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Das transzendental Notwendige ist metaphysisch unmöglich

Im Folgenden soll die Titelthese: "Das transzendental Notwendige ist metaphysisch unmöglich", wie auch ihre Umkehrung: "Das metaphysisch Notwendige ist transzendental unmöglich", in mehreren Schritten vorbereitet und zuletzt ausdrücklich vertreten werden. Beide Thesen sind dem Buchstaben nach antikantisch, stellen jedoch die einzige Möglichkeit dar, Kants Transzendentalphilosophie gegen den Einspruch zu verteidigen, sie sei durch die allgemeine Relativitätstheorie empirisch falsifiziert. Die Thesen werden daher aus genuin Kantischen Positionen entwickelt und behutsam in Kants Theorie integriert, die durch diese Modifikation an Haltbarkeit gewinnt. Zu Beginn, im ersten Abschnitt, werden die korrelativen Zentralbegriffe der Materie und der Form in ihrem aristotelisch-ontologischen Gebrauch betrachtet, um ihren kantisch-epistemologischen Gebrauch durch Vergleich und Kontrast zu konturieren. Der zweite Abschnitt dient der Klärung von Kants Unterscheidung zwischen Transzendentalphilosophie und Metaphysik. Nach diesen Vorarbeiten lässt das Transzendentale sich im dritten Abschnitt als das rein Formale bestimmen. Zuletzt werden im vierten Abschnitt in Beziehung auf Kants Kombination eines transzendentalen Idealismus mit einem empirischen Realismus die Titelthese und ihre Umkehrung begründet.

Das transzendental Notwendige ist metaphysisch unmöglich Anton Friedrich Koch, Heidelberg Im Folgenden soll die Titelthese: „Das transzendental Notwendige ist metaphysisch unmöglich“, wie auch ihre Umkehrung: „Das metaphysisch Notwendige ist transzendental unmöglich“, in mehreren Schritten vorbereitet und zuletzt ausdrücklich vertreten werden. Beide Thesen sind dem Buchstaben nach antikantisch, stellen jedoch die einzige Möglichkeit dar, Kants Transzendentalphilosophie gegen den Einspruch zu verteidigen, sie sei durch die allgemeine Relativitätstheorie empirisch falsifiziert. Die Thesen werden daher aus genuin Kantischen Positionen entwickelt und behutsam in Kants Theorie integriert, die durch diese Modifikation an Haltbarkeit gewinnt. Zu Beginn, im ersten Abschnitt, werden die korrelativen Zentralbegriffe der Materie und der Form in ihrem aristotelisch-ontologischen Gebrauch betrachtet, um ihren kantisch-epistemologischen Gebrauch durch Vergleich und Kontrast zu konturieren. Der zweite Abschnitt dient der Klärung von Kants Unterscheidung zwischen Transzendentalphilosophie und Metaphysik. Nach diesen Vorarbeiten lässt das Transzendentale sich im dritten Abschnitt als das rein Formale bestimmen. Zuletzt werden im vierten Abschnitt in Beziehung auf Kants Kombination eines transzendentalen Idealismus mit einem empirischen Realismus die Titelthese und ihre Umkehrung begründet. I. Form und Materie in der aristotelischen Tradition Am Ende der transzendentalen Analytik, im Anhang über die Amphibolie der Reflexionsbegriffe, erklärt Kant die Materie als „das Bestimmbare überhaupt“ und die Form als „dessen Bestimmung“. Das ist ganz im Sinn der klassischen Tradition; doch Kant fügt hinzu, er meine beides, Materie und Form, „in transzendentalem Verstande, da man von allem Unterschiede dessen, was gegeben wird, und der Art, wie es bestimmt wird, abstrahiert“ (KrV A 266/B 322). In der Rede vom Gegeben-Werden tritt hier die epistemologische Färbung hervor, die Kant der Transzendentalphilosophie verliehen hat. Die Transzendentalphilosophie der Alten, auf die Kant in § 12 der B-Auflage der Kritik anspielt, war ontologisch in transkategorialer Allgemeinheit. Das heißt, sie betrachtete das on, hen, alêthes und agathon, mithin die sogenannten Transzendentalien, die ihr den Namen gaben. Bei ihnen handelt