Academia.eduAcademia.edu

4 Die ›Keime‹ der Aufklärung: Zu Kants Geschichtsphilosophie

2020, Kritik - Selbstaffirmation - Othering

Mit seiner Geschichtsphilosophie begibt sich Kant in ein zu seiner Zeit relativ junges Teilgebiet innerhalb der Philosophie. Dass Geschichte überhaupt Gegenstand einer philosophischen Fragestellung sein kann, etabliert sich erst im 18. Jahrhundert. Die neue Verständigung über Geschichte hatte den unbescheidenen Anspruch, die globale Geschichte der Menschheit zu erfassen (vgl. Höffe 2011: 1). Demgegenüber ist heutzutage das Interesse an diesen Fragen eher gering. Solche umfassenden Projekte, wie sie dann weiter im 19. und 20. Jahrhundert ausformuliert wurden, sind in jüngerer Zeit einer starken Kritik unterzogen worden. Dazu gehört etwa: der universalhistorische Anspruch, den ganzen menschheitlichen Horizont zu erfassen; die Vereinheitlichung des historischen Subjekts, das als Individuum, Gruppe, Volk oder Zivilisation zum Akteur der Geschichte wird, und die damit verbundene gewaltvolle Überformung von Kontingenz und Pluralität; die Annahme einer der Geschichte intrinsisch vorhandenen Rationalität, die dem Geschehen

4 Die ›Keime‹ der Aufklärung: Zu Kants Geschichtsphilosophie Mit seiner Geschichtsphilosophie begibt sich Kant in ein zu seiner Zeit relativ junges Teilgebiet innerhalb der Philosophie. Dass Geschichte überhaupt Gegenstand einer philosophischen Fragestellung sein kann, etabliert sich erst im 18. Jahrhundert. Die neue Verständigung über Geschichte hatte den unbescheidenen Anspruch, die globale Geschichte der Menschheit zu erfassen (vgl. Höffe 2011: 1). Demgegenüber ist heutzutage das Interesse an diesen Fragen eher gering. Solche umfassenden Projekte, wie sie dann weiter im 19. und 20. Jahrhundert ausformuliert wurden, sind in jüngerer Zeit einer starken Kritik unterzogen worden. Dazu gehört etwa: der universalhistorische Anspruch, den ganzen menschheitlichen Horizont zu erfassen; die Vereinheitlichung des historischen Subjekts, das als Individuum, Gruppe, Volk oder Zivilisation zum Akteur der Geschichte wird, und die damit verbundene gewaltvolle Überformung von Kontingenz und Pluralität; die Annahme einer der Geschichte intrinsisch vorhandenen Rationalität, die dem Geschehen nicht nur eine Gesetzmässigkeit, sondern auch Sinn und Zweck verleiht und Geschichte als Fortschritt fasst, sie letztlich als steuerbar und machbar ausweist – all diese Elemente zeichnen einen substantialistischen Ansatz aus, der heute problematisch erscheint (vgl. Angehrn 2004: 329f.). Betrachtet man das Aufkommen der Geschichtsphilosophie vor dem Hintergrund des europäischen Kolonialismus, ergeben sich weitere Kritikpunkte: Amy Allen (2016: 16ff.) differenziert in ihrer Zusammenfassung der post- und dekolonialen Literatur zwischen einem politischen und einem epistemologischen Problem. Politisch sei das Fortschrittsnarrativ problematisch, da der Fortschritt als in Europa stattfindend und in den Rest der Welt diffundierend dargestellt wird. Der Fortschritt werde so als europäischer Entwicklungs- oder Lernprozess verstanden, der keiner materiellen oder ideologischen Beziehung mit den Kolonien geschuldet sei. Zudem werde das Modell des Fortschritts auch für aussereuropäische Gebiete angewandt, womit eine Angleichung an die europäische Kultur vorgenommen werde. Werde der Fortschritt in dieser Weise als eine dem Westen intrinsische Entwicklung verstanden, legitimiere und rationalisiere diese Theorie Formen des Kolonialismus und Rassismus. Auf der epistemologischen Ebene stelle sich die Frage, wie überhaupt beurteilt wer- 90 Kritik - Selbstaffirmation - Othering den könne, was als Fortschritt gelte. Hier wird der Vorwurf formuliert, dass in einem ersten Schritt die Unterlegenheit anderer Gruppen angenommen wird, um in einem zweiten Schritt mit der Idee, dass sich Geschichte in Entwicklungsetappen gliedern lasse, die Behauptung der Unterlegenheit zu begründen. Diese beiden Aspekte, der politische und der epistemologische, seien zudem miteinander verwoben: Die Bezeichnung von etwas oder einer Gruppe als nicht modern oder vormodern sei eine Geste der Machthabenden. Obwohl diese Einwände nicht umfassend auf Kant zutreffen, finden sich doch einige Elemente, die den Zugriff auf die kantische Geschichtsphilosophie aus heutiger Sicht schwierig machen. Die Geschichtsphilosophie spielt in der Kant-Rezeption eine marginale Rolle und wurde lange Zeit als unphilosophisch klassifiziert, mit dem Argument, dass sie den Einsichten der Kritik der reinen Vernunft nicht genügen würde (vgl. Kleingeld 2008: 524). Demgegenüber widerlegen einige neuere Beiträge diese Sichtweise und sehen gerade in dieser Geschichtsphilosophie einen lohnenden Ansatz, weil diese Art der philosophischen Reflexion von Geschichte weder substantialistisch ist, noch sich in der postmodernen Beliebigkeit verliert (vgl. Kleingeld 2008, Angehrn 2004, Thies 2011). Kant sei kein einfacher Denker des Universalen, sondern biete eine vorsichtige, sogenannt schwache Theorie, welche eine globale Perspektive mit der existierenden Pluralität von Lebensweisen verbinde. Gerade dies mache ihn für geschichtsphilosophische Überlegungen in einer globalisierten Welt interessant. Thomas McCarthy (2015: 233f.) beschreibt Kants Geschichtsphilosophie als postmetaphysisch, postempirisch, die praktisch orientiert sei, damit eine methodisch interpretierende Annäherung an die Aufgaben einer Weltgeschichte liefere und deshalb einen interessanteren Ansatzpunkt bilde als die Ansätze von Hegel oder Marx. Eine Auseinandersetzung mit der kantischen Geschichtsphilosophie scheint sich also zu lohnen. Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht die Auseinandersetzung mit den Thesen von Sankar Muthu und damit verbunden die Frage, wie in den geschichtsphilosophischen Entwürfen Kants unterschiedliche Gesellschaften oder Lebensweisen gedacht und integriert sind. Dabei interessiert mich einerseits die Frage, wie verschiedene Lebensweisen oder Gesellschaften (oder andere Entitäten) sowie damit verbunden Geschlechtermodelle und Sexualitätsvorstellungen konzeptualisiert werden und welche Funktionen sie erfüllen. Es lässt sich zeigen, dass Kant nicht von einem singulären historischen Subjekt ausgeht, sondern eine Pluralität von Lebensstilen berücksichtigt. Mein Fokus richtet sich jedoch darauf, genauer zu untersuchen, in welcher Art und Weise solche Differenzen gefasst sind und wie sie sich in das Modell der geschichtlichen Entwicklung integrieren. Darüber hinaus interessiert mich, welche Kontinuitäten und Brüche zwischen den geschichtsphilosophischen Aufsätzen und den Schriften zu den ›Menschenrassen‹ zu finden sind. Während sich die meisten Texte zu Kants Geschichtsphiloso- 4 Die ›Keime‹ der Aufklärung: Zu Kants Geschichtsphilosophie phie überhaupt nicht mit dem Thema ›Rasse‹ auseinandersetzen, scheint mir eine vergleichende Lektüre bereits deshalb sinnvoll, weil Kant unter anderem in seiner Schrift Verschiedene Rassen (1777) – die also sieben Jahre früher erschienen ist als die erste geschichtsphilosophische Abhandlung – eine grundlegende Historisierung der lebendigen Natur vornimmt, wie im vorhergehenden Kapitel ausführlich dargelegt wurde. Jedoch werfen die geschichtsphilosophischen und die Schriften zu den ›Menschenrassen‹ einen je anderen Blick auf die Menschen. Um diese Dimension weiter ausloten zu können, bedarf es eines erneuten Rückgriffs auf die Kritik der reinen Vernunft. Im Zentrum steht hier die Frage, inwiefern in den geschichtsphilosophischen Schriften die Menschen als vernünftige, aus Freiheit handelnde Wesen in den Blick geraten oder die Menschen auch als Element der Natur zu verstehen sind. Meine These ist, dass die Menschen sowohl in ihrer Naturhaftigkeit gefasst werden, als auch als freie Akteure verstanden werden. Damit stellt sich weitergehend die Frage, ob sich das teleologische Denken und die damit verbundenen Formen von Othering und Selbstaffirmation verändern. 4.1 Natur & Kultur | Anti-Imperialismus Muthu (2003: 3ff.) verortet in seinem Buch Enlightenment against Empire einen anti-imperialistischen1 Strang in der Aufklärungszeit, dem er sowohl Kant wie auch Herder und Diderot zuordnet. Damit verfolgt Muthu das Anliegen, einen differenzierteren Blick auf die Aufklärung zu werfen und sich dem Für und Wider der Aufklärung zu entziehen. Diesen imperialismuskritischen Strang bezeichnet Muthu als historische Anomalie: Weder habe es am Ende des 18. Jahrhunderts eine fundamentale Kritik am imperialen Unternehmen Europas gegeben, noch sei diese Kritik im 19. Jahrhundert weitergeführt worden.2 Auch wenn es später vereinzelte Stimmen gegeben habe, würden sich keine dominanten Denker_innen mehr finden, welche diese Kritik weitergetragen hätten. Dieser historischen Anomalie ordnet er auch Kant zu. Er gesteht zwar ein, dass sich Kant Gedanken über ›Menschenrassen‹ gemacht habe und markiert diese durchaus als problematisch, argumentiert 1 2 Muthu setzt Imperialismus mit kolonialer Expansion gleich, wenn er behauptet, dass »virtually every prominent and influential European thinker in the three hundred years before the eighteenth century and nearly the full century after it were either agnostic toward or enthusiastically in favour of imperialism.« (Muthu 2003: 1) Eine explizite Definition von Imperialismus findet sich nicht bei Muthu. Hannah Arendt spricht vor dem Hintergrund ökonomischer Argumente von Imperialismus in Bezug auf das 19. Jahrhundert, beginnend 1848 mit dem »scramble for Africa« (Arendt 2006: 275ff.). In eine gleiche Richtung geht Pitts (2005), allerdings mit einem Fokus auf das britische und französische politische Denken und damit ohne ausführlicheren Bezug auf Kant. Für einen Überblick siehe Dhawan (2014). 