zu sein: sich des Göttlichen genießend zu bemächtigen und es damit zu verzehren, würde in die Negation des ‚Unwandelbaren‘ führen. In der Andacht hat sich das Bewusstsein auf die Seite des ‚Unwandelbaren‘ geschlagen, in Arbeit und Genuss auf die der Einzelheit, dort habe es sich selbst immer nur verunreinigt erblickt: „[…] so sehen wir nur eine auf sich und ihr 111 112 „… / Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid“ (Goethe 2007, p. Vs 509). Vgl. (Hegel 1988, p. 150). 254 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. kleines Tun beschränkte, und sich bebrütende, eben so unglückliche als ärmliche Persönlichkeit“ (Hegel 1988, p. 153 f.). Das unglückliche Bewusstsein als Aufopferung Doch es gibt für dieses armselige Bewusstsein einen Ausweg: Dies sei die ‚dienende Mitte‘, in der es sich vom Tun und Genuss als dem Seinigen befreie. In dieser Mitte befolge das Individuum ‚fremden Beschluss‘113. Auf die gegenständliche Seite seines Tuns, auf die Frucht seiner Arbeit und den Gegenstand eines optionalen Genusses leiste es Verzicht. Also auf beides, auf Selbständigkeit wie auf äußerliches Eigentum. Wozu nun dieser Exkurs zum ‚Sonderfall‘ des Hegel’schen unglücklichen Bewusstseins? Das andächtige, das arbeitende und das sich aufopfernde Bewusstsein sind entfremdete Bewusstseine. So meine Idee. Aber lässt sich das halten? Lassen uns Hegels Gedanken tiefer in das Phänomen der Entfremdung eindringen? Zunächst einmal bestätigt die ‚Verdoppelung‘ des Bewusstseins oder dessen Widerspruch zwischen Einzelheit und Allgemeinheit durchaus den Zustand der Entfremdung. Wer das Kontingente und das Wesentliche nicht in sich und seiner Tätigkeit vereint, den könnte man als entfremdetes Individuum ansehen. So in der Andacht als im Zustand einer ‚warmen Nebelerfüllung‘ (also noch kein Denken, wie Hegel sagt), so in Arbeit und Begierde, in denen das Individuum sich auf die Seite seiner Einzelheit schlägt, und so eben auch in der Aufopferung, in der das Subjekt zwischen jener Vereinzelung in der Arbeit einerseits und in der Andacht oder Bewunderung andererseits sich einrichtet, als dienendes Subjekt arbeitet es für das verehrte Subjekt (wie metaphysisch oder weltlich es auch immer sein mag). Ich möchte den Hegel’schen Gedanken Heideggers Erläuterungen zum Man zur Seite stellen, also den gesellschaftlichen Rahmen, innerhalb dessen die Individuen ein entfremdetes Dasein führen. Die Andacht, das nicht-reflektierte Bewundern einer Himmels- oder sonstigen Macht, verspricht Geborgenheit, ein Zu-hause-Sein, von dem Heidegger spricht. In Andacht versunken, hat das Bewusstsein keinerlei Berührung mehr mit seinem ‚eigensten Seinkönnen‘ und hört andächtig auf das Man, das die ‚Seinsart der Alltäglichkeit‘ vorschreibt. Das arbeitende und genießende Bewusstsein hat sich im ‚Schein eines vollen Lebens‘ eingerichtet, das das sorgende Subjekt in ein Netz von Pflicht und zugelassenen Zerstreuungen, von Lebensplänen und Praktiken einspannt und es zugleich mit einem Gefühl des Zu-hause-Seins beruhigt. Die dritte Entwicklungsstufe, die Aufopferung, ist eine Haltung, die sich in einer intermundialen Sphäre zwischen Subjektivität und Objektivität einrich113 Vgl. (Hegel 1988, p. 154). 255 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. tet. Dort ist das Individuum buchstäblich weder bei sich noch bei einem höheren Wesen, dort ist es vielleicht in der Spannung zwischen beiden Polen am unglücklichsten. Denn es weiß um die beiden Seiten, die es eigentlich zu vermitteln gälte,114 weiß, dass es sich jeder Selbständigkeit entledigt und sich in dienender Haltung positioniert hat, dem System gegenüber, dem Markt, in jedem Fall auf Verzicht und Mangel sich einlassend. Es hat sich im Man eingerichtet, hört auf dessen Gerede und tut, was ihm als opportun erscheint. Wagt man hierzu einen kurzen Blick auf die Erzählliteratur, so stößt man nicht nur auf solche Aktanten, die sich in einem gottgefälligen Leben einrichten, sondern auch auf andere, die sich für eine ‚Sache‘115 oder eine Person ‚aufopfern‘. Nur – und das schränkt die Geltung eines Illustrationsversuchs an dieser Stelle ein –, nur können die Aktanten, die ihre Bestimmung zumindest für eine Lebensphase in der Aufopferung zu finden glauben, durchaus so vernunftbegabt sein, dass sie diese Phase wieder verlassen können. Lenes Verhältnis zu Botho in Irrungen, Wirrungen? Sie verkörpert wohl am wenigsten eine solche Aufopferungsrolle; sie genießt ihre nicht-standesgemäße Liebesbeziehung, ist trotz eines hohen Leidensanteils einsichtig, was Bothos Trennungsgründe angeht, und richtet am Ende ihr Privatleben ganz ‚standesgemäß‘ ein. Arbeitend und genießend ordnet sie sich dem Man unter. Ist sie unglücklich? Sie ist wohl eher ein Bewusstsein, das im bescheidenen Rahmen des Erlaubten sein ‚Glück‘ zu finden glaubt. Effi Briest und Innstetten? Effi findet sich bis zum Seitensprung schon eher in einer ‚dienenden‘ Rolle wieder. Allerdings ist die erste Zeit der Ehe – wie übrigens auch bei Emma Bovary – mehr kontraststärkendes Erzählmittel, um die Fallhöhe (oder besser Steighöhe) im Vergleich zum Kommenden vorzubereiten. Man sieht, solche Figuren taugen nur sehr begrenzt als Illustrationen jener Hegel’schen Aufopferung und vermögen seine Darstellung einer Entwicklung des Selbstbewusstseins kaum abzubilden. Schon anders sähe es bei der Aufopferung einer Sache oder einer Idee gegenüber aus. Allein: Dort stellte sich schnell die Frage, wie viel Spielraum eine solche Andacht der Autonomie der Figuren ließe. Dafür wird es im Folgeband zur vorliegenden Arbeit genügend Raum geben. Eine letzte Assoziation in diesem Zusammenhang zulassend, bevor wir uns wieder dem Greimas’schen Transformationsmodell zuwenden: Spiegelt das sich aufopfernde Subjekt nicht die höchste Stufe der entwickelten Warengesellschaft wider, nämlich die Rücknahme der eigenen Bedürftigkeit (ganz ohne eigenen Bedürfnisbezug auf die Gebrauchswertseite seines eigenen, für den Tausch vorgesehenen Gegenstandes) – und zwar für einen gesellschaftlichen 114 115 Ich folge hier nicht der Intention Hegels, die Entwicklung des subjektiven Geistes in den Institutionen des objektiven Geistes münden zu lassen. … so beispielsweise Hauke Haiens Deichbauprojekt. 256 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Zweck (Tauschwertzirkulation), der die Unterordnung des Subjekts mit einem dritten Gegenstand, der ‚allgemeinen Austauschbarkeit‘ im Geld, honoriert?116 In den Kategorien der Entfremdung gefasst, ließe sich vielleicht Folgendes sagen: Der über den abstrakten Tauschwert vermittelte Warentausch setzt zweierlei voraus, ein homogenes Verhältnis der Tauschpartner und zugleich ein Kontrastverhältnis, das vom Gegensatz der Interessen geprägt ist. Die Entfremdung des Selbst von seinem Für-sich-sein ist die Anerkennung seiner Nützlichkeit für Andere. Der Austausch ist das Ideal einer Rückkehr aus diesem Für-Andere-sein zum Für-sich des Selbst, aber eben nur als Ideal oder Schein. Tatsächlich hat das Man Herstellung und Verbrauch getrennt, die Subjekte vom Bereich der Herstellung oder Fertigung entfremdet (Naturaneignung für-Andere) und sie über den abstrakt-allgemeinen Tauschwert mit der Welt des Gebrauchens117 zurückvermittelt. Der Kern der Entfremdung läge also, folgte man diesem Gedanken, auf der zweiten Entwicklungsstufe, auf der Hegel noch unproblematisch Arbeit und Genuss in einem Atemzug nennt.118 116 117 118 Diese Honorierung mit der ‚allgemeinen Austauschbarkeit‘ hat eine quantitative Seite, eine Begrenzung, was den Rücktausch in Gebrauchswerte limitiert. Sehr zum Leidwesen vieler Betroffener. Auch die Welt des Konsums ist voller Fallstricke potentieller Entfremdung. Dafür sorgen Werbung und Begrenzung des Budgets des Einzelnen. Wollte man diesem Gedanken noch weiter folgen – was sich für die vorliegende Arbeit verbietet –, näherte man sich vermutlich den Überlegungen von Karl Marx. 257 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. D.5. Verfeinerung des Transformationsmodells II Die noch sehr vorläufige Modifikation des Greimas’schen Transformationsmodells in Kapitel B.6 wird hier einem weiteren ‚Tuning‘ zugeführt. Ging es in der ersten Verfeinerung vor allem um die Differenzierung in Societas- und Individuationis-Elemente, so nun um die Befruchtung des Greimas’schen Modells durch den Blick auf die Handlungen der Figuren, vor allem auf die Phänomene der Entfremdung und Ent-Entfremdung auf deren Weg in die Fremde und zurück. 5.1. Entfremdung der Gesellschaft und des Individuums Thomas Hobbes hat sehr deutlich den ersten und unmittelbaren Bezug der um ihre Subjektivität bemühten Individuen aufeinander im Kampf aller gegen alle gesehen und darin so etwas wie Entfremdung entdeckt: Die Individuen verstießen im Naturzustand gegen ihre vernünftige Natur,119 die sie am Ende zum Gesellschaftsvertrag führen werde. Die erzählende oder dramatische Literatur nimmt eine solche Trennung zwischen dem Selbst und dem Anderen ernst und bespielt die gesamte Klaviatur dieses fragilen Verhältnisses von Subjekt und Objekt. Sie bebildert sehr umfangreich – und wenn man so will: langsam, entwickelnd, ‚episch‘ – die Übergänge von einem zum anderen Modus. Der Held entpuppt sich, wirft das Gewand der Entfremdung innerhalb seines Heimat-Man ab, bleibt in der Regel aber immer in der Spannung eingebunden zwischen dem in der Fremde sich erkämpften Für-sich und dem heimatbezogenen Für-Andere (hier oft buchstäblich als Für-Sorge), sofern seine Reise der Erledigung eines Auftrags gewidmet ist. Das möchte ich etwas näher betrachten. Wenn man die Entfremdung anders als Jaeggi eher traditionell begreift und ihr eine höhere Instanz zur Seite stellt, der gegenüber der Betroffene sich entfremden kann, dann ließen sich folgende Gedanken formulieren. Zunächst die Gesellschaft in den Blick nehmend, stellt sich die Frage, wem gegenüber sie sich überhaupt entfremden kann? Eine höhere Instanz als die Gesellschaft könnte der Staat sein oder eine Staatengemeinschaft oder Föderation. Die Gesellschaft kann sich aber auch selbst formulierten Idealen gegenüber entfremden, zum Beispiel Menschenrechten – was die Hierarchie allerdings nicht infrage stellen würde: Auch und vor allem Ideale kommen immer auf einer Metaebene zu liegen. Die Vorstellung einer sich entfremdeten Gesellschaft scheint dennoch auf wackeligen Füßen zu stehen, besonders dann, wenn wir uns Greimas’ Transformationsmodell anschauen. Die Gesellschaft erleidet einen Mangel, aber das oh119 Siehe oben Kapitel A.1. Die Elemente des Moralischen Paktes; dort spricht Hobbes von den ‚Naturgesetzen der Vernunft‘. 258 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. ne Umschweife zu einer Alienation zu erklären, erschließt sich nur schwer. Denn die Gesellschaft bleibt in der Regel120 Herr ihres Auftrags an den Helden, den Mangel zu beheben, sie bleibt im Wissen des Mangels souverän und ist nicht einem fremden Willen unterworfen. Mangel, nicht Entfremdung scheint die Situation genügend zu beschreiben, was Greimas für den Ausgangspunkt von Erzählungen ausfindig gemacht zu haben glaubt. Anders allerdings die Perspektive des Individuums. Betrachten wir es zunächst ausschließlich aus Greimas’ Perspektive und modifizieren sie dann anschließend, was uns zu einer weiteren Verfeinerung unseres Modells führen wird. Der sich aus seiner Heimatgesellschaft lösende Held entdeckt neue Seiten an sich und eignet sich für bevorstehende Herausforderungen entsprechende Kompetenzen121 an, sozusagen ‚Andersheiten‘, für deren Aktualisierung der Adjuvant sorgt. Zudem reinigt sich der Held von unbrauchbaren Zügen des Verfallenseins ans heimatliche Zu-hause und legt seine bis dahin getragene Alltagsmaske ab. Zu den ‚Innovationen‘ seines Charakters gehören auch scheinbare Züge, die er bei Eintritt in die fremde Gesellschaft benötigt, um sich dort bewegen zu können, nicht vorzeitig entdeckt zu werden und den Ort der Entscheidungsprüfung überhaupt zu erreichen: Er legt nun eine neue Maske, eine zur Fremde passende an, verstellt sich ‚instrumentell‘ – das ‚Uneigentliche‘ als Instrument des ‚Eigentlichen‘ (zu dem sich der Held nun vorarbeitet) nutzend. 5.2. Erster Versuch: Der Weg des Helden Ich möchte den Weg des Helden noch einmal auffächern, weil die Modifikation des Greimas’schen Transformationsmodells sich für die vorliegende Arbeit als eines der zentralen Anliegen herausschält. Aufbruch Der Held ist zunächst verstrickt im Man, ist in seiner Autonomie begrenzt, seine Entfremdung122 spiegelt sich in einer Trennung vom ‚eigensten Seinkönnen‘. Wie passt das mit dem Auftrag einer Rettungsreise zusammen? Der Held entfremdet sich von seiner heimatlichen Gesellschaft,123 von dem, was bis da120 121 122 123 Vorstellbar ist ein substantieller Verlust, der tatsächlich die Gesellschaft infrage stellt. … ganz gleich, ob es hierbei um bereits eigene und nur schlummernde Züge beim Helden oder neu zu erwerbende Kräfte oder Fähigkeiten geht. Das beschreibt Jaeggi mit ihren Merkmalen des Entfremdungsphänomens ganz richtig: Im Sinn- und Machtverlust erfahre sich das Subjekt den entfremdeten Verhältnissen gegenüber als entmächtigt und erfasse sie nicht (mehr) als sinnvolles Ganzes; vgl. (Jaeggi 2005, p. 41). Jaeggi: „Die Rede von Entfremdung charakterisiert weiterhin die Herauslösung aus sozialen Zusammenhängen“ (Jaeggi 2005, p. 21). 259 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. hin für ihn gegolten hat, er begibt sich in eine neue Welt, die der alten als fremde gegenübersteht. Selbst die von einem Verbündeten ausgeführte qualifizierende Prüfung kann auf Kompetenzen124 abzielen, die nicht zur alten Welt gehören, ihr ‚fremd‘ sind.125 Der Held emanzipiert sich im Rahmen seiner Individuation von der Heimatgesellschaft und spiegelt damit die ‚Erbsünde‘ des autonomen Subjekts, sprengt seine Schale so wie der Vogel in Hesses Demian, der sich löst und zu seinem Gott Abraxas fliegt: „Der Vogel kämpft sich aus dem Ei. Das Ei ist die Welt. Wer geboren werden will, muß eine Welt zerstören“ (Hesse 2000, p. 95). Romantisch betrachtet, löst der Held seine gesellschaftlichen Fesseln zugunsten eines wiedergewonnenen Naturzustands. Doch es ist weniger eine Rückkehr in den Naturzustand als mehr ein Durchgangsstadium, um am Ende die Gesellschaft auf höherer Ebene wieder mit sich zu versöhnen. Damit sind notwendig: Heldenreise, Grenzüberschreitungen und die rohe, nicht zivilisierte Form des Kampfes oder der Konkurrenz, die nackte Konfrontation mit dem Anderen. In der Fremde Die Reise in die Fremde und die dort zu bestehenden Abenteuer oder Prüfungen lassen das Individuum vollends in fremde Verhältnisse eintauchen. Dort kann es dazu kommen, was Jaeggi als zweites Merkmal herausarbeitet, die Trennung von eigen und fremd, die Annahme fremder Rollen, Verstellungen und Täuschungen, die Infragestellung des ursprünglichen Auftrags. Topografische Dislokation (wie Greimas es ausdrücken würde)126 und Verstellung/Maskierung sind die thematischen Begleiter jener Entfremdung auf der Diskursebene. Der Vertrag, den die Gesellschaft mit dem Retter oder dieser mit sich selbst abschließt, stellt eine Erlösung versprechende Rückkehr des Helden in den Schoß seiner Gemeinschaft in Aussicht. Der Vertrag ist sozusagen eine Absichtserklärung aus einer höher entwickelten Welt, die als beschädigte eine vergangene ist und einer zukünftigen Entwicklungsstufe entgegensieht. Der Vertrag überbrückt ideell die alte beschädigte Ordnung (Vergangenheit), den Weg des Retters durch die fremde Welt und dessen Rückkehr (erzählte Gegenwart), die die Ordnung auf einer höheren Stufe zu heilen verspricht (Zukunft). 124 125 126 … und wenn die Kompetenz auch nur die Reiselust ist, die den Taugenichts für das romantische Abenteuer ‚qualifiziert‘. … von denen er selbst vielleicht auch als ‚Schlummerpotenz’ bis zum Moment der ‚Schulung’ durch den Adjuvanten nichts gewusst hat. Vgl. (Greimas 1971, p. 184). 260 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Rückkehr Erst die Rückkehr in den Schoß der alten (nun zu heilenden) Gesellschaft ermöglicht es dem Helden, sich seines Entfremdungsschleiers zu entledigen, erst in der glorifizierenden Prüfung gelangt er wieder zu sich selbst und kann sich in die heimischen Verhältnisse eingliedern. Symbolisch zeigen sich Wiederaufnahme und Wiederherstellung als Belohnung, Hochzeit, Schwur. Die Hochzeit restituiert die Ordnung, so kündigt Herr Leonhard das Ende der Reise des Taugenichts an: „Also zum Schluß, wie sich’s von selbst versteht und einem wohlerzognen Romane gebührt: Entdeckung, Reue, Versöhnung, wir sind alle wieder lustig beisammen, und übermorgen ist Hochzeit!“ (Eichendorff 2007, p. 108) Die dritte Prüfung ist also nicht nur eine Konfirmation des Helden, sondern für ihn auch die – pointiert widersprüchlich formuliert – ermächtigende Unterwerfung, eine Unterwerfung, die qua Machtzuschreibung vom Individuum selbst vollzogen wird. Die letzte Prüfung findet nicht mehr außerhalb der Gesellschaft in der Fremde statt, sondern auf der Schwelle der Rückkehr. Oder im Hobbes’schen Modell: auf der Schwelle vom Naturzustand zu einem vertraglich zu sichernden, geordneten Gesellschaftszustand. Deshalb kann die dritte Prüfung auch die zivilisierte Form der Konkurrenz, die des Austauschs, annehmen: Der Held wird für seine Tat belohnt. Beide, Gesellschaft und Held, sind miteinander versöhnt, der Held wird wieder in die Gesellschaft integriert und führt ein ruhiges Leben, das keinerlei Erzählung mehr wert wäre.127 Eine solche Perspektive kann in ihrer Schlichtheit nicht zufriedenstellen. Versuchen wir eine Differenzierung, erweitern die Blickspanne und ziehen Heidegger nochmals zurate, besonders seine Gedanken zum Verfallen, zur Entfremdung und zur Angst als Material für eine weitere Modifikation oder Konkretisierung des Greimas’schen Transformationsmodells. 5.3. Zweiter Versuch: Entfremdung und Ent-Entfremdung Ausgangspunkt der Erzählung ist das Aufgehobensein des Helden im Man seiner Heimatgesellschaft: Entfremdung I. Ein Auftrag – von wem und wie explizit auch immer – reißt den Helden aus seinem Verfallensein (ins Vertraute) he- 127 Der Taugenichts findet am Ende seine Braut, die sich als Nichte des Portiers zu erkennen gibt und die Reiseerlebnisse des Taugenichts als inszeniertes Spiel im Spiel erklärt. Er bekommt vom Grafen ein ‚weißes Schlösschen‘ geschenkt und die Novelle gelangt an ein märchenhaftes, ironisches Ende: Beide blicken auf ein Feuerwerk: „[…] von ferne schallte immerfort die Musik herüber, und Leuchtkugeln flogen vom Schloß durch die stille Nacht über die Gärten, und die Donau rauschte dazwischen herauf – und es war alles, alles gut!“ (Eichendorff 2007, p. 111). 261 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. raus128 –, ein solcher Auftrag kann zu einem gewissen Grad mit der Emanzipation von seinem entfremdenden Alltag einhergehen, ich nenne das, wie bereits oben im Teil C zum Subjekt erwähnt, Ent-Entfremdung. Eine solche kann nur partiell erfolgen, der Held verbleibt im Rahmen seines ‚Grund-Verfallenseins‘ und nimmt vom weiterhin anerkannten Man seinen Auftrag entgegen. Nur: Der Held kommt in der Regel nicht daran vorbei, in der Erfüllung des Auftrags gegen heimatliche ‚Regeln‘ zu verstoßen.129 Die Erfüllung des Auftrags treibt den Helden in die Fremde, wo er in der Regel seine Ziele zunächst verbirgt: Verstellung, Maskierung: Entfremdung II. Hier greift nicht mehr, wie oben noch vermutet, der Heidegger’sche Enfremdungsbegriff, das Verfallen an die Fremde ist keine Flucht mehr vor sich selbst, sondern eine instrumentell begründete Kostümierung130 auf dem Weg zu den eigentlichen Bewährungsproben.131 In den Prüfungen ist der Held gezwungen, jenes zweite Entfremdungskorsett zu sprengen: Die Maske ablegend und die Rüstung (Kompetenzen) anlegend, stellt er sich nun dem Kampf. Er legt in seinem ‚eigensten Seinkönnen‘ seine Angst ab und stellt Rettung in Aussicht (wenn er sie auch nicht zu garantieren vermag).132 Er steht, metaphorisch gesprochen, sich selbst gegenüber und seinem eigentlichen Entwurf.133 So lässt Hermann Hesse Sinclair134 in seiner Vorrede sagen: „Das Leben jedes Menschen ist ein Weg zu sich selber hin, der Versuch eines Weges, die Andeutung eines Pfades. […] Jeder trägt Reste von seiner Geburt, Schleim und Eierschalen einer Urwelt, bis zum Ende mit sich hin. […] wir alle kommen aus 128 129 130 131 132 133 134 Fausts Leben ist anfangs freudlos, er weiß, dass er nichts weiß und die Anderen weder bessern noch belehren könne – für ihn ist das der entfremdete Zustand. Kein Hund, so Faust, möchte so leben. In seinem Versuch, dem zu entkommen, wendet er sich der Magie zu; vgl. (Goethe 2007, p. Vs. 370 ff.). Viele Erzählungen in heutigen Netflix-Serien leben von der ‚Gebrochenheit‘ ihrer Helden. Der Kommissar verdankt seinen Fahndungserfolg einer ‚großzügigen‘ Auslegung seiner Dienstvorschriften, der Detektiv blickt auf eine eigene nicht-regelkonforme Biografie zurück. Das sind aber keine filmischen Spezifika und schon gar keine von Streamingdiensten. Auch Fausts ‚Rettung‘ in die Magie ist als Regelverstoß zu werten, ebenso wie die nichtstandesgemäße Liaison zwischen Botho und Lene oder das ‚Fremdgehen‘ Effis … Kostümierung oder, wenn man so will: befristete Anpassung und Integration. Angst und Mut öffnen dem Helden die Tür zu neuem Dasein, führen ihn in eine fremde Welt, in der er sein neues In-der-Welt-Sein als Möglichsein seiner Entwürfe begreifen wird, eben als Spielfeld seiner neu gewonnenen Freiheit, eines Freisein „für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens“ (Heidegger 1979, p. 188). Der Held kommt in der Fremde zu sich selbst, zu seinem Seinkönnen im Modus der Eigentlichkeit. Das würde den Ansatz jeder Erzählspannung ruinieren. Selbst wenn der Held nur einen Auftrag Dritter ausführt, muss er sich im Kampf diesen Auftrag zu seinem ureigenen machen, zu einem, der die Grundfesten seiner Existenz berührt (und dabei muss es in der dihêgêsis nicht immer gleich um Leben und Tod gehen). Hermann Hesse, Demian. 262 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. demselben Schlunde; aber jeder strebt, ein Versuch und Wurf aus den Tiefen, seinem eigenen Ziele zu“ (Hesse 2000, p. 10). Geht der Kampf zu des Helden Gunsten aus, schließen sich drei erzählmögliche Abschlüsse an. Der erste Weg führt zurück in die Heimatgesellschaft und zur wieder entfremdenden Reintegration in die Alltäglichkeit des Man.135 Der zweite Weg endet in der Fremde (womöglich unter Aufschub einer Rückkehr, von der aber nicht mehr erzählt wird), dort bleibt der Held und ist den Versuchungen des neuen Man ausgesetzt, ihm zu verfallen.136 Die Nicht-Rückkehr muss sich dabei nicht zwingend dem Willen des Helden verdanken, sondern kann auch einem geistigen/seelischen/physischen Schaden geschuldet sein, den er sich zugezogen hat – bis hin zu Wahnsinn und Tod.137 Der dritte Weg führt in die Einsiedelei. Dort gerät der Held in einen gesellschaftsfernen Zustand des eigenen Seinkönnens, sozusagen zwischen Heimat und Fremde, allerdings des Mitseins beraubt, womit sich sein solipsistisches Seinkönnen aus gesellschaftlicher Perspektive entleert. Auch wenn er ‚heimkehrt‘, könnte er in jenem hellsichtigen Zustand verbleiben, müsste sich nicht wie im ersten Weg wieder bruchlos eingliedern, die ehemalige Heimat aber bliebe ihm fremd. Er ist den Anderen voraus, denn er kennt sein ‚eigenstes Seinkönnen‘, er kennt die Macht des Man der Heimatgesellschaft, er kennt die 135 136 137 Der Held verfügt über die Freiheit, sich für seinen Weg zu entscheiden. Selbst für eine Wiederaufnahme seines ursprünglichen Verfallenseins (Reintegration) bedürfte es einer Entscheidungsinitiative. Damit könnte eine neu zu erzählende Geschichte beginnen. Der Tod wiederum muss nicht notwendig mit der Nichtausführung des Auftrags gekoppelt sein. Denn der Held kann den Mangel beheben, die Heimatgesellschaft retten und dabei sein Leben verlieren. So Bruce Willis in Michael Bays Weltraumfilm Armageddon, der in der Rolle des Harry Stamper einen auf die Erde zusteuernden Meteoriten in zwei Hälften sprengt und mit dieser Rettungstat sich selbst opfert. 263 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Gefahren der Ent-Entfremdung und der Maske instrumenteller Entfremdung in der Fremde. Als Einsiedler lebt er in seiner alten Heimat höchstens in der Verstellung des Nicht-Wissenden.138 Er weiß, dass das ‚beruhigt-vertraute Inder-Welt-Sein‘ lediglich ein Modus der Unheimlichkeit139 ist, die die alltägliche Vertrautheit in das Man ständig zu unterhöhlen droht. Hermann Hesses Steppenwolf illustriert eine solche ‚innere Emigration‘. Die Greimas’sche Variante des Weges von der Alienation über Kontrakt, Kommunikation und Prüfung zur Reintegration ist also modifizierbar. Ich zitiere ihn ein zweites Mal140 und ergänze das Zitat anschließend durch eigene Kommentare in eckigen Klammern: „Die individuelle Freiheit zieht die Alienation nach sich; die Reintegration der Werte muß mit einer Einsetzung der Ordnung, d.h. durch den Verzicht auf diese Freiheit, bezahlt werden“ (Greimas 1971, p. 194). Hier nun mit Ergänzungen: „Die individuelle Freiheit [gewonnen in der EntEntfremdung] zieht die Alienation nach sich [instrumentelle Entfremdung II: Maske, Verstellung …]; die Reintegration der Werte [und des Helden, allerdings nur als eine von drei Abschlussvarianten] muß mit einer Einsetzung der Ordnung, d.h. durch den Verzicht auf diese Freiheit, bezahlt werden. [Verzicht auf Autonomie141 und ‚eigenstes Seinkönnen‘ oder aber Verbergung der aufrechterhaltenen Autonomie hinter der Maske eines ‚unbeteiligten Mitseins‘ – sofern der Held überhaupt in die Heimat zurückkehrt].“ 138 139 140 141 Schiller rückt am Ende seines Dramas den Helden Wilhelm Tell in die Nähe einer solchen Einsiedler-Figur. Das Un-zuhause ist nach Heidegger das ursprüngliche Phänomen. … bereits oben zitiert im Zusammenhang mit seinem Transformationsmodell im Kapitel B.5. zur Kommunikation. Einzig der Bildungsroman scheint eine Ausnahme zu sein, nämlich zu keiner Entfremdung zu führen. Tatsächlich aber stellt er genau jene Reibung von noch unvollendeter individueller Prägung und gesellschaftlichen Anforderungen ins Zentrum der Erzählung – und endet meist bei einer ‚glücklich‘ vollzogenen Entfremdung, einer gelungenen Ankunft im ‚Man‘. Siehe Goethes Wilhelm Meister. 264 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 5.4. Exkurs Erzählvarianten Greimas unterscheidet zwei Erzählvarianten, die sich im Modell der Ent-Entfremdung integrieren ließen: ‚Erzählungen der akzeptierten gegenwärtigen Ordnung‘ und solche der ‚abgelehnten gegenwärtigen Ordnung‘. Die ordnungsaffirmierenden Erzählungen würden durch das Bedürfnis konstituiert, die Ordnung zu rechtfertigen, eine Ordnung, die den Einzelnen übersteige, aber immer noch als eine von Menschen gemachte gewusst werde. Eine solche Erzählung ziele auf die Vermittlung von Individuellem und Sozialem: „Die Welt wird durch den Menschen gerechtfertigt, der Mensch in die Welt integriert“ (Greimas 1971, p. 197). Anders hingegen die Erzählung der zweiten Klasse, der abgelehnten Ordnung: Dort sei die Gesellschaft unvollkommen, der Mensch ihr entäußert. Die Vermittlung142 von Individuum und Gesellschaft nehme hier die Gestalt einer ‚Heilsverheißung‘ an: Der Held nehme das Los der Welt auf sich und transformiere sie nach einer Abfolge von Kämpfen und Prüfungen zu einer ‚geheilten‘. Ob beide Erzähltypen tatsächlich klassifizierende Kraft haben, mag dahingestellt bleiben, zu viele Fragen bleiben offen: Um welche Ordnung handelt es sich in beiden Fällen und welche Konsequenzen hat für die Aktanten die jeweilige Ordnung, die zu verteidigen oder zu bekämpfen sie sich aufgerufen glauben? Treten beide Typen tatsächlich so sauber getrennt auf, wie es Greimas nahelegt? Sind nicht Mischformen vorstellbar? Wird nicht in beiden Erzähltypen eine Geschichte von sich bewährenden Aktanten erzählt, von Aktanten, die die intakte Welt zu bestätigen oder die bedrohte oder unvollkommene zu retten oder zu heilen versuchen und dabei Konfliktsituationen bestehen müssen, um am Ende dann die Welt, wie sie ist, zu bestätigen oder die Welt, wie sie sein soll, (wieder)herzustellen? Zurück zur Entfremdung: Der Weg nach Hause und die Reintegration in die Heimatgesellschaft wäre dem Erzähltyp der akzeptierten Ordnung zuzuordnen, während der andere Erzähltyp, der der abgelehnten Ordnung, jenen zweiten und zum Teil auch dritten Weg,143 wie ich sie eben vorgestellt habe, integrieren könnte. Wo die Erzählung den Kampf gegen die schadenbringende Heimatgesellschaft zu ihrem eigentlichen Kern macht, da wird die Gesellschaft selbst zur Fremde, in die der Held – ob mit ‚Heilsverheißung‘144 oder ohne – aufbricht. Das Bild einer intakten Gesellschaft existiert in jedem Fall im Erwartungs- oder 142 143 144 … oder Mediation, wie es bei Greimas heißt. … buchstäblich in der Einsiedelei verbleibend. „Das von der Erzählung präsentierte Modell trägt somit unterschiedliche Formen der Soteriologie* Rechnung, indem es die Lösung jeder unhaltbaren Mangelsituation vorbringt“ (Greimas 1971, p. 197). * Lehre von der Erlösung durch Christus 265 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Zukunftsmodus (innerhalb der dihêgêsis), also als Ideal.145 Ob die Gesellschaft schon einmal existent war und vorm Moment des Aufbruchs beschädigt wurde oder ob es sie im ‚Heilsversprechen‘ erst noch zu gebären gilt, in jedem Fall ist der Heilszustand ein Ideal. Ob als verlorener und wiederzufindender Ort oder als Noch-nie-gewesener-Sehnsuchtsort erträumt, das ist für die Struktur unerheblich: In jedem Fall bricht der Held in die Fremde auf, um einem Ideal zur Wirklichkeit zu verhelfen, in jedem Fall zieht es den Helden – Entbehrungen und Gefahren auf sich nehmend – zu einer im ganz banalen Sinn von Songtexten verstandenen ‚besseren Welt‘. Tritt der Held als Messias oder Schwert Gottes auf, kann er von der Gesellschaft – im Zeichen der Reintegration – akzeptiert werden; aber auch abgestoßen werden, dann nämlich wenn er nicht integrierbar ist, wenn zu viele Elemente seines Eigensinns den Weg zurück in die Gesellschaft versperren. Er kann also auch von der geretteten, ‚besseren‘ Welt verurteilt werden: Schillers Jungfrau von Orleans bringt das auf die Bühne. 5.5. Modifizierung des Transformationsmodells II Was in meiner ersten Modifizierung noch nicht klar getrennt wurde, wird nun sichtbarer: Vom Ausgangspunkt Grundbedingung und Grundmotivator trennen sich die Wege für Gesellschaft und Individuum. Während der Mangel für die Gesellschaft Alienation bedeutet, bedeutet er für das Subjekt, den Helden, DeAlienation. Hier werden nun die drei Elemente der Kommunikation – Information (Wissen), Kompetenz (Können) und Wert (Wollen) – deutlicher auf die beiden maßgeblich Beteiligten, nämlich auf Gesellschaft und Individuum, verteilt. 145 … also auf einer zweiten diegetischen Ebene (für die Erzählfigur) innerhalb der ersten (für den Leser). 266 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 267 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Während die Gesellschaft in einem Zustand der Alienation verbleibt – eingedenk der Relativierung aus obigem Abschnitt zur Entfremdung der Gesellschaft und des Individuums –, wird der Held zu ihrer Rettung aufgerufen, was häufig einer De-Alienation bedarf. Wo also die Gesellschaft ‚vollständig‘ und mit sich ‚eins‘ erscheint, da stützt sie sich im Modus des Man auf entfremdete Mitglieder. Aber wo sie selbst einem Mangel, einer ‚Unvollständigkeit‘ ausgesetzt ist, da bedarf sie eines de-alienierten Retters. Wenn der Held sich nun selbst ‚beauftragt‘ – das Widersprüchliche zeigte sich dann im gar nicht mehr ungewöhnlichen Wunsch des Helden, sich zu ‚verändern‘. Denkbar auch, dass die Gesellschaft den man-angepassten, also weiterhin entfremdeten Helden auf die Reise schickt, doch dann fehlten ihm Unterstützung und Leitung, eben das Gewohnte, dem er bis dahin verfallen und in dem er sich zwar entfremdet, aber eben ‚heimisch‘ eingerichtet hat. In der Fremde ist deshalb häufig die Ent-Entfremdung gefordert, um den Retter mit größtmöglicher Autonomie seine Kämpfe im Sinne der Rettung ausfechten zu lassen. 268 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Und hier die Fortsetzung der obigen Skizze: 269 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. An dieser Stelle hätte man vielleicht den Linguisten in Greimas ködern können, mit der Idee nämlich, die Entfremdung als weitere narrative Kategorie mit aufzunehmen, eine Kategorie, die in verschiedenen Negation-Assertions-Verhältnissen homologisiert werden könnte: Das einfache Verhältnis von Alienation vs. Reintegration könnte – auf den Helden bezogen – differenzierter dargestellt werden: – Al vs. Al:146 Held in der Anfangskonstellation vorm Hintergrund seiner heimatlichen Entfremdung gegenüber seiner De-Alienation bei Annahme der Herausforderung. Dieselbe Konstellation, nun aber am Ende der Erzählung, liegt vor, wenn der Held sein Entfremdungskorsett für immer ablegt – ob in der Einsiedelei oder in einer der beiden Gesellschaften. – Al vs. Al (also keine Homologisierung nötig): der in die Heimat zurückkehrende oder auch in der Fremde bleibende Held, der an seinem aufgeklärtem Bewusstsein, seiner Emanzipation festhält. – Al vs. Al: der in der Fremde bleibende Held, der sich dem fremden Man und damit einer neuerlichen Entfremdung ausliefert und sich dort integriert (in der parallelen Greimas’schen Konstruktion kehrt der Held in die Heimat zurückkehrt und wird dort reintergriert). Man könnte noch einen Schritt weiter gehen und die eben vorgestellte Greimas’sche Typologie der akzeptierten und abgelehnten Ordnung mit hereinnehmen. Man könnte die Entfremdungsmatrix mit der Typologie der Ordnungen beider Orte (Heimat und Fremde) kreuzen – was ich dem Leser und mir jetzt erspare. Nur so viel: Hier kämen Bewusstsein und Urteilsvermögen des Helden ins Spiel, die sich in ein affirmierendes oder negierendes Verhältnis zu den beiden Gesellschaften setzen, unabhängig davon, ob sie das wären, wofür der Held sie hielte. 