es sich um reine Verstandesbegriffe noch jenseits der Kategorientafel; 2 so sieht und sagt es Kant und zitiert den „unter den Scholastikern so berufene[n] Satz […]: quodlibet ens est unum, verum, bonum“ (KrV § 12, B 113). Die Modernen – namentlich Wolff und Baumgarten – waren liberaler in ihrer Transzendentalphilosophie und nahmen auch Bestimmungen in sie auf, die den Alten als Kategorien gegolten hätten. Definitorisch für das Transzendentale war ihnen das Allgemeine und Formale der Bestimmungen der Dinge. Mit anderen Worten, die Transzendentalphilosophie galt ihnen als reine, Empirie-freie Ontologie. Sabrina Bauer zeigt gerade in ihrer Heidelberger Dissertation, dass und wie Kant die seit alters ontologische Transzendentalphilosophie zu einer reinen, transempirischen Erkenntnistheorie umgearbeitet und ihr so diejenige Wendung ins Epistemologische gegeben hat, die wir Heutigen naiv mit ihrem schieren Begriff verbinden. Vor der epistemologischen Wende waren Materie und der Form genuin ontologische Begriffe, nicht wie bei Kant solche der Reflexion, das heißt desjenigen Gemütszustandes, „in welchem wir uns zuerst dazu anschicken, um die subjektiven Bedingungen ausfindig zu machen, unter denen wir zu Begriffen gelangen können“ (KrV A 260/B 316). Aristoteles dachte die Materie als das ontisch Bestimmbare und die Form als das ontisch Bestimmende. Der Regress der Materien vom Wohlbestimmten ins weniger Bestimmte – vom Standbild über die Bronze zum Erz usw. – endete für ihn zum einen bei den elementaren Materien: Erde, Wasser, Luft und Feuer, die in ihrer je minimalen Formung wirklich vorliegen. Zum anderen endete er, nun definitiv, bei der prôtê hylê – prima materia – der aristotelischen Tradition, die völlig formlos und daher der Möglichkeit nach alles, der Wirklichkeit nach nichts ist. Die prima materia ist demnach ein Abstraktum oder schärfer ein Abstraktivum, wenn wir unter einem Abstraktivum ein solches Abstraktum verstehen, das nicht einmal in der Imagination für sich vorgestellt werden kann. Einerseits zwar liegt die prima materia überall vor, und wir haben ständig mit ihr zu tun, zumal wir selbst materielle Substanzen sind. Andererseits aber liegt sie nie als solche, nie rein für sich vor, sondern stets als so oder so geformte. Und an solche Formungen ist unsere Einbildungskraft gebunden. Wie diese Überlegungen nahelegen, sind die Begriffe der Form und der Materie Wechselbegriffe in einem starken Sinn: nicht bloß sinnabhängig, sondern sogar referenzabhängig voneinander: Eines kann nicht ohne das andere vorkommen. Wenn wir zunächst bei der aristotelischen Ontologie bleiben, so kann die Form, zum Beispiel die des Menschen, sich nur verwirklichen in geeigneter Materie, in menschlicher Biomasse. Sie verwirklicht sich, indem sie ipso facto eine entsprechende Materie verwirklicht und als einen Menschen bestimmt. Dergleichen gilt zumindest im sublunaren Bereich. Allerdings kann die Form überhaupt, nämlich im Be- 3 reich jenseits des Mondes, sich bis zur Referenzunabhängigkeit von der Materie emanzipieren. Die Formen der supralunaren immateriellen Substanzen bedürfen, um wirklich zu sein, keiner Materie, sondern immaterielle Substanzen sind ihre je spezifischen Formen. Der fällige Preis für dieses ontische Privileg ist eine reduzierte Individualität. Immaterielle Substanzen sind keine genuinen Individuen, sondern Arten, die so tun, als seien sie Individuen. Doch so despektierlich redet nur der Kritiker, nicht ihre Befürworterin. Wie auch immer, es gibt in der aristotelischen Ontologie eine Asymmetrie in der Korrelation von Materie und Form: Die Form kann sich unter Umständen von der Materie emanzipieren, aber die Materie nicht umgekehrt von der Form. Die einfachsten Materien, aus