91 92 Kritik - Selbstaffirmation - Othering jedoch, diese Überlegungen würden auf Kants spätere Schriften keinen Einfluss mehr haben.3 Kant habe seine Meinung geändert, was unter anderem auch an der expliziten Verurteilung von Versklavungen deutlich werde. Dies geschehe nach Muthu vor allem, weil Kant seine Aufmerksamkeit nicht mehr auf ›Menschenrassen‹, sondern auf die unterschiedlichen Lebensstile der Menschen richtet: So teilt er nun die Menschen je nach ihrer Lebensart in Hirten-, Jagd- und Agrarvölker ein (vgl. ebd.: 8). Auf dieser Grundlage und anhand der Lektüre der Texte Mutmasslicher Anfang der Menschengeschichte, Zum ewigen Frieden und Metaphysik der Sitten argumentiert Muthu, dass Kant den Menschen grundsätzlich als kulturelles Wesen in den Blick nimmt und die Menschheit als »cultural agency« versteht: In den späteren Schriften seien Kunst und Kultur konstitutiv für das Menschsein. Diese partikularisierte Sicht auf die Menschen bilde die Basis, auf der Kant den Imperialismus zurückweisen und kritisieren könne. Da die Praktiken und Institutionen dieser Völker inkommensurabel sind, können sie auch nicht in einer Hierarchie gefasst und als über- oder unterlegen klassifiziert werden (vgl. ebd.: 123). Mit dieser Interpretation wendet sich Muthu gegen jene, die Kant als universalistischen Denker klassifizieren. Universalistische Konzeptionen abstrahieren von jeglichen kulturellen und sozialen Verortungen in Bezug auf das Subjekt der Geschichte. Diese Figur des abstrakten Menschen wurde aus feministischer Sicht als männlich und aus post_kolonialer Sicht als weiss und europäisch identifiziert. Universalistische Konzeptionen gehen damit Hand in Hand mit der Abwertung von Weiblichkeit (vgl. Lloyd 1985) und von jeglichen anderen kulturellen Differenzen und erheben das weisse, männliche Subjekt zum impliziten Massstab. Vor diesem Hintergrund wird Muthus Anliegen verständlich: Wenn gezeigt werden kann, dass der Mensch und die Menschheit bei Kant nicht als abstrakt – und abstrahiert – verstanden werden, dann bedeutet dies zugleich, dass imperiale Vorstellungen wegfallen.4 Denn die Dialektik zwischen dem abstrahierten Menschen auf der einen Seite und der Verdinglichung von Differenzen auf der anderen Seite kann sich so erst gar nicht entfalten (vgl. Maihofer 2009). Oder wie es Muthu – der nicht auf diese Tradition der kritischen Schule referiert – formuliert: »But, in fact, the more that political thinkers treated the universal category of humanity as socially embedded at a fundamental level and as necessarily marked by (what we would now call) cultural difference – that is, the more that differences among humans were viewed as integral to the very meaning of humanity – the more likely it became that foreign, and in particular non-European, humans were accorded moral respect as humans.« (Muthu 2003: 122f., Herv. i. O.) 3 4 Damit argumentiert Muthu in gleicher Weise wie Kleingeld (siehe dazu Kapitel 3). Die Geschlechterfrage berücksichtigt Muthu leider nicht. 4 Die ›Keime‹ der Aufklärung: Zu Kants Geschichtsphilosophie Nikita Dhawan (2014: 43) kritisiert Muthus Verständnis von Differenz und Diversität: Werden Differenzen zwischen den Menschen als rein positiver Sachverhalt bewertet, dann wird vergessen, dass Differenz und Diversität durch Machtbeziehungen konstruiert und konstituiert werden. Ihre Funktion in Bezug auf das transnationale Kapital, dessen Vorgänger der transkontinentale Handel sei, werde ausgeblendet. Zudem kritisiert Dhawan, dass mit diesem Ansatz eine neue Vereinfachung erfolge, indem Autor_innen in ›imperialistisch‹ und ›anti-imperialistisch‹ unterteilt würden (vgl. ebd.: 44). Diese Kritik scheint mir zutreffend zu sein, jedoch gibt es weitere Einwände. So stellt sich die Frage, ob die Annahme Muthus stimmt, dass eine Korrelation zwischen einer anti-universalistischen Sichtweise in Bezug auf das Subjekt der Geschichte und einer anti-imperialistischen Haltung besteht. Zugespitzt gesagt: Mir scheint der Sachverhalt verkürzt dargestellt zu werden, wenn behauptet wird, dass mit der Konzeptualisierung der kulturell und sozial eingebetteten Menschheit automatisch eurozentristische Elemente oder Hierarchisierungen zwischen bestimmten Lebensstilen vom Tisch sind. Stattdessen gilt es zu untersuchen, wie genau kulturelle Differenzen gefasst werden, welchen Status die Differenzen haben und welche Funktionen sie in Bezug auf die Geschichte einnehmen. Imperiales und eurozentristisches Denken gründet nicht auf dem Begriff ›Rasse‹ allein, sondern kann auch über die Annahme verschiedener Kulturen oder Lebensstile artikuliert werden. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Rolle der Natur. Wenn Muthu Kant einen Fokus auf kulturelle Differenzen unterstellt, geht er davon aus, dass die Natur der Menschen keine Rolle mehr spielen würde. In den geschichtshistorischen Schriften seien die Menschen aus der Natur entlassen, wie Muthu anhand seiner Lektüre des Aufsatzes Mutmasslicher Anfang argumentiert. Das naturhafte Sein schreibt er nur noch den Tieren zu, die im Gegensatz zu den Menschen weder Freiheit noch Kultur hätten (vgl. ebd.: 128). Dazu passt auch, dass Muthu die kantischen Erörterungen zu den ›Menschenrassen‹ als Überlegungen kennzeichnet, die sich lediglich in der präkritischen Periode finden würden. In den späteren Jahren habe Kant dann den Begriff der Menschheit als cultural agency entwickelt, der das Konzept der ›Menschenrasse‹ abgelöst habe. Dadurch seien die hierarchischen und biologischen Konzepte von ›Rasse‹ aus Kants späteren Schriften verschwunden (vgl. ebd.: 181ff.). Mit diesen beiden Argumenten versucht Muthu zu zeigen, dass die Natur des Menschen keine Rolle in der Geschichtsphilosophie spiele. Demgegenüber zeige ich im Folgenden auf, dass gerade in Bezug auf die geschichtsphilosophischen Überlegungen der Mensch sowohl als naturhaftes wie auch als moralisches Wesen konzipiert wird. Damit stellt sich die Frage, welche Übergänge sich zwischen den Rassentheorien und den geschichtsphilosophischen Schriften verzeichnen lassen. Um diese beiden Aspekte ausführlicher zu behandeln, gehe ich in einem ersten Schritt der Frage nach, wie Kant die Bereiche Natur und Freiheit fasst. Mit Rückgriff auf die Kritik der reinen Vernunft wird schnell deutlich, dass es sich dabei 93 94 Kritik - Selbstaffirmation - Othering um zwei Perspektiven handelt, deren Verhältnis zueinander sich komplex gestaltet. Das teleologische Denken erlaubt eine Verkoppelung von Natur und Freiheit, wie ich anhand der Geschichtsphilosophie weiter verdeutlichen werde. In einem zweiten Schritt rücken zwei zentrale geschichtsphilosophische Texte in den Fokus, anhand derer ich diskutiere, inwiefern sich hier Momente des Otherings und der Selbstaffirmation, aber auch anti-imperialistische Momente ausmachen lassen und miteinander verbunden sind. 4.2 Der sichere Boden: Natur, Freiheit und Kultur In ihren Studien zeigt Pauline Kleingeld auf, inwiefern Kants Geschichtsphilosophie nicht nur in dessen praktischer Philosophie, sondern auch in dessen theoretischer Philosophie verankert ist. In der Geschichtsphilosophie wird ein idealer Zustand skizziert, in dem es keinen Krieg mehr geben kann und sich die Fähigkeiten der Menschen voll entfalten können. Die Werte, die hier den teleologischen Endpunkt abgeben, entwickelt und diskutiert Kant, so Kleingeld, in seiner praktischen Philosophie. Darüber hinaus verfolge die Geschichtsphilosophie den Anspruch, einen systematischen Zusammenhang im Weltgeschehen erkennen zu können. Diese Erkenntnis, die über die kausalen Zusammenhänge hinaus eine Gesamtheit der Geschichte erfassen will, werde durch eine regulative Idee angeleitet, welche gestaltgebend für die Darstellung der globalen Geschichte sei. Das sei die Grundlage, auf der Kant ein systematisches Bild einer geschichtlichen Entwicklung skizzieren könne (vgl. Kleingeld 1995: 16ff. und 110ff., Kleingeld 2008). Die kantische Geschichtsphilosophie lokalisiert sich demnach im Überschneidungsbereich der Fragen, was man wissen kann, was man tun soll und was man hoffen darf. Zu diesen drei Fragen gesellt sich eine vierte dazu: Was ist der Mensch? Diese anthropologische Frage umfasst die ersten drei: »Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen.« (Logik A: 25) Die regulative Idee eines beständigen Fortschritts der Geschichte ist der spezifische Beitrag Kants zur damaligen Diskussion der Geschichtsphilosphie (vgl. Höffe 2011, Kleingeld 1995). Im Kapitel 3 wurde deutlich, dass Kant bereits in seiner Diskussion der ›Menschenrasse‹ ein teleologisches Denken präsentiert. Dieser Fortschritt bezieht sich dort vor allem auf Menschen als Teil der Natur. In der Geschichtsphilosophie geht es demgegenüber um eine Perspektive, welche in dieser Entwicklung auch das freiheitliche Handeln der Menschen erfassen will. Die Menschen sind einerseits als Teil der Natur und somit als Elemente von kausalen Zusammenhängen zu betrachten, aber andererseits auch als moralische Agent_innen fähig, sich selbst Zwecke zu setzen. Diesen Aspekt vertiefe ich im Folgenden mit Rückgriff auf die Kritik der reinen Vernunft. Wie ich zeigen werde, ist dieser Bereich 4 Die ›Keime‹ der Aufklärung: Zu Kants Geschichtsphilosophie mit der Frage der Kritik verflochten, spezifischer gesagt, mit der Frage nach dem Umfang des möglichen Wissens. Die Begrenzung des möglichen Wissens vollzieht Kant durch den begrifflichen Gegensatz von Noumenon und Phaenomenon. Bei diesem Rückgriff wird ein zentrisches Denken deutlich, mit dem koloniale Bilder verhandelt werden. Kant klärt in der Kritik der reinen Vernunft das Verhältnis von Phaenomena und Noumena und damit die Frage der Erkenntnis von Menschen als vernünftige und aus Freiheit handelnde Wesen. Zugleich klärt Kant im letzten Teil des Kapitels zur Analytik der Grundsätze ein paar grundsätzliche Fragen seiner Philosophie. Er beginnt das Kapitel Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena folgendermassen: »Wir haben jetzt das Land des reinen Verstandes nicht allein durchreiset, und jeden Teil davon sorgfältig in Augenschein genommen, sondern es auch durchmessen, und jedem Dinge auf demselben seine Stelle bestimmt. Dieses Land aber ist eine Insel, und durch die Natur selbst in unveränderliche Grenzen eingeschlossen. Es ist das Land der Wahrheit (ein reizender Name), umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank, und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt, und indem es den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht, ihn in Abenteuer verflechtet, von denen er niemals ablassen, und sie doch auch niemals zu Ende bringen kann.« (KdrV B: 294f./A: 235f.) Kant beschreibt die bis dahin gewonnenen Einsichten in seiner ersten Kritik als Reise durch eine Insel. Jedem Ding wird dort seine wahre und fixierte Stelle zugeteilt. Kant trägt seine Philosophie in Worten vor, die mit dem Vokabular der kolonialen Expansion übereinstimmen. Umgeben ist die Insel vom Ozean, vom Schein, der befahren wird von umherirrenden Seefahrer_n, die ihre Abenteuer nie zu Ende bringen können. Die Insel ist der Boden der Sicherheit, auf dem Kant eine sesshafte Gesellschaft imaginiert (»wir uns anbauen könnten«, ebd. B: 295/A: 236) und dessen rechtmässiger Besitz von ihm im Folgenden nochmals erörtert wird. Damit greift Kant auf, was er in der Vorrede zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft bereits angedeutet hat. Während er in der Einleitung die Skeptiker_ als Nomad_en bezeichnet, die allen beständigen Anbau des Bodens verabscheuen und die bürgerliche Vereinigung stören (vgl. ebd. A: IX), scheint nun der Boden gegen diese nomadischen Skeptiker_ gesichert zu sein.5 Der Boden ist durch die definierte Quelle, den geklärten Umfang und die gezogene Grenze klar umrissen. Die Charakterisierung als Insel eröffnet zudem einen Gegensatz von innen und aussen. Der inneren Sicherheit des zugeordneten Platzes steht der nicht 5 Dieser Boden ist auch das neue Terrain zwischen Idealismus und Empirismus. 