5.6. Der Tod in Venedig als Illustration Ich möchte hier eine weitere Illustration aus der Welt der Erzählungen anbieten, nämlich Thomas Manns Novelle ‚Tod in Venedig‘. Gustav Aschenbach führt ein erfolgreiches, aber entfremdetes Leben als Schriftsteller. Vor lauter Fixierung aufs Ästhetische – er nennt das Fixierung auf die Form – habe er den Bezug zu seinen (auch schriftstellerisch produktiv zu machenden) Gefühlen verloren. Die Grundmotivation seines Aufbruchs ist nun eben die Behebung jenes Mangels, die Wiedergewinnung seiner ehemaligen ‚feurig spielenden Laune‘ des Schreibens. 146 Al = Negation der Alienation (Ent-Entfremdung), Al = Entfremdung. 270 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Den Kontrakt dazu schließt er mit sich selbst, die Münchener Gesellschaft kommt hier nichts ins Spiel, weil keines wesentlichen Gutes beraubt worden ist.147 Was die Seite der Kommunikation angeht, so sind ihre drei Stufen ebenfalls nur in Aschenbach selbst anzutreffen: – (C1 – Information): In seiner Münchener Heimat hat Aschenbach sich in seiner Form-Verliebtheit vom ‚ganzheitlichen‘ Schriftstellerdasein entfremdet, sozusagen Verrat an einem solchen Auftrag begangen. Das begreift er. – (C2 – Kompetenz): Aschenbach erkennt seinen Mangel und versucht in Venedig, ihn aufzuheben, inspiriert durch seinen Adjuvanten,148 den Jungen Tadzio. In einem ersten tastenden Versuch gibt er sich dessen Schönheit hin und dieser Versuch ist noch ganz dem apollinischen Prinzip149 von Form und Ästhetik verhaftet. Schon bald bricht sich das zweite, das dionysische Prinzip Bahn und lässt Aschenbach vom Begehren kosten und damit das versperrte Tor zu Gefühl und Rausch aufstoßen. – (C3 – Wert): Das anfängliche Unerfülltsein weicht am Ende einer Erfüllung, die von der Einsicht in seine Liebe zu dem Knaben – in der ‚stehenden Formel der Sehnsucht: ‚Ich liebe dich‘150 – fast zu einer Verschmelzung am Schluss heranwächst, zu einer metaphysischen Hochzeit mit Tadzio im Tod. Und die Prüfungen? Auch hier steht sich Aschenbach – wie schon oben als Adressant und Adressat – in den personalvereinigten Aktanten des Subjekts und Anti-Subjekts sich selbst gegenüber. Als Anti-Subjekt ist er Zauderer, der ihn in München halten und ihn aus Venedig abreisen lassen will. Als Subjekt ist er der nach Veränderung sich sehnende Aschenbach, der Reisende, der sich ganz offen über das Missverständnis der Gepäckverschickung freut, weil es sein Verbleiben in der Stadt bedeutet. Es sind zwei ‚Seelen in seiner Brust‘, zwei Prinzipien der Kreativität, das Prinzip des Apollinischen – der Vernunft, Form und Begrenzung – und das des Dionysischen – des Gefühls, Rauschs, der Sinnenlust und Entgrenzung. Es ist der Kampf, wenn man so will, des unglücklichen Bewusstseins, der Kampf zwischen dem Sinnlichen, dem Kontingenten und dem von Hegel so genannten Unwandelbaren, dem Allgemeinen. 147 148 149 150 Dass der Münchener Gesellschaft ein kulturell produktiver Sohn genommen wird, ist als Verlust deutbar, wird aber von Thomas Mann nicht thematisiert. Weitere Adjuvanten, Abwandlungen der Hermesfigur, führen und begleiten Aschenbach bis zu seinem Ende. Siehe auch Nietzsches Ausführungen zum Stilgegensatz von Apollinischem und Dionysischem in seiner Schrift zur Geburt der Tragödie (Nietzsche 2013, p. 249 ff.). Vgl. (Mann 1992, p. 97). 271 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. – Die qualifizierende Prüfung stellt ihn vor die Herausforderung, sich seinem künstlerischen Genius hin zu Gefühl und Rausch zu öffnen, ‚pulsende Gedanken‘ und ‚genaues Gefühl‘151 zu vereinen. – Als Hauptprüfung könnte man den Kampf betrachten, den er mit sich selbst führt und der darüber entscheidet, ob er den Blicken Tadzios am Ende erliegen wird oder nicht. Doch die ‚Unterwerfung‘ unter den Jungen bedeutet kein Strecken der Waffen, sondern letztlich einen Sieg, denn: – … in der glorifizierenden Prüfung – auf dem Strand-Tableau am Ende der Novelle – imaginiert Aschenbach Tadzio auf einer Sandbank vor den Weiten des Ozeans, ihm winkend: „als ob er, die Hand aus der Hüfte lösend, hinausdeute, voranschwebe ins Verheißungsvoll-Ungeheure.152 Und, wie so oft, machte er sich auf, ihm zu folgen“ (Mann 1992, p. 139). Aschenbach scheint nur auf den ersten Blick auf der ersten Stufe des Hegelschen unglücklichen Bewusstseins zu stehen, auf der der Andacht. Aber das täuscht. Denn der Rausch lässt ihn die zweite Stufe erklimmen, die der Begierde und (künstlerischen) Arbeit. Und die Anerkennung der Führerschaft Tadzios am Ende lässt ihn die dritte Stufe betreten, die der Aufopferung. Mehr noch – ohne vorgreifen zu wollen: Wir können uns vielleicht Aschenbach mehr als versöhntes, glückliches Bewusstsein vorstellen denn als unglückliches. Denn der Kampf endet nicht auf Kosten des Helden. Er findet die dunkle Seite des Mondes, seine dunkle Seite und stirbt ‚versöhnt‘, auch wenn ihm der dialektische Ausgleich der Prinzipien im Sinne eines realen Austauschs nicht gelingen sollte. Aschenbach geht den von mir oben vorgestellten dritten Weg, den Weg des Einsiedlers. Er findet den Ort der Versöhnung im Tod, er folgt den Lockungen seiner Begierde, seinem Mystagogen, dem winkenden Tadzio ins Reich der Transzendenz. Eine Rückkehr nach Hause ist schon längst keine Option mehr für ihn, denn die nur dort denkbare ‚Versöhnung‘ der beiden Prinzipien wäre keine, das Apollinische Prinzip würde sich dort wieder zur absoluten Herrscherin aufschwingen. Aschenbach würde nur in die Entfremdung des Heimat-Man zurückfallen. 151 152 Vgl. (Mann 1992, p. 86). Deutlich hier die Parallele zum oben schon erwähnten Heidegger’schen Modus der Unheimlichkeit, die das fragile Vertrautsein mit der Alltäglichkeit des Man immer wieder zu durchbrechen droht. Siehe auch oben ‚Der Ausbruch aus dem Man‘ in Kapitel D.3 zur Sorge. 272 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. E. Das Wissen Beim Handlungsvermögens handele es sich um eine ‚Urtatsache‘, „nämlich um die Gewißheit des Tun-Könnens auf seiten des Handelnden, das heißt um die Gewißheit, Veränderungen in der Welt hervorrufen zu können.“ (Ricoeur 2005, p. 139) Der Teil D zur Handlung hat gezeigt, dass sich das seiner Identität zunächst nur passiv gewahr werdende Subjekt nun im aktiven Ausgriff auf die Welt auf andere Individuen stößt und sich dabei sorgend auf sich selbst zurückbezieht. Allerdings zu einem hohen Preis, dem der Entfremdung. In der Handlung droht das Individuum sich selbst zu verlieren oder sich im Sinn des Existentialismus niemals zu finden, sich unter den scheinbar schützenden Flügeln des Man einzuhegen. Im Wissen nun wird die Lücke zwischen dem Selbst und dem Anderen geschlossen. Im Wissen rettet das Selbst nicht nur seine Autonomie, sondern über das Wissen holt es sich sozusagen das, was zunächst als ‚das Andere‘ (Objekte wie Subjekte) außerhalb seiner selbst ist, in sich hinein. Es nimmt, so die paradox anmutende Formulierung, das Andere im Modus des Bewusstseins in seine Autonomie auf. Die – um es großspurig zu formulieren – Rettung der Autonomie des Selbst erfolgt über das Wissen, über die Aufdeckung der bis dahin unsichtbaren Fesseln, in der Erkenntnis dessen, was das Ich aus sich zu machen in der Lage ist. Für die instrumentelle Ebene lässt sich sagen, dass die Erlangung von Wissen ein ganz grundsätzlicher Modus ist, der das pragmatische Handeln begleitet und vorrangig führt, der also auch in der Struktur von Erzählungen einen der vorderen Plätze einnimmt. Jedes Handlungssubjekt (‚subject of doing‘), so Greimas und Courtés, sei zugleich ein Wissenssubjekt (‚cognitive subject‘), sei mit einem eigenen kognitiven narrativen Programm ausgestattet.1 Es wird hier allein um das inner-diegetische Phänomen des Wissens-Transfers gehen, um die kognitive Dimension, die sich allein der pragmatischen oder Ereignis-Dimension der dihêgêsis zur Seite stellt. Bei der Betrachtung des Wissens als ‚Sonderform‘ des Handelns kehren wir noch einmal zurück zu Greimas und Courtés, und zwar zu deren Sémiotique wie auch zu Greimas’ Aufsatzsammlung Du Sens.2 Zudem hat das Autorenpaar in der New Literary History 1988 einen Aufsatz zur kognitiven Dimension narrativer Diskurse veröffentlicht.3 1 2 3 Vgl. (Greimas, Joseph Courtés 1989, p. 568 f.). Dort befasst er sich im zehnten Kapitel mit Glauben und Wissen, die er schon im Titel einem Bereich zuschreibt: Knowing and Believing: A Single Cognitive Universe. Vgl. (Greimas 1987, p. 165 ff.). Vgl. (Greimas, 1989, pp. 563-579). https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. E.1. Kommunikation Wissen ist Ausgangs- und Endpunkt verbaler Kommunikation, Wissen bedarf des Austauschs. Sender und Empfänger schließen sozusagen einen Vertrag, der den Bezug der beiden aufeinander regelt: auf der einen Seite der Sender mit der Intention, den Empfänger zu überzeugen, der auf der anderen Seite die ‚Nachricht‘ des Senders deuten muss. In diesem Manipulations-Interpretations-Verhältnis sind die Positionen der Wahrheit (Sein) und der Unwahrheit (Scheinen) frei besetzbar. 1.1. Der fiduziäre Akt der Kommunikation Wissen könne, so Greimas und Courtés, Gegenstand eines Austauschs sein, um Wissen könne gefochten werden, Wissen sei Gegenstand von Kommunikation, Wissen könne verborgen bleiben oder nur vorgetäuscht werden.4 Grundsätzlich betrachten die Autoren ‚kognitives Handeln‘ als Austausch, als ‚Transfer eines Wissens-Objekts auf einer Achse zwischen Sender und Empfänger.5 Der rezeptive Aspekt könne wiederum in einen aktiven und passiven Akt differenziert werden, als ,to listen‘ vs. ,to hear‘ und ,to see‘ vs. ,to look at‘.6 Der Detektiv sieht und hört im Sinne einer aktiven Rezeption und informiert anschließend den Auftraggeber. Auch der Bote, der Ödipus die Nachricht überbringt, dass er seinen Vater getötet und seine Mutter geheiratet habe, spielt diese Rolle. Ein solcher Informant oder Denunziant, so die Autoren, tauche sehr häufig in Erzählungen auf, sei ein Akteur, der eine einfache Vermittlerposition zwischen eigentlichem Sender und Empfänger einnehme und dabei zugleich die Rolle des Empfängers wie die des Senders (,receiver and emitter‘) von Wissen übernehme, vergleichbar mit einer Fernsehübertragung (,like a television relay‘).7 Die menschliche Kommunikation, so Greimas, erfordere ein Minimum an wechselseitigem Vertrauen und binde die Beteiligten in einen ‚fiduziären Kon4 5 6 7 Um das Phänomen des Wissens herum entfalte sich das semiotische Quadrat der Wahrheit, hier treffe die Erzählung auf die Elemente des Wahr-Sagens: auf die Lüge, das Geheimnis und die Falschheit; vgl. unten Kapitel E.2 zur Lüge und Wahrheit. „Given the fact that the transfer of the knowledge-object takes place on the sender/receiver axis“ (Greimas, 1989, p. 572). Im Deutschen entsprächen diesen Ausdrücken in etwa: hören und zuhören und sehen und hinsehen. Das Bild der Fernsehübertragung macht den Unterschied klar, den die deutschen Begriffe von Sender und Empfänger nicht bereithalten: die Metapher des Relais verbindet Adressant und Adressat als Urheber/Autor vs. Zielperson; die Autoren verwenden hierfür das Begriffspaar ,enunciator‘ vs. ,enunciatee‘. Der Bote ist lediglich das Medium, das zwischen den beiden vermittelt, reduziert auf sein visuelles und auditives Wahrnehmungsorgan sowie sein Gedächtnis. Oder noch kürzer: Der Bote ist Speichermedium der Nachricht, mittels dessen der eigentliche Sender Zeit- und Ortsgebundenheit zu überwinden in der Lage ist. Für diese Merkmalszuschreibung nutzen die Autoren das Begriffspaar von ,receiver‘ und ,emitter‘. 274 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. trakt‘ ein. Der Austausch könne als vertraglich kodifiziert verstanden werden; ob nun ein versicherndes ‚Ich-denke‘ oder ein zögerliches ‚Ich-denke‘, in jedem Fall sei es als Vertragsangebot des Senders an den Empfänger zu verstehen. Damit werde evident, so Greimas, dass ein treuhänderisches Verhältnis (‚fiduciary relation‘)8 die bipolare Kommunikation ‚personalisiere‘.9 Greimas ergänzt 1983 in einem Gespräch mit Peter Stockinger,10 dass zur ‚semantischen Kompetenz‘ innerhalb der Kommunikation – also der Verstehenskompetenz im engen Sinn – noch eine zweite hinzukomme, nämlich die ‚modale Kompetenz‘. Sender und Empfänger müssten über eine Reihe von Modalitäten verfügen, um überhaupt miteinander zu kommunizieren, beide seien je nach Rolle ‚modalisiert‘. Die Kommunikation (als ‚making-to-know‘) nehme auf der Seite des Senders die Form eines überzeugenden Handelns11 und auf der des Empfängers die eines interpretierenden12 Handelns an. Zwischen Sender und Empfänger liege also ein ‚kognitiver Raum‘ der Überredung und Interpretation, aber auch ein Raum der Manipulation und Sanktion (Billigung, Bestätigung, Anerkennung). 1.2. Manipulation und Interpretation Der manipulative Akt aufseiten des Senders Es gebe drei grundsätzliche Manifestationen der Manipulation, je nachdem, auf welche Modalitäten sie sich bezögen: – die Manipulation, die sich auf das Wollen/Wünschen beziehe => Versuchung oder Verlockung; – die Manipulation, die sich aufs Können beziehe => Drohung oder Provokation; 8 9 10 11 12 Der fiduziäre Akt wird im Verhältnis zwischen Erzähler und Leser (sozusagen als Vollzug des Moralischen Paktes) in einer Folgearbeit zur vorliegenden ausführlich erläutert werden. Vgl. (Greimas 1987, p. 171). Vgl. (Greimas 1983, p. 11). Das Überzeugen als Teil des ‚causing-to-know‘ sei zuallererst ein ‚causing-to-believe‘ und gehe der Absicht, den Adressaten Wissen zu vermitteln, voraus. Der Sender muss sein Gegenüber dazu bringen, ihm überhaupt Glauben schenken zu wollen: „Henceforth, all progress in our thinking about the conditions under which we know can only widen the domain of belief“ (Greimas 1987, p. 165). ‚persuasive‘ und ‚interpretative doing‘; vgl. (Greimas, 1989, p. 572). Anders als in Märchen komme in komplexeren Erzählungen neben dem einfachen transitiven Modell eines Transfers des Wissensobjekts zwischen zwei Akteuren das Modell der reflexiven Übertragung zur Geltung, in dem sich beide Kommunikationsrollen synkretisch in einem Akteur vereinten (so beispielsweise bei Ödipus). 275 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. – die Manipulation, die sich aufs Wissen beziehe => Argumentation oder Beweisführung.13 Greimas und Courtés sprechen bereits dann von Manipulation beim Rezipienten, wenn er dem Adressanten einen Vertrauensvorschuss einräume, ihn nicht weiter infrage stelle und dessen Aussagen Wahrheit14 oder Augenscheinlichkeit zuschreibe.15 Der interpretierende Akt aufseiten des Empfängers Dem adressatenbezogenen epistemischen Akt, so Greimas, liege eine Vergleichsoperation zugrunde, deren Resultat Anerkennung oder Zurückweisung der angebotenen Proposition sei. Er übersetze die behauptete ‚Wahrheit‘ in Angemessenheit oder Unangemessenheit vor dem Hintergrund seines eigenen kognitiven Universums, und zwar eines Universums, das nicht mit einer Bildersammlung verwechselt werden dürfe.16 Im epistemischen Akt werde die Adäquanz von Neuem und Unbekanntem mit Altem und Bekanntem überprüft.17 Das Ergebnis sei positiv oder negativ, die Adäquanz könne anerkannt oder zurückgewiesen werden. Das mündet, so sei hier eine Bemerkung erlaubt, in die Gefahr einer Sackgasse alleiniger Vorurteilsbestätigung. Zudem reduzierte ein solches Modell Wissensgewinnung (als Adäquanzphänomen) auf ein individuelles, mühsames Überprüfen der Welt auf seine (wie auch immer geglaubte) Beschaffenheit hin. Allein schon der Blick auf wissenschaftliche Diskurse zeigt, dass Erkenntnisgewinn oft mit der bereitwilligen Zerstörung eigener und daraufhin als obsolet geltender Überzeugungen einhergehen kann und nicht mit der Überprüfung auf Angemessenheit gegenüber eigenen Vor-Urteilen. 13 14 15 16 17 Die Manipulationsformen schließen sich offensichtlich nicht aus, das Wollen taucht beim Sender in allen Formen auf, das Können ebenfalls und das Wissen ist zwar der prominente Gegenstand wissenschaftlicher Diskurse, aber wird auch dort von weiteren Modalitäten begleitet. Der ‚verborgene Mechanismus‘ der Manipulation, so die Autoren, liege im Empfänger, und zwar in der Internalisierung des Senders („when the subject of cognitive doing […] becomes implicit for the enunciatee“ (Greimas, 1989, p. 577)). Und diese Verinnerlichung des Gegenübers „gives the impression of a truth that ‚goes without saying‘, of ‚objectivity‘, of something ‚obvious‘“ (Greimas, 1989, p. 577). Unser Weltwissen, so Greimas in Du Sens, beruhe zunächst einmal auf einem ‚they-say‘, also auf Gerüchten (‚rumor‘, ‚on-dit‘). Und wenn wir von der kognitiven Dimension von Diskursen sprächen, dann hätten wir es eigentlich mit der Dimension und den Modalitäten unseres Glaubens zu tun; vgl. (Greimas 1987, p. 166). „This universe is not some kind of encyclopedia filled with images of the world. It is a network of formal semiotic relations from among which the epistemic subject selects the equivalences needed to receive veridictory discourse“ (Greimas 1987, p. 179). „The Epistemic Act Is the Control for Adequation“ (Greimas 1987, p. 168). 276 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Im Austausch von Propositionen bewege sich nun der Adressat im semiotischen Quadrat des epistemischen Akts: Er könne bejahen oder verneinen und er könne – mit graduellen Abstufungen – zugeben/zulassen oder bezweifeln.18 Welche Kompetenzen sind nun beim Adressaten vorausgesetzt, um das ‚Wahr-Sprechen‘19 des Senders zu beurteilen? Was zeitlich zusammentreffe (alleinige zeitliche Kontingenz), so Greimas, werde im mythischen20 und praktischen21 Denken als kausale Reihenfolge interpretiert. Ein solches Denken vollziehe sich im Modus des ‚post hoc ergo propter hoc‘;22 Greimas nennt es ‚syntagmatische Intelligenz‘. Ein solches Denken gehöre dem Bereich des Glaubens (‚believing‘) an. Im Gegensatz dazu das technische Denken (‚technical thinking‘), das die objektiven Notwendigkeiten fokussiere und damit dem Bereich des Wissens (‚knowing‘) zuzuordnen sei. Und doch, so möchte ich einwenden, gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen Alltagsdenken und mythischem Denken. Während sich das praktische Denken auf eine kontingente Welt bezieht und dabei Aufeinandertreffen- 18 19 20 21 22 … mit den entsprechenden Modalitäten Gewissheit vs. Ausschluss und Wahrscheinlichkeit vs. Ungewissheit; vgl. (Greimas 1987, p. 170). ‚truth-saying‘; vgl. (Greimas 1987, p. 176). „(‚the Gods are angry; we will suffer for it‘)“ (Greimas 1987, p. 176). „(‚clouds are moving in; it’s going to rain‘)“ (Greimas 1987, p. 176). ‚danach, also deswegen‘. 277 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. des (aus Gewohnheit, aus Gründen der Komplexitätsreduzierung o. a.) ‚ver-kausalisiert‘, bezieht sich das Denken des narrationsrezipierenden Lesers auf eine durch und durch funktional organisierte, imaginierte Welt der dihêgêsis. Dort ist nichts mehr kontingent, alles ist intendiert, selbst das Episodische erhält, wie oben bereits ausgeführt, seinen Sinn in der Erzählung (womit es spätestens am Ende auch den letzten Schein des Bloß-Episodischen einbüßt). Das gesamte Geflecht von Figuren, Handlungen, Orten und Zeiten verdankt sich einem auctor, der die dihêgêsis mit Bedeutung kohärent auflädt. * Was ist gewonnen? Auf der semio-narrativen Ebene von Erzählungen, so der Ausgangspunkt von Greimas und Courtés, ‚personalisierten‘ Akanten-Paare das semiotische Quadrat der Wahrheit: auf der Seite des Senders als ‚überzeugungshandelnd‘ (mit narrativer Manipulation) und auf der des Empfängers als ‚interpretationshandelnd‘ (mit narrativer Ablehnung oder Zustimmung). So weit, so gut. Auch die Vertiefung in das fragile Verhältnis von Glauben und Wissen oder die Betrachtung der Kommunikation als vertragsgebundenen Austauschs, all das kann überzeugen, doch ich frage mich, ob das wirklich erkenntnisfördernd ist. Schauen wir noch etwas näher hin. 1.3. Exkurs zur Veridiktion Was sich auf der Ebene der Handlung gezeigt hat, lasse sich ebenfalls auf der kognitiven Ebene finden. Kognitives Handeln in seiner persuasiven und interpretativen Form verlange ebenfalls nach einer korrespondierenden Kompetenz. Wenn beispielsweise das täuschende Subjekt den König davon überzeuge, dass sein Sieg echt sei, dann bedürfe es einer Überzeugungsmacht (,a persuasive power-to-do‘) und einer entsprechenden kognitiven Kompetenz (,a persuasive cognition-to-do characteristic‘) für sein trügerisches Spiel. An dieser Stelle ist es sinnvoll, sich kurz des Begriffs der Veridiktion anzunehmen. Der Begriff, so Greimas und Courtés in ihrer Sémiotique, gehe auf Saussure zurück und ersetze den Rekurs auf eine externe Referenz. Ein ‚Wahr-Sprechen‘ (‚truth-saying‘)23 beziehe sich nicht auf eine objektive Wahrheit, sondern auf Wahrheitsgebilde, mit denen Sender (überzeugend) und Empfänger (interpretierend) operierten, deshalb sollte man statt von Wahrheit wohl besser von Bedeutungseffekten sprechen. 23 „Saussurian theory has constrained semiotics to make its concerns not the problem of truth, but that of truth-saying, of veridiction“ (Greimas & Courtés 1982, p. 367). 278 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Greimas interpretiert in Du Sens den Begriff des Wahrheit-Sprechens semiotisch und repräsentiert ihn im bereits gezeigten semiotischen Quadrat der Wahrheit oder dem semiotischen Quadrat der veridiktorischen Modalitäten. Greimas fängt mit seinem Quadrat die Modifikationen des Wahr-Sprechens ein und ermöglicht damit eine ‚Überdetermination‘ der Aktanten, die sich als ein Spiel von Masken (‚jeu de masques‘) zeige. Ein solches Spiel konstituiere eine der Hauptachsen der narrativen Welt24, ein Spiel von Verstellung und Verhüllung zwischen Helden, die verborgen, unerkannt oder erkannt seien, und maskierten Verrätern, die demaskiert und bestraft würden, so ergänzt Greimas.25 Eine solche Erweiterung vervielfache mittels der Modalitäten von Wahrheit, Unwahrheit, Geheimnis und Lüge die Anzahl aktantieller Rollen und diversifiziere damit die narrativen Programme. Die vier Modi der Veridiktion sind essentielle Elemente der Narration, vertiefen nicht nur die aktantiellen Rollen und erweitern damit das Spektrum ihrer Bezüge, sondern lösen auch Handlung aus oder treiben sie voran – oft schon zu Beginn einer Erzählung, wenn es um den Verlust eines Gutes und den Auftrag der Wiederbeschaffung geht. Und noch ein dritter Gedanke, der aller24 25 So erstreckt sich auch in der Skizze zu meinem modifizierten Transformationsmodell eine solche Achse nahezu über die gesamte Erzählstrecke. The ‚game of disguises‘ includes „confrontations between heroes, who might be hidden, unrecognized, or recognized and disguised traitors who are unmasked und punished and which constitutes one of the main axes of the narrative imaginary“ (Greimas 1987, p. 111). 279 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. dings in der vorliegenden Arbeit nicht vertieft werden wird: Die Modi der Veridiktion prägen auch die Verteilung der Moralzuschreibungen durch den Leser. Dieser qualifiziert beispielsweise die Lüge eines Intriganten als verwerflich, während er die Lüge des sympathischen Helden als Notlüge im Dienste eines höheren, ‚guten‘ Zwecks interpretiert – sofern der Erzähler hier nicht ‚gegensteuert‘. 280 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. E.2. Lüge, Wahrheit, Geheimnis und Falschheit Aufrichtig oder unaufrichtig, ehrlich oder unehrlich, das ist beim ‚manipulativen Akt‘ des Senders wie auch beim ‚interpretierenden‘ des Empfängers eine grundsätzliche Frage. Kann ich meinem Adressaten gegenüber aufrichtig sein? Ist das, was der Adressant mir anbietet, wahr oder falsch? Ist mein Gegenüber verlässlich und vertrauenswürdig? Ohne solche Fragen nach Lüge, Wahrheit, Geheimnis oder Falschheit kommt auch die Literatur nicht aus. 2.1. Sortierung im veridiktorischen Quadrat Die nun folgenden Überlegungen zur Lüge und Wahrheit, zum Erkennen und Verkennen habe ich – mehr aus heuristischen Gründen – auf das veridiktorische Quadrat appliziert, was die nun folgende Gliederung prägt. Ich hoffe, dass ich damit Sartre und Ricoeur – auf die ich mich nun vor allem beziehen werde – nicht allzu sehr instrumentalisiere. 281 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 2.2. Unaufrichtigkeit „Die Forderung unserer Zeit nach Authentizität ist vollkommen unsinnig, weil Masken viel wahrhaftiger sind als scheinbar authentische Menschen. […] Haben Sie Die Maske mit Jim Carrey gesehen? Da geht es genau darum: Wir faken, wenn wir keine Maske aufhaben, erst die Maske erlaubt einem, man selbst zu sein.“ – Slavoj Zizek in einem Interview mit dem Süddeutsche Zeitung Magazin (Zizek 2019, p. 25) Ich möchte nicht in die Sartre’schen Tiefen seiner Philosophie des Nichts eintauchen, sondern nur erwähnen, dass seine Ausführungen zur Unaufrichtigkeit und Lüge in einem Kontext angesiedelt sind, in dem das Individuum erst durch die Nichtung des äußeren An-sich zu sich finde und damit sich als Für-sich realisiere26. Wenn es dabei auf andere Individuen treffe, sehe es sich mit der ‚Nichtung einer Möglichkeit‘ konfrontiert, „die eine andere menschliche-Realität als ihre Möglichkeit entwirft“ (Sartre 1991, p. 119). In dieser Konflikt-Anlage27 siedeln sich bei Sartre Aufrichtigkeit und Unaufrichtigkeit an. 2.2.1. Falschheit: Unaufrichtigkeit sich selbst gegenüber „Von diesem Augenblick an bestand ihr ganzes Leben nur noch aus einem einzigen Lügengespinst, mit dem sie ihre Liebe wie in Schleier einhüllte, um sie zu verbergen. Das Lügen wurde ihr zu einem Bedürfnis, zu einer Sucht, zu einem Vergnügen.“28 (Flaubert 1970, p. 348) Kehre das Individuum, so Sartre, nun die Negation gegen sich selbst, anstatt – so meine Ergänzung – den Kampf, die Herausforderung anzunehmen, werde es unaufrichtig. Die Unaufrichtigkeit sei zunächst ein ‚Sich-selbst-Belügen‘29, und zwar insoweit, als es einer ‚primären Intention‘ bedürfe, eines ‚Unaufrichtigkeitsentwurfs30‘, mehr noch, das Individuum müsse die Wahrheit sehr genau kennen, um sie sorgfältig vor sich verstecken zu können. Anders in der Lüge, dort erscheint noch das, was nicht ist, die Lüge wirft nur ein sichtbares Gewand der Wahrheit über und lässt sie damit verschwinden. Aber im ‚wissenden‘ Sich26 27 28 29 30 Ein sich selbst als Mangel konstituierendes Sein könne sich nur ‚dort hinten‘ an dem bestimmen, „was ihm mangelt und das es ist, […] kurz, durch ein ständiges Losreißen von sich zu dem Sich hin, das es zu sein hat“ (Sartre 1991, p. 367). Hier sind im Kern Kampf und Konkurrenz des Moralischen Paktes angelegt, der Hobbes’sche Naturzustand genauso wie das polemische Prinzip Greimas’. Madame Bovary legt ihrem Ehemann Charles Rechnungen ihrer angeblichen Klavierlehrerin in Rouen vor und verbirgt damit den eigentlichen Zweck ihrer Donnerstagsfahrten, nämlich ihren Geliebten zu treffen. Die Lüge selbst profitiere von der ‚ontologischen Dualität des Ich und des Ich des Anderen‘ (vgl. (Sartre 1991, p. 122). Lüge sei das zynische Bewusstsein, die Wahrheit dem Anderen gegenüber zu verneinen und für sich selbst diese Negation zu verneinen. Vgl. (Sartre 1991, p. 123). 282 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. selbst-Belügen wird beides negiert, das Sein wie auch der Schein. Deshalb kommt die Unaufrichtigkeit sich selbst gegenüber auf der Seite der Falschheit zu liegen. Doch damit vernichte sich laut Sartre das ganze System, die Unaufrichtigkeit verberge vor sich selbst die Wahrheit, sie schwanke zwischen Aufrichtigkeit und Zynismus. Selbst derjenige, der sich in seiner Unaufrichtigkeit einrichte und in ihr ‚lebe‘ – und das betreffe eine große Anzahl von Personen (und Figuren in Erzählungen)31 –, gerate immer wieder in Phasen, in denen er sie ahne, allerdings ohne sie erklären zu können. Ich erinnere an die Ausführungen zur Psychologie der Figuren in Kapitel D.2., vor allem an Sartre: „Wählen, ein minderwertiger Künstler zu sein, heißt notwendig wählen, ein großer Künstler sein zu wollen: sonst würde die Minderwertigkeit weder erlitten noch erkannt“ (Sartre 1991, p. 818). Eine solche Dualität zeige sich im unaufrichtigen Willen des Künstlers, Großes zu schaffen, um dann im Scheitern seiner Mittelmäßigkeit gewahr werden zu können. Das Spiel mit seiner Brillanz ist ein Spiel mit etwas, was weder ist noch scheint: ein Spiel mit der Falschheit. Unaufrichtigkeit, so sagt Sartre an späterer Stelle, sei ein Glaube. Wie könne man, so fragt er, „unaufrichtig an Begriffe glauben, die man ausdrücklich ersinnt, um sich zu überzeugen?“ (Sartre 1991, p. 154) Die Unaufrichtigkeit werde zur ‚Weltanschauung‘, zu einer ‚Denkmethode‘. Die Unaufrichtigkeit mache sich bescheiden, sie verlange nicht zu viel, sie gebe sich dort, wo sie kaum überzeugt sei, mit ungewissen Wahrheiten32 zufrieden. Sie entscheide nicht reflektiert, sondern spontan, Sartre vergleicht sie mit dem Übergang zum Schlaf. Und sei dieser Modus einmal realisiert, so sei es ebenso schwierig, aus ihm herauszukommen wie aufzuwachen. In ihrer Bescheidenheit stabilisiere sich die Unaufrichtigkeit. Sie beschließe, dass die Realität so sei und dass die eigene Nicht-Überzeugung die Natur aller Überzeugungen sei.33 Ein Glaube also, der von sich wolle, dass er kaum überzeugt sei. Die Unaufrichtigkeit eines Individuums hat sich – als Weltanschauung – damit stabilisiert und gegen die ‚Wahrheit‘ immunisiert, die Welt der Fakten und Erkenntnisse kann ihr nichts mehr anhaben. Sie tritt nun der Welt ganz unbescheiden gegenüber, hier kehrt sich, so könnte man Sartre ergänzen, die Unaufrichtigkeit in Arroganz. 31 32 33 … für die sie der ‚normale Aspekt des Lebens‘ ist; vgl. (Sartre 1991, p. 124). Vgl. (Sartre 1991, p. 155). Wer die Anerkennung von ‚alternativen Fakten‘ verlangt, muss selbst nicht davon überzeugt sein, allerdings daran glauben, dass die Realität tatsächlich eine solche ist – aber eben ohne Begleitung wirklichen Überzeugtseins. 283 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 2.2.2. Lüge: Unaufrichtigkeit anderen gegenüber Die Lüge betreffe nach Sartre die Negation, nicht das Bewusstsein: Das Ideal des Lügners sei das zynische Bewusstsein, das die Wahrheit verneine und für sich selbst auch diese Negation verneine. Die Absicht [oder Beteuerung], die Wahrheit zu sagen, werde nur gespielt, gemimt; die Lüge mache die ‚Innenstruktur des gegenwärtigen Bewusstseins‘ nicht sichtbar34. „Durch die Lüge behauptet das Bewußtsein, daß es von Natur aus als dem Anderen verborgen existiert, es profitiert von der ontologischen Dualität des Ich und des Ich des Anderen“ (Sartre 1991, p. 122). Exkurs: Lüge in der Psychoanalyse Die Psychoanalyse Sigmund Freuds, so Sartre, ersetze die Dualität von Täuscher und Getäuschtem durch die von ‚Es‘ und ‚Ich‘, durch die Konstruktion einer Lüge ohne Lügner. Sartre fragt, wo in der Psychoanalyse das ‚Subjekt‘ der Unaufrichtigkeit angesiedelt sei. Das ‚Ich‘ könne es nicht sein (dann wäre es ein Lügner), einzig die Instanz der Zensur komme für die Rolle des Täuschenden infrage, nur sie kenne, was sie verdränge, was also gerade nicht Bewusstseinsgehalt sein solle. Was könne das anderes heißen, so fragt Sartre, als dass die Zensur unaufrichtig sein müsse?35 Die Psychoanalyse installiere also zwischen dem Unbewussten und dem Bewusstsein ein ‚autonomes unaufrichtiges Bewusstsein‘. Der durch Zensur verdrängte ‚unbewusste‘ Trieb generiere einen ‚Verstellungsentwurf‘, der eine Symbolisierung hervorrufe – in Phobie, Fehlleistung oder Traum –, während das Bewusstsein den Sinn (die Wahrheit des verdrängten Triebes) nicht klar erfassen könne. Das Individuum wird von Sartre nicht wie von Freud als eines gedacht, das dadurch bestimmt werde, was es gewesen sei, sondern dadurch, was es zu sein sich wähle.36 Wer wie die Psychoanalyse eine aktuelle Reaktion mit einer früheren erkläre, führe den ‚kausalen Mechanismus‘ wieder ein, am Ende den Determinismus. Für Sartre sei jede Handlung nur als ‚Entwurf seiner selbst auf ein Mögliches hin‘ zu verstehen.37 – Exkurs Ende – 2.3. Erkennen und Verkennen In den Schlussgedanken seiner Wege der Anerkennung stellt Ricoeur die Frage nach dem Verhältnis von reconnaissance und méconnaissance, von Erkennen und 34 35 36 37 Vgl. (Sartre 1991, p. 121). Vgl. (Sartre 1991, p. 129). Siehe im nächsten Abschnitt Bemerkungen zu Schnitzlers Traumnovelle. Vgl. (Sartre 1991, p. 797). 284 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Verkennen.38 In der Phase des Identifizierens von etwas (reconnaissance) schwinge immer schon die Angst vor dem Missgriff mit, „etwas oder jemanden39 für etwas zu halten, was es oder er nicht ist“ (Ricoeur 2006, p. 317). Die Erfahrung des ‚Unkenntlichgewordenen‘ bringe das Vertrauen in die Erkennbarkeit prinzipiell ins Wanken, werde aber am Ende akzeptiert: Anstelle der Furcht vor dem Irrtum trete eine ‚Art Bruderschaft mit dem Irrtum‘, die nun „zu den Zwiespältigkeiten einer unvollendeten, offenen Lebenswelt gehört“ (Ricoeur 2006, p. 318). 2.3.1. Wahrheit: Erkennen und Wiedererkennen Ricoeur formuliert in seinen Wegen der Anerkennung Thesen für eine ‚Philosophie der reconnaissance‘. Die Wiedererkennung oder die Identifizierung eines Gegenstandes (aus anderer Perspektive oder zu einem anderen Zeitpunkt) beruhe auf Wahrnehmungskonstanten, letztlich auf allen ‚Registern der sinnlichen Erfahrung‘40: „Hinsichtlich dieser Gesamtheit von Erfahrungen kann man von ‚Urglauben‘ […] sprechen, womit das Vertrauen in die Beständigkeit der Dinge ausgedrückt wird“ (Ricoeur 2006, p. 90). Ricoeur macht sich über das Phänomen Gedanken, dass man in der Kette von Auftauchen–Verschwinden–Wiederauftauchen einer Person die Veränderung und die Dauer des Verschwindens mit bedenke. Habe man eine Person über Jahre oder Jahrzehnte nicht gesehen, so erkenne man sie an ihren individuellen Zügen, alles andere an ihr zeige die zerstörerische Macht der Zeit.41 Wie schon in seinem Hauptwerk ‚Zeit und Erzählung‘ (hier Band III) kommt Ricoeur auf Prousts ‚Recherche‘ zu sprechen, und zwar auf das Schauspiel eines Diners,42 zu dem als Gäste geladen sind, wer schon vor Jahrzehnten an solchen Abendgesellschaften des Herzogs beteiligt war, nunmehr aber ‚von den Jahren schwer gezeichnet ist, gebrechlich und vergreist‘. Die ‚Künstlerin Zeit‘ sorge für 38 39 40 41 42 Vgl. (Ricoeur 2006, p. 317 ff.). Im zwischenmenschlichen Bereich, so Ricoeur, werde der Irrtum zum Missverständnis; vgl. (Ricoeur 2006, p. 317). Farbe, Klang, Geschmack, taktile Eigenschaften, Gewicht, Bewegung; vgl. (Ricoeur 2006, p. 89 f.). „Emblematisch dafür ist das Altern“ (Ricoeur 2006, p. 92). Die Tischgesellschaft des Herzogs von Guermantes – so referiert Ricoeur in seiner ‚Recherche’ – habe ‚Maske gemacht‘ – Totenköpfe aufgesetzt –; ‚Puppen‘ seien sie gewesen, die man gleichzeitig auf verschiedenen, hinter ihnen gelagerten Prospekten habe betrachten müssen, man sei gezwungen gewesen, „‚sie nicht nur mit den Augen, sondern gleichzeitig mit dem Gedächtnis zu betrachten‘“ (Ricoeur 2007, p. 248.) Um sichtbar zu werden, so der Erzähler der ‚Recherche‘, verlange die Zeit nach Körpern; und wo sie auf sie stoße, bemächtige sie sich ihrer, „‚um den Schein ihrer Laterna magica über sie hingleiten zu lassen“ (Ricoeur 2007, p. 248). Neben dem Altern verliehen Gewöhnung, Kummer, Eifersucht und Vergessen der ‚Künstlerin Zeit‘ ihre Sichtbarkeit; vgl. (Ricoeur 2007, pp. 248, Anm. 38). 