denen alles Sublunare besteht – Erde, Wasser, Luft und Feuer – sind bereits ein wenig geformt; sonst wären sie nicht verschieden und könnten nicht je für sich vorliegen. Ein allfällige prima materia ist demgegenüber ein Abstraktivum und deswegen in der Aristoteles-Forschung auch nicht überall wohlgelitten. II. Transzendentalphilosophie und Metaphysik bei Kant Nun zu Kants epistemologischer Wende im Transzendentalen. Sie hat die häufige Verwendung epistemologischer Kunstausdrücke wie „rein“ und „a priori“ bzw. „empirisch“ und „a posteriori“ zur Folge. In die Transzendentalphilosophie, sagt Kant (KrV B 28f.), dürfen gar keine Begriffe hineinkommen […], die irgend etwas Empirisches in sich enthalten […]. Daher, obzwar die obersten Grundsätze der Moralität und die Grundbegriffe derselben, Erkenntnisse a priori sind, so gehören sie doch nicht in die TranszendentalPhilosophie, weil sie die Begriffe der Lust und Unlust, der Begierden und Neigungen usw., die insgesamt empirischen Ursprungs sind, […] im Begriffe der Pflicht, als Hindernis, das überwunden, oder Anreiz, der nicht zum Bewegungsgrunde gemacht werden soll, notwendig in die Abfassung des Systems der reinen Sittlichkeit mit hineinziehen müssen. Daher ist die Transzendental-Philosophie eine Weltweisheit der reinen bloß spekulativen Vernunft. Denn alles Praktische, sofern es Triebfedern enthält, bezieht sich auf Gefühle, welche zu den empirischen Erkenntnisquellen gehören. Wenn also die Transzendentalphilosophie allein die spekulative Vernunft untersucht, gehört die Kritik der praktischen Vernunft, da in ihr er Begriff der Pflicht nicht bloß beiläufig oder negativ, zur Abgrenzung von Neigungen, sondern wesentlich vorkommt, nicht zur Transzendentalphilosophie – wohl aber wieder die dritte Kritik, und dies in ihren beiden Teilen. Zwar ist in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft auch von empirischer Lust und Unlust, vom An- 4 genehmen und Unangenehmen die Rede, über das wir in privatgültigen empirisch-ästhetischen Urteilen befinden. Doch dies dient nur der Abgrenzung vom eigentlichen Thema: der reinen Lust, die uns das freie Spiel der transzendentalen Erkenntnisvermögen bietet. Und in der Kritik der teleologischen Urteilskraft steht das Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur im Vordergrund, das, wie Kant in der Einleitung ausführt (KU XXX), ein transzendentales Prinzip ist: Denn der Begriff von den Objekten, sofern sie als unter diesem Prinzip stehend gedacht werden, ist nur der reine Begriff von Gegenständen des möglichen Erfahrungserkenntnisses überhaupt und enthält nichts Empirisches. Dagegen wäre das Prinzip der praktischen Zweckmäßigkeit, die in der Idee der Bestimmung eines freien Willens gedacht werden muss, ein metaphysisches Prinzip; weil der Begriff eines Begehrungsvermögens als eines Willens doch empirisch gegeben werden muss (nicht zu den transzendentalen Prädikaten gehört). Beide Prinzipien aber sind dennoch nicht empirisch, sondern Prinzipien a priori: weil es zur Verbindung des Prädikats mit dem empirischen Begriff des Subjekts ihrer Urteile keiner weiteren Erfahrung bedarf, sondern jene völlig a priori eingesehen werden kann. Was wir hier erfahren, ist nicht nur, dass die erste und die dritte Kritik im Unterschied zur zweiten zur Transzendentalphilosophie gehören, sondern auch, dass wir zwischen dem Reinen und dem Apriorischen sorgfältig unterscheiden müssen. Der Ausdruck „rein“ ist ein Prädikat, das auf Vorstellungsinhalte zutrifft, die frei von empirischen Beimischungen sind. Der Ausdruck „a priori“ ist ein Prädikat, das auf Erkenntnisse bzw. Urteile zutrifft, deren Gültigkeit ohne Rekurs auf empirische Begründung eingesehen und gerechtfertigt werden kann. Die Begriffe, die