95 96 Kritik - Selbstaffirmation - Othering nur unsichere, sondern auch gefährliche Ozean gegenüber, dessen Weiten nicht zu überblicken sind. Das Aussen ist ein unsicherer Ort, ständig in Bewegung, voller Täuschungen und Lügen, jedoch zugleich anziehend und verlockend. Das Leben auf dem Ozean ist gekennzeichnet von einem unaufhörlichen Drama. Damit gibt sich die erkenntnistheoretische Standortbestimmung als ein zentrisches Denken zu erkennen, das von einem sicheren, gekannten Mittelpunkt ausgeht, den man mit Recht besitzt. Dieser Zentrismus ist durchaus ambivalent: Die Positionierung kann als Kritik am kolonialen epistemologischen Unternehmen gelesen werden – Entdeckungsfahrten führen zu nichts – und als Plädoyer, sich auf das Eigene zu besinnen – durch die klare Entgegensetzung von innen und aussen, aber auch als Bedürfnis der Selbstaffirmation6 , das Eigene genau kennen und festhalten zu wollen.7 Im Anschluss an diese Passage klärt Kant, inwiefern dieses Bild gerade für seine Philosophie passend ist. Denn während die Verstandesregeln alleine die Quelle aller Wahrheit sind (vgl. ebd. B: 296/A: 237), bilden sie jedoch nur das Schema zur möglichen Erfahrung. Zur wirklichen Erfahrung ist auch Empirie vonnöten. Demgegenüber kann der bloss empirisch arbeitende Verstand die Anschauung liefern, nicht aber die Grenzen seines Gebrauchs bestimmen und definieren, was ausserhalb seiner Sphäre liegen mag. Lässt sich dies nicht klar bestimmen, so können hier Ansprüche und der Besitz nicht geklärt und gesichert werden, stattdessen findet die ständige Verirrung »in Wahn und Blendwerke« (ebd. B: 297/A: 238) statt. Ein zentraler Begriff, anhand dessen diese Grenzsetzung diskutiert wird, ist der Begriff des Noumenon. Im Folgenden wird jedoch deutlich werden, dass und wie sich die Erkenntnis von Dingen von der Erkenntnis von Vernunftwesen unterscheidet. 6 7 Inwiefern das Selbstbewusstsein konstitutiv auf ein ›Aussen‹ angewiesen ist, zeigt auch folgende Passage aus der Widerlegung des Idealismus in der Kritik der reinen Vernunft. Der Idealismus nimmt nach Kant die innere Erfahrung als die einzig unmittelbare Erfahrung an. Dem hält er entgegen: »Ich bin mir meines Daseins als in der Zeit bestimmt bewußt. Alle Zeitbestimmung setzt etwas Beharrliches in der Wahrnehmung voraus. Dieses Beharrliche aber kann nicht etwas in mir sein; weil eben mein Dasein in der Zeit durch dieses Beharrliche allererst bestimmt werden kann. Also ist die Wahrnehmung dieses Beharrlichen nur durch ein Ding außer mir und nicht durch die bloße Vorstellung eines Dinges außer mir möglich. Folglich ist die Bestimmung meines Daseins in der Zeit nur durch die Existenz wirklicher Dinge, die ich außer mir wahrnehme, möglich.« (Ebd. B: 275f.) In der Vorrede verdeutlicht Kant: »[S]o ist die Realität des äußeren Sinnes mit der des innern, zur Möglichkeit einer Erfahrung überhaupt, notwendig verbunden: d.i. ich bin mir eben so sicher bewußt, daß es Dinge außer mir gebe, die sich auf meinen Sinn beziehen, als ich mir bewußt bin, daß ich selbst in der Zeit bestimmt existiere.« (Ebd. B: XLf.) Goetschel (1998: 329) zieht einen pointierteren Schluss aus der Passage: Er sieht es als logische Konsequenz an, dass wir immer schon kolonisieren, wenn wir den Grund und die Grenzen der Vernunft bestimmen. 4 Die ›Keime‹ der Aufklärung: Zu Kants Geschichtsphilosophie Ein wichtiges Resultat der Analytik der Grundsätze sieht Kant in der Erkenntnis, dass die reinen Verstandesbegriffe immer nur für die mögliche Erfahrung gelten, nicht aber für die Dinge an sich. Was nicht in der Erscheinung ist, könne kein Gegenstand der Erfahrung sein (vgl. ebd. B: 303/A: 244). Während es nun einleuchtend ist, dass diese Einschränkung für alle Gegenstände sinnvoll ist, stellt sich Kant in der Ausgabe B in Bezug auf vernünftige Wesen die folgende Frage: »Gleichwohl liegt es doch schon in unserem Begriffe, wenn wir gewisse Gegenstände, als Erscheinungen, Sinnenwesen (phaenomena) nennen, indem wir die Art, wie wir sie anschauen, von ihrer Beschaffenheit an sich selbst unterscheiden, dass wir entweder eben dieselbe nach dieser letzteren Beschaffenheit, wenn wir sie gleich in derselben nicht anschauen, oder auch andere mögliche Dinge, die gar nicht Objekte unserer Sinne sind, als Gegenstände bloss durch den Verstand gedacht, jenen gleichsam gegenüber stellen, und sie Verstandeswesen (noumena) nennen. Nun frägt sich: ob unsere reinen Verstandesbegriffe nicht in Ansehung dieser letzteren Bedeutung haben, und eine Erkenntnisart derselben sein könnten?« (Ebd. B: 306) Verstandeswesen, womit Kant auch die Menschen meint, bringen den klaren Gang der Einsichten kurz ins Stocken. Eine Erscheinung, die ebenfalls Vernunft hat, bringt ihn zum nochmaligen Nachdenken, ob hier nicht doch ein Moment vorliegt, in dem die Erkenntnis tiefer greifen und das Ding an sich erreichen kann. Dass diese Frage aufkommt, mag der Annahme geschuldet sein, es gebe nur eine Vernunft, die von allen vernünftigen Wesen geteilt werde. Dies lässt die Vermutung zu, man könne sich von einem vernünftigen Wesen Begriffe machen und damit Wissen über vernünftige Wesen erlangen. Dies würde eine andere Art von Erkenntnis ermöglichen, wie der Schluss des Zitats nur kurz andeutet. Kant löst dieses Problem folgendermassen: Zunächst argumentiert er, dass damit ein unbestimmter Begriff von einem Verstandeswesen – ausserhalb unserer Sinnlichkeit – mit einem bestimmten Begriff eines Wesens – befindlich in Zeit und Raum – fälschlicherweise vermischt werde. Eine Erkenntnis, die nur über Begriffe erlangt werden kann, ist demnach immer schon auf einer zu allgemeinen Ebene, als dass sie mit einer konkreten Erscheinung in Verbindung gebracht werden könnte. Deutlicher wird die Zurückweisung in der folgenden Passage, in der Kant eine positive und eine negative Bestimmung des Noumenon diskutiert. Ein positives Verständnis des Noumenon würde die Möglichkeit einer intellektuellen Anschauung implizieren, die den sinnlichen Bedingungen von Raum und Zeit nicht unterworfen ist. Dies passt jedoch nicht zu den bisher entwickelten philosophischen Ansichten, in denen Kant die Möglichkeit, das Wesen von Dingen erkennen zu können, zurückgewiesen hat. Demgegenüber gesteht er dem Noumenon die Rolle eines Grenzbegriffs zu. Damit bestätigt er, dass ein Noumenon – ein Verstandeswesen – nicht direkt in einer sinnlichen Anschauung erscheinen kann. Keine Er- 97 98 Kritik - Selbstaffirmation - Othering kenntnis kann den Anspruch erheben, sich auf ein Verstandeswesen erstrecken zu können. Das Noumenon kann nur negativ bestimmt werden und hat lediglich die Funktion, die »Anmaßung der Sinnlichkeit« (ebd. B: 311/A: 255) einzuschränken. Um auf das Bild der Insel zurückzukommen, stellt der Begriff des Noumenon die Grenze zwischen Insel und Ozean sicher. Die Insel ist jener Bereich, in dem sich Verstand und Sinnlichkeit verbinden und Gegenstände bestimmen können (vgl. ebd. B: 314/A: 258). Der Ozean ist »Anschauung ohne Begriffe« oder dann »Begriffe ohne Anschauung, in beiden Fällen aber Vorstellungen, die wir auf keinen bestimmten Gegenstand beziehen können.« (Ebd.) Die Kenntnis über den Menschen – auch als Verstandeswesen – ist auf der anderen Seite von der Kenntnis aller anderen Dinge nicht unterschieden.8 Doch das ist nicht die letzte Behandlung dieser Frage. Kant kommt in der transzendentalen Dialektik nochmals auf dieses Problem zurück. Denn es gibt doch einen Unterschied, der die Verstandeswesen von anderen Dingen unterscheidet: Sie können aus Freiheit handeln und sind damit den Notwendigkeiten der Naturgesetze nicht vollständig unterworfen. »Wenn demnach dasjenige, was in der Sinnenwelt als Erscheinung angesehen werden muss, an sich selbst auch ein Vermögen hat, welches kein Gegenstand der sinnlichen Anschauung ist, wodurch es aber doch die Ursache von Erscheinungen sein kann: so kann man die Kausalität dieses Wesens auf zwei Seiten betrachten, als intelligibel nach ihrer Handlung, als eines Dinges an sich selbst, und als sensibel, nach den Wirkungen derselben, als einer Erscheinung der Sinnenwelt.« (Ebd. B: 566/A: 538) In der ersten Passage ist deutlich geworden, dass Kant die Vorstellung, ein Ding an sich erkennen zu können, auch in Bezug auf Verstandeswesen zurückweist. In dieser Passage nun macht er aber deutlich, dass es einen anderen und etwas bescheideneren Weg gibt, um die Erkenntnis über Menschen von der Erkenntnis über Dinge zu unterscheiden: Über die Unterscheidung von zwei Perspektiven, der intelligiblen und der sinnlichen: »Wir würden uns demnach von dem Vermögen eines solchen Subjekts einen empirischen, imgleichen auch einen intellektuellen Begriff seiner Kausalität machen, welche bei einer und derselben Wirkung zusammen stattfinden.« (Ebd. B: 566/A: 538) Diese beiden Seiten können laut Kant ohne Widerspruch nebeneinander – oder vielleicht sogar überlappend – bestehen. Die 8 Des Weiteren charakterisiert sich die Insel über all jene Aspekte, die Kant in der Analytik diskutiert: Den durchgängigen Zusammenhang der Erscheinungen (vgl. ebd. B: 313f./A: 258) – es kann keine Lücke, keinen Bruch oder Sprung geben zwischen zwei Erscheinungen, auch kein Vakuum in der Erfahrung (ebd. B: 281f./A: 228f.). Wie sich diese Insel ansonsten gestaltet, das klärt Kant durch Analogien: Beharrlichkeit der Substanz, Zeitfolge nach dem Gesetz der Kausalität, Zugleichsein nach dem Gesetz der Wechselwirkung oder Gemeinschaft. 4 Die ›Keime‹ der Aufklärung: Zu Kants Geschichtsphilosophie intelligible Seite ist die Ursache von Handlungen, welche als solche nicht den empirischen Bedingungen von Zeit und Raum unterworfen ist. Die realisierte Handlung von freien Subjekten jedoch unterliegt notwendigerweise den Bedingungen der Empirie. Die Wirkung der Handlung aus Freiheit ist nur in der Empirie anzutreffen. Kant präzisiert weiter: »Dieser intelligible Charakter könnte zwar niemals unmittelbar gekannt werden, aber er würde doch dem empirischen Charakter gemäß gedacht werden müssen [...].