285 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. beides, für das Nichterkennen (die méconnaissance) wie auch für das Wiedererkennen charakteristischer Züge (die reconnaissance). Jenes Schauspiel der ‚Maskierung‘ ist für Proust wie für Ricoeur illustrierender Ausgangspunkt für Gedanken rund ums Thema ‚Zeit‘,43 ein Thema, das in der vorliegenden Arbeit nicht weiter verfolgt wird. Die reconnaissance werde also mit der méconnaissance konfrontiert, „dem Unkenntlich(geworden)en als Grenzfall des Irrtums“ (Ricoeur 2006, p. 89). * Was hier kurz aufblitzt, sind die Phänomene Kontrakt und Kommunikation. Selbstheit und Selbigkeit erlauben es dem Individuum, sich als mit sich selbst identisch wahrzunehmen, und zwar im Ausgriff auf die Welt wie im rückwirkenden Bezug der Welt auf sich44. Jeder Kontrakt setzt diesen Mechanismus voraus, aber auch jedes Versprechen (was ihm zugrunde liegt). Die Wiedererkennung durch sich selbst und durch den Anderen gewährleistet überhaupt erst Bestand und Erfüllung von Verträgen. Und ja: Hier kommt die Zeit ins Spiel. Jeder Kontrakt ist das Versprechen einer Leistung in der Zukunft, der Kontraktschließende muss sich auf den Anderen verlassen können, dass er beim Wiederauftauchen auch noch derjenige ist, der die eingeforderte Leistung zu vollbringen versprochen hat. Aufrichtigkeit oder Ehrlichkeit Sartre beobachtet einen Kellner im Café. Dieser spiele Kellner sein, dieses Spiel sei eine Art Zurechtfinden, ein Bündel von Zeremonien seines Berufs, wie der ‚Tanz des Lebensmittelhändlers, des Schneiders, des Auktionators‘.45 Der Kellner sei nicht an-sich Kellner, wie das Tintenfass an-sich ein Tintenfass sei. Der Kellner sieht sich Verhaltensweisen, Pflichten, Rechten gegenüber, also Möglichkeiten, die zu ergreifen der Kellner-in-spe sich entscheidet, wenn er die Rolle zu spielen beginnt. Er sieht sich einer Transzendenz gegenüber, einer Vorstellung46 (von dem, was einen Kellner ausmacht), die er nicht sei, die er aber im Selbstentwurf spielen könne. Er mache die typischen Bewegungen seines Berufs, so wie der Schauspieler die Figur des Hamlet mime.47 43 44 45 46 47 Ricoeur ist ‚fiktiven Zeiterfahrungen‘ in ‚Mrs. Dalloway‘, im ‚Zauberberg‘ wie eben auch in der ‚Recherche‘ nachgegangen. … auf ethischem oder juristischem Feld am deutlichsten in der Übernahme von Verantwortung; siehe unten Ausführungen im Kapitel E.3 zum Gewissen. Vgl. (Sartre 1991, p. 140). Siehe auch oben die Ausführungen Ricoeurs zu Praktiken und Lebensplänen (in Kapitel D.2 zur Begrenzung der Autonomie). Der Kellner vergleiche sich mit den zum Analogon genommenen typischen Bewegungen des imaginierten Kellners; vgl. (Sartre 1991, p. 141). Sartre erweitert im Anschluss das Rollenspektrum und dehnt seine Gedanken auf Verhaltensweisen und Haltungen aus. Der Schönredner sei der, „der reden spielt, weil er nicht redend sein kann“ (Sartre 1991, p. 142). 286 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Ehrlich seien wir in dem Bewusstsein, dass unser Werden auf ein An-sichSein hin vergeblich sei, in jeder Setzung eines solchen Seins seien wir schon darüber hinaus, wir überschritten noch jedes An-sich-Sein auf ein Leeres hin, auf ein (Noch-)Nichts.48 Ansonsten würde ich mich nur als ein Ding entwerfen, als ein erstarrtes Etwas. Meine Faktizität49 ist für Sartre nur ein Hinweis auf ein Nichtsein, das ich erreichen müsse, um das zu sein, was ich eigentlich sei.50 Das bloße Faktum, ‚da zu sein‘, könne vom Selbst in seiner ‚rohen Nacktheit‘ gar nicht erfasst werden, das Für-sich „wird in sich immer nur Motivationen entdecken, das heißt, es wird dauernd auf sich selbst und seine konstante Freiheit verwiesen (Ich bin da, um … usw.)“ (Sartre 1991, p. 180). Die prinzipielle Offenheit gegenüber Selbstentwürfen wird nur scheinbar vom Phänomen des Versprechens konterkariert, tatsächlich ist das Versprechen Ausdruck der Selbstheit, also des Kerns der Autonomie des Individuums, das sich trotz aller Offenheit gegenüber Wechsel und Neubestimmung auf die Einlösung einer bestimmten Leistung in der Zukunft verpflichtet. Verlässlichkeit sozusagen als der höchste Ausdruck der Ipseität.51 Auch hier stellt sich die Frage nach der Ehrlichkeit sich selbst gegenüber – wie oben bei der Besprechung des Phänomens der Unaufrichtigkeit. Ist die Frage nach dem ‚Wer bin ich eigentlich?‘ eine Frage, die sich Figuren in Erzählungen stellen? Sucht der Taugenichts auf seiner Reise sich selbst, sucht Fridolin auf der Reise in sein Unterbewusstsein sich selbst? Und Hauke Haien und Faust? Sprengen fiktive Figuren ihr heimatliches Entfremdungskorsett, um sich zu finden, wie sie ‚eigentlich‘ sind? Ich habe bereits oben ausgeführt, dass die Ent-Entfremdung nicht auf ein hypostasiertes Das-bin-ich-eigentlich zurückführt (was nur die Flucht in ein anderes Man bedeuten würde), sondern in einen Freiraum, in dem der Held mit äußeren und inneren Potentialen konfrontiert wird, die ihm Perspektiven des – wie Heidegger sagt – ‚eigensten Seinkönnens‘ eröffnen. Der Moralische Pakt, so sei die Nebenbemerkung erlaubt, besetzt diesen Freiraum mit den Vorgaben von Konkurrenz und Kontrakt – Herausforderung und Verlässlichkeit – und schränkt damit die Autonomie des Individuums am Ende doch ein, des entfremdeten wie auch des emanzipierten Selbst. Ganz gleich, ob das Selbst sich in existentialistisch verstandener Aufrichtigkeit dem eigentlichen Seinkönnen oder aber unaufrichtig dem Man unterordnet – es entkommt in keinem Fall der Unterwerfung unter die Vorgaben Kon48 49 50 51 Ergänzung in Klammern von mir. Bei der Frage der Faktizität des Für-sich geht es offensichtlich nur um die reine Seinsbestimmung, nicht bereits um die Rolle, die das Subjekt spielt. Und dieses Eigentlich-Sein, so müsste es konsequent heißen, wäre auch wieder nur etwas ‚Vorläufiges‘, eben nur ein kurzfristiges An-sich, das dem Individuum nur gerecht würde, wenn es sich wiederum zu einem neuen, noch nicht realisierten Für-sich entwürfe. Das ist, wie oben erwähnt, der Kern der Ricoeur’schen Sicht auf die Selbstheit. Vgl. Ausführungen zu den gerechten Institutionen in Kapitel D.2. 287 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. kurrenz und Kontrakt des Moralischen Paktes, nämlich der Akzeptanz der auf Kampf bezogenen Herausforderungen in hinreichender Verlässlichkeit. Der Ort, an dem das Selbst mit seiner inneren Stimme konfrontiert wird, die vernehmbar zur Ehrlichkeit aufruft, aber auch stumm bleiben kann, dieser Ort ist das Gewissen. Eine Instanz, die für die Selbstpositionierung des Subjekts auf dem veridiktorischen Quadrat zuständig und verantwortlich ist. Es ist die Instanz, die das Individuum in eine der vier Ecken des Quadrats ruft. 2.3.2. Geheimnis: Verkennen Und die Negationen, die méconnaissance? Verstellung und Maskerade sind – in einem weiten Sinn – das Selbst als ein Anderer, und zwar auf der Ebene des Scheins, nicht mehr des Seins: Das Selbst scheint anders zu sein, als es ist. Das Existierende wird nicht sichtbar, es verstellt sich, legt Maske (persona) an. Die Verstellung vor sich selbst, sozusagen die passive (Selbst-)Verkennung liege dann vor, wenn das Individuum sich fehlerhaft einschätze, wenn es noch etwas anderes sei, was sich im Moment nicht zeige. Der Unterschied zur oben besprochenen Falschheit liegt darin, das zwar beide – also Geheimnis und Falschheit – für Dritte nicht sichtbar sind (beide teilen sich das Element des Nicht-Scheinens), aber dem verbergenden Geheimnis liegt die Wahrheit zugrunde, also ein Sein, während die Falschheit nicht einmal mehr das aufweisen kann, in ihr verschwistern sich Nicht-Scheinen und Nicht-Sein: Die Falschheit versucht sich selbst mit windigen Gründen davon zu überzeugen, dass das Individuum oder die Welt so sind, wie sie es sich vorgaukelt. Während hingegen das Geheimnis, wenn es gelüftet wird, nicht ins Leere blicken muss – so beispielsweise der Held auf seinem Weg in die Emanzipation, sich befreiend aus den Fängen des entfremdenden Man, aus dem Korsett gesellschaftlich geprägter Selbst-Verkennung.52 Und die Verstellung vor den Anderen, die passive (Fremd-)Verkennung? In Albert Camus’ Theaterstück Das Missverständnis53 (Le malentendu), so Greimas, liege die überzeugende Handlung des Helden im Verheimlichen seiner wahren Identität unter der irreführenden Erscheinung eines Fremden (das Altern habe den Sohn für seine Eltern unerkennbar gemacht). Dieser etabliere also mit der Verbindung von Sein (= seiner Eigenschaft als Sohn) und Nicht-Scheinen (= der Abwesenheit von Markierungen seiner Herkunft) einen Zustand des Geheimnis52 53 … ein Korsett, das vom entfremdeten Selbst auch durchaus als verlockendes Gewand empfunden werden kann. Ein Mann kehrt zur Übernachtung in einem Gasthaus ein, ohne seine Identität preiszugeben. Er wird in der Nacht von den Wirtsleuten um seines Geldes willen getötet. Anschließend erkennen sie, dass sie ihren eigenen Sohn umgebracht haben, der sie vor langer Zeit verlassen hat. Der Mann, den sie aufgenommen haben, schien ein Fremder gewesen zu sein, während er in Wirklichkeit ihr Sohn war; vgl. (Greimas, 1989, p. 571). 288 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. ses. Vom Standpunkt seiner Eltern aus betrachtet scheine das Verhalten ihres Sohnes insoweit irreführend, als er von seinem Äußeren her als Fremder auftrete, nicht aber als das verborgene Sein (‚appearance‘ vs. ,being‘), nämlich als ihr Sohn. Das interpretative Handeln der Eltern führe später zur Wahrheit – allerdings unterstützt durch eine dritte Partei, die die Leiche des inzwischen getöteten Sohnes identifiziert. Bis dahin aber haben die Eltern ihren Sohn nicht erkannt, sind auf das „Schauspiel der ‚Maskierung‘ der vom Alter verwüsteten Gesichter“ hereingefallen (Ricoeur 2006, p. 94 f.). 2.4. Aufrichtigkeit und Unaufrichtigkeit in der Literatur „So tickte nun auch in Lavie die innere Uhr der Lüge. Die Zeiger zählten die Minuten, die zu Stunden, zu Tagen wurden. Im Stillen fragte er sich, ob die Zeiger sich wohl in alle Ewigkeit drehen würden, wenn die Wahrheit nie ans Licht kam. Waren die unentdeckten Lügen nicht zahlreicher als die entdeckten? Kleine, harmlose Geschichten, die sich in den Alltag webten, bis niemand mehr zwischen wahr und erfunden unterscheiden konnte. Die Zeit knetete alles zu einem einzigen Teig zusammen. Gewesen oder nicht gewesen – was änderte das schon groß?“ (Gundar-Goshen 2017, p. 145) Die Motive Lüge, Wahrheit, Geheimnis und Falschheit sind Legion in literarischen Werken. Hierzu möchte ich kurz einigen Assoziationen Raum geben. Iphigenie Während Antigone an das Recht der Götter aufrichtig glaubt, ist Iphigenie Thoas gegenüber zunächst unaufrichtig. Allerdings hält sie diese vertrauenzersetzende Unaufrichtigkeit nicht aus, sie will zur Wahrheit zurückkehren und Realität und Idealität versöhnen. Damit drückt sie eine doppelte Zuversicht aus: zum einen Thoas gegenüber, dass er sich aus seinem An-sich in ein neues generöses Für-sich wandelt, also sein altes, bekanntes An-sich als Despot überwindet. Und zum anderen ihr Vertrauen auf die Ideale von Familie und Humanität, denen sie sich verschrieben zu haben glaubt; und diese erlauben weder Lüge noch Unaufrichtigkeit. Iphigenie verschreibt sich dem, was sein sollte, aber (noch) nicht ist. Das ist nicht mehr und nicht weniger als ein Ideal. Einzig die Kontingenz einer paradoxen Herrschergestalt (Thoas in der Zerrissenheit zwischen absolutem Herrscher und nachgiebigem Humanisten) lässt das Schauspiel untragisch enden. Goethe wollte es so. 289 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Faust Ist Mephistopheles’ Verhalten Ausdruck von Lüge oder Unaufrichtigkeit? Nach dem Sartre’schen Modell eigentlich keines von beiden: Lüge nicht, weil er sich nicht verstellt und Faust gegenüber seine eigene Funktion im Weltgetriebe ausführlich erläutert54, er will ihn nicht überreden, sondern überzeugen. Und Unaufrichtigkeit nicht, weil er sich einerseits nicht selbst betrügt, sich nichts vormacht und andererseits im Grunde vor allem den Status eines An-sich hat, kaum den eines Für-sich (er entwirft seine Zukunft nicht, sie ist auf alle Ewigkeit nach Gottes Plan festgeschrieben).55 Mephistopheles’ Autonomie beschränkt sich auf die Wahl geeigneter Mittel in kontingenten Situationen, in denen er sich wiederfindet; also lediglich im Bereich der klugen Wahl der phrônesis, gemäß seinem göttlichen Auftrag als Versucher. Faust hingegen hat die echte Wahl eines Entwurfs, er ist in der Lage, aus dem Pakt eine Wette zu gestalten, er ist in der Lage, die Angebote Mephistopheles’ distanziert zu begutachten, sie anzunehmen oder auch spöttisch abzulehnen. Doch die eigentliche Autonomie zeigt er im Wettabschluss. Faust kennt die Dialektik von Begierde und Befriedigung, weshalb er glaubt, die Wette getrost eingehen zu können.56 Er führt Mephistopheles nicht hinters Licht, aber als intellektuell ihm Überlegener täuscht er ihn. Selbst als er die Wahrheit jener Dialektik erläutert57, scheint sein Gegenüber kaum eine Chance zu haben, die Tiefgründigkeit nachzuvollziehen. Sein und Schein fallen zusammen, allerdings nur auf der Seite des Senders, dem Empfänger scheint der Sinn verborgen zu bleiben. Das macht aus der Wahrheit auf der Seite des überzeugenden Handelns ein Geheimnis (Sein und Nichtscheinen). Deutlich wird das in den Repliken Mephistopheles’, die Verständnisprobleme Fausts Aussagen gegenüber aufweisen. Hierzu ist oben in den Ausführungen zur Begierde genügend gesagt worden. Tonio Kröger Ähnlich wie Gustav Aschenbach lässt Thomas Mann seinen Helden Tonio Kröger ‚erwachen‘, erwachen aus ‚der Erstarrung, der Öde, des Eises‘, in das er sich als Künstler eingehaust hat. Im Dunkeln sich verbergend, berauscht er sich an einem Ball, am Tanz seiner Jugendlieben, eifersüchtig auf die ‚Blonden, Leben- 54 55 56 57 Eine Verstellung oder Täuschung liegt höchstens insoweit vor, als Mephistopheles Faust verheimlicht, dass sein Paktangebot nur die Konsequenz einer Wette zwischen ihm und Gott ist; ansonsten aber fallen Sein und Schein zusammen. Mephistopheles ist, wenn man das so pointiert sagen möchte, dem göttlichen Man verfallen. Vgl. oben Ausführungen zur Wette in Kapitel C.2 zur Begierde (in Selbsterkenntnis II). … nicht zuletzt dem Zuschauer gegenüber. Dieser kann und soll Faust verstehen. 290 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. digen, Glücklichen‘.58 Tonio Kröger scheint in seinem Versteck auf einer Veranda – mit ‚diebischem‘ Genuss, „hier im Dunkeln stehen und ungesehen Die59 belauschen zu dürfen, die im Lichte tanzen“ (Mann 1998, p. 65) –, er verkörpert hier für andere das Geheimnis, das Nicht-Scheinen-Wollen eines Seins. Er gibt sich dem Gefühl hin, leben zu dürfen, aber relativiert seinen Rausch, er trennt Handlung und Beobachtung, er weicht der Handlung aus, der Verpflichtung, ‚zur Tat und zum Tanz zu werden‘, im Versteck bleibt er bei sich, ‚süß und träge in sich selber ruhend‘.60 Anders als Aschenbach entscheidet sich Kröger für die Rückkehr, den sicheren Hafen der Kunst, auch wenn er damit auf das Tun, auf das Leben verzichtet oder besser: sich gegen das Leben der Blonden und Glücklichen entscheidet und für den ‚Messertanz der Kunst‘. Er stehe, so schreibt er am Ende in einem Brief an eine Freundin, zwischen zwei Welten, der der Bürger und der der Künstler. Seine Liebe gehöre den Blonden und Blauäugigen, ohne an deren Leben teilhaben zu können, vor allem aber nicht zu wollen. In dieser Liebe sei Sehnsucht, „Neid und ein klein wenig Verachtung und eine ganz keusche Seligkeit“ (Mann 1998, p. 73). Am Ende findet er also noch in der Distanz zu deren Leben eine geradezu hellsichtige Einschätzung seiner eigenen Lage. Während Aschenbach sich im Rausch buchstäblich ‚auflöst‘, zieht sich Kröger fast erschrocken aus dem Rausch zurück, um sich wieder im sicheren Hafen des Dazwischen einzurichten. Fahrenheit 451 Die Begegnung Guy Montags mit seiner ersten Mentorin Clarisse wirft den Bücherverbrenner im staatlichen Auftrag61 aus der Bahn. Der Riss tritt deutlich zutage: „Er war nicht glücklich. Als er die Worte zu sich selbst sagte, erkannte er, dass sie seinen wahren Zustand wiedergaben. Er trug sein Glück wie eine Maske […]“ (Bradbury 2008, p. 27). Montag erkennt sein bisheriges Leben als fremdgesteuert, als Unaufrichtigkeit sich selbst gegenüber, sein bisheriges Glück als Illusion. Er beginnt heimlich zu lesen und wird am Ende aus seiner Heimatgesellschaft fliehen. Dann wird der Weg in die Fremde buchstäblich dornig,62 gefährlich, er wird verfolgt. Ihm gelingt es zu entkommen und er trifft schließlich auf eine Gemeinschaft abtrünniger Büchermemorierer63. Die 58 59 60 61 62 63 Vgl. (Mann 1998, p. 71). Großschreibung bei Thomas Mann. Vgl. (Mann 1998, p. 70). Die Feuerwehr erhielt die Aufgabe, Bücher zu verbrennen, die als scharf geladene Waffen angesehen wurden: „Man entlade die Waffe. Man reiße den Geist ab“ (Bradbury 2008, p. 84). Die Feuerwehr wird zum ‚Hüter der Seelenruhe‘. „[…] auf seinem Weg durch dorniges Gestrüpp […]“ (Bradbury 2008, p. 189). Granger erläutert Montag das Verfahren: „Auch wir sind Bücherverbrenner. Wir haben die Bücher gelesen und sie dann verbrannt, aus Angst, sie könnten gefunden werden. […] 291 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Fremde wird ihm zur neuen Heimat, ganz ohne Deformation und Verzerrung. Aus der Unaufrichtigkeit der Entfremdung des Feuerwehrmanns wird die Aufrichtigkeit seinem ‚eigensten Seinkönnen‘ gegenüber. Am Ende des Romans beobachtet die Gruppe einen Krieg gegen die Stadt, der Montag gerade entflohen ist, einen Krieg, der nicht länger als drei Sekunden dauert: Durch feindliche Bomber wird die Stadt pulverisiert. Montag hat überlebt und wird heimisch in seiner neuen, lose vernetzten Gesellschaft, einer bücheraffinen und geisteszugewandten Gesellschaft. Die Begriffe Heimat und Fremde haben in Ray Bradburys Roman endgültig ihre Plätze getauscht. Der Schluss ist märchenhaft, die Elemente des Moralischen Paktes scheinen genauso zu Staub geworden zu sein wie die bombardierte Stadt. Allerdings bricht hier die Erzählung ab – und das ganz im Sinne meiner Grundthese: Wo nur Einklang und Solidarität herrschen, gibt es kaum noch Erzählenswertes. Am Ende des Romans erhalten die Zeitekstasen auch erzählerisch ihre Rollen: Das in der Erinnerung aufbewahrte ‚Kulturgut‘ der gelesenen Bücher gehört der Vergangenheit wie der Zukunft an, sozusagen als Klammer, die für eine gute Zukunft, für ein Ideal genutzt werden soll: Mit ihren Erinnerungen würden sich die Büchermemorierer auf Dauer durchsetzen, so Granger, einer von Montags Begleitern: „Und eines Tages erinnert sich der Mensch an so viel, dass er den größten Bagger aller Zeiten herstellt und das größte Grab aller Zeiten aushebt und den Krieg hineinbefördert und das Ganze zuschüttet“ (Bradbury 2008, p. 213). Doch unterhalb des Idealismus schlummern die Elemente des Moralischen Paktes, sie befinden sich lediglich in Wartestellung, ihr Erwachen zeichnet sich im Ziel der wandernden Exilanten ab: „Wenn wir zur Stadt kommen“ (Bradbury 2008, p. 214). Konfliktfrei wird, so ahnt der Leser, der Aufbau auch einer nicht-deformierten Gesellschaft nicht zu haben sein. Traumnovelle Verfängt sich Schnitzlers Novelle in Sartres Kritik an der Psychoanalyse? Verkörpern Fridolin und Albertine die psychoanalytische Unaufrichtigkeit? Fridolin verbirgt seine Strafgelüste Albertine gegenüber und scheint nur seinen sexuellen Gelüsten – wie gehemmt und subtil auch immer – nachgeben zu wollen. Beide Figuren bewegen sich in Traumwelten (also in einer fiktiven Welt zweiten Grades), nur dass Albertine Fridolin direkt am Kreuz bestraft64 (und ihm damit die Schuld aller Männer aufbürdet), während Fridolin sie im Sinne des do-ut-des, also des ursprünglichen Tauschverhältnisses, das zurückzahlen will, 64 So bewahren wir die Dinge eben im Kopf auf, wo sie niemand sieht oder vermutet“ (Bradbury 2008, p. 198). „[…] ich aber sah zugleich, wie man ein Kreuz für dich aufrichtete […]“ (Schnitzler 2012, p. 68). 292 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. was sie ihm, wenn auch nur in Gedanken, angetan haben soll.65 Sartres Beschreibungen sind hier durchaus erhellend: „Und wie lassen sich […] die Lust und die Angst erklären, die die symbolische, bewußte Befriedigung des Triebs begleiten, wenn das Bewußtsein nicht jenseits der Zensur ein dunkles Verständnis des zu erreichenden Ziels einschließt, insofern es gleichzeitig ersehnt und verboten ist?“ (Sartre 1991, p. 130) Die Ausgangsfrage ist zu bejahen: Schnitzler zeigt seine Figuren als von Vergangenem geprägt, wenn auch Albertine diese Fixierung am Ende relativiert, indem sie das Gegenwärtige betont: Fridolin wollte sie ergänzen, dass sie nun für immer erwacht seien, aber sie legt ihm einen Finger auf die Lippen und flüstert: „Niemals in die Zukunft fragen“ (Schnitzler 2012, p. 98).66 Nora Henrik Ibsens ‚Nora oder Ein Puppenheim‘ illustriert ein Spiel, das Sartre als ‚Duplizität des Menschen‘ beschreibt, als ein Changieren zwischen Für-sich- und Für-Andere-Orientierung, als ständiges ‚Entwischspiel‘.67 Ohne Wissen ihres schwerkranken Mannes Torvald Helmer hat Nora Jahre zuvor einen Kredit aufgenommen, um eine lebensrettende Kurreise ihres Mannes nach Italien zu finanzieren; auf dem Schuldschein allerdings hat sie die Unterschrift ihres Vaters gefälscht. Unaufrichtig ist sie ferner, als sie für ihn die Rolle des Kind-Ich68 – des ‚Singvögelchens‘, des ‚kapriziösen Capri-Mädchens‘, ‚des süßen, kleinen Dings‘ – übernimmt und ihm damit die Rolle des Eltern-Ich überlässt (erst am Ende in der großen Aussprache oder Abrechnungsszene69 zeigt sie ihr eigentliches, ihr Erwachsenen-Ich). Nora glaubt, dass Ehrlichkeit ihn demütigen, ihr Verhältnis völlig durcheinanderbringen könnte.70 Schon am Ende des ersten Aktes, also noch weit vor der Enthüllung, spricht Helmer über die moralische Zerrüttung von Noras Kreditgeber Krogstad, der sich ebenfalls einer Unterschriftenfälschung schuldig gemacht hat (Prolepse auf Noras Schuld): „Überleg dir bloß mal, wie so ein schuldbewußter Mensch lügen und heucheln und sich nach allen Seiten verstellen muß; seinen Allernächs- 65 66 67 68 69 70 Albertines erstes Geständnis zum ‚sehr hübschen jungen Mann‘ am Wörthersee kurz vor ihrer Verlobung mit Fridolin; vgl. (Schnitzler 2012, p. 16). Allerdings beendet der Erzähler die Novelle mit einem Blick in die nahe Zukunft: bis mit „einem sieghaften Lichtstrahl durch den Vorhangspalt und einem hellen Kinderlachen von nebenan der neue Tag begann“ (Schnitzler 2012, p. 98). „Die gleiche Seinswürde meines Seins für Andere und meines Seins für mich selbst ermöglicht eine ständig sich auflösende Synthese und ein ständiges Entwischspiel des Fürsich zum Für-Andere und des Für-Andere zum Für-sich hin“ (Sartre 1991, p. 137). Ich erlaube mir in diesem Zusammenhang die Begriffe der Transaktionsanalyse zu verwenden. Vgl. (Ibsen 2016, p. 97 ff.). Vgl. (Ibsen 2016, p. 25). 293 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. ten, ja, sogar seiner eigenen Frau und seinen Kindern gegenüber muß er eine Maske tragen“ (Ibsen 2016, p. 46). Als nun Noras Maske fällt, bricht für Helmer eine Welt zusammen. Für ihn ist sie „eine Heuchlerin, eine Lügnerin, – schlimmer, schlimmer, – ein Verbrecherin! – Oh, diese bodenlose Häßlichkeit, die in all dem liegt! Pfui, pfui!“ (Ibsen 2016, p. 92). In Noras Abrechnung am Ende führt Ibsen seine beiden Hauptfiguren in ihrer eigentlichen Natur vor. Nora präsentiert sich nun als autonome Person, ihrer Verstellung ledig – kurz vor diesem Gespräch fragt Helmer durch die Alkoventür, was sie dort mache, und sie antwortet: „Das Maskenkostüm loswerden“ (Ibsen 2016, p. 95). Sie überantwortet sich vollständig der Wahrheit. Zur Maskenmetapher gesellt sich die zweite, die titelgebende Metapher des Puppenheimes: „Unser Heim war nichts weiter als eine Puppenstube. Hier war ich deine Puppenfrau, so wie ich zu Hause Papas Puppenkind war“ (Ibsen 2016, p. 98). Helmer allerdings präsentiert sich immer noch in seiner alten, vermeintlich überlegenen Rolle71 und ist überzeugt, dass nun die Zeit der Erziehung Noras anbrechen werde. Nora weist ihn darauf hin, dass sie nur noch Pflichten gegen sich selbst akzeptiere, gegen sich selbst als Mensch.72 Alles, was er ins Feld führt, stellt sie in Abrede, weil alles auf den Prüfstand gehöre: heiligste Pflichten der Familie gegenüber, die Religion, die Gerechtigkeit, das Gewissen. Sie will herausfinden, „wer recht hat, die Gesellschaft oder ich“ (Ibsen 2016, p. 101). Prägnanter kann man die Entdeckung des eigenen Kerns, des ‚eigensten Seinkönnens‘ gegenüber dem nun abgeschüttelten Man kaum formulieren. Nora verlässt Helmer als einen ‚Fremden‘ und macht ein erneutes Zusammenkommen von seiner ‚Verwandlung‘ abhängig – aber sie sieht diese Möglichkeit eher im Reich des ‚Wunderbaren‘.73 Nora hat augenscheinlich mit Helmer konkurriert, der durchaus Gewalt anzuwenden in der Lage gewesen ist – vom Potential ähnlich wie Thoas Iphigenie gegenüber. Und die Prüfung ist für Nora nichts weiter, als den Kampf aufzunehmen und sich aus dem Gespinst der Unaufrichtigkeit zu befreien, komme, was wolle. Auch hier zeigt sich die Parallele zu Iphigenie, auch sie scheint nicht anders zu können, als sich am Ende für die Aufrichtigkeit zu entscheiden. Ihr Ausweg war es, das eine Horn des Dilemmas zu fassen und ihre ‚Schuld‘ einzugestehen – mit allen Konsequenzen für sie und Helmer. * 71 72 73 … verlässt also die Rolle des Eltern-Ich nicht. Nora: „[…] Ich glaube, daß ich in erster Linie ein Mensch bin […]“ (Ibsen 2016, p. 100). … woran sie allerdings nicht mehr glaubt: „[…] ach, Torvald, ich glaub’ nicht mehr an irgendwas Wunderbares“ (Ibsen 2016, p. 105). 294 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Das Phänomen der Unaufrichtigkeit scheint ein erzählkonstituierendes Element zu sein. Schon beim Kontraktabschluss sind Faust und Mephistopheles nicht ganz aufrichtig,74 ebenso Iphigenie, Nora, Nuphar75 oder Montag. Legte man hier das modifizierte Transformationsmodell zugrunde, so ist der SubjektAktant oder auch der Held in nahezu jedem narrativen Programm unaufrichtig: In der Anfangsphase ist er in der Regel noch sich selbst, seiner eigentlichen Autonomie gegenüber entfremdet, in der Übernahme des Kontrakts ent-entfremdet er sich zwar, wird den Zweck seiner Reise zumeist nicht an die große Glocke hängen, auf seiner Reise in und durch die fremde Welt, vor allem in der Hauptprüfung, wird er sich womöglich wiederum verstellen müssen. Das Spiel von Verstellung und Maskerade kann wie beim Taugenichts die gesamte Reise prägen. Nur am Ende kommt die Aufrichtigkeit zwingend ins Spiel, spätestens bei der glorifizierenden Prüfung und der ‚Belohnung‘ des Helden. 74 75 Über den Wissensvorsprung Mephistopheles’ verfügt Faust nicht, während Mephistopheles Fausts Kernanliegen nicht vollständig einzuschätzen weiß. Die Zuschauer haben im äußeren Kommunikationssystem ‚Theater‘ den Vorsprung, in der Expositionsphase des Stückes über beide informiert worden zu sein. Heldin aus Gundar-Goshens Lügnerin; vgl. (Gundar-Goshen 2017). 295 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. E.3. Das Gewissen Ricoeur stellt sich in seinen Ausführungen zum Gewissen76 drei ‚Herausforderungen‘. Zunächst fragt er nach den ‚verdächtigen‘ Begriffen des guten und schlechten Gewissens, konfrontiert uns also mit einer Frage, die ihn rasch zur philosophischen Kritik an der Institution des Gewissens führt. Anschließend öffnet sich der Weg zu den Begriffen von Aufforderung und Schuld. Und die dritte Herausforderung wird zum Kern der Ricoeur’schen Unternehmung führen, zur Frage nach dem Anteil der ‚Andersheit am Gewissen‘. 3.1. Die Rolle des Gewissens Das Gewissen ist die ‚Gewissheit seiner selbst als äußere Normen akzeptierend‘. Es gehört dem aus dem Teil A bekannten autonomen Subjekt in seiner Doppelrolle als Herrscher und Untertan an. Es stellt letztlich die wesentliche Institution im Individuum dar, die für die moralische Ausrichtung eigenen und die Beurteilung fremden Handelns zuständig ist. Ich orientiere mich bei der Gliederung dieses Abschnitts ein weiteres Mal an Ricoeur. Wir sprachen oben im Teil C über die ersten beiden Elemente des ‚Dreifußes der Passivitätserfahrungen‘77 des Individuums, über die Leiblichkeit als erste selbstbezogene Erfahrung wie über die zweite Erfahrung des Anderen als eines Gegenübers. Und hier – im Kapitel zum Wissen – drängt sich das dritte Element auf, die Passivitätserfahrung des Gewissens. Damit scheint auf den ersten Blick das, was in der Leiblichkeit noch völlig bei sich war und in der Erfahrung des Anderen außer sich, zum Ich zurückzukehren: der Andere sozusagen im Selbst. Das Gewissen übernimmt in der Konstitution der narrativen Identität (aber auch der personalen) eine für moderne Gemeinwesen zentrale Rolle. Das ist Kern und Ziel nicht nur dieses Teils E zum Wissen. Im Gewissen kommen der Andere und das Selbst im Ich versöhnt zur Ruhe. Aus einer Opposition wird ein Miteinander78. Die Frage, die sich logisch anschließt, wird später in einer Fortführung der vorliegenden Arbeit beantwortet werden: Ist das Gewissen auch die Mitte zwischen Erzähler und Leser, was deren Übereinkunft im Moralischen Pakt angeht? Reicht die Redensart ‚Jemandem-ins-Gewissen-reden‘ womöglich über das Alltagsverständnis hinaus in den Bereich der Literatur? Redet 76 77 78 Vgl. (Ricoeur 2005, p. 410 ff.). (a) Passivität in der Erfahrung des Eigenleibes als Vermittlung zwischen dem Selbst und einer Welt; (b) Passivität im Verhältnis des Selbst zum Fremden innerhalb der intersubjektiven Beziehungen; (c) Passivität im Verhältnis des Selbst zu sich selbst: das Gewissen. … was im abschließenden Teil F zur Anerkennung ausgeführt wird. 296 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. der Erzähler dem Leser – sehr vermittelt und strukturgebunden – ins Gewissen? Und wäre damit der Moralische Pakt ebenjene Institution, die das Lesergewissen für die Stimme des Erzählers öffnet? Solche Fragen müssen aufgeschoben werden. 3.2. Herausforderung I: Vom guten und schlechten Gewissen 3.2.1. Gewissen und Autonomie Bevor wir uns mit Ricoeur den ‚verdächtigen‘ Begriffen des guten und schlechten Gewissens zuwenden, blättern wir noch einmal in Hegels ‚Phänomenologie des Geistes‘. Dort erläutert er zur Doppelnatur des Gewissens79, dass es zum einen abstrakt und allgemein sei, indem es sich auf die reine Pflicht (nicht aber auf konkrete Pflichten) beziehe – also auf eine leere Abstraktion80 –, und zum anderen konkret und besonders, indem es sich in einer wirklichen Handlung äußere. Diese Doppelnatur schlage sich im Selbst insofern nieder, als es einerseits der Form nach ‚reines Denken‘ sei und andererseits dem Inhalt nach als moralisches Tun ‚unmittelbare Einzelheit‘.81 Die eine Seite der Doppelnatur, die reine Pflicht oder das reine, allgemeine Wissen, werde zum eigenen Wissen des Selbst und darin zur Überzeugung (oder im eigentlichen Sinn zur reinen, inhaltsleeren Selbstverpflichtung). Der zweite Teil – der Übergang zur konkreten Handlung – führe zum Anderen. Das Wissen über Gesetz und Pflicht trenne sich bereits vor aller Handlung vom Einzelnen und zeige sich als ‚Sein für anderes‘. Sobald das Gewissen seinen Status der Gewissheit der reinen Pflicht auf die Wirklichkeit hin übertrage, habe es mit der Wirklichkeit eines ‚Falls‘ zu tun, das eigene Wissen gelte dem Gewissen in aller Unvollständigkeit als ‚hinreichend vollkommen‘82. Die Willkür des Individuums, so Hegel, fülle im Blick auf die ‚Vielheit der Umstände‘83 das leere Gefäß der reinen Pflicht mit Inhalt auf: „dieser Inhalt ist ihre aufgehobene Leerheit oder die Erfüllung“ (Hegel 1988, p. 426). 79 80 81 82 83 Vgl. (Hegel 1988, p. 416 ff.). Hier steht Hegel Kant sehr nahe. Dazu gleich weitere Ausführungen. Vgl. (Hegel 1988, p. 419). Nur am Rande der Bezug auf ein narratives Thema: Der von sich selbst überzeugte Held/ Anti-Held/Narr sieht nur die Geltung seines eigenen Gewissensbestandes und die hinreichende Kenntnis aller Handlungsoptionen. Er weiß von der Gefahr eines unzureichenden Wissens, projiziert diesen Mangel aber auf die Anderen, in der Regel seine Gegner. Beliebtes Konstrukt in Kriminalromanen, in denen der Verbrecher glaubt, seinen Verfolgern, meist dem Polizisten oder Detektiv, überlegen zu sein, gerissener, schlauer. Umgekehrt natürlich auch: Überlegenheit des Detektivs gegenüber dem Verbrecher. … eine Vielheit von Umständen, „die sich rückwärts in ihre Bedingungen, seitwärts in ihrem Nebeneinander, vorwärts in ihren Folgen unendlich teilt und ausbreitet“ (Hegel 1988, p. 422). 