zu einem Urteil a priori verbunden werden, können empirischen Inhaltes sein, wie in dem analytischen Urteil „Alle Junggesellen sind ledig“; wichtig ist nur, dass die Verbindung der Begriffe in dem betreffenden Urteil ohne weitere empirische Informationen eingesehen werden kann. Nun sind analytische Urteile wie jenes über die Junggesellen keine Theoreme der Metaphysik, und ebenso wenig sind es die synthetischen Urteile a priori samt und sonders. Eine Teilklasse der letzteren macht die reine Mathematik aus, in eine andere nichtmetaphysische Teilklasse gehören singuläre synthetische Urteile, die wir a priori einsehen, wie zum Beispiel in Fall eines Kommentars zu einem Verkehrsunfall: „Auch diese Karambolage hatte eine Ursache.“ Metaphysische Theoreme dagegen sind allgemeine, weitgehend gegenstandsneutrale, nichtmathematische, synthetische Urteile a priori, deren begriffliche Inhalte empirisch kontami- 5 niert sein können. Zur Metaphysik im weitest möglichen Sinn gehört dann auch die Transzendentalphilosophie, deren Theoreme keine empirische Kontamination zulassen. Ihre Urteile gelten nicht nur a priori, sondern sind dem begrifflichen Gehalt nach auch rein. Diejenigen der Metaphysik im engen und eigentliche Sinn hingegen gelten zwar a priori, sind aber unbeschadet ihrer strengen Allgemeingültigkeit empirisch kontaminiert, so etwa das praktische Urteil: „Es ist Pflicht, jederzeit nach verallgemeinerbaren Maximen zu handeln“, oder das theoretische Urteil: „Jedes empirisch wahrnehmbare Geschehen hat eine Ursache“. III. Das Transzendentale als das rein Formale Das Thema der Transzendentalphilosophie nach ihrer Kantischen Wende ins Epistemologische sind mithin, so könnte man sagen, die reinen Formen, und zwar nicht die reinen ontischen Formen, wie Aristoteles sie verstand, in ihrer faktischen Mannigfaltigkeit, also nicht das jeweilige eidos und ti ên einai (Form und Wesenssachverhalt) des Menschen, Pferdes, Hundes usw., sondern allein die ganz allgemeinen, gegenstandsneutralen Formen des Denkens und des Anschauens. Dass es Formen des Denkens im Denken gibt, liegt nahe bis zur Trivialität, und Kant macht es sich zunutze, indem er in der allgemeinen formalen Logik als der Wissenschaft der Vernunftschlüsse die Form des Denkens zu isolieren unternimmt. Diese Untersuchung führt ihn zur Urteilstafel und im Handumdrehen weiter zur Tafel der reinen Verstandesbegriffe oder Kategorien. Ein Urteil ist ein Satz, der seiner Form nach als Prämisse oder Konklusion eines Vernunftschlusses fungieren kann. Wenn wir uns nun die Systematik möglicher Vernunftschlüsse vor Augen führen, so finden wir erstens kategorische, hypothetische und disjunktive Schlüsse vor, je nach Obersatz, der entweder ein kategorisches oder ein hypothetisches oder ein disjunktives Urteil ist. Diese Einteilung betrifft die Relation der Urteilspole, die entweder Subjekt und Prädikat oder Antezedens und Konsequens oder aber Glieder einer Disjunktion sind. Zweitens ist das Subjekt eines kategorischen Urteils seiner logischen Quantität nach allgemein, besonders oder einzeln. Drittens wird das Prädikat der logischen Qualität nach zugesprochen, abgesprochen oder als negatives zugesprochen. Viertens gelten die Prämissen eines Vernunftschlusses assertorisch, die Teilsätze hypothetischer und disjunktiver Urteile problematisch und die Konklusion relativ zu den Prämissen apodiktisch. So ergeben sich nach den vier Hinsichten der Relation, Quantität, Qualität und Modalität der Urteile in Vernunftschlüssen jeweils drei logische Grundformen, die an den einzelnen Urteilen synkategorematisch auftreten, d.h. ohne Anspruch auf Gegenstandsbezug als logische Par- 6 tikeln und bloße Satzformen. In diesem Sinn präsentiert die Kantische Urteilstafel