« (Ebd. B: 568/A: 540) Diese Aussage verdeutlicht, dass die Unterscheidung zwischen Sinnen- und Verstandeswesen nicht einfach gegeben ist und auch nicht unmittelbar erkannt werden kann. Stattdessen ist es ein Akt der Zuschreibung, der die Möglichkeit eröffnet, einem Objekt der Erkenntnis auch einen intelligiblen Charakter zuzugestehen – oder auch nicht. Diese Zuschreibung bringt mit sich, dass dieses Subjekt zwar als empirisches Subjekt den Naturgesetzen unterworfen wird, man aber zugleich »ganz richtig sagen kann, dass es seine Wirkungen in der Sinnenwelt von selbst anfange« (ebd. B: 569/A: 541). Interessant ist an diesem Zitat, dass Kant im zweiten Teil des Satzes impliziert, dass es empirische Charaktere gebe, denen diese Zuschreibung naheliege – ohne dass er jedoch genauer erläutert, worin dieser empirische Charakter besteht, der eine solche Zuschreibung plausibler macht und welche Charaktere eine solche Verbindung eher weniger vermuten lassen. Über den Begriff ›Charakter‹ lässt sich diese Aussage zudem assoziieren mit der früheren Schilderung des weiblichen und männlichen Charakters in den Beobachtungen (1764) und der später publizierten Anthropologie (1798), in der er die Charaktere des Geschlechts, des Volkes, der ›Rasse‹ und der Gattung jeweils in einem Unterkapitel behandelt. Die weitergehende Frage lautet, wie genau die beiden Perspektiven zusammengedacht werden können. Kant betont, dass beide Perspektiven gleichzeitig eingenommen werden und zugleich gedacht werden müssen. Sie stehen also nicht in einem disjunktiven Entweder-oder-Verhältnis (vgl. ebd. B: 564/A: 536). Mit dieser Bestimmung umgeht Kant die Gefahr der Verwechslung, dass man die Phaenomena für Noumena hält. Wenn ein Noumenon sich nicht direkt erkennen lässt und dennoch eine intelligible Perspektive vernünftigerweise angenommen werden kann, dann nimmt diese primär die Rolle einer Beschränkung der sensiblen Perspektive ein. Über den Begriff wird der Bereich der Sinnlichkeit einschränkbar und zugleich schränkt sich der Verstand, der diese Begrenzung vornimmt, selbst ein, insofern er den Bereich jenseits der Sinnlichkeit nicht in Kategorien erkennen kann, sondern »nur unter dem Namen eines unbekannten Etwas« (ebd. A: 256) denkt. Und mit diesem Zitat wird die Verbindung des Noumenon mit der Insel-Metapher zu Beginn des Unterkapitels wieder aufgerufen. Weiter präzisiert Kant: »Sie, die Vernunft, ist allen Handlungen des Menschen in allen Zeitumständen gegenwärtig und einerlei, selbst aber ist sie nicht in der Zeit, und gerät etwa in einen neuen 99 100 Kritik - Selbstaffirmation - Othering Zustand, darin sie vorher nicht war; sie ist bestimmend, aber nicht bestimmbar in Ansehung desselben.« (Ebd. B: 584/A: 556) Die Vernunft ist vollständig da, in der Handlung anwesend, und zugleich nicht da, kann nicht in der Zeit erscheinen und lässt sich nicht festhalten. Dennoch hat sie die Macht, determinierend zu sein, obwohl sich die Möglichkeit, dass sie tatsächlich ist, letztlich nicht beweisen lässt (vgl. ebd. B: 586/A: 558). Die Reflexionen in der Kritik der reinen Vernunft liefern damit insgesamt eine schwache Basis, wenn es um die Klärung der Frage geht, wem zugestanden werden muss oder kann, vernünftig und aus Freiheit handeln und damit volles Subjekt sein zu können. (Und sie lassen nur Vermutungen zu, wer überhaupt in der Lage ist, dies zu bestimmen.) Sie lassen die Türe offen, um bestimmten Menschen diesen Status zu verleihen und ihn anderen zu verwehren. Noch weitergehend geben diese Überlegungen keine konkrete Antwort, welche Aspekte des Menschseins der Natur und welche vernünftigen Handlungen zugeordnet werden sollen, obwohl beide Kategorien eine zentrale Rolle spielen. Was am Menschen Ausdruck ›natürlicher‹ Instinkte ist und was dem moralischen Handeln geschuldet ist, kann nicht direkt über die Vernunftreflexion geklärt werden – darüber geben andere Schriften Auskunft. Mit Fokus auf die beiden Texte Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) und Mutmasslicher Anfang der Menschengeschichte (1786) wird im Folgenden den Fragen nachgegangen, inwiefern Kant seine kritischen Reflexionen konkret umsetzt und die Verbindung beider Perspektiven in historischer Hinsicht realisiert. 4.3 Natur & Vernunft: Menschheitsgeschichte und Kulturkritik Der Rückgriff auf die Kritik der reinen Vernunft hat die These nahegelegt, dass in den geschichtsphilosophischen Schriften die Menschen zugleich als Naturwesen wie auch als Vernunftwesen gefasst werden. Im Folgenden möchte ich zunächst herausarbeiten, inwiefern der Text Idee (1784), der zusammen mit dem Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784) erste geschichtsphilosophische Thesen erörtert, in eine Kontinuität mit den Rassenschriften gestellt werden können. Oftmals wird in der Forschung eine strikte Trennung der Reflexionen über die ›Menschenrassen‹ von anderen Aspekten der kantischen Philosophie postuliert: Die Theorie der ›Menschenrassen‹ betreffe die Menschen als reine Naturwesen und habe darüber hinaus keine weitere Bedeutung (vgl. beispielsweise Dörflinger 2001). Wenn nun aber in der Geschichtsphilosophie das Naturwesen Mensch nicht einfach aussen vor gelassen wird, dann stellt sich die Frage, in welcher Weise die Natur der Menschen die Geschichte der Gattung prägt. Dabei lässt sich schnell feststellen, dass der Begriff ›Menschenrasse‹ im Aufsatz Idee keine Rolle spielt. Doch darüber hinaus soll überprüft werden, ob massgebende Konzepte aus den Theorien zu den ›Menschenrassen‹ mit Konzepten der Geschichtsphilosophie überein- 4 Die ›Keime‹ der Aufklärung: Zu Kants Geschichtsphilosophie stimmen, die das Denken und die Erkenntnis des Historischen begründen. Damit schlage ich eine Verschiebung des Blicks vor, die die scharfe Trennung von Geschichtsphilosophie und Schriften, die den Menschen als von Natur aus gebildet fassen, und damit die scharfe Trennung zwischen dem theoretisch-naturwissenschaftlichen und dem geschichtsphilosophischen Blick aufweichen lässt. Stattdessen interessiert mich die Frage nach Brüchen und Kontinuitäten. Ein zweiter Fokus meiner Lektüre liegt auf dem Prozess, der das Fortschreiten der Geschichte erklärt. Dazu findet sich die Idee eines Antagonismus. Kant schildert eine Dynamik, die den Fortschritt der Menschheit hin zur Aufklärung erklären soll, die sich sowohl zwischen Individuum und Gesellschaft wie auch zwischen unterschiedlichen Gesellschaften entfaltet. Diese Dynamisierung des Fortschrittsgedankens impliziert abgegrenzte menschliche Gemeinschaften, setzt unterschiedliche ›Entwicklungszustände‹ von Völkern voraus und artikuliert ein bestimmtes Sexualverhalten. Damit stellt sich hier die Frage, ob Fortschritt letztlich nur vor dem Hintergrund einer historisch stratifizierten Gegenwart gedacht werden kann. Ein letzter Einsatzpunkt liegt auf Kants expliziter Kritik am europäischen Imperialismus, die sich jedoch im Verbund mit den vorhergehenden Analysen als höchst ambivalent herausstellt. Diese Ambivalenz zeigt sich anhand unterschiedlicher Perspektiven, von denen aus diese Passage gelesen werden kann, besonders deutlich. Erkennbar wird, dass die interne Kritik am imperialen Europa und die Aufklärung als Zeitalter der Kritik selbst verwoben sind mit einem beständigen eurozentrischen Denken. 4.4 Rassendenken und Geschichtsdenken: Übergänge Der Text Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht erprobt eine Art Verbindung der beiden aus der Kritik der reinen Vernunft hergeleiteten Perspektiven. Gleich zu Beginn des Textes werden Handlungen als menschliche Taten charakterisiert, die grundsätzlich aus Freiheit vollzogen werden. Doch Kant erprobt im weiteren Verlauf auch die These, dass gerade diese Handlungen als den Naturgesetzen unterworfene zu untersuchen sind und sich erst durch diese Perspektive bestimmte Regelmässigkeiten erkennen lassen. Dabei nennt Kant bestimmte Vorkommnisse, bei denen er auf eine Regelmässigkeit gestossen ist: Ehen, Geburten und Todesfälle. Er stellt die Annahme, dass das individuelle Handeln aus Freiheit erfolgt, nicht infrage, lokalisiert jedoch die naturgesetzliche Perspektive nicht auf einer individuellen Ebene, sondern auf der Ebene der Menschheit als Gattung. Damit geht es ihm um einen grossen historischen Zusammenhang, in dem Geschichte mit Gattungsgeschichte gleichgestellt wird. Es liesse sich also vermuten, dass hier eine Unterscheidung vorliegt, welche die Gleichzeitigkeit beider Betrachtungsweisen aufzulösen vermag: Auf der individuellen Ebene ist die moralische Perspektive 101 102 Kritik - Selbstaffirmation - Othering gerechtfertigt, wenn es jedoch um die Gattung Mensch geht, ist eine naturgesetzliche Perspektive angesagt. Im Verlauf des Textes kommt allerdings eine andere Argumentation zum Vorschein. Denn in den folgenden Abschnitten ist eine diesen ersten Aussagen entgegenlaufende Bewegung zu beobachten: Zunächst wird den naturgesetzlich erforschbaren historischen Zusammenhängen nachgegangen, nach und nach findet dann ein Übergang hin zu dem statt, wie Menschen zusammenleben sollen – und damit zu einer moralischeren und politischeren Perspektive. Die Entwicklung von Vernunft und Kultur geschieht hier in einem gesellschaftlichen Rahmen. Insgesamt vollzieht sich also ein fliessender Übergang von der naturgeschichtlichen Perspektive hin zu Fragen der aktiven Gestaltung des idealen Zusammenlebens. Insofern hier die Natur die Kultur befördert (vgl. Kleingeld 1995: 174), findet ein Übergang zwischen beiden Perspektiven statt. Des Weiteren geht es Kant in diesem Text nicht nur um Naturgesetze, sondern zugleich um eine Absicht der Natur – womit eines der zentralen Konzepte der Rassentheorien, das zuerst im Aufsatz Verschiedene Rassen (1777) auftaucht, nun in der Geschichtsschreibung der Menschengattung zum Einsatz kommt. Zentral für diese teleologische Sicht ist die Annahme von ›Keimen‹ oder ›Anlagen‹, die das Potenzial für eine Auswicklung in sich tragen. Diese Annahme ist wichtig für die Rassentheorien, da die Diversifizierung der Menschen in ›Rassen‹ nach Kant nicht alleine das Resultat von äusseren Ursachen sein kann. Werden ›Keime‹ angenommen, kann ein Pozential für die Anpassung an verschiedene Klimata vorausgesetzt, zugleich aber die Entwicklung beschränkt werden (vgl. Kapitel 3). Auch die Entwicklung der allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht ist eine Perspektive, die auf der Vorstellung von ›Keimen‹ aufbaut. Kant postuliert explizit »Naturanlagen« (Idee A: 388), die sich erst über Generationen hin entwickeln können.9 Der erste Satz macht dies deutlich: »Alle Naturanlagen eines Geschöpfes sind bestimmt, sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln.« (Ebd.) Trotz der Übernahme der Annahme von ›Naturanlagen‹ findet sich hier eine markante Verschiebung.10 Denn in Bezug auf den Begriff ›Rasse‹ soll die Auswicklung von ›Anlagen‹ eine Erklärung von Diversität liefern (vgl. Bestimmung A: 403): Die ›Anlagen‹ sind Potenziale, die eine je nach klimatischer Umgebung unterschiedliche Auswicklung realisieren können. 9 10 Kleingeld (1995) geht diesem Begriff nach, stellt jedoch keinen Bezug zu den Rassenschriften her, sondern lediglich zu der viel später erschienenen Kritik der Urteilskraft (edb.: 125ff.). Sie stellt zwar fest, dass Kant den Entwicklungsbegriff aus der Biologie entlehnt, schliesst aber: »Wie sehr Kants Verwendung des Entwicklungs- und Anlagenbegriffes also noch dem biologischen Kontext verhaftet ist: die Beziehung zur Biologie bleibt auf diese Begriffe beschränkt.