297 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Warum erscheint nun aber der aus der Willkür des Einzelnen gespeiste Inhalt der ansonsten leeren reinen Pflicht überhaupt als Pflicht? Weil ihm, so Hegel, nichts anderes zur Verfügung stehe als sein natürliches Bewusstsein. Zur Überzeugung (als Pflicht) könne ein Inhalt nur werden, wenn Form (reine Pflicht) und Inhalt (Sinnlichkeit) ihren Ursprung in der Autonomie des Selbst84 hätten. Dieser Gedanke mutet zunächst formal an. Nur weil das Individuum die Pflicht als Form und den Inhalt des Falls aus sich selbst heraus generiere, soll es davon überzeugt sein? Banaler Gedanke oder brauchbare Erkenntnis? Erinnern wir an dieser Stelle an Sartres Gedanken zur Unaufrichtigkeit. Auch er spricht von der Überzeugung, also durchaus im Sinne Hegels davon, dass das Individuum Form und Inhalt aus sich selbst schöpfe. Allerdings muss das Sartre’sche Individuum sich zur Überzeugung entschließen, es muss am Ende an sie glauben. Und dazu ist immer schon ein entsprechender Wille vorausgesetzt, genauer: ein dem Willen zugrunde liegender Initialentwurf. Bei Sartre ist es der Entschluss des Selbst, ganz ‚bescheiden‘ an eine eigentlich gar nicht überzeugende Überzeugung zu glauben, bei Hegel ist es die Willkür des Selbst, das leere Gefäß der Pflicht mit einem Inhalt zu füllen. Und das ist auch die Antwort auf die Frage, was die Pflicht zur Pflicht mache: eben der Wille85, und das ist das eigentliche ‚Subjekt‘ der Zusammenführung von Pflicht und Fall, eben die Stimme der Autonomie. Auch bei Hegel kommt der Wille ins Spiel und das nicht nur als bloße Willkür bei der Geltendmachung der eigenen Wünsche und Begehrlichkeiten. Das Gewissen nämlich, so Hegel, sei der Wille des Guten. Schauen wir etwas genauer hin, und zwar zunächst auf die Hegel’sche Unterscheidung von Handlung und Beurteilung, von Heuchelei und Verstocktheit. 3.2.2. Das beurteilende und handelnde Bewusstsein Ein Bewusstsein, das ein anderes, handelndes Bewusstsein beurteile, greife, so Hegel, über das äußerlich Sichtbare hinaus und projiziere die Handlung ‚in das Innere‘ des Handelnden, um dort Absichten und eigennützige Triebfedern auszumachen. Ein solches beurteilendes Bewusstsein sei ‚niederträchtig‘, bediene sich der Heuchelei, spreize sich in ‚Eitelkeit des Gut- und Besserwissens‘.86 Beide Gewissen – das des beurteilenden wie das des handelnden und sich rechtfer84 85 86 „[…] in der Kraft der Gewißheit seiner selbst hat es [das Gewissen] die Majestät der absoluten Autarkie, zu binden und zu lösen“ (Hegel 1988, p. 426). Die unmittelbare Gewissheit seiner selbst sei als Inhalt „das natürliche Bewußtsein, das heißt, die Triebe und Neigungen“ (Hegel 1988, p. 423) – also das, was Kant kategorisch ausschließt. … bei Sartre Entschluss, bei Hegel Willkür. Vgl. (Hegel 1988, p. 438). 298 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. tigenden Individuums – schlössen in ihren Reden über die Pflicht die Wirklichkeit aus: Das handelnde wolle die Wirklichkeit seiner eigennützigen Zwecke nicht sichtbar werden lassen und das beurteilende nicht die Wirklichkeit des Handelns, es betrachte allein die ‚unlauteren‘ Absichten des Handelnden. Das beurteilende Bewusstsein fordere zwar das handelnde zum Geständnis auf, doch ein gestehendes ‚Ich bin’s‘ stoße nur auf ‚das harte Herz‘, das eine Affinität mit dem Kritisierten weit von sich weise. Das beurteilende Gewissen setze dem Bekenntnis des handelnden Gewissens „den steifen Nacken des sich gleich bleibenden Charakters und die Stummheit“ (Hegel 1988, p. 439) entgegen, es bleibe in seiner Heuchelei stecken, in einer ‚unversöhnten Unmittelbarkeit‘. Dem Anderen ein moralisch böses Gewissen zu unterstellen, scheint nicht nur ein Relikt des Hobbes’schen Ansatzes zu sein, sondern mehr noch ein Spiegel der Konkurrenz als Basis des Austauschs: Jeder verstellt sich dem Anderen gegenüber als jemand, der nur dessen ‚Bestes‘ will (schon im einfachen Angebot einer Ware auf dem Markt), aber im Grunde nur auf sein Geld aus ist. In der ‚guten‘ Absicht des Anbietenden sieht der Beurteilende nur eine Verstellung. Und das eigene Selbst weiß von seiner Verstellung oder ahnt sie zumindest. Beide Konkurrenten oder Handelspartner erkennen im gesellschaftlich institutionalisierten Austauschverhältnis eine solche Haltung als geltendes Dasein an – auch wenn ‚Käufer‘ mit Blick auf die ersehnte Gebrauchswertseite das oft nicht wahrhaben wollen.87 3.2.2.1. Das Königinnenduell Es drängt sich hier die Auseinandersetzung der beiden Königinnen in Schillers ‚Maria Stuart‘88 auf. Maria übernimmt die Rolle der Geständigen, des Hegel’schen handelnden Bewusstseins, Elisabeth die des ‚beurteilenden‘. Maria unterwirft sich Elisabeth, erkennt den Unterschied in der Hierarchie der politischen Stellungen an, trotz gleicher Herkunft:89 „Die Gottheit bet’ ich an, die euch erhöhte!“ (Schiller 2004, pp. 87, Vs 2252 f.) Doch der ‚steife Nacken des sich gleich bleibenden Charakters‘, wie Hegel es nennt, ist deutlich an Elisabeth zu sehen, wie sie von Maria beschrieben wird: „Wenn ihr mich anschaut mit dem Eisesblick, / Schließt sich das Herz mir schaudernd zu, der Strom / Der Tränen stockt, und kaltes Grausen fesselt / Die Flehensworte mir im Busen an“ 87 88 89 Die Identifizierung mit bestimmten Produkten (die dem Käufer einen besonderen Lebensstil sich anzuverwandeln helfen) geht bis hin zur virtuellen ‚Markenheirat‘ (Apple, Tesla …). Vgl. dritter Aufzug im Park von Fotheringhay (Schiller 2004). Das Blut der Tudor, „das in meinen Adern / Wie in den euren fließt“ (Schiller 2004, pp. 87, Vs 2267 f.). 299 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. (Schiller 2004, pp. 86, Vs. 2275 ff.). Für ein Geständnis ist Maria noch nicht bereit, sie exkulpiert zunächst beide, sich selbst wie auch Elisabeth, und zwar damit, dass beide schlechten Einflüssen ausgeliefert gewesen seien, und fordert nun – die Hierarchiedifferenz aus dem politischen Bereich im privaten einebnend – ihre ‚Schwester‘ auf, ihr ihre Schuld zu nennen.90 Doch Elisabeth bleibt in der Hegel’schen ‚unversöhnten Unmittelbarkeit‘ stecken und weist Marias Nivellierungsangebot von sich: Nicht das Schicksal der beiden sei verantwortlich, sondern einzig und allein das ‚schwarze Herz‘ Marias, ihre ‚wilde Ehrsucht‘. Noch einmal versucht Maria in einer Unterwerfungsgeste Elisabeth zu beschwichtigen und sie vom Vollzug des Todesurteils abzubringen – sie selbst entsage jedem politischen Anspruch, sie sei gebrochen und nur noch der Schatten ihrer selbst91 –, doch Elisabeth lässt sich nicht erweichen. Mehr noch: Sie beleidigt am Ende nicht nur ihre Thron-Konkurrentin, sondern die Frau, die sich einem Mann nach dem anderen prostituiert und diese nach Belieben umgebracht habe: „Es kostet nichts, die allgemeine Schönheit / Zu sein, als die gemeine sein für alle!“ (Schiller 2004, pp. 92, Vs. 2417 f.) Schiller lässt daraufhin Maria in vollem Zorn erglühen, ‚doch mit einer edlen Würde‘, so die Regieanweisung.92 Sie wiederholt ihr halbherziges Geständnis – „Ich habe menschlich, jugendlich gefehlt, / Die Macht verführte mich […]“ (Schiller 2004, pp. 92, Vs. 2422 f.), aber nur um ihre Unterwürfigkeit, ihre ‚lammherzige Gelassenheit‘93 abzustreifen und sich aufzuschwingen, um nun ihrerseits Elisabeth zu beschuldigen, unrechtmäßig den Thron okkupiert zu haben,94 ihn entweiht und als ‚list’ge Gauklerin‘ das Volk betrogen zu haben. Wenn Recht herrschte, läge sie – Elisabeth – vor ihr – Maria – als legitimer Königin im Staube. Nach der Hegel’schen Terminologie hat Schiller tatsächlich zwei Heuchlerinnen auf die Bühne gestellt. Maria will ihre eigentliche Schuld nicht wahrhaben, sie schiebt sie auf die Umstände, auf die verführerische Macht anderer. Und Elisabeth blendet ebenjenen Anteil der Wirklichkeit aus, den Maria in Anschlag gebracht hat: dass das schuldhafte Handeln Marias nämlich nicht ausschließlich auf deren ‚unlautere Absichten‘ zu reduzieren sei. Beide setzen ihre Heucheleien bewusst und instrumentell ein, nur dass eben in einer solchen Auf-Leben-und-Tod-Konkurrenz Maria am Ende den Kürzeren zieht, sich buchstäblich um Kopf und Kragen redet. Sie wähnt sich zwar als Siegerin, die Rache genommen95, Elisabeth vor Leicesters Augen erniedrigt habe, 90 91 92 93 94 95 Vgl. (Schiller 2004, pp. 89, Vs. 2321). Vgl. (Schiller 2004, pp. 91, Vs. 2379 ff.). Vgl. (Schiller 2004, p. 92). Vgl. (Schiller 2004, pp. 92, Vs. 2437). Als unehelichem Kind stünde ihr der Thronanspruch nicht zu; vgl. (Schiller 2004, pp. 93, Vs. 244717 f.). … so im fünften Auftritt zu ihrer Amme Hanna Kennedy. 300 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. doch ihre Vertraute weist sie auf die eigentlichen Verhältnisse hin: „Der Wahnsinn reißt euch hin / Ihr habt die Unversöhnliche [Elisabeth] verwundet. / Sie führt den Blitz, sie ist die Königin, / Vor ihrem Buhlen habt ihr sie verhöhnt!“ (Schiller 2004, pp. 93, Vs. 2460 ff.) Lässt Schiller Maria nun als ‚schöne Seele‘ auf der Bühne leuchten? Nach Hegel ziehe sich die schöne Seele völlig von der unreinen Wirklichkeit zurück, ein solches Bewusstsein sei die absolute Gewissheit seiner selbst, allerdings ohne Kraft und Willen der ‚Entäußerung‘, ohne Kraft, in die Realität einzugreifen: „Es lebt in der Angst, die Herrlichkeit seines Innern durch Handlung und Dasein zu beflecken, und um die Reinheit seines Herzens zu bewahren, flieht es die Berührung der Wirklichkeit“ (Hegel 1988, p. 432 f.). Das Tun der schönen Seele sei das Sehnen, das sich selbst verliere und über diesen Verlust auf sich zurückfalle. Als eine solche unglückliche schöne Seele „verglimmt sie in sich, und schwindet als ein gestaltloser Dunst, der sich in Luft auflöst“ (Hegel 1988, p. 433). Wenn Maria eine schöne Seele sein soll, dann wird sie es erst: Am Ende spielt sie nur noch eine passive Rolle, auch ihr Gewissen ‚tönt‘ lediglich als Rede in die Welt. Und ganz am Ende, auf dem Weg zur Enthauptung, zeigt sie eine Haltung, die Schiller nur noch als Teichoskopie96 zu vermitteln wagt: Maria ist bereits auf dem Weg der Selbstauflösung, des Hegel’schen ‚Verglimmens‘. Und Iphigenies Seele? Bewirkt nicht gerade sie in ihren Reden die Freilassung der Griechen? Ja, aber die Tat liegt nicht bei ihr, sondern bei Thoas, der sie ziehen lässt. Iphigenie greift also, streng genommen, nicht in die Wirklichkeit ein, zumindest was die Konsequenzen angeht. Die Frage ist, ob nicht Thoas mit einer Portion Goethe’scher Aufklärungsgene ausgestattet ist, die ihm als Despoten erlauben, Iphigenie überhaupt zuzuhören. Und als ob Goethe Hegels Bemerkungen vorweggenommen hätte: Auch Iphigenie schwinde, auf dem Schiff der Griechen Tauris verlassend, als gestaltloser Dunst, der sich in Luft auflöse.97 3.2.2.2. Der Ausgleich zwischen handelndem und beurteilendem Bewusstsein Wie lässt sich nach Hegel nun das eine mit dem anderen Gewissen vermitteln, die Heuchelei durchbrechen, wie sich das ‚harte Herz‘ des beurteilenden Be96 97 Schiller reduziert Leicesters Bericht der Hinrichtung im zehnten Auftritt des fünften Aufzugs aufs Auditive: „Wie? Fesselt mich ein Gott an diesen Boden? / Muß ich anhören, was mir anzuschauen graut?“ (Schiller 2004, pp. 150, Vs. 3868 f.) In den Anmerkungen verweisen die Herausgeber der Hegel’schen Werke auf die Bekenntnisse einer schönen Seele in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (sechstes Buch); vgl. (Hegel 1988, p. 612). 301 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. wusstseins erweichen, wie das handelnde dem heuchelnden sich öffnen? Wie den Weg zu Hegels ‚Willen des Guten‘ öffnen? Die Einseitigkeit des handelnden Bewusstseins, so antwortet Hegel, werde im Geständnis aufgebrochen, dort erkenne es den Anteil von eigennützigen Zwecken an seiner Handlung an. Auf der anderen Seite werde die Einseitigkeit des beurteilenden Bewusstseins in der Verzeihung aufgehoben: Es erkenne das, was es eben noch das Böse genannt habe, als gut an und lasse sein vorheriges Urteil über den Anderen fahren98. Das Geständnis Marias ist, wie eben gezeigt, kein vollständiges – oder schärfer formuliert: keines, das den wirklichen Eigennutz, den Selbstzweck in den Mittelpunkt ihrer Rede stellt. Und Elisabeth war an keiner Stelle der Auseinandersetzung zur Verzeihung bereit. Während Kant nur die prinzipielle Nichtigkeit der individuellen Zwecke und Interessen konstatiert – er verurteilt sogar das pflichtgemäße Handeln, das noch (motivierende) Reste der Sinnlichkeit aufweist99 –, lässt Hegel das Bewusstsein sich emanzipieren, indem er es aus der absoluten Trennung heraustreten lässt und versöhnend beide Bewusstseine im Gewissen zueinander führt: als allgemeines Bewusstsein mit Bezug auf die reine Pflicht einerseits und als handelndes Bewusstsein mit Bezug auf die konkreten Zwecke andererseits. „Das versöhnende JA, worin beide Ich von ihrem entgegengesetzten Dasein ablassen, ist das Dasein des […] Ichs, das […] die Gewißheit seiner selbst hat“ (Hegel 1988, p. 442). Das Gewissen also als Versöhnung der beiden Bewusstseine in einem Individuum? Das so aussöhnende Gewissen als der Wahrhaftigkeit verpflichtet, aber auch sich seiner Fehlbarkeit, der Unvollkommenheit seiner singulären Zwecke und Interessen bewusst, die sich im ‚Fall‘ immer wieder durchsetzen? Das ist der Platz, sich wieder Erzählungen mit ihren gewissensgeleiteten und -geplagten Figuren zuzuwenden. Figuren entdecken in sich die Hybris der eingebildeten reinen Pflicht wie zugleich den absoluten Egoismus der eigenen Zwecke. Aber auch alle Stadien vor einer solchen ‚Versöhnung‘ sind – noch auf zwei Akteure verteilt und wie eben in Schillers Tragödie gezeigt – beliebte Figurengestaltungen: heuchelnde Tugend vs. Eigennutz. Wo ist nun die Versöhnung herzubekommen, wenn sich beide Positionen im Gewissen einer Person wiederfinden? Hier muss die Sartre’sche Unaufrichtigkeit zugunsten einer Ehrlichkeit aufgehoben werden, sozusagen als Voraussetzung für das versöhnende ‚Ja‘ sich selbst gegenüber. Das ist die hierarchie- 98 99 Vgl. (Hegel 1988, p. 440). Siehe oben Kapitel A.2. Erste Etappe, Der gute Wille: Kant unterscheidet das pflichtgemäße Handeln (das noch affiziert sei durch die Neigung) vom Handeln aus Pflicht, das nur um der Pflicht willen vollzogen werde. 302 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. höchste Ausbildung eines ‚guten Gewissens‘ – ein weites Feld für die Erzählund Dramenliteratur. Gäbe es keinen ‚wahren Ausgleich‘, wie es bei Hegel heißt, dann würde auch jedes Sich-Ausrichten nach den Regeln der Konkurrenz und des Austauschs ins Leere laufen. Deshalb musste der Hobbes’sche Staat den Vertragsschließenden Sicherheit und Überleben in Aussicht stellen, sozusagen ein ‚Gut‘ anbieten, für das die Unterzeichnenden den Preis ihrer vormals unbeschränkten Freiheit zu zahlen sich bereit erklären. Mehr noch: Der Hegel’sche ‚Ausgleich‘ ist tief in der Zivilisierung der Konkurrenz als Austausch verwurzelt, zumindest als Anspruch und Ideologie: Jeder der Austauschpartner möge als ‚Gewinner‘ aus dem Konkurrenzverhältnis gehen. Was der Ausgleich im Austausch materiell zeigt, spiegelt sich als Prinzip im Ausgleich der Doppelnatur des Gewissens wider. Das geständnis- und zugleich verzeihensbereite Gewissen zielt auf die ‚Gleichheit‘ sich gegenüberstehender Subjekte. 3.2.3. Kritische Blicke aufs Gewissen: Hegel und Nietzsche Doch ist das so einfach? Was hat es nun wirklich mit dem guten und dem schlechten Gewissen der ersten ‚Herausforderung‘ auf sich, denen Ricoeur sich stellt? Führt die ‚Versöhnung‘ über Geständnis und Verzeihung zum ‚Willen des Guten‘? Er fragt, wie es von Philosophen beurteilt wird, und liest bei Hegel und Nietzsche nach. 3.2.3.1. Hegel Für Hegel100 ist das Gute der ‚absolute Endzweck der Welt‘101, allerdings zunächst ohne weitere Bestimmung. Das Subjekt habe die Aufgabe, die Rolle der ‚Dialektik‘ zwischen dem ‚mancherlei Guten‘ zu übernehmen und zu ‚beschließen‘, was gelte und was nicht. Das harmonische Zusammenfallen von einzelnem und allgemeinem Interesse (eben das Gute) sei dem Subjekt überantwortet und damit ‚zufällig‘. Mit seiner Urteilskraft sei es nämlich in der Lage, „sich das Allgemeine selbst zu einem Besonderen und damit zu einem Scheine zu machen“ (Hegel 1970, p. 316). Das Subjekt könne sich also auch entschließen, böse zu sein. Hier nun kommt bei Hegel das Gewissen ins Spiel. Das Gewissen sei, wie eben schon gesagt, ‚der Wille des Guten‘, während das Böse sich gegen das Gu100 101 … im dritten Teil seiner Enzyklopädie, der Philosophie des Geistes; vgl. (Hegel 1970). Vgl. (Hegel 1970, pp. 314, § 507). 303 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. te den Inhalt eines subjektiven Interesses gebe. Aber das Gewissen laufe – nur sich selbst oder der formalen Pflicht der Sittlichkeit 102 überlassen – stets Gefahr, Gutes und Böses zu verwechseln. Denn auch in der Entscheidung für das Gute könne der subjektive Wille durch seine individuelle Perspektive die Entscheidung verfälschen und sei damit bereits böse.103 Der innere Richter, das ‚forum internum‘, brauche, so Hegel, objektive Bestimmungen, um zu einem ‚wahrhaften Gewissen‘ zu werden. Und diese Bestimmungen, derer das Selbstbewusstsein entbehre, liefere ihm nur das Politische. Im Politischen – so liest Ricoeur Hegel – gehe das Gewissen auf, „das ihm die objektiven Bestimmungen anvertraut, deren es von sich aus entbehrt“ (Ricoeur 2005, pp. 414, Anm. 52). Greife allerdings das Gewissen nicht darauf zurück: „‚[…] so ist diese Innerlichkeit des Willens böse‘ (ebd., S. 261)“ (Ricoeur 2005, pp. 414, Anm. 52). So radikal kann man das ‚unpolitische‘ Gewissen ins Visier nehmen. Allerdings ist der Übergang nur schwer nachvollziehbar, der Übergang von der Gefahr einer Fehlentscheidung zu deren Zwangsläufigkeit, also zu einem zwingend sich aus dem solipsistischen Gewissen gebärenden Bösen.104 Erst also im Sollen der Sittlichkeit würden die Einseitigkeiten aufgehoben, erst dort habe die einzelne Subjektivität seine Gesinnung und die ‚allgemeine Wirklichkeit‘ als Sitte.105 Ein solches ‚absolutes Sollen‘ habe als ‚Geist eines Volkes‘ Wirklichkeit.106 Die einzelne Person wisse die Sittlichkeit ihres Volkes ‚als ihr eigenes Wesen‘, schaue sie ‚als ihren absoluten Endzweck in der Wirklichkeit‘ und vollbringe „ohne die wählende Reflexion ihre Pflicht als das Ihrige und als Seiendes“ (Hegel 1970, pp. 318, § 515). Einer solchen ‚wahrhaften, sittlichen Gesinnung‘ vertrauten die anderen Einzelnen. Man kann sich aufeinander verlassen. Eine solche ‚sittliche Persönlichkeit‘ sei nun selbst ‚Tugend‘, und zwar in dreierlei Hinsicht: erstens in Bezug auf das ‚Schicksal‘, das als Nicht-Negatives zu nehmen sei; zweitens in Bezug auf das sittliche Ganze der Gesellschaft, für das die Tugend sich aufzuopfern bereit sei; und schließlich in Bezug auf die Anderen als Gerechtigkeitssinn und ‚wohlwollende Neigung‘.107 102 103 104 105 106 107 Hegel nennt das die ‚Inhaltslosigkeit‘ der Sittlichkeit. Das Gewissen sei die ‚tiefste innerliche Einsamkeit mit sich’, ohne allen Bezug zu inhaltlichen Bestimmungen der Welt; und so könne das Gewissen – nur seiner selbst gewiss – sich für beliebige Prinzipien entscheiden, also für das Gute genauso wie für das Böse. Ricoeur zitiert Hegel (Auslassungen von mir): „Das Selbstbewußtsein […] ist ebensosehr die Möglichkeit, […] die eigene Besonderheit über das Allgemeine zum Prinzipe zu machen und sie durch Handeln zu realisieren – böse zu sein“ (Ricoeur 2005, pp. 414, Anm. 52). Ich werde anschließend in einem kurzen Exkurs auf das Böse eingehen. Vgl. (Hegel 1970, pp. 318, § 513). Vgl. (Hegel 1970, pp. 318, § 514). Vgl. (Hegel 1970, pp. 319, ¤ 516); hier kommen sich Hegel und Ricoeur mit dessen drei Ebenen seiner ‚kleinen Ethik‘ sehr nahe. 304 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Es wird deutlich, dass Hegel die Bestimmung des Bösen – Gesinnung und Handlung, die nicht aufs Gute zielen – als tautologisch anmutende Negativbestimmung eingeführt hat. Wer seine besonderen Bedürfnisse über die Zwecke des Allgemeinen stellt und sie – heuchelnd108 – zu rechtfertigen versucht, ist böse. Wer sein Wissen und Gewissen dazu nutzt, sich aus den Fängen des Man zu befreien, sich aus dem Korsett seiner Entfremdung zu befreien, ist böse. Die Entdeckung des Heidegger’schen ‚eigensten Seinkönnens‘, der Entwurf seiner selbst jenseits sittlicher Gepflogenheiten wäre damit ebenfalls böse. Es gibt bei Hegel – konsequent zu Ende gedacht – kein schlechtes Gewissen, sondern lediglich eines, dass sich politisch und sittlich orientierend als ‚Wille des Guten‘ zeigt. Ein solches per se gutes Gewissen entschlägt sich aller Partikularinteressen, die nicht mit dem Allgemeininteresse harmonieren. Und die ‚wählende Reflexion‘ der Autonomie des Subjekts geht am Ende in einer einzigen Entscheidung auf, in der für die geltende Sittlichkeit. Bevor wir uns Heidegger zuwenden, soll noch ein Blick auf Ricoeurs zweiten Kandidaten aus der Reihe der Philosophen erlaubt sein, die am Gewissen kein gutes Haar lassen, auf Friedrich Nietzsche. 3.2.3.2. Nietzsche Ricoeur schlägt Nietzsches Genealogie der Moral109 auf. Wo Hegels Kritik an der Subjektivität des Gewissens lediglich als ‚Warnschuss‘ zu hören gewesen sei, da krache bei Nietzsche nun der entscheidende Donnerschlag.110 Ich erlaube mir, selbst kurz bei Nietzsche zu blättern111, was er zum Gewissen zu sagen hat. „Ich nehme das schlechte Gewissen als die tiefe Erkrankung, welcher der Mensch unter dem Druck jener gründlichsten aller Veränderungen verfallen musste, […] als er sich endgültig in den Bann der Gesellschaft und des Friedens eingeschlossen fand“ (Nietzsche 2013, p. 77). Was im Hobbes’schen Naturzustand ein Krieg aller gegen alle war, ist bei Nietzsche ein ‚Abenteuer glücklich angepasster Halbtiere‘ – in der Wildnis, im Kriege, im Herumschweifen –, ein Abenteuer, das nun mit dem Schritt zur Vergesellschaftung entwertet und ‚ausgehängt‘ werde. Aus dem mit dem Instinkt der Freiheit ausgestatteten und umherschweifenden Menschen sei nach seiner Vergesellschaftung ein ‚Narr‘ geworden, ein sehnsüchtiger und verzweifelter Gefangener – ein ‚an den Gitterstangen seines 108 109 110 111 Die Heuchelei nehme den Schein von Pflicht und Tugend an und gebrauche sie als Maske; vgl. (Hegel 1988, p. 434). Vgl. (Nietzsche 2013, p. 3 ff.). Vgl. (Ricoeur 2005, p. 413). Ricoeurs arbeitet hier sehr verkürzend. 305 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Käfigs sich wund stossendes Thier‘.112 Und mit der Erfindung des schlechten Gewissens habe die größte und unheimlichste Erkrankung des Menschen begonnen, „das Leiden des Menschen am Menschen, an sich“ (Nietzsche 2013, p. 79). Bis zur endgültigen Domestizierung des Untertanen sei reine Tyrannei nötig, die den Menschen entsprechend forme. Den kontraktualistischen Ansatz kann Nietzsche nicht ernst nehmen: „Dergestalt beginnt ja der ‚Staat‘ auf Erden: ich denke, jene Schwärmerei ist abgethan, welche ihn mit einem ‚Vertrage‘ beginnen liess. Wer befehlen kann, wer von Natur ‚Herr‘ ist, wer gewaltthätig in Werk und Gebärde auftritt – was hat der mit Verträgen zu schaffen!“ (Nietzsche 2013, p. 80) Mit Untertanen, die mit einem gemeinschaftsfördernden Gewissen ausgestattet seien, verliere die Welt, so Nietzsche, etwas vom Genie, vom Adel, von dem ‚Instinkt der Freiheit‘: Das schlechte Gewissen, jenes ‚hässliche Gewächs‘, habe – ‚unter dem Druck ihrer [der Herren, der Mächtigen] Hammerschläge‘ – ein ungeheures Quantum Freiheit aus der Welt geschafft.113 Während der Wille zur Macht das sei, was das autonome Subjekt adele, zeichne sich der Untertan mit seinem moralischen Bewusstsein als schlechtem Gewissen – dem Machtwillen gegenüberstehend – als ‚Herdenthier‘ aus. Ist der Unterschied der Sichtweisen aufs Gewissen tatsächlich so gravierend, wie er zunächst erscheint? Vor dem Hintergrund einer gesellschaftlich ausgeprägten und abgesicherten Sittlichkeit sorgt das Hegel’sche Gewissen für einen reibungslosen Ablauf gemeinschaftlicher Interaktionen. Für Nietzsche hingegen bedeutet das Gewissen einfach nur Entfremdung und Unterwerfung des Subjekts unter die Herrschaft des Machtadels. Haben nicht beide Philosophen recht? Laufen nicht Internalisierung sittlicher Gebote und Unterwerfung unter eine Herrschaft auf das Gleiche hinaus? Hegel und Nietzsche unterscheiden sich am Ende darin, eine affirmative bzw. eine kritische Haltung zur Unterwerfung des Individuums einzunehmen. Oder etwas pointierter gesagt: Während Hegel noch von der Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem im ‚Willen des Guten‘ träumt, schleudert Nietzsche das Gewissen als Anpassungsmodus des bürgerlich-untertanen Bewusstseins in den Orkus von Dummheit und Devotismus. Und für Ricoeur stellt sich abschließend die Frage, wie das Gewissen ohne jede moralische Qualifikation aussähe, ob es nicht gelingen könnte, das Gewissen „aus der falschen Alternative zwischen ‚gutem‘ und ‚schlechtem‘ Gewissen“ (Ricoeur 2005, p. 418) zu lösen – vom ‚Joch der mit dem guten und schlechten Gewissen verbundenen Vorurteile befreit‘ – und dieser mentalen Institution damit 112 113 Vgl. (Nietzsche 2013, p. 79). Vgl. (Nietzsche 2013, p. 81). 306 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. am Ende, so könnte man ergänzen, vielleicht doch noch eine konstruktive Seite abzugewinnen. 3.3. Herausforderung II: Aufforderung und Verantwortung 3.3.1. Das Aufgefordertsein Gehen trotz aller Vorbehalte und Kritik Hegel und Nietzsche – wie oben gezeigt – von einer Differenz von schlechtem und gutem Gewissen aus, so glaubt Ricoeur, auf seiner Suche nach einem Moral-befreiten Gewissen bei Heidegger fündig werden zu können. Jenseits von Gut und Böse ziele der Heidegger’sche ‚schweigende Ruf‘114 des Gewissens auf das ‚eigenste Seinkönnen‘, also auf die Fähigkeit des nicht entfremdeten, nicht dem Man verfallenen Individuums, seine Lebenspläne autonom zu entwerfen: „Das Gewissen ruft das Selbst des Daseins auf aus der Verlorenheit in das Man115“ (Heidegger 1979, p. 274). Ricoeur muss allerdings den Ansatz Heideggers, um ihn fruchtbar machen zu können, gegen den Strich lesen. Die Stimme des Gewissens, so Ricoeur, werde vom Selbst als ‚Aufgefordertsein‘ verstanden; das Gewissen bilde – parallel zur Metapher der Stimme – das Moment der Andersheit.116 Zunächst liege die Aufforderung als Gebot vor, noch nicht als Gesetz, sie liege vor in der ‚Klangfarbe des Hoheliedes‘. Erst mit staatlicher Gewalt würde aus dem Gebot ein Gesetz und aus dem Gesetz ein Verbot, erst dann schlössen sich Gewissen und Verbot kurz, erst dann präsentiere sich die Stimme des Gewissens als Richterspruch. Vor staatlicher Vereinnahmung aber ist die Verpflichtungskraft des Ricoeur’schen ‚Hoheliedes‘ des Gebotes noch schwach, es fehlt die sanktionierende Instanz bei Nichtbefolgung. Als Hohelied liegt das Gebot einzig und allein im Selbst, sozusagen in guter Absicht. Erst in der Dialektik von Partikularität und Allgemeinheit wird sich das Individuum von seinen besonderen Interessen zugunsten eines Allgemeininteresses – zumindest partiell – verabschieden müssen.117 114 115 116 117 „Das Gewissen redet einzig und ständig im Modus des Schweigens“ (Heidegger 1979, p. 273). Und dieser Ruf rufe nicht in das Man, sondern aus dem Angerufenen zurück, „in die Verschwiegenheit des existenten Seinkönnens“ (Heidegger 1979, p. 277). Und Seiten später erläutert Heidegger, dass der Ruf als Ruf nie zur ‚Verlautbarung‘ komme: „[…] der Ruf kommt aus der Lautlosigkeit der Unheimlichkeit und ruft das aufgerufene Dasein als still zu werdendes in die Stille seiner selbst zurück“ (Heidegger 1979, p. 296). Die Verschwiegenheit, so der paradoxe Gedanke Heideggers, entziehe dem verständigen Gerede des Man das Wort. Vgl. (Heidegger 1979, p. 274), zitiert bei (Ricoeur 2005, pp. 418, Anm. 61). Vgl. (Ricoeur 2005, p. 420). Da dieser Widerspruch Überzeugung und Charakterstärke voraussetzt, die nicht jedes Individuum aufweist, wird aus dem Gebot ein Gesetz, das innerhalb der Rechtsgemeinschaft bei Gesetzesübertretung Sanktionen verhängt. Sanktionen kommen zwar immer 307 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Im auffordernden Gewissen, so Ricoeur weiter, verknüpften sich nun Ethik, Moral118 und Überzeugung zu einer lebenszugewandten Einheit. Das Gewissen treffe in seinem Ruf immer noch auf den Passivitätsmodus des Selbst, allerdings ziele es auf tatsächliche Interaktion, verbleibe also nicht in der inhaltsleeren Passivität eines reinen Seinkönnens. Das Subjekt werde aufgerufen, „gut zu leben, mit den Anderen und für sie in gerechten Institutionen und sich selbst als Träger dieses Gelöbnisses zu schätzen“ (Ricoeur 2005, p. 423). Diesem Anruf lägen zugrunde der Optativ des Gut-Lebens, das Verbot des Tötens und die Kunst der phrônesis (als der situationsangemessenen Wahl geeigneter Mittel). Das Selbst stehe hier dem Ruf des Gewissens zwar noch passiv gegenüber – es werde in der zweiten Person angerufen –, aber es sei auf dem Sprung zur ‚guten‘ Handlung. Das ist, wie gesagt, aus dem Teil A der vorliegenden Arbeit bereits bekannt, nur sollte man sich bewusst machen, dass Ricoeur hier eine Institution des Selbst ausfindig gemacht zu haben glaubt, die die Trias von Ethik, Moral und Überzeugung zu einer Einheit zusammenbringe; nicht nur kommen Teleologie und Pflicht zueinander, sondern sie werden vom Selbst als Überzeugung angenommen, also in einer Form, in der sich das Selbst auf sich selbst verlassen kann. Das ist der Sinn der Selbstschätzung seiner selbst als ‚Träger des Gelöbnisses‘. * Das Gewissen – als Errungenschaft oder Geißel betrachtet – ist, und da ist Ricoeur recht zu geben, ein wesentliches Merkmal der Passivitätserfahrungen des Selbst. Es ist nicht nur das, sondern auch, so könnte man sagen, die Gelenkstelle zwischen dem sich seiner bewusst werdenden und dem handelnden Selbst. Die erste Forderungen des Moralischen Paktes – Nimm die Herausforderung an, lass dich auf die Konkurrenz ein und spiel nach deren Regeln!119 – richtet sich an die Figur, sich in seiner (erzählten) Welt zum einen dem Kampf zu stellen (und damit den ‚Instinkten der Freiheit‘ teilweise wieder Zutritt zu gewähren) und zum anderen die zivilisatorischen Regeln der Auseinandersetzung anzuerkennen.120 Der Ruf des Gewissens ist weder still noch ist das Gewissen selbst stumm, die Aufforderungen, die an das Selbst ergehen, sind – so könnte man 118 119 120 ‚zu spät‘, was den Einzelfall angeht, aber auch ‚gerade zur rechten Zeit‘, um zukünftige Übertretungen einzudämmen. Zudem stellen Sanktionen ideell die Geltung der Gesetze wieder her. Ich erinnere an dieser Stelle an die Differenz, die Ricoeur hier macht: Ethik bedeutet für ihn die Ausrichtung auf ein gutes Leben (teleologische Betrachtung) und Moral den Bezug auf die kantische Pflichtenethik. Siehe oben den Ricoeur’schen Spaziergang mit Kant in Kapitel A.2. Ausführlich oben in Teil A (zu den Elementen des Moralischen Paktes); hier besonders § 1 und § 2: Stelle dich den Widerständen und bewähre dich in der Konkurrenz, indem du ihre Grundregeln befolgst. … auch auf die Gefahr hin, dass das gegnerische Subjekt Regeln missachtend kämpft. Erzählern stellt sich dabei immer wieder die Frage, wie weit es dem Helden erlaubt sein 308 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. zugespitzt sagen – in ihrem Fundament vor aller weiteren Konkretisierung die Elemente des Moralischen Paktes. Vor den deutlich hörbaren moralischen Forderungen des Gewissens liegen, so meine These, vielleicht weniger deutlich hörbar fundamentale Forderungen: der Moralische Pakt sozusagen als erster Ruf des Gewissens an das Selbst. 3.3.2. Die Verantwortung Meine Geworfenheit bestehe darin, so Sartre, „daß ich dazu verurteilt bin, vollständig für mich selbst verantwortlich zu sein“. (Sartre 1991, p. 955) Knüpfen wir an die eben erwähnte Selbstschätzung seiner selbst als ‚Träger des Gelöbnisses‘ an und fragen nach der Verantwortung, nach der Antwort des Selbst auf die mahnende oder auch richtende Stimme, auf das Phänomen also der Verantwortung, in die der Andere immer schon involviert ist. Im Alltag beziehen wir uns auf eine Welt, die wir unseren Bedürfnissen entsprechend zurichten, mit den Worten Heideggers: Wir begreifen die Alltäglichkeit als „ein Zuhandenes, das besorgt, das heißt verwaltet und verrechnet wird. Das ‚Leben‘ ist ein ‚Geschäft‘, gleichviel ob es seine Kosten deckt oder nicht“ (Heidegger 1979, p. 289). Die alltägliche Auslegung des Gewissens – also in dem Modus, in dem die Gewissensstimme erlebt werde – bleibe in der ‚Dimension des besorgenden Verrechnens und Ausgleichens von Schuld und Unschuld‘, das Gewissen selbst sei Richter121 oder Mahner. Diese ‚verständige‘ Auslegung des Gewissens halte sich an die ‚Tatsachen‘, betrachte das Dasein als „‚Haushalt‘, dessen Verschuldungen nur ordentlich ausgeglichen zu werden brauchen“ (Heidegger 1979, p. 293). Das Gewissen selbst – jenseits seiner ‚sorgenden Auslegung‘ – kann man sich hingegen als Ort vorstellen, von wo aus der oben erwähnte Ruf erfolgt. Dabei stellt sich die Frage, welcher Mechanismus für die Antwort sorgt, welcher Teil des Selbst reagiert. Muss man sich das Gewissen ein weiteres Mal zweigeteilt denken, dessen einer Teil die (göttliche) Stimme beheimatet und der andere das Handeln des Individuums verantwortet? In jedem Fall müsste dem zweiten, also dem antwortenden Gewissensteil Autonomie zukommen, denn ohne Freiheit wäre Schuldfähigkeit nicht zu haben. Wir werden in der dritten Herausforderung auf die beiden Rollen des Rufenden und Angerufenen zurückkommen.122 121 122 dürfe, sich bis zu einem gewissen Grade auch regelwidrig dem Kampf mit dem AntiSubjekt zu stellen, also auch vor eigener List, Tücke und Lüge nicht zurückzuschrecken. Auch Kant, so Heidegger, interpretiere das Gewissen aus der Idee des Sittengesetzes ganz konsequent als ‚Gerichtsvorstellung‘. Siehe unten: ‚Herausforderung III: Der Anteil der Andersheit am Gewissen’. 