die synkategorematische logische Form des Denkens auf der Grundlage des Systems der Vernunftschlüsse, deren Gültigkeit von keiner Seite bestritten wird. Nun ist mit der Form des kategorischen Urteils seit alters der Gedanke eines letzten Subjektes von möglichen Prädikaten und mit der Form des hypothetischen Urteils der Gedanke einer asymmetrischen notwendigen Verknüpfung verbunden. Ersterer ist der Gedanke der Substanz, letzterer der Gedanke der Kausalität. Dies sowie das Scheitern Humes vor Augen, der die Begriffe der Substanz und der Kausalität empirisch aufzubauen versucht hatte, kam Kant zu dem Ergebnis, dass Hume an der falschen Stelle gesucht hatte. Es galt, die Begriffe der Substanz und der Kausalität statt auf sinnliche Gehalte auf die allgemeine formale Logik zu gründen, das heißt, sie als kategorematische, gegenstandsbezogene Entsprechungen synkategorematischer Denkformen zu erkennen. So gewann Kant in Entsprechung zu den vier mal drei Urteilsformen nicht bloß zwei, sondern vier mal drei logische Grundbegriffe: die Kategorien. Davon, dass für die Umwandlung von logischen Formen des Denkens in logische Begriffe von Gegenständen eine reine, transzendentale Synthesis der Einbildungskraft vonnöten ist, abstrahiert Kant zunächst. Im Fortgang der Theorieentwicklung trägt er dies unter den Stichworten der figürlichen Synthesis und später des transzendentalen Schematismus nach. Dabei zeigt sich auch, dass die reinen logischen Gegenstandsbegriffe, eben, weil für ihre Konstitution die figürliche Synthesis der raumzeitlichen Einbildungskraft nötig ist, in ihrer objektiven Gültigkeit auf raumzeitliche Gegenstände und Ereignisse eingeschränkt sind. Das ist so weit allgemein vertraut und von geringem exegetischem Neuigkeitswert oder sollte es wenigstens sein und wäre es dann, wenn die Vollständigkeit der Kategorientafel nicht immer zum Problem erhoben würde. Dies verbietet sich aber schon aus Gründen der Methode. Denn die Urteilstafel dient der Auffindung der Kategorien und somit deren metaphysischer Deduktion. Eine Deduktion aber ist ein Schriftsatz, in dem ein faktischer Besitz durch Rückführung auf eine unstrittige Herkunft legitimiert wird. Der Ausgangspunkt einer Deduktion muss demzufolge zwischen den Parteien unstrittig sein. Kant wählt ihn für die metaphysische Deduktion in Gestalt des Systems der Vernunftschlüsse, an deren Gültigkeit kein idealtypischer Empirist oder Rationalist Zweifel hegt. Dann aber folgen die Urteils- und die Kategorientafel quasi von selbst. Nun kommen epistemisch in der Erfahrung und ontisch in der raumzeitlichen Welt das Reine und das Empirische nie für sich vor, sondern stets innig amalgamiert. Wir können das empirisch Reale zwar für sich denken, in abstracto, aber dann wird es uns zu einem abstraktiven 7 Ding an sich, vergleichbar der prima materia, von der es sich nur durch seine uns unbekannte interne Vielfalt unterscheiden muss, die dafür verantwortlich ist, dass wir das Ding an sich in Raum und Zeit faktisch in jeweils gegebener qualitativ-phänomenaler Mannigfaltigkeit wahrnehmen. Denken also können wir das Reale als abstraktives Ding an sich, das als solches jedoch nicht existieren kann, sondern stets einer formalen Ergänzung bedarf, etwa in der uns bekannten Standardergänzung des Raumes und der Zeit als Formen der Erscheinung, der Anschauung und der Imagination. Imaginieren können wir folglich das Ding an sich nicht als ein solches; denn unsere Imagination ist bestimmt durch und gebunden an die reinen Anschauungsformen Raum und Zeit. Nun ist uns jedoch, wie oben erwähnt, aus der aristotelischen Ontologie die Möglichkeit einer einseitigen Emanzipation der Form von der Materie geläufig, und etwas derartiges finden wir auch im