Academia.eduAcademia.edu

Antisemitismen: Sondierungen im Bildungsbereich

2022

Abstract

Welche Präventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich zur Vorbeugung von Antisemitismus? Wie können künftige Lehrpersonen für den Umgang mit Antisemitismen qualifiziert werden? Was ist zu tun, wenn an einer Schule oder Hochschule ein antisemitischer Vorfall geschieht? In diesem Band beantworten Expertinnen und Experten aus unterschiedlichsten Disziplinen solche und weitere wichtige Fragen. Sie nutzen dazu ihre relevanten Forschungsergebnisse und reichen Praxiserfahrungen. Die Zusammenschau aller Beiträge eröffnet neue Perspektiven und zeigt auf, wie Lehrer:innen, Dozierende, Schulen und Hochschulen ihre gesellschaftliche Verantwortung gegen Antisemitismus wahrnehmen können.

Victoria Kumar, Werner Dreier, Peter Gautschi, Nicole Riedweg, Linda Sauer, Robert Sigel (Hg.) Antisemitismus und Bildung Antisemitismen Sondierungen im Bildungsbereich Victoria Kumar, Werner Dreier, Peter Gautschi, Nicole Riedweg, Linda Sauer, Robert Sigel (Hg.) Antisemitismen Sondierungen im Bildungsbereich A N T IS E M I T IS M US U N D B I LDUNG B AND 4 Victoria Kumar, Werner Dreier, Peter Gautschi, Nicole Riedweg, Linda Sauer, Robert Sigel (Hg.) Antisemitismen Sondierungen im Bildungsbereich WOCHEN SCHAU VERLAG Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt und offen zugänglich mit Unterstützung des Österreichischen Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung, der Pädagogischen Hochschule Luzern (mit Unterstützung von Stiftungen, vertreten durch „Dr. J. Bollag + Cie. AG“) und der Geschäftsstelle des Beauftragten der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, für Erinnerungsarbeit und geschichtliches Erbe. Beauftragter der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, für Erinnerungsarbeit und geschichtliches Erbe Open Access: Wo nicht anders festgehalten, ist diese Publikation lizenziert unter der Creative-CommonsLizenz Namensnennung 4.0 International (CC BY 4.0). © WOCHENSCHAU Verlag, Dr. Kurt Debus GmbH Frankfurt / M. 2022 www.wochenschau-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden. Umschlaggestaltung: Ohl Design Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier Gesamtherstellung: Wochenschau Verlag ISBN 978-3-7344-1456-5 (Buch) E-Book ISBN 978-3-7344-1457-2 (PDF) DOI https://doi.org/10.46499/1847 © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 5 Inhalt VICTORIA KUMAR, WERNER DREIER, PETER GAUTSCHI, NICOLE RIEDWEG, LINDA SAUER, ROBERT SIGEL Antisemitismen. Sondierungen im Bildungsbereich. Ausgangslage und Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Interviews JULIA BERNSTEIN Die Reflexion eigener Emotionen, die Überlegung, woher das Unbehagen, die eigene Scham und die Schuldgefühle kommen, sind notwendig, um gegen Antisemitismus zu handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 MICHAEL BUTTER Aufklären im Vorhinein funktioniert viel besser als Intervenieren im Nachhinein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 MARINA CHERNIVSKY UND ROMINA WIEGEMANN Antisemitismuskritik als Rückgrat pädagogischen Handelns . . . . . . . . . . . . 52 MONIQUE ECKMANN Antisemitismuskritische Bildung stellt hohe Anforderungen an Pädagoginnen und Pädagogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 HELGA EMBACHER Interessen und Instrumentalisierung benennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 NADINE FINK Bildung statt Instruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 LUCIANO GASSER Fairness, Dialog und historisches Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. MARKUS GLOE Wir alle sind für unsere Demokratie mit ihrem zentralen Meta-Wert der Menschenwürde verantwortlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 EVELINE GUTZWILLER-HELFENFINGER Arbeit an zentralen Fragen des menschlichen Zusammenlebens . . . . . . . . 109 CHRISTINA HANSEN Lernen über den Holocaust muss sinnstiftende Lerngelegenheiten schaffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 SYBILLE HOFFMANN Jüdische Perspektiven und Antisemitismuserfahrungen sichtbar machen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 UFFA JENSEN Präventionsarbeit, die sich ihrer eigenen Begrenztheit bewusst ist . . . . . . . 143 HOLGER KNOTHE Lehrkräfte agieren nicht im außergesellschaftlichen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 HANNAH LANDSMANN Jüdische Museen als Orte der Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 THOMAS METZGER Bildung, die sich kritisch mit Antisemitismus in der Gesellschaft auseinandersetzt, muss gewissen Ansprüchen genügen . . . . . . . . . . . . . . . . 168 ELISABETH NAURATH Antisemitismusprävention im religiösen Bildungsbereich . . . . . . . . . . . . . . 178 LJILJANA RADONIĆ Als „heikel“ geltende Inhalte offensiv beleuchten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 SAMUEL SALZBORN Verbindung aus Weltanschauung und Leidenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 7 STEFAN SCHMID-HEHER Reflexion statt Distanzierung, Abwehr und Tabuisierung . . . . . . . . . . . . . . 204 SEBASTIAN WINTER Benennen von Unbehaglichem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 RUTH WODAK „Wer schweigt, stimmt zu“ – Die Notwendigkeit von Aufklärung, Dialog und Zivilcourage im Kampf gegen Antisemitismus . . . . . . . . . . . . 223 DINA WYLER Die Scheuklappen müssen fallen! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Thesen und Handlungsempfehlungen zum Umgang mit Antisemitismus an Schulen und Hochschulen VICTORIA KUMAR, WERNER DREIER, PETER GAUTSCHI, NICOLE RIEDWEG, LINDA SAUER, ROBERT SIGEL Thesen und Handlungsempfehlungen zum Umgang mit Antisemitismus an Schulen und Hochschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 (K)eine hoffnungslose Auseinandersetzung? Ein Essay von Robert Sigel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Thesen zum Umgang mit Antisemitismus an Schulen und Hochschulen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Handlungsempfehlungen zum Umgang mit Antisemitismus an Hochschulen mit Lehrer:innenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 International Holocaust Remembrance Alliance Arbeitsdefinitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Herausgeber:innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 8 VICTORIA KUMAR, WERNER DREIER, PETER GAUTSCHI, NICOLE RIEDWEG, LINDA SAUER, ROBERT SIGEL Antisemitismen. Sondierungen im Bildungsbereich Ausgangslage und Vorgehen „Die grundlegende Annahme […] ist dementsprechend, dass die lehrerausbildenden Institutionen nicht ihre volle Pflicht erfüllen, wenn sie den gegenwärtigen Stand des Unterrichtswesens einfach akzeptieren und sich ihm anpassen, dass es vielmehr ihre unverzichtbare Aufgabe ist, die führende Rolle in der Weiterentwicklung des Unterrichts zu spielen. Was nottut, ist eine Verbesserung des Unterrichtswesens nicht einfach durch die Ausbildung von Lehrern, welche die gegenwärtig notwendig erscheinenden Aufgaben besser erfüllen, sondern durch eine andere Konzeption von Erziehung und Unterricht.“ (Dewey 1904/1992, 310) Antisemitismen und andere Formen von Diskriminierung sind ein gravierendes gesellschaftliches Problem. (Benz 2004) Kaum ein Tag vergeht, ohne dass Anfeindungen gegen jüdische Vertreter:innen, Institutionen oder Einrichtungen mehr oder weniger offen zutage treten. (Edtmaier 2019) Auch Schulen und Hochschulen sind mit diesen Phänomenen konfrontiert, nicht zuletzt deshalb, weil von ihnen erwartet wird, dass sie einen substanziellen Beitrag zur Lösung des Problems leisten. (Chernivsky u. a. 2021; Sigel 2020) Mit der vorliegenden Publikation wird ein neuer Weg beschritten: Expert:innen aus unterschiedlichsten Disziplinen werden mithilfe von strukturierten Interviews befragt, um erstens einen differenzierten Blick auf den Bildungsbereich zu gewinnen und um zweitens den Hochschulen, die Lehrer:innen bilden, Hinweise an die Hand zu geben, wie sie mit Antisemitismus und Holocaust-Verharmlosung und -Verzerrung („Holocaust Distortion“) umgehen können. Dieser Band ist eines der Ergebnisse des von der International Holocaust Remembrance Alliance geförderten und von drei Institutionen – _erinnern.at_ (Österreich), Institut für Geschichtsdidaktik und Erinnerungskulturen der Pädagogischen Hochschule Luzern (Schweiz), Die Geschäftsstelle des Beauf- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 9 tragten der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus (Bayern) – umgesetzten Projektes „Gegen Antisemitismus an Schulen und Hochschulen“ (2020-2022). Dieses zielt darauf ab, Institutionen der Lehrer:innenbildung dahingehend zu unterstützen, dass sie Lehrpersonen in der Aus- und Weiterbildung angemessen auf den Umgang mit Antisemitismus und Holocaust Distortion im unterrichtlichen Alltag qualifizieren können. In der vorliegenden Einleitung werden die Ausgangslage und das Vorgehen genauer beschrieben, um damit die darauffolgenden 22 Interviews zu rahmen. Das erste Kapitel gibt einen kurzen Überblick über Ursprünge, Formen und Wendepunkte von Antisemitismen. Im zweiten Kapitel wird Antisemitismus als heutiges Problem umrissen, und es werden die strafrechtlichen Aspekte thematisiert. Das dritte Kapitel situiert das Problem im Bildungsbereich und fokussiert auf die formale Bildung. Im vierten Kapitel werden einige Handlungsempfehlungen für Prävention und Intervention von Antisemitismus durch Bildung referiert und Leerstellen identifiziert. Daran anschließend wird im fünften Kapitel kurz das methodische Vorgehen erläutert, bevor zum Schluss der Einleitung das Interesse der Herausgeber:innen offengelegt und die Interviewfragen vorgestellt werden. 1. Kurzer Überblick über Ursprünge, Formen und Wendepunkte von Antisemitismen Antisemitische Einstellungen haben eine über 2000 Jahre alte Geschichte. (Benz 2004) Sie wurden tradiert, angereichert, angepasst und überdauerten gesellschaftliche Umbrüche und sozialen Wandel. In der Auseinandersetzung mit Antisemitismen, insbesondere im Bereich der schulischen Prävention, ist die historische Analyse von grundlegender Bedeutung, denn sie bietet Möglichkeiten, Muster sichtbar zu machen und damit Ansatzpunkte für ein Begreifen zu schaffen, wie und warum Antisemitismus funktionierte und funktioniert. In der Regel werden unterschiedliche Formen von Antisemitismus unterschieden, beginnend mit dem religiösen Judenhass, gefolgt von einem völkischen, auf den Vorstellungen einer Einteilung der Menschen in verschiedene „Rassen“ unterschiedlicher Wertigkeit beruhenden rassistischen Antisemitismus. Weiter werden ein sogenannter sekundärer Post-Auschwitz-Antisemitismus sowie ein israelbezogener Antisemitismus definiert. Beide nehmen unterschiedliche Formen an, die stets auch die Funktion der Schuldabwehr haben. Aus der Täterschaft des nationalsozialistischen Deutschen Reiches, dem Österreich seit 1938 © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 10 angehörte, und seiner Kollaborateure erwächst gesellschaftliche Schuld und Verantwortung. Dieser Schuld und Verantwortung haben sich die deutsche und die österreichische Gesellschaft und auch die Gesellschaften der Länder, die mit dem Nationalsozialismus kollaborierten – auch in der kollaborativen Verweigerung von Hilfe für die dort Verfolgten –, nur spät, nur zögerlich und nur in Teilen gestellt. Einfacher, als sich der Schuld zu stellen, scheint die Schuldabwehr in Form antisemitischer Zuweisungen, etwa dem Vorwurf der Geschäftemacherei mit dem Holocaust oder dem Vorwurf, der Staat Israel handle in seiner Auseinandersetzung mit den Palästinenser:innen nicht anders als das NS-Regime. Da offener Antisemitismus in zahlreichen Ländern tabuisiert ist oder gar strafrechtlich geahndet wird, besteht ein Ausweg für Antisemit:innen darin, Israel, vorgestellt als jüdisches Kollektiv, zur Zielscheibe zu machen. Zum Antisemitismus in Form einer spezifischen Kritik an Israel, die letztlich dessen staatliche Legitimität infrage stellt, gesellt sich seit den 1920er-Jahren ein islamistischer Antisemitismus, der sich in der Übernahme von antisemitischen Codes äußert, die genuin islamisch-religiöse Haltungen und politische Israelfeindschaft verbinden. Die genannten Formen von Antisemitismus folgen zwar historisch aufeinander, aber sie lösen einander nicht ab, existieren nebeneinander und übernehmen sowie adaptieren antisemitische Zuweisungen und Codes. Der religiöse, christliche Judenhass entwickelte Zuschreibungen, die bis in die Gegenwart weiterwirken: Die allegorische Darstellung der beiden Religionen als Ecclesia und Synagoga etwa am Dom zu Straßburg zeigt die christliche Kirche als triumphierende Frauengestalt, das Kreuz und den Kelch in der Hand, die Synagoga mit zerbrochenem Stab, die Augen bedeckt, blind für Christus, den Erlöser. (Schoeps 2012) Aus dieser Darstellung des Judentums als dem Volk, das den Messias nicht erkannt hat, entwickeln sich die weiteren Schuldzuweisungen: der Gottesmord, die Hostienschändungen als die immer erneuten Wiederholungen des Gottesmordes, die Ritualmorde an christlichen Knaben, die Brunnenvergiftungen – all dies Morde, begangen im Bündnis mit dem Teufel, daneben auch im Bündnis mit anderen nichtchristlichen Mächten, etwa dem türkischen Sultan. Das Bündnis mit dem Teufel ist die frühe Zuschreibung verschwörerischen Handelns. Kombiniert mit der Zuschreibung besonderer Macht entstehen daraus Verschwörungstheorien und Verschwörungserzählungen, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in den sogenannten „Protokollen der Weisen von Zion“ in einem besonders wirkmächtigen Verschwörungskonstrukt gipfeln. (Benz 2007) Dieses möglicherweise vom zaristischen Geheimdienst geschaffene Pamphlet behauptet, auf einem Treffen jüdischer Verschwörer seien konkrete © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 11 Pläne gefasst worden, wie eine jüdische Weltherrschaft errungen werden soll. Eingebaut wurden weitere antijüdische Vorwürfe und Behauptungen, etwa die angebliche jüdische Dominanz im Finanzwesen oder in der Presse. Diese „Protokolle der Weisen von Zion“, obwohl mehrfach als Fälschung entlarvt, spielten das gesamte 20. Jahrhundert und spielen bis in die Gegenwart hinein eine außerordentliche Rolle im antisemitischen Diskurs. Daneben gab und gibt es zahlreiche antisemitische Verschwörungsvorwürfe, in der Gegenwart etwa im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie, wobei Jüdinnen und Juden vorgeworfen wird, sowohl Verursachende als auch Profitierende der Epidemie zu sein – ein Vorwurf, der letztlich die Beschuldigungen zur Zeit der Großen Pest wiederholt. Mit der Aufklärung begann die jüdische Emanzipation in Europa, der Weg zur staatlichen und gesellschaftlichen Gleichberechtigung. Den entscheidenden Einschnitt markierten die Französische Revolution und die Napoleonische Herrschaft. Die Erlangung der vollen bürgerlichen Rechte zog sich aber meist über Jahrzehnte hin. Erst in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts hatten Jüdinnen und Juden in Deutschland, Österreich, der Schweiz und den übrigen Staaten Mittel- und Westeuropas die gleichen staatsbürgerlichen Rechte. Die gesellschaftliche Akzeptanz aber blieb vielerorts weiterhin aus. Mit der Entstehung der Nationalstaaten entstand auch ein völkischer Nationalismus und aus ihm eine neue Form der Judenfeindschaft, der rassistische Antisemitismus. Im Begriff des Anti-Semitismus, den der deutsche Journalist Wilhelm Marr 1879 in den politischen Diskurs einführte, wird die spezifische Begründung dieser Form von Judenhass sichtbar: Marr konstruierte eine „rassische“ Einteilung der Menschheit, in welcher Jüdinnen und Juden als die semitische „Rasse“ nach der Weltherrschaft streben. Der Antisemitismus des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts verstand sich als Kampf der sogenannten „arischen Rasse“ gegen das Konstrukt einer jüdischen „Rasse“. Er markierte damit einen entscheidenden Einschnitt: Konnten Jüdinnen und Juden zuvor durch den Übertritt zum christlichen Glauben hoffen, damit der Verfolgung zu entgehen, war dies im rassistischen Antisemitismus nicht mehr möglich. (Benz 2006) Der rassistische Antisemitismus beendete die religiöse Judenfeindschaft nicht. Sie blieb daneben weiter bestehen. Bestehen blieben auch zahlreiche judenfeindliche Stereotype, die nun um weitere Zuschreibungen ergänzt wurden. Der rassistische Antisemitismus behauptete und propagierte eine grundsätzliche Andersartigkeit von Jüdinnen und Juden, die sowohl psychische als auch physische Eigenschaften umfasste. Dieses Zerrbild wurde vor allem im Nationalsozialismus zum scheinbar „wahren Bild des Juden“ gemacht und war eine © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 12 Grundlage der Dehumanisierung von Jüdinnen und Juden, die ihrer Ermordung vorausging. Die „Nürnberger Gesetze“ des Jahres 1935 sind der Versuch der Definition von Zugehörigkeit zur sogenannten jüdischen „Rasse“. Sie sind ein entscheidender Schritt hin zur systematischen Entrechtung, Diskriminierung, Beraubung, Verfolgung und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden durch die Nazis. Die Shoah, der Völkermord an sechs Millionen Jüdinnen und Juden, verändert jegliche Beurteilung von Antisemitismen, jegliche Auseinandersetzung mit Antisemitismus – sowohl des vor 1933, insbesondere aber des Antisemitismus nach 1945. Das Wissen, dass der Antisemitismus völkermörderische Konsequenzen hatte, macht deutlich, dass jeder Antisemitismus einen eliminatorischen Keim in sich tragen kann. (Rensmann 2004) Die Errichtung eines jüdischen Staates war das Ziel der zionistischen Bewegung lange vor 1933, seine Gründung 1948 jedoch war mitbedingt durch die Shoah. Der UNO-Teilungsbeschluss, der mit deutlicher Mehrheit das vorher britische Mandatsgebiet Palästina in einen jüdischen Staat Israel und einen arabischen Staat Palästina teilte, markiert keineswegs das Ende von Antisemitismus und Judenfeindschaft, aber er markiert einen wesentlichen Einschnitt. Wenn 1938 die Konferenz von Évian sichtbar machte, dass kaum ein Staat bereit war, jüdische Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich aufzunehmen, so bedeutet die Staatsgründung für Jüdinnen und Juden in der Welt das Wissen, nun mit dem eigenen Staat einen Zufluchtsort zu besitzen. Gegen diese Sicherheit einer Zuflucht richtet sich eine relativ neue Form des Antisemitismus, die den Staat Israel als ein koloniales Projekt bezeichnet und ihm mit der Forderung nach einer postkolonialen Ordnung sein Existenzrecht bestreitet. (Pfahl-Traughber 2015) 2. Antisemitismus als aktuelles Problem – und seine strafrechtliche Würdigung Antisemitismus ist als Problem im deutschsprachigen Raum sowohl im öffentlichen Diskurs wie auch spezifischer als Herausforderung für den Bildungsbereich anerkannt. Die Deutsche Bundeszentrale für Politische Bildung bietet auf ihrer Website unter „Antisemitismus“ – „Aktuelle Phänomene, Strömungen, Debatten“ folgende thematische Vertiefungen an (Bundeszentrale Politische Bildung 2021): • Eine Veranstaltungsdokumentation „Antisemitismus – definitiv!?“ zur Debatte über die Antisemitismus-Definition der IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance) und die diese herausfordernde „Jerusalem Declaration on Antisemitism“, © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 13 • • • • • • • • • • einen Artikel über „Antisemitismus in der BDS-Kampagne“, in welchem es auch um die Kontroverse über den in Südafrika lehrenden Philosophen Achille Mbembe und seine Haltung gegenüber der gegen die Besatzungspolitik Israels gerichteten Bewegung „boycott, divestment and sanctions“ BDS bzw. um die Berührungsfelder von postkolonialen und postnazistischen Diskursen ging, einen Artikel über „Antisemitische Einstellungsmuster in der Mitte der Gesellschaft“, „Antisemitismus im Internet und den sozialen Medien“, „Antisemitische Verschwörungstheorien in Geschichte und Gegenwart“, „Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft“, „Antisemitismus, die extreme Rechte und rechter Terror im Netz“, „Antisemitismus im deutschsprachigen Rap und Pop“. Mehrere Artikel thematisieren Antisemitismus bei Muslim:innen beziehungsweise unter muslimischen Jugendlichen, Antisemitismus im Islamismus und insbesondere in der Hamas, ein Beitrag thematisiert die Abgrenzung von „Islamophobie“ zu Antisemitismus. Umfassend dokumentierte 2017 der Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus die Situation in Deutschland und berichtete über Straftaten, Einstellungen, religiöse, kulturelle, politische sowie auf die Herkunft bezogene Faktoren, Perspektiven der jüdischen Bevölkerung sowie die Diskurse sowohl in traditionellen wie den sogenannten Neuen Medien, außerdem über Ansätze zur Prävention und Intervention. (Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus 2017) Im Fazit findet sich ein bemerkenswerter Satz, der sicherlich auch für Österreich und womöglich auch für die Schweiz gültig ist: „Zugleich warnt der U(nabhängige) E(xpertenkreis) A(ntisemitismus) ausdrücklich davor, mit dem Verweis auf Antisemitismus unter Muslimen explizit jenen im Rechtsextremismus, aber auch in der gesellschaftlichen und politischen Mitte zu vernachlässigen oder sogar implizit zu verharmlosen.“ (Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus 2017, 258) Wie gewalttätig und mörderisch der antisemitische Rechtsextremismus ist, machte zuletzt das bewaffnete Attentat auf die Synagoge in Halle am 9. Oktober 2019, dem höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur, deutlich. Die österreichische „Meldestelle Antisemitismus“ zählte in den ersten sechs Monaten des Jahres 2021 mit 562 Vorfällen bereits mehr als im gesamten Vorjahr. (Antisemitismus Meldestelle 2021) Zwei Faktoren bestimmten die Entwicklung bei antisemitischen Vorfällen in Österreich: die Proteste gegen Corona- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 14 Maßnahmen sowie der gegen Israel gerichtete Antisemitismus. Insbesondere das Auftreten rechtsextremer Gruppen bzw. Einstellungen sowie Verschwörungsmythen und Shoah-Relativierung beziehungsweise -Verzerrung (Holocaust-Distortion) waren in der Einschätzung der Meldestelle bei den mit der Pandemie verbundenen Vorfällen auffällig, während bei zahlreichen Aggressionen gegen als jüdisch erkennbare Menschen ein Zusammenhang mit Israel/ Palästina beziehungsweise arabischer Zuwanderung festgestellt werden kann. Zu ähnlichen Befunden kommt die vom österreichischen Parlament in Auftrag gegebene Studie „Antisemitismus 2020“, nach der fast ein Drittel der Österreicher:innen der Meinung ist, eine „mächtige und einflussreiche Elite (zum Beispiel Soros, Rothschild, Zuckerberg)“ nützten die Pandemie für gute Geschäfte. (Antisemitismus 2020) Bernadette Edtmaier verweist in ihrer Analyse der Entwicklung des Antisemitismus in Österreich auf die immer wieder sichtbar werdende Verankerung von Antisemitismus in der österreichischen politischen Rechten. Zahlreiche „Vorfälle“, das heißt öffentlich skandalisierte antisemitische Äußerungen, insbesondere von Funktionär:innen der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), aber auch einzelne aus dem Umfeld der Österreichischen Volkspartei (ÖVP), belegen dies eindrücklich. (Edtmaier 2019/Edtmaier 2020) Österreich reagiert darauf mit der im Bundeskanzleramt angesiedelten „Nationalen Strategie gegen Antisemitismus“, in der das Bildungswesen breiten Raum einnimmt. (Bundeskanzleramt 2021) In der Schweiz konstatierte der von der „Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus“ (GRA) herausgegebene Bericht „Rassismus in der Schweiz 2020“ einleitend eine beunruhigende Zunahme von Anhänger:innen von Verschwörungsfantasien. (Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus/Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz 2021) Waren schon vor der Corona-Pandemie 30 Prozent der Schweizer Bevölkerung für derartig reduzierte Antworten auf komplexe Entwicklungen empfänglich, so verstärkte sich die Verbreitung vieler, teils auf der überlieferten Ritualmord-Lüge aufbauender Verschwörungskonstruktionen in der weltweiten Gesundheitskrise. Während 2020, wie auch 2019, dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) keine antisemitischen Tätlichkeiten und lediglich eine Sachbeschädigung gemeldet wurde – und das ist schon ein bezeichnender Unterschied zu Österreich oder Deutschland –, waren auch in der Schweiz in den sozialen Medien antisemitische Äußerungen weitverbreitet, und Antisemitismus wird von rund der Hälfte der jüdischen Schweizer:innen als Problem wahrgenommen. Der Bericht enthält ein Interview mit Cédric Wermuth, Nationalrat und Co-Präsident der SP Schweiz, in dem dieser ein mangelndes Interesse der Schweizer Politik an Aufklärung © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 15 über Antisemitismus feststellt. In ihrem Vorwort zum „Antisemitismusbericht für die Deutschschweiz“ halten die Vorsitzenden von GRA und SIG fest, der Antisemitismus in der Schweiz komme auch im Berichtsjahr 2020 aus der „Mitte der Gesellschaft“, also von „Personen, die nicht aus radikalen und extremen politischen Milieus stammen“. Doch seien gerade antisemitische Verschwörungstheorien wie auch unpassende Vergleiche mit dem Holocaust, die als Holocaust Distortion eingeordnet werden können, ein zunehmendes Problem. In der Statistik dominierten 2020 jedenfalls antisemitische Verschwörungstheorien (46 %), während recht wenige Vorfälle von auf Israel bezogenem Antisemitismus gemeldet wurden (11 %). (Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund 2021) Im Hinblick auf die strafrechtliche Würdigung von antisemitischen Vorfällen gilt für Deutschland, die Schweiz und Österreich, dass Antisemitismus keinen eigenen Straftatbestand bildet, sondern jeweils unter anderen Straftatbeständen verfolgt wird. Alle drei Staaten setzten sich mit der Antisemitismus-Definition der IHRA auseinander. Am weitesten geht dabei die deutsche Bundesregierung, welche die Definition 2017 durch Kabinettsbeschluss verabschiedete – und dabei um einen auf Israel bezogenen Punkt erweiterte. (Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus 2021) Auch die österreichische Bundesregierung nahm 2017 diese Definition an – allerdings wie in Deutschland als „nicht rechtsverbindlich“. (Dreier 2021) Der Schweizer Bundesrat verabschiedete 2021 einen „Bericht zur Arbeitsdefinition von Antisemitismus“, in welchem diese als „zusätzlicher Leitfaden“ zur Identifizierung von antisemitischen Vorfällen gewürdigt wird. (Bundesrat 2021, SIG 2021b) In allen drei Ländern können antisemitische Vorfälle nur auf Umwegen juristisch bekämpft werden, in Österreich auf der Grundlage des § 283 Strafgesetzbuch (Verhetzung) ( Jusline 2021), in der Schweiz bietet der § 261bis des Strafgesetzbuches, der gegen „Diskriminierung und Aufruf zu Hass“ gerichtet ist, eine juristische Handhabe (Fedlex 2021), und in Deutschland der § 130 (Volksverhetzung), wobei in Deutschland antisemitische Beweggründe des Täters für die Strafzumessung durch das Gericht ein maßgeblicher Faktor sein können (§ 46 StGB). (Dejure 2021) Es gibt – auch hier wieder am Beispiel Deutschlands – eine ganze Reihe weiterer Paragrafen bzw. rechtlicher Grundlagen, die im Zusammenhang mit antisemitischen Straftaten von Bedeutung sein können: • Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen (§ 86a StGB) • öffentliche Aufforderung zu Straftaten (§ 111 StGB) • Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten (§ 126 StGB) © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 16 • • • • Gewaltdarstellung (§ 131 StGB) Belohnung und Billigung von Straftaten (§ 140 StGB) Beleidigung (§ 185 StGB) Bedrohung (§ 241 StGB) Für die justizielle Verfolgung von antisemitischen Straftaten in den sozialen Medien ist das am 1.9.2017 in Kraft getretene „Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken“ von Bedeutung. Dieses wurde durch das am 30.4.2021 in Kraft getretene „Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität“ verschärft, präzisiert und erweitert. (Bundesministerium der Justiz 2021) 3. Antisemitismen im Bildungsbereich – Strukturierung des Problemfeldes Antisemitismen zeigen sich bei unterschiedlichen Akteur:innen, Institutionen und an unterschiedlichen Orten im Bildungssystem, verstanden als die Summe aller Möglichkeiten des Angebots und der Aneignung von Bildung. Bildungssysteme umfassen Schulen sowie die ihnen zugeordneten Bereiche, Hochschulen und den Bereich der persönlichen Weiterbildung, etwa Bibliotheken, Museen und Ausstellungen, aber auch Radio, Fernsehen oder Kino. Bildungssysteme unterscheiden sich erheblich von Land zu Land – auch zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz – und von Kultur zu Kultur. Während das Schulund das Hochschulsystem reguliert sind und also formale, gesetzlich definierte Bildung anbieten, finden sich im Bildungssystem auch viele nicht reglementierte Bereiche, die informelle Bildung offerieren, welche individuell und außerhalb strukturierter und reglementierter Angebote stattfindet. Informelle Bildung entspricht persönlichen Bedürfnissen und beinhaltet zum Beispiel individuelles Lernen in der Freizeit (auch mittels neuer Medien wie dem Internet) oder in der Familie, ehrenamtliche Tätigkeiten oder beiläufiges Lernen am Arbeitsplatz. (Maaser/Gerrit 2011) Antisemitismen kommen sowohl in der formalen als auch in der informellen Bildung vor. Da sich informelle Bildung einer strukturierten und systematischen Beeinflussung größtenteils entzieht und darüber hinaus ein weites Feld ist, wird im Folgenden die formale Bildung genauer in den Blick genommen, um die Bedingungen zu erkennen, welche für die Auseinandersetzung mit Antisemitismus in Schule und Hochschule von Bedeutung sind. Grundsätzlich unterscheidet © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 17 man vier Bereiche formaler Bildung: die Vorschule (Kindergarten) als nullten, die Grund- oder Primarschule als ersten, die weiterführende (oder Sekundar-) Schule als zweiten und die Hochschulen als dritten (tertiären) Bildungsbereich. Bildungsbereiche sind gesellschaftliche Einrichtungen, die gemäß Helmut Fend (2011) vier Funktionen haben: Enkulturation, Qualifikation, Allokation und Integration. Diese Funktionen sind für die Aufrechterhaltung sozialer Systeme und ihrer „Handlungsfähigkeit“ notwendig. Enkulturation ermöglicht den sich Bildenden die Aneignung grundlegender kultureller Fertigkeiten und kultureller Verständnisformen der Welt. Die Qualifikationsfunktion führt zu einer möglichst selbstständigen beruflichen Lebensführung. Die Allokationsfunktion erlaubt es, die berufliche Stellung durch eigene Lernanstrengungen und durch schulische Leistungen in die Hand zu nehmen, und gleichzeitig erfolgt dadurch soziale Selektion. Integration ermöglichen die Bildungsbereiche mittels Begegnungen mit kulturellen Traditionen eines Gemeinwesens. Die sich Bildenden bauen soziale Identitäten auf, gehen soziale Bindungen ein und übernehmen gesellschaftliche Verantwortung. Schulen und Hochschulen sind also auch Institutionen der gesellschaftlichen Integration, die zur Stabilisierung der sozialen und politischen Verhältnisse dienen (Fend 2011). Dass auch Hochschulen, also Institutionen des tertiären Bildungsbereichs, eine soziale Verantwortung haben, kam in den letzten Jahren wieder stärker in den Blick. Sie sollen über Forschung und Lehre zur Vermittlung von disziplinspezifischen und berufsbezogenen Kompetenzen von Studierenden hinaus auch die sozialen und interkulturellen Kompetenzen der Studierenden stärken, sie ganzheitlich zur Ausübung von Rollen als verantwortungsbewusste Bürger:innen motivieren sowie zu einer nachhaltigeren und integrativeren Gesellschaft beitragen. Auch Hochschulen müssen das Wissen und die Fähigkeiten einer Gesellschaft mehren, um aktuelle wie zukünftige gesellschaftliche Herausforderungen zu meistern. (Sailer/Szogs/Stark 2019) Zu solchen Herausforderungen gehört zweifellos auch der Umgang mit Antisemitismen, und eine besondere Bedeutung kommt dabei den Hochschulen zu, die Lehrer:innen aus- und weiterbilden, weil hier durch verantwortungsvolles Lehren, Forschen und öffentliches Handeln Wirkung sowohl in den Hochschulen als auch in den Schulen erwartet werden darf. Hochschulen der Lehrer:innenbildung beeinflussen verschiedenste Aspekte von Schule und Unterricht und können also in der Tat eine führende Rolle in der Weiterentwicklung spielen, wie das Dewey schon vor über hundert Jahren gefordert hat. (Dewey 1904/1992, 310) Sie erforschen das unterrichtliche Geschehen, liefern Erkenntnisse zum unterrichtlichen Angebot und zur Nutzung, ent- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 18 wickeln Lehr- und Lernmaterialien, stehen der Schulpolitik als Ratgeber:innen und Dienstleister:innen zur Verfügung, nehmen Stellung im öffentlichen Diskurs zu Schule und Unterricht und bilden insbesondere Lehrer:innen aus, auf die es bekanntlich besonders ankommt. (Hattie 2003) Professionelle Handlungskompetenz von Lehrerinnen und Lehrern entsteht nach Baumert und Kunter (2006, 481) „aus dem Zusammenspiel (von) • spezifischem, erfahrungsgesättigten deklarativen und prozeduralen Wissen (Kompetenzen im engeren Sinne: Wissen und Können); • professionellen Werten, Überzeugungen, subjektiven Theorien, normativen Präferenzen und Zielen; • motivationalen Orientierungen sowie • metakognitiven Fähigkeiten und Fähigkeiten professioneller Selbstregulation.“ Das Strukturmodell professioneller Kompetenz von Lehrkräften von Baumert und Kunter wurde und wird in vielen deutschsprachigen Studien und Texten genutzt, weil es anschaulich zeigt, welche Einflussfaktoren das Lehrer:innenhandeln und damit auch den Umgang von Lehrpersonen mit Antisemitismus bestimmen. Motivationale Orientierungen Überzeugungen/ Werthaltungen Selbstregulative Fähigkeiten Professionswissen Wissensbereiche (Wissen und Können) Pädagogisches Wissen Fachwissen Fachdidakt. Wissen Organisationswissen Wissensfacetten Abb. 1: Strukturmodell professioneller Kompetenz von Lehrkräften (Baumert und Kunter 2006, 482) © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. Beratungswissen 19 Lehrer:innen sollen zum Beispiel • motiviert sein, Antisemitismus im Unterricht und in der Schule zu verhindern, gegebenenfalls zu erkennen und nötigenfalls zu sanktionieren (Motivationale Orientierung) • sich für ein offenes und an demokratischen Spielregeln ausgerichtetes Gesprächsklima in Schule und Unterricht einsetzen und Opfer von Antisemitismus schützen wollen (Überzeugungen/Werthaltungen) • die eigene Sozialisation, ihre Haltungen, Werte und Prägungen reflektieren und die eigenen Gefühle sowie ihr familiäres Erbe im Umgang mit Antisemitismus klären (selbstregulative Fähigkeiten) • wissen, was Jugendliche zu antisemitischen Äußerungen veranlassen kann und was dies bei Opfern auslöst (pädagogisches Wissen) • über ein elementares Basiswissen zu Antisemitismus und Holocaust Distortion verfügen, zum Beispiel Wissen zur Geschichte des Antisemitismus und zu den Erscheinungsformen (Fachwissen) • wissen, wie im Unterricht nicht-antisemitisches Sprechen eingeübt werden kann und wie Begegnungen mit Jüdinnen/Juden und der jüdischen Kultur im Unterricht gut vorbereitet und umgesetzt werden können (fachdidaktisches Wissen) • die Prozessabläufe innerhalb ihrer Institution kennen, die bei antisemitischen Vorfällen ausgelöst werden (Organisationswissen) • in der Lage sein, mit Eltern von jüdischen und nicht-jüdischen Kindern über antisemitische Vorfälle zu reden (Beratungswissen 4. Exemplarischer Einblick zum Umgang mit Antisemitismus im Bildungsbereich: Status quo und Leerstellen Solche Zielformulierungen und eine Reihe von Handlungsempfehlungen, die auf Prävention und Bekämpfung von Antisemitismus abzielen, sind in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum (und darüber hinaus) seitens Wissenschaft, Politik und internationalen Organisationen veröffentlicht worden. Mehrere Studien und Expertisen nahmen dabei besonders Schulen in den Blick. Durch wissenschaftliche, mediale und zivilgesellschaftliche Erkenntnisse sind Antisemitismen im Bildungswesen auch für Nichtbetroffene zuletzt wahrnehmbarer geworden. Dies führte zweifellos zu einem gestiegenen Problembewusstsein, aber wesentliche Empfehlungen und Forderungen scheinen im Alltag der Schulen und Hochschulen noch nicht angekommen zu sein. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 20 Bei den bisher publizierten Handlungsempfehlungen werden zumeist Erscheinungsformen und Funktionen des Antisemitismus erläutert sowie Maßnahmen der Prävention und Intervention aufgezeigt. Pädagogische Leitlinien sollen sensibilisieren und als handlungsleitende Orientierungshilfen dienen, der Bildung von antisemitischen Einstellungen frühzeitig entgegenwirken, diese nachhaltig abbauen und außerdem Instrumente liefern, um auf antisemitische Vorfälle angemessen zu reagieren. Antisemitismuskritische Bildungsarbeit in schulischen und außerschulischen Zusammenhängen ist ein verhältnismäßig junges pädagogisches Anliegen. Es stellt hohe Anforderungen an Pädagoginnen und Pädagogen, die stets gefordert sind, sich zu positionieren. Der komplexe Charakter des Antisemitismus macht spezifisches Wissen und Kompetenzen notwendig, damit Lehrende befähigt sind, sich dem Thema proaktiv mit Selbstvertrauen und Expertise zu stellen. Den Leitlinien der vierteiligen Publikation „Addressing Anti-Semitism in Schools“ (UNESCO/OSCE 2020, 9f.) zufolge erfordert die Auseinandersetzung mit Antisemitismus, Intoleranz und Vorurteilen im Unterricht durch „self-knowledge“, „content knowledge“ und „pedagogic knowledge“. Wissen und Reflexion über das eigene Selbst bezieht sich sowohl auf das persönliche als auch auf das berufliche Selbst und meint Überzeugungen, Motivationen, Werte, aber auch Rollen und Verantwortlichkeiten der Lehrkräfte sowie deren Fähigkeit, diese in ihrer Praxis zu reflektieren. Inhaltliches Wissen bezieht sich auf die Kenntnis und das Verständnis der zu behandelnden Themen sowie der Möglichkeiten, wie sich diese Phänomene in Bildungseinrichtungen, in der Gesellschaft insgesamt und in der öffentlichen Debatte manifestieren können. Pädagogisches Wissen umfasst Kenntnisse über Lehrmethoden und -ansätze sowie Lernstrategien und -prozesse. Diese von der UNESCO/OSCE präzisierten Voraussetzungen finden sich in ähnlicher Weise auch in anderen Handlungsleitlinien für eine antisemitismuskritische Bildungsarbeit. Liegt der Fokus speziell auf inhaltlichem Wissen, so scheint etwa folgender Vorschlag überzeugend: „Antisemitismuskritische Bildungsarbeit thematisiert Antisemitismus und seine jeweiligen Funktionen im historischen Längsschnitt; differenziert verschiedene Formen von Antisemitismus; konzentriert sich einerseits auf individuell-psychische Ursachen von Antisemitismus (individueller Zugang); thematisiert andererseits Antisemitismus als soziales und strukturelles Phänomen, also als gesellschaftliches Machtverhältnis (struktureller Zugang).“ (Rajal 2018, 141) In nahezu allen Empfehlungen findet sich die Feststellung, dass der Unterricht über den Holocaust – seit Jahrzehnten fester Bestandteil der Schullehrpläne vieler Länder, wenn auch in sehr unterschiedlichem Ausmaß – keinen © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 21 geeigneten Ersatz für Bildung über Antisemitismus darstellt. Wird das Thema Antisemitismus ausschließlich im Rahmen der Wissensvermittlung über den Holocaust bearbeitet, könnten Schüler:innen daraus ableiten, dass Antisemitismus in der Gegenwart nicht mehr existiert, und/oder seine aktuellen Erscheinungsformen übersehen oder missverstehen (vgl. u. a. UNESCO/OSZE 2019, 49f.; siehe auch das Interview mit Stefan Schmid-Heher, S. 204 ff. in diesem Band). Vorgeschlagen wird eine stärkere curriculare Verankerung von Antisemitismus als Thema im Unterricht – und nicht allein im Geschichtsunterricht (im Zusammenhang mit dem Holocaust). Eine oft vorgebrachte Empfehlung für eine von Diversität geprägte Lernumgebung ist eine Verknüpfung einer antisemitismuskritischen mit einer rassismuskritischen und diskriminierungssensiblen Perspektive. Weil diese Phänomene gemeinsam im Klassenzimmer und als konkrete Erfahrung der Lernenden auftauchen, sollten sie demnach nicht isoliert betrachtet werden – trotz der signifikanten Unterschiede: Samuel Salzborn etwa beschreibt in diesem Band Antisemitismus als „eine Verbindung aus Weltanschauung und Leidenschaft, eine grundlegende Haltung zu Welt“, […] der „als kognitives und emotionales System auf einen weltanschaulichen Allerklärungsanspruch […]“ abziele und „als Weltbild ein allumfassendes System von Ressentiments und (Verschwörungs-)Mythen“ biete, „die in ihrer konkreten Ausformulierung wandelbar waren und sind.“ (S. 197) Sebastian Winter (S. 216) benennt Antisemitismus als „konformistische Rebellion“ und argumentiert: „Antisemitismus ist nicht nur ein aufzuklärendes Vorurteil, eine einfache Welterklärung für denkfaule Leute, sondern – so hat Jean-Paul Sartre es auf den Begriff gebracht – eine ‚Haltung‘. Diese schließt die affektive Ebene mit ein. Gefragt werden muss: Warum ‚will‘ jemand eine antisemitische Haltung einnehmen? Was bringt diese Haltung ihm:ihr affektiv?“ (S. 217) Für beide in vorliegendem Buch zu Wort kommenden Wissenschaftler unterscheidet sich der Antisemitismus in seiner Konstituierung grundlegend von anderen Diskriminierungsformen. Bei der Bearbeitung unterschiedlicher Ausgrenzungs- und Verfolgungserfahrungen muss keine Entweder-oder-Entscheidung oder Hierarchisierung getroffen werden. Basis sollten stets solide Definitionen der behandelten Phänomene sein. Im Rahmen der Prävention und Intervention werden in den diversen Veröffentlichungen Bildungs- und Handlungsmodelle vorgeschlagen, die sich als Dreischritt „Wahrnehmen – Benennen – Handeln“ (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg u. a. 2019) zusammenfassen lassen können: das Erkennen antisemitischer Erscheinungsformen; das Benennen von und das Reagieren auf antisemitische/n Vorfälle/n (unabhängig von der Präsenz von © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 22 Jüdinnen und Juden), der Schutz von Betroffenen und die Nachsorge nach Vorfällen; geschützte Lernräume („safe spaces“), in denen vertrauens- und respektvoll, offen und frei gesprochen werden kann und unterschiedliche Perspektiven und persönliche Bezüge integriert werden können. In bereits publizierten Empfehlungen besteht Konsens, dass Schulen in ihrem gesellschaftspolitischen Auftrag, Kinder und Jugendliche in Demokratie und Menschenrechten zu bilden, besondere Bedeutung zukommt, ebenso wie darüber, dass der Sozialraum Schule selbst kein diskriminierungsfreier Raum ist und Antisemitismen, Rassismen und andere Formen von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit auch hier auftreten und reproduziert werden (vgl. das Interview mit Sybille Hoffmann, S. 132 ff.). Bei der Entwicklung und Implementierung von bildungspolitischen Maßnahmen könnte dieses Spannungsverhältnis als Hürde oder Risiko gesehen werden, doch sind die Potenziale von Schulen, in denen gegen Antisemitismus gebildet wird, längst nicht ausgeschöpft. In der Schule lässt sich lernen, wie Prozesse der Wissensaneignung ablaufen, wie Themen und die mit ihnen verbundenen Botschaften mit den bereits vorhandenen Kompetenzen der Lernenden zusammengebracht und zu „Geschichtsgeschichten“ umgemodelt werden. Gerade diese trivialen Geschichtsgeschichten bieten vielfältige Möglichkeiten zur Reflexion und können zum Ausgangspunkt von Lernprozessen über Antisemitismen werden – im Regelunterricht, in fächerübergreifenden Projekten, gemeinsam mit außerschulischen Expert:innen. Werden in den verschiedenen gesichteten Empfehlungen in erster Linie Schulen und Lehrkräfte in der schulischen Praxis in den Blick genommen, so beziehen sich diese zumeist in weit geringerem Ausmaß auf Orte der Lehrpersonenbildung und auf Lehrkräfte in der Aus- und Weiterbildung. Hier schließt der vorliegende Band eine Lücke und nimmt die Leitlinien, die bislang zu antisemitismuskritischen Handlungskompetenzen im Rahmen der Lehrpersonenbildung vorliegen, zum Ausgangspunkt beziehungsweise ergänzt und entwickelt diese weiter. Welche Bereiche der Qualifizierung und Professionalisierung von Lehrkräften dafür in Betracht gezogen, entwickelt und/oder modifiziert werden müssen, ist eine der an die in diesem Buch versammelten Expert:innen gerichteten Fragen. Insgesamt herrscht unter den Verfasser:innen der bisher publizierten Handlungsempfehlungen und auch in den Anregungen der hier zu Wort kommenden Wissenschaftler:innen Einigkeit darüber, dass beim Bilden über und gegen Antisemitismus alle schulischen Akteur:innen gefordert sind zu handeln: Lehrkräfte, Betreuer:innen, Schulleitungen, Schüler:innen, Eltern, Personen in der Lehrpersonenbildung und -professionalisierung, Zuständige in © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 23 den Bildungsbehörden und Ministerien. Bei der Suche nach schlüssigen Gesamtkonzepten überzeugt der „whole school approach“ der OSCE: Die Bekämpfung des Antisemitismus durch Bildungsarbeit erfordere ganzheitliche Ansätze, „die mit einer breiten Palette von Aktivitäten unter Einbeziehung des gesamten Schulpersonals und mit Erwägungen in Bezug auf schulpolitische Aspekte sowie den Inhalt und die Qualität der Lehrpläne und des Unterrichts einhergehen. Eine derart holistische Methode zum Aufbau einer Schule, in der die Achtung der Menschenrechte das Ethos der gesamten Bildungseinrichtung durchdringt, ist die Umsetzung eines ganzheitlich orientierten, schulumfassenden Ansatzes („whole-school approach“). Das Internationale Büro für Bildung der UNESCO beschreibt, dass diesen Ansatz Aktivitäten charakterisieren, die die Bedürfnisse der Lernenden, Lehrkräfte und des dazugehörigen Umfelds nicht nur in den Lehrplänen, sondern in der gesamten Schule und Lernumgebung berücksichtigen.“ (UNESCO/OSZE 2019, 57f.) Dieser Band denkt diesen Ansatz für Hochschulen, die Lehrer:innen ausund weiterbilden, weiter, indem aus den Interviews mit den Expert:innen Thesen und Handlungsempfehlungen verdichtet werden, die auf eine Qualifizierung und Professionalisierung von Lehrpersonen mit umfassenden Kompetenzen für eine pädagogisch effektive und nachhaltige Bildungsarbeit gegen Antisemitismen abzielen. 5. Zur Vorgehensweise des Projektes Die am Projekt Beteiligten aus den verschiedenen Institutionen haben sich für eine explorative Vorgehensweise entschieden. In einem ersten Schritt haben die Herausgeber:innen des vorliegenden Bandes eine Literaturrecherche durchgeführt und die vielen Beiträge zum Thema geordnet und gruppiert. Parallel dazu wurden Handlungsempfehlungen und -richtlinien gesammelt und studiert. Dadurch verdeutlichten sich die Problemzonen von Antisemitismus im Bildungsbereich. In einem zweiten Schritt haben die Projektmitarbeitenden die unterschiedlichen Bildungslandschaften in Deutschland, Österreich und der Schweiz dokumentiert, ausgewählte länderspezifische Curricula der Lehrer:innenbildung analysiert sowie die rechtlichen Grundlagen zum Umgang mit Antisemitismus verglichen. Dies diente dazu, die unterschiedlichen strukturellen Rahmenbedingungen der drei Länder in den Blick zu bekommen. Aus den Analysen der Problemsituationen und der strukturellen Rahmen- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 24 bedingungen ergab sich eine Reihe von Fragen, die mittels einer modifizierten Delphi-Methode (Häder 2014) Expert:innen aus verschiedenen Disziplinen und Diskurszusammenhängen in Deutschland, Österreich und der Schweiz unterbreitet wurden. Mit dem gewählten systematischen, mehrstufigen Befragungsverfahren wurden Möglichkeiten der Prävention und Intervention sowie Leerstellen hinsichtlich Antisemitismen im Bildungsbereich identifiziert. Dies geschah in einem dritten Schritt zuerst mündlich in Workshops mit Teilnehmenden vor Ort sowie mit externen Zuschaltungen über Video. Die Inputs und die Gespräche wurden protokolliert und gemeinsam vor Ort zu Thesen und Fragen verdichtet, insbesondere um Handlungsmöglichkeiten in der Lehrer:innenbildung in Bezug auf die eingangs erwähnten Themen zu erkennen, um weitere Leerstellen zu identifizieren und auch, um mögliche künftige Entwicklungen zu antizipieren. Mit den formulierten Fragen wurden in einem vierten Schritt Einzel- und Gruppeninterviews mit ausgewählten Expert:innen durchgeführt und protokolliert. Dabei hat das Herausgeber:innen-Team die Expert:inneninterviews fortlaufend analysiert und darauf aufbauend die im dritten Schritt formulierten Thesen zu Hypothesen weiterentwickelt sowie die Fragen revidiert und geschärft. Die Ergebnisse dieser Sondierungen wurden in einem fünften Schritt im Rahmen eines Critical-Friends-Workshops diskutiert und evaluiert. Auf dieser Basis wurde schließlich der vorliegende Interviewleitfaden erstellt. In einem sechsten Schritt wurden dann diese Fragen 23 Expert:innen schriftlich unterbreitet. Die Auswahl der Expert:innen orientierte sich an den beiden Grundsätzen „Themenkonvergenz“ und „Expertisedivergenz“. Die Beiträger:innen sollten durch ihre bisherige Arbeit bzw. durch ihre Publikationen einschlägig und gleichzeitig in den drei Ländern in unterschiedlichen Arbeitsfeldern und Disziplinen tätig sein, etwa in den Erziehungswissenschaften, in der Religionspädagogik, der Geschichtsdidaktik, der Politischen Bildung, der Grundschul- oder der Berufspädagogik beziehungsweise in den Geschichts-, Religions-, Sprach-, Politik-, Medien- oder Gesellschaftswissenschaften. Dieses Auswahlprozedere führte dazu, dass im vorliegenden Band Autor:innen versammelt sind, die zum Teil bereits an den ersten Workshops teilnahmen, und andere, die mit den schriftlichen Fragen erst im sechsten Schritt konfrontiert wurden. Der Aufbau der vorliegenden Publikation orientiert sich an der Bandreihe „Unterrichtsqualität: Perspektiven von Expertinnen und Experten“ (Reinhardt u. a. 2021). Allen Expert:innen wurden in dieser Bandreihe und werden in der vorliegenden Publikation dieselben Fragen gestellt. Diese Strukturierung ermöglicht den Interessierten unterschiedliche Lesezugänge, zum Beispiel ent- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 25 lang der einzelnen Fragen oder nach Fachdisziplinen. Wie die Autor:innen innerhalb der vorgegebenen Gesamtzeichenzahl die Fragen gewichten, war ihnen überlassen, was zu einer gewissen Varianz der Beiträge geführt hat. Dieser strukturierte, interdisziplinäre und länderübergreifende Zugang hebt den Band von bisherigen Veröffentlichungen im Themenfeld ab. Hier werden theoretische Überlegungen, Erfahrungen aus der Praxis und empirische Befunde gut verständlich gebündelt und zur Diskussion gestellt. 6. Fragen und Interessen des Projektteams Antisemitismen äußern sich im gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Kontext in unterschiedlichen Formen, können teils offen ausgedrückt werden, teils zeigen sie sich auch als Code: Sie werden dann erst bei genauerem Hinund Zuhören erkennbar, treten eher verdeckt und subtil hervor, sind nur „zwischen den Zeilen“ herauszulesen, bleiben dabei vor allem mit emotionalen Stimmungslagen verbunden und bilden, wie Samuel Salzborn und Alexandra Kurth hervorheben, in ihrer Verbindung aus „Weltanschauung und Leidenschaft“ ein „kognitives und emotionales System“, das in seinen Ausdrucksformen stets wandelbar war und ist. (vgl. Salzborn/Kurth 2019) Antisemitische Einstellungen äußern sich nicht nur dadurch, was gesagt, sondern auch, wie es gesagt wird, in welchem Kontext und mit welcher Haltung. Besonders im schulischen und akademischen Bereich sind solche Codes, sind unterschwellige (Vor-)Urteile und Ressentiments, schlichte Typisierungen oder „mal so dahingesagte“ Klischees weit häufiger anzutreffen als eine offen zur Schau getragene Feindeshaltung. Zwar stellen Schulen wie Hochschulen einerseits Räume dar, in denen gesellschaftliche, kulturelle und politische Stimmungen wiederkehren, in ihnen erlebt werden und sich im sozialen Miteinander vertiefen (können). Andererseits bleibt das Milieu Schule/Hochschule immer auch eine Bewertungssituation: Schüler:innen und Studierende äußern sich im Klassenzimmer/Seminarraum nicht immer offen zu ihren persönlichen Ansichten – im Gegensatz beispielsweise zur Anonymität, die das Internet gewährleistet, oder zum geschützten Raum innerhalb der eigenen Peergroup. Sie geben in Prüfungssituationen nicht all ihre Gedanken und Gefühle preis, schämen sich vielleicht in Diskussionen, bestimmte Auffassungen eindeutig auszusprechen, sind verlegen, wo sie diese selbst nicht richtig einordnen, fassen und verstehen können. Gerade hier lassen sich antisemitische Komplexe erst auf den zweiten Blick erkennen, zeigen sich antisemitische Haltungen beispielsweise in Form © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 26 von Auschwitz-Witzen, historischer Relativierung, subtiler Herabsetzung, innerhalb von Verschwörungskontexten oder auch im Sozialverhalten gegenüber jüdischen Mitschülerinnen und Mitschülern, wo diese gemieden werden, wo heimlich über sie geredet wird, wo sich Grüppchen bilden und soziale Hierarchien, manchmal schon im Kindergarten und Vorschulalter, entstehen. Diesbezüglich gelten unsere beiden ersten Fragen (1-2) den persönlichen Erfahrungen, die unsere jeweiligen Expert:innen innerhalb ihrer Bildungseinrichtung gemacht haben und dort täglich machen: Wie treten ihnen antisemitische Haltungen entgegen? Äußern sie sich eher allgemein, beispielsweise im Kontext von generellen Diskriminierungen gegenüber Gruppen, die scheinbar nicht zur „Mehrheitsgesellschaft“ gehören, oder zeigen sie sich konkreter, beispielsweise im Bereich von gezielter Holocaustverzerrung und -verharmlosung oder in der verstärkten Abneigung, sich mit dem Thema Antisemitismus in Geschichte und Gegenwart weiterhin auseinanderzusetzen? Entscheidend dabei ist (3) die Frage, wie mit dem Thema Antisemitismus sinnvoll umgegangen werden kann, um einerseits seine spezifische Besonderheit, seine historische Singularität und die Brisanz seiner aktuellen Erscheinungsformen sichtbar zu machen und es andererseits nicht als isoliertes Phänomen zu betrachten, es also nicht von seinen sozialen, politischen und kulturellen Dimensionen zu trennen. Welche Möglichkeiten eröffnet hier ein entsprechendes Framing und eine sinnvolle Kontextualisierung? Welche (neueren) Ansätze erlauben dabei auch erweiterte didaktische Konzepte, zum Beispiel innerhalb der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit; aus der Perspektive von Rassismen oder der Intersektionalität, durch die eine ergänzende Behandlung mit Formen von Sexismus, Homophobie, Klassismus etc. möglich wird; durch eine historische Kontextualisierung des Holocaust in Bezug auf Kolonialismus, Imperialismus sowie in Bezug auf politische/geopolitische Fragen im Nahen Osten; hinsichtlich religiöser Motive und der Frage nach dem kulturbildenden wie sozio-politischen Stellenwert, den diese noch immer haben (können); oder auch – und dies tritt gegenwärtig immer häufiger in Erscheinung – hinsichtlich antisemitischer Einstellungen, verbaler Abwertungen und Verschwörungsmythen, die sich auf digitalen Plattformen und in sozialen Netzwerken wiederfinden: und dies nicht nur in den radikalen Nischen des Internets, sondern zunehmend auch im Mainstream öffentlicher Diskursräume, auf Plattformen also, die gerade von jungen Menschen täglich konsumiert und frequentiert werden. Solch historisch gesehen relativ junge Erscheinungs- und Verbreitungsformen stellen auch die Schule vor neue Herausforderungen: Wie gehen Lehrer:innen mit diesen Problemen um, wie können sie darauf angemessen reagieren, und wie © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 27 können sie die digitale Welt, mit der ja nicht nur technologische Veränderungen verbunden sind, sondern an die auch soziale und kulturelle Wandlungsprozesse geknüpft sind, besser in den Unterricht integrieren? Wie können sie hier für mehr Aufklärung, Bewusstheit, Sensibilisierung sorgen? Auch dabei könnten sich Kontextualisierungen als sinnvoll erweisen, können „geframte“ Bildungsformate hilfreich sein, wenn es darum geht, mediale, politische, ethische und kommunikative Kompetenzen einander zu vermitteln und stärker zu verbinden, um einen innovativen und integrativen Unterricht der Zukunft zu gestalten. Daran schließen sich (4, 5, 7) insbesondere die Fragen an, welche Schulfächer und welches Lernalter sich für welches didaktische Format als geeignet erweisen und wie angehende Lehrer:innen die Formate zielführend einsetzen können. Ferner auch, wie dabei eine sinnvolle Einbettung in entsprechende Lehrpläne und Curricula vorgenommen werden kann und nach welchen Kriterien diese gegebenenfalls modifiziert und angepasst werden müssen, um hier mehr Kohärenz zu erzielen. Dies betrifft auch perspektivische Lehr- und Lernkonzepte, die interdisziplinär und explorativ angelegt sind, dabei also den – häufig sehr engen – Rahmen der fachspezifischen und -didaktischen Methodik ergänzen, insofern auch auf der Ebene der Persönlichkeitsbildung integrierend und vertiefend wirken können. Derartige Lehr- und Lernbausteine dienen insbesondere auch der präventiven Arbeit, um antisemitische Haltungen und Vorurteile nachhaltig abzubauen, ihrer Bildung bereits frühzeitig entgegenzuwirken. Präventionsarbeit und wirksame Vorbeugung gegen Antisemitismus ist wohl der maßgebliche Faktor innerhalb der schulischen und gesellschaftlichen Bildungsarbeit. Inwiefern können dabei entsprechende Handreichungen, Empfehlungen und Verlautbarungen aus Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit eine Unterstützung sein? Wo geben sie Hilfestellungen, um Antisemitismus in der Vielzahl und Vieldeutigkeit seiner Ausdrucksformen besser erkennen und einordnen zu lassen? Und wo dienen sie auch im Umgang mit konkreten Formen von Antisemitismus als Handlungsanweisung und Ratgeber für entsprechende Interventionsmöglichkeiten? Diesbezüglich haben wir (6) insbesondere die Möglichkeiten der Intervention bei konkreten Vorfällen von Antisemitismus in den Blick genommen. Als zielführend haben sich in den letzten Jahren insbesondere Praktiken eines angemessenen Case-Managements erwiesen: Welche Erfahrungen haben die Expert:innen innerhalb ihrer jeweiligen Bildungseinrichtung damit gemacht und welche Erwartungen knüpfen sie daran? Wie bewerten sie neue Konzepte, beispielsweise innerhalb von Schulen und Hochschulen gezielte Fachstellen zu etablieren und entsprechende Fachleute einzusetzen, die sich mit den Themen © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 28 Diskriminierung, Gleichstellung, Inklusion und Teilhabe beschäftigen, die sowohl auf struktureller Ebene für mehr Gleichbehandlung sorgen wie auch im Einzelfall unterstützend, fördernd und vermittelnd wirken können? Schulen wie Hochschulen bleiben essenzielle Bildungsorte, um Wissen über Diskriminierung zu vermitteln. Entscheidend für eine nachhaltige und sinnvoll wirkende Bildungsarbeit bleibt hier vor allem die Person der angehenden Lehrerin/des angehenden Lehrers. Damit verbunden sind zum einen die fachlichen Fähigkeiten, die auch fachübergreifende Kenntnisse über historische Strukturen, gesellschaftliche Entwicklungslinien und kulturelle Narrative beinhalten. Zum anderen die persönlichen Fähigkeiten und Qualitäten der Lehrperson: das sog. „Berufsethos“, mit dem Engagement und Interesse verbunden sind, an das aber auch Sensibilität, Aufmerksamkeit und eine entsprechende „Wahrnehmungskompetenz“ geknüpft sind, insbesondere dann, wenn es um diskriminierendes Verhalten von Schüler:innen geht. Damit schließen (7) jene Fragen an, welche fachlichen Befähigungen Lehrpersonen mitbringen müssen, um Antisemitismen in ihrer Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit zu erfassen sowie im Umkehrschluss auch didaktisch vermitteln zu können. Welche motivationalen Voraussetzungen und welches „Professionsethos“ sind entscheidend, um als Lehrer:in selbstreflexiv und sensibel zu bleiben: im Umgang mit den eigenen Annahmen wie auch im Umgang mit den heterogenen Ansichten der Schüler:innen? Diverse kulturelle, familiäre, mediale und soziale Einflüsse der Schüler:innen dabei zunächst einmal als solche zu sehen und zu akzeptieren, bilden eine entscheidende Grundlage für die konstruktive Auseinandersetzung mit Vorurteilen und (Abwehr-)Reflexen. Die Ansichten von Schülerinnen und Schülern also ernst zu nehmen, mit ihnen in Diskussionen zu gehen, sie mit ihren Meinungen zu konfrontieren, sie zu irritieren und Haltungen dadurch sukzessive zu dekonstruieren, bleibt oft wirksamer, als stillschweigend darüber hinwegzugehen oder mit sofortiger Sanktion zu drohen und damit die Auseinandersetzung bereits im Kern abzuwürgen. Wie wichtig und hilfreich können hier insbesondere aktuelle Ansätze aus dem Bereich der Sozial- und Entwicklungspsychologie sein, die sich mit Gruppenverhalten und -dynamiken, mit der Bildung von Identität(en), mit Abgrenzung und Einbezug, Kontrolle und Macht, Autonomie- und Pluralitätsfähigkeit auseinandersetzen? Und welche Möglichkeiten sehen die Expert:innen, derartige Konzepte in den schulischen wie akademischen Bildungsalltag stärker zu implementieren? Hier haben wir insbesondere in der letzten Frage (8) Raum gelassen, damit die Expert:innen eigene Hoffnungen, Ziele und Perspektiven formulieren können, auch Befürchtungen und Herausforderungen äußern, die sie in der in- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 29 klusiven Ausgestaltung der Lehr- und Lernformate sehen, vielleicht auch in der Bündelung der verschiedenen kulturellen, sozialen, politischen und ökonomischen Interessen, mit denen wir in der Gesellschaft der Zukunft immer mehr konfrontiert werden. Sichtbar bleibt bei allen Herausforderungen, bei den Chancen wie auch bei den neuen Aufgaben, vor allem eines: Schulen wie Hochschulen sind nicht neutrale Lern- und Ausbildungsorte, sondern bleiben persönliche Bildungs- und Begegnungsstätten. Ein offener, vertrauensvoller Umgang ist die Basis nicht nur für Wissen und gelingenden Informationsaustausch, sondern auch für ein tieferes Verstehen gesellschaftlicher Zusammenhänge, für soziale Wertebildung und für das Erlernen eines demokratiefähigen Miteinanders. Bildungsorte haben also über die spezifische Ausrichtung und Fachdisziplin, über das jeweilige Schulfach hinaus, auch eine gesellschaftliche Verantwortung zu erfüllen: Sie sollen im besten Falle „aufklären“, d. h. Schüler:innen und Studierende zum kritischen Denken befähigen, zur kontinuierlichen Selbstreflexion ermutigen und damit zu einer inklusiven, demokratischen Wertebildung beitragen. Literatur ANTISEMITISMUS 2020. Ergebnisse der österreichrepräsentativen Erhebung. Online: www.antise- mitismus2020.at (Zugriff: 28.12.21). ANTISEMITISMUS Meldestelle (2021): 1. Halbjahr 2021. Online: https://www.antisemitismus- meldestelle.at/berichte (Zugriff: 7.12.21). BAUMERT, Jürgen/Kunter, Mareike: Stichwort: Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 9. Jg., Heft 4/2006, S. 469-520. BEAUFTRAGTER der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitis- mus (2021): IHRA-Definition. Online: https://www.antisemitismusbeauftragter.de/Webs/ BAS/DE/bekaempfung-antisemitismus/ihra-definition/ihra-definition-node.html (Zugriff: 28.12.21). BENZ, Wolfgang (2004): Was ist Antisemitismus? München. BENZ, Wolfgang (2006): Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Online: https://www.bpb.de/ politik/extremismus/antisemitismus/37948/19-und-20-jahrhundert (Zugriff: 1.12.21). BENZ, Wolfgang (2007): Die Protokolle der Weisen von Zion. Die Legende von der jüdischen Weltverschwörung. München. BUNDESKANZLERAMT (2021): Kampf gegen Antisemitismus. Antisemitismus bekämpfen – jü- disches Leben schützen. Online: https://www.bundeskanzleramt.gv.at/themen/kampf-gegenantisemitismus.html (Zugriff: 7.12.21). © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 30 BUNDESMINISTERIUM der Justiz (2021): Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität. Online: https://www.bmj.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/ Bekaempfung_Rechtsextremismus_Hasskriminalitaet.html (Zugriff: 28.12.21). BUNDESRAT (2021): Bundesrat verabschiedet Bericht zur Arbeitsdefinition von Antisemitis- mus. Online: https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msgid-83838.html (Zugriff: 28.12.21). BUNDESZENTRALE Politische Bildung (2021): Dossier Antisemitismus. Online: https://www.bpb. de/politik/extremismus/antisemitismus/37966/aktuelle-phaenomene-stroemungen-debatten (Zugriff: 28.12.21). CHERNIVSKY, Marina/Hartmann, Deborah/Klammt, Beate/Mkayton, Noa/Rachow, Esther/ Scheuring, Jana und Wiegemann Romina (2021): Antisemitismus? Gibt’s hier nicht. Oder etwa doch? Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment / Yad Vashem. DEJURE Rechtsinformationssysteme: Strafgesetzbuch § 130 Volksverhetzung. Online: https://deju- re.org/gesetze/StGB/130.html (Zugriff: 28.12.21). DEWEY, John (1992): Die Beziehung zwischen Theorie und Praxis in der Lehrerbildung (1904) In: Beiträge zur Lehrerbildung, 10/1992, S. 293-310. Online: https://www.pedocs.de/volltexte/2017/13241/pdf/BZL_1992_3_293_310.pdf (Zugriff: 22.12.21). DREIER, Werner (2021): Ein Leserbrief, eine Definition und eine Strategie. In: Antisemitismus als Code. Forschung-Intervention-Prävention, S. 40-48. EDTMAIER, Bernadette (2019): Länderstudie von Österreich. In: Embacher, Helga/Edtmaier, Ber- nadette/Preitschopf, Alexandra: Antisemitismus in Europa. Fallbeispiele eines globalen Phänomens im 21. Jahrhundert. Wien. EDTMAIER, Bernadette (2020): Antisemitismus in Österreich seit 1945. Online: https://www.bpb. de/politik/extremismus/antisemitismus/321642/oesterreich (Zugriff: 28.12.21). FEDLEX: Art. 261 bis 282. Online: https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/54/757_781_799/ de#a261bis (Zugriff: 28.12.21). FEND, Helmut (2011): Die sozialen und individuellen Funktionen von Bildungssystemen: Enkulturati- on, Qualifikation, Allokation und Integration. In: Hellekamps, Stephanie/Plöger, Wilfried/Wittenbruch, Wilhelm (Hg.): Schule. Handbuch der Erziehungswissenschaft 3. Paderborn u.a., S. 41–53. HÄDER, Michael (2014): Delphi-Befragungen. Ein Arbeitsbuch. Wiesbaden. HATTIE, John (2003): Teachers Make a Difference. What is the research evidence? Paper presented at the Building Teacher Quality. Melbourne. Online: http://research.acer.edu.au/research_conference_2003/4/ (Zugriff: 23.12.21). JUSLINE: § 283 StGB. Online: https://www.jusline.at/gesetz/stgb/paragraf/283 (Zugriff: 28.12.21). MAASER, Michael/Gerrit, Walther (Hg.) (2011): Bildung. Ziele und Formen, Traditionen und Sys- teme, Medien und Akteure. Stuttgart, Weimar. MINISTERIUM für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg, Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (Hg.) (2019): © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 31 Wahrnehmen – Benennen – Handeln. Handreichung zum Umgang mit Antisemitismus an Schulen – Für Lehrkräfte und Schulleitungen. Stuttgart. PFAHL-TRAUGHBER, Armin (2015): Antizionistischer Antisemitismus, antiimperialistische Isra- elfeindlichkeit und menschenrechtliche Israelkritik. Kriterien zur Differenzierung und Einordnung von Positionen im Nahostkonflikt. In: Schüler-Springorum, Stefanie (Hg.): Jahrbuch für Antisemitismusforschung 24. Berlin, S. 293-315. RAJAL, Elke (2018): Mit Bildung gegen Antisemitismus? Möglichkeiten und Grenzen antisemitis- muskritischer Bildungsarbeit. In: SWS-Rundschau 58. Jg./2, S. 132-152. REINHARDT, Volker/Rehm, Markus/Wilhelm, Markus (Hg.) (2021): Wirksamer Fachunterricht. Eine metaanalytische Betrachtung von Expertisen aus 17 Schulfächern. Baltmannsweiler. RENSMANN, Lars (2004): Demokratie und Judenbild. Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden. SAILER, Klaus/Szogs, Günther/Stark, Wolfgang (2019): Hochschule der Zukunft als Resonanz- raum der Gesellschaft. Thesen zur Hochschule der Zukunft, Arbeitspapier. München. SALZBORN, Samuel/Kurth, Alexandra (2019): Antisemitismus in der Schule. Erkenntnisstand und Handlungsperspektiven. Wissenschaftliches Gutachten. Berlin/Gießen. Online: https://www. tu-berlin.de/fileadmin/i65/Dokumente/Antisemitismus-Schule.pdf (Zugriff: 15.9.21). SCHOEPS, Julius H. (2012): Die Juden als konstantes Ärgernis? Christlicher Antijudaismus als historisches, psychologisches und politisches Phänomen. In: Botsch, Gideon/Glöckner, Olaf/ Kopke, Christoph/Spieker, Michael (Hg.): Islamophobie und Antisemitismus – ein umstrittener Vergleich. Berlin-Boston, S. 107–118. SCHWEIZERISCHER Israelitischer Gemeindebund SIG (2021): Antisemitismusbericht für die Deutsch- schweiz 2020. Online: https://www.swissjews.ch/de/antisemitismus/berichte/ (Zugriff: 7.12.21). SCHWEIZERISCHER Israelitischer Gemeindebund SIG (2021b): SIG begrüsst Anerkennung der IHRA-Definition durch den Bund. Online: https://www.swissjews.ch/de/news/sig-news/ anerkennung-ihra-definition-bundesrat/ (Zugriff: 28.12.21). SIGEL, Robert (2020): Zur Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der schulischen Bildung. In: Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte, Heft 1/2020, S. 33-41. STIFTUNG gegen Rassismus und Antisemitismus und Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz (2021): Rassismus in der Schweiz 2020. Black Lives Matter, Corona und andere Trigger. Online: https://www.gra.ch/einschaetzung/ (Zugriff: 7.12.21). UNABHÄNGIGER Expertenkreis Antisemitismus (2017): Antisemitismus und Deutschland – ak- tuelle Entwicklungen. Online: https://www.bmi.bund.de/DE/themen/heimat-integration/gesellschaftlicher-zusammenhalt/expertenkreis-antisemitismus/expertenkreis-antisemitismusnode.html (Zugriff: 01.12.21). UNESCO/OSZE (2019): Mit Bildungsarbeit gegen Antisemitismus. Ein Leitfaden für politische Entscheidungsträger:innen. Warschau, Polen. UNESCO/OSCE (2020): Addressing Anti-Semitism in Schools: Training Curricula, 4 parts. Warsaw, Poland. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 32 © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 33 Interviews © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 34 © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 35 JULIA BERNSTEIN Die Reflexion eigener Emotionen, die Überlegung, woher das Unbehagen, die eigene Scham und die Schuldgefühle kommen, sind notwendig, um gegen Antisemitismus zu handeln 1 Gibt es in Ihrem Fachbereich Berührungspunkte mit Antisemitismus? Im hochschulischen Bereich, als Mikrokosmos und Spiegel der Gesellschaft, ist Antisemitismus genauso wie in allen anderen Institutionen wiederzufinden. Dieselben Bilder oder Narrative, die wir sonst in der Gesellschaft finden, finden wir auch dort. Gleichzeitig basiert unser ganzes kollektives Selbstverständnis, unser demokratisches Selbstverständnis nach dem Krieg auf der Prämisse, dass man Antisemitismus überwunden und eine neue Seite aufgeschlagen habe. Ich denke, dass wir in Wirklichkeit davon ausgehen müssen, dass Menschen, die im europäischen Raum sozialisiert worden sind, fast zwangsläufig auch von antisemitischen Narrativen geprägt sind, sei es in den Kirchen durch bestimmte Bilder, sei es in der Sprache durch einen bestimmten unreflektierten Sprachgebrauch – der Antisemitismus ist ein Weltbild, das oft unbewusst in vielen Kleinigkeiten reproduziert wird und sich bei unterschiedlichen Akteur:innen, Schüler:innen, Studierenden oder Lehrenden äußert und einen Teil ihrer Sozialisation spiegelt. Dabei kann es sich um offene physische oder verbale Angriffe gegen Jüdinnen und Juden wegen religiöser Symbole oder israelischer Flaggen handeln, © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 36 aber auch um offene Vernichtungsszenarien („Man hat vergessen, dich zu vergasen“); es finden sich zahlreiche Narrative, in denen Jüdinnen und Juden als Verkörperung des Bösen oder als Weltherrscher, Strippenzieher und Viruserfinder erscheinen, und es gibt auch relativ harmlose Beispiele: Begriffe wie etwa „Mauscheln“ oder „Mischpoke“ werden benutzt und man denkt sich nichts dabei, man weiß nicht, dass Mauscheln von Moses abgeleitet ist, und dass der Gebrauch dieses Wortes bei vielen jüdischen Menschen sofort Vorsicht als Reaktion hervorruft, ein implizites „Weißt du nicht, was du sagst?