309 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Zum Verhältnis von Freiheit und Verantwortlichkeit sagt Sartre: Wenn das Individuum sich die Welt nach frei gewähltem Entwurf ‚aneigne‘, dann sei es für sein Handeln und dessen Konsequenzen verantwortlich. Es ‚mache‘ sich dadurch selbst und sei ‚Urheber‘ der Ereignisse.123 Das Problematische daran ist nicht die scheinbare Banalität, sondern die darin eingeschlossene Konsequenz: „alles, was mir zustößt, ist meins“ (Sartre 1991, p. 951). Ich möchte versuchen, einen unproblematischen Kern in dieser Sichtweise auf die Verantwortung des Handelnden dingfest zu machen, einen Kern, der im besten Fall für meine These fruchtbar gemacht werden kann. Mein Krieg Es gebe, so Sartre, keine ‚Zwischenfälle‘ in einem Leben: „[…] wenn ich in einem Krieg eingezogen werde, ist dieser Krieg mein Krieg, er ist nach meinem Bild, und ich verdiene ihn“ (Sartre 1991, p. 951). Nur weil ich mich dem nicht entzogen habe (via Selbstmord oder Fahnenflucht), soll ich den Krieg nach Sartre gewählt haben?124 Für Sartre ist der Mensch immer ‚auf der Höhe dessen‘, was ihm zustoße, denn zustoßen könne ihm nur, was ihm durch andere Menschen und sich selbst zustoße. Selbst wenn wir mit Sartre so weit mitgehen, das Individuum als eines zu betrachten, das seine Welt für sich entwirft und handelnd gestaltet,125 ist der Schritt zur Gesamtverantwortung, zu Atlas, der die gesamte Welt auf seinen Schultern trägt, schon sehr gewagt. Allerdings könnte der Gedanke anschlussfähig sein, dass das Individuum nur in Extremfällen eines letzten Minimums an Handlungsalternativen beraubt wäre. Selbst die äußerste Weigerung des Weitermachens, der Suizid, „heißt immer noch mich wählen, und der Selbstmord ist ein Modus des In-der-Welt-seins unter anderen“ (Sartre 1991, p. 954). Meine kleine Welt Auch ein zweiter Aspekt ist brauchbar: Dass ich in diese Welt geworfen sei und ich mich darin engagierte, macht mich tatsächlich ‚vollständig für mich selbst verantwortlich‘ (aber damit immer noch nicht für den Krieg, den andere beschließen), also für meine Welt, für meine entwurfsentsprechende Einrichtung in dieser Welt – für das In-dieser-meiner-Welt-Sein. So gesehen, überprüft das Individuum jedes Ereignis, das ihm ‚begegnet‘, auf Nützlichkeit oder Widerständigkeit gegenüber seinen Zwecken. Ein Ereignis wird also ganz konsequent zur 123 124 125 „Wir nehmen das Wort ‚Verantwortlichkeit‘ in seinem banalen Sinne von ‚Bewußtssein (davon), der unbestreitbare Urheber eines Ereignisses oder eines Gegenstands zu sein‘“ (Sartre 1991, p. 950). Die Kritik dieser Ansicht ist mittlerweile Legion, wir müssen das hier nicht ausführlich besprechen. = das Für-sich. 310 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Gelegenheit oder Chance, in jedem Fall aber zur ‚Herausforderung‘, auf die zu re-agieren ist. Und damit befinden wir uns im Kern von Erzählungen. Der Held ist in der Regel ein (relativ) autonomes Individuum, das sich in freier Wahl für einen Entwurf (oder dessen Infragestellung) handelnd auf Herausforderungen einlässt. Das Problem bei Sartre ist, dass er die Verantwortung für die eigene Lage ausschließlich dem Individuum zuschreibt, womit er die Umstände, die äußere Realität exkulpiert. Was zunächst wie ein Gegenentwurf zur Anpassung erscheint, läuft am Ende Gefahr, die äußere Realität in ihrer Einflusskraft auszublenden. Sartres Philosophie wie auch die von ihm kritisierte Psychoanalyse hypostasieren die Macht des Individuums, ganz gleich, ob nun auf Anpassung oder Revolte ausgerichtet. Und wenn Sartre über Freiheit und Autonomie redet, dann redet er nicht über den Willen. Er siedelt ihn nur – ähnlich wie Aristoteles – dort an, wo es um die passende Mittelwahl für Zwecke geht, die selbst auf einer anderen Ebene dem Willen vorausgesetzt sind.126 Die Autonomie – ohne die keine Verantwortung zu haben wäre – liegt bei Sartre eben nur tiefer, auf der Ebene des Initialentwurfes.127 Dort allerdings dann verbunden mit einem absurd klingenden Anspruch auf Verantwortungsübernahme: Am Ende dehnt Sartre die Verantwortung des Individuums für seine kleine Welt zu einer gegenüber der ganzen Welt aus und begründet diese Extension mit dem instrumentellen Bezug auf die Anderen: „[…] da die anderen […] ebenfalls nur Gelegenheiten und Chancen128 sind, erstreckt sich die Verantwortlichkeit des Fürsich auf die gesamte Welt als bevölkerte Welt“ (Sartre 1991, p. 954). Abgesehen von diesem weltumgreifenden Aspekt der Verantwortung des Einzelnen tauchen hier die Grundelemente des Moralischen Paktes auf, Konkurrenz und Austausch: der instrumentelle Bezug auf den Anderen als Chance auf die Realisierung eigener Zwecke.129 Das Individuum wird aufgerufen, sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen, sich der Konkurrenz zu stellen und sich zu bewähren – mögen die ‚Umstände und Institutionen‘ auch noch so mächtig erscheinen. Angst vor der Freiheit Sartre formuliert in diesem Zusammenhang einen letzten Gedanken: Das Fürsich, das sich seiner umfassenden Verantwortung bewusst sei, werde von Angst 126 127 128 129 Vgl. Teil D.1 zur Autonomie. Auf der Ebene des Initialentwurfs ist das Selbst durchaus in der Lage zu wählen. Ansonsten wäre die Rede eines Initialentwurfs sinnlos. … womit der Andere zum Objekt-Anderen erklärt wird und nicht zu jemandem, worauf sich das Individuum im Modus des Für-Andere-Seins bezieht. Hier leuchtet auch die zweite Formel des kategorischen Imperativs auf: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden Anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (Kant 1975a, p. 61). 311 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. ergriffen, von einer Angst, eben in jene Verantwortlichkeit geworfen zu sein. Es ist, so kann man Sartre hier lesen, die Angst vor der Freiheit seiner Wahl, die Angst vor dem Blick aufs reine Geworfensein,130 nicht aber die Angst vor der konkreten Situation. Wo in Erzählungen der Held sich dieser Angst stellt, ja sie überhaupt zulässt, da übernimmt er tatsächlich so etwas wie die Verantwortung für sein Leben (und damit verbunden das von anderen). Ein solcher Held „kennt weder Gewissensbisse noch Bedauern, noch Entschuldigungen mehr“ (Sartre 1991, p. 955), er ist völlig identisch mit seinem Inititalentwurf131 und den sich daraus ableitenden Handlungen. Hauke Haien kommt diesem Bild sicherlich näher als Effi Briest. Der Held in Erzählungen oder Dramen ist nicht per se eine Figur, die sich hundertprozentig seiner Verantwortung und Angst stellt, in der Regel stellt er einen Synkretismus von Heroischem im eben erklärten Sinn und Alltäglichem dar, womit wir beim abschließenden Satz Sartres angekommen sind: „Aber […] die meiste Zeit fliehen wir vor der Angst in die Unaufrichtigkeit“ (Sartre 1991, p. 955). Hier klingt die Flucht des Individuums vor der Herausforderung des ‚eigensten Seinkönnens‘ an, ein ganz und gar nicht autonomes, mehr betreutes Wohnen im Heidegger’schen Man. Die Stimme aber, wie hörbar auch immer, bleibe unheimlich: „Der Rufer […] ist das Dasein in seiner Unheimlichkeit, das ursprüngliche geworfene In-der-Welt-sein als Un-zuhause, das nackte ‚Daß‘ im Nichts der Welt“ (Heidegger 1979, p. 276 f.). Ich möchte am Ende dieser Gedanken zur Verantwortung auf Ricoeur zurückkommen, das Gewissen, so sagt er, spiegele eine besondere Fähigkeit des Individuums, eine Fähigkeit, die sich den Phänomenen des ‚Ich-kann‘132 (dessen, was dem Individuum zugeschrieben werden könne) hinzugeselle, nämlich „sich selbst als das Subjekt zu bezeichnen, das dazu fähig ist“ (Ricoeur 2006, p. 139). Die semantische Betrachtung der Metapher der Zurechnung lege laut Ricoeur die Vorstellung einer ‚verborgenen moralischen Buchführung über Verdienste und Versagen‘133 nahe. Für das Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung134 fähig seien, führt Ricoeur den Begriff der Person135 ein. Einen Be- 130 131 132 133 134 135 Hier muss man mitdenken: Die Angst vor der prinzipiellen Notwendigkeit zu wählen, ist etwas anderes als die Angst vorm Schuldigwerden angesichts des Eingriffs in eine von allen Anderen ebenfalls gestaltete Welt. Siehe oben die Ausführungen zum Initialentwurf in Kapitel D.1. Siehe ebenfalls oben die Ausführungen zum Initialentwurf in Kapitel D.1. Vgl. (Ricoeur 2006, p. 140). Nicht auf das Leiden des zu strafenden Täters, sondern auf das ‚erste Leiden‘ des Opfers der Tat richte sich die Idee der Zurechenbarkeit aus. Im Verweis auf Hans Jonas lobt Ricoeur die ‚Remoralisierung‘ der (juristisch reduzierten) Idee der Zurechenbarkeit: „Auf der moralischen Ebene wird man für den anderen Menschen, für die anderen schlechthin für verantwortlich gehalten“ (Ricoeur 2006, p. 143). Siehe oben Ausführungen zur Menschheit und Person auf der zweiten Etappe des Ricoeur’schen Spaziergangs mit Kant in Kapitel A.2. 312 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. griff, der bei ihm über das Gewissen erreicht wird, am Ende also über einen weiteren Begriff, nämlich den des Anderen. 3.4. Herausforderung III: Der Anteil der Andersheit am Gewissen Die eben besprochene Verantwortung bietet sich als einer der Verbindungsbalken zwischen dem Subjekt und dem Anderen an. In der Verantwortung gewährt das Ich dem Anderen Zutritt: die Verantwortung als Torhüter des Gewissens. Allerdings – und das ist der entscheidende Punkt – gibt das Selbst seine Autonomie nicht auf. Passender hätte das Wort für dieses Phänomen nicht ausfallen können: Ver-Antwort-ung. Das Gewissen bekommt die Aporie des Subjekts als Herrscher und Untertan in den Griff, und zwar innerhalb einer unbeschädigten Autonomie. Aus der Verantwortung führt der Weg auch wieder zum Anderen hinaus, und zwar ganz im Sinne der praxis. Handelnd bezieht sich das verantwortliche Subjekt auf den Anderen und erkennt ihn ebenfalls als Subjekt an. Womit wir uns im abschließenden Teil F befassen werden. Zuvor aber noch ein oder zwei Gedanken zum Anteil der Andersheit am Gewissen. 3.4.1. Zusammenfallen von Selbst und Anderem Ich greife noch einmal Hegels Ausführungen zur Doppelnatur des Gewissens auf und wage mit ihm den Sprung zum Anderen: „[…] es ist Pflicht, daß jedes [Individuum] für die Erhaltung seiner selbst wie auch seiner Familie, nicht weniger für die Möglichkeit sorgt, seinem Nebenmenschen nützlich zu werden und Hilfsbedürftigen Gutes zu tun“ (Hegel 1988, p. 423 f.). Die Kluft, die anderen Philosophen so viel Kopfzerbrechen macht, überwindet Hegel in einem einzigen Satz. Mehr noch: Was der Einzelne für sich tue, komme von selbst dem Allgemeinen zugute: „[…] je mehr er für sich gesorgt hat, desto größer ist nicht nur seine Möglichkeit, Anderen zu nützen; sondern seine Wirklichkeit selbst ist nur dies, im Zusammenhang mit Anderen zu sein und zu leben; sein einzelner Genuß hat wesentlich die Bedeutung, damit Anderen das seinige preiszugeben, und ihnen zum Erwerb ihres Genusses zu verhelfen“ (Hegel 1988, p. 425). Den Automatismus dieses Zusammenhangs unterstreicht Hegel in einem Nachsatz: Das Abwägen oder Berechnen von Pflichten im Sinne der Allgemeinheit sei eher kontraproduktiv, denn dann fiele die Moralität der ‚Zufälligkeit der Einsicht‘136 anheim, in seinen Augen ein schlechter Ratgeber. Das Individu- 136 Vgl. (Hegel 1988, p. 425). 313 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. um sei sich vielmehr der ‚Vermehrung des Eigentums als Pflicht‘ bewusst,137 als reiner Pflicht, also eines unmittelbar geltenden Auftrags, der nicht hinterfragt wird. Das Individuum weiß also die Einhaltung der Regeln der Konkurrenz als Pflicht – des Für-sich-Sorgens auf Basis des Privateigentums –, es nimmt die ‚Verkehrswege‘ in der bürgerlichen Gesellschaft nicht nur als existentiellen Auftrag an, sondern auch als moralischen. Wenn man so will, als Moralischen Pakt. Hegel scheint einer solchen Koinzidenz von Einzel- und Allgemeininteresse zu vertrauen, dem allseitigen Nutzen der Konkurrenz und deren Einhegung im allseitigen Austausch. Hegel scheint wie folgt zu argumentieren: Der Einzelne verfolgt in Konkurrenz und Austausch seine Interessen, womit es ihm möglich wird, dem Anderen unter die Arme zu greifen (zunächst noch im Modus der Potentialität, des Konjunktivs). Aus dieser Möglichkeit wird ohne weitere argumentative Brücke Wirklichkeit. Hegel schließt seinen Gedanken damit ab, dass der Genuss des Einzelnen den Zweck habe, die Anderen am Seinigen teilhaben zu lassen und ihnen dazu zu verhelfen, selbst zu genießen. Das ist reine Ideologie der bürgerlichen Verhältnisse. Eine solche Sichtweise erinnert an Adam Smith’s Modell der invisible hand eines sich selbst überlassenen Marktes. 3.4.2. Der Andere im Ruf – die ‚Eigentlichkeit‘ des Selbst Ganz anders hingegen Heidegger. „Das Gewissen ruft das Selbst des Daseins auf aus der Verlorenheit in das Man“ (Heidegger 1979, p. 274). Der Rufer habe mit dem Besorgen im Alltag des Man nichts zu tun, es gehe ihm ausschließlich darum, „daß er nur als solcher gehört und ferner nicht beschwatzt sein will“ (Heidegger 1979, p. 275). Sein Ruf treffe auf ein Individuum, das nach seiner Flucht vor der Unheimlichkeit der reinen Existenz sich dem Man verschrieben habe. Und genau dieses Wovor der Flucht sei der Rufer selbst, „das ursprünglich geworfene In-der-Welt-sein als Un-zuhause, das nackte ‚Daß‘ im Nichts der Welt“ (Heidegger 1979, p. 276 f.). Während der Rufer die unverfälschte Seite des Individuums sei – „sich ängstigend in der Geworfenheit […] um sein Seinkönnen“ (Heidegger 1979, p. 277) –, sei der Angerufene die dem Man verfallene Seite, die vom Rufer zum ‚eigensten Seinkönnen‘ aufgerufen werde. Den Rufer darf man sich nicht als allgemein-verbindliche Stimme vorstellen, nicht als öffentliches Gewissen, nicht als Weltgewissen, sondern als höchst individuelle Stimme, die dazu auffordert, sich seinen Potentialen, seinem ergon als Richtungsweiser zuzuwenden und sich entsprechend zu entwerfen. Der Wechsel vom Modus des Man in den der Eigentlichkeit verändert Ursprung und Motiv des handelnden Eingreifens: Was im Man noch ein alltägli137 Vgl. (Hegel 1988, p. 426). 314 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. ches Besorgen des Beredeten nach öffentlich gemachten Regeln gewesen ist, ist nunmehr Gegenstand des Entschlusses eines höchst einzigartigen Individuums, das sich seiner Angst und seinem Schuldigwerdenkönnen stellt und entschieden zur Tat schreitet. Das ist der Übergang von der heimatlichen Welt in die Fremde, wobei die Fremde Bewegungs- und Handlungsraum für den ent-entfremdeten Helden wird, für den durch und durch autonomen Helden. Die fremde Welt kann in Erzählungen die Rolle des Unbehaustseins übernehmen, des Nicht-Zuhause-Seins des Helden, also der blanken Existenz und blanken Vereinzelung. Vor allem geht es in dieser fremden Welt um die freigelegten fundamentalen Lebens-Bezüge, die der Moralische Pakt als Konkurrenz, Kommunikation und Austausch vorgibt. Der Ruf des Gewissens führt den Helden konsequent in existentielle Gefahren, in denen er sich – entsprechend seinem Entwurf – zu bewähren hat und damit die Geltung von Konkurrenz und Austausch bestätigt. Den Gegensatz, den Heidegger aufmacht, könnte man sich nicht in kräftigeren Farben ausmalen: auf der einen Seite ein zur ‚Selbstverwirklichung‘ aufgerufenes Individuum, das sich unabhängig von gesellschaftlichen Regeln und Grenzen seinen ureigenen ‚Möglichkeiten‘ zuwendet, auf der anderen Seite das Man, die Gesellschaft, die sich nach einem bestimmten Katalog von Prämissen und Präferenzen die Welt so gestaltet, wie sie es für ‚angemessen‘ hält. Selbst wenn sich das Individuum als Anwalt oder Schwert des Man versteht, legt es sich diese ‚Berufung‘ als seinen Entwurf vor, auch wenn es ahnt, dass die Stimme seines Gewissens nicht aus seinen ‚eigensten‘ Fundamenten ruft. Dass die Stimme des Gewissens deutlich vernehmbar ist, ist noch keine Garantie für seinen Ursprung im existentialistischen ‚Seinkönnen‘. In jedem der beiden Fälle aber hat sich das Andere im Selbst eingenistet, das Andere als Entfremdungsmacht im Identitätsmodus der Selbigkeit oder eben das Andere als das vorm Hintergrund des Möglichen sich aufspannende Nochnicht der Selbstheit. Ganz gleich, ob sich das Andere via ipse oder idem im Selbst verankert, in jedem Fall wird es im Ruf vom Hügel des Gewissens aus hörbar. * Das Gewissen also ist die Instanz, die die Regeln und Elemente des Moralischen Paktes internalisiert138, einer Fundamentalmoral, die sich aus der Gesellschaft heraus als funktionales Steuerelement in den Individuen einnistet, selbst mit einer aus gesellschaftlicher Perspektive paradoxen Option, sich vom Man auch emanzipieren zu können. 138 Die Frage des Gewissens wird auf der Diskursebene oder der mimêsis III noch einmal auftauchen. Nicht nur weil es bei der Sozialisation via Literatur auf die moralische Bildung ankommt (Gewissen als Heimstatt der moralischen Sätze), sondern weil auch der Erzähler hier ins Spiel kommt: nicht als die Stimme des Gewissens (das nur in offensichtlich moralischer Literatur), sondern als Empfänger des Auftraggebers ‚Gewissen‘. 315 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 3.4.3. Resümee Ricoeur beendet sein Werk Das Selbst als ein Anderer mit einem viertelseitigen Epilog. Zunächst erinnert er den Leser an die ‚großen Erfahrungen der Passivität‘ – also die oben schon besprochenen des Eigenleibes, des Anderen und des Gewissens – und fragt sich selbstkritisch, ob er diese drei Passivitätserfahrungen wirklich „in einem solchen Zustand der Zerstreuung belassen“ solle (Ricoeur 2005, p. 426). Darauf könnte man ihm antworten: ‚Ja, warum denn nicht?‘, wenn die ‚Zerstreuung‘, also der vermeintliche Mangel an Kohärenz, dem Gegenstand angemessen wäre. Oder man könnte sagen: ‚Nein, nimm diese Zerstreuung zum Anlass, weiter darüber nachzudenken!‘ Eine einfache ‚zerstreuungsfreie‘ Lösung wäre doch denkbar: Das Subjekt erfährt sich zunächst als Eigenleib, sodann erfährt es – auf die Welt ausgreifend – den Anderen als ‚Störung‘ (bis hin zum Hobbes’schen bellum) und kehrt am Ende mit dem Anderen zu sich selbst zurück, im Wissen und Gewissen. Ricoeurs Kommentar führt allerdings ins Metaphysische. Auf die Frage, ob man die drei Erfahrungen der Passivität in ihrer Trennung – er nennt das ‚Zerstreuung‘ – belassen sollte, antwortet er: „Diese Zerstreuung scheint mir letzten Endes der Idee der Andersheit selbst angemessen zu sein. Nur eine Rede, die anders ist als sie selbst […], wird der Meta-Kategorie der Andersheit angemessen sein. Anderenfalls hebt die Andersheit sich auf, indem sie das Selbe wie sie selbst wird …“ (Ricoeur 2005, p. 426). Das ist bei allem Respekt vor der wissenschaftlichen Leistung Ricoeurs abenteuerlich. Welcher Wissenschaftler würde von sich sagen, dass seine wissenschaftliche ‚Rede‘ sich von seinem zu untersuchenden Gegenstand im Ricoeur’schen Sinne affizieren lassen müsse (Andersheit könne nur als andere Rede erfasst werden)? Aber gestehen wir Ricoeur seinen mysteriösen Epilog zu. Die Konstruktion des Selbst über den Anderen und zurück zu sich selbst sollte in unseren Ausführungen hinreichend erläutert worden sein. Nun wird das letzte Kapitel dieser Arbeit aufgeschlagen, das, wie oben schon erwähnt, vom Bisherigen nahegelegt wird: Das sich selbst über den Anderen begreifende oder erfassende Ich wirft Charakteristika seines Selbst auf den konkreten Anderen zurück, auf das Gegenüber, auf den es sich nicht nur handelnd, sondern auch und vor allem anerkennend bezieht. Mit diesem letzten Teil wird zudem die Grundthese der vorliegenden Arbeit, die Geltung des Moralischen Paktes, auf den Prüfstand gestellt. 316 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. F. Die Anerkennung Wir haben bisher den Weg des Selbst über den Anderen zu sich zurückverfolgt, das Gewissen als Ort des Anderen im Selbst ausgemacht sowie als Ort des Hörens auf den Anderen. Das Wissen könnte man – wie oben einleitend zu Teil E gesagt – als Schwebebalken zwischen Selbst und Anderem auffassen, auf dem auch die eigene Autonomie Bestätigung findet. Ich fasse kurz zusammen, wie die Autonomie hier ins Spiel kommt. In der Passivität der Selbsterfahrung ist die Autonomie eines fähigen und handelnden Individuums noch nicht ausgebildet. Zunächst bestätigt es im Ausgreifen auf die Welt (Begierde, Arbeit) seine Autonomie, allerdings im Modus der ‚Veräußerung‘. Wissen und Gewissen sind zwar dann die Orte der ‚Heimholung‘ des Selbst, nun aber affiziert durch den Anderen. Das Individuum schützt sich vor Selbsttäuschung, indem es die Mischung aus Selbst und Anderem wieder aus sich heraus in die Welt schickt. Es muss, wie oben schon erwähnt, ein weiteres Mal aus sich herausgehen und dabei den Anderen als das anerkennen, wozu es sich mit dessen Unterstützung konstituiert hat, nämlich als ebenfalls autonomes Selbst. Es verdoppelt sozusagen seine wiedergewonnene Autonomie, indem es sie auf das wirkliche Gegenüber projiziert. Da diese Projektion die Bestätigung der eigenen Autonomie zum Ziel hat, muss der Andere ebenfalls als autonom anerkannt werden. Es gilt also, diesen letzten entscheidenden Schritt des Selbst mitzugehen, den Schritt auf den Anderen zu. Ob aus der Erkenntnis des Anderen Anerkennung wird – und zwar als eigenständiges, autonomes Individuum –, davon soll im Folgenden die Rede sein. Am Ende wird die Aufdeckung einer wechselseitigen Anerkennung der Individuen zur ‚kleinen Ethik‘ Ricoeurs aus dem Anfangsteil A zur Moral zurückführen. Was für die vorliegende Arbeit mindestens ebenso relevant ist: Der folgende letzte Teil führt nicht nur das Selbst und den Anderen zusammen, sondern wird auch zum Prüfstein meiner These. Zeigt sich in literarischen Werken tatsächlich eine Struktur der Polemik, so wie Greimas es postuliert, oder kann das Narrative genauso gut wechselseitige Anerkennung fokussieren, Frieden und Liebe? Und damit das Grundelement des Moralischen Paktes, den Kampf, aus dem Fundamentalgefüge aushebeln? https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. F.1. Auseinandersetzung mit Thomas Hobbes Paul Ricoeur und Axel Honneth wollen mit Unterstützung Hegels im Hobbes’schen Naturzustand des Kampfes aller gegen alle, also vor und außerhalb eines Gesellschaftsvertrags, in der Natur des Menschen einen Hang zur wechselseitigen Anerkennung ausmachen. Bei Honneth heißt das Protomoral, bei Ricoeur Kampf um Anerkennung. Wenn dem so wäre, würden Anerkennung und Solidarität in einen Rang erhoben werden, von dem aus die fundamentale Bedeutung der Konkurrenz und damit meine Hauptthese infrage gestellt wären. 1.1. Hobbes’ Herausforderung „Das Selbstbewußtsein ist an und für sich, dadurch […], daß es für ein anderes an und für sich ist; d. h. es ist nur als ein Anerkanntes.“ (Hegel 1988, p. 127) Ich werde mich im Folgenden noch einmal Ricoeur zuwenden, weil seine ‚Wege der Anerkennung‘1 sein Lebenswerk nicht nur zusammenzufassen und abzuschließen scheinen, sondern vor allem mit ihrer dritten Abhandlung zur wechselseitigen Anerkennung womöglich eine Sprengkraft enthalten, die meine These in einem hohen Maße relativieren könnte. Schärfer formuliert: Ein Konzept wechselseitiger Anerkennung könnte man sich als mächtige Gegenthese zum Moralischen Pakt vorstellen. Das gilt es zu überprüfen. In seiner ersten Abhandlung befasst sich Ricoeur mit dem Erkennen oder Identifizieren im Allgemeinen und in der zweiten mit dem Wiedererkennen seiner selbst durch sich selbst2 (in seinen Fähigkeiten3). Dem Begriff der Anerkennung wendet er sich in seiner dritten Abhandlung zu, er scheint der Schlussstein in der Erreichung der Identitätsgewissheit des Individuums zu sein: „Anerkannt werden […] hieße für jeden, dank der Anerkennung seines Reichs von Fähigkeiten durch andere die vollständige Gewißheit seiner Identität zu erlangen“ (Ricoeur 2006, p. 310). 1 2 3 (Ricoeur 2006). Ricoeur wendet sich in seiner 2006 auf Deutsch erschienenen Theorie der Anerkennung den Phänomenen des Erkennens, Wiedererkennens und Anerkanntseins zu. Er hat drei Vorträge zur reconnaissance (gehalten in Wien und Freiburg) erweitert und als letzte größere philosophische Untersuchung veröffentlicht. In der ersten der drei Abhandlungen befasst er sich mit dem Erkennen (Kant und Descartes), in der zweiten mit dem Wiedererkennen oder Sich-selbst-Erkennen (Erinnerungsbilder bei Bergson) und in der dritten mit der wechselseitigen Anerkennung (vor allem Hegel). Ricoeur bemerkt einleitend, dass bis zu jener Zeit noch kein Werk unter dem Titel La reconnaissance erschienen sei: „Und doch kehrt das Wort in all meinen Lektüren beharrlich wieder, bald als Teufel an ungelegener Stelle, bald willkommen, erwartet sogar am rechten Ort“ (Ricoeur 2006, p. 19). … mit den Begriffen der Selbigkeit und Selbstheit, die bereits besprochen wurden; vgl. auch hier Wege der Anerkennung: (Ricoeur 2006, p. 194 f.). Siehe oben Ausführungen in Teil D zum Initialentwurf (Autonomie). 318 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Ricoeur formuliert eine Hypothese, die sich als Antwort auf ‚die große Herausforderung‘ lesen lasse, „[…] die Hobbes’ politische Theorie dem abendländischen Denken entgegengeschleudert hat“ (Ricoeur 2006, p. 195), die Hypothese nämlich, dass es dem Menschen gegeben sei, im Naturzustand eine symbolische Erfahrung wechselseitiger Anerkennung zu machen. Ein solcher ‚Kampf um Anerkennung‘ würde das Hobbes’sche Konzept des ‚bellum omnium contra omnes‘ infrage stellen. Das ist Ricoeurs Ausgangspunkt. Der ‚Krieg aller gegen alle‘, so zitiert Ricoeur Hobbes, werde durch drei Leidenschaften charakterisiert, durch Konkurrenz, Misstrauen und Ruhmsucht.4 In diesen Leidenschaften spiegelt sich tatsächlich bereits – da ist Ricoeur zuzustimmen – ein Verhältnis zum Anderen, und zwar in Gestalt eines Vergleichs, ohne den es keine Feindschaft gäbe, die zur Unterwerfung des Einen durch den Anderen führt. Eine Marginalform von Anerkennung liegt also tatsächlich dem Hobbes’schen Modell zugrunde, vor allem in dem Moment, worauf die Leidenschaft der Ruhmsucht aus ist: das Ansehen. Ricoeurs Deutung führt weiter: Wenn ich den Krieg als ‚Verweigerung‘ von Anerkennung oder, wie Ricoeur es in einem Atemzug nennt, als ‚Verweigerung von Erkenntnis‘ interpretierte, dann beschriebe ich den Krieg als Negation, die nach einer Auflösung ins Positive dränge, nämlich zu Frieden und Anerkennung des Anderen. Noch deutlicher wird das im Französischen: Jene Anerkennungsverweigerung (im Kriegszustand) heißt bei Ricoeur im Original ‚méconnaissance‘,5 was sich im Wörterbuch als ‚Verstellung‘ oder ‚Fehleinschätzung‘ findet. Damit unterstellt Ricoeur, dass die drei Hobbes’schen Leidenschaften des Menschen im Naturzustand auf einer Verstellung beruhen, einer fehlerhaften Einschätzung dessen, was eigentlich die Beziehung des Selbst zum Anderen auszeichne6, nämlich die Anerkennung. Das mutet wie ein akademischer Taschenspielertrick an. Und noch ein weiterer Punkt scheint in Ricoeurs Augen ungereimt im Hobbes’schen Naturzustand, dass nämlich vor aller bindenden staatlichen Gewalt ‚natürliche Gesetze‘7 Geltung beanspruchten oder „bindend sind, obgleich sie dem Naturzustand angehören“ (Ricoeur 2006, p. 211). Solchen Gesetzen oder Geboten liege die ‚Furcht vor dem Tode‘ zugrunde oder ins Positive gewendet: das Interesse an Selbsterhaltung. Ricoeur glaubt hier eine Lücke in der 4 5 6 7 Alle drei Leidenschaften, so Hobbes, führten zu Übergriffen, die Konkurrenz um des Gewinns willen, das Misstrauen um der Sicherheit und die Ruhmsucht um des Ansehens willen; vgl. (Hobbes 1996, p. 104). … als Verweigerung der ‚reconnaissance‘. Vgl. hierzu (Ricoeur 2006, p. 210). Das ‚grundlegende Naturgesetz‘ bei Hobbes ist die allgemeine Regel der Vernunft, „daß jedermann nach Frieden streben sollte, soweit er Hoffnung hat, ihn zu erlangen, und daß er, wenn er ihn nicht erlangen kann, alle Hilfen und Vorteile des Krieges suchen und von ihm Gebrauch machen darf“ (Hobbes 1996, p. 108). 319 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Hobbes’schen Argumentation8 entdeckt zu haben: Was Hobbes im Naturzustand als Voraussetzung für den gemeinsamen Vertragsabschluss dingfest zu machen glaube – Vernunft, ‚Gesetze der Natur‘ –, sei letztlich nicht mehr als die blanke Angst vorm Tod, „das durch die Furcht vor einem gewaltsamen Tod ausgelöste Kalkül“ (Ricoeur 2006, p. 211). Es stellt sich tatsächlich die Frage, wie die Individuen vom Kriegs- in den Friedenszustand gelangen, wie sie zum freiwilligen Verzicht auf ihr ‚Recht auf alles‘ kommen. Hobbes dürfte hier so zu lesen sein, dass das Recht auf alles im Naturzustand eben nur eine Option ist, aber noch nicht realisierter Zugriff. Und dass dieser Zustand des gewaltsamen Übergriffs auf das, was andere als das Ihrige betrachten, weder Sicherheit bietet noch auf Dauer durchsetzbar ist. Ergo: Wer mit weniger zufrieden ist und seine Güter dann in Ruhe ‚genießen‘ und ‚vermehren‘ kann, für den ist Frieden das vernünftige Kalkül. Und sich darüber mit den Anderen zu einigen, ist genauso naheliegend wie der Wunsch nach einer Garantie, dass sich alle daran halten werden. Und das setzt – der Naturzustand leuchtet hier noch einmal durch – die Übertragung meines individuellen Rechts auf Gewaltausübung an die Institution eines Gewaltmonopols voraus. Der Gesellschaftsvertrag ist die einzige Klammer zwischen Natur- und Gesellschaftszustand. Ich stimme Ricoeur zu: Die Anerkennung ist ein wesentliches Charakteristikum des Ausgangs der Individuen aus dem Naturzustand. Aber eben nur des Ausgang, also des Zeitpunkts des Verlassens dieses ursprünglichen Zustands. Das alles ist nicht neu und es stellt sich die Frage, wo denn nun die von Ricoeur entdeckten Ungereimtheiten im Hobbes’schen Modell liegen? Ricoeur hält an seiner Kritik fest, er vermisst einen Übergang vom selbstbezogenen Individuum zum sich vertraglich bindenden. Für ihn liegt eine Kluft dazwischen, die Hobbes nicht zu überbrücken imstande gewesen sei. Im Verhältnis zum Anderen sei das Individuum lediglich motiviert durch seine eigene Furcht vor dem Tod sowie die Erhaltung der eigenen Macht; und im Verhältnis zum staatlichen Repräsentanten übertrage das Individuum (als ‚Urheber/Autor‘)9 seine Macht an eine lediglich ‚artifizielle Person‘ (als ‚Schauspieler/Akteur‘). Was fehle, so Ricoeur, sei „der Teil Alterität, der an seiner Selbstheit mitwirkt“ (Ricoeur 2006, p. 217). Aber legt Ricoeur damit wirklich einen Finger auf eine vermeintliche Wunde des Hobbes’schen Modells? Kann von einem ‚Fehlen der Dimension der Alterität‘ hier überhaupt gesprochen werden? Hat Hobbes nicht, wie eben gezeigt, in allen naturzuständlichen Leidenschaften und Vernunftgeboten das Verhältnis zum Anderen bereits mitgedacht? 8 9 Zu Recht formuliert Ricoeur das so: Plötzlich tauche die Vernunft auf, die die Grundsätze des Friedens nahelege; vgl. (Ricoeur 2006, p. 211). Hier liegt die Idee der Volkssouveränität begründet. 320 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Schauen wir darauf, wie Ricoeur diese vermeintliche Lücke zwischen ausschließlichem Bezug auf sich selbst und dem anerkennenden Bezug auf den Anderen zu schließen versucht. 1.2. Die Antwort auf Hobbes Worum geht es Ricoeur? Um die Rettung dessen, was Hobbes durch den Staat erst ‚herbeizwingen‘ lässt? Um die Rettung vorstaatlicher Qualitäten des Menschen? Wenn sich die Individuen im Naturzustand bereits ‚eigentlich‘ anerkennten, dann käme dem Staat lediglich die Rolle des ‚Bewahrers‘ zu.10 Sehen wir, welche Antworten Ricour parat hält. Für seine Absicht, den Hobbes’schen Naturzustand neu zu definieren, vor allem dort bereits den Wunsch nach Anerkennung zu entdecken und damit den Hobbes’schen Krieg aller gegen alle eine völlig neue Note zu geben – „dem Kampf, den Hobbes als Überlebenskampf interpretiert, eine andere Wendung zu geben und ihn als Kampf um gegenseitige Anerkennung zu verstehen“ (Ricoeur 2006, p. 221) –, für eine solche Absicht, für ein solches Forschungsvorhaben sucht sich Ricoeur Mitstreiter. Fündig wird er bei Axel Honneth, der ebenso wie er selbst seine Speerspitzen gegen Hobbes richtet und auf ein Modell des Naturzustands zielt, das den Kampf aus moralischen Motiven hervorgehen lasse.11 Ricoeur wie auch Honneth stoßen bei ihrer Hegellektüre auf die Jenaer Fragmente, die sie im Aufbau einer Theorie der Anerkennung zu ‚aktualisieren‘ sich vornehmen. Ricoeur bezieht sich dabei auf Axel Honneths Kampf um Anerkennung von 1992. 1.2.1. Axel Honneths Antwort Die Ansätze, die Honneth in seinem Kampf und Anerkennung vorgestellt hat – also dem Referenzwerk für Ricoeurs Wege der Anerkennung –, seien von ihm, Honneth, auf seinem weiteren Weg zu einer fundierten Anerkennungstheorie immer wieder überprüft, korrigiert und ergänzt worden. Vor allem sei es ihm bei der Überarbeitung darum gegangen, die Hegelsche Anerkennungslehre weiter zu präzisieren. Seine diesbezüglichen ‚Klärungsbemühungen‘ fanden schließlich Niederschlag in dem Studienband Das Ich im Wir, den er 2010 veröffentlichte. Doch hier beginnt er nicht mit einer nochmaligen Lektüre der Hegel’schen Jenaer Fragmente, sondern mit dem Selbstbewusstseinskapitel aus Hegels Phänomenologie des Geistes. Dort, so Honneth, widme sich Hegel – ‚auf nur anderthalb Seiten‘ – der These, „daß das Bewußtsein des eigenen Selbst der An- 10 11 Die sich wechselseitig anerkennenden Individuen lägen dem Staat immer schon voraus und verblieben mit ihren Zwecken das, worum es ihm nur zu tun sein sollte. Vgl. (Ricoeur 2006, p. 234). 321 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. erkennung durch ein anderes bedarf“ (Honneth 2010, p. 16). Der Nachvollzug der Honneth’schen Hegellektüre sollte, wenn sie zu überzeugen vermag, die fehlende Lücke auch in unserem Argumentationsgang füllen. Wir gehen dabei also über die Ricoeur’schen Wege der Anerkennung zunächst einmal hinaus, weil Ricoeur sich, wie gesagt, auf das ältere Werk Honneths und dabei auf Hegels Jenaer Fragmente und nicht auf dessen Phänomenologie des Geistes bezogen hat. Beginnen wir also mit Honneths jüngerer Hegellektüre12 und blicken begleitend das eine oder andere Mal selbst in Hegels Selbstbewusstseinskapitel.13 1.2.1.1. Die erste Stufe des Selbstbewusstseins: das ununterschiedene Ich Auf dem Hegel’schen Weg zur Gewissheit seiner selbst entfaltet sich das Bewusstsein auf drei Stufen. Die erste Stufe eines abstrakten Selbstbezugs verlässt das Bewusstsein zugunsten einer zweiten Stufe, wo es sich praktisch begehrend auf die Welt bezieht und dort sein Gegenüber zunächst als ebenso lebendig wie sich selbst entdeckt; am Ende, auf der dritte Stufe, zeigt sich das lebendige Gegenüber nun ebenfalls als Selbstbewusstsein. Ausgangspunkt bei Hegel sei, so Honneth, dass sich das Selbst als ein rationales Individuum wisse.14 Doch als ein abstraktes Wissen sei es noch nicht gleichzusetzen mit der Erfahrung des eigenen konkreten Handelns. Das Bewusstsein sei hier nur in seiner Einfachheit gedoppelt, im Sinne einer ‚bewegungslosen Tautologie: Ich bin Ich‘.15 Es fehle dem Ich noch an der Erfahrung, „daß meine Bewußtseinsleistungen […] einen wirklichkeitsverändernden, tätigen Charakter besitzen“ (Honneth 2010, p. 19). Das sei der Mangel der ersten Stufe des Selbstbewusstseins und damit der Übergang zur zweiten. 