epistemologischen Kontext der Kantischen Transzendentalphilosophie. Die Imagination ist Leeranschauung. Sie imaginiert entweder, als reproduktive, Gegebenes hinweg und aus Versatzstücken der Erinnerung anderes an seine Stelle, oder sie gibt, als reine, der euklidischen Geometrie den reinen Inhalt und den logischen Formen durch transzendentale Schematisierung den kategorialen Status. Und eben hier, in der reinen Leeranschauung der transzendentalen Einbildungskraft, emanzipiert sich die Form der Erscheinung von ihrer Materie; mit welchen Folgen für Kants Position, soll nun im letzten Abschnitt erwogen werden. IV. Transzendentaler Idealismus und empirischer Realismus Real ist, was (auch) außer unseren Vorstellungen, ideell, was nur in Vorstellungen, d.h. als Vorstellungsinhalt existiert. Vorstellungen sind (a) diskursive Gedanken, (b) Leeranschauungen, d.h. Imaginationen oder (c) erfüllte, empirische Anschauungen, d.h. Wahrnehmungen. Der Idealismus der Gedanken ist Diskursismus; Richard Rorty und die Poststrukturalisten waren anfällig für ihn. Kants transzendentaler Idealismus hingegen ist ein Idealismus der reinen Imagination. Dementsprechend ist andererseits sein empirischer Realismus ein Realismus der Wahrnehmung. Wie bei Sellars und Husserl und in diametralem Gegensatz zu Berkeleys idealistischer Formel „esse est percipi“ bekundet sich für Kant im Wahrgenommen-Werden die reale Präsenz des Wahrgenommenen, seine Selbstgegebenheit, mit Husserl zu reden. Es gibt also, Berkeley entgegen, keinen Idealismus der Wahrnehmung. Das empirisch Gegebene ist als solches zwangsläufig auch real und existiert sowohl in wie auch außer seinem Wahrgenommen-Werden. Es ist Ding an sich, wenn auch nicht Ding an sich als solches, sondern Ding an sich in unabdingbarer raumzeitlicher Formung. 8 An Raum und Zeit enthält die erfüllte Anschauung mithin ein notwendiges ideelles Moment. Wird es für sich imaginiert, in reiner Anschauung, so ist es ideell durch und durch. Seine reine, apriorische Theorie ist die euklidische Geometrie. Ihr zufolge bildet der Raum ein dreidimensionales, von der Zeit unabhängiges, flaches (nicht gekrümmtes) Kontinuum und die Zeit per Analogie ein eindimensionales, vom Raum unabhängiges, flaches Kontinuum. Raum und Zeit sind, wenn man sie transzendental fasst, als reine, formale Anschauungen, durch und durch imaginativ-ideell. Nun begründet Kant aber in der transzendentalen Ästhetik eine Kombination aus transzendentalem Idealismus und empirischem Realismus. Wie ist das zu verstehen? Der Idealismus, und zwar ein unbeschränkter, gilt, wie wir sahen, für die Formen der Anschauung und der Erscheinung, sofern sie rein für sich erwogen und imaginiert werden. Ein unbeschränkter Realismus andererseits würde für die Materie der Anschauung und Erscheinung qua Ding an sich gelten, wenn sie kein Abstraktivum, sondern, per impossibile, zu selbständiger Existenz fähig wäre. Kants Kombination hingegen gilt für die wirklichen, konkreten Erscheinungen, der Idealismus für ihre transzendentalen Züge und der Realismus für die empirischen. Anders als Kant, beeinflusst durch die Physik seiner Zeit, annahm, lassen sich die transzendentalen Züge der Erscheinungen aber nicht einmal in reiner Imagination isolieren; sondern die Imagination liefert uns beim Versuch ein Quidproquo. Sie begradigt die transzendentalen Momente, indem sie sie imaginativ aus ihrer Realstellung löst, zu ihrer nicht nur kontrafaktischen, sondern kontrapossiblen Nullstellung. Als die reine Theorie dieser Nullstellung erkennen wir nunmehr die euklidische Geometrie, deren Theoreme als synthetische Urteile a priori mit transzendentaler Notwendigkeit gelten. Wir lassen sie uns im Geometrieunterricht der Schule nach wie vor mit Zirkel und