“ und die Überlegung, ob man andere darauf ansprechen soll, obwohl man damit Gefahr läuft, die Normalität scheinbar unpassend zu stören. Auch in den Seminaren muss ich manchmal Studierenden länger erklären, worin das Problem liegt, wenn man „Jude“ als Schimpfwort benutzt; einige verstehen das überhaupt nicht: „Man meint es nicht böse, das ist nur so ein Spruch, man muss nicht gleich so übersensibel darauf reagieren.“ Oder: „Für mich hat der Humor keine Grenzen, also man darf auch über ‚Judenwitze‘ lachen“. Man versteht nicht, dass es auf die Auswirkung und nicht auf die Intention ankommt. Wer solches äußert, versteht nicht die Auswirkungen auf die jüdische Identität von Menschen in Deutschland, versteht nicht, dass die „Judenwitze“ für Jüdinnen und Juden gar nicht lustig, eher verletzend sind, versteht nicht, was es bedeutet, wenn ihre Identität als Schimpfwort benutzt wird und damit unmittelbar (wenn auch nicht bewusst) an die Nazi-Ideologie angeknüpft wird, wo es eben als Schimpfwort benutzt wurde; man meint das nicht so, aber man meint ja auf jeden Fall etwas, womit man Menschen kränken möchte, womit man Menschen verletzend treffen möchte, als Synonym für alles Üble und Böse. Jüdinnen und Juden als Opfer, Täter, Verräter. 2 Gab es für Sie Anlässe, sich mit Antisemitismen im Bildungsbereich zu beschäftigen? Anlässe gibt es genug, das ist ja Teil unserer pädagogischen Arbeit in diesem Bereich. Immer wieder muss man erklären, warum die Nutzung von „Jude“ als Schimpfwort ein Problem ist, wenn es nicht böse gemeint ist, warum die Behauptung „Zionisten verüben an Palästinensern einen Holocaust“ problematisch ist, warum Israel nicht mit einem Nazi- oder Apartheid-Land vergleichbar ist, warum es problematisch ist, den Ausdruck „Jedem das Seine“ zu benutzen, warum die Aufschrift „Impfung macht frei“ eine Bagatellisierung der Shoah darstellt. In einer Chat-Gruppe wurde nach der Einladung eines Überlebenden ein Bild mit der Flasche einer Firma „Heil“ mit der Unterschrift „schmeckt“ © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 37 und einem Smiley gepostet. In einem anderen Fall, kurz vor einem sogenannten Kippa-Tag zur Solidarisierung mit Jüdinnen und Juden als Opfer antisemitischer Gewalt in Deutschland, erreichte mich eine Nachricht vom Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA) darüber, dass man sich gerne mit Jüdinnen und Juden in Deutschland solidarisieren würde, solange das nichts mit Israel zu tun habe und nicht zum Jahrestag der Staatsgründung Israels veranstaltet wird. Weiterhin haben einige vom AStA überlegt, wie die Solidarisierung mit Jüdinnen und Juden an dem Tag aussehen sollte. Am Ende wurden Plakate neutraler Art auf dem Campus aufgehängt, nämlich mit dem Text: „Vergangenheit und jetzt – noch immer wird gehetzt!“ und das war alles so allgemein gehalten, dass es gar nicht mehr konkret um Jüdinnen und Juden ging. Die Verweigerung, sich an der Aktion zu beteiligen, lag darin begründet, dass einige Studierende vom AStA die Veranstaltung am 14. Mai, also am Jahrestag der Staatsgründung Israels, als inakzeptabel, als Provokation und als Bedienung politischer Botschaften der rechten Szene bewerteten. Wenn wir nicht einig darüber sind, dass der Staat Israel existieren darf, fehlt die notwendige Basis, gegen Antisemitismus zu kämpfen. Wenn es Israel in den 1930er-Jahren gegeben hätte, hätten womöglich viel, viel mehr Jüdinnen und Juden die Shoah überlebt. Es besteht ein um ein vielfach größeres Interesse und eine vielfach größere Bereitschaft, sich ganz allgemein mit Diskriminierung zu beschäftigen als mit dem spezifischen Thema Antisemitismus. Ich denke aber, um dem Phänomen Antisemitismus gerecht zu werden, darf man sich nicht hinter den allgemeinen Floskeln, Lippenbekenntnissen oder Sonntagsreden verstecken. Man muss konkret werden, jede Diskriminierungskategorie in ihren besonderen Kontext stellen und ihr somit gerecht werden, man muss verstehen, dass Antisemitismus keine Unterkategorie des Alltagsrassismus ist, und man muss auch explizit über den sehr verbreiteten auf Israel bezogenen Antisemitismus sprechen, der am wenigsten als Antisemitismus erkannt wird. Ein weiteres schwieriges Thema ist das Schweigen über die NS-Vergangenheit in den eigenen Familien. An diesem Link, dieser Verbindung zwischen der Nazi-Vergangenheit und dem israelbezogenen Antisemitismus, also an dieser Kontinuität gilt es zu zeigen, welche Bedeutung die eigene familiäre Verstrickung auch in der Ausübung einer Profession hat, etwa in der Sozialen Arbeit oder als Lehrkraft, beispielsweise im Geschichtsunterricht. Dieser Zusammenhang interessiert mich sehr und dazu habe ich zusammen mit dem Kollegen Florian Diddens die Seminare „Kollektive Identitäten und geschichtliches Erbe im institutionellen Kontext“ sowie „Psychologische und pädagogische Aspekte der Sozialen Arbeit nach Auschwitz“ entwickelt. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 38 3 In welchen Kontexten bzw. im Rahmen welcher Konzepte sollten Ihrer Ansicht nach Antisemitismen an Schulen, Hochschulen und in der Öffentlichkeit betrachtet werden, um sich damit angemessen auseinandersetzen zu können? Man sollte sich bewusst werden, dass Antisemitismus noch sehr viel mit Scham und Schuld verbunden ist, obwohl wir jetzt über die dritte, vierte Generation der Mitläufer:innen und Täter:innen sprechen, die sich keineswegs als solche verstehen würden. Das wird noch stets sehr zurückhaltend aufgenommen, ist mit viel Angst verbunden und ich glaube, solange das so ist, ist der persönliche Zugang zum Thema erschwert. Ich denke, das Selbstbild, die Bindung zu und das Bild der eigenen Familie, bei der man ahnt, dass sie im Nationalsozialismus verstrickt gewesen ist, aber es nicht konkret wissen und glauben möchte – das ist wirklich zentral für die heutige Auseinandersetzung mit Antisemitismus. Wenn man genau verstanden hätte, wie es im Alltag, in der eigenen Familie klein anfängt, hätten heute nicht erst nach Halle die Glocken geklingelt, sondern man hätte viel früher Antisemitismusanteile im eigenen Umfeld erkannt. Stattdessen beschäftigt man sich oft mit dem eigenen Ruf als Nicht-Antisemit, versucht, den Ruf der eigenen Familie dadurch zu retten, dass man auf das fehlende Wissen über die Beteiligung eigener Vorfahren im Krieg hinweist, und lehnt kategorisch ab, Antisemitismus im eigenen Umfeld vorfinden zu können. Die Reflexion eigener Emotionen und ihrer Bezüge, die Bereitschaft, aus der eigenen Komfortzone herauszutreten, sich mit Unbequemem und Unangenehmem zu befassen, den Finger in die Wunde der Vorfahren zu legen und zu überlegen, woher das Unbehagen, die eigene Scham und die oft unterbewussten Schuldgefühle kommen, sind notwendig, um gegen heutigen Antisemitismus vorzugehen. Die absolute Mehrheit der Studierenden weiß so gut wie gar nichts darüber, was ihre Familie, ihre Vorfahren im Krieg gemacht hat, versteht aber nicht, dass das fast sicher bedeutet, dass es nichts gab, worauf man stolz sein könnte, denn sonst würde sie es höchstwahrscheinlich wissen. Oft wird die Opferposition eigener Vorfahren hervorgehoben und sie werden bemitleidet, was das Leiden der Jüdinnen und Juden in der Shoah relativiert: „Alle haben im Krieg gelitten, wurden zerbombt, vergewaltigt, beraubt. Und dann mussten sie fliehen, waren Flüchtlinge wie so viele heute.“ Und so bleiben diese blinden Flecken, dass man tatsächlich ein mögliches Mitläufertum oder eine Täterschaft in der eigenen Familie nicht mal erwägt, nicht mal ausspricht, dass es möglich ist, dass es so war. Dieses Narrativ von den leidenden Vorfahren ist eine günstige Basis, um Anti- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 39 semitismus fälschlicherweise als ein ausschließlich importiertes Phänomen zu externalisieren. Antisemitismus erscheint dadurch nicht als persönliche, sondern als abstrakte Angelegenheit. Und dazu kommt die Sehnsucht nach Entlastung: Man möchte endlich mal als anerkannte:r Deutsche:r in der scheinbar positiv engagierten deutschen Identität gewürdigt werden, ein/eine Deutsche:r, der/die sich dafür im Ausland nicht mehr schämen muss und darauf eher stolz sein darf. Damit wird breit im Rechtspopulismus unterschiedlicher Couleur gespielt und manipuliert. Es ist eine sehr wichtige Frage, glaube ich, für die deutsche Gesellschaft: „Wie fördert man Empathie und Zivilcourage grundsätzlich?“ und „Worauf sollen diese basieren?“ Als Lippenbekenntnis, als abstrakter Wert in der Gesellschaft verschleiert es nur das eigentliche Problem und begünstigt dessen weitere Existenz. Die meisten würden vielleicht von sich selbst behaupten: „Na klar, ich würde einschreiten, wenn was wirklich passieren würde. Natürlich bin ich gegen Diskriminierung. Natürlich bin ich kein Rassist.“ Aber wenn es darauf ankommt, tatsächlich zu reagieren, dann gibt es immer unendlich viele Gründe, weshalb es gerade nicht passend ist oder nicht günstig, Konformität infrage zu stellen. Und die fehlende Reaktion, von der die Betroffenen des Antisemitismus berichten, verleiht diesen die Unsicherheit und den fehlenden Schutz im Alltag und enttäuscht sie. Das Grundproblem der fehlenden Zivilcourage ist, dass den Betroffenen eine Reaktion auf Antisemitismus fehlt. Oft wird er übersehen oder ignoriert. Es wäre viel wert, wenn man reagiert hätte, zum Beispiel sagen würde: „Ich bin auch ein Deutscher und schäme mich, dass solche Sprüche in meinem Umfeld getätigt werden, weil es für mich persönlich wichtig ist, nach der Shoah die menschliche Würde an die höchste Stelle zu setzen, entschieden gegen Antisemitismus zu agieren und das freie jüdische Leben zu unterstützen! So verstehe ich in der Praxis meine Verantwortung als Deutscher!“ – So äußern sich wenige, aber es gibt sie. Ich glaube, das hätte andere Effekte, als wenn man sagt: „Ja, ich bin ein weltoffener Mensch, für mich spielt mein Deutschsein überhaupt keine Rolle, ich bin nicht mal wirklich typisch deutsch ...“ © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 40 4 Was ist Ihrer Ansicht nach in Bezug auf Antisemitismus für die Schule besonders bedeutsam? und 5 Welche Präventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich zur Vorbeugung von Antisemitismus? Aus meiner Perspektive muss zunächst mit den Lehrkräften gearbeitet werden. Sie sind es, die nicht nur Macht in der Institution Schule haben, sondern Werte und Normen praktisch vorleben und den Erziehungsauftrag ausführen. Ihre Vorbildrolle sollten sie ein Stück weit auch ernst nehmen und die Reaktionen auf Antisemitismus nicht an Fachkräfte im Politikunterricht, Geschichtsunterricht oder an die Klassenlehrer:in mit den Sprüchen delegieren: „Ich bin nur Sportlehrer, ich bin nur Englischlehrer, ich mache nur die Aufsicht in der Pause usw.“ Was die Schüler:innen angeht, bin ich eine Anhängerin des biografischen Ansatzes, da dieser lebendige Erfahrung zulässt, die Schüler:innen mit einer guten Vor- und Nachbereitung dazu befähigt, sich ein Stück weit in die Position des Anderen hineinzuversetzen. Ich meine nicht nur die klassischen Zeitzeug:innengespräche, sondern tatsächlich auch die zweite, dritte und vierte Generation der Überlebenden, mit deren Erzählungen in den Seminaren ich sehr gute Erfahrungen mache. Sie erzählen darüber, wie es ist, als Jüdin oder Jude in Deutschland als Post-Shoah-Land zu leben. Ich glaube, so ähnlich kann man das auch in der Schule machen. Das führt zu Vergleichen und Kontrastierungen mit der eigenen Sozialisation, mit der eigenen Biografie und ermöglicht persönlich prägende Erkenntnisse. Diese Praxis scheint mir viel fruchtbarer als die Präsentation bloßer Zahlen, Statistiken und schrecklicher Bilder, ohne dass man einen persönlichen Bezug zu den Menschen hat. Diese Erfahrung kann man auch auf ganz unterschiedliche Art und Weise ermöglichen, dass man zum Beispiel bestimmte Gemeinsamkeiten als Überbrückung betont, damit sich Schüler:innen aus unterschiedlichen Gruppen wiedererkennen, dass man ferner auf unterschiedliche Kontexte und Besonderheiten des Antisemitismus hinweist, der mit anderen Diskriminierungskategorien nicht gleichzusetzen ist. Man muss auch darauf achten, die Shoah mit nichts anderem zu vergleichen, nicht über alles gleichzeitig zu sprechen und nicht doppeldeutig zu werden im Sinne von: „Wir tolerieren keine Diskriminierung!“, umgekehrt aber den israelbezogenen Antisemitismus gar nicht als Diskriminierung zu erkennen. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 41 6 Welche Interventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich bei Vorfällen von Antisemitismus? Es ist sehr wichtig, vorab zu überlegen, wer ist die Referenzgruppe, wer Interaktionspartner:in und welche meiner zahlreichen Identitäten wird in erster Linie in der Situation wahrgenommen und als wichtig erachtet: als Deutsche, als Lehrerin, als situierte Mittelschichtsperson? Auch wenn man in der professionellen Lehrer:innenrolle ist, muss man auf die Rolle eigener Identitäten im Moment achten, weil das die Intervention, ihre Effektivität und die Beziehungsarbeit entscheidend beeinflusst. Weiterhin stellt sich die Frage: An wen richtet sich meine Intervention? An die Täter:innen, an die Zeug:innen, an die Opfer des Antisemitismus oder an die Lehrkräfte? Und in welchem Setting interveniere ich? Das ist entscheidend. Ich würde zum Beispiel mit den Opfern nicht vor der ganzen Klasse sprechen. Mit den Zeug:innen wiederum vielleicht doch durchaus mit der Gesamtklasse, weil es Zivilcourage in der Praxis ist. Die Opfer sind oft sehr von der schweigenden Mehrheit enttäuscht, davon, dass niemand reagiert hat, und deshalb muss dieses Schweigen und seine (Aus-)Wirkung vor der Mehrheit angesprochen und reflektiert werden. Zur Intervention gehört auch, dass die Lehrperson mit der Klasse über die weiteren Bezüge und die größeren Zusammenhänge anhand medialer Berichterstattung über antisemitische Vorfälle in der Gesellschaft sowie anhand fachlicher Literatur diskutiert. Die Lehrperson muss das spezielle Geschehen ernst nehmen, muss es auffangen und kontextualisieren. Entscheidend ist auch, bei Interventionen die jüdischen Menschen, die Schülerinnen und Schüler und deren Familien als Referenzgruppen stets mitzudenken, und zwar unabhängig davon, ob sie anwesend sind oder nicht. Letztlich kommt es darauf an, dass die Intervention ein klares Zeichen setzt. Man darf das Thema nicht scheuen und die eigene Neutralität nicht falsch als Legitimation jeglicher Meinungen verstehen, da sogenannte Meinungen auch konkreten Hass gegen Jüdinnen und Juden signalisieren können. Es ist auch ratsam, eigene Hemmungen zu reflektieren, wenn durch die Angst, in einer Klasse unbeliebt zu werden, Antisemitismus ignoriert oder übersehen wird. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität sowie die Praxis der Benennbarkeit kann dieser Angst entgegenwirken. Zwar kann man die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität nicht erzwingen, doch man kann den Schüler:innen die Vorteile „schmackhaft‘“machen, die sich daraus für die eigene Person und die Gestaltung der gewünschten Zukunft ergeben. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 42 7 Wo erkennen Sie in Ihrem Fachbereich Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten, um künftigen Lehrpersonen in der Lehrer:innen-Aus- und Weiterbildung eine Auseinandersetzung mit Antisemitismen zu ermöglichen? Ich denke, es braucht Angebote nicht nur im Bereich der interkulturellen Pädagogik und der interkulturellen Kompetenz, sondern konkret ein vielfältiges Angebot im Bereich Antisemitismus. Allerdings muss man dabei bedenken, dass die meisten Lehrkräfte ja bereits in ihrem Berufsfeld tätig sind, ohne dass sie zum Thema Antisemitismus in ihrem Studium etwas gelernt haben. Es stellt eine große Herausforderung dar, zu überlegen, wie man entsprechende Fortbildungen den Lehrkräften näherbringt, wenn es keine Verpflichtung gibt, an solchen teilzunehmen. Man sollte auch gezielt mit und für die Schulleitungen Projekte und Angebote entwickeln und die Möglichkeiten für Fortbildungen für ihre Lehrkräfte überlegen sowie weitere Lernquellen und pädagogische Materialien für die Lehrkräfte für unterschiedliche Situationen, Formen und Ausprägungen des Antisemitismus zur Verfügung stellen. Erst wenn Schulleitungen und Lehrkräfte verstehen, dass eine DeThematisierung langfristig kontraproduktiv und gefährlich sein kann, haben sie die Chance, zum Ruf der Schule mithilfe der Angebote und Reflexionsräume tatsächlich positiv beizutragen. Man sollte also nicht nur sensibilisieren, sondern auch Konkretes an die Hand geben, Trainingsangebote entwickeln und Trainingskurse durchführen, am besten präventiv, bevor etwas vorgefallen ist. In diesen Trainings sollten unterschiedliche Antisemitismusformen und ihre unterschiedlichen Ausprägungen in Wort und Tat diskutiert sowie mögliche Reaktionen darauf analysiert werden. Darüber hinaus müssen pädagogische Maßnahmen entwickelt werden, welche die Lehrkräfte besser über Handlungsmöglichkeiten informieren und darin unterstützen. In welcher Situation soll man eine Klassenkonferenz einberufen, in welcher ein Coaching für sich in Anspruch nehmen, in welcher das Schulamt kontaktieren, in welcher eine Beratungsstelle aufsuchen, und wenn ja, welche? Wann und welche Fälle müssen gemeldet werden? Wo melde ich israelbezogenen Antisemitismus? Wo kann ich ein externes Angebot in die Klasse bringen und in welchem Fach wird es am besten passen? Und diese Angebote müssen auf realen Erfahrungen basieren und wissenschaftlich fundiert sein. Daran arbeiten wir. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 43 8 Welche Forderungen und Wünsche, auch Hoffnungen oder Befürchtungen haben Sie im Hinblick auf eine Zukunft mit weniger / ohne Antisemitismus? Meine Befürchtungen bestehen darin, dass ich den Eindruck habe, dass man sich mit dem Thema zu lange auf eine formale Art auseinandergesetzt hat. Dass viele des Themas schon überdrüssig geworden sind und dass einige Lehrkräfte, Studierende oder Schüler:innen noch vor dem Inanspruchnehmen ablehnend oder ermüdet reagieren, weil einige (die es übrigens am nötigsten hätten) glauben, sie wüssten schon alles Wesentliche darüber, obwohl das Unwissen eigentlich nach den Forschungsbefunden eklatant ist. Diese Form der Abwehr ist auch eine Art Schlussstrichmentalität, die einfach zu instrumentalisieren ist und für Jüdinnen und Juden eine konkrete Gefahr für ihre Zukunft in Deutschland darstellt. Die Schlussstrichmentalität führt dazu, dass man sich dagegen wehrt, sich mit der Vergangenheit persönlich und familiär oder auch abstrakt auseinanderzusetzen. In dieser Abwehr entsteht der falsche Eindruck, dass die Gesellschaft sich immer mit allen Unterdrückten beschäftigt, aber die Probleme der Deutschen selbst außer Acht geraten würden und man als Deutsche:r nicht zu Wort kommen würde. Eine weitere Sorge ist die weitverbreitete anti-israelische Stimmung. Die Sorge, dass unter dem Mantel sogenannter „Israelkritik“ Antisemitismus stärker wird, Israelhass auf Jüdinnen und Juden in Deutschland als vermeintlichen Repräsentant:innen des Staates Israel durch verbale oder physische Angriffe projiziert und dabei ohne Konsequenzen und Reaktionen weiterhin ausgeübt wird. Dass Antisemitismus verkannt wird und unter dem Label „Postkolonialismus“ Israel- und Judenhass, und zwar im Land der Shoah, wieder möglich wird. Dass jegliche positiven Äußerungen zu Israel unter Generalverdacht gestellt werden und dass das jüdische Leben in Deutschland durch diese aufgeladene Diskussion, durch den Antisemitismus im Gewande der Israelkritik, erschwert wird. Meine dritte Befürchtung besteht darin, dass die wachsende antireligiöse Haltung insgesamt dazu führt, die jüdische Religion als rückständig, überholt abzuwerten. Man ist gegenüber allem in einer postmodernen Gesellschaft tolerant außer der Religion gegenüber. Allerdings haben Jüdinnen und Juden gerade dank ihrer Religion all die 2000 Jahre in der Diaspora überlebt. Aus Studien geht hervor, dass man nicht frei seine jüdische Religion ausleben und in der Öffentlichkeit zeigen kann, und dies trotz der beschworenen und gesetzlich festgelegten Religionsfreiheit. Jüdische Religion stellt eine zentrale identitätsstiftende Komponente dar und muss durch die Bildungsakteur:innen unterstützt und als erwünscht angesehen werden, anstatt sie in die Privatsphäre auszulagern. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 44 Und die Hoffnungen: Eine meiner Hoffnungen ist, dass wir alle in erster Linie mehr an unseren eigenen Einstellungen und an unserer eigenen Sprache arbeiten und nicht primär an den anderen; ich denke, das ist auch eine Richtung, die sehr viel verspricht, dass man nicht bei den anderen ein Problem sucht, sondern zunächst einmal bereit ist, bei sich selbst anzufangen, und damit auch als Vorbild wirkt. Man kann eigentlich nichts falsch machen, wenn man an sich selbst arbeitet und sozusagen gleichzeitig den Raum findet, sich in die Position des anderen hineinzuversetzen. An sich zu arbeiten, bedeutet aber nicht, ausschließlich das Selbstgespräch zu führen, sondern anderen den Platz zu geben, zu sprechen. Und ich glaube, wenn der Fokus im Gespräch auf dem Anderen liegt, bekommen wir auch eine andere Gesellschaft. Im Judentum gibt es diese sehr schöne Idee, dass, wenn man sich selbst auch nur ein klitzekleines Stück ändert, man die ganze Welt ändert. Dann erhebt sich sozusagen die ganze Welt mit. BERNSTEIN, Julia (2020): Antisemitismus an Schulen in Deutschland. Analysen – Handlungsop- tionen. Weinheim. BERNSTEIN, Julia (2021): Israelbezogener Antisemitismus Erkennen – Handeln – Vorbeugen. Weinheim. JULIA BERNSTEIN ist Professorin für soziale Ungleichheiten und Diskriminierungserfahrungen im Fach Soziale Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences. Forschungsschwerpunkte u. a.: Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeiten und Rassismen in den Institutionen, visuellen Medien und im Alltag, Migrationsprozesse durch Transnationalisierungsperspektiven, Interkulturalitätsfragen, Migrationsprozess russischsprachiger Juden in Israel und Deutschland, Jüdische Identität im gesellschaftlichen Wandel. In ihrer Arbeit kombiniert sie qualitative Forschungsmethoden (Ethnografie und Biografieforschung) mit alterativen Kunstmedien. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 45 MICHAEL BUTTER Aufklären im Vorhinein funktioniert viel besser als Intervenieren im Nachhinein 1 Gibt es in Ihrem Fachbereich Berührungspunkte mit Antisemitismus? Ich bin Amerikanist, und es gibt Berührungspunkte, allerdings nicht in der Häufigkeit, wie man sie vielleicht als Historiker:in, Politikwissenschaftler:in oder gar Extremismusforscher:in hätte. Ich beschäftige mich sehr viel mit der frühen amerikanischen Literatur, und hier ist der Antisemitismus bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bis auf ganz wenige Ausnahmen kein Thema. Erst mit den Einwanderungswellen aus Osteuropa wird Antisemitismus in den USA relevant und entsprechend stärker in der Literatur thematisiert. In meiner Doktorarbeit habe ich mich mit Darstellungen von Adolf Hitler in der amerikanischen Literatur von 1938 bis ins 21. Jahrhundert befasst. Ab den späten 1960er-Jahren gibt es richtige Wellen, in denen sehr interessante Themen und eigene Probleme der amerikanischen Kultur verhandelt werden. Dabei spielt Antisemitismus dann doch immer wieder eine Rolle in dem Sinne, dass es oft um jüdische Protagonist:innen geht, dass es um das Verhältnis zum Staate Israel geht, oft auch um eine Überidentifikation mit jüdischen Akteur:innen, die ganz typisch für die amerikanische Kultur der 1970er ist. Der größere Rahmen dieses Projekts war im Grunde das, was man in der amerikanischen Kulturwissenschaft und Geschichtswissenschaft als „Amerikanisierung des Holocaust“ bezeichnet, also die Art und Weise, wie der Holocaust zu einem amerikanischen Gedächtnis, einem „American Memory“ wird, wie der Historiker Peter Novick © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 46 das mal ausgedrückt hat. Auch beschäftige ich mich zum Beispiel damit, wie die Romane von Philip Roth oder die Comics von Art Spiegelman rezipiert werden. Insofern bin ich wahrscheinlich einer von jenen Amerikanist:innen, die aufgrund des Themas meiner Dissertation als auch aufgrund meiner Beschäftigung mit Verschwörungstheorien mit dem Thema Antisemitismus noch mehr in Berührung kommen als viele andere Kolleg:innen. Man kann also recht gut Amerikanist:in sein, ohne dem Antisemitismus zu begegnen. 2 Gab es für Sie Anlässe, sich mit Antisemitismen im Bildungsbereich zu beschäftigen? Bei meiner Arbeit hängt das überwiegend zusammen mit dem Thema Verschwörungstheorien. Ich habe für die Bundeszentrale für politische Bildung über das Verhältnis von Antisemitismus und Verschwörungstheorien geschrieben. Und ich werde relativ regelmäßig eingeladen, auf speziellen Veranstaltungen zum Zusammenhang von Antisemitismus und Verschwörungstheorien zu sprechen. Nach dem Attentat auf die Synagoge in Halle haben sich diese Anfragen vermehrt; die Corona-Krise hat dann zu einer weiteren Intensivierung der „Nachfrage“ geführt. Generell kommt in der Diskussion immer eine Frage zum Thema Antisemitismus, auch wenn ich einfach nur einführende Vorträge zu Verschwörungstheorien halte und Antisemitismus dabei vielleicht überhaupt nicht erwähne. Gerade in der Pandemie hat das noch mal zugenommen, weil die Corona-Proteste oft pauschal als antisemitisch motiviert beschrieben werden von einigen Medien, aber auch von Stimmen aus der Politik. Ich sehe das anders und teile auch nicht die Position, dass alle Verschwörungstheorien im Kern antisemitisch sind. Vielmehr würde ich eher sagen, der moderne Antisemitismus ist eigentlich immer verschwörungstheoretisch, wohingegen rassistische Vorstellungen nicht unbedingt immer verschwörungstheoretisch aufgeladen sein müssen. Ganz platt gesagt: Man kann Rassist:in sein, ohne an Verschwörungstheorien zu glauben. Oft wird im rassistischen Diskurs nichtweißen Menschen ja gerade die Intelligenz abgesprochen, die nötig ist, um zu planen und sich zu verschwören. Bei Vorurteilen gegen jüdische Menschen dagegen geht es immer sofort um List und Heimtücke, sodass man fast automatisch beim Thema Verschwörung landet. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 47 3 In welchen Kontexten bzw. im Rahmen welcher Konzepte sollten Ihrer Ansicht nach Antisemitismen an Schulen, Hochschulen und in der Öffentlichkeit betrachtet werden, um sich damit angemessen auseinandersetzen zu können? Unterschieden werden muss, wie man das Thema in der Schule und wie man es in der Hochschule kontextualisiert. Die Idealvorstellung ist, dass man Antisemitismus als Konzept für sich zentral in der Schule behandelt. Jedenfalls darf das Bilden gegen Antisemitismus nicht nur im Geschichtsunterricht erfolgen, denn dabei besteht die Gefahr, dass für Schüler:innen die Idee aufkommt, Antisemitismus ist eigentlich abgeschlossen und ein Problem, das es vor einigen Jahrzehnten gab, aber uns heute nicht mehr betrifft. Im Gegensatz dazu ergeben sich an der Hochschule unfassbar viele Kontexte, wo Konzepte wie Antisemitismus eine Rolle spielen können. In einer idealen Welt würde ich davon ausgehen, dass die Studierenden in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern, schon wenn sie an die Hochschule kommen, eine Vorstellung davon haben, was Antisemitismus ist, und sich dann eher mit spezifischen Manifestationen von Antisemitismus oder spezifischen Perspektiven auf Antisemitismus beschäftigen. Aus meiner Perspektive ist es sinnvoll, Rassismus und Antisemitismus als Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu betrachten. Problematisch ist, Antisemitismus als eine bestimmte Form von Rassismus zu begreifen, die Unterschiede zwischen beiden zu negieren und nicht die Spezifika des Antisemitismus im Blick zu behalten, etwa ganz zentral verschwörungstheoretische Vorstellungen von Juden als „großen Strippenziehern“ im Hintergrund etc. Generell befürworte ich es meistens, einen Oberbegriff zu haben, der es erlaubt, verschiedene Subtypen zu unterscheiden. 4 Was ist Ihrer Ansicht nach in Bezug auf Antisemitismus für die Schule besonders bedeutsam? Ich möchte noch mal betonen, dass das Thema Antisemitismus gerade im deutschsprachigen Raum nicht allein im Geschichtsunterricht behandelt werden darf, sondern fächerübergreifend thematisiert werden sollte – im Gemeinschaftskunde- oder Politikunterricht, in den Fächern Deutsch, Religion, Ethik etc. Neben solidem Fachwissen basierend auf dem aktuellen Stand der Forschung ist auch wichtig, dass Schüler:innen Werte vorgelebt werden, die dem Antisemitismus entgegenstehen, wie etwa ein Bekenntnis zu Toleranz und Pluralität. Lehrpersonen sollten eine gewisse Sensibilität für den Umgang mit © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 48 Antisemitismus haben und auch mit Fingerspitzengefühl auf antisemitische Äußerungen oder Vorfälle reagieren. Natürlich ist es wichtig, eine klare Position zu haben, doch gleichzeitig muss auch ergründet werden, warum gerade junge Menschen etwas Antisemitisches sagen, und ihnen zu erklären, was das Problematische darin ist und wie man anders formulieren könnte. Wenn Schüler:innen beispielsweise verquere Fakten von irgendwelchen Websites aufbringen, würde ich konkret empfehlen, sich erst mal nicht direkt auf die Diskussion einzulassen, sondern eher zum Beispiel zu sagen: „Ich sehe das anders, das klingt für mich nicht nachvollziehbar, wie wäre es, wenn wir uns das nächste Woche genauer anschauen? Schick mir doch mal die Sachen, die du da hast.“ Und dann sollte man das Ganze proaktiv angehen und vermitteln, wie Verschwörungstheorien funktionieren, und gleichzeitig darauf achten, das Interesse daran durch eine Tabuisierung nicht noch zu vergrößern. Oft bringen Schüler:innen Verschwörungstheorien gar nicht mal so sehr aus fester Überzeugung, sondern aus einer Antihaltung auf, um provozieren zu können. Bei antisemitischen Äußerungen könnte es ähnlich sein. Man wirft das mal in den Raum, weil man provozieren möchte, weil es eine Gegenposition ist. Ich wünsche mir von Lehrer:innen, die ich ausbilde, einerseits kommunikatives Geschick, um so eine Situation zu moderieren. Gleichzeitig sollten sie auch über das Fachwissen verfügen, um sich dann näher mit den Funktionsweisen von Verschwörungstheorien zu beschäftigen. Gerade Schüler:innen haben noch nicht solche gefestigten Weltbilder, das macht eine Vermittlung einfacher. 5 Welche Präventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich zur Vorbeugung von Antisemitismus? Was das Thema Antisemitismus angeht, habe ich mir noch nie genauer Gedanken darüber gemacht. Beim Thema Verschwörungstheorien wissen wir, dass das Aufklären im Vorhinein viel besser funktioniert als das Intervenieren im Nachhinein. Insofern liegt für mich hier ein ganz klarer Bildungsauftrag darin: darüber aufzuklären, dass es Antisemitismus und Verschwörungstheorien gibt, und zu erklären, wie diese Phänomene funktionieren. Die Gefahr, dass jemand diesen Phänomenen anheimfällt, ist deutlich geringer, wenn man davor schon einmal etwas darüber gehört hat bzw. sich idealerweise einmal intensiver mit den Formen und Folgen von antisemitischem Denken auseinandergesetzt hat. Fast ebenso wichtig erscheint mir aber, mit den Schüler:innen zu besprechen und vielleicht sogar einzuüben, wie man zum Beispiel sinnvoll Kritik an der israelischen Siedlungs- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 49 politik üben kann, ohne in antisemitische Tropen zu verfallen. Gerade engagierte Schüler:innen haben zu diesem oder verwandten Themen oft eine Meinung, die sie artikulieren wollen. Wenn sie den Eindruck bekämen, dass das gar nicht möglich ist, wäre das fatal. Man sollte daher darüber sprechen, was möglich ist und warum – und nicht nur darüber, was nicht möglich ist und warum. 6 Welche Interventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich bei Vorfällen von Antisemitismus? Was die Intervention betrifft, wissen wir aus dem Bereich der Verschwörungstheorie-Forschung, wenn Menschen damit in Berührung gekommen sind, aber noch nicht richtig daran glauben, dann kann man mit Fakten aufklären, weil man eine gemeinsame Grundlage hat. Wenn jemand gefestigte Bilder hat, bringen Interventionen häufig gar nichts, im schlimmsten Fall treibt man die Personen noch mehr in diese Ecke. Wichtig ist, zu versuchen, im Gespräch zu bleiben, und zu sagen: „Ich möchte verstehen, warum du das so siehst. Warum vertraust du dieser Quelle, aber jener Quelle nicht? Warum ist das ein Experte für dich?“ Fragen zu stellen mit dem Ziel, eine Selbstreflexion auszulösen. Ich denke, beim Thema Antisemitismus verhält es sich ganz ähnlich. Wenn ich bei Vorträgen über Interventionsmöglichkeiten spreche, empfehle ich immer ein neutrales Nachfragen. Natürlich dürfen – bei wüsten rassistischen oder antisemitischen Verschwörungstheorien – die Grenzen des Sagbaren nicht überschritten werden. Ich empfehle auch, sich professionelle Hilfe zu holen, zu Beratungsstellen zu gehen und Expert:innen zu konsultieren. 7 Wo erkennen Sie in Ihrem Fachbereich Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten, um künftigen Lehrpersonen in der Lehrer:innen-Aus- und Weiterbildung eine Auseinandersetzung mit Antisemitismen zu ermöglichen? Wie bereits oben skizziert, würde ich Anknüpfungspunkte in dem großen Themenkomplex der sogenannten Amerikanisierung des Holocaust sehen, und auch im Bereich der jüdisch-amerikanischen Kultur. Bei vielen Autor:innen kommen Figuren der älteren Generation vor, die noch diese ganz expliziten Diskriminierungserfahrungen vor dem Zweiten Weltkrieg gemacht haben, und dann Figuren, häufig Erzähler:innen, die die Frage stellen, wie viel hat sich denn geändert und was ist geblieben? Die meisten unserer Studierenden interessieren sich vor allem für die amerikanische Kultur und Geschichte. Na- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 50 türlich spricht man vor allem über Rassismus, aber wenn man sich zum Beispiel die intellektuellen Traditionen der afro-amerikanischen Vordenker:innen und Denker:innen oder die Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre ansieht, dann ist eben auch der Einfluss von jüdischen Intellektuellen und der Einfluss von strategischen Allianzen sehr groß. Das ist nicht mein Spezialgebiet, aber das wäre sicherlich eine Möglichkeit, wo man gerade auch für Studierende an einer deutschen Universität leichter eine Brücke schlagen könnte zum Thema Antisemitismus. 8 Welche Forderungen und Wünsche, auch Hoffnungen oder Befürchtungen haben Sie im Hinblick auf eine Zukunft mit weniger / ohne Antisemitismus? Was Verschwörungstheorien angeht, habe ich, was Deutschland betrifft, wirklich die Hoffnung, dass wir in 15 bis 20 Jahren weniger Menschen haben, die an Verschwörungstheorien glauben, als wir sie jetzt haben. Da herrscht mittlerweile eine solche Sensibilisierung für das Thema und es sind viele Projekte gestartet worden. Beim Antisemitismus bin ich mir nicht so sicher. Was ich mir auch als Ergebnis der Diskussionen über Antisemitismus in der CoronaKrise wünschen würde, dass man sich immer sehr genau vor Augen führt oder klar macht, was man eigentlich meint, wenn man Antisemitismus sagt. Ich habe teilweise sehr kontroverse Diskussionen miterlebt und ich halte viele Beispiele nicht per se für antisemitisch, aber für geschmacklos und unangemessen. Ich glaube auch, dass man mit vielen Leuten nicht so gut ins Gespräch kommen und die dort „rausholen“ kann, wenn man alles mit dem Label Antisemitismus belegt. Es ist völlig klar, dass das bei manchen eine reine Strategie ist, aber es wäre mir wichtig, hier immer zu differenzieren. Ich befürworte sehr präzise, breit akzeptierte Definitionen, gleichzeitig glaube ich nicht, dass sie praktikabel sind, denn häufig funktionieren Diskussionen oft nur, weil Konsens hergestellt wird, indem Begriffe schwammig bleiben und vier Leute, die eigentlich unterschiedliche Dinge meinen, denselben Begriff verwenden und sich am Ende dann doch einigen können. Ich denke, dass beim Thema Antisemitismus Definitionen auch manchmal strategisch schwammig daherkommen, damit man möglichst viel darunter subsumieren kann. Auch bei der Medienberichterstattung würde ich mir ein bisschen mehr Differenzierung wünschen, und dass genauer analysiert wird, was zum Beispiel bei einer Demo passiert ist. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 51 BUTTER, Michael (2021): Verschwörungstheorien: Eine Einführung. In: Aus Politik und Zeitge- schichte 35-36, S. 4-11. BUTTER, Michael (2000): Verschwörungstheorien: Zehn Erkenntnisse aus der Pandemie. In: Kort- mann, Bernd/Schulze, Günther G. (Hg.): Jenseits von Corona: Unsere Welt nach der Pandemie – Perspektiven aus der Wissenschaft. Bielefeld, S. 225-31. BUTTER, Michael (2020): Antisemitische Verschwörungstheorien in Geschichte und Gegenwart. Bundeszentrale für politische Bildung. URL: https://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/321665/antisemitische-verschwoerungstheorien (Zugriff: 21.3.2022). BUTTER, Michael (2007): The Epitome of Evil: Hitler in American Fiction, 1939-2002. New York. HEIL, Johannes (2006): „Gottesfeinde“ – „Menschenfeinde“. Die Vorstellung von jüdischer Weltver- schwörung (13. bis 16. Jahrhundert). Essen. HORN, Eva/Hagemeister, Michael (Hg.) (2012): Die Fiktion der jüdischen Weltverschwörung. Zu Text und Kontext der „Protokolle der Weisen von Zion“. Göttingen. MICHAEL BUTTER, Prof. Dr., ist Professor für Amerikanische Literatur- und Kulturgeschichte an der Universität Tübingen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u. a. Verschwörungstheorien. Er ist der Autor von „Nichts ist, wie es scheint“: Über Verschwörungstheorien (2018) und Principal Investigator des vom Europäischen Forschungsrat mit einem Consolidator Grant geförderten Projekts „Populism and Conspiracy Theory“. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 52 MARINA CHERNIVSKY UND ROMINA WIEGEMANN Antisemitismuskritik als Rückgrat pädagogischen Handelns 1 Gibt es in Ihrem Fachbereich Berührungen mit Antisemitismus? Das Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment ist ein Institut für Bildung und Forschung mit Sitz in Berlin und bundesweiter Ausrichtung. Seine Expertise im Bildungsbereich, die 2015 mit der Gründung des Kompetenzzentrums in Berlin gebündelt und um weitere Fachbereiche wie Forschung und Empowerment der jüdischen Community ergänzt wurde, beruht auf fast zwanzig Jahren Arbeit im Themenfeld. Dieser Entstehung vorausgegangene und im Kompetenzzentrum bis heute bestehende Projekte waren von Beginn an in jenen Fachdiskurs involviert, der dazu geführt hat, dass die Bildung zu gegenwärtigem Antisemitismus aus historisch-politischen Bildungskontexten zu Nationalsozialismus und Shoah herausgelöst wurde und heute ein eigenständiges Handlungsfeld darstellt. Diese Entwicklung wurde unterstützt durch die Feststellung, dass die tradierten historischen Lernkonzepte alleine nicht ausreichen, um aktuellen Antisemitismus angemessen zu bearbeiten (vgl. Antisemitismusbericht 2017). Auch die neueren Erkenntnisse aus der Antisemitismusforschung waren in den letzten Jahren wichtige Impulsgeber für die Weiterentwicklung des Handlungsfeldes antisemitismuskritischer Bildung (ebd.; Chernivsky/Klammt et al. 2021). Im Fokus steht die Erkenntnis, dass Antisemitismus strukturell in Bildung und Gesellschaft angelegt ist, sich durch alle gesellschaftlichen Teilbereiche zieht und zugleich fest in deren Mitte verankert ist. Entsprechend kritisch ist die Auslagerung von Antisemitismus auf bestimmte gesellschaftliche (Alters-)Gruppen zu betrachten. Die antisemitismuskritischen Bildungsformate des Kompetenz- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 53 zentrums richten sich deshalb nicht ausschließlich an Jugendliche, sondern vor allem an Erwachsene, die in ihren professionellen Rollen angesprochen und in Fort- und Weiterbildungen sensibilisiert und geschult werden (ebd.). Ein spezifischer Schwerpunkt liegt dabei auf dem professionellen Umgang mit Antisemitismus in der Schule. 2 Gab es für Sie Anlässe, sich mit Antisemitismen im Bildungsbereich zu beschäftigen? Die Wahrnehmung von und die Beschäftigung mit Antisemitismus sind durch Distanzierung, Historisierung und Perspektivendivergenz gekennzeichnet. Wahrgenommen wird Antisemitismus erst dann, wenn er explizit in Form körperlicher oder verbaler Gewalt zutage tritt. Diese aus der Bildung und Forschung sowie aus der Beratungsarbeit durch OFEK (Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung) generierten Erkenntnisse können zunehmend auch empirisch fundiert werden (vgl. Bernstein 2020; Chernivsky/ Lorenz/Schweitzer 2020). Will man zu einer Einschätzung der Verbreitung von Antisemitismus gelangen, in der die Perspektive von Betroffenen Einschluss findet, kann aufgrund neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse davon ausgegangen werden, dass Antisemitismus für Jüdinnen und Juden in Deutschland eine alltagsprägende Erfahrung ist (Antisemitismusbericht 2017, 95-96), die sich auch in der Schule aufgrund der spezifischen Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse gewaltvoll entfaltet. Antisemitismus wird jedoch erst seit wenigen Jahren als aktuelles gesellschaftliches Phänomen wahrgenommen. Das bedeutet allerdings nicht, dass er als drängendes Problem angemessen eingeordnet wird. Die mediale und politische Fokussierung auf „spektakuläre Vorfälle“, die im Kontext von Schule vermehrt Aufmerksamkeit erfahren haben, verdeckt die Spannweite antisemitischer Ausdrucksformen ebenso wie seine gesamtgesellschaftliche Verankerung. Gerade dort, wo Antisemitismus unter anderem durch Geschichtsvermittlung entgegengewirkt wird, treten Vorfälle ein, die jüdische Schüler:innen adressieren (Chernivsky 2019, 1). Es überwiegen Interventionspraktiken, die Antisemitismus als pubertäres Symptom, jugendtypisches Verhalten oder als zwischenmenschliche Differenz einordnen und seine Relevanz im System Schule nicht priorisieren (vgl. Chernivsky/Lorenz 2020). Solche Deutungsmuster können erst dann überwunden werden, wenn sie um eine tiefgehende Beschäftigung mit Antisemitismus als individuelle Erfahrung und soziales Phänomen erweitert werden (vgl. Chernivsky/Wiegemann 2017). Jedes strukturelle Problem © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 54 verlangt strukturelle Lösungen – so auch das Problem des Antisemitismus. Deshalb darf es nicht ausschließlich schüler:innenzentriert und auch nicht nur als Bildungsproblem bearbeitet werden (vgl. Chernivsky/Lorenz/Schweitzer 2020). Diese Erkenntnis stellt eine wichtige Voraussetzung für eine zeitgemäße Auseinandersetzung mit Antisemitismus dar, die die Stärkung der Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsfähigkeit als Teil der in Schulen vertretenen professionellen Rollen zum Ziel hat. Die immer noch weitgehend unsichtbar bleibenden Erfahrungen jüdischer Schüler:innen und ihrer Familien sind ins Zentrum dieser Auseinandersetzung zu stellen. Eine der größten Herausforderungen in der Tätigkeit des Kompetenzzentrums besteht nach wie vor darin, eine produktive Auseinandersetzung genau dort anzuregen, wo eine kollektiv begründete Abwehr überwiegt (Chernivsky/Wiegemann 2017, 2). 3 In welchen Kontexten bzw. im Rahmen welcher Konzepte sollten Ihrer Ansicht nach Antisemitismen an Schulen, Hochschulen und in der Öffentlichkeit betrachtet werden, um sich damit angemessen auseinandersetzen zu können? Im Kontext der Antisemitismusforschung und der pädagogischen Arbeit zu Antisemitismus existiert eine Vielzahl unterschiedlicher Konzepte und Begriffsbestimmungen. So kann Antisemitismus als ein dauerhafter Komplex von Überzeugungen gegenüber Jüdinnen und Juden als Kollektiv beschrieben werden, die als Ressentiment, Verschwörung, Hass in Form von individuellen und kollektiven Haltungen und Handlungen in Erscheinung treten, die sowohl Alltagsdiskriminierung als auch die politische Mobilisierung und gar kollektive und staatliche Gewalt bis hin zur Vernichtung herbeiführen können (Fein 1987, 67). Eine für die Bildungsarbeit wichtige Voraussetzung ist die Erkenntnis, dass es sich dabei nicht um eine unter anderen Ideologien subsumierte Diskriminierungsform handelt, sondern um ein Gewaltverhältnis, welches gegenüber anderen Ideologien seine eigenen Ursprünge und Strukturen aufweist. Während die historische Bildung zu Nationalsozialismus und Shoah einen festen Platz innerhalb der außerschulischen Bildung eingenommen hat, ist die bildungstheoretische und pädagogische Auseinandersetzung mit aktuellen Formen von Antisemitismus eine vergleichsweise neue Entwicklung. Erst in den letzten zwanzig Jahren hat sich die Bildung zu gegenwärtigem Antisemitismus zu einem ausdifferenzierten und eigenständigen Handlungsfeld entwickelt (vgl. Antisemitismusbericht 2017). Dies umfasst unter anderem eine stärkere Konzeptualisierung eigenständiger methodischer Ansätze, aber auch eine theoretische und fachliche Diskussion um das Verhältnis von Antisemitismus, Rassismus und © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 55 Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Noch immer wird Antisemitismus in fachpädagogischen Diskussionen vorwiegend historisch oder gegebenenfalls als eine Unterform von Rassismus theoretisiert. Exemplarisch für eine der Kontroversen steht die Frage, ob es sinnvoll sei, Antisemitismus eigenständig zu bearbeiten, und inwiefern die intersektionale Perspektive auf Antisemitismus für die Spezifika antisemitischer Ideologie und antisemitischer Gewalt von Relevanz sei. Sinnvoll scheint in diesem Zusammenhang eine „zweigleisige Vorgehensweise“ zu sein, die eine Hinwendung zu generalisierbaren Ansätzen wagt (zum Beispiel zu der Wechselwirkung zwischen Antisemitismus und Rassismus), und zugleich eine spezifische Betrachtung, die Analyse und Weiterentwicklung von antisemitismusspezifischen Ansätzen voranbringt (vgl. Messerschmidt 2018). 4 Was ist Ihrer Ansicht nach in Bezug auf Antisemitismus für die Schule besonders bedeutsam? Die historische Bildung ist die Basis für jede weitere Beschäftigung mit historischem und aktuellem Antisemitismus. Gleichwohl kann eine historische Engführung zu einem verzerrten Bild führen: Jüdinnen und Juden sollten heute besonders geschützt werden, quasi „nur“, weil sie so oft und so lange verfolgt wurden. Die bleibende Relevanz von Antisemitismus zeigt die Notwendigkeit, neue Konzepte für den schulischen wie auch den außerschulischen Kontext zu entwickeln und umzusetzen. Besonders die schulische Bildung bezieht sich vorwiegend auf historischen Zugang, Begegnungen und Vorurteilsdekonstruktion. Diese wichtigen Paradigmen der schulischen Prävention übersehen oftmals die Bedeutung von Gefühlserbschaften und die Komplexität der Postmigrationsgesellschaft im Umgang mit Geschichte und Gegenwart. Der Umgang mit Antisemitismus wird zudem gerade seitens der Lehrkräfte als außerordentlich herausfordernd beschrieben (Bernstein 2020). Zentrale Herausforderungen im pädagogischen Setting stellen zum Beispiel die subjektiv empfundene „Ungreifbarkeit“ des Antisemitismus durch die Lehrkräfte und das Fehlen institutioneller Konzepte dar (Chernivsky/Lorenz 2020, 90). Auch die historisch gewachsene emotionale und biografische Distanz sowie das brüchige Wissen über die Formen und Bedeutungszusammenhänge des Antisemitismus in der Gegenwartsgesellschaft sind Gründe, warum Antisemitismus als voraussetzungsvolles Thema empfunden wird. Ferner geraten die Affekte und Reaktionen – wie Wut, Scham oder Verdrängung – aus dem Blick (Chernivsky 2019, 6). © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 56 5 Welche Präventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich zur Vorbeugung von Antisemitismus? Zunächst ist es wichtig zu verstehen, mit welchen pädagogischen Ansätzen welcher Form von Antisemitismus begegnet werden kann. Das Bewusstsein dafür, dass nicht nach einem gleichbleibenden Schema vorgegangen werden kann, sondern unterschiedliche Maßnahmen und Formate miteinander verbunden werden können, ist eine wichtige Voraussetzung pädagogischen Handelns. Mit der Formulierung antisemitismuskritischer Perspektiven hat sich der Antisemitismusdiskurs wesentlich erneuert. Inzwischen gilt antisemitismuskritische Bildung als eine übergeordnete Bezeichnung für verschiedene Ansätze der Antisemitismusprävention, auch wenn nicht jeder (pädagogischer) Ansatz sich dieser Perspektive zwangsläufig zuordnen lässt. Zu den Grundannahmen antisemitismuskritischer Bildung gehören u. a. • das Verständnis von Antisemitismus als ein strukturelles Machtverhältnis, welches die Wahrnehmung von sowie die Beziehung zu Jüdinnen und Juden maßgeblich reguliert. • die Notwendigkeit der Kritik an antisemitischen Strukturen und die Entwicklung einer antisemitismuskritischen Perspektive, die das Aufspüren antisemitischer Haltungen voraussetzt und die damit verwobenen Praktiken und Routinen hinterfragt. • ein kritisches „Nicht-Jüdisch-Sein“ im Hinblick auf eine eigene Verwobenheit mit antisemitischen Dispositionen. • die Beachtung jüdischer Perspektiven auf Antisemitismus und Berücksichtigung von Bedarfen und Expertisen der von Antisemitismus betroffenen Menschen und Communitys. Um eine antisemitismuskritische Perspektive herauszubilden, ist es wichtig anzuerkennen, dass antisemitische Positionen vielfältig eingenommen werden können, unabhängig von der Herkunft, Gruppenzugehörigkeit oder politischen Positionierung der Einzelnen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, eine nicht verdächtigende Perspektive einzunehmen, um individuelle wie auch kollektive Beteiligungen an der Reproduktion antisemitischer Dispositionen thematisieren zu können (vgl. Messerschmidt 2018). Die Frage, wie die Bildung gegen Antisemitismus in einer migrationsgesellschaftlichen Heterogenität gelingen kann, ohne ausschließlich die Jugendlichen oder die als muslimisch markierten Gruppen zu stigmatisieren, ist dabei mehr als zentral. Antisemitismuskritik, die explizit von der Existenz eines strukturellen Antisemitismus ausgeht und diese einge- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 57 hend reflektiert, ist ein programmatischer Bestandteil einer darauf basierenden antisemitismuskritischen Pädagogik. Dabei ist es wichtig, darauf zu achten, dass die pädagogischen Formate mit dem Wesen des Antisemitismus übereinstimmen. Verstehen wir Antisemitismus als identitätsstiftendes und emotional aufgeladenes Ressentiment, reichen die auf den Gehalt der Vorurteile fokussierten Dekonstruktionsansätze oder auch die faktisch orientierte Vermittlung von Wissen über Antisemitismus nicht aus, um (aversiven) antisemitischen Affekten wirksam entgegenzuarbeiten. Verstehen wir Antisemitismus als Verschwörungserzählung, brauchen wir umso mehr eine spezifische Antwort darauf, die dem projektiven und irrationalen Gehalt antisemitischer Mythen Rechnung trägt. Bildung zu Antisemitismus setzt voraus, dass Wirkmechanismen und Funktionen von Antisemitismus mit Rückgriff auf die eigenen Haltungen und Reaktionen sowie institutionelle Praktiken reflektiert werden. Dieser Umstand wird bei pädagogischen Maßnahmen eher selten berücksichtigt, da Antisemitismus als „falsche Meinung“, als Vorurteil und nicht als institutionelle Praxis eingeordnet wird. 6 Welche Interventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich bei Vorfällen von Antisemitismus? Die Spanne antisemitischer Situationen reicht von unbeabsichtigter Reproduktion antisemitischer Stereotype bis hin zu gezielten verbalen oder auch tätlichen Angriffen auf jüdische oder auch als jüdisch wahrgenommene Schüler:innen. Der Umgang mit Antisemitismus ist daher nicht nur die Frage der Prävention, sondern auch der Intervention und Schulkultur. Der Schutz vor Diskriminierung sollte institutionell verankert sein und so zu einer zentralen Aufgabe werden, der sich alle am Schulkontext Beteiligten verpflichtet sehen. Aus der aus dem Bildungs- und Erziehungsauftrag abzuleitenden Pflicht, alle Schüler:innen vor Diskriminierung zu schützen, folgen Organisationspflichten der Schule, diesen Schutz zu gewähren. Die Reaktionen auf Diskriminierung, die Folgen von Diskriminierung, die Gründe für Diskriminierung sind zentrale Lerngelegenheiten und das ausschlaggebende Motiv, bei jeder Form von Diskriminierung einzuschreiten. Jede Schule braucht ein Konzept, wie mit Diskriminierung – und hier mit Antisemitismus – umzugehen sei (Chernivsky 2019, 10). Es bedarf einer institutionell verstetigten Fort- und Weiterbildung sowie praxisbegleitenden Supervision für pädagogische Fachkräfte, Schulleitungen, Lehrpersonal. Die Beteiligten sollen darin unterstützt werden, Schulentwicklungsprozesse zu planen, präventiv-pädagogische Programme umzusetzen sowie fallgebundene Interventionsmöglichkeiten einzuüben (ebd.). © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 58 7 Wo erkennen Sie in Ihrem Fachbereich Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten, um künftigen Lehrpersonen in der Lehrer:innen-Aus- und Weiterbildung eine Auseinandersetzung mit Antisemitismus zu ermöglichen? Lehrpersonen partizipieren an antisemitischem Wissen und tragen meistens unbewusst zu dessen Fortbestand dabei, besonders dann, wenn keine Möglichkeiten der Selbstreflexion gegeben sind. Als Vermittler:innen des gesellschaftlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags arbeiten sie als Multiplikator:innen an einer überaus relevanten Schnittstelle. Um mit Antisemitismus in der Schule professionell umzugehen, bedarf es zunächst der Herstellung einer eigenen (lern-)biografischen Beziehung zu diesem Themengegenstand. Dafür muss die Verwobenheit mit antisemitischen Strukturen reflektiert werden, die nicht losgelöst von eigenbiografischen Bezügen und gesellschaftlichen Umgangsformen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit erfolgen kann. Die Reflexionsprozesse zielen darauf ab, biografisch gewachsene Distanzierungen abzubauen, die eine Thematisierung und Annäherung verhindern können. Diese Form der Auseinandersetzung mit Antisemitismus muss spezifisch, aber nicht isoliert von der Verhandlung von Rassismus und anderen Formen der Diskriminierung als elementarer Bestandteil der Lehrerausbildung verankert werden (vgl. Antisemitismusbericht 2017). Weiterhin darf sich die Forderung der Weiterbildung und Beschäftigung nicht ausschließlich auf Lehrpersonen beschränken. Auch Schulsozialarbeiter:innen, Erzieher:innen, Schulverwaltung und die Leitungsebene nehmen für die Entwicklung einer antisemitismus-, rassismus- und diskriminierungskritischen Schule eine zentrale Rolle ein. Es braucht Räume, in denen auch fachbezogene Fragestellungen antisemitismuskritisch reflektiert und transformiert werden. Der Reproduktion von Antisemitismus kann zum Beispiel durch das kritische Hinterfragen von Methodiken und Unterrichtsmaterialien vorgebeugt werden, wenn einseitige und stereotype Darstellungen in Lehrbüchern erkannt und dechiffriert werden und eine entsprechende pädagogische Intervention erfolgt. In dieser Hinsicht sind Lehrkräfte explizit dazu angehalten, diesen Auftrag an Entscheidungsträger:innen zu richten, da Antisemitismus und Diskriminierung in der Schule konstant auftreten und eng mit Fragen von Gleichbehandlung, Diskriminierung und Repräsentation verknüpft sind (Wiegemann 2021). © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 59 8 Welche Forderungen und Wünsche, auch Hoffnungen oder Befürchtungen haben Sie im Hinblick auf eine Zukunft mit weniger / ohne Antisemitismus? Antisemitismus im Bildungswesen ist in den letzten Jahren durch zivilgesellschaftliche, mediale und wissenschaftliche Erkenntnisse auch für Nichtbetroffene wahrnehmbarer geworden. Gleichwohl ist die reale Situation an Schulen – zumindest aus der Perspektive von betroffenen Familien und auch Lehrkräften – im Wesentlichen unverändert geblieben. Nach wie vor fehlt es an Beschwerdemanagement und an institutionellen Konzepten, die antisemitismuskritisch und gleichzeitig intersektional konzipiert sind. Die Professionalisierung im Umgang mit Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung in Bildungsinstitutionen betrifft nicht nur die Lehr- und Fachkräfte, sondern insbesondere auch die Institution Schule selbst, die das Handeln Einzelner durch die Entwicklung entsprechender Konzepte rahmt. Beratungsangebote aus der Zivilgesellschaft stehen dafür bereit, Schulen dabei zu unterstützen, diese Wege einzuschlagen, sei es in Bezug auf eine diskriminierungskritische Organisationsentwicklung oder auf die Beratung und stärkende Unterstützung von Betroffenen. ANTISEMITISMUSBERICHT des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus (2017): Bundes- tagsdrucksache 18/11970. BERNSTEIN, Julia (2020): Antisemitismus an der Schule: Befunde – Analysen – Handlungsoptio- nen. Weinheim. CHERNIVSKY, Marina/Klammt, Beate/Scheuring, Jana/Wiegemann, Romina/Hartmann, De- borah/Mkayton, Noa/Rachow, Esther (i. E. 2021): „Antisemitismus? Gibt’s bei uns nicht. Oder etwa doch?“ Unterrichtsmaterialien zum Umgang mit Antisemitismus. Berlin, Jerusalem. CHERNIVSKY, Marina/Lorenz, Friederike (2020): Antisemitismus im Kontext Schule. Deutungen und Umgangsweisen von Lehrer:innen an Berliner Schulen. Berlin. CHERNIVSKY, Marina/Lorenz, Friederike/Schweitzer, Johanna (2020): Antisemitismus im Schul- alltag. Erfahrungen und Umgangsweisen jüdischer Familien und junger Erwachsener. Berlin. CHERNIVSKY, Marina (2019): Antisemitismus an der Schule entgegenwirken – Lernen am siche- ren Ort. In: Medaon-Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung, Nr. 13, S. 1-11. CHERNIVSKY, Marina/Wiegemann, Romina (2017): Antisemitismus als individuelle Erfahrung und soziales Phänomen. Zwischen Bildung, Beratung und Empowerment. In: Medaon – Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung, Nr. 11, S. 1-8. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 60 FEIN, Helen (1987): Dimensions of Antisemitism: Attitudes, Collective Accusations, and Actions. In: Dies. (Hg.): The Persisting Question. Sociological Perspectives and Social Contexts of Modern Antisemitism, Berlin/New York, S. 67-85. SALZBORN, Samuel/Alexandra Kurth (2019): Antisemitismus in der Schule. Erkenntnisstand und Handlungsperspektiven. Wissenschaftliches Gutachten, Berlin/Gießen, https://www.tu-berlin.de/fileadmin/i65/Dokumente/Antisemitismus-Schule.pdf MESSERSCHMIDT, Astrid (2018): Selbstbilder in der postnationalsozialistischen Gesellschaft. In: Brumlik, Micha/Chernivsky, Marina/Czollek, Max/Peaceman, Hannah/Shapira, Anna/Wohl von Haselberg, Leah (Hg.): Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart: Gegenwartsbewältigung, H. 2/2018, S. 38−46. WIEGEMANN, Romina (i. E. 2022): Die Thematisierung der Shoah in der Grundschule. Eine anti- semitismuskritische Perspektivierung. In: Chernivsky, Marina/Lorenz, Friederike (Hg.): Shoah in Bildung und Erziehung heute. Weitergaben und Wirkungen in Gegenwartsverhältnissen. Berlin. MARINA CHERNIVSKY ist Psychologin und Verhaltenswissenschaftlerin. Sie leitet das Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment und ist Gründungsgeschäftsführerin von OFEK e. V. Bis 2017 war sie Mitglied im Zweiten Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus des Deutschen Bundestages und ist seit 2019 Mitglied im Beratungsgremium des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus. ROMINA WIEGEMANN ist Leiterin der Bildungsprogramme im Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment. Sie studierte Government and Middle Eastern History (B.A.) in Israel und Holocaust Studies (M.A.) in Berlin. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 61 MONIQUE ECKMANN Antisemitismuskritische Bildung stellt hohe Anforderungen an Pädagoginnen und Pädagogen 1 Gibt es in Ihrem Fachbereich Berührungspunkte mit Antisemitismus? Als Soziologin lehre und forsche ich über soziale Zusammenhänge und Machtbeziehungen, soziale Identitäten und Erinnerungsgemeinschaften, Zugehörigkeitsprozesse und Entfremdungsmechanismen. Ich vertrete Ansätze mit sozialpsychologischen Komponenten und habe immer versucht, Interventions-, Bildungs- und Handlungsmodelle zu entwickeln. In meiner jahrzehntelangen Unterrichtspraxis auf Fachhochschulstufe zu Intergruppenkonflikten und Dialogen, zu Beziehungen zwischen Mehrheiten und Minderheiten sowie zum Umgang mit Rassismen in der sozialen und pädagogischen Praxis war Antisemitismus quasi immer ein „Nebenschauplatz“. Zwar wurde er insbesondere für den Nationalsozialismus als historisch relevant angesehen, jedoch von Studierenden und Kolleg:innen nur selten auf die Gegenwart bezogen. Antisemitismus hat seine eigenen Mechanismen und Eigenschaften, aber er gehört zum weiteren Feld des Rassismus, wobei Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede immer betont werden müssen. Ich vertrete den Standpunkt, dass beide, Rassismus und Antisemitismus, gemeinsam gedacht und zugleich in ihren jeweiligen Eigenheiten betrachtet werden müssen. Dies ist eine Gratwanderung, die mir aber im Kontext antisemitismuskritischer Bildungsarbeit unerlässlich scheint. Dies umso mehr, weil wir uns heute in Europa im Span- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 62 nungsfeld sowohl eines post-nationalsozialistischen als auch eines post-kolonialen Kontexts befinden. 2 Gab es für Sie Anlässe, sich mit Antisemitismen im Bildungsbereich zu beschäftigen? Als in der Bildung gegen alle Formen von Rassismus Aktive – sowie auch als Jüdin – musste ich bald einsehen, dass ich „Farbe bekennen muss“. Konkret heißt dies, meine Privilegien als Weiße, als Schweizer Bürgerin und aus der Mittelschicht stammend anerkennen, wie auch meine Position als Frau und als Jüdin einnehmen. Mit anderen Worten: Ich muss meine Zugehörigkeit zum jüdischen Kollektiv transparent machen. Das bedeutet nicht, stets einen Opferstatus zu betonen, sondern vielmehr aufzuzeigen, dass Zugehörigkeiten vielschichtig sind, vielfache historische und gegenwärtige Erfahrungen beinhalten, und dass es auch mit den „eigenen Leuten“ Konflikte gibt, innerjüdische Konflikte, genauso wie es innere Konflikte bei allen Minderheiten gibt. Zu diesen Konflikten gehört auch der Umgang mit Antisemitismen. Der Weg zur Gleichstellung führt nicht nur über Empowerment, sondern auch über Selbstkritik. Es gilt demnach, die Mehrheiten als auch die Minderheiten auf Selbstkritik und Respekt für die Perspektive der anderen anzusprechen. Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass mich meine Zugehörigkeiten sowohl zu Mehrheiten wie auch zu Minderheiten zu Verständnis und Empathie für die Probleme und auch die Dilemmata beider Seiten befähigen. Das hat mich zu Forschungsprojekten geführt, die sich mit den Betroffenen befassen, also mit den Opfern von rassistischer Gewalt und Diskriminierung, und darauf zielen, deren Rechte und Würde wiederherzustellen. In Zusammenarbeit mit der Hotline der NGO „ACOR SOS Racisme“ der Westschweiz führten wir eine erste Forschung durch, welche Einblicke in die Erfahrung von rassistischen Vorfällen erlaubte und eindrücklich zeigte, wie schmerzhaft und traumatisch das wiederholte Erleben von Hass und Gewalt, Ausschluss, Ablehnung und Verachtung wirken und wie sehr sich die Betroffenen in allererster Linie wünschen, mit echter Aufmerksamkeit angehört und wirklich ernst genommen zu werden (Eckmann et al. 2001). Dies hat uns zur Entwicklung von pädagogischen Ansätzen gegen Rassismus und Antisemitismus geführt (Eckmann/Eser Davolio 2003). Es hat sich jedoch gezeigt, dass die Lehrpersonen sowie die Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen Mühe haben, Rassismus und Antisemitismus im Alltag zu erkennen. Zudem verfügen sie über keinen Raum der Supervision oder Intervision, um sich © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 63 über erlebte Vorfälle auszusprechen und diese aufzuarbeiten. Daraus haben wir die Idee einer Intervisions-Forschung entwickelt, die in Frage 7 erörtert wird. 3 In welchen Kontexten bzw. im Rahmen welcher Konzepte sollten Ihrer Ansicht nach Antisemitismen an Schulen, Hochschulen und in der Öffentlichkeit betrachtet werden, um sich damit angemessen auseinandersetzen zu können? Das kann im Rahmen vom Thema „Menschenrechte und Demokratie“ und insbesondere im konkreten Umgang mit Rassismen, Gewalt und Diskriminierung geschehen. Im Prinzip soll es, wenn immer möglich, in Bezug zur angehenden Praxis stehen, zum Alltag der zukünftigen Lehrpersonen oder Sozialarbeitenden. Praktisch sind Fallbeispiele zu Antisemitismus, die kollektiv aufgearbeitet werden und die die unterschiedlichen Perspektiven einbeziehen, sowohl diejenigen der „Opfer-“ als auch der „Täter-“ und „Bystander“-Figuren. Je nach Kontext verläuft diese Bearbeitung der Fälle sehr unterschiedlich: Eine Herausforderung dabei ist, dass heutzutage in gewissen Kreisen, die sich als antirassistisch betrachten, dem Erscheinen von Rassismus eine große Aufmerksamkeit geschenkt wird, Antisemitismus hingegen nicht beachtet oder sogar abgestritten wird. In anderen Kreisen ist es genau umgekehrt! Es gilt jedoch unbedingt, Rassismen und Antisemitismen gemeinsam zu reflektieren, ihre Verflechtungen und Interaktionen zu verstehen und sowohl deren Gemeinsamkeiten als auch deren Unterschiede zu erkennen und auch anzuerkennen (Eckmann 2015a). 4 Was ist Ihrer Ansicht nach in Bezug auf Antisemitismus für die Schule besonders bedeutsam? Besonders bedeutsam ist das Lernen des Erkennens und Anerkennens von antisemitischen Vorfällen. Dabei gilt es, in diesen Vorfällen antisemitische Bilder und Anschuldigungen zu erkennen, die vielfach auf alten Stereotypen beruhen. Die Wahrnehmung von Antisemitismus wird oft auf NS-Antisemitismus reduziert und als „damals“ beiseitegeschoben. Anspielungen und Auslassungen hingegen, die heute von vielen jüdischen Menschen erlebt werden und die kränken, ausschließend wirken oder sogar Ängste auslösen, werden nicht als Vorfälle anerkannt. Es handelt sich hier um Antisemitismus als ein feiner kultureller Code (Volkov 2000), um selbstverständliche, geteilte Gedankengänge, insbesondere was die vermeintliche Macht der Juden betrifft. Dabei handelt es sich heutzutage weniger oft um antisemitische Diskriminierung im Sinne von Benachteiligung auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 64 oder durch unangemessene Behandlung durch die Polizei, wie dies im alltäglichen Rassismus so oft der Fall ist. Vielmehr geht es um Hassreden, Anspielungen, Gleichsetzungen und verbale oder physische Gewalt. Dabei spielen Ressentiments und Verschwörungsdiskurse eine große Rolle, welche es zu erkennen und zu dekonstruieren gilt. Auch ist eine gewisse Kommunikationslatenz (Bergmann/Erb 1986) zu beobachten. Das Thema Jüdinnen und Juden sowie Antisemitismus ist tabu, wird deshalb nur zögernd aufgenommen und oft übergangen, aus Angst, „etwas Falsches zu sagen“. Dies weist wiederum darauf hin, „man dürfe ja nichts sagen“, was auf die vermeintliche Macht der Juden anspielt. Es gilt also, das Bewusstsein für antisemitische Gedankengänge und Bemerkungen zu schärfen, auch (oder sogar vor allem) bei Lehrpersonen. 5 Welche Präventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich zur Vorbeugung von Antisemitismus? Es scheint mir wichtig, dass in der Ausbildung Räume angeboten werden, wo das Entstehen und Tradieren von Bildern über Minderheiten hinterfragt werden kann, also „was weiß ich“ (oder „glaube ich zu wissen“) über Jüdinnen und Juden, über Schwarze, Sinti und Roma, Muslime usw. – und „woher weiß ich das“? Was für eine Rolle spielt meine Sozialisation? Was habe ich gehört oder verstanden in meiner familiären und sozialen Umwelt? Welche Bilder wurden in meiner Kirche, in meinen Kreisen, meinen Parteien oder Clubs vermittelt? Haben wir überhaupt wahrgenommen, dass diese Minderheiten öfters präsent waren, als wir dachten? Über wen gab es „leeres Sprechen“ (Welzer et al. 2002), etwa im Sinn: „Man weiß ja, wie die sind“. Es bewährt sich oft, mit Dissonanzen zu arbeiten, also Widersprüche bei sich selbst oder in der Geschichte der eigenen „Wir“-Gruppe zu entdecken. So wurden Jüdinnen und Juden jeweils sowohl als Kapitalisten als auch als Kommunisten beschuldigt. Diese Bilder gemeinsam anzuschauen, sie zu hinterfragen, erlaubt, sie zu dekonstruieren. Um solche schrägen Bilder zu korrigieren und zu verändern, ist es natürlich außerdem sehr hilfreich, eine Begegnung mit realen Personen dieser Minderheitengruppen zu ermöglichen oder sich mit der Geschichte dieser Minderheiten zu beschäftigen. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 65 6 Welche Interventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich bei Vorfällen von Antisemitismus? In den letzten Jahren haben sich vier Bildungsstrategien gegen Antisemitismus herauskristallisiert, die je nach Kontext auch gemischt verwendet werden können. Sie berücksichtigen verschiedene Konstellationen in unterschiedlicher Weise und reagieren insbesondere auf folgende Facetten des Antisemitismus (Eckmann 2012, 2015b): • Antisemitismus als Konstellation von Diskurs-Figuren und Bildern: Sie erkennen und dekonstruieren. Es handelt sich hier um eine eher kognitive Annäherung, eine Arbeit mit Repräsentationen wie Verschwörungstheorien und Machtfantasien, Gerüchte über „die Juden“, die angeblich sowohl mit Übermacht ausgestattet als auch ewige Opfer sind. In diesem Zusammenhang kann man „Antisemitismus ohne Juden“ beobachten, da diese Bilder in vielen Kontexten existieren, auch, ohne dass Juden gegenwärtig sind. Es handelt sich nicht nur um Feindbilder, sondern auch um eine Weltanschauung, einen kulturellen Code, der Erklärungsmuster für alles liefern soll. • Antisemitismus als Erfahrung im Bereich Rassismus/Diskriminierung: Ein sozialpädagogischer Ansatz, wo persönlich erlebte Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen angesprochen und ausgetauscht werden. Dies verlangt, dass die Erfahrungen aller Beteiligter zur Sprache kommen können, seien es Formen von Rassismen, darunter antimuslimischer Rassismus oder Antiziganismus, seien es andere Diskriminierungserfahrungen wie Homophobie oder Sexismus. Als Erfahrung kann gewertet werden, wenn jemand durch Äußerungen direkt betroffen ist, aber auch, wenn jemand antisemitische oder rassistische Äußerungen hört oder dergleichen Bilder sieht. Meist verhalten sich bei solchen Vorfällen die Zuschauer:innen ambivalent oder fast gelähmt und wissen nicht, wie sie reagieren sollen. Dies ist ein Ansatz, der aus der Antidiskriminierungspädagogik kommt, wo Vorfälle weder hierarchisiert noch gewertet werden. Jeder Person wird die Gelegenheit geboten, eigene Erfahrungen als Betroffene darzulegen – seien es Ressentiments, Entwürdigungen, Ängste oder alltägliche Diskriminierungen. Auf der Basis der Anerkennung dieser Erfahrungen wird im nächsten Arbeitsschritt nach gemeinsamen Strategien gesucht, um Diskriminierungen und Hass entgegenzuwirken und solidarisch zu handeln. Ziel dabei ist, alle dazu anzuregen, Verantwortung zu übernehmen und Opfer zu schützen. • Antisemitismus als Intergruppenkonflikt: Dieser Ansatz bietet Gelegenheit zu Begegnungs- und Dialogprojekten, die auf der Basis der sozialpsycholo- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 66 • gischen Kontakthypothesen beruhen; er ist auch von der Friedenspädagogik inspiriert. Es werden Begegnungen zwischen sich ablehnenden oder sich ignorierenden Gruppen organisiert, also Treffen, die eine sorgfältige Moderation benötigen. Intergruppenkontakte und -begegnungen haben nur einen positiven Effekt, wenn gewisse Bedingungen berücksichtigt werden. Dazu gehören sehr sorgfältige Vor- und Nachbereitungen der Begegnung. Es muss auch darauf geachtet werden, dass möglichst gleichwertige Gruppen, also vergleichbar in Bezug auf die Anzahl, den Status oder den Bildungsgrad, zusammengebracht werden. Zudem braucht es eine Co-Moderation von Pädagoginnen und Pädagogen beider Gruppen. Eines der Ziele dieser Begegnungspädagogik besteht darin, Vorurteile und Stereotypen abzubauen, indem „die Anderen“ – über die oft fantasiert wird, ohne dass sie real bekannt sind – in ihrer spezifischen, aber auch allgemein menschlichen Natur erlebt werden. Allerdings können unzureichend durchdachte Begegnungsprojekte entgegen der pädagogischen Intention intergruppale Feindseligkeit verstärken. Etliche Begegnungsprojekte sind auch Dialogprojekte, in denen „die Anderen“ befragt, aber auch die eigenen Vorurteile hinterfragt werden. Dialog führt im besten Fall zum Verständnis „des Anderen“ oder auch von der Kritik „der Anderen“ ausgehend zur kritischen Betrachtung „des Eigenen“, also zu Selbstreflexion oder Selbstkritik. Nun bergen aber Antisemitismus-Begegnungsprojekte ein Risiko, nämlich dass Asymmetrie entsteht: Wenn nämlich nur Antisemitismus thematisiert würde, würden automatisch die jüdischen Teilnehmenden auf die Opferposition reduziert und die nichtjüdischen der Täterposition zugeordnet. Solche Asymmetrie kann Abwehr und Ressentiments auslösen und in eine Sackgasse führen. Ohne Gegenseitigkeit ist Begegnungspädagogik nicht produktiv. Es gilt also, Projekte zu konstruieren, die auf gegenseitige Solidarität abzielen. Antisemitismus als Global- und Lokalgeschichte: Hier geht es um Arbeit mit Spuren der Geschichte(n) und Einbezug von Erinnerung(en). Vor allem Ansätze zur Geschichts- und Erinnerungsarbeit im lokalen Kontext bieten interessante Perspektiven zu antisemitismuskritischer Bildungsarbeit, die Perspektiven sowohl der Mehr- wie auch der Minderheiten umfassen. Sich mit dem lokalen Kontext zu beschäftigen und Spuren von alltäglichen und außerordentlichen Ereignissen nachzugehen, fördert zudem ein Bewusstsein für die Verbindung zwischen lokaler und globaler Geschichte sowie für die Diversität der Gesellschaft gestern und heute. Es gilt einerseits, Erinnerungen der eigenen Familienmitglieder aufzuarbeiten, also biografische Zugänge zu Migration, zu Krieg, Flucht, Exil oder zur Geschichte der Alltags- und Arbeitswelt © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 67 zu finden. Andererseits soll in diesem Kontext auch auf das Zusammenleben von jüdischen und nichtjüdischen Nachbarinnen und Nachbarn eingegangen werden. All dies kann anhand von Gebäuden, Straßen, Archiven und Plätzen geschehen. Es ist ein territorialer Ansatz, in dem die „citoyenneté“ im Sinne von territorialer Zugehörigkeit und aktiver Partizipation aller Beteiligten im Vordergrund steht. Wichtig ist bei allen Ansätzen, nicht-anklagende, antisemitismuskritische Bildungsperspektiven zu vertreten, welche Selbstreflexion fördern und auf einer inklusiven Perspektive beruhen – ohne eine implizite oder explizite Kategorisierung zwischen „Guten“ und „Bösen“, Antisemiten und Nicht-Antisemiten, Rassisten und Nicht-Rassisten zu bewirken. 