1.2.1.2. Der Ausgang aus dem tautologischen Ich Honneth vermisst bei Hegel eine ausreichende Vermittlung zwischen den ersten beiden Stufen des Selbstbewusstseins und macht sich auf die Suche nach einem Zwischenschritt, der erklären könne, warum das Subjekt aus seiner 12 13 14 15 Ich möchte die vorliegende Arbeit nicht durch Redundanzen künstlich verlängern, sondern lediglich Honneths Hegellektüre nachzeichnen, Wiederholungen aus den obigen Ausführungen zur Arbeit und Begierde möge mir der Leser deshalb nachsehen; siehe Ausführungen zur Begierde im Abschnitt Selbsterkenntnis II (Kapitel C.2.). Vgl. (Hegel 1988). Vgl. (Honneth 2010, p. 18). Vgl. (Hegel 1988, p. 121). Hierzu kommentiert Georg W. Bertram: Das ‚Ich bin Ich‘ gehe auf Fichte zurück und in ihm kämen zwei Momente zusammen. Das Ich beziehe sich erstens auf etwas anderes und zweitens doch in einer Weise auf dieses Andere, dass es es als mit sich selbst eins wisse; vgl. (Bertram 2017, p. 95). 322 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Ich=Ich-Tautologie zum Ausgriff auf die Welt, zur Begierde motiviert werde. Schlüsselstellung für diesen Übergang, so Honneth, nehme der Begriff des Lebens ein; Hegel sagt: „Was das Selbstbewußtsein als seiend von sich unterscheidet, hat auch insofern, als es seiend gesetzt ist, nicht bloß die Weise der sinnlichen Gewißheit und der Wahrnehmung an ihm, sondern es ist in sich reflektiertes Sein, und der Gegenstand der unmittelbaren Begierde ist ein Lebendiges“ (Hegel 1988, p. 122). Hegel zeige nun, wie das Subjekt „aus dem zuvor entwickelten Begriff ‚Leben‘ die Konsequenzen für sein eigenes Selbstverständnis zu ziehen beginnt“ (Honneth 2010, p. 20). Das bis dahin ‚welt- und körperlose, unsituierte Ich‘ wende nun den Lebensbegriff reflexiv auf seine eigene Stellung zur Welt an.16 Es erfahre, dass es sich der Welt voller Lebendigkeit gegenüber nicht mehr rein epistemisch verhalten könne, sondern aktivisch, nämlich, so ergänzt Honneth, „als sich naturhaft reproduzierendes Lebewesen“ (Honneth 2010, p. 20). Doch wie gelingt Hegel dieser Schritt zur Lebendigkeit? Ein kurzer Exkurs über den Begriff des Lebens sollte diese Lücke schließen. Exkurs zum Hegel’schen Begriff des Lebens Das Leben, so Hegel, sei doppelt bestimmt, als ‚unendliches Wesen‘ zum einen und als individuelles ‚Bestehen‘ zum anderen. Was individuell ‚bestehe‘, seien die ‚Gestalten‘, die in ihrer Bewegung Selbständigkeit gegenüber dem ruhigen Medium des Lebens zeigten: Das Ansich der Lebenssubstanz ‚verzehrend‘, setzten die Gestalten ihre Individualität. Damit verteilen sich Abstraktion und Konkretion wie folgt: Die unterschiedslose ‚Flüssigkeit des Lebens‘ sei von ihrem Wesen her Abstraktion und als individualisierte Gestalt wirklich.17 In dieser ‚Verkehrtheit‘ lässt Hegel das Verhältnis nicht stehen, die Einheit kehre durch den Lebensprozess wieder in sich zurück, und zwar als reflektierte Einheit. Eine solche Einheit verweise auf ein Anderes, auf ein Bewusstsein nämlich, für das das Leben – und nun kommt es: – Gattung sei.18 Vereinfacht formuliert: Was an sich zunächst getrennt gewesen ist – das abstrakte Wesen des Lebens einerseits und die konkrete Gestalt andererseits –, wird nun auf einer höheren Ebene zu einer Einheit zusammengeführt, nicht aber als Gestalt, also in materieller Existenz, sondern als Bewusstsein, und zwar vom Leben als Gattung. Der Begriff der Gattung19 – sozusagen der Schlüssel zu jener Vereinigung – inskribiert so etwas wie eine dialektische Verschmelzung von Selbstständigkeit 16 17 18 19 Vgl. (Honneth 2010, p. 20). Vgl. (Hegel 1988, p. 125). Vgl. (Hegel 1988, p. 125). Die Gattung bewährt sich als Prinzip (= als Bewusstsein) über die Negation der selbständigen Gestalten. 323 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. (erhält sich als Totalität) und Negation (der Individualität der sterblichen Gestalten). Wir kommen darauf zurück. – Exkurs Ende – Nun fehlt noch der Rückschluss auf die Lebendigkeit des Selbst, die hier in Rede steht. Das Selbstbewusstsein, so Honneth, „kann gewissermaßen nicht umhin, im Spiegel seines eigenen Begriffs des organischen Lebensprozesses am eigenen Selbst retrospektiv die natürlichen Züge zu entdecken, die es mit der von ihm abhängigen Wirklichkeit teilt“ (Honneth 2010, p. 22). Honneth bedient sich des eben skizzierten Hegel’schen Begriffs des Lebens, der nun den Übergang zur zweiten Stufe des Selbstbewusstseins plausibel mache.20 In der Begierde versichere sich das Selbstbewusstsein, wie eben bereits gesagt, „daß es als Bewußtsein lebendige, naturhafte Züge besitzt“21 (Honneth 2010, p. 22). 1.2.1.3. Die zweite Stufe des Selbstbewusstseins Auf der zweiten Stufe des Selbstbewusstseins, der der Begierde, versichere es sich also, so Honneth, seiner biologischen Natur, greife negierend auf die Gegenstände zu und erfahre sich dabei in seiner Lebendigkeit als sinnlich begehrend.22 Die Begierde sei ein wesentliches Bindeglied zwischen dem abstrakt seiner selbst gewissen Selbst und dem ihm gegenüberstehenden Anderen, ihre Leistungen dürfe man nicht als bloß Negatives und zu Überwindendes kleinreden. Das Bewusstsein erfasse sich in der Bedürfnisbefriedigung nicht mehr nur ‚punktuell‘, sondern als ein Selbst, „das mit seiner mentalen Aktivität23 exzentrisch in die Natur versetzt ist“ (Honneth 2010, p. 23). 20 21 22 23 Man kann sich an dieser Stelle mit dem Status der Plausibilität zufriedengeben, aber Fragen drängen sich auf. Warum ist dieser Übergang vom nicht situierten Bewusstsein auf seine Lebendigkeit oder Natürlichkeit hin so zwingend, wie es Honneth behauptet? Die Frage ist deshalb wichtig, weil Honneth hiermit die Grundlage für seine Anerkennungstheorie legt. Warum sollte sich das Bewusstsein nicht in dieser Spannung zwischen ‚Geist‘ und ‚Körper‘ einrichten können? Warum sollte sich das Bewusstsein im tätigen Zugriff auf die Natur (also im Modus des ‚Lebendigen‘) nicht in einem weiteren Schritt seiner selbst als etwas ‚ganz Anderes‘ bewusst werden, also in einem vom Lebensbegriff abweichenden kategorialen Verständnis? Honneth vermutet, dass Hegel damit nicht zuletzt dem Antinaturalismus (das Bewusstsein beobachtet nur sich selbst) seiner idealistischen Zeitgenossen entgegenwirken wollte; vgl. (Honneth 2010, p. 23). Das Selbstbewusstsein sei sich der Nichtigkeit des Anderen gewiss, „vernichtet den selbständigen Gegenstand und gibt sich dadurch die Gewißheit seiner selbst“ (Hegel 1988, p. 125). Die Betätigung der Begierde leiste für Hegel etwas Doppeltes: „Das Subjekt erfährt sich sowohl als Teil der Natur, weil es in die […] ‚Bewegung des Lebens‘ einbezogen ist, wie auch als ihr aktiv-organisierendes Zentrum“ (Honneth 2010, p. 23). Ein paar Zeilen später erläutert Honneth jene Aktivität des begehrenden Subjekts: Es sei darin erfolgreich, „sich von der Wirklichkeit gemäß der eigenen Diskriminierungen die Stoffe anzueignen, 324 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Honneth wendet, wie oben schon erwähnt, den Begriff des Lebens ‚naturalistisch‘ auf das Verhältnis zwischen Individuum und Welt an: Der ‚Prozess des Lebens‘ sei sozusagen das Regenerations- oder Erhaltungsprinzip des Natürlichen oder Kreatürlichen, das Subjekt vermöge auch noch so ‚rastlos‘ seine Begierden zu befriedigen, „stets bewahrt sich in der Vernichtung des Einzelglieds doch der ‚Prozeß des Lebens‘ im ganzen, so daß der Gegenstand seine ‚Selbständigkeit‘ beibehält“ (Honneth 2010, p. 26). So weit, so gut. Die Wirklichkeit als lebendige Totalität bleibt tatsächlich beim Zugriff des Individuums auf einen einzelnen Gegenstand unbehelligt, allerdings bleibt sie nicht, wie Honneth sagt, ‚unberührt‘.24 Die Welt (und nicht der einzelne ‚Gegenstand‘) behalte ihre ‚Selbständigkeit‘, „weil sie vom Überleben ihrer einzelnen Elemente unabhängig ist“ (Honneth 2010, p. 27). Das ist die Bestimmung des Lebens als sich in ‚Gattungen‘ reproduzierend. 1.2.1.4. Mangel der zweiten Stufe des Selbstbewusstseins und Ausblick auf die dritte Stufe Honneth wendet sich nun der ‚dringlichen Frage‘ zu, woran Hegel diese zweite Stufe des Selbstbewusstseins scheitern lasse, wo er den Mangel ausmache, der ihn dialektisch auf einer höheren Stufe aufhebe. Hegel schildere, so beklagt Honneth, den Ertrag der Begierde ‚geradezu überstürzt‘. In der Begierde sei sich das Subjekt der ‚Nichtigkeit‘ seines Gegenübers und seiner selbst als überlegen gewiss. Die Überlegenheit25 zeige sich im Verzehr des natürlichen Gegenstands26. In dessen Einverleibung gebe sich, so ist bei Hegel zu lesen, das Selbstbewusstsein die Selbst-Gewissheit auf eine ‚gegenständliche Weise‘27 und mache dabei ‚die Erfahrung der Selbständigkeit des Gegenstandes‘ Die Gewissheit seiner selbst, so müsse das Bewusstsein erfahren, sei also durch ein Anderes bedingt. Mehr noch: Das Selbstbewusstsein müsse ihn um seiner eigenen Gewissheit willen immer wieder neu erzeugen. Für Honneth zeigt sich hier – und das ist zunächst durchaus naheliegend – ein Element der Selbsttäuschung, das Subjekt operiere mit falschen Vorstellungen über seine Beziehung zur Welt, „wenn es glaubt, in der Bedürfnisbefrie- 24 25 26 27 die seine animalischen oder ‚erotischen‘ Bedürfnisse erfüllen konnten“ (Honneth 2010, p. 28). Vgl. (Honneth 2010, p. 26). Warum also soll sich das Subjekt hier nicht in seiner wirklichkeitserzeugenden oder, wenn man so will, in seiner wirklichkeitsbeschädigenden Aktivität begreifen? … als ‚menschliches Tier‘; vgl. (Honneth 2010, p. 24). Vgl. (Honneth 2010, p. 24). Vgl. (Hegel 1988, p. 126). 325 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. digung, der Sättigung28 seiner Begierde, den Gegenstand vernichten zu können“ (Honneth 2010, p. 25). Wiewohl sich hier sofort ein zustimmendes Nicken des Faust-Kenners einstellt, möchte ich doch vor einem allzu raschen Blick aufs uns vertraute Alltagsbewusstsein warnen. Ich lese Hegel an dieser Stelle, wenn man so will, ‚abstrakter‘ als Honneth: Bedingt ist das Selbstbewusstsein durch den begehrten Gegenstand nur insoweit, als er existiert, nicht mehr und nicht weniger: „[…] daß dies Aufheben sei, muß dies Andere sein“ (Hegel 1988, p. 126). Prägnanter kann man es nicht formulieren. Das Selbstbewusstsein ist an etwas ihm Vorausgesetztes gebunden, das es selbst im Verzehren oder Verschlingen nicht aufheben kann. Um den Widerspruch auf einer höheren Stufe aufzuheben,29 suche das Selbstbewusstsein, so Hegel, nach einer Befriedigungsform, die beides vereint: die Selbständigkeit des Gegenstands wie dessen Vernichtung im Verzehr. Hegels Lösung: Der Gegenstand müsse sich aus seiner Selbständigkeit heraus selbst negieren: „[…] er muß diese Negation seiner selbst an sich vollziehen, denn er ist an sich das Negative, und muß für das andre sein, was er ist“ (Hegel 1988, p. 126). Wahrlich ein dialektisches Konstrukt! Honneths und meine Deutung scheinen an dieser Stelle auseinanderzugehen. Hegels Formulierung vor dem eben Zitierten lautet folgendermaßen: „Um der Selbstständigkeit des Gegenstandes willen kann es [das Selbstbewusstsein] daher zur Befriedigung nur gelangen, indem dieser [der Gegenstand] selbst die Negation an ihm30 vollzieht; und er muß diese Negation seiner seiner selbst an sich vollziehen“ (Hegel 1988, p. 126). Honneth bezieht das ‚an ihm‘ auf das Selbstbewusstsein und nicht auf den Gegenstand der Begierde; er schreibt: Das Subjekt bedürfe eines Gegenübers, „das ‚an ihm‘ nun jene Negation vollzieht, welche es selbst zuvor an der natürlichen Wirklichkeit ausgeübt hat“31 (Honneth 2010, p. 28). Meiner Interpretation nach geht es bei Hegel nicht um eine ‚wechselseitige Negation‘, wie Honneth sagt, sondern einfach 28 29 30 31 Über ein Plausibilitätsverhältnis kommt Honneth nicht hinaus. Es ist nicht zwingend, dass angesichts von Fülle, Umfang und Reproduktion der Natur das Subjekt im Prozess seiner Bedürfnisbefriedigung die Gegenstände der Natur nicht vernichten kann. Dem einzelnen Akt der Bedürfnisbefriedigung geht es immer nur um ebenjene Vernichtung des begehrten Objekts. Erst auf einer höheren, auf einer Metaebene ist die Idee einer schlechten Unendlichkeit der Sättigung denkbar. Allerdings sind der Ausbeutung der Natur sehr wohl Grenzen gesetzt: siehe fossile Energievorräte. Auch für Honneth ist das der entscheidende Schritt hin zu seinem Thema, zur Anerkennung. Fast alle Philosophen, die sich interpretierend dieses Übergangs angenommen hätten, so sagt er, flüchteten sich lediglich zu metaphorischen Überbrückungen; vgl. (Honneth 2010, p. 25). Kursivsetzung durch mich. Damit nimmt auch nicht wunder, dass Hegels Bemerkung für Honneth schwierig zu verstehen ist, „nach der jenes zweite Subjekt offenbar eine Negation an ihm, dem ersten beobachteten Subjekt vollziehen können muß“ (Honneth 2010, p. 29); Kursivsetzung von mir. 326 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. um die dialektische Vermittlung der zwei Merkmale des Gegenstands der Begierde: Selbständigkeit und Negation. 1.2.1.5. Erreichung der dritten Stufe des Selbstbewusstseins Aber auch Hegels Schluss ist gewagt: Indem der Gegenstand „die Negation an sich selbst ist, und darin zugleich selbstständig ist, ist er Bewußtsein“ (Hegel 1988, p. 126). Warum das? Wenn man Hegel so weit gefolgt ist – von der Tautologie des Ich = Ich über die Wahrnehmung des Anderen wie des Selbst als Lebendiges –, drängt sich nach dem Exkurs zum Begriff des Lebens das Erfassen des Gegenübers als Selbstbewusstsein auf. So scheint es zumindest. Da das Leben seine höhere Einheit (seine reflektierte Einheit von Wesen und Gestalt) im Bewusstsein der Gattung erreicht, begreift das Selbstbewusstsein nicht nur sein Gegenüber als lebendig, sondern sich selbst als im Sinne der Gattung sich auf natürliche oder gegenständliche Weise reproduzierend. Sobald also das Selbst dem Gegenüber die Dialektik der Gattung, nämlich Negation und Selbständigkeit, zuschreibt, erkennt es es ebenfalls als Selbstbewusstsein an: „Das Selbstbewußtsein erreicht seine Befriedigung nur in einem andern Selbstbewußtsein“ (Hegel 1988, p. 126). Hegel fasst zusammen: Das Ich sei auf der ersten Stufe des Selbstbewusstseins eigentlich kein Gegenstand gewesen. Der Gegenstand der zweiten Stufe verbleibe dem Selbstbewusstsein gegenüber in seiner Selbständigkeit – „er ist die allgemeine unvertilgbare Substanz“ (Hegel 1988, p. 127) – und erst auf der dritten Stufe sei das Gegenüber als Selbstbewusstsein ebenso Ich wie Gegenstand.32 Es steht mir an dieser Stelle nicht an, mich der Schlüssigkeit der Hegel’schen Argumentation weiter zu widmen, denn hier geht es einzig darum, die Überlegungen, die Honneth für das Selbstbewusstsein im Naturzustand anstellt, nachzuvollziehen und zu überprüfen. Beim Übergang zur dritten Stufe, der des Selbstbewusstsein-trifft-auf-Selbstbewusstsein, stellt Honneth überraschend seine oben von mir problematisierte Lesart der wechselseitigen Negation infrage und nähert sich damit meiner Deutung. Man möge doch das ‚an ihm‘ als ein ‚an sich selbst‘ verstehen, so dass man dem zweiten Subjekt „eine auf sich selbst gerichtete, eine Art von Selbstnegation“ zuschreiben könne (Honneth 2010, p. 29). Ja, richtig, aber warum vollzieht Honneth gleich wieder eine Kehrtwende? Hegel nämlich, so Honneth weiter, setze der Negationsbewegung des Gegen32 Das, so Hegel, sei bereits der Begriff des Geistes. Erst auf dieser Entwicklungsstufe habe das Bewusstsein seinen Wendepunkt, „auf dem es aus dem farbigen Scheine des sinnlichen Diesseits, und aus der leeren Nacht des übersinnlichen Jenseits in den geistigen Tag der Gegenwart einschreitet“ (Hegel 1988, p. 127). 327 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. übers komplementär eine ebensolche Bewegung aufseiten des Selbstbewusstseins entgegen – womit Honneth mir nichts dir nichts seine ursprüngliche Lesart wieder einfängt: Die beiden sich gegenüberstehenden Selbstbewusstseine stünden sich im Verhältnis der Reziprozität als Ego und Alter Ego gegenüber. Warum? Weil das Ego einem ‚Wesen gleicher Art‘ begegne, komme es nicht umhin, die Selbstnegation auch an sich zu vollziehen. Mit einer so behaupteten Reziprozität serviert Honneth sich selbst das Phänomen der Anerkennung auf einem Tablett. Denn sein Erkenntnisziel ist nach wie vor eine vorgesellschaftliche oder vorstaatliche wechselseitige Anerkennung der Individuen. Drängt sich hier nicht der Einwand auf, dass eine solche Reziprozität eher zum Kampf auf Leben und Tod als zu einer sich selbst beschränkenden, wechselseitigen Anerkennung führt? Da sich Honneth weiterhin auf Hegel beruft, muss ich die Geduld des Lesers noch einmal strapazieren und Hegels Ausführungen zur Anerkennung lesen, sowohl in der Phänomenologie des Geistes wie auch in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. 1.2.1.6. Die Anerkennung Beginnen wir dort, wo wir Hegel zur Seite gelegt haben. Und wenden uns gleich dem zentralen Satz zu, mit dem er seine Ausführungen zur Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewusstseins33 einführt: „Das Selbstbewußtsein ist an und für sich, indem, und dadurch, daß es für ein anderes an und für sich ist: d.h. es ist nur als ein Anerkanntes“ (Hegel 1988, p. 127). Was Honneth vermutlich zu seinen Ego/Alter-Ego-Überlegungen geführt haben mag, hört sich bei Hegel aber dann doch etwas anders an. Wenn das Selbstbewusstsein auf ein anderes stoße, bedeute das zweierlei: Erstens habe es sich selbst verloren, „denn es findet sich als ein anderes Wesen“ (Hegel 1988, p. 128): Das Selbstbewusstsein sieht das, was es ist, auch außerhalb seiner selbst. Und zweitens hebe es das andere auf, „denn es sieht auch nicht das andere als Wesen, sondern sich selbst im andern“ (Hegel 1988, p. 128). Auch das keine Überraschung, weil das, was es im Anderen sieht, ja es selbst ist und zu ihm gehört.34 Für das Verständnis ist vielleicht die Spiegelmetapher hilfreich: Das Selbst sieht im Anderen wie in einem Spiegel sich selbst. In einem zweiten Moment dieser Bewegung gebe das Selbstbewusstsein dann seinem Gegenüber dessen Selbstbewusstsein zurück, „es hebt dies sein Sein im andern auf, entläßt also das andere wieder frei“ (Hegel 1988, p. 128). Der Schluss auf die Ankerkennung ist nach einer solchen Prämisse naheliegend. Jedes der beiden Selbstbewusstseine sei 33 34 Vgl. (Hegel 1988, p. 127 ff.). Nur weil das Andere sozusagen als Reflektor des eigenen Wesens genutzt wird, wird diesem noch lange nicht eine eigene Individualität zugeschrieben. 328 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. erst in der Vermittlung über das andere ‚für sich seiendes Wesen‘: „Sie anerkennen sich, als gegenseitig sich anerkennend“ (Hegel 1988, p. 129). Die Beschränkung auf ein spiegelbildliches, reziprokes Handeln ist als stringente Ableitung kaum nachvollziehbar, ebenso nicht der Schritt zum Für-sichSein des Individuums, das nur über die Vermittlung eines anderen, ihm gegenüberstehenden und es anerkennenden Selbstbewusstseins zu haben sei. Nach wie vor erscheint mir die vorgeschlagene Brücke zwischen Ich und Anderem problematisch; eine Problematik, die sich dann verschärft, wenn – wie hier – erst über die Projektionsfläche eines anderen Selbstbewusstseins das Selbst die Stufe des Für-sich-Seins erreichen können soll. Aber jenseits von Stringenz und Überzeugungskraft berührt Hegels Idee der Wechselseitigkeit den Moment, in dem im Hobbes’schen Modell sich die Individuen auf Gesellschaft und Staat einigen: Jedes Selbstbewusstsein „tut selbst, was es an das andre fodert; und tut darum, was es tut, auch nur insofern, als das andre dasselbe tut; das einseitige Tun wäre unnütz; weil, was geschehen soll, nur durch beide zu Stande kommen kann“ (Hegel 1988, p. 129). Georg W. Bertram liest die Wechselseitigkeit bei Hegel als ‚gemeinschaftliche Praxis‘,35 worin sich beide Subjekte zunächst zwar verlieren, dann aber distanznehmend ihr Anderssein aufhöben und sich aus dieser Distanz am Ende anerkennen könnten. Zurück zu Honneth. Mit einer solchen Engführung auf den Moment des Übergangs aus dem Natur- in den Gesellschaftszustand würde er sich nicht zufriedengeben. Er möchte Hegel nach wie vor kreativ im Sinne seiner, also Honneths, Anerkennungstheorie nutzen. Dazu unterstellt er ihm die Kenntnis der kantischen Definition der Achtung – als Negation der Selbstliebe – und weiterhin, dass er dem Selbstbewusstsein im Naturzustand eine Erfahrung zuschreibe, „die in einem elementaren Sinn bereits moralischen Charakter besitzt“ (Honneth 2010, p. 31). Allerdings nicht als ‚Willensentschluss‘, sondern als ‚Reflex auf das Gewahrwerden des Gegenübers‘: „Ego und Alter ego reagieren zugleich aufeinander, indem sie jeweils ihre egozentrischen Bedürfnisse einschränken, wodurch sie ihre weiteren Handlungen vom Verhalten ihres Gegenübers abhängig machen“ (Honneth 2010, p. 31). Eine solche Hegel unterstellte ‚Protomoral‘ regele, so Honneth, nicht nur das Verhalten der miteinander agierenden Subjekte, sondern liefere darüber hinaus jedem Subjekt wechselseitig die Bestätigung, dass seine Aktivität Wirklichkeit erzeuge: „Nur in der moralischen Selbstbeschränkung des Anderen können wir die Aktivität erkennen, in der unser Selbst in der Weise tätig ist, daß es instantan an der Welt eine nachhaltige Veränderung bewirkt, ja eine neue Wirklichkeit erzeugt“ (Honneth 2010, p. 32). Hier wird die Wirkmächtigkeit des Individuums auf den Respekt verschoben, den das Gegenüber dem Selbst zollt, als ob das Individuum sich selbst als 35 Vgl. (Bertram 2017, p. 104). 329 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. wirklichkeitsverändernd erst in der Anerkennung seiner selbst durch den Anderen erfasste. Ich möchte Hegel nicht gegen Honneth ausspielen, auch Honneth nicht seine eigenwillige Lesart Hegels vorwerfen. Was an dieser Stelle der vorliegenden Arbeit von Belang ist, ist die Frage, ob für den Naturzustand so etwas wie ein (proto)moralisches Bewusstsein vorstellbar ist. Bei aller wohlwollenden Rezeption Honneths haben sich meine Bedenken nicht in Luft aufgelöst. Wenn Hegel bereits hier, also bei der Darstellung der Entwicklung des Selbstbewusstseins, die Moral hätte ins Spiel bringen wollen, dann hätte er es getan. Hegel knüpft hier lediglich am Übergang zum Herr-Knecht-Verhältnis an, das wir schon oben in Kapitel C.2 zur Begierde erläutert haben. In der ersten Bewegung auf den Anderen zu seien sich beide noch nicht Spiegel ihres eigenen Für-sich-Seins, sondern Negationen ihres gegenständlichen Daseins. Die Bewährung der Selbstbewusstseine zeige sich zunächst im Kampf auf Leben und Tod.36 Bertram schreibt, dass Hegel hier so verstanden werden könne, „dass er einen agonalen Naturzustand im Sinne von Thomas Hobbes’ bellum omnium contra omnes zeichnet“ (Bertram 2017, p. 106). Der Krieg aller gegen alle ließe allenfalls Gewinner und Verlierer zu. Da der Tod, so Hegel, die natürliche37 Negation des Selbstbewusstseins sei (Negation ohne Selbständigkeit), ließen beide „einander nur gleichgültig, als Dinge, frei“ (Hegel 1988, p. 131). Nicht die natürliche Negation, sondern die abstrakte Negation hebe das Andere so auf, „daß es das Aufgehobene aufbewahrt und erhält, und hiemit sein Aufgehobenwerden überlebt“ (Hegel 1988, p. 131): im Herr-Knecht-Verhältnis (Negation und Selbständigkeit). Ein Blick in Hegels spätere Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften38 macht deutlich, dass er die etablierte Anerkennung nicht im Naturzustand positioniert, sondern dort einzig einen Kampf um Anerkennung39 zu sehen vermag: Wenn nur einer der Kämpfenden untergehe, komme keine Anerkennung zustande. Die Freiheit des Siegers gelange nicht zu einem anerkannten Dasein. Und jetzt der entscheidende Satz aus einem seiner Zusätze:40 Er wolle noch erwähnen, „daß der Kampf um die Anerkennung […] bloß im Naturzustande, wo die Menschen nur als Einzelne sind, stattfinden kann, dagegen der bürgerlichen 36 37 38 39 40 Vgl. (Hegel 1988, p. 130). In seiner Enzyklopädie verbindet Hegel den Kampf mit dem Freiheitsstreben des Individuums: das selbstbewusste Subjekt sei gleichgültig gegen das Dasein und setze „das eigene und das fremde Leben für die Erringung der Freiheit auf das Spiel […]. Nur durch Kampf kann also die Freiheit erworben werden“ (Hegel 1970, p. 220). In seiner Enzyklopädie spricht Hegel von der Leiblichkeit der Unmittelbarkeit des Selbstbewusstseins: vgl. (Hegel 1970, pp. 220, § 431). (Hegel 1970). Auch bei Hobbes könnte man den Kampf um Anerkennung im Streben nach Ruhm wiederfinden. Die Zusätze gehen auf Hegels eigene Vorlesungsskripte oder auf Aufzeichnungen Dritter zurück. 330 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Gesellschaft und dem Staate fernbleibt, weil daselbst […] das Anerkanntsein bereits vorhanden ist“41 (Hegel 1970, pp. 221, § 432). Hegel liefert also durchaus Bilder für den Naturzustand, der Kampf um Anerkennung wird erst in der Minute des Übergangs zum Gesellschaftszustand, im Akt des Vertragsabschlusses zu seinem Ende gebracht, womit die Anerkennung selbst erst praktisch ‚in die Welt kommt‘. Lässt man sich auf das Modell des Naturzustands ein, dann drängt sich einem das Bild eines Individuums auf, das dem von ihm bedürfnisgemäß konstruierten Weltausschnitt in einfachem Begehren begegnet. Das ist solange unproblematisch, als kein Anderer ihm den begehrten Gegenstand streitig macht. Taucht jener Andere aber in einem polemischen Bezug zum Selbst auf, zeigt er sich noch lange nicht als selbstnegierend, sondern als ebenfalls begehrend, also in einem Negationsbezug auf denselben Gegenstand. Beide Subjekte betrachten den jeweils Anderen als Störung auf dem Weg zum Genuss. Die Negationsintention geht damit vom jeweiligen Selbst aus und richtet sich auf den zu negierenden Anderen, allerdings nicht im Sinne einer sättigenden Negation – wie gegenüber dem begehrten Objekt –, sondern im Sinne eines wegzuräumenden Hindernisses. 1.2.1.7. Resümee Fast bedauernd fasst Honneth am Ende seine Gedanken zu Hegel zusammen: Das zu sich gekommene Selbstbewusstsein habe nicht ‚in eine Welt gemeinsam geteilter Vernunft‘42 geführt, sondern in einen Kampf, den die Subjekte nun erst miteinander führen müssten. Und dem ist nur beizupflichten: Sich selbst als Glied der menschlichen Gattung begriffen zu haben, erspart dem Menschen eben noch lange nicht, sich konkurrierend – auch und vor allem auf der rohen, unzivilisierten Stufe des Kampfes – gegen den Anderen durchzusetzen. Dennoch vermeint Honneth sein Erkenntnisziel erreicht zu haben: „Nicht überraschen kann daher, daß Hegel zum Schluß die Bezeichnung für die Besonderheit dieser nunmehr konstituierten Gattung einen einzigen Ausdruck reserviert: ‚Anerkennung‘ – die wechselseitige Beschränkung der eigenen, egozentrischen Begierde zugunsten des jeweils Anderen“ (Honneth 2010, p. 32). Er verwischt damit am Ende die Differenzierungsanstrengung, die trotz aller argumentativen Kompaktheit Hegel unternommen hat. Anerkennung ohne Kampf ist für Hegel nicht denkbar, das Selbstbewusstsein muss durch die Tortur des Kampfes auf Leben und Tod hindurch, um zu 41 42 Erst in der bürgerlichen Gesellschaft zeige sich der Bürger der Anerkennung als freier Person würdig, indem er dem Gesetz gehorche und die Anderen ebenfalls als Freie, als Personen anerkenne; vgl. (Hegel 1970, pp. 221 f., § 432). Vgl. (Honneth 2010, p. 32). 331 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. sich zurückzukommen: „Das Verhältnis beider Selbstbewusstsein ist also so bestimmt, daß sie sich selbst und einander durch den Kampf auf Leben und Tod bewähren. – Sie müssen in diesen Kampf gehen, denn sie müssen die Gewißheit ihrer selbst, für sich zu sein, zur Wahrheit an dem Anderen, und an ihnen selbst erheben“ (Hegel 1988, p. 130). In der Unterwerfung des Anderen komme das Für-sich-Sein zur Gewissheit seiner selbst. Hierzu ist oben genügend gesagt worden. * Bevor wir Hegel verlassen, sei ein weiteres Mal der implizite Verweis auf die Tauschgesellschaft erwähnt. In der doppelten Bewegung beider Selbstbewusstseine sehe jedes das andere das tun, was es selbst tue. Was geschehen soll, komme nur durch beide zustande. Zwischen den Extremen des Selbst und des Anderen sei das Selbstbewusstsein die Mitte, jedes Selbstbewusstsein sei dem anderen die Mitte, jedes vermittle sich mit sich selbst durch den Anderen. „Sie anerkennen sich, als gegenseitig sich anerkennend“ (Hegel 1988, p. 129). Wenn man für ‚Selbstbewusstsein‘ den Tauschwert der jeweils begehrten Gegenstände als ‚Mitte‘ einsetzte, beschriebe Hegel hier die Bewegung zweier Tauschpartner, die nicht nur den Anderen als Besitzer des begehrten Gebrauchswerts anerkennen, sondern auch den Tausch als Händewechsel. Beide Tauschpartner ‚vervollständigen‘ sich erst im Händewechsel der Güter, die sie vor der Transaktion selbst nicht besessen haben. Für diesen Vorgang benötigt es eines wechselseitigen Anerkennens: der Anerkennung der Tauschpartner, der des Pacta-sunt-servanda-Prinzips und der des ungestörten Genusses der getauschten Güter. Kontrakt und Zuverlässigkeit werden hier sichtbar. Denn wie der Tauschwert als die Mitte zwischen Selbst und Anderem im Austausch gesehen werden kann, so der Vertrag ebenfalls als eine solche Mitte, denn auch er ist nichts anderes als die Vermittlung zweier Selbstbewusstseine, allerdings hier auf eine zukünftige Leistung bezogen. Der Austausch qua Tauschwert ist hier nur verzögert, sozusagen aufgeschoben. Deshalb Versprechen und Verlässlichkeit, die der Kontrakt sicherstellt. Im Grunde bleiben sich Tauschpartner wie Vertragschließende gleichgültig, in ihrem Verhältnis spiegeln sie sozusagen das Hegelsche gleichgültige Freilassen des Anderen, beide lassen „einander nur gleichgültig, als Dinge, frei“ (Hegel 1988, p. 131). Dass der Übergang von der ‚Begierde‘ zur ‚Anerkennung‘ weiterhin ein Mysterium bleibt, mag enttäuschen, aber das überrascht auch nicht, weil meiner vorläufigen Einschätzung nach die wechselseitige Anerkennung der Individuen sich nach wie vor erst des Eingriffs einer übergeordneten Macht verdankt, sozusagen ein ‚spätes Produkt‘ unter staatlichen Regelverhältnissen ist. Hier zeigt sich keine ‚Protomoral‘, sondern nur eine gesamtgesellschaftlich verordnete An- 332 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. erkennung unter dem Dach geregelter Tauschverhältnisse als dem Fundamentalbezug der Subjekte aufeinander, eine Anerkennung, die sich gesellschaftlich etabliert in einer der Sozialisation überantworteten Institution: im Gewissen. 1.2.2. Kampf um Anerkennung Ricoeurs Ziel ist es, „dem Kampf, den Hobbes als Überlebenskampf interpretiert, eine andere Wendung zu geben und ihn als Kampf um gegenseitige Anerkennung zu verstehen“. (Ricoeur 2006, p. 221) Was sagt nun Ricoeur? Für ihn sind diese beiden Seiten des Bezugs des Selbst auf den Anderen – der Kampf wie die Anerkennung – substantiell, für seine Anerkennungstheorie benötigt er beide Ansätze, die zu vermitteln er sich vornimmt. Er liebäugelt mit einer konfliktfreien Interessenharmonie des Subjekts und seines Gegenübers, weiß aber auch vom prinzipiellen Gegensatz der Interessen. Hier kommt Hegel wie gerufen, der eben beides liefert: den Kampf wie auch die Anerkennung. Und Ricoeur will dabei nicht den Konflikt als Zentrum leugnen: „Beim Kampf um Anerkennung […] steht die konfliktträchtige Alterität im Mittelpunkt“ (Ricoeur 2006, p. 311). Nur will er nicht wahrhaben, dass die Gesellschaft oder der Staat erst dafür sorgen, dass die widerstreitenden Interessen zu einem ‚Ausgleich‘ gebracht werden. Er hält an seiner These fest, dass dem Menschen im Naturzustand eine Gabe zukomme, „eine wenn auch symbolische Erfahrung wechselseitiger Anerkennung zu machen“ (Ricoeur 2006, p. 196). Ich habe mich zu Beginn des Kapitels zur Honneth’schen Antwort auf Hobbes auf das jüngere Werk Honneths bezogen und damit auf Hegels Phänomenologie des Geistes. Das hat für unseren Lektürezweck ausgereicht, nämlich herauszufinden, ob Anerkennung und Solidarität ‚wesensursprünglicher‘ sind als Konkurrenz und Austausch – mit negativem Bescheid: Anerkennung kristallisiert sich – auch bei Hobbes – einzig in der Modellminute des Vertragsabschlusses heraus, der zu Gesellschaft und Staat führt. Nun könnte man einwenden, dass Ricoeur sich in seinen Wegen der Anerkennung auf das ältere Werk Honneths43 und auf die Jenaer Fragmente Hegels bezogen hat. Eine Analyse würde für die vorliegende Arbeit zu weit gehen, interessanter scheinen mir Ricoeurs Schlussfolgerungen zu sein, seine Ausführungen zur Liebe und zu Friedenszuständen. Mögen diese zum Richter werden, vor dem sich mein Modell des Moralischen Paktes wird verantworten müssen. 43 Vgl. (Honneth 1992). 333 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Nur eines muss noch zu Ricoeurs Lektüre Honneths und Hegels gesagt werden. Honneth, so Ricoeur, verkette in seiner Schrift zur Anerkennung44 drei Modelle intersubjektiver Anerkennung – Liebe, Recht und Wertschätzung –, drei ‚halb spekulative, halb empirische Modelle‘, denen jeweils drei Formen ‚verweigerter Anerkennung‘45 gegenüberstünden, die „ex negativo eine moralische Motivation für die sozialen Kämpfe“ (Ricoeur 2006, p. 235) lieferten.46 Was Ricoeur dann fokussiert, sind die Konflikttypen im Streben nach Anerkennung, wie oben bereits zitiert: „Beim Kampf um Anerkennung […] steht die konfliktträchtige Alterität im Mittelpunkt“ (Ricoeur 2006, p. 311). Auf das erste Modell der Liebe wird im kommenden Abschnitt ausführlich eingegangen.47 Das zweite Anerkennungsmodell des Rechts setzt augenscheinlich Gesellschaft und Staat voraus. Und auch mit dem dritten Modell der Wertschätzung berührt Ricoeur den Moment unmittelbar vorm Gesellschaftsvertrag: also den Zeitpunkt, an dem die Individuen – eben noch vereinzelt und in Opposition zueinander – zusammenkommen, um sich zu assoziieren. Die Individuen lägen in einem Wettstreit miteinander, um ihren jeweiligen Rang innerhalb einer ‚Ökonomie der Größen‘48 glaubhaft zu machen. Das erinnert nicht nur an Greimas’ Transformationsmodell, nicht nur an John Rawls,49 sondern führt auch zu Hegels Gedanken zur Anerkennung zurück: Die Anerkennung ist nur über eine Auseinandersetzung der Individuen zu bekommen – oder wie Ricoeur es formuliert: „Dieser Wettbewerb nun ist ein gutes Äquivalent zu unserem Begriff ‚Kampf um Anerkennung‘“ (Ricoeur 2006, p. 258). Die Frage, die sich Ricoeur stellt, ist die nach den Kriterien der Gewährung von Anerkennung. Wo auch immer man sie zu finden glaubt und woraus auch 44 45 46 47 48 49 Wie gesagt, Ricoeur bezieht sich auf Honneths ältere Schrift, auf dessen Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte von 1992. Vgl. oben im Abschnitt zu Hobbes’ Herausforderung. Ricoeur qualifiziert den Krieg als ‚Verweigerung‘ von Anerkennung. Krieg also als Negation, die nach seiner eigenen Auflösung ins Positive dränge. Auch hier melde ich Bedenken an: Worauf Ricoeur hinauswill, nämlich die Anerkennung, wird als primär behauptet und in einem zweiten Atemzug als notwendige Konsequenz aus seinem Gegenteil ‚abgeleitet‘. Zwischen den beiden Anerkennungsmodellen Liebe und Recht kommen nach Ricoeur die Institutionen Familie, Ehe und Genealogie zu liegen. Diese sorgten mit ihren Regeln und Pflichten für den Bestand eines vorrechtlichen Anerkennungsverhältnisses, einer wechselseitigen ‚Bejahung des Daseins‘. Ricoeur bezieht sich auf Luc Boltanski und Laurent Thévenot, De la justification. Les économies de la grandeur. Paris 1991; vgl. (Ricoeur 2006, p. 257 Anm. 44). Das erinnert an John Rawls’ Ausgang aus dem Urzustand, in dem die Individuen mit einem ‚Schleier des Nichtwissens‘ darüber befinden, welche Rolle sie in der künftigen Gesellschaft einzunehmen gedenken (ohne die Wertigkeit der jeweiligen Rollen zu kennen). 