« (Ebd.: 172) Sutter (1989) spricht in diesem Zusammenhang ebenfalls von einer Verschiebung und zieht zudem eine Aufzeichnung aus dem Nachlass heran, welche den Übergang von ›Rassen‹ zur Charakterisierung über Kultur und Zivilisierung herstellt (vgl. Sutter 1989: 248). 4 Die ›Keime‹ der Aufklärung: Zu Kants Geschichtsphilosophie In der Schrift Verschiedene Rassen mündet der Prozess gar in eine Einbahnstrasse: Die Auswicklung der ›Anlage‹ bedeutet einerseits die angemessene Anpassung an das Klima, andererseits aber kann sich diese ›Rasse‹ keinem anderen Klima mehr anpassen. Dadurch geht die Auswicklung mit einer Reduzierung der Potenziale einher. Auf der Ebene der Menschengattung ist nun jedoch nur eine Art der Auswicklung denkbar. Damit ändert sich die Konnotation dieses Prozesses. Die Auswicklung umfasst hier jene »Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner [der Menschen, Anm. KH] Vernunft abgezielt sind« (Idee A: 388). Diese Entwicklung wird als positiv fortschreitender Prozess gefasst, in dem sich die Potenziale erst nach und nach realisieren. Im späteren Aufsatz Über den Gebrauch (1788)11 findet sich eine Begründung, warum sich die Auswicklung im Rahmen der Geschichte anders gestaltet als bei den Überlegungen zu den ›Menschenrassen‹. Kant argumentiert hier, »daß vernunftlose Tiere, deren Existenz bloß als Mittel einen Wert haben, darum zu verschiedenem Gebrauche verschiedentlich schon in der Anlage [...] ausgerüstet sein mußten; dagegen die größere Einhelligkeit des Zwecks in der Menschengattung so große Verschiedenheiten anartender Naturformen nicht erheischte; die notwendig anartende also nur auf die Erhaltung der Spezies in einigen wenigen von einander vorzüglich unterschiedenen Klimaten angelegt sein durften« (Über den Gebrauch A: 52). Während also der Rassenbegriff die Diversität der Menschen erklären und die Erscheinungen fassen soll, die sich zwischen den Polen ›Anlage‹ und Klima herausbilden, wird der Begriff Gattung mit der einen Vernunft in Zusammenhang gebracht. Damit, so liesse sich argumentieren, ist das Rassendenken vom Tisch und hat seine Relevanz für die Menschheitsgeschichte verloren. Kant geht explizit nicht mehr von durch Rassecharakteristika differenzierte Menschen aus, sondern hat die gesamte Gattung uneingeschränkt im Blick. Doch genauso wie sich die Ausformulierung von ›Naturanlagen‹ im Bereich der Gattungsgeschichte in der Wiederholung verschiebt, lässt sich auch eine verschobene Wiederholung der Thematisierung der Diversität der Menschen beobachten. Denn, wie ich weiter unten zeigen werde, die Partizipation am historischen Prozess der Aufklärung ist von Ungleichzeitigkeiten und unterschiedlichen Rollen geprägt. Zugleich lässt sich mit der Übernahme der Vorstellung von ›Naturanlagen‹ auch verdeutlichen, dass diese Annahme nicht impliziert, dass Kant sie als gegeben ansieht und damit anthropologische Vorannahmen das Geschichtsdenken strukturie11 Pauen (2001) thematisiert zwar die Denkfigur des Organismus (ebd.: 36), die eine Vermittlungsfunktion zwischen Geschichte, die ihren Ursprung in der Natur hat, und Geschichte als Realisierung des Sittengesetzes, einnimmt. Allerdings bleibt auch in diesem Aufsatz der Bezug zu den Rassentheorien unerwähnt. 103 104 Kritik - Selbstaffirmation - Othering ren würden. Die genauere Betrachtung der Rassenschriften hat deutlich gemacht, dass Kant in diesem Punkt eine seiner Ansicht nach rationale Annahme trifft, um möglichst viele Erscheinungen mit möglichst wenig angenommenen Ursachen erklären zu können. Insofern also das Konzept in den geschichtsphilosophischen Schriften übernommen wird, ist den ›Anlagen‹ ein ähnlicher Status zuzumessen. 4.5 Die doppelte Aufklärung Diese Entwicklung der Potenziale kann sich bei einem einzelnen Individuum nicht vollständig vollziehen. Deshalb hofft Kant, den vollständigen Prozess auf der Ebene der Gattung erkennen zu können: »Die Geschichte, welche sich mit der Erzählung dieser Erscheinungen beschäftigt, so tief auch deren Ursachen verborgen sein mögen, läßt dennoch von sich hoffen: daß, wenn sie das Spiel der Freiheit des menschlichen Willens im großen betrachtet, sie einen regelmäßigen Gang derselben entdecken könne; und daß auf die Art, was an einzelnen Subjekten verwickelt und regellos in die Augen fällt, an der ganzen Gattung doch als eine stetig fortgehende obgleich langsame Entwicklung der ursprünglichen Anlagen derselben werde erkannt werden können.« (Idee A: 385f.) Und weiter: »[S]o bedarf sie [die Natur, Anm. KH] einer vielleicht unabsehlichen Reihe von Zeugungen, deren eine der andern ihre Aufklärung überliefert, um endlich ihre Keime in unserer Gattung zu derjenigen Stufe der Entwickelung zu treiben, welche ihrer Absicht vollständig angemessen ist.« (Ebd. A: 389) Während bereits in den Schriften zu den ›Menschenrassen‹ die Zeugung das zentrale Element war, um die Existenz von ›Menschenrassen‹ über Merkmale wie die Hautfarbe zu legitimieren, wird in dieser geschichtsphilosophischen Schrift über die Zeugung die Aufklärung weitergegeben – das heisst, die Ausübung der Vernunft, deren Ausbildung »Versuche, Übung und Unterricht« bedarf, »um von einer Stufe der Einsicht zur anderen allmählich fortzuschreiten« (ebd. A: 389). Dieser Begriff der Aufklärung trägt der Handlung aus Vernunft und damit der potenziellen Freiheit der Menschen Rechnung. Der Bereich dessen, was später im Text als Kultur benannt wird (vgl. ebd. A: 393), tritt dadurch hervor und bildet sich folglich gerade in der Durchmischung von naturwissenschaftlichen Konzepten und der Annahme des vernunftgeleiteten Handelns der Menschen.12 12 Kleingeld (1995) weist darauf hin, dass der Begriff ›Kultur‹ einen Bedeutungswandel durchgemacht habe und die Betonung auf der Pflege und der Bearbeitung von Geistesvermögen der Menschen liege. Sie betont zudem, dass Kultur hier nicht als Resultat von Prozessen zu lesen ist, sondern vielmehr als dieser Prozess selbst (vgl. ebd.: 44f.). 4 Die ›Keime‹ der Aufklärung: Zu Kants Geschichtsphilosophie Interessanterweise wird in obigem Zitat die Aufklärung als jenes Moment der Gattungsgeschichte genannt, an dem sich der Fortschritt im historischen Wandel manifestiert. In diesem Begriff der Aufklärung kulminiert die Überlappung von naturgesetzlicher und moralischer Perspektive. Im Aufsatz Beantwortung der Frage, den Kant im selben Jahr verfasst hat wie den Aufsatz Idee, versteht Kant Aufklärung als Kritik. Er ruft in diesem berühmten Aufsatz dazu auf, den Mut und den Willen zu haben, sich des eigenen Verstandes zu bedienen: »Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben [...]« (Beantwortung der Frage A: 481f.). Aufklärung erhält die doppelte Rolle, einerseits den historischen Fortschrittsprozess zu bezeichnen und andererseits als moralischer Aufruf zu dienen, selbst zu denken und nicht den Autoritäten, sondern der Einsicht in die eigene Vernunft zu folgen. Wenn also die Geschichtsphilosophie davon geprägt ist, dass sie sich durch die Vermischung von naturwissenschaftlicher und moralischer respektive politischer Perspektive auszeichnet, dann kulminiert diese Durchmischung im Begriff der Aufklärung.13 Aufklärung ist mit der Vernunft in der Natur der Menschen angelegt und setzt sich im Laufe der Zeit durch. Zugleich ist Aufklärung der Inbegriff des selbstverantwortlichen Handelns, geleitet von vernünftigen Prinzipien. Dass beide Aspekte in diesem Begriff enthalten sein können, lässt eine Kongruenz dieser beiden Perspektiven vermuten – beziehungsweise ein gemeinsames Ziel, auf das beide Bereiche ausgerichtet sind. Die Aufklärung als willentlicher, rationaler Akt widerspricht nicht den Gesetzen der Natur. Sie kann dies auch gar nicht, sondern trägt im Gegenteil zu deren Vervollkommnung bei. Dies bedeutet weitergehend, dass Kant ein freiheitliches Handeln nur dort erkennen kann, wo es in den Rahmen der teleologischen Entwicklung der in der Natur verankerten Kultur passt. Das Verständnis von Natur hängt folglich mit dem Verständnis von Freiheit eng zusammen. Freiheit ist nicht als ein Komplement der Natur gefasst, das heisst nicht als ein Bereich, der sich der Natur entziehen würde – wie dies vielleicht die Abgrenzung der naturtheoretischen von der moralischen Perspektive nahelegen würde. Stattdessen gibt es bei Kant in der teleologischen Perspektive ein reibungsloses Zusammengreifen des vernünftigen Handelns mit den Gesetzmässigkeiten der Natur. Diese Perspektive ist nicht zuletzt darin begründet, dass es eine Vernunft gibt, welche die Regelmässigkeit der Natur wie auch das Handeln aus Freiheit zu erkennen und anzuleiten vermag. Und es ist diese eine 13 Foucault formuliert in seinem Aufsatz Was ist Aufklärung? (2005), dass die Aufklärung »zugleich ein Prozess ist, an dem die Menschen kollektiv beteiligt sind, und ein Akt des Mutes, den jeder persönlich vollbringen muss. Sie sind zugleich Elemente und Handelnde desselben Prozesses« (ebd.: 690). Jedoch stellt Foucault keine Verbindung zwischen dieser Feststellung und der naturwissenschaftlichen Perspektive her. 105 106 Kritik - Selbstaffirmation - Othering Vernunft, die ›Anlagen‹ und ›Keime‹, aber auch einen Zweck erkennen kann, der beide Bereiche miteinander verkoppelt. Diese Verkoppelung wird deutlich im Satz, dass die Freiheit in der Natur gegründet liege und diese dem Menschen die Vernunft gegeben habe (vgl. Idee A: 390).14 Handlungen aus Freiheit werden letztlich dadurch erkennbar, dass sie sich auf jenen Zweck beziehen, den Kant als Zielpunkt der Kultur bestimmt, wie im Folgenden dargelegt wird. 4.6 Die dynamische Entfaltung der Geschichte: Antagonismus Die historische Entwicklung ist eine Entfaltung von ›Anlagen‹, die den Menschen von der Natur mitgegeben wurden. Doch diese Entfaltung verläuft nicht ausschliesslich linear. Die Natur spielt in der Entwicklung nach wie vor eine unterstützende Rolle. Kant postuliert an diesem Punkt einen Antagonismus: »Ich verstehe hier unter dem Antagonism die ungesellige Geselligkeit der Menschen [...]« (ebd. A: 392). Er konkretisiert diesen Antagonismus folgendermassen: »Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß es besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht.« (Ebd. A: 394) Kant buchstabiert diese beiden Momente weiter aus: So gebe es einerseits das Bedürfnis der Menschen, in Gesellschaft zu sein, weil sich der einzelne Mensch durch die Gesellschaft mit anderen Menschen mehr als Mensch fühle. Zugleich habe er aber auch den Hang, sich aus der Gesellschaft herauszunehmen und ungesellig zu sein, da er in diesem Raum ungehindert alles nach seinem Sinne richten könne. Durch diese beiden konträren Elemente entsteht der Antrieb, »seinen Hang zur Faulheit zu überwinden, und, getrieben durch Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen, die er nicht wohl leiden, von denen er aber auch nicht lassen kann. Da geschehen nun die ersten wahren Schritte aus der Rohigkeit zur Kultur [...]