7 Wo erkennen Sie in Ihrem Fachbereich Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten, um künftigen Lehrpersonen in der Lehrer:innen-Aus- und Weiterbildung eine Auseinandersetzung mit Antisemitismen zu ermöglichen? In unserer Forschungs- und Supervisionsarbeit haben wir vielfach beobachtet, wie sehr Pädagoginnen und Pädagogen empört sind, wenn sie rassistische oder antisemitische Vorfälle beobachten. Gleichzeitig beobachteten wir auch oft, dass sie wie gelähmt wirkten und nicht wussten, wie sie sich verhalten sollen. Es ist, als ob ihr pädagogisches Handlungswerkzeug nicht mobilisierbar wäre. Wir haben deshalb eine Intervisions-Forschung durchgeführt, indem wir Workshops anboten, in denen es um Situationen ging, die von den Beteiligten selbst erlebt wurden. Diese Vorfälle haben sie manchmal Monate oder sogar Jahre später noch beschäftigt, und es galt, aus problematischen Vorfällen zu lernen. Wir haben eine Methode entwickelt (Eckmann et al. 2009), die auf selbst erlebten oder beobachteten „Critical Incidents“ beruht, d. h. auf Vorfällen oder Konflikten, die den Lauf der beruflichen Handlung stören, eventuell unterbrechen, und die Pädagoginnen und Pädagogen dazu bringen, irgendeine Reaktion in Betracht zu ziehen. Die Methode sieht etwa so aus: Zuerst werden „Critical Incidents“ in Kleingruppen zusammengetragen, dann nach Vorgabe detailliert aufgeschrieben und an alle Personen der Gruppe verteilt. In einem zweiten Treffen wird jeder Vorfall in einer ausführlichen, kollegialen Beratung besprochen und analysiert, um danach konkrete Handlungsspielräume auszuloten. Es werden u. a. folgende Fragen angegangen: Welche Vorfälle beobachte ich? Was geschieht bei mir als Lehrperson? Welche Emotionen löst dieser Vorfall bei mir aus? Welche Perso- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 68 nen sind involviert? Wie kann und wie möchte ich reagieren? Welche Kontakte könnten mir weiterhelfen? Wie gehe ich mit Kolleginnen und Kollegen bzw. der Institution um? Es war interessant zu beobachten, wie sehr sich die Pädagoginnen und Pädagogen von den konkreten Vorfällen selbst betroffen fühlten, wie groß sich die Emotionen dabei erwiesen und wie wichtig es war, diese aussprechen zu können. Eine Herausforderung war, sich klar zu werden, aus welcher Perspektive sie selbst diese Vorfälle erlebt hatten: als Opfer, als Täter:innen oder als Bystander. In den meisten aufgeführten „Critical Incidents“ waren sie Bystander, also Beobachter:innen von Jugendlichen, aber nach und nach enthüllten sich auch Vorfälle, in denen sie sich als Opfer oder auch als Täter:innen erwiesen. Ich halte diese Methode für eine Möglichkeit, um einen persönlichen und kollektiven Lernprozess in Gang zu setzen, der erlaubt, die eigene emotionelle Reaktion auf antisemitische Äußerungen und Bilder besser zu verstehen und im Team Handlungsoptionen zu entwickeln, welche den Einzelnen eine große Unterstützung bieten können. Doch es geht nicht nur um die einzelnen rassistischen und antisemitischen Vorfälle, sondern um das Klima, das in der Institution herrscht; und dieser Prozess kann auch auf eine rassismusfreie und antisemitismusfreie Schul- oder Organisationskultur einwirken. 8 Welche Forderungen und Wünsche, auch Hoffnungen oder Befürchtungen haben Sie im Hinblick auf eine Zukunft mit weniger / ohne Antisemitismus? Antisemitismuskritische Bildung stellt hohe Anforderungen an Pädagoginnen und Pädagogen. Sie sind stets gefordert, sich zwischen Banalisierung und Dramatisierung zu positionieren. Eine große Herausforderung heute ist Antisemitismus im Kontext des Nahostkonflikts, also zu erkennen, wann er auftritt und wann nicht. Ihn zu ignorieren ist falsch, aber voreilige AntisemitismusZuschreibung ist ebenso falsch. Es kann nicht immer mit Sicherheit beurteilt werden, ob es sich um Antisemitismus handelt oder nicht, deshalb ist es unbedingt notwendig, in jedem Fall Diskurse oder Vorfälle in ihrem spezifischen Kontext zu betrachten sowie die Emotionen zu hinterfragen, also immer wieder Selbstreflexion auszuüben (Eckmann/Kößler 2020). Was den Nahostkonflikt selbst betrifft, sind wir gefordert, die verschiedenen Narrative anzuhören und sie anzuerkennen. Deshalb ist Ambiguitätstoleranz, also das Aushalten von Widersprüchen, eine zentrale Anforderung an Pädagoginnen und Pädagogen; ebenso der Umgang mit Komplexität. Auch im Kontext des Nahostkonflikts gilt es, nicht einfach die Seiten in „Gut“ und „Böse“ einzu- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 69 teilen. Ein wichtiger Beitrag zur Bekämpfung von Antisemitismus im Kontext des Nahostkonflikts wäre vielmehr, die gemeinsamen Stimmen von jüdischerisraelischer-palästinensischer Seite hörbar zu machen. Stimmen, die sich weigern, Feinde zu werden oder sich gegeneinander ausspielen zu lassen, Stimmen, die sagen, „wir lassen uns nicht trennen“. BERGMANN, Werner/Erb, Rainer (1986): Kommunikationslatenz, Moral und öffentliche Mei- nung. Theoretische Überlegungen zum Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 38, S. 223-246. ECKMANN, Monique/Kößler, Gottfried (2020): Pädagogische Auseinandersetzung mit aktuellen Formen des Antisemitismus. In: Deutsches Jugendinstitut. Online: https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/FGJ4/Eckmann_Koessler_2020_Antisemitismus.pdf (Zugriff: 15.7.21). ECKMANN, Monique (2015a): Herausforderungen im Umgang mit Rassismen und Antisemitis- men –Formen der Interaktion. In: Rauschenberger, Katharina/Konitzer, Werner (Hg.): Antisemitismus und andere Feindseligkeiten. Interaktionen von Ressentiments. Frankfurt/M., S. 157-174. ECKMANN, Monique (2015b): Bildungsstrategien gegen Antisemitismen. In: Diskriminierung da- mals und heute – ein Thema in der internationalen Jugendarbeit. In: LaG-Magazin, Lernen aus der Geschichte, 01/2015, S. 17-22. Online: http://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernenund-Lehren/content/12203 (Zugriff: 15.7.21). ECKMANN, Monique (2012): Gegenmittel. Bildungsstrategien gegen Antisemitismen. In: Einsicht, 08/2012, S. 44-49. Online: https://www.stiftung-evz.de/fileadmin/user_upload/EVZ_Uploads/Handlungsfelder/Auseinandersetzung_mit_der_Geschichte_01/Dossier_Antisemitismus/Blickwinkel/Einsicht-08_Eckmann_Eroeffnungsvortrag_Gegenmittel_BlickwinkelTagung_2011.pdf (Zugriff: 15.7.21). ECKMANN, Monique/Sebeledi, Daniela/Bouhadouza von Lanthen, Véronique/Wicht, Laurent (2009): L’incident raciste au quotidien. Représentations, dilemmes et interventions des travailleurs sociaux et des enseignants. Genf. ECKMANN, Monique/Eser Davolio, Miryam (2003): Rassismus angehen statt übergehen. Theorie und Praxisanleitung für Schule, Jugendarbeit und Erwachsenenbildung. Zürich. ECKMANN, Monique/Salberg, Anne-Catherine/Bolzman, Claudio/Grünberg, Karl (2001): De la parole des victimes à l‘action contre le racisme. Bilan d’une recherche-action. Genf. VOLKOV, Shulamit (2000): Antisemitismus als kultureller Code. München. WELZER, Harald/Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline (2002): „Opa war kein Nazi“. Nationalsozi- alismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt/M. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 70 MONIQUE ECKMANN ist Soziologin und emeritierte Professorin der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Westschweiz in Genf. Sie setzt sich mit Identität und Erinnerung, Mehrheiten und Minderheiten, Konflikt und Dialog auseinander, insbesondere im Feld von Antisemitismen und Rassismen. Ihre Forschung und Publikationen sind inspiriert von Aktionsforschung und Friedenspädagogik. Sie hatte mehrere nationale und internationale Mandate inne, unter anderem war sie von 2004 bis 2018 als Mitglied der Schweizer Delegation bei der IHRA. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 71 HELGA EMBACHER Interessen und Instrumentalisierung benennen 1 Gibt es in Ihrem Fachbereich Berührungspunkte mit Antisemitismus? Zu Beginn des Sommersemesters 2021 löste das Seminar „Ethische Interventionen: Boykott-Strategien: Pro und Contra“ an der Universität Salzburg heftige, auch von den Medien aufgegriffene Diskussionen aus. Im Fokus der Kritik stand der Seminarleiter Georg Meggle, emeritierter Professor für Philosophische Anthropologie und Kognitionswissenschaften an der Universität Leipzig. Einige Studierende und ÖH-Vertreter:innen, unterstützt von der Jüdischen Hochschüler:innenschaft und vom DÖW, warfen ihm insbesondere die Unterstützung der BDS-Bewegung vor; er hatte beispielsweise 2011 eine Petition gegen das Auftreten der Berliner Schaubühne in Israel unterzeichnet, in der u.a. vom „Apartheidstaat“ die Rede war. Argumentiert wurde auch mit der vom österreichischen Parlament übernommenen IHRA-Definition, wonach ein Boykott Israels als antisemitisch einzustufen sei. Meggle wiederum distanzierte sich von jedem Antisemitismus innerhalb des BDS. Unterstützung kam ihm von einigen Philosophie-Studierenden zu, die in einem offenen Brief für die Freiheit der Wissenschaft und Lehre eintraten. Das Rektorat sagte das Seminar letztendlich ab, um, wie es hieß, sich Zeit zu verschaffen, um die Sache zu prüfen. Argumentiert wurde zudem damit, dass aufgrund der bisherigen Diskussionen kein reibungsfreier Ablauf mehr möglich sei. Hinsichtlich der vorgebrachten Antisemitismus-Vorwürfe übte das Rektorat Zurückhaltung. Interessant ist der Vorfall auch deshalb, da die Universität Salzburg seit 2018 den kürzlich verstorbenen antifaschistischen griechischen Musiker und Schriftsteller Mikis Theodorakis als Ehrendoktor führt. Dieser wurde bereits © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 72 2003 vom Zentralrat der Juden in Deutschland sowie von der Israelitischen Kultusgemeinde Wien als antisemitisch eingestuft. Der Grund dafür waren Aussagen, in denen er Israel als „Wurzel des Übels“ bezeichnete, „die Zionisten“ sowie die „amerikanischen Juden“ für die Weltwirtschaftskrise und „alles was in der Welt passiert“ verantwortlich machte (TAZ, 15.11.2003). Als Theodorakis im September 2021 starb, bekannte sich auch das gegenwärtige Rektorat (2019 installiert) in einem Nachruf kritiklos zu diesem Ehrendoktor. In der medialen Berichterstattung über den „Fall Meggle“ wurde auch wiederholt auf den „Fall Hafez“ hingewiesen. Farid Hafez ist ein international bekannter, aber auch umstrittener Islamforscher (habilitiert am Fachbereich Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Salzburg). Auf öffentliche Kritik stießen insbesondere die von ihm mitherausgegebenen Islamophobie-Reporte, die von SETA, einem der türkischen AKP nahestehenden „Think Tank“, finanziert werden (2020 im Übrigen auch von der EU). Im Herbst 2020 war Hafez ins Visier der gegen den „Politischen Islam“ gerichteten Razzia „Operation Luxor“ geraten. Er zählte zu den rund 70 Beschuldigten, bei denen Hausdurchsuchungen durchgeführt und Konten eingefroren wurden. Sie wurden verdächtigt, einer staatsfeindlichen Verbindung und kriminellen Organisation, sprich Muslimbruderschaft, anzugehören und Terrorismus zu finanzieren. Antisemitismus kam insofern ins Spiel, als Hafez in einem Online-Beitrag für die Islamophobie-Initiative der Georgetown University in Washington die Razzia – sie hatte am 9. November stattgefunden – in den Kontext der Reichspogromnacht und der Verfolgung der Uiguren in China stellte. Die Wiener Israelitische Kultusgemeinde sprach von einer „inakzeptablen Opfer-Täter-Umkehr“ und „Verhöhnung der Opfer des Genozids“ und forderte von Rektor Lehnert den „Rücktritt von Hafez“. Das Rektorat distanzierte sich von diesem Vergleich, lehnte allerdings weitere Konsequenzen ab, zumal auch noch keine Anklage erhoben wurde. Das von renommierten Wissenschaftler:innen getragene „Unterstützungskomitee für Farid Hafez“ betonte hingegen, dass er keine Gleichsetzung zwischen der Razzia und der Reichspogromnacht beabsichtigt habe; die Razzia wurde als Einschüchterungsversuch gegen einen anerkannten Wissenschaftler verurteilt. Im Sommer 2021 kam das Grazer Oberlandesgericht zu der Erkenntnis, dass die Razzia zum Teil rechtswidrig durchgeführt wurde. Hinsichtlich der Muslimbruderschaft wird festgehalten, dass diese nicht als „weltweit homogene Gruppe, die als Ganzes die juristisch verlangten Merkmale einer Terrororganisation aufweist“, betrachtet werde könne. Der Rückschluss, jede Person, die dieser Bewegung zugerechnet wird, sei ein Terrorist, sei somit falsch und darum unzulässig. Das Verfahren gegen Hafez ist noch nicht abgeschlossen. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 73 Diese Beispiele wurden deshalb so ausführlich beschrieben, da sie symptomatisch sind für die Komplexität von bestimmten Ausdrucksformen des Antisemitismus, für die Überlagerung von Antisemitismus und Islamfeindlichkeit und vor allem für die Politisierung des Themas. Dabei ging es mir keineswegs um eine Parteinahme für Meggle (dessen Haltung zum BDS sowie dessen Antisemitismus-Definitionen ich nicht teile) oder für Hafez, sondern um die Thematisierung einer Problematik, mit der Universitäten sowie andere Bildungseinrichtungen auch in Österreich konfrontiert werden. Vor allem stehen sie vor der Herausforderung, wie angemessen auf unterschiedliche Einschätzungen und Konzepte von Antisemitismus und Islamfeindlichkeit (die zunehmend von postkolonialen Debatten überlagert werden) reagiert werden kann, ohne damit die Freiheit der Wissenschaft zu gefährden. 2 Gab es für Sie Anlässe, sich mit Antisemitismen im Bildungsbereich zu beschäftigen? Ich unterrichte mittlerweile seit etwa 20 Jahren über Nationalsozialismus und Antisemitismus, jüdische Geschichte sowie über den Nahen Osten, insbesondere den Konflikt zwischen Israel und den Palästinenser:innen. Als Lehrende (vor allem an der Universität Salzburg, aber auch an anderen österreichischen Universitäten und als Gastprofessorin in den USA) und Forschende habe ich durch diesen Unterricht viel gelernt und musste auch wiederholt meinen eigenen politischen und moralischen Standort hinterfragen. Was mich in der Lehre derzeit beschäftigt, ist die Frage, welches Wissen bei Studierenden und Lehrpersonen für das Erkennen von Antisemitismus vorausgesetzt werden kann, und insbesondere, welche Bilder und Vorstellungen (sowohl positive als auch negative) von Juden und Jüdinnen, Israel und den Palästinenser:innen, aber auch von Muslim:innen vorhanden sind und woher sie stammen. Dies ist aber schwer auszumachen, da viele an „meinen“ Themen zwar großes Interesse zeigen, gleichzeitig eine gewisse Unsicherheit besteht, offen darüber zu sprechen, Meinungen zu äußern oder Fragen zu stellen. Zudem nehmen an diesen Kursen vor allem an diesen Themen interessierte Studierende teil. Weniger Interessierte bleiben unerreichbar, auch deshalb, weil im Studienplan eine große Wahlmöglichkeit besteht. Hinsichtlich des Wissensstandes ist mir beispielsweise aufgefallen, dass nur wenige Kursteilnehmer:innen den Begriff des Zionismus beschreiben können und kaum wer mit der Geschichte Israels und des Nahostkonflikts (worunter mittlerweile nicht mehr nur der Israel-Palästina-Konflikt verstanden wird) © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 74 näher vertraut ist (Israel wird zumeist als ein von Beginn an „religiöser Staat“ wahrgenommen). Damit fällt es vielen schwer, Antisemitismus als solchen zu erkennen oder Codes und Umfrageergebnisse zum Antisemitismus zu deuten (zum Beispiel wer mit „Rothschild“ in Postings gemeint ist, der Begriff des „Ritualmordes“ ist weitgehend unbekannt, „jüdische Macht“ wird nicht unbedingt negativ gedeutet). Ob sich der Wissensstand in den letzten Jahrzehnten tatsächlich verändert hat, ist jedoch fraglich. Verändert hat sich jedenfalls die Rolle von Studierendenorganisationen, die nunmehr primär serviceorientiert sind und kaum Veranstaltungen zu aktuellen politischen Themen anbieten. Aktionen wie jene zum Verbot des Seminars von Prof. Meggle werden vom Großteil der Studierenden kaum wahrgenommen, der BDS ist in Salzburg bislang weitgehend unbekannt. Das fehlende Wissen über Antisemitismus und den Nahostkonflikt, die damit verbundenen Emotionen sowie einseitige Bilder von Jüdinnen und Juden, Israel und den Palästinenser:innen bergen meiner Ansicht nach die Gefahr in sich, dass diese sich leicht verfestigen und schnell umkehren können. Dies konnte ich beispielsweise auf Israel-Exkursionen beobachten, wo viele nach einer Führung in Yad Vashem große Empathie für Israel zeigten, die sich nach einem Besuch in Mea Shearim oder Ramallah allerdings schnell ins Gegenteil verkehren konnte. Ein anderes Beispiel dazu ist eine E-Mail, die ich während des letzten Gazakrieges (Mai 2021) von einem sehr engagierten, antifaschistisch eingestellten AHS-Lehrer für Geschichte und Deutsch erhalten habe. Darin beklagte er nicht nur die einseitige Berichterstattung der österreichischen Medien und forderte eine Mahnwache für das vom Islamismus bedrohte Israel, sondern rechnete auch mit den Linken ab. Der bekannte Zeitzeuge Marko Feingold diente als „Entlastungsjude“: „Und die Linke in ihrer Verrottetheit schweigt dazu, inklusive der ,Refugee (sic!) welcome‘-Gemeinde, durch deren Beteiligung 2015 abertausendfach arabische und islamische Antisemiten importiert wurden. Marco (sic!) Feingold hat schon recht gehabt, als er – von ,links‘ heftig kritisiert – feststellte, dass ihm diese Entwicklung mehr Sorgen bereite als ein paar Neonazis.“ Hoffnungsvoll stimmt, dass viele Studierende und Lehrpersonen großes Interesse an diesen Themen zeigen, Empathie mit jüdischen Opfern aufbringen und durchaus bereit sind, problematische Sichtweisen zu korrigieren. Dazu müssen ihnen aber mehr Hilfestellungen angeboten werden, zumal das bestehende Lehrangebot an den Universitäten sowie die Lehrer:innenfortbildung für eine fundierte Ausbildung nicht ausreichen und allenfalls einen Bruchteil der Studierenden und Lehrpersonen erreichen. Wichtig fände ich zudem fun- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 75 dierte wissenschaftliche Studien, die sich mit der Frage der Tradierung von Antisemitismus sowie mit den positiven (und teilweise auch problematischen) Vorstellungen von Jüdinnen und Juden, Israel und Palästina beschäftigen. Der Fokus sollte dabei keineswegs nur auf Muslim:innen gelegt werden. 3 In welchen Kontexten bzw. im Rahmen welcher Konzepte sollten Ihrer Ansicht nach Antisemitismen an Schulen, Hochschulen und in der Öffentlichkeit betrachtet werden, um sich damit angemessen auseinandersetzen zu können? Antisemitismus ist ein sehr ernst zu nehmendes Problem, das allerdings nicht isoliert, sondern gesamtgesellschaftlich betrachtet werden muss. Ich verstehe Antisemitismus als Form von Rassismus, womit Charaktereigenschaften als angeboren betrachtet und über eine bestimmte Bevölkerungsgruppe pauschale negative Verallgemeinerungen gefällt werden. Antisemitismus geht allerdings noch darüber hinaus, indem dieser einer Welterklärung dienen kann. Jüdinnen und Juden (oder auch der Staat Israel) werden aufgrund einer ihnen zugeschriebenen Macht (insbesondere durch die Dominanz der Finanzwelt und internationalen Presse) als Akteur:innen für gravierende, für sie vorteilhafte Veränderungen betrachtet. Antisemitismus erweist sich somit als anschlussfähig für Verschwörungsmythen, die zuletzt mit der Corona-Pandemie („Soros“ als Code für jüdische Weltverschwörung) auflebten, u. a. durch den Import der QAnonBewegung aus den USA. Für den Unterricht (sowohl an den Universitäten als auch in den Schulen) scheint mir dies insofern relevant, als nicht nur im linken und rechten Spektrum eine Anfälligkeit für antisemitische Verschwörungserzählungen besteht, sondern auch in unterschiedlichen Antisemitismus-Studien Items wie „Juden haben zu viel Macht in der Geschäftswelt, dominieren die globalen Medien oder kontrollieren globale Angelegenheiten“ von 25 bis über 30 Prozent der Befragten befürwortet werden bzw. ein auffallend hoher Prozentsatz keine Meinung dazu hat (vgl. dazu die vom österreichischen Parlament in Auftrag gegebenen Antisemitismus-Studien von 2018 und 2020). Antisemitismus sollte meiner Ansicht nach auch immer gesamtgesellschaftlich betrachtet und historisch kontextualisiert werden. Wichtig ist dabei die Benennung der unterschiedlichen politischen Akteur:innen bzw. Träger:innen des Antisemitismus, die jeweils dahinterstehenden Interessen und die oft damit einhergehende Instrumentalisierung von Antisemitismus. Vor allem sollte eine Aneinanderreihung von antisemitischen Vorfällen vom Mittelalter bis zur Shoah und darüber hinaus vermieden werden. Einerseits, um Juden und Jüdinnen © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 76 damit nicht auf die Rolle der „ewigen Opfer“ zu reduzieren, und andererseits, um den Eindruck zu vermeiden, dass mit „denen etwas nicht stimmen kann“. Auch wenn es sich beim Antisemitismus um eine Imagination von Jüdinnen und Juden handelt, sollte sich der Unterricht keineswegs nur mit antisemitischen Stereotypen befassen, sondern diesen falschen oder stark verzerrten Bildern durch die Vermittlung jüdischer Geschichte entgegenarbeiten. Diese sollte wiederum nicht isoliert, sondern als Teil der nationalen oder auch globalen Geschichte und vor allem in ihrer Heterogenität behandelt werden: von der Ultraorthodoxie bis zum säkularen Judentum, von jüdischen Erfolgsgeschichten bis zur bitteren Armut vieler „Ostjuden“, die beispielsweise zwischen 1880 und 1924 zwei Millionen zur Emigration in die USA gezwungen hat. Eine starke Überbetonung jüdischer „Höchstleistungen“ und des jüdischen Beitrags zur österreichischen oder deutschen Kultur vor der Shoah sehe ich problematisch. Damit werden nicht nur Menschen, die sich teilweise sogar vom Judentum entfernt haben, auf ihr „Jude-Sein“ reduziert, sondern es kann auch der Eindruck vermittelt werden, dass Minderheiten besondere Leistungen erbringen müssen, um als „wertvoller“ Teil der Gesellschaft anerkannt zu werden. Eine historische Kontextualisierung erfordert auch der Umgang mit israelbezogenem Antisemitismus. Auch wenn hinlänglich bekannt ist, dass der jüdische Staat sowohl Nicht-Juden wie auch Juden häufig als Projektionsfeld dient und die damit verbundenen Bilder wenig mit der Komplexität des Nahen Ostens zu tun haben, ist ein grundlegenderes Wissen über die Geschichte Israels und des Nahostkonflikts notwendig, um problematische und antisemitische Kritik an Israels Politik als solche erkennen und widerlegen zu können. Als falsche Strategie zur Sensibilisierung gegen Antisemitismus betrachte ich die Propagierung eines einseitigen, überhöhten und oft inhaltsleeren Israelbildes bei gleichzeitiger Ausklammerung des Konflikts mit den Palästinenser:innen. Wie aus der Forschung hinlänglich bekannt, sind verzerrte „positive Israel-Bilder“ mit klassischen antisemitischen Vorurteilen und sekundärem Antisemitismus durchaus vereinbar (siehe dazu die „Israelbegeisterung“ 1967 vieler ehemaliger Nationalsozialisten sowie die „Israel-Annäherungsversuche“ rechter/rechtsradikaler Parteien im letzten Jahrzehnt). Wie spätestens seit den 1970er-Jahren an der Linken zu beobachten ist, immunisiert Empathie mit verfolgten (toten) Jüdinnen und Juden keineswegs gegen israelbezogenen Antisemitismus; eine Begeisterung für Klezmermusik oder jüdische Schriftsteller:innen lässt sich durchaus mit einer Überidentifikation mit Palästinensern und NS-Vergleichen (Israel als die „neuen Nazis“) vereinbaren. Einmalig verordnete Besuche von KZ-Gedenkorten, wie sie insbesondere für Muslim:innen vorgeschlagen wer- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 77 den, können deren Sicht auf die Shoah verändern, sind aber keine Garantie für die – von politischer Seite oft erhoffte – schnelle Übernahme eines positiven (und damit einseitigen) Israelbildes. Derzeit wird sehr emotional und kontrovers über die Legitimität eines wissenschaftlichen Vergleichs von Holocaust und Kolonialverbrechen diskutiert. Die von jüdischen Organisationen vorgebrachten Kritikpunkte und damit verbundenen Ängste einer Relativierung des Holocaust sind ernst zu nehmen (es existiert dazu allerdings keine einheitliche „jüdische“ Meinung), da postkoloniale Debatten sich unter gewissen Umständen tatsächlich als anschlussfähig für Antisemitismus erweisen können. Eine sorgfältig vergleichende Genozidforschung erachte ich allerdings dennoch für fruchtbar, zumal damit u. a. die Geschichten von Studierenden und Schüler:innen mit Migrationshintergrund (zum Beispiel Bosnien) miteinbezogen und aufgewertet werden und gleichzeitig in Communities durchaus vorhandene antisemitische Stereotypen und Holocaustrelativierungen (zum Beispiel die in bosnischen Communities verbreitete Opferkonkurrenz zwischen Juden und Bosniern durch Srebrenica-Holocaust-Vergleiche) angesprochen werden können. Zudem kann damit auf die Black-Lives-MatterBewegung eingegangen werden, die sich, wie bereits zu beobachten war, als anschlussfähig für Antisemitismus erweisen kann, indem der Nahostkonflikt mit einem vereinfachten Rassismus-Raster ( Jüdinnen und Juden/Israelis als „weiße Kolonialisten“ und Palästinenser:innen als „braune“ Opfer) gedeutet wird. 4 Was ist Ihrer Ansicht nach in Bezug auf Antisemitismus für die Schule besonders bedeutsam? In der Schule eignen sich neben dem Fach Geschichte meiner Ansicht nach vor allem der Religionsunterricht (zum Beispiel durch das Ansprechen der Beziehungen zwischen Christentum, Islam und Judentum) und insbesondere die fächerübergreifende politische Bildung zur Thematisierung von Antisemitismus. Die Lehrerschaft sollte dazu allerdings grundlegendes Wissen über Antisemitismus mitbringen. Die große Herausforderung, die ich dabei sehe, ist die Überbrückung des Spagats zwischen einer klaren, wenn notwendig, auch moralischen Position, und einem offenen Klima, das Schüler:innen dazu anregt, auch „problematische“ Ansichten zu äußern. Hinsichtlich der Etablierung von Fachleuten für die Diskriminierung in allen Schulen stellt sich für mich die Frage, nach welchen Kriterien diese eingestellt werden sollen. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 78 5 Welche Präventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich zur Vorbeugung von Antisemitismus? Die meiner Meinung nach beste Vorbeugungsmöglichkeit von Antisemitismus sind fachlich und pädagogisch gut ausgebildete Lehrpersonen an Universitäten und Schulen. Verlautbarungen/Empfehlungen etc. von internationalen Organisationen, Regierungen und/oder diversen jüdischen Organisationen können durchaus einen Beitrag zur Prävention leisten, sollten meiner Ansicht nach aber nicht kritiklos übernommen werden, zumal diese nicht immer wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht werden, damit mitunter bestimmte politische oder religiöse Einstellungen transportiert werden und Antisemitismus teilweise auch instrumentalisiert wird. In Bezug auf jüdische Organisationen finde ich es wichtig, jüdische Wahrnehmungen von Antisemitismus und damit verbundene Ängste ernst zu nehmen und zu analysieren, allerdings sollten neben den Einschätzungen von offiziellen jüdischen Interessenvertretungen auch unterschiedliche Positionen von nicht-organisierten und insbesondere von jüngeren Jüdinnen und Juden miteinbezogen werden. 6 Welche Interventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich bei Vorfällen von Antisemitismus? Vielversprechende Interventionsmöglichkeiten sind mir nicht bekannt, wobei ich mich allerdings mit der Thematik noch kaum beschäftigt habe. Eine große Herausforderung ist für mich die keineswegs einfach zu beantwortende Frage nach der Deutungshoheit. Wer entscheidet, was Antisemitismus ist und welche (zum Beispiel arbeitsrechtlichen) Konsequenzen daraus zu ziehen sind? Wie die in Frage 1 angeführten Beispiele an der Universität Salzburg verdeutlichen, ist es für Institutionen insbesondere hinsichtlich eines israelbezogenen Antisemitismus oder von Holocaustrelativierungen eine schwierige Aufgabe, den unterschiedlichen Erwartungen, die sich wiederum aus unterschiedlichen politischen Standorten und Konzepten zum Antisemitismus ergeben, gerecht zu werden. Hier sehe ich großen Diskussionsbedarf. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 79 7 Wo erkennen Sie in Ihrem Fachbereich Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten, um künftigen Lehrpersonen in der Lehrer:innen-Aus- und Weiterbildung eine Auseinandersetzung mit Antisemitismen zu ermöglichen? Am Fachbereich Geschichte werden relativ viele Lehrveranstaltungen zum Faschismus und Nationalsozialismus und dessen Nachwirkungen sowie zum Antisemitismus und zur jüdischen Geschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart angeboten. Studierende können dazu zudem Kurse am Zentrum für jüdische Kulturgeschichte belegen. Diese Kurse werden allerdings nicht regelmäßig angeboten, viele Studierende können ein Studium abschließen, ohne sich jemals intensiver mit Zeitgeschichte beschäftigt zu haben. Salzburg bildet hier keineswegs eine Ausnahme. Aus meiner Sicht müsste die gesamte Lehramtsausbildung (sowie das Masterstudium) dahingehend reformiert werden, indem insgesamt ein Kanon festgelegt wird, den sich alle Studierenden aneignen müssen. In der Lehrer:innenfortbildung sollten Curricula entwickelt werden, die ein grundlegendes Wissen über die Geschichte des Antisemitismus und des Judentums sowie über den Konflikt zwischen Israel und den Palästinenser:innen vermitteln (im Detail dazu siehe die Ausführungen zur Frage 3). Zudem sollten Begegnungen mit unterschiedlichen jüdischen Organisationen und Persönlichkeiten angeboten und Einblicke in die Vielfalt jüdischen Alltagslebens gegeben werden, wozu sich Exkursionen nach Israel, aber auch Berlin, London oder New York anbieten würden. 8 Welche Forderungen und Wünsche, auch Hoffnungen oder Befürchtungen haben Sie im Hinblick auf eine Zukunft mit weniger / ohne Antisemitismus? Seit 20 Jahren erleben wir in Europa eine wellenartige Aufwärts- und Abwärtsbewegung des Antisemitismus, wobei das Niveau insgesamt wesentlich höher liegt als in den 1990er-Jahren. Mein vorrangiger Wunsch wäre, dass in Europa keine Jüdinnen und Juden mehr antisemitischen Übergriffen ausgesetzt sind oder sogar getötet werden, ein Problem, das von Nicht-Jüdinnen und -Juden nicht immer als solches wahrgenommen wird. Gleichzeitig betrachte ich es als Illusion, dass „Antisemitismus in jeder Form“, wie es von politischer Seite oft heißt, bekämpft werden kann. Wie wir aus der Forschung wissen, gibt es keine Gesellschaft ohne Gruppenfeindschaft. Derartige ideale Maßstäbe schüren falsche Hoffnungen oder werden nicht mehr ernst genommen, wenn in den Medien regelmäßig über die Zunahme von Antisemitismus und sogar über Über- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 80 griffe berichtet wird. Auch sollten wir den gesamtgesellschaftlichen Blick nicht aus den Augen verlieren. Trotz Zunahme von Antisemitismus spricht sich die Mehrheit der Gesellschaft dagegen aus und ist Jüdinnen und Juden gegenüber im Allgemeinen recht positiv eingestellt. Auch in muslimischen Communitys gibt es zunehmend Initiativen, die sich mit Holocaust und Antisemitismus auseinandersetzen. Positiv stimmt mich, dass die türkis-grüne Regierung den Rechtsextremismus-Bericht, der von der ÖVP-FPÖ-Koalition 2002 abgeschafft wurde, reaktivieren will. Benz, Wolfgang (2020): Streitfall Antisemitismus. Anspruch auf Deutungsmacht und politische Interessen. Berlin. Edtmaier, Bernadette (2020): Bilder über Juden und Jüdinnen unter Jugendlichem in Österreich. Dissertation an der Universität Salzburg. Embacher, Helga /Reiter, Margit (1998): Gratwanderungen. Die Beziehungen zwischen Österreich und Israel im Schatten der NS-Vergangenheit. Wien. Republik Österreich, Parlament (2021): Antisemitismus 2020 Ergebnisanalyse im Überblick. Online: https://www.parlament.gv.at/SERV/STUD/ANTISEM/index.shtml (Zugriff: 26.9.2020). Rosenberger, Siglinde/Bauböck, Rainer (2020): Gegen den überreizten Islamdiskurs. Die Regierung will den politischen Islam gesetzlich verbieten. Ein Forscher über Islamophobie sieht eine totalitäre Entwicklung anrollen. Ein Plädoyer für die Abrüstung von Kampfbegriffen. In: Der Standard, 28.11.2020. Online: https://www.derstandard.at/story/2000122063332/gegen-denueberreizten (Zugriff: 26.9.2021). Steinke, Ronen (2020): Terror gegen Juden. Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt. Eine Anklage. Berlin. Zeglevits, Eva/Unterhuber, Paul/Sommer, Franz (2018): Antisemitismusstudie 2018. Ergebnisse im Überblick. Wien. Online: https://fachinfos.parlament.gv.at/.../antisemitismus-studie-2020 (Zugriff: 26.9.2020). Zentralrat der Juden in Deutschland (2020): Antisemitismus-Studien und ihre pädagogischen Konsequenzen. Berlin-Leipzig. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 81 HELGA EMBACHER , Prof.in Dr.in, ist seit 2001 ao. Univ. Prof. am Fachbereich Geschichte an der Universität Salzburg. Tätigkeit als Gastprofessorin an der University of Minnesota, Minneapolis (1997), und an der University of Pennsylvania, Philadelphia (2003), sowie an der Universität Innsbruck, Politikwissenschaft (2004). Lange Forschungsaufenthalte mit diversen Forschungsstipendien (u. a. Fulbright-Stipendium) in Israel, USA, Großbritannien und Schanghai. Forschungsschwerpunkte: Nationalsozialismus, jüdische Geschichte, Emigration, Israel und Naher Osten, Antisemitismus. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 82 NADINE FINK Bildung statt Instruktion 1 Gibt es in Ihrem Fachbereich Berührungspunkte mit Antisemitismus? Meine Ausführungen verankere ich in meinem Fachgebiet, nämlich der Geschichtsdidaktik und der Lehrer:innen-Bildung im Bereich der Geschichte und der Politischen Bildung. Die Fragen werde ich hauptsächlich aus dem Blickwinkel meiner Lehrtätigkeit zu den didaktischen Herausforderungen des Unterrichts über Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, insbesondere die Shoah, beantworten. Die Ziele der Ausbildung an einer Pädagogischen Hochschule stehen nicht in direktem Zusammenhang mit der Vorbeugung von Antisemitismus, sondern basieren teilweise auf gemeinsamen Fragen, Gegenständen und Instrumenten, die mit dem allgemeinen Problem der Mechanismen der Diskriminierung und der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zusammenhängen. Vor drei Jahren organisierte ein Kollege der Pädagogischen Hochschule Waadt einen Weiterbildungskurs mit dem Titel „1948: die palästinensische Nakba kennen und lehren“. Die Organisation dieses Kurses löste im Kanton Waadt eine heftige Diskussion aus, die die politischen Behörden dazu veranlasste, die Veranstaltung zunächst zu verbieten und dann nach einer Umstrukturierung der behandelten Inhalte eine Verschiebung auszuhandeln. Nach dieser Meinungsverschiedenheit wurden zusätzliche Redner eingeladen, um die Vielfalt der Positionen und Interpretationen besser zu repräsentieren; der Titel des Kurses wurde in „Zu den Ursprüngen des palästinensischen Flüchtlingsproblems“ geändert. Ich werde hier nicht auf den Kern dieser Diskussion eingehen, denn das würde vom Thema wegführen. Unter den Begründungen, die auf institutioneller Ebene © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 83 für die Durchführung dieses Kurses angeführt wurden, hieß es, dass Ausgewogenheit gesichert sei, da ich im Jahr zuvor selbst Studientage organisiert hatte, die der Lehre der Shoah gewidmet waren. Ich war von dieser Aussage verwirrt. Dies spielt dem Konkurrenzkampf zwischen den Erinnerungen in die Hände, was das Gegenteil der Ziele ist, die mit der Bekämpfung von Vorurteilen und jeglicher Form von Diskriminierung verbunden sind. Darüber hinaus schürt es das Misstrauen gegenüber anderen; antisemitische und islamfeindliche Kommentare waren zahlreich, insbesondere in den sozialen Netzwerken. Meines Erachtens entsprachen die beiden Kurse einer gemeinsamen pädagogischen Forderung, die im Vorwort zur Veröffentlichung des Kurses „über die Nakba“ als „Widerstand gegen Obskurantismus, Vorurteile und die Manipulation der öffentlichen Meinung“ gut zum Ausdruck kommt. Ein solcher Ansatz beruht auf einem wesentlichen didaktischen Prinzip: der Multiperspektivität, die darin besteht, die sozialen Realitäten unter Berücksichtigung der gesamten Bandbreite von Positionen und Interpretationen zu analysieren. Pädagogik und Politik befinden sich zwar auf demselben Boden, verfolgen aber nicht dieselben Ziele. Um zu unterrichten und auf die Fragen der Schüler:innen zu antworten, braucht eine Lehrperson Wissen und Know-how, das in solchen Fortbildungskursen vermittelt werden soll. Wenn es um Vorurteile, Diskriminierung, Ausgrenzung, Fremdenfeindlichkeit, Homophobie usw. geht, sind diese Kenntnisse und dieses Know-how natürlich heikel. Heikle Themen sind das Rohmaterial für diese Bildung. Mein pädagogisches Engagement gilt zwar auch der Bekämpfung des Antisemitismus, darüber hinaus aber insbesondere der Aufklärung über die Menschenrechte und deren Verteidigung als Mittel gegen die Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Diese Menschenrechte sind, nach der Formulierung von Amnesty International, universell, unteilbar und unveräußerlich. Daher gibt es keine mögliche Klassifizierung der Formen von Diskriminierung: Alle sind gleich wichtig. Die Zunahme antisemitischer und Holocaust leugnender Äußerungen ist unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte besonders besorgniserregend. Die Menschenrechte werden zunehmend als umstrittene Ausprägung der westlichen Vorherrschaft über den Rest der Welt infrage gestellt. Diese Infragestellung wird durch die Anerkennung der Untaten der kolonialen Vergangenheit noch verstärkt, die den universalistischen Anspruch der Werte relativiert, welche der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 zugrunde liegen. Es wird behauptet, dass diese nur eine Fortsetzung der imperialistischen Politik mit anderen Mitteln wären, was dazu führt, dass die Verteidigung der Menschen- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 84 rechte infrage gestellt wird. Sie sind jedoch die Grundlage der demokratischen Werte, die zum Beispiel in der Schweizer Verfassung und in den Lehrplänen verankert sind. Nichts davon ist in Stein gemeißelt, unsere Gesellschaften entwickeln sich, das wissen wir. Wir sind es, die die Instrumente unserer Demokratien weiterentwickeln. Die Menschenrechte sind vor allem ein Ideal, das in einer sich ständig verändernden Welt erreicht werden muss. Deshalb halte ich es für ein zentrales Thema in der Lehrer:innen-Bildung. 2 Gab es für Sie Anlässe, sich mit Antisemitismen im Bildungsbereich zu beschäftigen? Wenn wir über die Shoah sprechen, sprechen wir unweigerlich auch über Antisemitismus, denn dieser steht im Mittelpunkt der nationalsozialistischen Ideologie. Ich halte es jedoch für wichtig, darauf zu achten, dass der heutige Kampf gegen den Antisemitismus nicht dazu führt, sich ausschließlich mit der Shoah zu befassen, ohne die anderen Völkermorde anzusprechen, welche die Geschichte des 20. Jahrhunderts ebenfalls prägten, und ohne die aktuellen Zusammenhänge der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zu berücksichtigen. Wenn wir Erinnerungs-Konkurrenzen vermeiden und das Ziel der Prävention verfolgen wollen, ist die Behandlung des Antisemitismus im Bereich der Schule und der Lehrer:innen-Ausbildung nur dann gerechtfertigt, wenn sie unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der Vorurteile, der Diskriminierungsprozesse und der Ausgrenzungsmechanismen verstanden wird, die in den extremsten Fällen zu einem Völkermord führen können. Es geht also nicht um eine direkte Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus, sondern darum, die Shoah als paradigmatisches Beispiel zu nutzen, um die Grundlagen von Demokratie und Menschenrechten anzusprechen. Die im von Richard LaGraveneses Film „Freedom Writers“ geschilderte Erfahrung ist in dieser Hinsicht beispielhaft. Der Film erzählt die wahre Geschichte von kalifornischen Teenagern, die tagtäglich die ganze Gewalt eines Umfelds erleben. Dieses ist durch den Bandenkrieg geprägt, der in den 1990er-Jahren sowohl unter den Erwachsenen als auch unter ihren Nachkommen wütete. Es handelt sich um Schüler:innen, die im Leben und im Klassenzimmer völlig gespalten sind, unfähig, sich außerhalb ihrer eigenen Gang zu verständigen. Sie sind gefangen in einer Welt, in der Vorurteile Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit rechtfertigt und Mord zugelassen wird. Ihre neue Lehrerin bezieht sie in einen Prozess ein, der sie dazu bringt, in einen Dialog zu treten, ihre Perspektiven zu erweitern und ihre Vorurteile zu überwinden. Viele werden die Ersten in ihrer Familie sein, die © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 85 die Highschool abschließen, und einige werden eine weiterführende Ausbildung absolvieren. Ich erwähne diese pädagogische Erfahrung, weil sie ein Beispiel für die Nutzung der Shoah als Thema für die Erforschung diskriminierender Mechanismen und ihrer tragischsten Folgen ist. Die Lehrerin besucht mit ihren Schülerinnen und Schülern ein Museum über die Shoah, ermöglicht eine Begegnung mit Überlebenden und widmet sich der Lektüre des Tagebuchs von Anne Frank. Zudem lädt sie die Person ein, die diese Familie unter Einsatz ihres eigenen Lebens versteckt hat, Miep Gies. Sie kommt in die Schule, um ihre eigene Geschichte zu erzählen und mit den Schüler:innen zu diskutieren. Der abwechslungsreiche Unterricht dieser Lehrerin bietet der Klasse neue Perspektiven und vor allem ein Handlungsfeld, um sich von den Zwängen ihrer eigenen geteilten Welt zu befreien und neue Möglichkeiten zu erarbeiten, die sie miteinander verbinden. Es ist ein Projekt, das indirekt auch zur Bekämpfung des Antisemitismus beiträgt, vor allem, weil es die Protagonistinnen und Protagonisten in ihrer gemeinsamen Menschlichkeit vereint. 3 In welchen Kontexten bzw. im Rahmen welcher Konzepte sollten Ihrer Ansicht nach Antisemitismen an Schulen, Hochschulen und in der Öffentlichkeit betrachtet werden, um sich damit angemessen auseinandersetzen zu können? Die Aufklärung über die Menschenrechte im Rahmen ihrer Entstehung sowie die Mechanismen, die zu ihrer Missachtung führen, sind meines Erachtens die relevantesten Diskussionspunkte auf dem Weg zu einem angemessenen Umgang mit Antisemitismen. Wenn ich über die Shoah spreche und mich mit Antisemitismus auseinandersetze, höre ich manchmal Kommentare wie „Schon wieder die Shoah?! Schon wieder die Juden?! Wenn sie doch heute dasselbe mit den Palästinensern machen?“. Darauf antworte ich mit einer Frage: „Ist die Shoah eine jüdische Angelegenheit?“ Dieser Überdruss, den manche Menschen zum Ausdruck bringen, lädt dazu ein, die pädagogische Rechtfertigung dieser Lehre zu hinterfragen. Es gibt unzählige Themen, die sich mit den dunklen Seiten der menschlichen Geschichte befassen. Die Auswahl der unterrichteten Themen richtet sich nach aktuellen Herausforderungen und Bildungszielen. Die Lehre der Shoah als nicht hinterfragbares Dogma aufzudrängen – zum Beispiel, um der Notwendigkeit der Bekämpfung des Antisemitismus zu entsprechen – ist riskant und kontraproduktiv. Man muss die Frage akzeptieren: Warum sollte man die Shoah auch heute noch lehren? Die Antwort ist nicht nur eine Frage des Antisemitismus. Das Ausmaß © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 86 der Shoah, die die Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit auf die Spitze getrieben hat, die aktive und passive Beteiligung von Millionen von Menschen an den Verbrechen des Nationalsozialismus, der moralische Bankrott, den dieser verbrecherische Staat in der westlichen Geschichte darstellt, und gleichzeitig der Impuls, den er der internationalen Justiz und der Verteidigung der Menschenrechte gegeben hat, machen ihn zu einem Thema der Reflexion und Analyse, das auch heute noch von großer Bedeutung ist. Die Shoah ist ein zentrales Ereignis, um sowohl die Grundlagen demokratischer Staaten als auch die Mechanismen, die sie gefährden, zu verstehen. Im Herzen der Moderne war es möglich – und ist daher heute noch möglich –, Männer, Frauen und Kinder, die vollständig in ihre jeweilige Gesellschaft integriert waren, auszugrenzen und zu ermorden. 4 Was ist Ihrer Ansicht nach in Bezug auf Antisemitismus für die Schule besonders bedeutsam? Der Geschichtsunterricht ist meines Erachtens ein besonders wichtiges Schulfach, um eine Vielzahl vergangener Realitäten zu verstehen, die die Untersuchung, die Analyse und den Vergleich von Prozessen der Eingliederung, der Ausgrenzung und der Logik der Diskriminierung sowie der schädlichen Auswirkungen von Vorurteilen ermöglichen, die sich dank der zeitlichen Distanz klinisch genau beobachten lassen. Es geht darum, dass Geschichte das Ergebnis menschlichen Handelns ist; sie findet in einem Umfeld statt, in dem Individuen Entscheidungen treffen, und zwar zu einem Zeitpunkt, an dem die Zukunft noch nicht feststeht oder eine andere Ausgangsmöglichkeit noch möglich ist. Die Untersuchung dieser Handlungsfähigkeit im Zusammenhang mit den Kontexten und Zwängen, die sie begrenzen, ist aus didaktischer Sicht ein wichtiges Ziel. Dies wird besonders deutlich, wenn man sich mit der Shoah beschäftigt und die Möglichkeit hat, sich auf die Zeugnisse derjenigen zu stützen, die diese Ereignisse erlebt haben. Diese Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ermöglichen es, unterschiedliche Perspektiven und Handlungsfelder anzusprechen. In dem bereits erwähnten Film „Freedom Writers“ treffen die Schüler:innen Miep Gies, die Frau, die Anne Franks Familie versteckt hat. Sie wird zur Heldin dieser Schüler:innen, weil sie eine starke Hoffnung verkörpert, nämlich, dass man über eine eigene Handlungsfähigkeit verfügt. Bescheiden sagt sie ihnen, dass sie einfach das getan hat, was ihr in den Sinn kam. Sie fährt fort: „Wir sind alle ganz normale Menschen. Aber auch eine gewöhnliche Sekretärin, eine Hausfrau oder ein Teenager kann auf eigene Weise ein kleines Licht in einem dunklen Raum anmachen“. Vor allem sagt sie diesen jungen Menschen, von denen sie weiß, dass © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 87 ihr Umfeld gewalttätig und von Leid geprägt ist, dass sie jeden Tag ihres Lebens Helden sind. Ich zitiere diesen Film, weil er auf das hinweist, was ich für besonders wichtig halte: Die Schüler:innen und Studierenden, die wir ausbilden, ernst nehmen; mit ihnen gemeinsam reflektieren; mit den Regeln und Prinzipien experimentieren, auf die wir uns berufen, um zu urteilen und zu handeln, anstatt Normen vorzugeben und alles, was davon abweicht, als abnormal abzustempeln. 5 Welche Präventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich zur Vorbeugung von Antisemitismus? Ich habe bereits über die wichtige Rolle des Geschichtsunterrichts gesprochen. Im Beispiel „Freedom Writers“ handelt es sich um eine Englischlehrerin. Sie weicht von ihren jährlichen Planungszielen ab, erfüllt aber die Anforderungen an die Politische Bildung, die in den allgemeinen Zielen aller westlichen Lehrpläne festgelegt sind. Sie verfolgt einen innovativen Ansatz, indem sie den Unterricht und die außerschulischen Aktivitäten so gestaltet, dass sie über die Unterrichtsgewohnheiten und -inhalte ihres Fachs hinausgehen, ohne das grundlegende Lernen der Schüler:innen zu beeinträchtigen. Der interdisziplinäre Ansatz und der projektorientierte Unterricht sind von wesentlicher Bedeutung, um der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit präventiv entgegenzuwirken. Es ist nicht produktiv, während des Geschichtsunterrichts oder während einer Stunde, welche speziell der Prävention gewidmet ist, zum Beispiel zwischen einer Stunde Mathematik und einer Stunde Biologie, die Inhalte zu vermitteln. Wir müssen in der Lage sein, Erfahrungen zu machen. Dies erfordert die Einführung modularer Lehr- und Lernformen in die Stundenpläne von Schulen und Universitäten, wie zum Beispiel Blockwochen, Schulprojekte und Thementage. Obwohl es in der Schweiz einen HolocaustGedenktag gibt, wird er in den Schulen kaum umgesetzt. Diese Projekte hängen noch zu sehr vom persönlichen Engagement Einzelner ab, wie im Fall von „Freedom Writers“, und verfügen nicht über eine ausreichende institutionelle Unterstützung, um über dieses individuelle Engagement hinaus zu bestehen. Institutionelle Blockaden demotivieren Lehrer. Projekte wie Blockwochen, Schulprojekte und Thementage beruhen auf dem Kollektiv, auf Synergien zwischen verschiedenen Ansätzen, die von einer Vielzahl von schulischen und außerschulischen Akteuren durchgeführt werden. So organisieren wir zum Beispiel an der Pädagogischen Hochschule Waadt eine interdisziplinäre Blockwoche mit dem Titel „Shoah, Völkermorde und Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Theoretische, didaktische und praktische Fragen“, an © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 88 welcher Studierende verschiedener Fachrichtungen (Geschichte, Französisch, Deutsch, Englisch, Mathematik, Sport, Musik, Geografie usw.), Lehrer:innen der obligatorischen und post-obligatorischen Sekundarschulen, Expertinnen und Experten aus verschiedenen Berufsfeldern (Völkerrecht, Geschichte, Kulturvermittlung, Menschenrechte, Kino, Literatur, künstlerisches Schaffen usw.), Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der Shoah sowie Schüler:innen (im Rahmen von pädagogischen Workshops) teilnehmen. Während dieser Blockwoche treten unsere Studierenden in eine Phase intensiver thematischer Auseinandersetzung ein – dies nicht nur in Bezug auf die angesprochenen Kenntnisse, das Know-how und die zwischenmenschlichen Fähigkeiten, sondern auch unter dem Gesichtspunkt der individuellen Erfahrung. Die Emotionen sind manchmal sehr stark, denn sie beschäftigen sich in dieser Woche mit sehr persönlichen, manchmal intimen Dimensionen ihres Lebensweges, mit Fragen, die sie bisher noch wenig oder gar nicht teilten. Nach und nach bildet sich eine Gruppe, die sich gegenseitig vertraut und zuhört, wobei jede:r auf die Beiträge der anderen zurückgreift, um seine künftige berufliche Praxis im Lichte dieser Multiperspektivität und gemeinsamen Menschlichkeit zu entwickeln. Während des folgenden Semesters arbeiten die Studierenden gemeinsam und im Dialog mit ihren Lehrdisziplinen an der Entwicklung von didaktischen und pädagogischen Workshops, die im folgenden Jahr im Rahmen des Holocaust-Gedenktags durchgeführt werden können. Das Ziel solcher Programme ist nicht nur die Erstellung eines Ausbildungsangebots an der PH Waadt. Es geht darum, starke Momente im Leben dieser Studierenden zu schaffen, indem man sie einlädt, sich von der gleichen Tatkraft inspirieren zu lassen, sobald sie sich selbst im Schulalltag bewegen. 6 Welche Interventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich bei Vorfällen von Antisemitismus? Konzepte wie die bisher genannten stellen insofern interessante Möglichkeiten dar, als dass sie auf einem multiperspektivischen Ansatz des Dialogs und der Erfahrung beruhen, der sowohl den Einzelnen als auch das Kollektiv einbezieht. Die bereits in Antwort 4 erwähnten Programme sind ebenfalls relevant, da sie einen menschenrechts- und erfahrungsbasierten Ansatz vorschlagen. Ich persönlich habe viel von der Arbeit von Monique Eckmann profitiert, deren Beitrag in diesem Buch zu lesen ist. Sie lehrt über den interkulturellen Dialog, den Dialog zwischen den Erinnerungen sowie die Arbeit mit kritischen Ereignissen im Zusammenhang mit Rassismus. Sie stützt sich dabei auf das Werk von Raul Hilberg (2004) und führt in den pädagogischen Bereich den © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 89 multiperspektivischen Ansatz der beteiligten Kategorien ein: die Opfer (in ihrer Pluralität und ohne sie auf rassistische Vorurteile zu reduzieren, auch nicht auf die letzte Stufe der Entmenschlichung), die Bystander (von den passivsten bis zu den engagiertesten, wie den „Gerechten“), die Täter:innen (mit allen Graden der Beteiligung am kriminellen Unternehmen). Es ist ein relevantes Modell für die Analyse der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit im Allgemeinen und des Antisemitismus im Besonderen. Mit meinen Studierenden konzentriere ich mich auf die Bystander, um die verschiedenen Reaktionsweisen zwischen Passivität und Engagement zu untersuchen und die Möglichkeiten des Handelns in der Vergangenheit und in der Gegenwart zu erkunden. Der gleiche Ansatz gilt für die Täter:innen, deren Entscheidungen durch eine „Rehumanisierung“ derjenigen zu untersuchen sind, die – in kleinem oder großem Umfang – an dem verbrecherischen Unternehmen der Nazis beteiligt waren. Es ist eine Arbeit über Vorurteile – über unsere Vorurteile –, über die Werte, die ihnen zugrunde liegen, über den Handlungsspielraum, den wir haben, um in Übereinstimmung mit uns selbst zu handeln, über unsere Fähigkeit zum Ungehorsam. Die Wahl der Passivität ist bereits eine Komplizenschaft. Wie Arendt so treffend formulierte, weigerten sich die „Gerechten“ „zu morden [...], weil sie nicht mit einem Mörder, das heißt mit sich selbst, leben wollten“ (Gros 2019, 200). Wenn wir die Völkermörder:innen als Ungeheuer bezeichnen, laufen wir Gefahr, zu polarisieren, was pädagogisch kontraproduktiv ist. Die pädagogische App „Fuir la Shoah. Ma rencontre avec des témoins“, die wir an der PH Waadt entwickelt haben, bietet ebenfalls eine interessante Möglichkeit. Sie basiert genau auf dem „Eckmann-Dreieck“ und ist Teil eines pädagogischen Ansatzes, der sich von der „Pädagogik des Grauens“ distanziert: keine schockierenden Bilder, keine abstrakten Figuren. Hier wird die große Geschichte mit der Geschichte der einfachen Menschen verknüpft. Es sind personifizierte, lokalisierte, individualisierte Geschichten, die in der Welt der Schüler:innen verankert sind und sich auf die Probleme der Gegenwart beziehen. Es sind Geschichten von jungen Menschen, die unter Vorurteilen leiden, die ausgegrenzt werden, die fliehen, die ihr Leben riskieren, die dank einer Vielzahl von kleinen Hilfen, die sie hier oder dort erhalten, gerettet werden. „Fuir la Shoah“ verdeutlicht den Handlungsspielraum, den jeder von uns in Situationen hat, die sich in unserer unmittelbaren Umgebung ergeben. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 90 7 Wo erkennen Sie in Ihrem Fachbereich Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten, um künftigen Lehrpersonen in der Lehrer:innen-Aus- und Weiterbildung eine Auseinandersetzung mit Antisemitismen zu ermöglichen? Ich habe vorab bereits mit Blick auf die Grundausbildung geantwortet; solche Module könnten systematischer in Studiengängen, aber auch für Ausbildende und in der Weiterbildung angeboten werden, um Zwischen- und Selbsterkenntnis zu schaffen und sich mit den eigenen und fremden Werten auseinanderzusetzen. Einwöchige Bildungsreisen, wie sie in anderen Einrichtungen organisiert werden, sind in dieser Hinsicht beispielhaft. 8 Welche Forderungen und Wünsche, auch Hoffnungen oder Befürchtungen haben Sie im Hinblick auf eine Zukunft mit weniger / ohne Antisemitismus? Meine Befürchtungen sind groß: Die Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wird heute mit Vehemenz im öffentlichen Raum, mit Gewalt in den sozialen Netzwerken, mit Worten und Verhaltensweisen zum Ausdruck gebracht, die gegen die elementarsten Grundsätze der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verstoßen. Meine Hoffnung ruht auf denjenigen, mit denen ich in meinen Kursen zusammenarbeite und die wiederum mit Dutzenden von Kolleginnen und Kollegen und Tausenden von Schüler:innen arbeiten werden. Ich wünsche mir, dass der Schwerpunkt zunehmend auf der Bildung der freien Wahlmöglichkeiten liegt, auf dem transformativen Ziel der Bildung für eine wünschenswerte Zukunft. ECKMANN, Monique (2005): La pédagogie de la mémoire, face aux identités plurielles? In: Eck- mann, Monique/Fleur, Michèle (dir.): Racisme(s) et citoyenneté. Un outil pour la réflexion et l‘action. Genève, S. 283-287. ECKMANN, Monique (2004): Identités en conflit, dialogues des mémoires. Enjeux identitaires des rencontres intergroupes. Genève. FINK, Nadine (2019) (dir.): Didactica Historica, revue suisse sur l’enseignement de l’histoire. Enseigner la Shoah, 05/2019, Neuchâtel. GROS, Frédéric (2019) : Désobéir. Paris. HILBERG, Raul (2004): Exécuteurs, victimes, témoins. Paris. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 91 LEFEBVRE, B./Ferhadjian, S. (2007). Comprendre les génocides du XXe siècle. Comparer-Enseigner. Paris. TERESTCHENKO, Michel (2005). Un si fragile vernis d’humanité. Banalité du mal, banalité du bien. Paris. TERNON, Yves (2007). Guerres et génocides au XXe siècle. Paris. NADINE FINK, Prof.in Dr.in, ist Professorin für Geschichtsdidaktik und Politische Bildung an der Pädagogischen Hochschule Waadt in Lausanne, Schweiz. Sie ist Redaktionsleiterin der Didactica Historica, die schweizerische Zeitschrift für Geschichtsunterricht, und Co-Präsidentin der Konferenz Fachdidaktiken Schweiz (KOFADIS). Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Lehr- und Lernpraktiken im Fach Geschichte und die Erforschung neuer Lernmodalitäten; die Beziehung zwischen Erinnerung, Geschichte und Identität bei der Entwicklung von Vorstellungen über die Vergangenheit; die Verwendung von Oral History und audiovisuellen Zeitzeugnissen zur Umsetzung des historischen Forschungsprozesses und des kritischen Denkens im Geschichtsunterricht. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 92 LUCIANO GASSER Fairness, Dialog und historisches Wissen 1 Gibt es in Ihrem Fachbereich Berührungspunkte mit Antisemitismus? Meine Forschung thematisiert die Entwicklung und Förderung inklusiver Einstellungen bei Kindern und Jugendlichen. Zusammen mit meinem Team entwickle ich Unterrichtsprojekte für Schulen mit dem Ziel, Kooperation und Fairness in Schulklassen zu stärken und sozialen Ausschluss, Vorurteile und Diskriminierung zu reduzieren. Dabei höre ich von Lehrpersonen häufig, dass Intergruppenkonflikte in ihren Schulklassen ein Problem darstellen, insbesondere Diskriminierung auf Basis von kultureller Herkunft. Auch die religiöse Herkunft ist ein häufiger Grund für sozialen Ausschluss. In einer Befragung von fast 7.000 Schüler:innen aus der neunten Klasse in Deutschland fand Schröder (2020) heraus, dass zwischen 5,5 % und 9,7 % der Jugendlichen Aussagen, welche antisemitische Einstellungen ausdrücken, eher oder ganz zustimmten. Antisemitische Einstellungen wurden dabei über drei Dimensionen definiert, den klassischen Antisemitismus (zum Beispiel „Juden haben zu viel Einfluss in der Welt“), den sekundären Antisemitismus (zum Beispiel „Viele der heutigen Juden profitieren von ihrer Vergangenheit“) und den Israel-bezogenen Antisemitismus (zum Beispiel „Aufgrund der israelischen Politik kann ich verstehen, warum einige Juden nicht mögen“). In der Schweiz stimmen 12 % der Personen Stereotypen über Jüdinnen und Juden systematisch zu (zum Beispiel „geldgierig, machthungrig“). Für meine Arbeit ist deshalb auch die Frage zentral, wie sozialer Zusammenhalt mit Bezug auf Kinder unterschiedlicher religiöser Zugehörigkeit gestärkt werden kann. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 93 2 Gab es für Sie Anlässe, sich mit Antisemitismen im Bildungsbereich zu beschäftigen? Es ist unbestritten, dass explizite Vorurteile gegenüber unterschiedlichsten Personengruppen über die letzten Jahrzehnte stark abgenommen haben. Dies ist insbesondere neuen Gesetzgebungen und einer allgemeinen gesellschaftlichen Sensibilisierung mit Bezug auf Diskriminierungsfragen zu verdanken. Möglicherweise hat diese Entwicklung aber auch Schattenseiten. Ich möchte dies mit einem Beispiel illustrieren: Ich zeigte vor einigen Jahren Studierenden der Pädagogischen Hochschule Luzern ein Unterrichtsvideo aus den USA und bat sie nachfolgend, die Unterrichtssituation zu beschreiben. Die Studierenden sprachen eine längere Zeit über alle möglichen Aspekte des Videos, aber niemand erwähnte, dass sämtliche Schüler:innen eine dunkle Hautfarbe hatten. Als ich sie fragte, weshalb niemand auf die Hautfarbe der Schüler:innen hinwies, sagten die Studierenden, dass sie besorgt waren, mit einer solchen Beobachtung Vorurteile auszudrücken. Lieber wollten sie nichts als etwas Falsches sagen. Dies weist auf ein Phänomen hin, das als „Silence about race“ (Vorurteilsblindheit) bezeichnet wird. Eine Mehrheit der Eltern und Lehrpersonen folgen einer „vorurteilsblinden“ Erziehung aus Sorge, dass durch die Thematisierung von sozialen Gruppen die Probleme erst entstehen könnten. Man solle deshalb besser warten, bis die Kinder oder Jugendlichen von sich aus darüber sprechen. Leider weiß ich als Entwicklungspsychologe, dass es in der Natur von uns Menschen liegt, von früh an Individuen in Gruppen einzuteilen und Bewertungen dieser Gruppen vorzunehmen (Kinzler 2020). So bevorzugen bereits drei Monate alte Kinder Gesichter mit der Hautfarbe oder der Sprache ihrer Eltern. Ein- bis zweijährige Kinder imitieren abwertende nonverbale Verhaltensweisen der Eltern gegenüber Menschen aus Fremdgruppen und präferieren Freunde mit gleicher Hautfarbe oder ähnlichem Sprachakzent. Im Verlaufe des Grundschulalters werden Kinder aber zunehmend sensitiv gegenüber den gesellschaftlichen Erwartungen und Normen und beginnen aus Gründen einer positiven Selbstpräsentation Vorurteile zu kaschieren. Es kommt dadurch zu einer wachsenden Diskrepanz zwischen impliziten Vorurteilen, welche häufig unbewusst und unkontrollierbar sind, und expliziten Vorurteilen, welche bewusst unterdrückt werden können. So zeigt eine einflussreiche Studie aus Psychological Science (Imhoff/Banse 2009), dass Personen, welche glauben, während einer Befragung einem Lügendetektor angeschlossen zu sein, deutlich weniger explizite antisemitische Einstellungen äußern als Personen ohne diese Bedingung. Ich finde es deshalb wichtig, dass der Diskurs über Vorurteile an Schulen und Hochschulen nicht an der Ober- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 94 fläche bleibt, sondern eine offene Auseinandersetzung mit eigenen Haltungen und Meinungen ermöglicht. Das setzt eine bestimmte diskursive Kultur voraus. 3 In welchen Kontexten bzw. im Rahmen welcher Konzepte sollten Ihrer Ansicht nach Antisemitismen an Schulen, Hochschulen und in der Öffentlichkeit betrachtet werden, um sich damit angemessen auseinandersetzen zu können? Es ist hilfreich, Antisemitismus als eine Form von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu betrachten, weil Antisemitismus sehr deutlich mit anderen Formen rassistischer Einstellungen einhergeht. Häufig wird Antisemitismus individualpsychologisch erklärt, indem zum Beispiel auf die Bedeutung von sozioökonomischem Status (zum Beispiel niedriges Bildungsniveau oder Einkommen) oder von Persönlichkeitsmerkmalen wie Autoritarismus hingewiesen wird (zum Beispiel Orientierung an Gehorsam und Respekt gegenüber Autoritäten). Schäfer und Dalbert (2013) verweisen auf den „Gerechte-Welt-Glauben“ als mögliche psychologische Erklärung für Antisemitismus bei Jugendlichen. Dieser beinhaltet die subjektive Überzeugung, dass die Welt gerecht sei (d. h. dass jede:r das bekommt, was er oder sie verdient). Diese Überzeugung ist grundsätzlich adaptiv, weil sie das Vertrauen in das Selbst, andere Menschen und Institutionen stärkt. Die Shoah bedroht aber diesen „Gerechte-Welt-Glauben“: Wie kann eine Welt, in der solches passiert, gerecht sein? Manche Jugendliche bewältigen diesen persönlichen Konflikt über Abwertungs- und Leugnungsprozesse der Shoah (zum Beispiel schädigende Folgen herunterspielen, den Opfern Schuld zuschreiben). Im Weiteren zeigen experimentelle Studien, dass die Erfahrung eines persönlichen Kontrollverlusts über politische Ereignisse eine wichtige Rolle in der Entstehung von konspirativem Antisemitismus spielt (Kofta/Soral/Bilewicz 2020). Allerdings sollte Antisemitismus nicht nur als individuelles, sondern auch als intergruppales Phänomen verstanden werden. Antisemitismus ist immer auch Ausdruck der Beziehungen von Individuen zu ihren eigenen und anderen kulturellen Gruppen. Personen definieren ihren Selbstwert wesentlich über ihre kulturelle oder religiöse Herkunft. Um den eigenen Selbstwert zu schützen, wird die eigene Gruppe von fremden Gruppen positiv abgegrenzt. Häufig geht diese Abgrenzung mit einer Abwertung von Fremdgruppen und einem Gefühl der Bedrohung durch diese Gruppen einher. Während christliche und nicht-religiöse Jugendliche aus diesen Gründen vor allem gegenüber Musliminnen und Muslimen negative Einstellungen entwickeln, zeigen muslimische Jugendliche nicht nur gegenüber Christinnen und Christen sowie nicht-religiösen Perso- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 95 nen, sondern auch gegenüber Jüdinnen und Juden verstärkt ablehnende Einstellungen (Verkuyten/Thijs 2010). Aufgrund eines hohen Assimilationsdrucks im Einwanderungsland wie auch des Israel-Palästina-Konfliktes fühlen sich muslimische Jugendliche in ihrer kulturellen Identität bedroht, worauf sie mit einem verstärkten Rückzug auf die eigene kulturelle und religiöse Gruppe reagieren. Den stärksten Prädiktor für antisemitische Einstellungen bei Jugendlichen stellt aber Rechtsradikalismus dar (Schröder 2020). Jugendliche mit rechtsradikalen Ideologien definieren ihren Selbstwert fast ausschließlich über ihre nationale Zugehörigkeit. Dies impliziert, dass eine positive Bewertung ihrer Identität nur in Abgrenzung und über die Abwertung anderer Gruppen gelingen kann. Aus dieser intergruppalen Perspektive sollten Schulen eine übergeordnete inklusive Identifikationsbasis bereitstellen, welche sämtliche kulturellen und religiösen Gruppen einschließt. Eine der wirksamsten Strategien zur Reduktion von Intergruppenkonflikten besteht in der Förderung von direkten Kontakten zwischen Personen unterschiedlicher Gruppen. Dabei ist wichtig, dass Lehrpersonen und Schulleitungen solche Intergruppenkontakte deutlich unterstützen und zelebrieren. Da direkte Kontakte mit Fremdgruppen nicht immer möglich sind, wurden in den letzten Jahren verstärkt auch Wirkungen von indirekten oder stellvertretenden Kontakten mit Menschen aus Fremdgruppen untersucht (zum Beispiel über Filme oder Literatur). _erinnern.at_ verweist auf reichhaltige Unterrichtsmaterialien, die solche stellvertretenden und indirekten Begegnungen im Zusammenhang mit dem Holocaust ermöglichen (www.erinnern.at). Schließlich ist zentral, dass auch allgemein protektive Kompetenzen wie Perspektivenübernahme, Empathie oder Gerechtigkeitsdenken in der Schule gefördert werden (Gasser/Malti 2018). Der pädagogische Fokus liegt hier vor allem auf der Förderung diskursiver Kompetenzen (siehe zum Beispiel www. derklassenrat.de). Schüler:innen lernen in moral- oder demokratiepädagogischen Programmen, Meinungsverschiedenheiten und Konflikte nicht über Macht und Status aufzulösen, sondern über argumentative Gespräche, die sich an guten Gründen orientieren. Solche Diskurse bilden auch einen wichtigen Kontrapunkt zu verschwörungstheoretischen Diskursen, welche bei der Entstehung von Antisemitismus eine wichtige Rolle spielen (Kofta/Soral/Bilewicz 2020). © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 96 4 Was ist Ihrer Ansicht nach in Bezug auf Antisemitismus für die Schule besonders bedeutsam? Als erfolgversprechend erachte ich Strategien, welche einerseits allgemein auf die Stärkung von Kooperation, Diskursivität, Fairness und Gleichheit und andererseits spezifisch auf den Wissensaufbau über die jüdische Geschichte und Kultur ausgerichtet sind. Die allgemeine Strategie lässt sich nicht in einem bestimmten Fach verorten. Im Schweizerischen „Lehrplan 21“ ist diese Strategie in den überfachlichen Kompetenzen abgebildet (zum Beispiel „Fähigkeit zur kooperativen Zusammenarbeit, diskursiven Konfliktlösung und zum respektvollen Umgang mit Meinungsverschiedenheit“). Kooperative Lernformen wie das Gruppenpuzzle können nicht nur für schulische Ziele, sondern auch zur Verbesserung von Intergruppenbeziehungen eingesetzt werden (siehe zum Beispiel www.jigsaw.org). Auch die Förderung argumentativer Diskurse im Klassenzimmer unterstützt nicht nur schulisches Lernen, sondern auch den sozialen Zusammenhalt in der Schulklasse. Traditionell folgen Gespräche im Klassenzimmer einem rezitativen Format: Die Lehrperson beginnt mit einer geschlossenen Frage, worauf eine kurze Antwort der Kinder folgt, welche wiederum von der Lehrperson als richtig oder falsch evaluiert wird. Diesem rezitativen Format lassen sich Unterrichtsgespräche gegenüberstellen, bei welchen die Kinder die Führung übernehmen, indem sie sich gegenseitig Fragen stellen, anderen respektvoll zuhören, eigene Meinungen begründen und Offenheit entwickeln mit Bezug auf alternative Meinungen. Diese Gespräche bilden Beziehungen zwischen Kindern ab, welche konträr sind zu Macht- und Dominanzbeziehungen. Solche Gespräche schaffen einen sozialen Mikrokosmos, in welchem egalitäre Beziehungen und kooperative Konfliktlösungen, wie sie für das reale soziale und demokratische Leben wichtig sind, eingeübt werden. Der konstruktive und rationale Umgang mit Ambiguität und Meinungsvielfalt liegt im Kern solcher Gespräche und schützt damit vor konspirativem Antisemitismus. Auch wenn die Moderation dialogischer Unterrichtsgespräche hohe Anforderungen an die Lehrperson stellt, können solche Kompetenzen durch gezielte Aus- und Weiterbildung erworben werden. Mit dem Aufbau dialogischer Kompetenzen bei Schüler:innen werden nicht nur soziale und demokratische Kompetenzen aufgebaut, sondern auch höheres Denken und vertieftes inhaltliches Wissen. Solche fächerübergreifenden Ansätze sind allein nicht ausreichend. Schäfer und Dalbert (2013) zeigten, dass Wissen von Jugendlichen über jüdische Geschichte, Religion und Kultur ein protektiver Faktor für Antisemitismus im Zusammenhang mit Israelkritik und Verleugnung historischer Verantwortung darstellte. Gleichzeitig zeigen experimentelle Studien aber, dass die Konfrontation von Menschen mit © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 97 den Folgen der Shoah für Überlebende antisemitische Einstellungen verstärken können (Imhoff/Banse 2009). Schäfer und Dalbert argumentieren, die Förderung emotionaler Betroffenheit mit Bezug auf die Shoah sollte nicht das primäre Ziel von Lehrpersonen darstellen, weil dies Abwertungs- und Leugnungsmechanismen auslösen kann. Sie plädieren anstatt dessen für einen verstehensorientierten Zugang durch die Auseinandersetzung mit verschiedenen Quellen, die nicht nur die Konsequenzen für die Opfer aufzeigen, sondern auch eine Exploration der Motive der Täter ermöglichen. Lehrpersonen sollten Schüler:innen im Rahmen kooperativer und diskursiver Lernsituationen möglichst viel Raum geben, eigene Zugänge zum Thema zu finden (zum Beispiel mittels der Lern-App „Fliehen vor dem Holocaust“). 