334 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. immer konkurrierende50 gesellschaftliche Gruppen ihre Rechtfertigung beziehen, in jedem Fall ist die Gesellschaft mit verschiedenen ‚Welten‘ und Sozialisationsinstanzen bereits vorausgesetzt. Kehren wir zurück zu Ricoeurs erstem Modell, dem der Friedfertigkeit und Harmonie. Er befasst sich mit der ‚tatsächlichen Erfahrung‘ von Friedenszuständen, denn er glaubt, dass Liebe und Frieden Elemente seien, die die Idee der Anerkennung davor bewahrten, zu einem leeren Ideal zu verkommen: „Die Gewißheit, die mit den Friedenszuständen einhergeht, schenkt uns […] eine Bestätigung dafür, daß die moralische Motivation der Kämpfe um Anerkennung keine Täuschung ist“ (Ricoeur 2006, p. 274). 50 Konflikte zwischen den verschiedenen ‚Ökonomien der Größe‘, so Ricoeur, könne im besten Fall zu einer besonderen Gestalt der Anerkennung führen, zum Kompromiss. 335 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. F.2. Die Weiterführung – Frieden und Liebe Die Liebe – wohl der kräftigste Gegenpol zu Kampf und Konkurrenz. Ricoeur dehnt seine Theorie der Anerkennung über seine ‚Antwort auf Hobbes‘ hinaus. Die agape als Nächstenliebe, als einseitiges Geben, das nicht auf eine Erwiderung schielt, aber auch die Liebe zwischen Subjekten, die im Idealfall miteinander verschmelzen und damit alle Impulse von Feindschaft und Kampfbereitschaft zur Auflösung zu bringen scheinen. Damit nun endgültig der Abschied von der Geltung des Moralischen Paktes? 2.1. Die Friedenszustände Ricoeur blickt auf seine bisherigen Überlegungen zu Hobbes zurück: „Was das Anerkanntsein selbst angeht, auf das der ganze Prozeß ausgerichtet ist, so ist es bis zum Schluß ein Stück weit geheimnisvoll geblieben“ (Ricoeur 2006, p. 272). Im abschließenden fünften Kapitel seiner dritten Abhandlung glaubt er, das Geheimnis lüften zu können. Er beginnt das Kapitel mit der These: „Die Alternative zur Idee des Kampfes im Prozeß der wechselseitigen Anerkennung ist in befriedeten Erfahrungen wechselseitiger Anerkennung zu suchen, die auf symbolischen Vermittlungen beruhen“ (Ricoeur 2006, p. 274). Anerkennungszustände finde man also im Oppositionsbegriff zum Hobbes’schen ‚Krieg‘: im Friedenszustand. Darin seien vor allem drei Formen auffindbar: die philia, der (platonische) eros und die agape.51 Besonders dem letzten ‚Friedenszustand‘ der agape – ‚im biblischen und nachbiblischen Sinn‘52 – schenkt Ricoeur nun seine Aufmerksamkeit. 2.2. Die agape oder die Paradoxie von Gabe und Gegengabe Die agape kenne, so Ricoeur, den Wechselbezug der Anerkennung nicht, wende sich dem Anderen zu, ohne eine Gegengabe zu erwarten oder einzufordern; es fehle ihr die Idee der Äquivalenz. Die agape ziele nicht auf Rechtfertigung, auch nicht auf die Aufmerksamkeit für sich selbst. „Rätselhafter noch: die Agape hält sich in der Beständigkeit, […] ihre Gegenwart kennt weder Reue noch Erwartung“ (Ricoeur 2006, p. 277). Der agape sei das Begehren fremd oder anders gesagt: Sie kenne „nur ein Begehren: zu geben; das ist der Ausdruck ihrer Großherzigkeit“ (Ricoeur 2006, p. 280). 51 52 Platon geht von dem in der Freundschaft gründenden natürlichen eros aus, der sich von der Sinnenwelt zur Welt der Ideen aufschwinge und dort im Schauen des Wahren, Schönen und Guten Befriedigung finde. Die philia ist nach Aristoteles die Liebe zu Gleichartigen und Gleichgesinnten, während die agape die neigungsbestimmte Fürsorge meine; vgl. Lemmata in (Kirchner, et al 2018). Vgl. (Ricoeur 2006, p. 275). 336 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. In einer Welt, in der die ‚Warenökonomie‘ herrsche, in der die Gabe ‚die gesellschaftliche Form eines Tauschs ist‘, in einer Gesellschaft unter der Herrschaft der Äquivalenzregel, in einer Welt des ‚Kalküls und der Gleichwertigkeit‘ sei der Mensch der agape verloren: „weil er die Verpflichtung zur Gegengabe nicht kennt und nichts im Gegenzug erwartet, bleibt er bei der ersten Geste stehen“ (Ricoeur 2006, p. 281). 2.2.1. Die Gabe oder der Begriff des Schenkens Die Gabe nun ist als Geben von etwas zwar nicht zwingend die Konsequenz der agape, aber zunächst einmal ebenso wie sie ein einseitiger Bezug des Gebenden auf den Anderen, der die Rolle des Nehmenden, des Beschenkten oder auch des Ablehnenden einnimmt. Für Sartre, um noch einmal einen kurzen Seitenblick zu wagen, ist das Schenken – das doch zunächst als Nicht-Konkurrenz erscheint – ein Aneignungs- und Unterwerfungsakt. Einerseits gebe der Schenkende seinen Besitz auf, ‚zerstöre‘ ihn mithin, genieße ihn aber andererseits auf einer anderen Ebene, nämlich dort, wo das Geschenk den Beschenkten ‚verhexe‘, ihn dazu zwinge, den Gegenstand des Schenkungsaktes neu zu schaffen und am Sein zu erhalten: „[…] schenken heißt sich durch Zerstörung aneignen,53 indem man diese Zerstörung dazu benutzt, sich den Anderen zu unterwerfen“ (Sartre 1991, p. 1018). Das Geschenk ‚verhext‘ nach Sartre also den Beschenkten insoweit, als es ihn zwingt, es zu gebrauchen, sein ‚Sein‘ zu erhalten, es zu würdigen, seiner Freude Ausdruck zu geben, dem Schenkenden zu danken: eine wahrlich extreme Sicht auf den Schenkungsakt! Allerdings führt Sartre damit die Einseitigkeit des agape-Prinzips ad absurdum – wie auch Ricoeur, wenn auch weniger pointiert: Es gebe keine Gabe, die nicht übergreife auf den Anderen, die nicht Einfluss auf ihn nehme, selbst wenn er sie zurückweise. Die Gabe füge dem Beschenkten etwas zu, sei ‚wirkmächtig‘, stimuliere eine Reaktion. Im Gewand der Fürsorge erscheint die Gabe tatsächlich als ein Akt der Solidarität und nicht der Konkurrenz – auch wenn sich dahinter ein Gefälle auftut, oft als Ergebnis eines Konkurrenzverhältnisses: Im Extremfall alimentiert eine staatliche Institution diejenigen, die als ‚Verlierer‘ aus der Konkurrenz kommen.54 Dem Schenkungsakt als Akt der Solidarität, in diesem Fall der Fürsorge, geht der Kampf immer schon voraus. 53 54 Zerstörung ist für Sartre generell ein Modus der Aneignung. Das Konsumieren oder das Abnutzen im Gebrauch seien ebenso eine ‚aneignende Zerstörung‘ wie die Generosität oder das Schenken; vgl. (Sartre 1991, p. 1017). ‚Verlierer‘ des Marktes fallen der staatlichen Sozialpolitik anheim. 337 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Erinnert man sich hier an die glorifizierende Prüfung des Greimas’schen Transformationsmodells, so wird die Konfliktbasis des Schenkens deutlich, selbst dann, wenn der König seine Tochter dem Helden zur Frau gibt: Es ist und bleibt ein Unterwerfungsakt des Retters, auch wenn seine heldenhaften Taten anerkannt werden. Der vagabundierende Taugenichts wird am Ende durch das Geschenk eines weißen Schlösschens unterworfen und ruhiggestellt und der heimatlichen Entfremdung wieder zugeführt – womit dann auch die Erzählung konsequent endet. 2.2.2. Von der Gabe zur Anerkennung Zurück zu Ricoeur. Was ihn an dem Phänomen der Gabe reizt, ist eine verborgene ‚Logik der Gegenseitigkeit‘.55 Wie werde, so fragt er, der Empfänger der Gabe dazu verpflichtet, die Gabe zu erwidern? Wie sei dieses ‚Paradox‘ oder ‚Rätsel‘ zu lösen?56 Würde nicht die Geste der Gegengabe die Uneigennützigkeit der Gabe zerstören?57 Um das Rätsel zu lösen, unterscheidet Ricoeur zwischen konkreten ‚Gesten‘ als Operationen der Akteure und dem Tausch als einem ‚transzendenten Ganzen‘.58 Er glaubt, mit dieser Unterscheidung von der einseitigen Gabe zum Phänomen der Gegengabe zu gelangen, ohne den Begriff der Gabe infrage zu stellen. Jene Gesten der Akteure, so Ricoeurs Gedanke, materialisierten sich in den Dingen, den Wert-Objekten59, sozusagen als den Trägern der gesuchten Anerkennung. Doch hier bleibt Ricoeur nicht stehen, er hält nichts von der Ansicht, die Kraft zur Gegengabe in die Sache selbst zu legen – „wie eine magische Energie, die imstande ist, das ausgetauschte Gut zu seinem Ursprungsort zurückzubringen“60 (Ricoeur 2006, p. 294) –, aber er hält auch nichts von der strukturalistischen Sicht,61 die die gesuchte Kraft in der Beziehung selbst zu finden 55 56 57 58 59 60 61 Hier bezieht sich Ricoeur auf Mark Rogin Anspach, À charge de revanche. Figures élémentaires des la réciprocité, Paris 2002; vgl. (Ricoeur 2006, pp. 284, Anm. 73). Vgl. (Ricoeur 2006, p. 286). „Ein Geschenk durch seine Erwiderung anzuerkennen, heißt das nicht, es als Geschenk zu zerstören?“ (Ricoeur 2006, p. 286) Sartre hat, wie oben gezeigt, die Zerstörung bereits in den einseitigen Vorgang des Schenkens gelegt, allein in die Rolle des Schenkenden. Hier zitiert Ricoeur Jean-Pierre Dupuy, Aux origines des sciences cognitives, Paris 1994, S. 45; vgl. (Ricoeur 2006, p. 287). Wo Karl Marx jenes geheimnisvolle Dritte, jene transzendente Kraft, jenes Rätsel oder Paradox im Tauschwert als Ausdruck abstrakt-allgemeiner Arbeit gefunden zu haben vermeint, da sucht Ricoeur nach etwas anderem, nämlich danach, „was die Akteure tun, wenn sie die Gabe als Gabe (an)erkennen“ (Ricoeur 2006, p. 287). Denn im Zentrum seiner Betrachtung steht weiterhin die ‚reconnaissance mutuelle‘, also die wechselseitige Anerkennung. Damit berührt Ricoeur Greimas’ Grundkonstante von Erzählungen, die Übertragung von Wert-Objekten. Hier bezieht sich Ricoeur auf Marcel Mauss, siehe Anmerkung unten. … beispielsweise von Lévi-Strauss. 338 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. glaubte. Marcel Henaff62 sei es gelungen,63 den Akzent von der Beziehung auf die beiden Akteure zu lenken und die Operationen des Spenders und Empfängers im Tausch als Anerkennung zu identifizieren. Daraus schließt Ricoeur: „Das ursprüngliche Rätsel der in der Sache selbst vermuteten Kraft löst sich, wenn man das gegebene und das wiedergegebene Ding als Unterpfänder und Substitute des Anerkennungsprozesses sieht“ (Ricoeur 2006, p. 294 f.). Wesentlich hierbei: Gabe und Gegengabe dürften nicht zusammenfallen, weil die Erwiderung des Gegengeschenks den Wert der ‚selbstlosen Gabe‘ aufhöbe. In einer zeremoniellen gegenseitigen Gabe sei, so sagt Ricoeur, die wechselseitige Anerkennung real erfahrbar.64 Der ganze Prozess beginne mit der Geste des Gebens. Die Gegengabe werde ‚zu so etwas wie einer Antwort auf ein Angebot‘,65 vernichte damit nicht die erste Gabe.66 2.2.3. Die Dankbarkeit und das ‚gute Empfangen‘ Ricoeur fragt sich, ob die Ungewissheit der Gabe nicht „etwas von der Uneigennützigkeit jener Erwartung bewahre, die sich ganz darauf richtete, daß die Gabe angenommen wird, bevor sie sich in der Erwartung einer Gegengabe wieder verschloß?“ (Ricoeur 2006, p. 302). Ricoeur sucht nach einem Element innerhalb des Kreislaufes zwischen Gabe und Gegengabe, das an keine verpflichtende Erwiderung, letztlich also an keine Gegengabe gebunden sei. Tatsächlich eine paradox anmutende Aufgabe. Zunächst verkürzt Ricoeur das Gabe-Gegengabe-Verhältnis um das Charakteristikum des diesem zugrunde liegenden Tauschverhältnisses, sodann um die involvierten Wert-Objekte, sodass er am Ende als verbleibenden Ort für die agape die Akteure selbst auszumachen in der Lage zu sein glaubt. Womit er einen durchaus materiell bedeutsamen Akt in einen von Gesten verdünnt hat, der am Ende das, wonach er sucht, offenbaren soll: die Anerkennung. In der agape schlummert nach Ricoeur die Wurzel aller Anerkennung. Um nun die einseitige Gabe zur wechselseitigen agape zu erweitern, ohne ihren Charakter als erwartungsfreien Liebesdienst zu gefährden, sucht er die Lösung in 62 63 64 65 66 Hier bezieht sich Ricoeur auf Marcell Henaff, Le Prix de la vérité. Le don, l’argent, la philosophie, Paris 2002; vgl. (Ricoeur 2006, p. 294 f.). Ricoeur bescheinigt Henaff eine ‚gedankliche Revolution‘; vgl. (Ricoeur 2006, p. 294). Die Anerkennung im zeremoniellen Zusammenhang sei auf einer anderen Ebene als der Warentausch angesiedelt, auf der Ebene des ‚ohne Preis‘; vgl. (Ricoeur 2006, p. 294). Vgl. (Ricoeur 2006, p. 301). Ricoeur zitiert ergänzend Marcel Mauss: „‚Aber außerdem gibt man beim Geben sich selbst […] und wenn man sich gibt, dann darum, weil man sich selbst […] den anderen ‚schuldet‘“ (Ricoeur 2006, p. 302). Vgl. Marcel Mauss, Die Gabe, Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften; in: ders., Soziologie und Anthropologie, 2 Bd., München 1975, S. 93; vgl. (Ricoeur 2006, p. 302). 339 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. der Mitte zwischen den involvierten Subjekten. Allerdings dürfe die Mitte nicht – wie bei Marx und den Strukturalisten – im Gegenstand, der Gabe, liegen, sondern müsse als psychologischer und geistiger Akt in den Individuen selbst zu finden sein. Um damit nicht den einseitigen Kern der Gabe zu gefährden, erfindet Ricoeur eine Verdoppelung im mittleren Glied des Händewechsels: Das Empfangen wird bei ihm zur ‚Schlüsselkategorie‘, denn es erinnere an den Begriff der Dankbarkeit: „Die Dankbarkeit macht die Last der Verpflichtung zur Gegengabe leichter und orientiert diese auf eine Großherzigkeit, die derjenigen gleicht, die zur ersten Gabe geführt hat“ (Ricoeur 2006, p. 303). Die Dankbarkeit67 als die Grundlage des ‚guten Empfangens‘ überbrücke also den Abstand zwischen den Paaren geben vs. empfangen und empfangen vs. erwidern. Indem Ricoeur die Mitte verdoppelt und dann beiden Seiten zuschlägt, zerstört er allerdings ihren Charakter als Mitte. Eine neue Mitte68 wäre notwendig, um die Paare empfangen I und empfangen II zu vermitteln. Was Ricoeur retten will, ist das Kriterium der ‚Großherzigkeit‘ auf beiden Seiten des Schenkungsaktes. Und diese ist offensichtlich nur in der Trennung von Gabe und Gegengabe zu haben. Das Paar Dankbarkeit und Großherzigkeit – auf beiden Seiten – ist das letzte Ideal, für Ricoeur das höchste Ideal69 eines ‚guten‘ Tauschs, das Ideal eines völlig konflikt- und konkurrenzfreien Verhältnisses der Individuen, einer per se friedlichen Gesellschaft, die in Generosität und Dankbarkeit in einer Märchen gewordenen Gesellschaft im Sinne der ‚kleinen Ethik‘ Ricoeurs aufgeht. 2.2.4. Das Gabe-Gegengabe-Verhältnis als feste gesellschaftliche Institution Ricoeur hält hier aber nicht nur ein Ideal hoch, sondern er löst den Händewechsel von Gütern in eine rein subjektive Haltung dem Anderen gegenüber auf und blendet damit den Kern des Tauschs aus, des Tauschs nämlich von Wert-Objekten. Am Anderen findet das Selbst zunächst einmal nur Interesse als Träger eines begehrten Objekts, als Anbieter. Also in einer gesellschaftlich akzeptierten und geschützten Rolle. Das subjektivistische Abgleiten führt Ricoeur zu einem arbiträren und kontingenten Verhältnis zweier Individuen, die ihre je besonderen Bedürfnisse zugunsten einer diffusen Dankbarkeit dem ‚Partner‘ gegenüber vollends auflösen und sich dann als ‚Personen‘70 anerkennen sollen. 67 68 69 70 … die selbst ja auch als Gegengabe verstanden werden könnte. Das kommt hier verständlicherweise für Ricoeur nicht infrage. Diese neue Mitte ist, wie gesagt, für Ricoeur die Dankbarkeit; vgl. (Ricoeur 2006, p. 303). Das weiß auch Ricoeur, er spricht davon, dass seine ‚idealtypische Analyse‘ des Gabentauschs zu einer Ethik der Dankbarkeit geführt habe; vgl. (Ricoeur 2006, p. 303 f.). In einem solchen Person-Sein kommt dann doch wieder die Gesellschaft ins Spiel. Wenn man die beiden Tauschpartner als ‚kontraktfähige‘, Verantwortung übernehmende Indi- 340 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Es stellt sich die Frage, ob Ricoeurs Ideal nicht schon längst von der Realität des Tauschs praktisch aufgesogen ist. Der in der modernen Gesellschaft institutionalisierte Tausch hat sich von der Ungenauigkeit eines Gabe-Gegengabe-Verhältnisses emanzipiert,71 er macht sich unabhängig von der Dankbarkeit dessen, dem in einer ersten ‚Geste‘ gegeben wird. Mehr noch: Der gesellschaftlich anerkannte Tauschwert befreit den Tausch nicht nur von einer gleichzeitigen Gebrauchswertorientierung, sondern auch von der Ungenauigkeit72 der Werttaxierung. Und was die Zeit angeht, so befreit das in Kauf und Verkauf getrennte Tauschverhältnis die ‚Erwiderung‘ aus Gebrauchswertperspektive vollends vom aktuellen Marktgeschehen, während die ‚Erwiderung‘ auf Tauschwertbasis umgehend vollzogen wird. Bedenken möchte ich anmelden, wenn Ricoeur sagt: „Beim Markt gibt es keine Pflicht zur Gegengabe, weil es keinen Anspruch mehr gibt; die Bezahlung setzt den wechselseitigen Verpflichtungen der Tausch-Akteure ein Ende“ (Ricoeur 2006, p. 289). Bedenken deshalb, weil eben gerade die Pflicht zur Bezahlung, also der Tausch gegen Geld, die Gegengabe bereits inhäriert. Der abstrakt-allgemeine Tauschwert sorgt auf dem Markt lediglich, wie gesagt, für die Befreiung von der aktuellen wechselseitigen Gebrauchswertorientierung. Ricoeurs Erkenntnisinteresse zielt auf eine originäre wechselseitige Anerkennung von sich gegenüberstehenden Subjekten. Schauen wir also, wie er sein Werk zu einem Ende bringt. Selbstkritisch vermerkt er, dass im Austausch von Gaben die Tauschpartner zwar die Erfahrung realer Anerkennung machten, aber das sei nicht mehr als eine ‚Aussetzung des Streits‘.73 Obwohl die Erfahrung der Gabe nicht konfliktfrei sei – was an der ‚Spannung zwischen Großherzigkeit und Verpflichtung‘ liege –, vermittle sie die Gewissheit, „daß seine Mo- 71 72 73 viduen betrachtet, gelangt man letztlich zur Person als Rechtsperson, wofür der Staat ein differenziertes Regelwerk bereithält. Marcel Mauss habe gezeigt, so Benveniste, dass die Gabe „nur ein Element eines Systems wechselseitiger, zugleich freier und zwingender Leistungen ist, wobei die Freiheit der Gabe den Empfänger zu einer Gegengabe verpflichtet, was ein kontinuierliches Hin und Her von Geschenken und Gegengaben hervorbringt. Darin liegt das Prinzip des Tauschs, der nicht nur unter einzelnen Personen, sondern innerhalb der Gruppen und der Klassen allgemein verbreitet ist und der einen Kreislauf von Gütern durch die Gesamtgesellschaft hervorruft. Sein Spielraum wird durch Regeln bestimmt, die sich zu Institutionen aller Art kristallisieren. Ein weites Netz von Riten, Festen, Verträgen und Rivalitäten organisiert die Modalitäten dieser Transaktionen“ (Benveniste 1974, p. 350). Benveniste hat sich bezogen auf: L‘Année sociologique, nouv., série, I, 1923-1924; (Anm. 26, (Benveniste 1974, p. 404). Das ‚gute Empfangen‘ ist für Ricoeur ungenau, und zwar darin, was den Wert (der Geschenke) und die Zeit (Frist der Gegengabe) angehe – und das unterscheide es grundsätzlich von Rechts- und Marktverhältnissen; vgl. (Ricoeur 2006, p. 303). Vgl. (Ricoeur 2006, p. 305). 341 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. tivation74 [die des Kampfes um Anerkennung], die ihn vom Machthunger unterscheidet und vor der Faszination der Gewalt schützt, weder Schein noch eitel ist“ (Ricoeur 2006, p. 306). Ricoeur nimmt hier das dem Gabe-Gegengabe-Verhältnis zugrunde liegende Konfliktpotential – die Spannung zwischen Generosität und Verpflichtung – in den Blick75, um es im Handumdrehen wieder aus den Augen zu verlieren. Diese Spannung, so sagt er, könne über eine ‚Ethik der Dankbarkeit‘76 gelöst werden, womit er eine Moral einfliegen lässt, die bereits sozialisierte Individuen 77 voraussetzt und wohl nur schwer im Naturzustand zu haben gewesen wäre. Der Konflikt oder das polemische Prinzip, und da ist Ricoeur durchaus beizupflichten, liegen tatsächlich dem Tausch voraus, aber grundsätzlicher als lediglich in einer Spannung von Großzügigkeit und Verpflichtung, nämlich als Begehren der Kontrahenten nach einem Wert-Objekt, das sich nicht in eigenem Besitz befindet. Der Kampf um Anerkennung wäre damit nichts weiter als ein Kampf um die Herstellung eines gewaltfreien Verhältnisses, das für den Händewechsel von begehrten Gütern und für gesicherte Genussräume sorgt – und das auf beiden Seiten. Aber, so bringe ich Hobbes in Erinnerung: Das ist nur innerhalb eines gesellschaftlichen Regelwerks verlässlich durchzusetzen. Hier kommen Kontrakt und Kommunikation ins Spiel, um die rohe Konkurrenz zu zivilisieren.78 Im Hobbes’schen Gesellschaftsvertrag, in der zivilisierten Form der Konkurrenz im institutionalisierten Austausch, im Umgang mit Recht und Gesetz – überall ist das Phänomen der Anerkennung zu finden. Aber eben – und darauf kommt es an – in Gesellschaft und Staat und im Akt, der zu ihnen führen wird, im Akt des Gesellschaftsvertrags. Der Kampf bleibt die Grundlage der Konkurrenz, das polemische Prinzip, wie es bei Greimas heißt. Die Anerkennung kann man als Verlaufsform des Konflikts beschreiben, der weiterhin die Basis der Anerkennung ist und bleibt. * 74 75 76 77 78 Hobbes hat diese ‚Motivation‘ in seinem Modell herausgearbeitet, sie verdanke sich dem Überlebenswillen und der Sehnsucht nach einem ungefährdeten und ruhigen Genuss des eigenen ‚Besitzes‘. Siehe oben Ausführungen zur Konkurrenz in Kapitel A.1 zu den Elementen des Moralischen Paktes. Fast unbemerkt macht Ricoeur aus dem Kampf als Grundlage der Anerkennung einen Kampf um Anerkennung und entzieht damit dem Begriff der Anerkennung seine feste Basis. Es ist etwas anderes, im Phänomen der Anerkennung ein polemisches Prinzip zu entdecken, als den Kampf in den Fokus zu rücken, der die Anerkennung erst als Ziel formuliert. Vgl. (Ricoeur 2006, p. 304). Schon unser Alltagswissen bestätigt Ricoeur darin, dass Dankbarkeit eine Sache der moralischen Erziehung ist: Man höre nur Eltern zu, die ihr Kleinkind beim Empfang eines Geschenks streng mahnend fragen: „Und was sagt man?“ Der Moralische Pakt leuchtet immer heller aus dem Hintergrund der Ricoeur’schen Wege zur Anerkennung. 342 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Der Moralische Pakt enthält beide Elemente, die des Kampfes als Konkurrenz und die der Anerkennung als Kontrakt.79 Im Vertrag werden die Energien von Kampf und Auseinandersetzung gebündelt, in der Regel transformiert in zivile Formen. Erst die Anerkennung oder der Kontrakt sind bei Hobbes so etwas wie eine Überlebensgarantie und damit zuletzt auch so etwas wie ein wechselseitiges Versprechen, den Kampf in zivilen Formen und unter Einhegung individueller Machtansprüche zu führen.80 Zudem setzt jeder Kontrakt die Verlässlichkeit der Vertragschließenden voraus, ebendas Anerkennen des Vertragspartners und der Bedingungen des Kontrakts. Hier kommt das dritte Element des Moralischen Paktes zur Geltung, die Kommunikation: Ja, ich verpflichte mich zu diesem und jenem, meinem Nehmen steht ein Geben gegenüber und auf mich ist Verlass.81 Im Kontrakt wird nicht nur das Gegenüber, der Vertragspartner, als Person anerkannt, sondern eben auch und vor allem die Handlung, die ich mit meiner Unterzeichnung verlässlich verspreche. Ricoeur hat sich einem solchen Gedanken schon genähert, wenn er, wie oben erwähnt, sagt: „Man sollte von der Erforschung der Anerkennung im Licht der Gabe nicht mehr erwarten als eine Aussetzung des Streits“ (Ricoeur 2006, p. 305). Warum formuliert er das so verhalten, so kleinmachend? Das ist doch eine brauchbare These, dass die wechselseitige Anerkennung dem bellum omnium contra omnes ein Ende setzt und die Menschheit in ein Gewand des zivilisierten Umgangs miteinander einkleidet, ohne die Konkurrenz, den Kampf als Basis der ganzen Veranstaltung über Bord zu werfen. Der Moralische Pakt ist die Antwort auf Ricoeurs Suche nach Frieden und Anerkennung, er führt via Kommunikation und Kontrakt vom Krieg (als roher Konkurrenz) zum Austausch als gesellschaftlichem Verhältnis, in dem die Individuen miteinander konkurrieren, dabei aber überleben und – jeder für sich und vom Anderen unbehelligt – die eingetauschten Güter im Gebrauch sich einverleiben. * Die agape scheint tatsächlich so etwas zu sein wie der Gegenbegriff zu Konkurrenz und Austausch. Eine Zuwendung oder ein Auf-den-Anderen-Zugehen82 ohne Kalkül und Erwartung einer Gegen-‚Leistung‘ ist mit Kampf auf Leben 79 80 81 82 Es sei nicht nur, so Hegel, der Nutzen, der einen zum Vertrag führe, sondern vor allem „die Vernunft, nämlich die Idee des reellen (d. i. nur im Willen vorhandenen) Daseins der freien Persönlichkeit“. Der Vertrag setze voraus, „daß die darein Tretenden sich als Personen und Eigentümer anerkennen“ (Hegel 1973, p. 153). … was sich eben auch in Ricoeurs Schlussbemerkung gezeigt hat, dass nämlich die Gabe als besondere Form des Kampfes um Anerkennung vor der Faszination der Gewalt schütze. Vgl. oben in Kapitel A.1 den § 2 des Moralischen Paktes. Die Glaubwürdigkeit der agape entscheide sich im Bezug auf den Anderen, und zwar auf einen, auf den man (erst) zugeht“ (Ricoeur 2006, p. 278) Und in diesem Auf-ihn-Zugehen werde die agape verkündet. 343 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. und Tod, ja selbst mit der zivilisierten und domestizierten Konkurrenz kaum vereinbar – eben nicht von dieser Welt. Dass die agape dennoch Gegenstand oder Thema literarischer Erzählungen werden kann,83 soll nicht geleugnet werden, allerdings taucht jede Form von Großherzigkeit oder Dankbarkeit oder einfach nur Andacht84 und Bewunderung in einem besonderen Umkreis der diêghêsis auf. Die agape ist zwar das Gegenbild zu Konkurrenz und Austausch, aber sie ist es immer auch nur als ideales Gegenbild, das sich am Ende nach einem Auf und Ab, einem Hin und Her zwischen diegetischer Realität und Idealität sich entweder selbst aufgibt oder das Urteil demütig annimmt, dass sie sich vor einer überlegenen Realität nur blamieren kann. Wie ist Thoas’ Großherzigkeit am Ende des Dramas einzuschätzen, blamiert auch er sich vor der Wirklichkeit? Nein, und zwar aus zweierlei Gründen. Zum einen endet dort das Schauspiel, Goethe zeigt den Gegenspieler Iphigenies, der zum Mitspieler geworden zu sein scheint, nicht mehr, er zeigt nicht dessen Trauer, Wut, Enttäuschung, nicht mehr dessen Zerwürfnisse, Vorhaltungen, nicht mehr die praktischen Konsequenzen im Herrschaftsgefüge. Zum anderen ist Goethes Schauspiel von vornherein als ein fiktiver Raum inszeniert, in dem am Ende die Idealität gegen die Wirklichkeit die Oberhand gewinnt, in der eben Wahrhaftigkeit aufseiten Iphigenies wie Großherzigkeit aufseiten Thoas’ den Sieg davontragen. Aber gilt das, so drängt sich am Ende die Frage auf, auch für eines der großen Themen der Literatur, für die Liebe jenseits der agape? 2.3. Das Ideal der Liebe Wenden wir uns am Ende der schärfsten Waffe gegen die These der vorliegenden Arbeit zu, dem idealen Gegenbild zu Kampf und Konkurrenz: der Liebe, zumal sie eines der Lieblingsthemen literarischer Werke ist. Der Liebende, so Sartre, trachte danach, das Bewusstsein des Anderen für sich einzunehmen. Allerdings nicht nach Art des Tyrannen, dem die Furcht des Unterworfenen genüge, denn eine solche totale Unterwerfung tötete nur die Liebe: „der Liebende ist wieder mit sich allein, wenn sich der Geliebte in einen Automaten85 verwandelt hat“ (Sartre 1991, p. 641). 83 84 85 Ricoeur erwähnt hier Dostojewskis Idiot; vgl. (Ricoeur 2006, p. 281). Siehe oben im Kapitel D.4 zur Entfremdung die erste Entwicklungsstufe des unglücklichen Bewusstseins. Der Automat Olimpia in E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann ist keine Illustration des von Sartre beschriebenen Phänomens der Unterwerfung. Denn Nathanael unterwirft Olimpia nicht, sondern verfällt einer Wahnliebe, die ihn blind macht für die Merkmale des Gegenübers (lebendig vs. nicht lebendig). 344 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Ein widersprüchliches Unterfangen also: Der Liebende wolle die Freiheit des Anderen als Freiheit bewahren, wolle von einer Freiheit86 geliebt werden und verlange zugleich, „daß diese Freiheit durch sich selbst gefangengenommen wird, daß dieses Freiheit […] ihre eigne Gefangenschaft87 will“ (Sartre 1991, p. 643). Effi Briest empfindet ihre erste Zeit in Kessin sicherlich im Sartre’schen Sinne, auch wenn ihr die Bedingungen der Gefangenschaft durch die ‚Erziehungsmethoden‘ Innstettens nicht schmecken. Lene aus Fontanes Irrungen, Wirrungen hingegen durchbricht diesen Widerspruch des Liebenden. Sie erwartet gar nicht Bothos Bereitschaft, sich gefangen nehmen zu lassen. Spätestens auf der Rückfahrt von Hankes Ablage scheint sie begriffen zu haben, dass seine Leidenschaft nicht ewig währt. Und dennoch hält sie an der Liebe fest. Der Liebende, so Sartre, akzeptiere die Freiheit des Geliebten, zugleich aber sehne er sich danach, dass der Andere sich ihm unterwerfe. Und das eben ist der Widerspruch des Geliebtwerden-Wollens: Der Andere soll in völliger Freiheit dem Liebenden den Vorrang vor sich selbst einräumen.88 Dieses merkwürdige Verlangen des Liebenden bewahre den Geliebten davor, benutzt zu werden: Wer unbedingt geliebt werde, wer als absoluter Zweck gesetzt werde, bleibe, so Sartre, vor der Utensilität bewahrt.89 Schärfer formuliert: Der Geliebte dürfe nicht als einfaches ‚Dieses‘ vom Liebenden gesehen werden, sondern als die Bedingung des Auftauchens einer eigenen Welt. Die Funktion des Geliebten sei es, „die Bäume und das Wasser, die Städte und die Felder und die anderen Menschen existieren zu machen, um sie dann dem Anderen zu geben, der sie als Welt anordnet“ (Sartre 1991, p. 647). Hier drängt sich ein weiteres Mal Innstetten auf. Es stellt sich die Frage, wie viel Gestaltungsspielraum er Effi in der für sie zunächst fremden Welt einräumt. Innstetten scheint sich zum absoluten Fixpunkt gemacht zu haben: für Effi das ‚Unüberschreitbare‘, der ‚absolute Zweck‘ zu sein, ohne ihr allzu viel Souveränität in der ‚Anordnung‘ dieser Welt zu überlassen, zu deren Herrscher einzig und allein er sich selbst aufschwingt. Die Liebe ist und bleibt trotz aller Glut und Leidenschaft ein fragiles Gebilde. Sich dem Anderen auszuliefern und zugleich zu erwarten, von ihm in absoluter Freiheit als höchster Wert anerkannt zu werden, ist der Konflikt zwischen Unterwerfung und Unterworfensein. Das Ideal der Liebe ist widersprüchlich und legt die Verlaufsform nahe, dass sich jeder der beiden Liebenden von seiner Freiheit nur so weit entfremdet, wie auch der Andere sich entfremdet; jeder 86 87 88 89 Wir begehrten beim Anderen in der Liebe „eine Freiheit, die den Leidenschaftsdeterminismus spielt und ihr Spiel ernst nimmt“ (Sartre 1991, p. 644). Den Anderen in diese Gefangenschaft einwilligen zu lassen, sei Ziel der Verführung. Der Verführer müsse sich aufblähen, eine größtmögliche Tiefe seiner Handlungen wie auch eine größtmögliche Dichte seiner Welt präsentieren (Geld, Macht, Beziehungen …): „Durch diese Verfahren proponiere ich mich als unüberschreitbar“ (Sartre 1991, p. 652). Vgl. (Sartre 1991, p. 645). Vgl. (Sartre 1991, p. 646). 345 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. besteht auf der Subjektivität des Anderen, aber vor dem Hintergrund des je eigenen Weltentwurfs. Würde der Widerspruch in seiner ursprünglichen Form ‚gelebt‘ werden wollen, führte er zur absoluten Bewegungslosigkeit, letztlich zur Verrücktheit eines ständigen Rollentauschs der Liebenden, ohne dass sie ihren Platz verlassen müssten. Wenn nun, so Sartre, einer der Liebenden dieses System unendlicher Verweisungen aufbräche und den Anderen nicht mehr in seiner Subjektivität anerkennte, sondern nur noch als Objekt betrachtete, wäre das Spiel der wechselseitigen Spiegelungen zu Ende, jegliche ‚Verzauberung‘ löste sich in nichts auf.90 2.4. Alex Capus’ Louise und Léon Schauen wir in ein literarisches Werk, das sich dem Thema der Liebe verschreibt. Zwei 17-Jährige, Léon und Louise, begegnen sich am Ende des Ersten Weltkrieges in der Provinz der Normandie. Auf der Rückfahrt von einem Wochenende am Strand von Le Tréport geraten sie in einen deutschen Fliegerangriff. Zwar überleben beide, halten sich aber wechselseitig für tot. Erst zehn Jahre später, 1928, begegnen sie sich in Paris wieder. Léon wird seiner Frau für eine Nacht untreu, aber anschließend vereinbaren er und Louise, sich nicht mehr wiederzusehen. Den Zweiten Weltkrieg überlebt Léon im besetzten Paris und Louise – mittlerweile Angestellte der Bank von Frankreich – in Afrika, wohin die Bank ihre Goldreserven zu retten versucht. Nach dem Krieg sehen sich die beiden hin und wieder. Das Wochenende in Le Tréport ist für das Liebespaar die entscheidende Zäsur, es habe, so werden sie rückblickend sagen, ein Leben vor Le Tréport und eines danach gegeben: „[…] alles war genau wie am Tag zuvor, und doch war jetzt ein Zauber in alles gefahren“ (Capus 2013, p. 79). Die Liebe verzaubert, um genau zu sein, die beiden Liebenden, sie nehmen die Welt weiterhin wahr, aber eben aus anderer Perspektive. Daran ändert die Welt auch nichts mehr, nicht der Fliegerangriff, nicht das vermeintliche Wissen vom Tod des Anderen, nicht das Versprechen einer nun freiwilligen Trennung, das immerhin elf Jahre Bestand hat. Léon denkt jeden Tag an ‚seine Louise‘, jagt dem Phantom einer auferstehenden Louise hinterher91, „einem Phantom allerdings, das ihn seit zehn Jahren treu begleitete“ (Capus 2013, p. 105). 