« (ebd. A: 392f.). Die Rohigkeit der Menschen, die stark einem kolonialen Vokabular verbunden ist, assoziiert Kant zudem mit dem christlich inspirierten »arkadischen Schäferleben« (ebd. A: 393), in dem »alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben« (ebd.).15 Demgegenüber zeichnet sich die Kultur durch die Entwicklung von Talenten, von Geschmack wie auch vom Anfang einer Denkungsart aus. Der Antagonismus ist also ein Mechanismus, der zwischen den Polen von Vereinzelung und Vergesellschaftung, also Natur und Vernunft vermittelt: Aus dem triebhaften Dasein entsteht über die anziehende Abstossung der menschlichen Gemeinschaft 14 15 Vgl. dazu auch Sutter (1989: 249). Die weiter unten diskutierte Schrift Mutmasslicher Anfang verortet dieses arkadische Schäferleben im paradiesischen Urzustand und verdeutlicht damit die christliche Herkunft dieser Vorstellung. 4 Die ›Keime‹ der Aufklärung: Zu Kants Geschichtsphilosophie die gemeinsame Ausübung der Vernunft und damit der Schritt in die Kultur. Dabei erhalten negative Motivationen wie Ehrsucht, Habsucht und Herrschsucht ihre Legitimation durch das übergeordnete Ziel, letztlich eine vernünftig geordnete Gesellschaft ermöglichen zu können.16 Hier lässt sich eine weitere Verschiebung in Bezug auf die Rassentheorien feststellen. Zur Ausbildung der spezifischen ›Menschenrasse‹ bedarf es klimatischer Einflüsse, welche diese Ausbildung erst in Gang setzen. In geschichtsphilosophischer Hinsicht ist es nun die Gesellschaft der Menschen, die ein Umfeld darstellen und einen Prozess anstossen. Die inneren ›Anlagen‹ entfalten sich über Antriebe, die sich zunächst in den bereits angesprochenen negativen Eigenschaften wie Habgier, Ehrsucht und Herrschsucht äussern, jedoch die Menschen aus ihrem Phlegma herauslösen. Ziel ist die Herrschaft der Vernunft in der Gesellschaft, doch solange diese nicht erreicht ist, ist es die vernünftige Natur, die waltet und dazu anregen soll, sich »des Lebens und des Wohlbefindens würdig zu machen« (ebd. A: 391). Die zeitgenössische Gesellschaft Kants lässt sich demnach in einer Position verorten, die sich zwischen Autonomie und Heteronomie befindet, insofern einerseits die Natur den Menschen zur Entwicklung seiner ›Anlagen‹ bringt und er diese andererseits aus sich selbst hervorbringen kann (vgl. ebd. A: 389f.). Während Kant diesen Antagonismus in der Idee zunächst als Dynamik zwischen Individuum und Gesellschaft zeichnet, erweitert sich der Wirkungsbereich im Verlauf des Textes. So ist dieser Widerstreit der Kräfte nicht nur innergesellschaftlich relevant: »Dieselbe Ungeselligkeit, welche die Menschen hiezu [zur bürgerlichen Verfassung, Anm. KH] nötigte, ist wieder die Ursache, dass ein jedes Gemeinwesen in äußerem Verhältnisse, d. i. als ein Staat in Beziehung auf Staaten, in ungebundener Freiheit steht, und folglich einer von dem andern eben die Übel erwarten muss, die die einzelnen Menschen drückten und sie zwangen, in einen gesetzmäßigen bürgerlichen Zustand zu treten.« (Ebd. A: 398) Es reicht also nicht, wenn sich eine Gemeinschaft eine bürgerliche Verfassung gegeben hat, welche die maximale und geordnete Freiheit etabliert. Das innere staatliche Verhältnis hängt darüber hinaus davon ab, dass eine äussere Beziehung zu anderen Staaten besteht. Denn die Existenz anderer Gemeinschaften, welche nicht in diese Verfassung eingetreten sind und in »ungebundener Freiheit« (ebd. A: 398) stehen, stellen für die bürgerliche Vereinigung eine Bedrohung dar. In Idee artikuliert sich also der antagonistische Prozess aufbauend auf Entitäten wie Staaten, die miteinander in Beziehung treten müssen. Am Anfang steht ein gesetzloser Zustand der ›Wilden‹, den es zu überwinden gilt. Die Konfrontation einzelner Staaten miteinander produziert eine innere Anspannung, welche bereits für die weitere 16 Vgl. kritisch dazu Thies (2011: 46f.). 107 108 Kritik - Selbstaffirmation - Othering Entwicklung sorgt, da damit Kräfte mobilisiert werden und sich das Potenzial zu entfalten beginnt. Der Aufsatz Mutmasslicher Anfang der Menschengeschichte buchstabiert diesen Prozess weiter aus. Auch wenn der Text einem anderen Leitfaden folgt und die Erzählung Moses aus der Bibel aufgreift, kann er dennoch als Ergänzung zum Aufsatz Idee hinzugezogen werden. Die antagonistische Dynamik wird hier als Streit zwischen verschiedenen Lebensarten verdeutlicht, die die Erde unterschiedlich nutzen (Mutmasslicher Anfang A: 18): Der Ackerbauer_ sei auf ein bestimmtes Stück Land angewiesen; ein Eigentum, das dem Interesse des Hirt_en entgegenstehe, da es die Freiheit der Nutzung der Weiden einschränke. Kant vermutet, in diesem Konflikt werde der Ackerbauer_ zuerst zur Gewalt greifen: Der Hirt_e könne, nachdem seine Tiere das bebaute Land beschädigt haben, weiterziehen. Die beiden Lebensarten mussten sich schliesslich geografisch weiter voneinander entfernen (vgl. ebd. A: 18f.). Dennoch bestand für die Ackerbauer_ eine stetige äussere Bedrohung, die dazu führte, dass sich die einzelnen Familien zusammen niederliessen, um sich besser schützen zu können. So entstanden Dörfer und Städte, und innerhalb dieser neuen Gesellschaften konnten nun Güter gegeneinander getauscht werden. Es entsprang in dieser Geselligkeit und bürgerlichen Sicherheit Kunst und Kultur, eine Regierung wurde anstelle der individuellen Schutzbemühungen gesetzt. Und es wurden Kolonist_innen ausgesendet, um sich weiter zu verbreiten, zudem begann in jener Zeit auch die Ungleichheit unter Menschen, »diese reiche Quelle so vieles Bösen, aber auch alles Guten [...]« (ebd. A: 21). Dennoch bestand eine ständige Kriegsgefahr zwischen Hirt_en und Ackerbauer_n, die sich durch den anwachsenden Luxus aufzulösen begann: »Mit der Zeit aber mußte denn doch der anhebende Luxus der Städtebewohner, vornehmlich aber die Kunst zu gefallen, wodurch die städtischen Weiber die schmutzigsten Dirnen der Wüste verdunkelten, eine mächtige Lockspeise für jene Hirten sein, in Verbindung mit diesen zu treten, und sich in das glänzende Elend der Städte ziehen zu lassen.« (Ebd. A: 22) Diese Verschmelzung beider Lebensstile führte zum Ende der Kriegsgefahr und damit auch zum Ende der Freiheit, und die »seelenlose Üppigkeit« vermischte sich mit »allen Lastern des rohen Zustandes« (ebd.) und der Fortschritt brach ab und die Menschheit machte sich ihrer selbst unwürdig. Obwohl diese Entwicklung negativ endet, widerspricht Kant seiner grundsätzlichen Fortschrittsannahme nicht. Was dieser Ausgang beweist, ist vielmehr die Unentbehrlichkeit des latenten Krieges. Zwar können diese Spannungen zwischen Hirt_en und Ackerbauer_n ein Übel für gesittete Völker sein, da sich auf die Aufrüstung und nicht auf die innere Bildung konzentriert wird. Jedoch glaubt Kant nicht, dass »auf der Stufe der Kultur, worauf das menschliche Geschlecht noch steht« (ebd. A: 24), eine Entwicklung der Potenziale möglich sei, die gänzlich aus der gemeinschaftlich ausgeübten Vernunft ent- 4 Die ›Keime‹ der Aufklärung: Zu Kants Geschichtsphilosophie springen würde. Die Vermischung der Völker zeigt deshalb auf, was passiert, wenn diese latente Bedrohungssituation aufgehoben wird: »eine Versenkung in unheilbares Verderbnis« (ebd. A: 24).17 In dieser reichhaltigen Passage findet einerseits eine klare Identifikation mit der einen Seite der Gesellschaften statt, und zwar mit den Ackerbauer_n, welche im Gegensatz zu den Hirt_en über die Konfliktsituation einen Fortschritt in Kunst und Kultur erreichen. Die Hirt_en bleiben im Narrativ streckenweise aussen vor und fungieren im Hintergrund als potenzielle Bedrohung, die jedoch konstitutiv für die Entwicklung der sesshaften Bevölkerung ist. In einer Fussnote findet zudem eine Identifikation der Hirtenvölker mit zeitgenössischen arabischen Beduinen statt (vgl. ebd. A: 21), was die gesamte biblische Geschichte noch stärker in der Gegenwart verankert. Interessant an dieser Passage ist zudem, dass die koloniale Expansion explizit als logisches Entwicklungsmoment einer bestimmten Epoche erwähnt wird. Zur selben Epoche zählt Kant die Entstehung der Ungleichheit unter den Menschen. Diese betrachtet Kant als Quelle alles Guten, nicht nur des Bösen (vgl. ebd. A: 21). Die Verortung der Ungleichheit in einem spezifischen Stadium verhindert auch, dass ein Bezug zwischen der Ungleichheit zwischen Menschen und der Konstellation zwischen Hirt_en und Ackerbauern hergestellt wird. Unklar bleibt, ob sich die Ungleichheit auf die koloniale Expansion (die unmittelbar vorher erwähnt wird) oder nur auf innere Dynamiken der sesshaften Bevölkerung bezieht. Die Entgegensetzung der beiden Lebensstile ist für den Antagonismus elementar, nur über die klar voneinander abgeschiedenen Kulturen kann sich die Dynamik entfalten. Dass diese Spannung über ein bestimmtes Geschlechterverhältnis aufgelöst wird, das zudem Aspekte der kantischen Kulturkritik anspricht, ist kaum ein Zufall. Bereits zu Beginn des Textes Mutmasslicher Anfang spielt das Geschlechterverhältnis eine zentrale Rolle. Kant beginnt seine Ausführungen im paradiesischen Zustand. Er imaginiert ein Menschenpaar »und zwar in seiner ausgebildeten Größe, weil er (der Mensch, Anm. KH) der mütterlichen Beihülfe entbehren muss« (ebd. A: 3), das sich fortpflanzen kann und nicht bereits mit anderen Paaren im Konflikt steht. Damit bestätigt Kant einmal mehr die Rationalität seiner Monogenesis-These, also der Annahme des gleichen Ursprungs aller Menschen, die er in seinen rassentheoretischen Schriften bereits vertreten hat. Zudem verortet er das Paar »unter einem jederzeit milden Himmelsstriche« (ebd. A: 3f.)18 , in einem 17 18 Vgl. dazu auch folgende Passage: »Jetzt sind die Staaten schon in einem so künstlichen Verhältnis gegen einander, dass keiner in der inneren Kultur nachlassen kann, ohne gegen die anderen an Macht und Einfluss zu verlieren; also ist, wo nicht der Fortschritt, dennoch die Erhaltung dieses Zwecks der Natur, selbst durch die ehrsüchtigen Absichten derselben ziemlich gesichert.