Lineal demonstrieren, obwohl wir seit Einstein wissen, dass sie für den physikalischen Raum nicht gelten. Sie sind transzendental notwendig, aber physikalisch unzutreffend. Sie binden unsere Imagination, die keine realen Massen herbeischaffen kann, um die reine Raum-Zeit zu deformieren, aber sie binden nicht die Natur, deren reale Massen den Raum und die Zeit immer schon aus der euklidischen Nullstellung gebracht und leicht deformiert haben. Wenn wir unsere diversen Beobachtungen zusammenfassen, ergibt sich nunmehr folgendes Bild. Für die leere euklidische Nullstellung von Raum und Zeit gilt allein der transzendentale Idealismus, ein Idealismus der reinen Einbildungskraft, der durch keinerlei Realismus konterkariert oder getrübt wird. Das bedeutet, dass euklidische Welten oder dass vielmehr die singuläre euklidische Nullwelt auf der Grundlage unserer Anschauungsformen transzendental not- 9 wendig ist als der leere Grenzfall eines Raum-Zeit-Systems, aber zugleich metaphysisch unmöglich. Der idealisierte, leere Grenzfall möglicher raumzeitlicher Welten ist keine mögliche Welt. Wie die idealisierten Massepunkte der vorrelativistischen und die punktförmigen Ereignisse der relativistischen Physik als nützliche Impossibilia in der Theoriebildung dienen, so auch das (3+1) dimensionale flache und kontinuierliche Raum-Zeit-System der reinen Imagination. Im Unterschied zu ihm müssen alle metaphysisch möglichen Welten als empirisch so oder so erfüllt gedacht werden. Deswegen gilt für diese alle der empirische Realismus und hat zur Konsequenz, dass ihr Raum-Zeit-System systematisch, in Abhängigkeit von der Verteilung des Realen, aus der idealen euklidischen Grund- und Nullstellung gebracht ist. Nur weil die realen Massen die Raum-Zeit allererst realisieren, indem sie mit ihr interferieren, sind Raum und Zeit ihrerseits empirisch real, dann aber durch die massive Interferenz aus ihrer kontrapossiblen euklidischen Nullstellung gebracht. Kant hätte aus den Ressourcen seines transzendentalen Idealismus und empirischen Realismus mithin die allgemeine Relativitätstheorie in diesem zentralen Punkt philosophisch vorwegnehmen können. Allerdings wäre der Preis ein Konflikt mit der Physik seiner Zeit gewesen, die die reine, apriorische, euklidische Geometrie unbesehen für die Theorie des physikalischen Raumes hielt. Kant hätte prognostizieren können, dass die euklidische Geometrie sich früher oder später als kontrapossibler Grenzfall möglicher physikalischer Raum-Zeit-Systeme erweisen würde. Aber in einem Konflikt zwischen der philosophia perennis und der Physik des Tages unterliegt im Urteil der Zeitgenossen unausweichlich die Philosophie. Insofern war Kant klug, als der der Physik seiner Zeit nicht widersprach und lieber seine Transzendentalphilosophie geringfügig verunzierte, indem er den Physikern folgend die kontrapossible euklidische Geometrie der reinen Imagination mit der Theorie des physikalischen Raum-Zeit-Systems für identisch erklärte. Wir können diese Verunzierung heute leicht rückgängig machen, ohne dass sich an der Substanz der Kantischen Philosophie viel ändert. Dem sollte hier das Wort geredet werden. Fassen wir kurz zusammen: Transzendental notwendig und zugleich einseitig ideell ist alles, woran unsere Einbildungskraft durch die Formen der Anschauung a priori gebunden ist. Metaphysisch notwendig sind reale, systematische Abweichungen von dieser leeren Grund- und Nullstellung. Deswegen sind, um uns der heuristischen Redensart von möglichen Welten zu bedienen, die Einer-Klasse der transzendental möglichen Welten und die unendliche Klasse der metaphysisch möglichen Welten disjunkt. Mit anderen Worten, was transzendental notwendig ist, ist metaphysisch unmöglich, und umgekehrt.