90 91 In seiner späteren Zusammenfassung identifiziert Sartre als Quelle dieser ‚Zerstörbarkeit‘ das Wesen der Liebe als ‚Betrug‘ „und eine Verweisung bis ins Unendliche, denn lieben heißt wollen, daß man mich liebt, also wollen, daß der andere will, daß ich ihn liebe“ (Sartre 1991, p. 659). Capus benutzt hier eine durchaus sich anbietende Metapher, nämlich die der Pariser Metro; Léon betrachtet die Stromkabel an der schwarzbraunen Tunnelwand, die schwarz gähnenden Seitenstollen und eilt später, nachdem er Louise in einem Zug auf dem ande- 346 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Während der elf Jahre bis zum Wiedersehen nach dem Zweiten Weltkrieg hält Léon weiter an seiner Liebe fest, er registriert, „dass seine Erinnerungen im Lauf der Wochen, Monate und Jahre nicht verblassten, sondern im Gegenteil kräftiger und lebendiger wurden“ (Capus 2013, p. 152). Seiner Frau Yvonne gegenüber empfindet er nur noch geschwisterliche Gefühle und Respekt. Der Erzähler, Léons Enkel, lässt Louise in ihren Briefen aus Afrika zu Wort kommen. Léon ist für sie einer der unerfüllten Träume, eine, wie sie es nennt, ‚Leerstelle‘, mit der sie lebe. „Auch du,“ so schreibt sie im Juni 1940, „die Sehnsucht nach dir – oder auch nur das Wissen um Dich – füllt mich noch immer aus“ (Capus 2013, p. 185). Das Ideal der Liebe hat nicht Schaden genommen, gerade in der Unerfülltheit, in der Gestalt der ‚Leerstelle‘ lässt sie sich unbeschädigt am Leben erhalten. Louise erinnert sich in ihrem Brief an Léon und seine Familie, es sei ein Leben, das sie vielleicht mit ihm geführt hätte, wenn sie nicht durch den Krieg auseinandergerissen worden wären. Sie schwärmt fast akademisch-distanziert in ihrer Vorstellung von Léons Familie: Sie sei „die fleischgewordene Möglichkeitsform, ein dreidimensionaler Konjunktiv Irrealis, ein säkulares Krippenspiel, eine lebendige, lebensgroße Puppenstube – die den einzigen Nachteil hat, dass ich nicht mit ihr spielen darf“ (Capus 2013, p. 189). Louise kommt in einem weiteren Brief drei Jahre später zu dem Schluss, dass Liebe eine ‚Anmaßung‘ sei. Alle Erklärungen mögen zutreffen, was Liebe sei – hormonelle Dysfunktion zwecks Reproduktion, Seelentrost für in den Papa verliebte kleine Mädchen. – „Das alles zusammen, mag sein. Aber auch mehr, das weiß ich“ (Capus 2013, p. 277). Nur was, das weiß sie nicht zu sagen. Am Ende stirbt Léons Ehefrau Yvonne. Am Tag nach ihrer Beerdigung treffen sich die beiden Zweiundsechzigjährigen am Pariser Arsenal-Hafen und besteigen einen Kahn, den sich Léon nach dem Krieg als Rückzugsort eingerichtet hatte. Sie waren sonntäglich gekleidet, „ein gesundes, glückliches und schönes Paar“ (Capus 2013, p. 314). Louise spricht die schwergewichtigen Worte: „Dann lass uns gehen, es ist endlich Zeit“ (Capus 2013, p. 314), sie machen die Leinen los und fahren die Seine hinab, dem Ozean entgegen.92 Auch metaphorisch lässt Capus seinen Roman also bleischwer enden, die Weite des Ozeans könnte, wenn man das erste Kapitel der Beerdigung Léons und des Erscheinens Louises 1986 außer Acht ließe, auf den nicht mehr erzählenswerten Tod der beiden verweisen. Rettbar und auf ewig gestellt wäre ihre Liebe nur in der radikalen Trennung von der Realität. Und haltbar bis zu diesem Zeitpunkt – immerhin über fünfundvierzig Jahre hinweg – ist sie nur gewesen, weil die Liebenden das Ideal ihrer Liebe in der realen Trennung voneinander jeder für sich gepflegt haben. Auch die Zumutungen, mit denen sich Liebespartner als Ehepartner gemeinhin im Alltag traktieren, bleiben ihnen in der radikalen Tren- 92 ren Gleis entdeckt zu haben glaubt, immer wieder suchend durch den ‚Untergrund‘; vgl. (Capus 2013, p. 101 ff.). Vgl. (Capus 2013, p. 315). 347 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. nung von der Wirklichkeit erspart. Es ist gerade Louises ‚Leerstelle‘, also der Konjunktiv Irrealis, der vor der Zersetzung des Ideals der Liebe geschützt hat. Und am Ende, an dem beide ‚auf ewig‘ zusammenkommen, da finden sie die einzig denkbare Verlaufsform ihres Ideals: die Einhausung auf dem Kahn, die Fahrt ins realitätsabgeschiedene Reich eines grenzenlosen Ozeans. In einem auf Dauer gestellten Rückzug, in der Einhausung in den eigenen vier Wänden, gehe es den Liebenden, so Sartre, nicht vorrangig um ihre Einsamkeit, sondern darum, Liebe im ‚öffentlichen Raum‘ nicht aufs Spiel zu setzen. In dieser Phase bemühten sich die beiden, ihr jeweiliges Für-Andere-Sein ‚in Sicherheit‘ zu bringen. Was Louise und Léon durch die Trennung voneinander gelungen ist, das konservieren sie nun in der Ausschließung von ‚Dritten‘, überhaupt von gesellschaftlichen Einflüssen. Aber das ‚reale‘ Verbergen vor Dritten hat nicht mehr die Garantiekraft, entbehrt des Moments der Ewigkeit der bis dahin allein in der Sehnsucht gepflegten idealen Liebe, die keiner noch so harmlosen ‚Wirklichkeit‘ ausgesetzt war. Der ‚Liebeskontrakt‘ der beiden hat jahrzehntelang gehalten. Allerdings nur in Form eines Versprechens. Liebe ist immer schon ein psychologisches Phänomen, aber in Gestalt der (unerfüllten) Sehnsucht immunisiert sie sich, schließt sich vollends in die Individuen ein, gewährt den Sartre’schen ‚Dritten‘ keinen Zutritt, die die Liebe zu gefährden in der Lage wären. Sehnsucht ist das Verbergen der Liebe vor der Welt, die Liebe wird nicht auf die Probe des ‚Auslebens‘ gestellt, sie muss sich nicht vor und in der Realität bestätigen. Nicht einmal mehr vor dem Liebespartner. Wo sich am Ende einer Erzählung dann doch reale Erfüllung abzeichnet, bricht sie konsequent ab. Das Anti-Subjekt ist diffus angelegt, es ist, um es metaphorisch zu sagen, die das Paar umgebende Welt. Diffus deshalb, weil Capus das Paar mit zwei Weltkriegen konfrontiert, die nicht nur als Bühnenbild dienen, sondern ganz praktisch den beiden auf den Leib rücken. Und wo das Anti-Subjekt ‚Welt/Krieg‘ tatsächlich einmal figuriert wird, so im SS-Mann Knochen,93 da scheint eine solche Personifikation lediglich der Lektüre-Spannung und der tieferen Zeichnung des Charakters Léons zu dienen. Seine Ehefrau Yvonne ist nur eine Zeit lang in ihrer Eifersucht eine Gegnerin des Liebespaares, sie arrangiert sich nach einer Weile mit Léon und später dann auch mit Louise. In Erinnerung an die Greimas’sche Terminologie: Verletzt wird die Ordnung durch den Raub eines gemeinsamen Zeit-Ort-Kontinuums, in dem die Liebe auch hätte ‚gelebt‘ werden können. Das Wert-Objekt ist nicht die unerfüllte Liebe, sondern die von der Welt verweigerte erfüllte Liebe. Louise und Léon werden in eine widerständige Welt geführt, ins besetzte Paris und nach Afrika, also an Orte, die in ihrer ‚Exotik‘ die beiden neuerlichen Entfremdungszumu93 … der Léon (arbeitet für die Pariser Polizei) vorgesetzt ist und ihn überwacht und drangsaliert. 348 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. tungen aussetzen.94 Die Prüfungen, mit denen sie konfrontiert werden, laufen am Ende auf die eine Hauptprüfung hinaus, ob sie nämlich in der Lage sein werden, ihre Gefühle füreinander über die Jahre zu retten, ihre nicht erfüllte Sehnsucht fast ein Leben lang aufrechtzuerhalten. Deshalb umfasst der Roman – ähnlich wie in Gabriel García Márquez’ ‚Die Liebe in den Zeiten der Cholera‘95 – eine solche Zeitspanne. 2.5. Die Theorie der Anerkennung und der Moralische Pakt Ricoeur und Honneth ist es meiner Einschätzung nach nicht gelungen, die Anerkennung im vorgesellschaftlichen Verhältnis autonomer Individuen nachzuweisen. Ricoeur favorisiert das Modell einer zwanglosen wechselseitigen Anerkennung der Individuen im Naturzustand und glaubt, damit die Brücke zwischen ihnen im Gabe-Gegengabe-Verhältnis gefunden zu haben, im Element der Dankbarkeit, das alle Reste des polemischen Prinzips zu eliminieren in der Lage sein soll. Damit gerät Ricoeur nicht nur in die Gefahr eines Zirkels – Dankbarkeit setzt die Anerkennung bereits voraus –, sondern er lässt seine Theorie der Anerkennung am Ende in reinen Idealismus münden.96 Ich möchte mich allerdings nicht mit dem Verweis auf Schwächen der Wege der Anerkennung zufriedengeben. Es scheint ja so abwegig nicht zu sein, die Liebe oder den Frieden97 als Gegenmodelle des Moralischen Paktes anzuerkennen, zumindest auf der Plausibilitätsebene. Das Ideal der Liebe scheint doch Kampf und Konkurrenz auszuschließen, Schenkender oder Liebender würden den Tauschcharakter ihres Bezugs auf den Anderen weit von sich weisen. Doch Dankbarkeit und ‚gutes Empfangen‘ können nun einmal die Verpflichtung zur Gegengabe nicht völlig auflösen – ebenso wenig wie die Liebe die Verstrickung in ein permanentes Verhältnis zwischen Unterwerfung und Unterworfensein. Wer das zugrunde liegende Do-ut-des-Verhältnis anerkennt, für den wird das Ideal der Gabe oder der Liebe brüchig und er sieht sich schließlich in der Realität mit gar nicht mehr idealistischen Verhältnissen konfrontiert.98 94 95 96 97 98 Auch in der Ehe mit Yvonne findet Léon weder die Liebe noch sich selbst, so sagt er zu ihr im fünften Jahr ihrer Ehe: „Du bist meine Frau, und du bist mir eine gute Frau. Ich bin dein Mann und gebe mir Mühe, dir ein guter Mann zu sein. Das allein zählt. Alles Weitere wird sich finden“ (Capus 2013, p. 98). Dort sind es 53 Jahre, sieben Monate und elf Tage. Eines solchen Idealismus nehmen sich Schriftsteller an, setzen ihre Figuren den Reibungen von Autonomie und Regel aus, den Reibungen von Emanzipation und Entfremdung. Und sind damit vielleicht Ricoeur immer schon voraus. Nach Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht lägen Kriege zwischen Staaten nicht in der Absicht des Menschen, wohl aber in der Absicht der Natur, nämlich neue Verhältnisse der Staaten zustande zu bringen, bis am Ende ein Zustand erreicht werde, „der, einem bürgerlichen gemeinen Wesen ähnlich, so wie ein Automat sich selbst erhalten kann“ (Kant 1975b, p. 42 f.). … auf Dauer gestellte oder als Ehe institutionalisierte ‚Liebes‘-Verhältnisse. 349 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Dennoch hält sich hartnäckig der Einwand, Liebe und Frieden seien stabile Gegenmodelle zu Konkurrenz und Kampf. Reden wir also noch einmal über das Ideal der Liebe. Ein Ideal kann realisiert werden – dann ist es aber eher nur ein guter Plan gewesen – oder es bleibt ein Ideal und scheitert an der Realität, was aber oft nicht zum Abschied vom Ideal führt, sondern zu dessen Perpetuierung und zur Forderung, es niemals aus den Augen zu verlieren. Oft zerbricht ein Ideal nicht deshalb an der Realität, weil es ‚zu gut ist für diese Welt‘ ist, sondern es zerbricht an eigenen Bruchstellen. Die Erwartung an den Anderen, sich in Freiheit gefangen nehmen zu lassen, ist nun einmal widersprüchlich – was dadurch, dass der Andere von mir dasselbe erwartet, nicht weniger kompliziert wird, nicht einfacher oder ‚ausgeglichener‘. Um die Kraft der Liebe als Gegenentwurf zur Welt der Konkurrenz zu beurteilen, bieten sich drei Perspektiven an. In einer ersten Perspektive spiegelt die Liebe auf ihrem Höhepunkt das Ideal eines gelingenden Austauschs, das wechselseitige ‚Ich liebe dich‘ ist der Kontrakt, der das Maximum an zu tauschenden Gütern verspricht: sich selbst nämlich in Freiheit anbieten, sich der Weltgestaltung des Anderen völlig überlassen und zugleich die Rolle des Anderen übernehmen. Die Liebe, so könnte die gewagte Formulierung heißen, ist ein ideales Modell des autonomen bürgerlichen Individuums: Wie in der Zwischenbilanz zu Kant oben in Teil A ausgeführt, findet sich das bürgerlich emanzipierte Individuum in der Rolle des Selbstgesetzgebers wieder, in einer Rolle, die einerseits aktive und andererseits erlittene Unterwerfung ist. Das wird in der Liebe auf die Spitze getrieben, in einer Paradoxie zweier widersprüchlicher Rollen99, die sich in einen unendlichen Verweisungszusammenhang versetzt sehen: ich unterwerfe dich meiner Welt, gestatte dir dabei aber den Erhalt deiner Subjektivität und Freiheit, so dass du mich unterwirfst und ich mich deiner Welt assimiliere – und so weiter. Für Sartre ist Liebe ihrem Wesen nach „ein Betrug und eine Verweisung bis ins Unendliche, denn lieben heißt wollen, daß man mich liebt, also wollen, daß der andere will, daß ich ihn liebe“ (Sartre 1991, p. 659). Wenn sich das Liebespaar aus dem Kokon seines Ideals zu befreien, sich der Realität zaghaft zuzuwenden beginnt, richtet es sich in ein ‚Arrangement‘ ein, in einer Art von Tauschverhältnis, in dem beide in verschiedenen Bereichen oder zu verschiedenen Zeiten oder an verschiedenen Orten ‚das Sagen‘ haben.100 Das Liebespaar glaubt, sich im Ideal des Austauschs eingerichtet zu ha99 100 Die Verlaufsformen dieses Widerspruchs sind in alltäglichen Liebesbeziehungen leicht auffindbar: von der Frage Wer-hat-die-Hose-an über eine Aufteilungen lebensweltlicher Bereiche auf den Einen oder Anderen bis hin zur völligen Leugnung einer solchen ‚Profanisierung‘ des Liebeslebens. Hier finden sich allerlei Rechtfertigungen von Eheleuten, die solche Seiten am Anderen schätzen und loben, die sie selbst nicht zu besitzen vermeinen. 350 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. ben, die Realität aber wird ihm immer wieder vor Augen führen, dass es in einer sehr fragilen Verlaufsform des Widerspruchs der wechselseitigen Unterwerfung in Freiheit lebt. Womit wir bei der zweiten Perspektive angelangt sind, beim Übergang jenes Ideals des Austauschs in die Konfliktstruktur der rohen Konkurrenz. Der Liebende erwartet vom Geliebten das Unmögliche: die Aufgabe seiner Freiheit in völliger Freiheit. Der Liebende will die freiwillige Unterwerfung des Geliebten, eine Unterwerfung, die sich aber nicht als solche anfühlen soll. Er will der absolute Zweck und der Welt-Hintergrund des Anderen sein. Und dasselbe – eine schier herkulische Aufgabe – mit sich selbst anstellen: Unterwerfender und Unterworfener zugleich sein. Eine äußerst angespannte Konstellation, die in einer Eruption sich entlädt, sobald einer der Beteiligten sich aus diesem Arrangement zu lösen beginnt. Dann kehrt die Konkurrenz in ihrer brutalen Nacktheit zurück, das Ideal des zivilisierten Austauschs verliert von einem zum anderen Augenblick seine Gültigkeit. Die Welt, die man um den Anderen aufgebaut hat, erodiert, man kämpft – vergeblich – um ihren Bestand, denn jenseits dieser Welt mit dem Anderen als Sonne im Zentrum wartet, so glaubt der Verlassene, nur Dunkelheit auf ihn. Zudem ist das verlassene Individuum in seinen Tiefen verletzt und beleidigt, weil es einsehen muss, dass die gemeinsam aufgebaute Welt der Liebenden eine Chimäre gewesen ist. Der Rosenkrieg ist die Erzählung jener zweiten Perspektive. Exkurs zum Hass Der Hass101 ist nicht nur die Kehrseite der Liebe, sondern führt aus dem Bereich eines gelingenden Austauschs der Liebe hinaus oder besser hinab in die Hölle der rohen Konkurrenz. Eine solche Hölle reicht noch tiefer auf die Hegel’sche archaische, erste Entwicklungsstufe des Selbstbewusstseins zurück. Hass lebt im Bereich der ungezügelten Begierde, die sich auf ein Subjekt-Gegenüber im Kampf um Leben und Tod trifft – das eigene Leben so wenig achtend wie das andere. Literarisch wird die zerfallende Liebe vom Moralischen Pakt nur am Rande begleitet, denn der Kampf des Verlassenen mit dem Verlassenden ist von Haus aus vergeblich. Da verselbständigt sich die rohe Konkurrenz, da werden kaum 101 Wenn ich meine dem Anderen ‚übertragene‘ Freiheit als demütigend empfände, so Sartre, wenn ich mit der konkreten Enthüllung „meiner instrumentellen Objektheit gegenüber der Freiheit des Anderen“ (Sartre 1991, p. 717) konfrontiert würde, ahnte ich, dass ich zerstören müsse, was meine Freiheit bedrohe. Wie das liebende Bewusstsein, so gehe auch das hassende von der Anerkennung der Freiheit des Anderen aus. Doch der Hass sei ein Scheitern, so Sartre. Selbst im höchsten Triumph des Hasses – in der Vernichtung des Anderen – werde dieser immer noch anerkannt als jemand, der existiert habe. Ich selbst sei damit ‚für den Rest meiner Tage kontaminiert‘, der Andere „hat den Schlüssel dieser Entfremdung mit ins Grab genommen“ (Sartre 1991, p. 719). 351 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. noch – wenn überhaupt – Regeln der Zivilisation eingehalten, dort überstrahlt der Hass als kehrseitige Fratze der Liebe alle moralischen Hemmungen, der Eine will dem Anderen nur noch Schaden zufügen und sich für die tiefste aller denkbaren Kränkungen seiner Person rächen. Erst wenn der Verlassene die Vergeblichkeit seines Unterfangens registriert und aufgibt, kehrt der Moralische Pakt mit seinen Errungenschaften zurück: Auch wenn du im Kampf unterliegst, stehe auf und stelle dich in der wirklichen Welt kommenden Herausforderungen! – Exkurs Ende – Eine dritte Perspektive ist die soziale Einbindung des Liebespaares. Hier lauern Ansprüche und Rollenerwartungen der Sozietät, die bis ins Innere der Liebenden vordringen. Sarte sagt, Liebe sei „ein durch die Anderen fortwährend relativiertes Absolutes“ (Sartre 1991, p. 660). Ihre absolute Bezugsachse könnte Liebe nur bewahren, wenn die beiden Liebenden allein auf der Welt wären (und auch dann bestünde die eben besprochene Fragilität des paradoxen Verweisungszusammenhangs ungebrochen weiter). Das Erscheinen Dritter bedroht das Liebesverhältnis nun von außen, Mephistopheles dringt immer wieder in die aufblühende Liebe zwischen Faust und Gretchen ein: Fausts anfängliche Begierde Gretchen gegenüber weicht einer Liebe, etwas Höherem als bloßer Sexualität, es ist das (Sturm-und-Drang-geprägte) Göttliche, was er in dieser Liebe zu finden hofft. Allerdings erliegt er Mephistopheles’ Manipulation und beschädigt die Liebe nachhaltig. Faust verlässt mit seiner Flucht nach dem Mord an Valentin Gretchen und überlässt sie ihrer Schuld, die sie am Ende in den Wahnsinn102 führt. Erst Fausts Amnesie auf der blumigen Wiese der anmutigen Gegend zu Beginn des zweiten Teils macht ihn Liebe und Schuld vergessen103 und führt ihn endgültig zurück auf das Terrain Mephistopheles’. Auch der Verführer Crampas ist der von außen kommende Dritte, der die Ehe Effis und Innstettens bedroht. Virtuell steht Innstetten schon in der ersten Sekunde der Affäre zwischen den beiden, real wird er am Ende dann in voller Rüstung des geltenden sittlichen Rechts auftreten. Und in Irrungen, Wirrungen spielt Bothos Mutter die von außen kommende Dritte, und zwar als Anwältin eines Kontrakts, der die Liebe auf ein Geschäft reduziert.104 102 103 104 „Wo einer nicht weg kann von dem Ort, an dem er doch nicht bleiben kann, bricht er aus in den Wahnsinn und ist fortan gleichzeitig da und nicht da, ist bei allen anderen und weit von ihnen entfernt“ (Matt 2004, p. 185). Ariel beauftragt die Elfen, Fausts Herz zu besänftigen, ‚des Vorwurfs glühend bittere Pfeile‘ zu entfernen und Faust seine Schuld vergessen zu machen: „Erst senkt sein Haupt aufs kühle Polster nieder, / Dann badet ihn im Tau aus Lethes Flut; / Gelenk sind bald die krampferstarrten Glieder, / Wenn er gestärkt dem Tag entgegenruht, / Vollbringt der Elfen schönste Pflicht, / Gebt ihn zurück dem heiligen Licht“ (Goethe 2007, p. Vs. 4628 ff.). Gerade im letzten Fall macht Fontane augenscheinlich, dass Ehe und Liebe auseinanderfallen und erstere zu einer reinen Spekulation auf Mitgift und materiellem Versorgtsein verkommen kann. 352 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Erwartungshaltungen der Gesellschaft finden häufig ihre Korrespondenz in den Liebenden: Lene findet sich mit Bothos Entscheidung ebenso ab wie Effi am Ende mit dem Bannstrahl der Berliner Gesellschaft. Beide Frauenfiguren leiden an den akzeptierten Konfliktlinien, aber in der Übernahme von fremden oder neuen Rolle behauptet sich jeweils die Gesellschaft. Auch die dritte Perspektive, die ‚Liebe vor Dritten‘, bringt erzählerisch die Elemente des Moralischen Paktes zur Geltung. Oft geht es in Erzählungen, in denen die Liebe eine zentrale Rolle einnimmt, um die Liebe in der Welt, in der weltlichen Faktizität und Kontingenz. Wenn man die Geschichte der Liebenden nur für sich betrachtete, wäre sie kaum erzählenswert. Der Konflikt mit der sie umfangenden Welt generiert häufig erst die Erzähleignung. Der Erzählung einer Liebe, die sich gegen den Widerstand von außen erwehren muss, liegen die Elemente des Moralischen Paktes nahezu idealtypisch zugrunde. 353 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. F.3. Resümee und Rückführung Ein kurzes Resümee und nochmals die Frage nach der Schlagkraft der Theorie der Anerkennung, was die Stabilität meiner These auf den Prüfstand stellt, meiner Vermutung, dass es eben der Kampf und nicht die Solidarität oder gar die Liebe sind, die Erzählungen und Dramen als Fundamentalmoral zugrunde liegen. 3.1. Die Liebe als Gegenmodell zum Moralischen Pakt? Entlässt man nun Ricoeur aus seinem Anspruch, die Anerkennung als Grundelement in den naturzuständlichen Individuen anzusiedeln, bleibt nicht nur der Moralische Pakt in seiner Geltung unbeschädigt, sondern es zeigt sich durchaus Brauchbares. Das Phänomen der Anerkennung ist unabdingbar die subjektive Voraussetzung bei der Übernahme der ‚Vorschriften‘ des Moralischen Paktes. Ganz gleich, ob das Subjekt vor dem eigentlichen Seinkönnen in die Arme des Man flüchtet und in den Besorgungen des Alltags sich verliert oder ob es sich aus jenem Man befreit und sich seinen ureigensten Entwürfen zuwendet; ganz gleich also, welchen Weg das Selbst einschlägt, es erkennt das Andere an (als Man oder als Noch-nicht im Entwurf eines künftigen Selbst) und verspricht sich verlässlich, sich allen Herausforderungen auf seinem Weg zu stellen und niemals aufzugeben. Die Anerkennung des Anderen im eigenen Selbst ist also die Grundlage des Individuums, sich im Leben ‚zurechtzufinden‘ und damit zur ‚Gewissheit seiner selbst‘ zu gelangen: Das Gewissen wird erstes Ziel der Prägeanstalt ‚Sozialisation‘. Bei Ricoeur erweist sich das Gewissen am Ende nicht als das verinnerlichte Resultat einer gesellschaftlichen Sozialisation im Lichte der Aporie einer Unterwerfung autonomer Individuen, sondern als ein aus den Wolken gefallener Regelmechanismus im Umgang der Individuen miteinander. Das Phänomen der Anerkennung hebelt den Moralischen Pakt also nicht nur nicht aus, es sorgt als notwendiger Bestandteil auch für die Veredelung der Konkurrenz wie für die Begrenzung der schädlichen Konsequenzen aus der Konkurrenz. Beides fällt in die Domäne staatlicher Regulierung. Der Moralische Pakt also ist das bleibende Fundament moderner Gesellschaft und Kultur. Bis hinein in die gesellschaftlich geregelte Anerkennung, die eben dessen Elemente – Kommunikation, Kampf und Kontrakt105 – in ihren Genen trägt. An der These der vorliegenden Arbeit ist festzuhalten. * 105 Die Aspekte der Anerkennung im Transformationsmodell: (a) Im Kontrakt 354 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Eine abschließende Frage noch: Ist Liebe Entfremdung? Ja und nein. Sie ist insofern nicht Entfremdung, als sie der Aufbau einer neuen und vor allem einer eigenen Welt ist, sozusagen ein Entwurf ‚aus tiefster Seele‘. Es gilt auch hier, was oben bereits zur Ent-Entfremdung ausgeführt worden ist: Die Liebenden sprengen die Fesseln ihrer ursprünglichen Entfremdung. Auf der anderen Seite ist Liebe insofern Entfremdung, als ihr Ideal, wie oben gesagt, ein passives ‚Sichentgehen‘ ist, nicht mehr das Selbst konstruiert seine eigene Welt, sondern der Andere wird Mittelpunkt und Demiurg einer anderen Welt. Die so geschaffene neue Welt entfremdet das sich unterwerfende Individuum von seinem ‚eigentlichen Seinkönnen‘, wenn es auch in unbeschädigter Autonomie sich darauf einlässt. Nur – und das scheint das Wesentliche zu sein: Die Dialektik von Unterwerfung und Unterworfensein finden ihren Ausdruck in einem wechselseitigen Nutzungsverhältnis, das sich hinter der Schimäre von ewiger ‚Verzauberung‘ und Liebesglück verbirgt. Besonders Liebesfilme bedienen das Bedürfnis des Publikums nach solchen farbigen Fantasiereisen. Allerdings müssen Regieführende auch für die Erzählbarkeit sorgen – und dafür rahmen sie in der Regel die Liebesgeschichte in von außen oder innen kommende Konfliktlagen ein, die dann die gesamte Klaviatur des Moralischen Paktes aufrufen.106 3.2. Von der Liebe zurück zur Fürsorge Was ich eben beiläufig erwähnt habe – dass die Anerkennung für Zivilisierung der Konkurrenz und Eindämmung deren schädlicher Folgen sorgt –, führt uns zurück zu Ricoeurs ‚kleiner Ethik‘. Die Anerkennung ist subjektiver Ausdruck der zivilisierten Konkurrenz, und zwar in zweierlei Richtung: Einerseits ist sie Ausdruck der Verinnerlichung von Regeln und andererseits Milderung erlittener Schäden oder Einbußen der Verlierer. Die Anerkennung übernimmt hier ganz praktisch die Seite der Pflege 106 (b) In der Einhaltung der Regeln des Kampfes: Begib dich in den Kampf und halte dabei die Regeln ein! (c) In der Kommunikation: was das Unwahr-Sprechen oder die Verstellung ebenfalls zulässt. In der Regel werden am Ende einer Erzählung oder eines Dramas Verkennung und Verstellung zugunsten eines Wahrsprechens aufgehoben. Was die Regeln des Kampfes (b) angeht, so hat der Held den Leser meist auf seiner Seite, auch wenn oder gerade wenn das Anti-Subjekt sich nicht an die Regeln hält. Allerdings erscheint die Überschreitung der Regeln in manchen Situationen von der phronêsis geboten. Öffnet die Liebe sich aber ihren hausgemachten Problemen, zerstört sie sich selbst: sie endet, so Sartre, entweder beim Masochismus/Sadismus oder aber sie gibt sich selbst auf, indem sie Liebe durch Verführung ersetzt oder den Anderen verlässt, um sich selbst wiederzugewinnen. Damit wird das Strukturproblem der Liebe nicht gelöst, sondern das bis dahin geliebte Gegenüber wird lediglich als Illusion entlarvt und aufgegeben. 355 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. der Unterlegenen: Fürsorge. Und sie ist beides: Ideal und praxis. Ideal insoweit, als sie als Gegenmodell von Konkurrenz und Kampf erscheint, praxis insofern, als sie – dem Zweck des sozialen Friedens gehorchend – gravierende Schäden und Wunden zu heilen sich vornimmt, situativ gelenkt durch die Mittel, die eine Gesellschaft sich leisten zu können glaubt. Wie in Teil A ausgeführt,107 stellt Ricoeur Fürsorge und Zur-Verantwortunggezogen-Werden in einem Verhältnis gegenüber, in dessen Mitte die Freundschaft zu liegen kommt. In ihr begegneten sich Individuen als Gleiche, in den Extremen zunächst als Ungleiche. Während auf der Seite der Fürsorge das Selbst initiativ werde, agiere beim Zur-Verantwortung-gezogen-Werden vor allem der Andere. Die Reaktionen in diesen Verhältnissen scheinbarer Ungleichheit führten nun laut Ricoeur zur Gleichheit, auf der Seite der Fürsorge biete das Gegenüber ‚Schwachheit‘108 und auf der anderen Seite antworte der Befragte und übernehme Verantwortung. Ricoeur hat anschließend die Fürsorge von der zweiten Dimension seiner ‚kleinen Ethik‘, der Beziehung des Selbst auf den Anderen, auf die dritte ausstrahlen lassen, in die Dimension der Institutionen, in der damit das Phänomen der Gerechtigkeit aufgerufen wird. Während die distributive Gerechtigkeit die Zuteilung von Chancen und Gütern nach der Leistung der Einzelnen bemesse, führe die kommutative oder ausgleichende Gerechtigkeit direkt zur Fürsorge: ausgleichend insofern, als sie erlittenen Schaden bei den Verlieren der Konkurrenz teilweise gutmache und die Fürsorge-Empfänger – durch besondere Maßnahmen gestärkt – der Konkurrenz wieder zur Verfügung zu stellen versuche. Das Phänomen der Anerkennung führt nicht nur zurück zu Ricoeurs ‚kleinen Ethik‘, sondern sie ist für ihn offensichtlich auch der Schlussstein seiner Ethik. Wie in Teil A als Zwischenbilanz109 erläutert, ist die Anerkennung das Fundament auf allen drei Ebenen seiner Ethik: Auf der ersten Ebene des Einzelnen erkennt dieser in einem Akt der Selbstschätzung seine eigenen Bedürfnisse an; auf der zweiten Ebene des Verhältnisses zum Anderen erkennt das Selbst den Anderen ebenfalls als einen an, der als ‚Ähnlicher‘ ein ebensolches selbstschätzendes Verhältnis zu sich eingehe (Freundschaft und Fürsorge); und auf der dritten Ebene der gerechten Institutionen waltet das Prinzip der Gleichheit als Gerechtigkeit (während die Fürsorge dem Selbst noch das Angesicht eines Gegenübers anbietet, zeige die Gleichheit den Institutionen das Gegenüber als ein Jeder). 107 108 109 … auf der zweiten Etappe des Spaziergangs mit Aristoteles in Kapitel A.2 zur ‚kleinen Ethik‘ Ricoeurs. Die Gleichheit in der Fürsorge werde „nur durch das gegenseitige Eingeständnis der Zerbrechlichkeit und letzten Endes der Sterblichkeit wiederhergestellt“ (Ricoeur 2005, p. 234). … als Zwischenbilanz der zweiten Etappe des Spaziergangs mit Aristoteles in Kapitel A.2. 356 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Und allen drei Ebenen liege nicht nur das Phänomen der Anerkennung zugrunde, sondern auch das der Autonomie – wie fiktiv sie auch immer in großen Gesellschaftserzählungen Gestalt annehme110: als das Selbst auf der ersten Ebene,111 als Person auf der zweiten Ebene, der ebenfalls Autonomie und Selbstzweck zuerkannt würden, und als Grundlage eines Gesellschaftsvertrags, in dem alle als Gleiche – sich und die gesellschaftlichen Regeln anerkennend – auf Unterordnung und Folgsamkeit verpflichten. Anerkennung und Autonomie also, zwei Begriffe, die Ricoeur aus dem Reich des Formalen und Abstrakten, aus der Kantischen deontologischen Verkürzung gelöst und mit dem teleologischen Kern eines ‚guten Lebens‘ verschmolzen hat: Das ist das Zentrum seiner ‚kleinen Ethik‘. Doch was Ricoeur als das ‚gute Leben‘ erscheint, ist über weite Strecken nicht weniger abstrakt als das, was Kant anbietet. Mit seinem letzten Werk, den Wegen der Anerkennung, wird er dann aber konkreter, deutlicher, wenn man so will. Er beendet es mit einem Zitat von Michel de Montaigne: „Bei der Freundschaft […], von der ich spreche, verschmelzen zwei Seelen und gehen derart ineinander auf, daß sie sogar die Naht nicht mehr finden, die sie einte“112 (Ricoeur 2006, p. 325). Doch so weit hätte Ricoeur sich nicht in die Träume einer friedlichen und von inniger Freundschaft geprägten Gesellschaft hinauswagen müssen, die Phänomene der Anerkennung und Autonomie finden, wie ich zu zeigen versucht habe, ihre Rolle im Gefüge des Moralischen Paktes. Unter gleichen Bedingungen und sich an Regeln haltend, wird in der Konkurrenz ermittelt, wer der Bessere, der Klügere, der Stärkere ist. Ein solches Messen unterstellt autonome Individuen, die Herausforderungen anzunehmen bereit sind und für die Konsequenzen ihrer Handlungen Verantwortung übernehmen, die sich in ihrer Autonomie sogar über das gesellschaftliche Man hinwegsetzen und sich ureigenen Entwürfen zuwenden dürfen, die sich Regeln des Kampfes zwar zu unterwerfen haben, von ihnen aber auch situativ in Grenzen abweichen können, wenn das eigene Überleben oder ein angestrebtes Ideal in Gefahr geraten. Unterliegt das Individuum dennoch, hat es zu Recht verloren. Es ergeht dann die Aufforderung, sich kommenden Herausforderungen erneut zu stellen. Mögen solche Herausforderungen auch noch so sehr auf Leben und Tod gehen, der Moralische Pakt setzt der existentiellen Strenge des Kampfes mit den Elementen Kommunikation (als Austausch) und Kontrakt Grenzen, die die 110 111 112 Siehe oben im Kapitel A.2. die dritte Etappe auf dem Spaziergang Ricoeurs mit Kant. Die Autonomie zeige sich auf der ersten Ebene auch als Achtung (= Anerkennung) vor der eigenen Souveränität, sich den Maximen einer eigenen Gesetzgebung zu unterwerfen. Wir haben das oben auf dem Spaziergang Ricoeurs mit Kant in Teil A berührt. Ricoeur zitiert Michel de Montaigne, Essais, Erstes Buch, Kap. 28, Über die Freundschaft, Frankfurt/M. 1998, S. 101. 357 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Individuen in solidarischen Bezügen ausleben und in konkurrierenden Bezügen so weit wie möglich berücksichtigen. Damit beantwortet der Moralische Pakt nicht die Frage nach einem ‚guten Leben‘, aber er formuliert die Bedingungen, unter denen Individuen mit sich selbst, mit den Anderen und mit der Gesellschaft umzugehen aufgefordert werden. Aus diesem Grund habe ich diesen Pakt moralisch genannt, mehr noch: fundamentalmoralisch. 358 https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Epilog Erzählstruktur – narrative Identität – Handlung – Wissen – Anerkennung: Überall leuchtet der Moralische Pakt hervor, selbst die zunächst sich anbietenden Gegenmodelle von Liebe und Friede haben sich als kraftlose Einwände entpuppt. Wenn es einen Moralischen Pakt gibt, dann ist er in der Struktur von Erzählungen und Dramen, in der Greimas’schen semio-narrativen Oberflächenebene zu finden gewesen. Das ist Ziel – und ich hoffe auch: Ergebnis – meiner bisherigen Untersuchungen gewesen. Greimas’ Transformationsmodell wie auch Ricoeurs mimêsis I und II sind den Elementen des Paktes immer wieder sehr nahegekommen, ohne sie allerdings als fundamentalen Hintergrund von Dramen oder Erzählungen dingfest gemacht zu haben. In der Hoffnung, die Tür hierzu etwas weiter geöffnet zu haben, schließe ich meine Arbeit ab. Ich schließe sie aber nur vorläufig ab, denn deren Überlegungen sollen in einem Folgeband1 wieder aufgenommen und fortgeführt werden. Figuren erzählerischer und dramatischer Werke sind immer wieder Situationen ausgesetzt, in denen sie sich gemäß den Forderungen des Moralischen Paktes bewähren müssen, aber sie sind es nicht allein. Auch der Leser, so meine Idee, gerät unter Einfluss eines Erzählers, der auch ihn mit dem Moralischen Pakt konfrontiert, zwar nicht als Handlungs- und Wissenshintergrund, aber als Rezeptionsfolie. Dabei wird die Metapher eines Paktes zur vollen Geltung gelangen, wenn sie nämlich vorstellbar wird als ein Vertrag zwischen Erzähler und Leser. In diesem Sinne bitte ich den Leser dieser Arbeit um Verständnis, dass der Folgeband erst noch geschrieben werden muss. 1 Als Untersuchungsgegenstände der Folgearbeit bieten sich Ricoeurs Überlegungen zur mimêsis III wie auch die Gedanken Greimas’ zu seiner dritten, der Diskursebene an. Ein Blick auf die Rezeptionsästhetik wird ebenfalls sinnvoll sein. https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Danksagung Fürs Coaching möchte ich mich bei meinem Sohn Philipp bedanken sowie bei meinem Freund Claudio Ettl. Für die dreijährige akademische Begleitung bedanke ich mich bei meiner Doktormutter Prof. Dr. Christine Lubkoll-Klotz. Für die Überlassung der Titel-Metapher geht mein Dank an Prof. Dr. Peter von Matt. Und zuletzt freut mich der kreative Beitrag – die Cover-Illustration – meines Freundes Wolfgang Bräuer. Herzlichen Dank euch und Ihnen allen! https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. https://doi.org/10.5771/9783956507588 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 11.12.2020, 13:41:34. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Literaturverzeichnis Arendt, Hannah (1958). Kultur und Politik. In: Der Merkur, 12 (30), Stuttgart, S. 1122-1145. 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