« (Idee A: 405) Die Parallele zur Theorie der ›Menschenrassen‹ liegt auch in diesem Beispiel auf der Hand: Kant schildert ein mildes Klima, in dem er Menschen vermutet, die der Stammgattung am ähnlichsten sind (vgl. Kapitel 3.2.1). Während also Kant 1785 in Bestimmung diese These re- 109 110 Kritik - Selbstaffirmation - Othering Garten, der die beiden mit dem Nötigsten versorgt. Von diesem Anfangsstadium aus identifiziert Kant vier Schritte, welche die Entwicklung des Sittlichen anzeigen: die Entwicklung eines Begehrens, das auch im Widerspruch zur Natur stehen kann, was Kant am Beispiel der Ernährung exemplifiziert; die Kultivierung des sexuellen Begehrens; die Antizipation der Zukunft und die Bestimmung der Menschen als Endzweck und damit die Entwicklung der Moralität als Anerkennung der Gleichheit der Menschen (vgl. ebd. A: 5ff.). Alle diese Schritte gehen von einem Handeln aus, das zunächst instinktgeleitet ist. Das Erwachen der Vernunft ist zunächst ein Verlust, da dieses unmittelbare Wissen verloren geht und der Mensch dem »Naturtriebe abtrünnig« (ebd. A: 6) wird. Denn über die Vernunft ist es möglich, den Pfad der Natur zu verlassen und eine erste freie Wahl zu treffen. In Bezug auf den »Instinkt zum Geschlecht« (ebd. A: 8) bedeutet dies nun etwa nicht, dass nun eine andere Wahl getroffen würde – die blosse Existenz eines Mannes und einer Frau beschränkt hier die Auswahl und garantiert die Heterosexualität als einzig mögliche sexuelle Orientierung. Stattdessen besteht der Entwicklungsprozess darin, dass der Antrieb durch die Einbildungskraft verlängert, vermehrt und gleichförmiger werden kann, wenn der Gegenstand den Sinnen entzogen wird. Dieser Entzug transformiert »bloß tierische Begierde allmählich zur Liebe, und mit dieser dem Gefühl des bloß Angenehmen zum Geschmack für Schönheit, anfänglich nur an Menschen, dann aber auch an der Natur, überzuführen« (ebd. A: 8f.). Damit greift Kant auf Vorstellungen zurück, wie er sie bereits in der vorkritischen Schrift Beobachtungen (1764) entwickelt hat (vgl. Kapitel 2.2), setzt sie nun jedoch in historische Entwicklungsschritte um. Das »grobe Begehren«, das Kant in den Beobachtungen dem Sittlichen entgegensetzt und zur Charakterisierung benutzt, erhält in Mutmasslicher Anfang eine Funktion innerhalb des historischen Ablaufes. Diesem Schritt verleiht Kant einiges Gewicht, wenn er schreibt: »Ein kleiner Anfang, der aber Epoche macht, indem er der Denkungsart eine ganz neue Richtung gibt, ist wichtiger, als die ganze unabsehliche Reihe von darauf folgenden Erweiterungen der Kultur.« (Ebd. A: 9) Das in die eheliche Form gegossene Begehren spielt dann auch im nächsten Schritt eine Rolle, der durch die Erwartung des Künftigen charakterisiert wird. Denn der Mann und die Frau antizipieren die Zukunft unterschiedlich: »Der Mann, der sich und eine Gattin, samt künftigen Kindern, zu ernähren hatte, sah die immer wachsende Mühseligkeit seiner Arbeit; das Weib sah die Beschwerlichkeiten, denen die Natur ihr Geschlecht unterworfen hatte, und noch obenein diejenigen, welch der mächtigere Mann ihr auferlegen würde, voraus« (ebd. A: 9f.). vidiert, wird sie in diesem geschichtsphilosophischen Text aus dem Jahr 1786 in veränderter Form wiederum aufgegriffen. 4 Die ›Keime‹ der Aufklärung: Zu Kants Geschichtsphilosophie Damit antizipieren beide die bürgerliche Arbeitsteilung als kommende Realität, der einzige Ausblick liegt darin, Glieder einer Familie zu sein, in der man Trost und Linderung erfahren kann. Zudem ermöglicht die Familie die Hoffnung, dass ihre Kinder es dereinst besser haben werden (vgl. ebd.). Dieses moderne bürgerliche Geschlechtermodell verallgemeinert Muthu (2003), wenn er argumentiert, diese vier Schritte seien weniger als historische Entwicklungsmomente zu sehen, denn als ein Set von Fähigkeiten. Damit löst er die Schritte aus dem geschichtsphilosophischen Rahmen heraus und fasst sie als Bestimmungsmerkmal, das ausdifferenziert, was die Menschheit mit Wert ausstattet. Die Entwicklung eines eigenen Begehrens, das kultivierte sexuelle Begehren, die Antizipation der Zukunft und der Mensch als Endzweck sind Elemente kultureller Freiheit und Handlungsmacht, die nicht ausser Kraft gesetzt werden dürfen (vgl. Muthu 2003: 127). Wenn die kulturelle Aktivität eine Äusserung des Begehrens ist, die Kultur erst ermöglicht und deshalb nicht ausser Kraft gesetzt werden darf (vgl. ebd.: 130), stellt sich die Frage, welche Aktivitäten nicht als kulturelle, sondern instinktmässige Tätigkeiten diesem Schutz nicht unterstehen. Gerade in Bezug auf das Geschlechterverhältnis wird deutlich, dass damit nur ein bestimmtes Geschlechterverhältnis und auch nur eine Form des sexuellen Begehrens gemeint ist. Zudem verwischt Muthus Behauptung, die verschiedenen Lebensweisen würden gleichermassen als eine Form der kultivierten Menschheit gelten und deshalb egalitär nebeneinander stehen, dass eine Hierarchisierung verschiedener Kulturen gerade über deren Einordnung in verschiedene historische Stadien erreicht wird (vgl. Fabian 1983). 4.7 Die kritische Grundierung: Leitfaden Die Elemente der kantischen Geschichtsphilosophie, die ich anhand zweier zentraler Texte hervorgehoben habe, gilt es in ihrem erkenntnistheoretischen Status genauer zu verorten. Kant verfolgt mit seiner Geschichtsphilosophie den Anspruch, eine allgemeine Geschichte entwerfen zu können – also nicht nur die Geschichte von Nationen oder Völkern oder gar einzelner Ereignisse, sondern die Geschichte der gesamten Menschheit. Er erhebt damit einen umfassenden, globalen Anspruch. Um einen solchen Anspruch bedienen zu können, braucht es einen Rahmen, der Ereignisse und Entwicklungen in einen systematischen Zusammenhang stellen kann. Ein systematischer Zusammenhang dessen, was sonst nur als zufällige Anhäufung erscheint, wird durch die Annahme einer regulativen Idee möglich (vgl. Idee A: 408; vgl. Kleingeld 1995: 16ff.). Kant wählt damit einen vorsichtigen Ansatz, denn eine regulative Idee ist nicht konstitutiv für das Objekt, sondern leitet an, »wie der empirische Regressus anzustellen sei, um zu dem vollständigen Begriffe des Objekts zu gelangen« (KdrV B: 538/A: 519), wie Kant in der Kritik 111 112 Kritik - Selbstaffirmation - Othering der reinen Vernunft schreibt. Über diesen empirischen Regressus wird es möglich, eine Totalität zu erkennen. Da jedoch diese Totalität nie ein Gegenstand der Erfahrung sein kann, kann es in diesem Bereich letztlich keine sichere Erkenntnis geben. Insofern bleibt der epistemische Anspruch bescheiden (vgl. Angehrn 2004: 343). Gleichzeitig überschreitet Kant mit seinem Geschichtsentwurf den sicheren Boden der Erkenntnis, wie in vorhergehenden Ausführungen zur Kritik der reinen Vernunft dargelegt wurde (vgl. Kapitel 4.2). Dieses Überschreiten entspricht nach Kant einem Bedürfnis der Vernunft nach systematischer Einheit, die nur durch eine regulative Idee befriedigt werden kann. Damit wird die Natur so betrachtet, als ob sie vernünftig wäre und deshalb eine solche Einheit ermöglichen würde (vgl. Kleingeld 1995: 95ff. sowie die Ausführungen dazu in Kapitel 3.2.2). In Bezug auf die konkrete Umsetzung einer solchen regulativen Idee stellt sich nicht die Frage, ob sie wahr ist oder nicht, vielmehr geht es um das Kriterium der Brauchbarkeit. Diese Diskussion greift Kant im neunten Satz der Idee auf. Die Idee, dass die Natur nicht ohne Plan verfährt, ermöglicht einen Leitfaden, um »ein sonst planloses Aggregat menschlicher Handlungen, wenigstens im großen, als ein System darzustellen.« (Idee A: 408) Diesen Leitfaden konzipiert Kant explizit von einem spezifischen Standpunkt, mit dem er eine bestimmte Absicht verfolgt. Denn Kant entscheidet sich, eine Geschichte mit einem positiven Ende zu erzählen, da er es als vernünftig erachtet, davon auszugehen, dass die Natur eine Zweckmässigkeit verfolgt (vgl. ebd. A: 401)19 . Zudem glaubt Kant, dass diese Sicht auf die Geschichte »selbst für diese Naturabsicht beförderlich angesehen werden« (ebd. A: 407) muss. Mit dem Standpunkt, von dem aus Kant seinen Geschichtsentwurf vornimmt, ist damit auch das Ziel verbunden, selbst zu jener Entwicklung beitragen zu können, die er für die Geschichte skizziert. Dies macht der im selben Jahr wie die Idee veröffentlichte Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784) besonders deutlich, da dieser als Aufruf zur (Selbst-)Aufklärung verfasst ist. Diese Selbstpositionierung und Verortung, die Kant in seiner Geschichtsphilosophie vornimmt, gehen einher mit Selbstaffirmation und dem bereits aufgezeigten Othering, die eng aneinander gekoppelt werden. Dies wird auch anhand der Konzipierung des gewählten Leitfadens deutlich: Der Ausgangspunkt der allgemeinen Geschichte reicht zurück auf die griechische Geschichte. Dort beginnt eine Linearität, die durch die Staatengeschichte anderer Völker episodisch ergänzt wird: »[S]o wird man einen regelmäßigen Gang der Verbesserung der Staatsverfassung in unserem Weltteile (der wahrscheinlicher Weise allen anderen dereinst Gesetzte geben wird) entdecken.« (Ebd.) Daraus lässt sich ohne weiteren Übergang »die Idee einer Weltgeschichte, die gewissermaßen einen Leitfaden a priori hat« (Idee A: 410), postulieren. Kant wiederholt hier einen Punkt, der sich bereits 19 Diesen Aspekt diskutiert Kant zudem ausführlicher im Abschnitt zum Völkerrecht in Über den Gemeinspruch (A: 270ff.). 4 Die ›Keime‹ der Aufklärung: Zu Kants Geschichtsphilosophie in den Beobachtungen wie auch in den Schriften zur Rassentheorie aufzeigen liess: Der epistemologische Ausgangspunkt ist in Europa verortet, wo sich die richtige Entwicklung, die relevante Vermischung von Vernunft und Natur findet. Andere Nationen erhalten demgegenüber einen Status der theoretischen Irrelevanz. Besonders deutlich wird dies in einer Fussnote, in der Kant davon ausgeht, dass bestimmte Völker noch gar nicht in die Zeit eingetreten seien (vgl. ebd. A: 408). Das jüdische Volk beispielsweise sei in die Geschichte eingetreten und Kant könne den Moment des Eintritts auch benennen, lässt aber offen, wer zeitgenössisch noch nicht im geschichtlichen Bereich angekommen sei. In Bezug auf aussereuropäische Völker lässt sich des Weiteren eine Spannung zur Idee des Fortschritts als Antagonismus verzeichnen. Denn während in Europa die Existenz unterschiedlicher Gemeinschaften den Prozess der Aufklärung in Gang setzt, wird für den Rest der Welt ein anderer Entwicklungsanstoss vorgesehen: Europa wird seine Errungenschaften verbreiten und anderen die Gesetze vorschreiben. Wie Serequeberhan (1998) betont, müsse nach Kant die Aufklärung und Zivilisierung der NichtEuropäer_innen von aussen kommen und könne nicht über den inneren Vorgang der ungeselligen Geselligkeit erreicht werden (vgl. ebd.: 151f.). Damit enthüllt sich eine grosse Kluft zwischen dem Anspruch, eine allgemeine Geschichte der Menschheit schreiben zu wollen, und der tatsächlichen Verortung und auch Begrenzung der Geschichte in Europa. Diese Passage enthüllt damit nicht nur eine eurozentristische, sondern durchaus auch eine kolonialistische Logik. Damit verbunden wird deutlich, dass sich Kants geschichtsphilosophisches Interesse nicht so sehr darauf richtet, über die Möglichkeiten eines friedvollen Zusammenlebens unterschiedlich organisierter Gesellschaften zu reflektieren, sondern er propagiert eine Form als einzig vernünftige und damit ideale Ausgestaltung des gesellschaftlichen Zusammenseins: die bürgerliche Verfassung. Inwiefern dieser Leitfaden darüber hinaus auch im Christentum verankert ist, veranschaulicht Mutmasslicher Anfang. Diese spätere Schrift ist eine polemische Entgegnung auf Herders Ideen und enthält eine Portion Satire. Der Bezug auf die Genesis ist ein metaphorischer, wie Muthu (2004: 126) herausstreicht. Diese biblische Erzählung liefert in diesem Aufsatz den Leitfaden, anhand dessen Kant die einzelnen Schritte des ersten Menschenpaares skizziert. Damit beweist Kant, wie gut sich gerade dieser Leitfaden dafür eignet, die Entwicklung der Menschheit von ihren vermeintlichen Anfängen ausgehend aufzuzeigen. Zugleich ist es wichtig zu sehen, inwiefern Kant seine geschichtliche Perspektive auch in kritischer Absicht anwendet. In Bezug auf die eigene Kultur stellt er fest: »Wir sind im hohen Grade durch Kunst und Wissenschaft kultiviert. Wir sind zivilisiert, bis zum Überlästigen, zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber, uns für schon moralisiert zu halten, daran fehlt noch sehr viel.« (Idee A: 113 114 Kritik - Selbstaffirmation - Othering 402) Und kurz darauf: »So lange aber Staaten alle ihre Kräfte auf ihre eiteln und gewaltsamen Erweiterungsabsichten verwenden, und so die langsame Bemühung der inneren Bildung der Denkungsart ihrer Bürger unaufhörlich hemmen, ihnen selbst auch alle Unterstützung in dieser Absicht entziehen, ist nicht von dieser Art zu erwarten; weil dazu eine lange innere Bearbeitung jedes gemeinen Wesens zur Bildung seiner Bürger erfodert wird.« (Ebd. A: 403) Kant spricht an dieser Stelle nach wie vor von einem Wir, das in Europa verortet sei. Dieses hehre Ziel der vollständigen moralischen Entwicklung scheint dieser Teil der Welt nur dem äusseren Anschein nach zu vollziehen. Auf der innerlichen und damit moralischen Ebene attestiert Kant seinen Zeitgenoss_innen kein gutes Zeugnis. In dieser an Rousseau angelehnten Selbstkritik verbinden sich zwei Elemente: Einerseits wendet sich das Bild der überkultivierten Gesellschaft gegen den Adel, gegen den sich die bürgerliche Gesellschaft abgrenzt. Andererseits verortet sich diese Kritik über das Wir auch in einem kolonialen Rahmen, in dem der »zwecklose Zustand der Wilden« (ebd. A: 401) den Anfangspunkt jeglicher Entwicklung bezeichnet und damit noch nicht einmal den Anschein der Kultiviertheit besitzt. Kant kritisiert hier zwar das europäische koloniale Unternehmen – dies jedoch nicht etwa durch den Hinweis auf den Schaden anderer Menschen und die Ausnutzung fremder Ressourcen, sondern indem er auf die Verschwendung der eigenen Kräfte aufmerksam macht, die er lieber in der Bildung der Denkungsart der Bürger_innen gesehen hätte. Der Fokus liegt damit auf der eigenen Gesellschaft und Kant konstatiert das Problem oder gar Unrecht nicht im Übergriff auf eine andere Gemeinschaft. 4.8 Fazit In der Geschichtsphilosophie wird die teleologische Perspektive, die Kant in seinen Aufsätzen zu den ›Menschenrassen‹ eingeführt hat, weiter erprobt. Für den Bereich der Geschichte ist jedoch spezifisch, dass durch diesen teleologischen Zugang eine Verbindung zwischen einer naturtheoretischen und einer moralphilosophischen Perspektive hergestellt werden kann. In dieser Verbindung lässt sich ein grundlegendes Othering feststellen. Denn die Erkenntnis der Kultur, die gerade im Zwischenbereich von Natur und Freiheit verortet wird, wird mit einer klaren Zielvorstellung verbunden, also mit einem angenommenen Endpunkt des historischen Fortschritts. Diese Zielvorstellung wirkt sich darauf aus, welche Aspekte des menschlichen Handelns als Handlungen gesehen werden, die aus Freiheit heraus realisiert werden – und welche Akte als durch die Natur verursacht betrachtet werden müssen. Deutlich wird dies anhand der Vorstellung eines historischen Ablaufs. Kant nimmt eine Entwicklung an, die mit der Rohheit startet und zur Kultiviertheit 4 Die ›Keime‹ der Aufklärung: Zu Kants Geschichtsphilosophie oder gar Überkultiviertheit führt. Mit diesen Stadien geht ein Übergang von Handlungen, die als Akte der Natur gesehen werden, hin zu Handlungen, die aus Freiheit vorgenommen werden, einher. Deutlich wird dies anhand der Geschlechterverhältnisse: Alternative Ausgestaltungen des Geschlechterverhältnisses, die nicht dem modernen europäischen Modell entsprechen, können in diesem Modell nur als naturhaft eingestuft werden und landen damit auf einer anderen, niedrigeren Stufe des Entwicklungsschemas. Damit wird das Entwicklungsschema nicht nur als historische Entwicklung verstanden, auch zeitgenössische Handlungen werden anhand dieses Fortschrittsschemas unterschiedlich temporalisiert. Zudem verwischt die Darstellung kultureller Differenzen zwischen Menschen als hierarchiefreies Miteinander, dass Kant verschiedene Arten von Differenzen aufführt, die verschiedene Funktionen einnehmen. Einerseits ist die Differenz zwischen Hirt_en und Ackerbauer_n zentral für die Entfaltung der historischen Dynamik – doch auch hier findet sich eine klare Hierarchisierung, da der Fokus auf den Ackerbauer_n liegt. Andererseits spielt die Differenz zwischen Europa und dem ›Rest‹ eine nicht-funktionale Rolle, da sich hier keine antagonistische Spannung entfaltet. Das Streben nach Aufklärung und der Beitrag der Natur zur Verwirklichung der menschlichen Potenziale bleiben so letztlich einem geografisch beschränkten Raum vorbehalten. Zugleich lässt sich eine Verschränkung von kultureller Selbstkritik und kolonialer Logik feststellen. Während Passagen aus Idee durchaus als Argumentation für die Positionierung Kants als Imperialismuskritiker herangezogen werden können, verfehlt diese Einordnung dennoch das komplexere Bild. Denn einerseits gilt es, danach zu fragen, wie genau die Kritik geübt wird: Welche Anliegen geraten in den Blick? Worin wird ein Problem konstatiert, wenn es um eine Kritik am europäischen kolonialen Unternehmen geht? Andererseits wird mit dem alleinigen Fokus auf diese Passage der grundlegendere eurozentristische Ausgangspunkt übersehen. Denn während die materielle Expansion ansatzweise kritisiert wird, findet keine angemessene Kritik auf der epistemischen Ebene statt. Im Gegenteil enthüllt sich bei näherer Betrachtung die Verortung in Europa als Begrenzung, der als allgemeine Geschichte verstandene Entwurf als lokale Theorie, die jedoch mit einem globalen Anspruch auftritt. Wenn also Kant in seinen geschichtsphilosophischen Entwürfen Lebensstile im Blick hat und die Einteilung der Menschen in ›Rassen‹ nicht aufgreift, kann daraus nicht geschlussfolgert werden, dass eine anti-biologistische Differenz die Grundlage für eine imperialismuskritische Haltung anzeigt. Dies impliziert einerseits, dass zwischen Kants Begriff der ›Menschenrasse‹ und der Gattung Mensch, die in der Geschichtsphilosophie im Zentrum steht, eine klare Abgrenzung bestehen würde. Zum anderen impliziert dies, dass problematische Aspekte ausschliesslich in der Biologisierung bestehen und der Fokus auf kulturelle Differenzen eine kritische Haltung Kants nahelegen würde. Demgegenüber habe ich aufgezeigt, dass sich die 115 116 Kritik - Selbstaffirmation - Othering Geschichtsphilosophie als verschobene Fortsetzung der Rassentheorien lesen lässt – was nicht zuletzt an den Begriffen ›Keime‹ und ›Anlagen‹ deutlich wird, die Kant aufgreift und anwendet. So nimmt Kant auch in der Geschichtsphilosophie über die den Menschen zugeschriebene ›Anlage‹ eine Potenzialität zur Entwicklung an. Diese Entwicklung muss, um vernünftig zu sein, begrenzt und auf ein Ziel hin ausgerichtet sein. Für die Geschichtsphilosophie ist jedoch zentral, dass es in dieser Vorstellung nur einen Zielpunkt geben kann, der über bestimmte Entitäten – autonome Staaten und Subjekte – erreicht werden kann. Auf beiden Ebenen findet ein Prozess statt, der von der Natur angestossen wird, aber letztlich auf das aktive Gestalten der Natur20 zielt: Unmittelbare Antriebe sollen aktiv geformt werden, das Objekt soll entzogen und damit das sexuelle Begehren verlängert werden. Damit zielt die Entwicklung der Menschheit weniger auf die Überwindung der Natur als auf deren vernünftige Gestaltung. Insofern stimmt die Bemerkung von Pauen (2001), es gebe kein Hindernis der Unnatürlichkeit, das eine neue, bürgerliche Ordnung unrealistisch machen würde (vgl. ebd.: 40). Da es nach Kant jedoch nur eine Vernunft gibt, kann es auch nur eine Gestaltung geben, die als vernünftige zu deklarieren ist. Sucht man in der Vergangenheit Alternativen zu einem substantialistischen Geschichtsentwurf, kann man bei Kant durchaus fündig werden. Sein Ansatz verdeutlicht, dass Geschichte als Rahmen unseres Selbstverständnisses erscheint, den wir weder übersteigen noch unterlaufen können (vgl. Angehrn 2004: 348). Auch scheint mir die Verbindung von Selbst- und Weltreflexion unabdingbar zu sein, um von einer universalistischen Konzeption wegzukommen, deren Bezugspunkt im Universum liegt (vgl. Arendt 2001: 329ff.). Doch diese Momente allein reichen noch nicht, denn darüber hinaus stellt sich die Frage, wie ein dekolonialer Geschichtsansatz aussehen müsste. In Bezug auf Kant wäre zu klären, ob eine regulative Idee, welche eine Systematisierung der Geschehnisse erlaubt, offen genug sein kann, um nicht nur eine Art von gelebter Freiheit normativ festzusetzen. Zudem stellt sich die Frage, ob sich diese Idee entkoppeln lässt von der Annahme von ›Keimen‹ und ›Anlagen‹, deren Entfaltung die Geschichte ausmacht. Und wenn es heute erst recht eine globale Perspektive braucht, um Krieg, Terror und Frieden, Welternährung, globale Gerechtigkeit, Klimaschutz etc. regulieren zu können (vgl. Angehrn 2004: 349), gilt es kritisch zu prüfen, ob das von Kant formulierte Ideal der kosmopolitischen Ordnung tatsächlich geeignet ist, post_koloniale Verhältnisse adäquat aufzugreifen. Während mit der Geschichtsphilosophie und den Rassentheorien zwei Arten der Anwendung des teleologischen Denkens analysiert wurden, steht in den folgenden zwei Kapiteln mit der Kritik der Urteilskraft eine Schrift im Zentrum, die 20 Insofern ist die Bedeutung von Kultur, wie sie Kleingeld (1995) herleitet, sehr aussagekräftig (vgl. dazu auch Kapitel 4.5). 4 Die ›Keime‹ der Aufklärung: Zu Kants Geschichtsphilosophie die grundlegende Berechtigung und Begrenzung dieses Denkens diskutiert. In den Ausführungen zu Kritik der ästhetischen Urteilskraft zeichnet sich eine andere Form des kritischen Denkens ab, das sich besser eignet, eine kritische Philosophie in post_kolonialen Verhältnissen zu artikulieren, wie ich im folgenden Kapitel argumentieren werde. 117