5 Welche Präventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich zur Vorbeugung von Antisemitismus? Präventionsprogramme zu Antisemitismus sollten auf Basis empirischen Wissens über wirksame Strategien zur Reduktion von Vorurteilen entwickelt und empfohlen werden. In einer aufschlussreichen Metaanalyse klassifizieren Beelmann und Heinemann (2014) bestehende Präventionsprogramme zur Reduktion von Vorurteilen nach drei Gruppen: (a) Programme basierend auf der intergruppalen Kontakttheorie (direkter und indirekter Kontakt), (b) Programme zur Förderung von Perspektivenübernahme, Empathie und Gerechtigkeit und (c) wissensbasierte Programme (zum Beispiel Vermittlung von Wissen über Fremdgruppen). Die Auswertung zeigte, dass alle drei Programmtypen wirksam Vorurteile reduzieren, dass aber eine Kombination von Strategien besser funktioniert als der Fokus auf eine einzelne Strategie (zum Beispiel ausschließliche Wissensvermittlung). Die höchste Effektivität wiesen Programme auf, welche auf die Förderung von direktem Kontakt mit Fremdgruppen oder auf allgemeine soziale Kompetenzen (zum Beispiel Perspektivenübernahme oder Gerechtigkeitsdenken) fokussierten. Da direkte Kontakte zu Personen aus Fremdgruppen nicht immer möglich sind oder auch zu starke Emotionen und damit Abwehr bei Schüler:innen auslösen können, wurden in den letzten Jahren verstärkt Programme zu indirekten Kontakten entwickelt. Indirekte Kontaktprogramme verwenden zum Beispiel Geschichten über Intergruppenfreundschaften, welche eine stellvertretende und imaginierte Begegnung anstelle einer direkten Begegnung mit Personen aus Fremdgruppen ermöglichen. Die Philosophin Martha Nussbaum (2002) sieht im Literaturunterricht großes Potenzial, um Perspektivenübernahme und Empathie gegenüber Menschen aus Fremdgruppen zu fördern. Im Unterschied zu © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 98 Sachtexten ermöglichen narrative Texte eine stark kontextualisierte Auseinandersetzung mit Vorurteilen und Diskriminierung. Lesende können aus sicherer Distanz und mit hoher Intimität die Perspektiven von Tätern und Opfern von Diskriminierung explorieren und ein vertieftes Verständnis komplexer Lebensund Entscheidungssituationen aufbauen (Gasser/Dammert/Murphy i. E.). Dabei sind v. a. Kinderbücher wertvoll, welche Jüdinnen und Juden als vielfältige und nicht als stereotype Gruppe zeigen, zum Beispiel als Unterdrücker von Palästina (Buchtipp: „Auf der richtigen Seite“ oder „Leihst du mir deinen Blick?“). Unser eigenes Interventionsprogramm SKILL (Soziale und sprachliche Kompetenzen über Kinderliteratur fördern) integriert die indirekte Kontakttheorie mit Elementen zur Förderung von Perspektivenübernahme und dialogischen Fähigkeiten. Wir verwenden ausgewählte literarisch hochwertige Kinderbücher zu Intergruppenkonflikten und -freundschaften, welche die Kinder in heterogen zusammengesetzten Kleingruppen diskutieren. Sie lernen dabei, wie sie authentische Fragen an Texte stellen und argumentativ auf diese antworten können. Im Rahmen einer eintägigen Weiterbildung und von videobasierten Coachings während der Intervention werden die Lehrpersonen unterstützt, sich in den literarischen Gesprächen möglichst zurückzunehmen und spezifische Moderationstechniken einzusetzen (zum Beispiel höheres Denken modellieren, Begründungen einfordern, alternative Sichtweisen herausfordern). Die interpretative Autorität über die Texte liegt bei den Kindern. In literarischen Gesprächen trainieren Kinder grundlegende soziale Kompetenzen, indem sie die Perspektiven von fiktiven Figuren aus Fremdgruppen wie auch diejenigen ihrer Peers übernehmen, ihre eigenen Sichtweisen begründen und alternative Meinungen anhören und kritisch prüfen. Solche argumentativen Gespräche müssen sich nicht auf den Literaturunterricht beschränken, sondern können in allen Fächern, auch im Geschichtsunterricht auf Basis historischer Quellen, realisiert werden. Ein wesentlicher Aspekt dieser Gespräche liegt darin, dass Kinder und Jugendliche nicht nur über den Text als solchen nachdenken, sondern auch ihre eigenen Erfahrungen mit der Thematik einbringen. Auf diese Weise können sie ihre eigenen Haltungen gegenüber Themen wie Antisemitismus in einem sicheren sozialen Rahmen explorieren. 6 Welche Interventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich bei Vorfällen von Antisemitismus? Die präventiven Bemühungen sollten im Vordergrund stehen. Zudem mache ich keinen grundsätzlichen Unterschied in den Methoden der Prävention und © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 99 Intervention. Bei einem Vorfall würde ich die gleichen Handlungsansätze empfehlen (zum Beispiel direkte Thematisierung im Rahmen von Klassenrat oder indirekte Thematisierung über eine entsprechende Unterrichtseinheit zu einem geeigneten Jugendbuch, das Antisemitismus aufgreift). 7 Wo erkennen Sie in Ihrem Fachbereich Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten, um künftigen Lehrpersonen in der Lehrer:innen-Aus- und Weiterbildung eine Auseinandersetzung mit Antisemitismen zu ermöglichen? Auch wenn ich eine Schul- und Hochschulkultur, welche Diskriminierung klar verurteilt, äußerst wichtig finde, scheint es mir ebenso wichtig, dass ein authentischer Diskurs gepflegt wird, wonach Lernen aus (moralischen) Fehlern und Irrtum zum (Hoch-)Schulleben dazugehört. Wenn Schüler:innen oder Studierenden kommuniziert wird, dass Vorurteile zum Menschsein dazugehören, ist ein offenes Gespräch eher möglich als bei einer ausschließlichen Sanktionskultur. Lehrpersonen benötigen zudem umfangreiches Wissen über verschiedene Äußerungsformen, soziale Funktionen und Gründe von Antisemitismus. Auch benötigen angehende und praktizierende Lehrpersonen ausreichend Gelegenheiten, ihre eigenen Haltungen zu Themen wie Antisemitismus und persönliche und kulturelle Sozialisation zu reflektieren. Antisemitische Einstellungen sind zwar besonders stark mit rechtsradikalen Einstellungen assoziiert, sie zeigen aber auch Zusammenhänge mit linksradikalen Einstellungen (Schröder 2020). Deshalb sollten alle Lehrpersonen ermutigt werden, ihre Einstellungen zum Judentum und Israel kritisch zu reflektieren. Die Fähigkeit, Schüler:innen bei Konfliktlösungen dialogisch einzubeziehen, stellt eine der zentralsten berufsethischen Kompetenzen dar (Oser 1998). Die Qualität dialogischer Konfliktlösung hängt eng mit der Qualität der Unterrichtssprache zusammen. Lehrpersonen können nicht überzeugend von einem rezitativen Gesprächsstil im Fachunterricht zu einem demokratischen und argumentativen Gesprächsstil bei Konfliktlösungen wechseln. Im Sinne des pädagogischen Doppeldeckers ist es wichtig, dass Studierende und Lehrpersonen sich argumentativ in Aus- und Weiterbildung beteiligen und ihre dialogischen Fähigkeiten weiterentwickeln können. Leider ist der rezitative Gesprächsmodus auch in der Hochschullehre nach wie vor dominant. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 100 8 Welche Forderungen und Wünsche, auch Hoffnungen oder Befürchtungen haben Sie im Hinblick auf eine Zukunft mit weniger / ohne Antisemitismus? Auch wenn antisemitische Einstellungen stark außerhalb der Schule und insbesondere über Familie und Medien sozialisiert werden, bin ich überzeugt, dass Lehrpersonen einen Unterschied machen können. Studien weisen darauf hin, dass der Klassenkontext ein wesentlicher Sozialisationsfaktor in der Entwicklung antisemitischer oder antimuslimischer Einstellungen darstellt (Verkuyten/ Thijs 2010). Auch gibt es Hinweise darauf, dass eine multikulturelle Zusammensetzung in Schulklassen sowie Kontakte zu jüdischen Personen antisemitische Einstellungen reduziert. All dies weist auf beträchtliche Möglichkeiten von Lehrpersonen und Schulen in der Bekämpfung antisemitischer Einstellungen hin. Dabei scheint mir wichtig, dass Schulen die Förderung sozialer Kompetenzen nicht als etwas sehen, was zusätzlich zum Fachunterricht geleistet werden muss, sondern als Basiskompetenzen, deren Förderung auch dem Fachunterricht zugutekommt. Eine Schulklasse mit kooperativen und inklusiven Normen ist nicht nur ein Ort, an dem sich Kinder oder Jugendliche wohler fühlen, sondern auch ein Ort, an dem effektiveres Lernen möglich ist. BEELMANN, Andreas/Heinemann, Kim Sarah (2014): Preventing prejudice and improving inter- group attitudes: A meta-analysis of child and adolescent training programs. In: Journal of Applied Developmental Psychology, 1/2014, S. 10-24. GASSER, Luciano/Dammert, Yvonne/Murphy, P. Karen (2022): How do children socially learn from narrative fiction: Getting the lesson, simulating social worlds, or dialogic inquiry? In: Educational Psychology Review (i. E.). Online: https://doi.org/10.1007/s10648-022-09667-4 GASSER, Luciano/Malti, Tina (2018): Moralische Entwicklung. In: Gniewosz, Burkhard/Titz- mann, Peter F. (Hg.): Handbuch Jugend. Psychologische Sichtweisen auf Veränderungen in der Adoleszenz. Stuttgart, S. 256-273. IMHOFF, Roland/Banse, Rainer (2009): Ongoing victim suffering increases prejudice: The case of secondary anti-Semitism. In: Psychological Science, 12/2009, S. 1443-1447. KINZLER, Catherine D. (2020). How You Say It: Why You Talk the Way You DoAnd What It Says About You. New York. KOFTA, Miroslaw/Soral, Wiktor/Bilewicz, Michał (2020): What breeds conspiracy antisemitism? The role of political uncontrollability and uncertainty in the belief in Jewish conspiracy. In: Journal of Personality and Social Psychology, 5/2020, S. 900-918. LEHRPLAN 21. Online: https://www.lehrplan21.ch/ (Zugriff: 11.9.21). © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 101 NUSSBAUM, Martha (2002): Education for Citizenship in an Era of Global Connec- tion. In: Studies in Philosophy and Education, 4/2002, S. 289–303. Online: https://doi. org/10.1023/A:1019837105053 (Zugriff: 11.9.21). OSER, Fritz (1998): Ethos – Die Vermenschlichung des Erfolgs. Zur Psychologie der Berufsmoral von Lehrpersonen. Wiesbaden. SCHÄFER, Florian/Dalbert, Claudia (2013): Gerechte-Welt-Glaube und Antisemitismus – Welche Anforderungen ergeben sich aus der Gerechtigkeitsforschung für den Umgang mit dem Holocaust in der Schule? In: Dalbert, Claudia (Hg.): Gerechtigkeit in der Schule. Wiesbaden, S. 93-107. SCHRÖDER, Carl Philipp (2020): Antisemitism among Adolescents in Germany. In: Youth and Globalization 2 (2), 12/2020, S. 163-185. VERKUYTEN, Maykel/Thijs, Jochem (2010). Religious group relations among Christian, Muslim and nonreligious early adolescents in the Netherlands. In: The Journal of Early Adolescence, 2/2010, S. 27-49. Online: https://doi.org/10.1177/0272431609342984 (Zugriff: 11.9.21). ZENATTI, Valérie (Übersetzung: Ott, Bernadette) (2007). Leihst du mir deinen Blick? Eine E-Mail- Freundschaft zwischen Jerusalem und Gaza. Hamburg. LUCIANO GASSER , Prof. Dr., ist Entwicklungspsychologe und Erziehungswissenschaftler. Er leitet aktuell den Forschungsschwerpunkt „Schul- und Ausbildungserfolg“ an der Pädagogischen Hochschule in Bern. Seine bisherige Forschung thematisierte den sozialen Ausschluss von Kindern und Jugendlichen aus Fremdgruppen. Im Weiteren untersucht er die Wirksamkeit von Weiterbildungen für Lehrpersonen zur Förderung dialogischer Unterrichtsgespräche und von Gerechtigkeitsdenken in Primarschulklassen. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 102 MARKUS GLOE Wir alle sind für unsere Demokratie mit ihrem zentralen Meta-Wert der Menschenwürde verantwortlich 1 Gibt es in Ihrem Fachbereich Berührungspunkte mit Antisemitismus? Veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen und aktuelle politische Herausforderungen spielen in der politischen Bildung immer eine entscheidende Rolle. Nicht erst Vorfälle wie der Anschlag in Halle, in denen der Antisemitismus sich in körperlichen Angriffen auf Menschen entlädt, machen Antisemitismus zum Gegenstand für schulische und außerschulische politische Bildung. Zwar kommt in solchen Anschlägen auch eine Verachtung der Täter für die grundlegenden Werte unserer Demokratie wie die Menschenwürde und damit für unser demokratisches System an sich zum Ausdruck, aber gesellschaftliche Veränderungen, in denen Antisemitismus wieder salonfähig wird, sind schleichende Prozesse, die einer dauerhaften Bearbeitung bedürfen. Politischer Bildung kommt bei dem Erhalt und der Fortentwicklung der Demokratie eine entscheidende, oft aber unterschätzte Schlüsselrolle zu. Antisemitische Äußerungen sind im Rahmen meiner Universitätsseminare bisher keine gefallen. Vielleicht deshalb, weil Menschenrechte und die Akzeptanz von Menschen in ihrer Einzigartigkeit immer ein wesentlicher Bezugspunkt bei Fragen der politischen Bildung sind. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 103 2 Gab es für Sie Anlässe, sich mit Antisemitismen im Bildungsbereich zu beschäftigen? Antisemitismus ist – wie bereits angedeutet – in der Mitte der Gesellschaft angekommen und antisemitische Äußerungen sind mittlerweile wieder ohne große Gegenwehr sagbar. Dies zeigt, wie tief antisemitische Vorurteile und Stereotype in der deutschen Gesellschaft verwurzelt sind. Berichte über Ereignisse auf Schulhöfen, wie sie in der Studie von Bernstein berichtet werden, in denen sich beispielsweise Jugendliche mit „Komm her, du Jude!“ beschimpfen, lassen einen aufhorchen und darüber nachdenken, wie zukünftige Lehrer:innen auf solche Situationen vorbereitet werden können, damit das Ganze nicht bagatellisiert wird. Ich denke, dass viele Lehrer:innen heute nicht darauf vorbereitet sind, wie sie in solchen Situationen angemessen intervenieren können. In gemeinsamen Seminaren mit dem Lehrstuhl für jüdische Geschichte führen wir fachspezifische und fachübergreifende Seminare durch, in denen sich Lehramtsstudierende mit Fragen des Antisemitismus in Schule, aber auch in Seminaren zum Nahostkonflikt mit israelbezogenem Antisemitismus auseinandersetzen. Solche Angebote stoßen immer auf großes Interesse. 3 In welchen Kontexten bzw. im Rahmen welcher Konzepte sollten Ihrer Ansicht nach Antisemitismen an Schulen, Hochschulen und in der Öffentlichkeit betrachtet werden, um sich damit angemessen auseinandersetzen zu können? Auf diese Frage scheint es aus meiner Sicht keine einfache Antwort zu geben: Antisemitismus weist sowohl Besonderheiten als auch Gemeinsamkeiten mit anderen Diskriminierungsformen auf. Prozesse wie Othering, Perspektivendivergenz, Hierarchie legitimierende Mythen, Eigengruppenauf- und Fremdgruppenabwertung finden sich in allen Abwertungsphänomenen. Der weitreichende Verschwörungsmythos, der als Erklärung für jede empfundene Krise herangezogen wird, ist dagegen besonders beim Antisemitismus zu finden. Deshalb scheint mir ein Gegenüberstellen von Antisemitismus und Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit nicht sinnvoll, sondern es muss im jeweiligen Kontext entschieden werden, ob das Gemeinsame oder die Besonderheit in den Blick genommen wird. Zudem sollten die unterschiedlichen Formen von Antisemitismus – klassischer, sekundärer und israelbezogener Antisemitismus – thematisiert und bearbeitet werden. Gerade der israelbezogene Antisemitismus, in dem antisemitische Einstellungen über Umwege deutlich werden, muss im Bildungsbereich © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 104 stärker berücksichtigt werden. Gerade in Seminaren zu politischen Fragen des Nahen Ostens kann der Auseinandersetzung mit israelbezogenem Antisemitismus ein breiter Raum eingeräumt werden. 4 Was ist Ihrer Ansicht nach in Bezug auf Antisemitismus für die Schule besonders bedeutsam? Hier muss man zwei Dinge unterscheiden: Es gibt zum einen die Behandlung des Antisemitismus in den einzelnen Fächern, vornehmlich im Geschichts-, Politik-, Deutsch- und Ethik- bzw. Religionsunterricht. Alle diese Fächer können durch die Förderung von bestimmten Kompetenzen gezielt zum Abbau von eigenen Vorurteilen, aber auch zum aktiven Umgang mit Vorurteilen, die von anderen geäußert werden, anleiten. Es darf dabei nicht nur eine Thematisierung von Antisemitismus im Rahmen der Behandlung des Nationalsozialismus zwischen 1933 und 1945 geben. Antisemitismus hat es davor und danach gegeben. Dem Eindruck, dass Antisemitismus auf eine historische Phase begrenzt war, muss aktiv entgegengewirkt werden. Damit soll nicht die Bedeutung einer Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Völkermord geschmälert werden. Auch wenn das wichtig ist und vor dem Hintergrund des Ablebens der letzten Zeitzeug:innen in Zukunft ein schwierigeres Unterfangen werden wird. Gerade Gespräche mit Zeitzeug:innen haben in den letzten Jahren zu einer Förderung von Interesse, Verständnis, Perspektivübernahme und Empathie bei Lernenden beigetragen. Mit dem Projekt „Lernen mit digitalen Zeugnissen“ (www.lmu.de/lediz), in denen die ersten beiden deutschsprachigen interaktiven Biografien der Holocaust-Überlebenden Abba Naor und Eva Umlauf erstellt wurden, versuchen wir, Schüler:innen die Möglichkeit zu eröffnen, ihren eigenen Fragen an Holocaust-Überlebenden nachzugehen, die Schicksale der Opfer in einer anderen Tiefe zu erfahren und somit die historische Bedeutung des Holocaust zu erfassen. Erste Studienergebnisse zeigen, dass Lernende interaktive Biografien vor allem auch nach ihren Erfahrungen mit Antisemitismus nach 1945 befragen und somit das Phänomen Antisemitismus nicht allein auf die Zeit des Nationalsozialismus begrenzt wird. Was dabei sichtbar werden kann, ist die Kontinuität antisemitischer Einstellungen und antisemitischen Handelns. Die Auseinandersetzung mit Antisemitismus erhält dadurch die notwendige gesellschaftliche Tiefe. Darüber hinaus eröffnet der Umgang mit den interaktiven digitalen Zeugnissen auch einen weiteren Diskussionsraum unter den Jugendlichen selbst. Darüber hinaus darf es nicht nur eine Thematisierung antisemitischer Dis- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 105 kriminierung in den verschiedenen historischen Phasen geben. Jüdisches Leben gehörte immer schon zu Deutschland. Dafür gibt es im Rahmen des Jubiläums „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ mannigfaltige positive Beispiele, die in schulische Bildung einfließen sollten. So kann eine regelmäßige Wiederholung garantiert werden, die in der Bildungsarbeit gegen Antisemitismus unerlässlich ist. Zudem sollte es dabei nicht nur um die Vermittlung von Wissen gehen. Aufklärung ist nicht genug. Die Rolle von Emotionen darf beim Lernen nicht unterschätzt werden. Weitere Formen der Demokratie- und Menschenrechtsbildung und demokratische Erfahrungen im Rahmen einer entsprechend ausgestalteten Schulkultur können darüber hinaus einen Beitrag zu einer grundlegenden Wertebildung leisten. Mit all diesen Bildungsmaßnahmen kann nicht früh genug begonnen werden. Schon im Bereich der frühkindlichen Bildung können erste Grundlagen gelegt werden. Neben der inhaltlichen Auseinandersetzung mit Antisemitismus in den unterschiedlichen Ausprägungen und Erfahrungslernen im Rahmen der Demokratiebildung müssen antisemitische Vorfälle in der Schule ernst genommen werden und Konsequenzen haben. Es bedarf einer absoluten Klarheit in der Bewertung, die keine Bagatellisierung zulässt. Lehrer:innen sind im Umgang mit Antisemitismus Vorbilder. Außerdem scheint mir die Einrichtung eines Meldesystems für diskriminierende Vorfälle in Schulen vor diesem Hintergrund unerlässlich. Damit kann auch die Perspektive der Betroffenen gestärkt und ihre Selbstbestimmtheit wirksam bzw. gefördert werden. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Bayern könnte hier koordinierend und übergreifend tätig werden. 5 Welche Präventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich zur Vorbeugung von Antisemitismus? Zuletzt hat die Kultusministerkonferenz in Zusammenarbeit mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland und der Bund-Länder-Kommission der Antisemitismusbeauftragten am 10. Juni 2021 eine „Gemeinsame Empfehlung zum Umgang mit Antisemitismus in der Schule“ vorgestellt. Weitere Empfehlungen zur „Vermittlung jüdischer Geschichte, Religion und Kultur in der Schule“, zum „Unterricht über Holocaust und Nationalsozialismus“, zur Demokratiebildung und zur Menschenrechtsbildung bieten Ansatzpunkte zur Prävention von Antisemitismus. Umzusetzen sind die Empfehlungen aber jeweils in den Ländern. Die Landesregierungen, die nachgeordneten Bildungsbehörden, die Lehrerbil- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 106 dung in all ihren Phasen, aber auch Initiativen aus allen Teilen der Gesellschaft sind aufgefordert, diesen Empfehlungen auf Landesebene in Form von Lehrplänen, Handreichungen und Unterrichtsmaterial Leben einzuhauchen. Ein direkter Eingriff in die Bildungspraxis der Schulen erfolgt aus solchen Empfehlungen nicht, aber sicher darf man das symbolische Kapital der Empfehlungen nicht unterschätzen. Bildungsarbeit, die den Antisemitismus als strukturelles sowie individuelles Phänomen ernst nimmt, ihn im historischen Längsschnitt thematisiert und verschiedene Formen von Antisemitismus differenziert, kann maßgeblich zu seiner Reduktion beitragen. Darüber hinaus können aus meiner Sicht vor allem Bildungsprojekte, die einen Dialog zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Bürger:innen befördern, auf verschiedenen Ebenen präventiv gegen Antisemitismus wirken. Die Teilnehmenden können so zu Multiplikator:innen gegen Antisemitismus in ihrem Umfeld werden. Konkrete persönliche Begegnungen, wie sie beispielsweise das Projekt „Meet a Jew“ organisiert, eröffnen einen neuen Zugang für Schüler:innen und ermöglichen eine Persönlichkeitsbildung, die über Wissen und Aufklärung hinausgeht. Die vielfältigen guten Angebote, die es in diesem Bereich bereits gibt, scheinen mir manchmal zu wenig sichtbar. Eine entsprechende Plattform, auf der die Angebote sichtbar und recherchierbar wären, würde hier einiges erleichtern. 6 Welche Interventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich bei Vorfällen von Antisemitismus? Schüler:innen fehlen häufig Erfahrungen, Einflussmöglichkeiten und Wissen über ihnen gegenüber erfolgtem Fehlverhalten. Sie können daher diskriminierendes Verhalten von jungen Menschen, aber auch von Professionellen, gegenüber anderen jungen Menschen oft nicht als solches erkennen. Auch fehlen ihnen häufig die Handlungsmöglichkeiten, ein solches Fehlverhalten zu beenden. Damit Kinder und Jugendliche vor Antisemitismus im schulischen Bildungssystem geschützt werden können, müssen unabhängige interne und externe Beschwerdemöglichkeiten, die niedrigschwellig zugänglich sind, eingerichtet werden. Diese Beschwerdestellen benötigen umfassende Befugnisse in Form von Besuchs-, Auskunfts- und Empfehlungsrechten, Beanstandungsverfahren sowie Sanktionsmöglichkeiten. Sie sollten für alle von Diskriminierung betroffenen Menschen im Kontext Schule zugänglich sein. Meines Erachtens gibt es solche Beschwerdemöglichkeiten in Ansätzen in Berlin. Es wäre jedoch dringend geboten, sie bundesweit zu etablieren. Die Deutsche Gesellschaft für Demo- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 107 kratiepädagogik (DeGeDe e. V.) unternimmt ab September 2019 im Rahmen des Kompetenznetzwerks „Demokratiebildung im Jugendalter“ im „Demokratie leben“-Programm einen entsprechenden Versuch in diese Richtung. Ein wichtiger Schritt scheint mir dabei zu sein, die entsprechenden Akteur:innen, wie die staatlichen Institutionen und die zivilgesellschaftlichen Akteur:innen, an einen Tisch zu bringen, damit dies ein von allen gemeinsam getragenes Anliegen wird. 7 Wo erkennen Sie in Ihrem Fachbereich Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten, um künftigen Lehrpersonen in der Lehrer:innen-Aus- und Weiterbildung eine Auseinandersetzung mit Antisemitismen zu ermöglichen? Das Thema Antisemitismus, aber auch Diskriminierung, muss Gegenstand und verpflichtendes Element in der ersten Phase der Ausbildung für alle Lehrer:innen und nicht nur in den oben aufgezählten Fächern werden. Bisher ist dieses Ansinnen in Bayern leider auf wenig Gehör bei den zuständigen Ministerien gestoßen. Es wird häufig auf die „Grundfragen der staatsbürgerlichen Bildung“ in der zweiten Phase verwiesen. Dies ist in meinen Augen nicht ausreichend. Im Augenblick bereiten wir an meiner Lehreinheit eine digitale Lernplattform mit dem Titel „Lehrerinnen und Lehrer als Botschafter der Demokratie“ für Lehramtsstudierende aller Fachrichtungen vor. In der dritten Phase sollte das Weiterbildungsangebot deutlich erweitert werden. Ein Element einer solchen phasenübergreifenden Professionalisierung muss die dauerhafte Aufgabe der Ausbildung einer demokratischen Haltung sein. Aus vielen Forschungsbefunden ist bekannt, dass berufsbezogene Überzeugungen einen wirkmächtigen Einfluss auf das Handeln von Lehrerinnen und Lehrern haben. Allerdings kommen in der Ausbildung das Bewusstmachen und die Reflexion der eigenen professionellen pädagogischen Haltung bisher in der Regel zu kurz. Der Europarat hat modellhaft sechs Elemente einer solchen demokratischen Haltung identifiziert: 1. Offenheit für kulturelle Andersartigkeit und für andere Glaubensrichtungen, Weltanschauungen und Bräuche; 2. Respekt; 3. Gemeinwohlorientierung; 4. Verantwortung; 5. Vertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit und 6. Toleranz für Mehrdeutigkeit. Sowohl der Begriff „Offenheit“ als auch der Begriff „Respekt“ zielen darauf ab, eine Haltung zu entwickeln, die jeden Menschen in seiner Einzigartigkeit sieht, die Grundlage für eine Verständigung weitgehend ohne Vorurteile bildet und die es ermöglicht, anderen Menschen Zuwendung zukommen zu lassen, weil man ihnen eine Bedeutung oder einen Wert zuschreibt, der eine positive Betrachtung und Wertschätzung verdient. Das bedeutet aber auch, sich der eigenen Vorurteile bewusst zu werden © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 108 und diese kritisch zu reflektieren. Die Offenheit für Neues und die Ausbildung und Beibehaltung einer mentalen Beweglichkeit scheinen beim Erwerb einer demokratischen Haltung unerlässlich. 8 Welche Forderungen und Wünsche, auch Hoffnungen oder Befürchtungen haben Sie im Hinblick auf eine Zukunft mit weniger / ohne Antisemitismus? Der Staat bleibt aufgefordert, durch entsprechende Landesantidiskriminierungsgesetze rechtliche Lücken im Diskriminierungsschutz in Schulen zu schließen und die jeweiligen Schulgesetze auf Landesebene zu ändern. Zudem sollten diese Gesetze die Grundlagen für den Aufbau unabhängiger staatlicher Beschwerdestellen innerhalb und außerhalb der Schule enthalten. Politischem Fachunterricht und demokratischer Schulentwicklung sollte ein größerer Stellenwert eingeräumt werden. So sollte beispielsweise neben einem größeren Stundendeputat (Kein Jahr ohne politische Bildung!) der Einsatz von Lehrkräften im Rahmen von Demokratiebildung genauso honoriert werden wie die Fachbetreuung der IT oder der Berufsorientierung. Um Antisemitismus und jeder Form von Diskriminierung entgegenzuwirken, müssen wir vermeintliche Gewissheiten überprüfen und offen für neue Wege sein. Staat, Zivilgesellschaft und jede Einzelne bzw. jeder Einzelne bleiben dauerhaft aufgefordert, sich Antisemitismus und jeder Form von Diskriminierung entgegenzustellen und einzugreifen. Wir alle sind für unsere Demokratie mit ihrem zentralen Meta-Wert der Menschenwürde verantwortlich. MARKUS GLOE , Dr. ist Professor für Politische Bildung und Didaktik der Sozialkunde/Politik und Gesellschaft am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der Ludwig-MaximiliansUniversität München; Mitglied im Geschäftsführenden Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik. Arbeitsschwerpunkte: Historisch-politische Bildung; Demokratiebildung, Demokratiepädagogik, Menschenrechtsbildung, Politische Urteilsbildung. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 109 EVELINE GUTZWILLER-HELFENFINGER Arbeit an zentralen Fragen des menschlichen Zusammenlebens 1 Gibt es in Ihrem Fachbereich Berührungspunkte mit Antisemitismus? Meine Arbeit als Forscherin und Dozentin in der Lehrer:innenbildung befasst sich hauptsächlich mit Fragen der sozialen, emotionalen und moralischdemokratischen Entwicklung über die Lebensspanne sowie der professionellen Entwicklung von Lehrpersonen. Die beiden Bereiche werden in meiner Forschungs- und Präventionsarbeit zu schulischem Mobbing miteinander verbunden. In diesen Arbeitsfeldern hatte ich bisher keine direkten Berührungspunkte mit Antisemitismus und Holocaust-Verzerrungen oder Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit im Allgemeinen. Im privaten Bereich gab es den einen oder anderen Vorfall mit Mitgliedern meiner Herkunftsfamilie, welche auf dem Land in einer engen Gemeinschaft leben. Dort wird immer wieder über „die Ausländer“ gesprochen, meist mit negativen Assoziationen, beispielsweise, dass „die Ausländer“ den Einheimischen die Arbeit wegnehmen. Sobald ich genauer nachfrage, kommt – zögerlich – eine differenziertere Diskussion in Gang, und die Kolleginnen und Kollegen sowie die Familienmitglieder relativieren ihre Aussagen. Allerdings ist mir nie klar, ob dies einfach dem Moment geschuldet ist und nachher dieselben Vorurteile und Stereotypen weitergetragen werden. Ein Ereignis ist mir im Gedächtnis geblieben: Vor ein paar Jahren, beim 18. Geburtstag eines Mitglieds meiner Herkunftsfamilie, hatte dieses neben der Familie auch Nachbarinnen und Nachbarn sowie Freundinnen und Freunde eingeladen. Die Stimmung war feuchtfröhlich, die jungen Leute hatten schon ein paar Bier intus. Der junge Mann, der Geburtstag hatte, hob die Faust und rief © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 110 „Ausländer raus“, intoniert in einer Art Singsang. Seine Kolleg:innen fanden das lustig. Es war ein großes Getümmel im Raum, ich stand nicht in der Nähe, sodass ich ihn nicht darauf ansprechen konnte. Meine ältere Tochter hat mir im Nachhinein erzählt, dass genau dieser Singsang in den sozialen Medien kursierte. Bezüglich Antisemitismus habe ich vor allem als junge Frau in meinem Herkunftsdorf miterlebt, dass ältere Menschen in Diskussionen sagten, die Juden hätten Jesus umgebracht, weswegen sie zu verachten seien („Saujuden“). Wenn ich jeweils sagte, dass Jesus Jude war und das Christentum aus dem Judentum entstanden ist, schwiegen die beteiligten Personen. 2 Gab es für Sie Anlässe, sich mit Antisemitismen im Bildungsbereich zu beschäftigen? Für mich gibt es immer wieder Anlässe, um mich mit Antisemitismus zu beschäftigen. Als ich an der Universität Basel Psychologie studierte, lernte ich eine jüdische Kommilitonin kennen. Die Freundschaft mit ihr ermöglichte mir einen vertieften Einblick in eine (relativ) säkulare jüdische Familie. Meine Freundin Catherine und ich tauschten uns intensiv über unsere jeweiligen Religionen aus. Ich bin römisch-katholisch aufgewachsen, so hatten wir im Alten Testament eine gemeinsame Basis. Für mich als „Landei“ war es spannend, die jüdische Gemeinschaft in Basel und ihre Geschichte näher kennenzulernen. Catherine gab mir in den späten 1980er-Jahren bereits einen Einblick in die strengen Sicherheitsdispositive, die bei der Basler Synagoge und bei der jüdischen Schule galten. Das war ein Weckruf: Menschen konnten nicht einfach sorglos ihren Gottesdienst besuchen, Kinder waren in der Schule nicht automatisch sicher. Eine schlimme Erfahrung war, als Catherines Schwester und ihre Familie – die damals nach Tel Aviv ausgewandert waren – von Scud-Raketenangriffen betroffen waren. Ihnen war nichts passiert, aber Catherine verspürte immer eine große Anspannung. Das erste Wort, das ihr kleiner Neffe gesprochen hatte, war „Masgaske“ (er meinte „Gasmaske“). Damals wurden die Einwohner:innen Tel Avivs im Gebrauch von Gasmasken instruiert. Jede Familie hatte einen Satz zu Hause. Diese Erfahrungen haben mich geprägt und dazu beigetragen, dass ich mich mit Moralentwicklung und deren Erforschung beschäftige. Moral bezieht sich darauf, das Wohlergehen anderer Menschen mit im Blick zu haben, zu verstehen, dass unser (Nicht-) Handeln nie nur uns selbst betrifft. Eine universalistische Position, d. h. alle Menschen verdienen Fürsorge und Gerechtigkeit, ist für mich die Grundlage meiner wissenschaftlichen und praktischen Arbeit. Der seit Jahren zunehmend offene (und eben weniger latente) Antisemitismus bereitet © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 111 mir große Sorgen, besonders im aktuell sichtbaren Aufleben von Verschwörungstheorien und dem damit verbundenen Bedienen alter „Meta-Narrative“ und Weltanschauungen. Wenn man im Rahmen solcher Weltanschauungen die Existenz jüdischer Menschen als Wurzel allen Übels auf der Welt sieht, ist damit scheinbar jegliche Art von schädigendem Verhalten gerechtfertigt. In einer pervertierenden Sicht kann man damit sogar Gräueltaten als moralisch richtig rechtfertigen. Albert Bandura, ein bedeutender Sozialpsychologe und Sohn jüdischer Einwanderer in Kanada, hat dieses Phänomen im Nachgang zum Holocaust untersucht (2016). Seine Ausgangsfrage war, wie es möglich ist, dass „normale“ Menschen sich direkt und indirekt an den Gräueltaten im „Dritten Reich“ beteiligen und mit dieser Schuld leben konnten. Bandura entwickelte die Theorie des „moral disengagement“, was man auf Deutsch als moralische Distanznahme bezeichnen könnte. Die inzwischen intensivst beforschte und bestätigte Theorie beschreibt, wie Menschen Rechtfertigungsstrategien einsetzen, um sich nicht schuldig fühlen zu müssen, wenn sie andere Menschen geschädigt haben oder zu schädigen beabsichtigen: Schädigendes Verhalten wird verharmlost oder als moralisch gut dargestellt; Verantwortung wird abgeschoben; die negativen Konsequenzen werden heruntergespielt oder ignoriert; oder, und das ist für mich der bösartigste Mechanismus, das Opfer wird diskreditiert, entmenschlicht (zum Beispiel durch Gleichsetzung mit Tieren) oder für das schädigende Verhalten (und damit das eigene Leiden) selber verantwortlich gemacht. Wir wissen aus der Forschung in verschiedensten Bereichen (zu Gewalt, Delinquenz, Terrorismus, Folter, Mobbing usw.), dass solche Rechtfertigungsstrategien vor allem in Gruppenprozessen sowie auf institutioneller und gesellschaftlicher Ebene sehr wirksam sind und helfen, gewaltbefürwortende Weltanschauungen zu stützen. 3 In welchen Kontexten bzw. im Rahmen welcher Konzepte sollten Ihrer Ansicht nach Antisemitismen an Schulen, Hochschulen und in der Öffentlichkeit betrachtet werden, um sich damit angemessen auseinandersetzen zu können? Antisemitismus hat viele Gesichter und zieht sich durch verschiedene politische, religiöse und gesellschaftliche Bereiche. Die Website der Bundeszentrale für politische Bildung (https://www.bpb.de) greift viele dieser Ausprägungen auf und kontextualisiert sie politisch, historisch, religiös und gesellschaftlich. Das Phänomen ist komplex, vor allem, da alte antisemitische „Meta-Narrative“, die in der Existenz jüdischer Menschen die Wurzel allen Übels erkennen, ständig wieder aufgegriffen und in aktuelle gesellschaftliche und politische Diskurse eingebettet werden. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 112 Das sehen wir aktuell im Kontext von Covid-19 und den zum Teil radikal aufgeladenen Debatten um Ursachen, Gefährlichkeit, Maßnahmen usw. Da können Anhänger:innen antisemitischer Verschwörungstheorien die diffusen Ängste und Schwierigkeiten, die einige Menschen im Umgang mit Ungewissheit haben, für eigene Zwecke missbrauchen: Wenn sich alles auf eine jüdische Weltverschwörung reduzieren lässt, die das Ziel hat, die nichtjüdischen Menschen zu vernichten, hat man die Ursache sowie die Verantwortlichen benannt und kann darauf aufbauend argumentieren, dass es richtig, gerechtfertigt und notwendig ist, jüdische Menschen auszulöschen. Hier greift also die moralische Distanznahme und erfüllt die wichtige und traurige Rolle des Ermöglichens von Hass und Gewalt. Das Verhältnis von Antisemitismus zu Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ist meines Erachtens ein spannungsvolles. Wenn wir HolocaustVerzerrung und Antisemitismus als eine bestimmte Form von Gruppenbezogener Menschlichkeit verstehen, laufen wir Gefahr, die besonderen Merkmale, die Antisemitismus und Holocaust-Verzerrung aufweisen, aus dem Blick zu verlieren. Andererseits gibt es einen Überlappungsbereich, und gerade, wenn es um die Verhaltensebene – vor allem das Ausüben von Gewalt – geht, ist es wichtig, dies in den Blick zu nehmen. Dieser Überlappungsbereich bezieht sich auf das „Anderssein“. Anderssein, zu einer bestimmten als minderwertig empfundenen Gruppe zu gehören, wird vor allem bei gewaltbereiten Menschen als Anlass und Rechtfertigung für Gewalttaten gegenüber Angehörigen solcher Gruppen genommen. Im Kontext des schulischen Mobbings, einem meiner Arbeits- und Forschungsbereiche, würden wir von identitätsbasiertem, antisemitischem Mobbing sprechen, welches damit „eine“ Ausprägung, „ein“ Gesicht von Antisemitismus darstellt. Mit dem Benennen als Mobbing wird der Bezug zu Aggression und Gewalt hergestellt, womit wieder an der Moralität respektive eine universalistische Position angeknüpft werden kann. Aus einer Perspektive der konstruktivistisch orientierten moralischen Erziehung in der Kohlbergschen und Neo-Kohlbergschen Tradition (zum Beispiel Patry/Weyringer/Weinberger 2010) geht es bei Prävention und Intervention um das Implementieren von Dialog und Diskurs, um das Arbeiten an unterschiedlichen Sichtweisen, vor allem durch das Bearbeiten von Konflikten und Dilemmata. Dies eröffnet die Möglichkeit, ein und dasselbe Phänomen oder Thema gemeinschaftlich aus verschiedenen Perspektiven (historisch, religiös, gesellschaftlich usw.) zu beleuchten, den Konflikt zu bearbeiten, Wissen aufzubauen, die zugrunde liegenden Problematiken zu verstehen und vor allem an möglichen Lösungen zu arbeiten (genaueres unter Punkt 4 „Values and Knowledge Education“). Weiten wir den Blick auf Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 113 damit verwandte Formen wie Diskriminierung und Rassismus aus, so hilft uns dies auch, die gemeinsam geteilten Grundzüge dieser Formen von menschenverachtenden Einstellungen und Verhalten zu erkennen. Damit können wir auch metatheoretische Rahmungen aus diesen Bereichen für die Präventionsund Interventionsarbeit zu Antisemitismus fruchtbar machen. Ich denke hier an Grundzüge menschlichen Funktionierens wie „Mindset“ und „Worldview“, wie sie zum Beispiel in Borums-Modell (2014) „World View, Psychological Vulnerabilities and Propensities For Involvement in Violent Extremism“ dargelegt werden. Dort wird das „Mindset“ als Teil der Person gesehen. Es bezeichnet relativ überdauernde Einstellungen, Haltungen, Dispositionen und Neigungen, welche die Art und Weise beeinflussen, wie ein Individuum Situationen interpretiert und darauf reagiert. „Worldview“, eine Sicht auf die Welt, wird als psychologisches Klima verstanden. Weltsichten sind vor allem ein kollektives Phänomen, d. h. sie werden mit anderen Menschen geteilt. Weltsichten sind die „Art und Weise, wie wir Sinn und Bedeutung aus der Welt und unseren Erfahrungen in ihr“ finden (Borum 2014, 287; Übers. d. Verf.). Das Mindset und die (geteilte) Weltsicht eines Individuums bilden die Grundlage für ein innerpsychisches Klima. In diesem Klima tragen verschiedene Verletzbarkeiten und Dispositionen zur Formung von Ideen und Verhalten dazu bei, das Risiko oder die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass das Individuum sich an gewaltsamem Extremismus beteiligt. Entsprechend interagieren individuelles Mindset und Weltsicht mit den Bedingungen des umgebenden Kontexts, was unter anderem eben das durch geteilte Weltsichten usw. geschaffene Klima in einer bestimmten Gruppe umfasst. Das Modell bietet einen systemischen Blick auf das Entstehen von extremistischer Gewalt und beleuchtet das komplexe Zusammenspiel von individuellen, kontextuellen und gesellschaftlichen Faktoren. Die Verhaltensebene muss meines Erachtens zwingend einbezogen werden und somit auch die Frage von Aggression und Gewalt. Ebenso müssen wir die Gefahr von Radikalisierung und Extremismus (politisch, religiös) als Hintergrundfolie mittragen. Es reicht nicht, wenn wir auf individueller Ebene an Haltungen und Einstellungen arbeiten, um Antisemitismus zu verhindern oder aufzulösen. Mindset, Weltsicht, aggressives Verhalten, Gewaltbereitschaft, diese Faktoren müssen aus einer systemischen Perspektive mitbedacht werden, also auch auf allen Ebenen des Bildungssystems. Welche Weltsichten und Mindsets finden sich bei Lehrpersonen, Lehrerbildner:innen, Schulleitungen, Bildungsverantwortlichen (siehe dazu auch Punkt 7)? © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 114 4 Was ist Ihrer Ansicht nach in Bezug auf Antisemitismus für die Schule besonders bedeutsam? Im Sinne einer konstruktivistisch orientierten moralischen Erziehung ist die Bearbeitung von Antisemitismen nicht an bestimmte Schulfächer oder ein spezifisches Lernalter gebunden. Es geht um die altersangemessene Förderung soziomoralischer Kompetenzen, d. h. das Selbst in Beziehung zu anderen Menschen sowie das „Mit-im-Blick-Haben“ des Wohlergehens von anderen Menschen aus einer universalistischen Position. Das heißt, die Bearbeitung von Antisemitismen ist eingebettet in die grundsätzliche Arbeit an zentralen Fragen des menschlichen Zusammenlebens. Gleichzeitig können die besonderen Merkmale von Antisemitismus/Antisemitismen aus historischen, religiösen, gesellschaftlichen und weiteren Perspektiven herausgearbeitet werden. Ein Ansatz, der sich bestens dazu eignet, in unterschiedlichen Bereichen erfolgreich eingesetzt und durch Begleitforschung validiert wurde, ist der VaKE-Ansatz von Jean-Luc Patry, Sieglinde Weyringer, Alfred Weinberger und weiteren Kolleginnen und Kollegen. Er steht für „Values and Knowledge Education“, also die Verbindung von Wissensaufbau mit dem Erarbeiten von Werten. Ein besonders wichtiger Aspekt ist, dass VaKE auf unterschiedlichen Schulstufen, in der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen sowie in der Arbeit mit weiteren Zielgruppen (zum Beispiel Migrantinnen und Migranten) erprobt ist, d. h. schon einige Systemebenen einbezieht. Bildungsarbeit baut auf Beziehungsarbeit auf, was sich durch alle Systemebenen durchzieht. Die Förderung positiver Sozialbeziehungen in Klassen, Schulen und Gemeinschaften ist ein wichtiger Faktor für Bildungserfolg. Aggression, Gewalt, Mobbing, Antisemitismus, Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, Rassismus, Diskriminierung sind Ausdruck gestörter, ja, toxischer Sozialbeziehungen. Die Bedeutung positiver Sozialbeziehungen für Lernen, Entwicklung und Zusammenleben muss nochmals anders gewürdigt werden. Fachleute für Diskriminierung in allen Schulen zu haben, mag ein förderliches Element sein, enthebt aber die anderen schulischen Akteurinnen und Akteure nicht ihrer Mitverantwortung, wenn es darum geht, Antisemitismus aufzulösen respektive zu verhindern. D. h. das Gestalten einer positiven Beziehungskultur, das Aufgreifen und Bearbeiten von Konflikten, das Thematisieren schädigender Haltungen und Verhaltensweisen usw. muss auf allen Systemebenen kooperativ und in je spezifischen Rollen und Verantwortlichkeiten stattfinden. So kann Antisemitismus in unterschiedlichen Kontexten, Fächern, Settings bearbeitet werden; es können historische, religiöse, politische, gesellschaftliche usw. Bezüge hergestellt werden (auch zu weiteren Formen von Diskriminierung, Gewalt usw.), © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 115 es kann Vernetzung im Denken und Handeln entstehen. Wird Antisemitismus isoliert als ein Thema von Fach xy betrachtet, zum Beispiel „das gehört in den Geschichtsunterricht“, kann er „abgearbeitet und abgehakt“ werden und bleibt im schlimmsten Fall ein isoliertes, nicht an aktuelle Lebensfragen geknüpftes Phänomen, mit dem man sich nie mehr befassen muss oder will. 5 Welche Präventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich zur Vorbeugung von Antisemitismus? Neben dem Bearbeiten von Antisemitismus in unterschiedlichen Kontexten, Fächern und Settings an den Schulen, wie unter Punkt 4 angesprochen, ist ein systemisch-ökologischer Ansatz wichtig: Alle mit Bildung befassten Personen in allen Bildungseinrichtungen sind grundsätzlich in die Arbeit einzubeziehen, dies in unterschiedlichem Ausmaß und in unterschiedlichen Rollen sowie Verantwortlichkeiten (siehe dazu auch Punkt 7). Wichtige Grundpfeiler der Präventionsarbeit sind, Strukturen und Netzwerke zu schaffen (Expertinnen und Experten, Anlaufstellen usw.), relevante einschlägige Informationen und Wissensinhalte verfügbar zu haben, Personen einzusetzen, die das Thema „hüten“, einen gemeinsamen konzeptuellen Boden zu erarbeiten (zum Beispiel: Was verstehen wir an unserer Schule unter Antisemitismus? Woran orientieren wir uns?) und vor allem ein Konzept zu erarbeiten, das die Akteurinnen und Akteure handlungsfähig macht. Ich ziehe hier eine Parallele zur Mobbingprävention auf der Ebene der individuellen Schule: Wenn Schulen nicht darauf eingerichtet sind, dass Mobbing entstehen kann, dann werden sie jeweils von Vorfällen überrascht und können immer nur reagieren. Wird die Problematik spät erkannt, kommt ein großer Handlungsdruck dazu, zum Beispiel wenn ein gemobbtes Kind selbstmordgefährdet ist. Dann werden oft relativ unkoordinierte Maßnahmen ergriffen, die meist nicht wirksam sind und häufig die Situation noch verschlimmern. Ist jedoch ein Konzept erarbeitet, haben sich Schulleitung, Kollegium, Schulsozialarbeiter:innen, Schulpsychologinnen und Schulpsychologen sowie weitere relevante Akteurinnen und Akteure bzgl. Zuständigkeiten, Verantwortlichkeiten, Ansprechpersonen usw. verständigt, dann sind die Strukturen, Informationen und Vorgehensweisen bereits etabliert und können sofort aktiviert werden. Auf der Basis gemachter Erfahrungen können sie laufend angepasst oder verbessert werden, sodass die Schule eine hohe Professionalität im Umgang mit Mobbing erreicht. Wie unter Punkt 3 dargelegt, gibt es einen großen Überlappungsbereich bezüglich des Ausübens von Gewalt gegenüber Menschen, die als „anders“ konstruiert werden. Entsprechend © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 116 müssen nicht unabhängige Konzepte für Antisemitismus, Mobbing, allgemeine Gewaltprobleme usw. entwickelt werden. Die oben für Mobbing exemplarisch dargelegten Grundzüge der Präventionsarbeit können die Basis für ein übergeordnetes Konzept bilden. Spezifika, die mit einer bestimmten Problematik einhergehen, können herausgearbeitet werden, sodass es ein allgemeines Konzept für den Umgang mit Gewalt und Aggression geben könnte mit je spezifischen Teilbereichen für Antisemitismus, Mobbing, Erpressung usw. Damit kann der Blick geweitet werden. Zudem würde ein solches Vorgehen wertvolle Ressourcen sparen, da die Schule schneller handlungsfähig wäre, nicht für jede Problematik von Grund auf ein neuer Lösungsansatz entwickelt und auch nicht zig Einzelkonzepte erarbeitet werden müssten. Es gibt zudem gute, evidenzbasierte und erprobte Konzepte und Leitfäden, die als Blaupause beigezogen werden können, sodass nicht jede Schule alles von Grund auf erarbeiten muss. Ein Beispiel ist der „Leitfaden Good Practice Kriterien Prävention von Jugendgewalt in Familie, Schule und Sozialraum“ von Fabian, Käser, Klöti und Bachmann (2014), welcher im Auftrag des Bundesamts für Sozialversicherungen erarbeitet wurde. 6 Welche Interventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich bei Vorfällen von Antisemitismus? Anknüpfend an Punkt 5 gehen Prävention und Intervention fließend ineinander über. Auf schulischer Ebene sind es einerseits das Bearbeiten von Antisemitismus in unterschiedlichen Kontexten, Fächern und Settings, das Etablieren von Strukturen und Netzwerken, das Verfügbarmachen relevanter einschlägiger Informationen und Wissensinhalte, das Einsetzen von Personen, die das Thema „hüten“, das Erarbeiten eines gemeinsamen konzeptuellen Bodens sowie eines Konzepts zum Umgang mit Vorfällen von Antisemitismus und weiteren Formen von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, Aggression und Gewalt. Dieser Ansatz der geteilten Verantwortung und des „aktiven Dranbleibens“ kann entsprechend auf weiteren Ebenen des Bildungssystems umgesetzt werden, angepasst an den jeweiligen Kontext und dessen Eigenlogik. Dies bedeutet nicht, dass wir einfach die Hände in den Schoß legen, solange diese Grundpfeiler noch nicht etabliert sind. Der wichtigste Schritt der Intervention ist, nicht wegzuschauen! Auch wenn wir (als pädagogisch Tätige) nicht immer gleich ins Handeln kommen können, weil uns beispielsweise das Wissen um wirksame Strategien fehlt, wir überfordert sind oder Angst haben, die Situation zu verschlimmern, können wir trotzdem den Vorfall melden, Hilfe holen, im © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 117 Nachgang das Geschehene aufarbeiten und Maßnahmen ableiten, um weitere Vorfälle zu verhindern, mit dem Opfer in Kontakt treten und nachfragen, wie es ihr/ihm geht, was sie/er braucht usw. Wir sind nicht machtlos, wir müssen nicht alles allein leisten. Aber wir dürfen nicht wegschauen! 7 Wo erkennen Sie in Ihrem Fachbereich Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten, um künftigen Lehrpersonen in der Lehrer:innen-Aus- und Weiterbildung eine Auseinandersetzung mit Antisemitismen zu ermöglichen? Die Komplexität des Phänomens, die vielen Gesichter, mit denen Antisemitismus sich zeigt, sind eine riesige Herausforderung für Sensibilisierung, Prävention und Intervention. Umso wichtiger ist es für uns als Gesellschaft, auch immer wieder auf universale moralische Prinzipien hinzuarbeiten und eine Position zu entwickeln (und zu vertreten), die klarmacht, dass Antisemitismus auf keine Art und Weise gerechtfertigt werden kann. Somit kann man sich mit moralischer Distanznahme respektive den entsprechenden Rechtfertigungsstrategien nicht einfach herausreden. Dies beinhaltet auch, systemisch-ökologisch zu denken und neben Schulen weitere Bildungseinrichtungen, das ganze Bildungssystem in den Blick zu nehmen: Wenn wir Veränderung wollen, reicht es nicht, die Thematik mit einzelnen Klassen im Unterricht zu bearbeiten. Die Schule und ihr Umfeld, die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen und Lehrerbildner:innen müssen einbezogen werden. Dies nicht im Rahmen von Einzelinitiativen oder Einzelprojekten, sondern als integraler Bestandteil der täglichen Arbeit. Auf schulischer Ebene beispielsweise bezieht sich dies auf die Arbeit an der Schulkultur. Auf der Ebene der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen und Lehrerbildner:innen geht es um das professionelle Ethos. Aktuell wird professionelles Ethos oft als globales Konstrukt verstanden, sodass bezüglich Antisemitismus nicht klar ist, was ein solches Ethos ausmacht. Ich habe begonnen, eine domänenspezifische Sicht auf das professionelle Ethos von Lehrpersonen einzunehmen und angefangen, es in der Domäne der Sozialbeziehungen zu rekonstruieren, konkret im Teilbereich des schulischen Mobbings. Dort postuliere ich, dass das professionelle Ethos von Lehrpersonen auf der inhaltlichen Ebene neben Wissen zum Phänomenbereich auch den Aufbau entsprechender Haltungen (im Sinne einer klaren Stellungnahme gegen Mobbing), den Aufbau eines Bezugs zur eigenen professionellen Identität und Mission (im Sinne der „core-reflection“ nach Korthagen/Vasalos 2005) sowie die Umsetzung in Handeln umfasst. Weiter ist das professionelle Ethos nicht in der einzelnen Lehrperson verankert, sondern kontextualisiert und speist sich aus unter- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 118 schiedlichen Quellen, die auch außerhalb der Lehrperson liegen (Kinderrechte, Standesregeln, Leitbild der lokalen Schule, Professionsstandards usw.). Damit wird klar, dass eine einzelne Lehrperson allein weder die Verantwortung für die (Weiter-)Entwicklung ihres professionellen Ethos trägt noch die ganze „EthosLeistung“ im Sinne des Umsetzens in Handeln, Schaffens von günstigen Rahmenbedingungen usw. erbringen kann. Eine solche Ethos-Ausarbeitung wäre meines Erachtens für den Teilbereich der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit erforderlich, mit einem besonderen Fokus auf Antisemitismus. 8 Welche Forderungen und Wünsche, auch Hoffnungen oder Befürchtungen haben Sie im Hinblick auf eine Zukunft mit weniger / ohne Antisemitismus? Antisemitismus geht uns alle an, er durchdringt (sichtbar und weniger sichtbar) unseren Alltag und viele unserer Lebensbereiche. Wir alle sind gefordert, uns dazu zu verhalten, d. h. Stellung zu beziehen, kritische Selbstreflexion zu betreiben, aufmerksam zu sein, Zivilcourage zu zeigen. Wir sind auf allen Systemebenen gefordert, ihn zu thematisieren, anzugehen, präventiv zu arbeiten. Das Bildungssystem als zentrales gesellschaftliches und politisches Element der Lebensprägung ist gefordert, Antisemitismus auf allen Ebenen zu thematisieren, kritische Selbstreflexion zu betreiben und konkrete Maßnahmen zu dessen Bearbeitung abzuleiten und umzusetzen. Wir müssen uns auf allen Ebenen der Frage stellen: „Wie hast Du’s mit dem Antisemitismus?“ BANDURA, Albert (2016): Moral disengagement. How people do harm and live with themselves. New York. BORUM, Randy (2014): Psychological vulnerabilities and propensities for involvement in violent extremism. In: Behavioral Sciences & the Law, 03/2014, S. 286-305. Online: https://doi. org/10.1002/bsl.2110 (Zugriff: 18.10.21). BUNDESZENTRALE für politische Bildung. Online: https://www.bpb.de/politik/extremismus/anti- semitismus/37944/was-heisst-antisemitismus (Zugriff: 18.10.21). FABIAN, Carlo/Käser, Nadine/Klöti, Tanja/Bachmann, Nicole (2014): Leitfaden Good Practice Kriterien Prävention von Jugendgewalt in Familie, Schule und Sozialraum. Bern. KORTHAGEN, Fred/Vasalos, Angelo (2005): Levels in reflection: Core reflection as a means to en- hance professional growth. In: Teachers and Teaching: Theory and Practice, 11/2005, S. 47-71. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 119 PATRY, Jean-Luc/Weyringer, Sieglinde/Weinberger, Alfred (2010): Kombination von Moral- und Werteerziehung und Wissenserwerb mit VaKE. Wie argumentieren die Schülerinnen und Schüler? In: Latzko, Brigitte/Malti, Tina (Hg.): Moralische Entwicklung und Erziehung in Kindheit und Adoleszenz. Göttingen, S. 241-260. WEYRINGER, Sieglinde/Patry, Jean-Luc/Weinberger, Alfred (2012): Values and knowledge edu- cation. In: Alt, Dorit/Reingold, Roni (Hg.): Changes in teachers’ moral role: From passive observers to moral and democratic leaders. Rotterdam, S. 165-179. EVELINE GUTZWILLER-HELFENFINGER ist Assoziierte Forscherin am Interdisziplinären Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung an der Universität Duisburg-Essen. Sie ist außerdem Senior Researcher am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Freiburg, Schweiz sowie Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Schwyz. Forschungsschwerpunkte u. a.: die sozio-moralische Entwicklung über die Lebensspanne und die professionelle Entwicklung von Lehrpersonen, Mobbing in der Schule und seine moralischen Dimensionen, Prävention und Frühintervention bei schulischem Mobbing, moralische Distanznahme und Aggression sowie das Berufsethos von Lehrpersonen. Derzeit ist sie Leiterin einer Arbeitsgruppe in der COST-Aktion CA18115 „Transnational Collaboration on Bullying, Migration and Integration at School Level“ sowie Koordinatorin der Special Interest Group SIG 13 „Moral and Democratic Education“ innerhalb von EARLI (European Association for Research on Learning and Instruction). © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 120 CHRISTINA HANSEN Lernen über den Holocaust muss sinnstiftende Lerngelegenheiten schaffen 1 Gibt es in Ihrem Fachbereich Berührungspunkte mit Antisemitismus? In der akademischen Lehrer:innenbildung gibt es zahlreiche Berührungspunkte mit Antisemitismus. Vielleicht müsste man – bevor man auf die Lehrer:innenbildung im Speziellen eingeht – fragen, ob es in der Gesellschaft überhaupt Bereiche gibt, in denen es keine Berührungspunkte zum Antisemitismus gibt: Es handelt sich schließlich um ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Eine Erzählung, ein Verschwörungsmythos oder eine Handlung muss nicht einmal direkt an Jüdinnen und Juden adressiert sein, um antisemitisch zu sein. Es braucht also streng genommen keine Präsenz von Jüdinnen und Juden dafür. Dies ist ein entscheidendes Merkmal von Antisemitismus, welches ihn grundlegend von anderen Diskriminierungsformen, wie zum Beispiel Rassismus, unterscheidet: Antisemitismus zeigt sich oft als eine vermeintlich umfassende Welterklärung, welche die komplexen politischen, sozialen und ökonomischen Gemengelagen unserer Gegenwart ignoriert und stattdessen die Welt in ein vereinfachtes und damit die Wirklichkeit verzerrendes „Gut“ und „Böse“, „Opfer“ und „Täter“ aufteilt. Wenn Antisemitismus also in der Gesellschaft wirksam ist, dann kann Schule und Lehrer:innenbildung kein antisemitismusfreier Raum sein. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 121 2 Gab es für Sie Anlässe, sich mit Antisemitismen im Bildungsbereich zu beschäftigen? Für Schulen bzw. bei angehenden Lehrpersonen muss man tatsächlich zum Thema Antisemitismus besondere Maßstäbe anlegen: Es ist nicht nur der Ort, in dem sich gesamtgesellschaftliche Problemlagen und Auseinandersetzungen widerspiegeln, vielmehr ist Schule einer der wenigen Gesellschaftsräume, in denen alle „zusammenkommen“ und in dem es einen staatlichen „Erziehungsauftrag“ für alle zu erfüllen gilt. Dieser bezieht sich ja nicht auf die bloße Wissensvermittlung, sondern zielt ausdrücklich auch auf die Förderung sozialer Kompetenzen, Demokratieerziehung und die Vermittlung der Werte der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ab. Schule bietet damit als annähernd einzige „gemeinsame“ Einrichtung einer Gesellschaft die Möglichkeit, präventiv und korrektiv menschenverachtenden Einstellungen zu begegnen. Nicht zuletzt deswegen ruhen derzeit viele Hoffnungen auf der schulischen Bildung und ihrem professionellen Personal, zumal deren Bildungsangebote durch die in Deutschland wirksame Schulpflicht alle jungen Menschen erreichen. Gleichzeitig ist diese Hoffnung sehr voraussetzungsreich im Hinblick auf ihr Erfüllungspotenzial. 3 In welchen Kontexten bzw. im Rahmen welcher Konzepte sollten Ihrer Ansicht nach Antisemitismen an Schulen, Hochschulen, und in der Öffentlichkeit betrachtet werden, um sich damit angemessen auseinandersetzen zu können? Antisemitismus prägt – wie oben schon angesprochen – noch heute und weltweit viele Gesellschaften. Seine 2000 Jahre alte Geschichte zu verstehen ist eine Voraussetzung dafür, ihn zielgerichtet bekämpfen zu können. In dieser Geschichte des Antisemitismus ist die Shoah, der Völkermord an den europäischen Jüdinnen und Juden, der entscheidende Ausgangspunkt. Hier wird das eliminatorische Potenzial des Antisemitismus deutlich, das in seiner genozidalen Zielsetzung weit über die Verfolgungen und Pogrome des religiösen Judenhasses hinausgeht. Holocaust Education als Erziehung und Bildung nach Auschwitz meint Lehren und Lernen darüber, was geschah, warum es geschah und wie es geschah. Der Begriff wird im vorliegenden Beitrag als pädagogischer Ansatz verwendet, der sich zwar auf die Singularität der Shoah bezieht, wobei dieses Wissen aber in einem demokratiepädagogischen Verständnis für „eine weiterführende Reflexion mit Blick auf Haltungen und Verhalten heutiger Adressaten“ (Mattes et al. 2015) und aktueller Ereignisse erfolgt. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 122 Die Leugnung, die Minimalisierung, die Verzerrung des Holocaust sind Versuche, Antisemitismus weiter und wieder möglich zu machen. Holocaust Education oder Shoah Education sind unserer Überzeugung nach der Kontext, in dem die Auseinandersetzung mit Antisemitismus geführt werden sollte. Nur wenn sicheres Wissen über den Holocaust vorhanden ist, ist es möglich, Holocaust Distortion als solche zu erkennen, Antisemitismus in seinem Wesen zu bekämpfen und Adornos Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, zur allerersten Forderung zu machen, welche an die Erziehung gerichtet werden muss (vgl. Sigel 2020). Nationalsozialismus und Shoah sind häufig Teil kindlicher Lebenswelt(en). In vielen Fällen findet eine Erstbegegnung aber eher zufällig und unbegleitet statt (vgl. Mkayton 2011) – ein unbedachter Blick in einen Filmausschnitt, ein Foto im Newsfeed anlässlich eines Jahrestags, das Aufwachsen in der Nähe einer Gedenkstätte, die Aussage einer Zeitzeugin im Familienkreis, ein Fernsehbeitrag. Inwiefern dieser erste Zugang in einem geschützten Rahmen stattfinden und didaktisch wie pädagogisch angemessen begleitet werden kann, bleibt den Beteiligten des Einzelfalls überlassen. Werden Kinder mit aufwühlenden Eindrücken, mit offenen Fragen und mit verkürzten wie manipulativen Geschichtskonstruktionen alleingelassen, besteht die Gefahr, damit einer gewissen Abwehrhaltung Vorschub zu leisten, die eine spätere Beschäftigung erschweren oder gar verhindern kann. Doch auch abseits der historischen Figurationen von Antisemitismus geht es heute oftmals um subtile, manchmal auch um offen ausgesprochene Ressentiments und Verschwörungstheorien, die sich in Kapitalismuskritik oder Israelkritik „verstecken“ und Jüdinnen und Juden als Erklärung für vieles, was auf der Welt nicht „gut geht“, verantwortlich machen. In vielen Fällen handelt es sich dabei um Fragmente von Diskursen, die sich in Ressentiments und Machtlosigkeit ausdrücken, das Globale mit dem Lokalen verbinden und die Gruppenzugehörigkeit schaffen, indem sie diffuse identitätsstiftende Funktionen haben. Ein unterrichtlicher Diskurs mit diesen Themenkomplexen wäre daher von Anfang an in Schulen wichtig, denn diese sind der Ort, an dem Kinder und Jugendliche unabhängig vom Bildungs- und Meinungshintergrund ihres sozioökonomischen Milieus zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit Antisemitismus angeregt werden und dabei sowohl fachwissenschaftlich begleitet als auch pädagogisch angeleitet werden. In Deutschland ist dies aber gemäß curricularer Vorgaben erst für das letzte Drittel der Schulzeit vorgesehen (verpflichtend im Fach Geschichte in den Jahrgangsstufen 9 und 10, in der Mittelschule in Jahrgangsstufe 8) und trifft Jugendliche damit relativ spät in ihrer schulischen Entwicklungsphase. Einige trifft es gar nicht mehr, weil sie die Schule bis dahin schon wieder verlassen haben. In den Lehrplänen wird darüber hinaus weni- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 123 ger Raum für konkrete Inhalte gelassen, sondern es werden vorwiegend globale Ziele wie die Entwicklung von Geschichtsbewusstsein beschrieben. Als Transferleistung, die sich direkt aus den Verbrechen der Nationalsozialisten ableitet, wird in den Lehrplänen meistens die Verantwortung der heutigen Generation benannt, aber kaum spezifiziert (KMK 2014). Es mangelt jedoch nicht nur an einer curricularen Verankerung an Schulen und einer „größere[n] Vielfalt von konzeptionell durchdachten Unterrichtsmaterialien auf dem deutschsprachigen Sektor“ (Mkayton 2011, 8) auf der Ebene der Lernenden (vgl. Pech 2010), sondern auch an systematischen Konzepten zur Professionalisierung von Lehrenden zum Thema: So ist die Verankerung einer „Holocaust Education“ im Rahmen der universitären Lehrer:innenbildung mehr als ausbaufähig (vgl. Nägel/Kahle 2018) und damit fehlt es später an ausreichend ausgebildeten Lehrkräften, die gelernt haben, mit dem Thema Antisemitismus im Unterricht reflektiert umzugehen. So darf es nicht verwundern, wenn Lehrkräfte bezüglich der Zielsetzung(en) zum Thema im Unterricht Unsicherheiten zeigen: Soll Betroffenheit erzeugt werden oder geht es eher um eine möglichst neutrale Vermittlung von Fakten? Steht eine historische Auseinandersetzung im Fokus oder sollen in erster Linie Bezüge zur Gegenwart hergestellt werden? Häufig bleibt die Zielsetzung diffus (vgl. Meseth 2007). Ein Beispiel macht dies deutlich: Die überwiegende Mehrheit geschichtsdidaktischer Lehrwerke beruht auf dem Grundprinzip der Chronologie. Diesem zweifellos bewährten Prinzip der Geschichtsdarstellung wohnt jedoch auch die Gefahr eines retroaktiven Determinismus inne. Vergangene Ereignisse, die im Rückblick chronologisch geordnet dargestellt werden, können bei Lernenden die Vorstellung hervorrufen, dass ein Ereignis aus dem Vorhergehenden resultiert, und vor allem, dass dies in einem alternativlosen Mechanismus abläuft. Die retroaktive Perspektive verstellt oft die Einsicht, dass tatsächliche Geschichtsverläufe jeweils eine unter vielen potenziell möglichen Verläufen darstellen (vgl. Körber/ Borries 2008). Oft resultiert aus diesem Missverständnis die (distanzschaffende) Annahme, dass die Menschen, die während jener dunklen Jahre in Europa lebten, gewissen Kategorien angehörten und damit in bestimmten Rollen handelten: als Opfer, Zuschauer:innen oder Täter:innen, oder als Zugehörige der winzigen Minderheit der Retter:innen, von denen viele später als Gerechte unter den Völkern geehrt wurden. Gerade aber Entscheidungsprozesse sollten mit Lernenden analysiert werden, nicht zuletzt, weil menschliche Entscheidungen innerhalb spezifischer biografisch-subjektiver Referenzrahmen den Geschichtsverlauf wesentlich beeinflussen. Die Analyse menschlicher Entscheidungen in komplexen Kontexten unterstützt die Lernenden dabei, deterministische Geschichtsbilder © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 124 aufzubrechen und gängige Stereotype zu demontieren. Dabei sind die Handlungen bzw. Unterlassungen von Menschen nicht immer das Ergebnis konsistenter Entscheidungsprozesse. Sie laufen weder durchwegs nach dem Prinzip der Konsequenz noch nach dem der Kausalität ab, sondern sind auch emotionalen und biografischen Umständen zuzuschreiben (vgl. Mkayton 2020). Entsprechend ist es erforderlich, fachdidaktische Fragestellungen um eine Komponente zu erweitern, die es Lehrkräften ermöglicht, ihr Wissen und ihre Haltungen zum Thema nicht nur aus fachwissenschaftlicher, sondern auch aus einer grundsätzlicheren, bildungswissenschaftlichen Perspektive zu reflektieren: „Welche pädagogischen Zielsetzungen und Schwerpunkte verfolge ich beim Thema? Wie kann es gelingen, auch ein Bewusstsein für historische und aktuelle gesellschaftliche Phänomene zu schaffen?“ Diese Fragen sind weniger fachspezifischer, als mehr allgemein pädagogischer Natur – und dennoch alles andere als trivial, denn sie zielen auf die Bildungsprozesse junger Menschen ab, bei denen es gilt, über fachwissenschaftliche Inhalte hinaus gesellschaftliche Zusammenhänge zu erkennen und Geschehnisse zu beurteilen. Dabei geht es um nichts weniger als ein Kernziel pädagogischer Arbeit: die Befähigung zum reflektierten und kritischen Denken. Die vornehmliche Aufgabe der Schule, mündige und verantwortungsvolle Menschen ins Leben zu entlassen, ist ein Aspekt, der in der Lehrer:innenbildung meiner Meinung nach aktuell zu wenig Beachtung findet. Vielleicht, weil Haltungen und Einstellungen im Rahmen internationaler Vergleichserhebungen nicht messbar sind. 4 Was ist Ihrer Ansicht nach in Bezug auf Antisemitismus für die Schule besonders bedeutsam? Viele Pädagog:innen empfinden es als schwierig, Antisemitismus so zu thematisieren, dass die Tragweite von den Lernenden erfasst wird. In einer vielbeachteten Studie aus England (Foster et al. 2016) konnte aufgezeigt werden, was Schüler:innen über den Holocaust wissen und wie sie dieses historische Ereignis verstehen. Dabei zeigten sich zwei große Ergebnislinien: Schüler:innen mit historischem Wissen, bei denen das Gelernte eine relativ kurze Lernwirkung hatte, und solche, die die Fähigkeit entwickelten, dieses Wissen zu interpretieren und „transformatives Verstehen“ („transformative understanding“) aufzubauen – bei dieser Gruppe wurde das Gelernte also nicht nur länger im Gedächtnis behalten, sondern auch als gesellschaftlich relevanter beschrieben als bei der Vergleichsgruppe. Lernen über den Holocaust muss deshalb über die bloße Aneignung historischen Wissens hinausgehen und sinnstiftende Lerngelegenheiten schaffen © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 125 – man könnte diese als „Brücken“ zwischen historischem und aktuellem Antisemitismus bezeichnen. Damit ist aber nicht gemeint, Brücken zwischen Ereignissen herzustellen, die auf ein und derselben Achse zu liegen scheinen: So finden sich in gut gemeinten Unterrichtsprojekten zum Thema Holocaust beispielsweise Fotografien aus dem Warschauer Ghetto von 1941 (ein leblos auf dem Gehweg liegendes, verhungertes Kind zeigend) neben dem nicht weniger ikonisierten Foto des kleinen syrischen Jungen, der auf seiner Flucht nach Europa im Mittelmeer ums Leben gekommen ist und dessen Leiche an der türkischen Küste angespült wurde. Das Foto von 2015 dient als Auslöser einer Assoziation mit einer Tragödie, die sich in unserer Gegenwart ereignete und eine Welle von Empathie und Betroffenheit auslöste. Die unmittelbare Emotionalität, die dieses Foto auszulösen vermochte, dient also als eine Art Medium, durch das die Empathie und emotionale Betroffenheit auf das zweite, den Holocaust symbolisierende Foto von 1941 übertragen werden soll. Der Holocaust wird in diesem didaktischen Setting als moralisches Paradigma eingesetzt, als globales Symbol, das das Böse verkörpert: „The Holocaust is now a concept that has been dislocated from space and time, resulting in its inscription into other acts of injustice and other traumatic national memories across the globe.“ (Levy/Sznaider 2006, 5). Lernen aus dem Holocaust sollte deshalb nicht darin bestehen, scheinbare Parallelen zwischen historischen und gegenwärtigen Ereignissen zu konstruieren, sondern den Fokus auf die jeweiligen Phänomene in ihrem jeweiligen Kontext zu richten: Wie haben die Menschen damals reagiert? Wie reagiert Europa heute auf die Situation der Menschen, die aus ihren Ländern fliehen müssen? Wie positioniere ich mich selbst? Während die Tragödien selbst in unterschiedlichste Kontexte eingebettet sind, ließe sich vielleicht doch etwas aus der Geschichte lernen, wenn wir dazu bereit wären, „die Art und Weise, in der wir als Subjekte Welt erfahren und in der wir zur Welt Stellung nehmen“, einer kritischen Prüfung zu unterziehen (vgl. ebd. 2020). 5 Welche Präventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich zur Vorbeugung von Antisemitismus? Bei Antisemitismus handelt es sich nicht einfach um ein Vorurteil, sondern auch um eine kulturell tradierte und im Individuum verfestigte Welterklärung. Um einer Verfestigung von engen, autoritären Welterklärungen entgegenzuwirken, ist daher ein besonderes Augenmerk darauf zu legen, bereits von klein auf einen Zugang zu Weltoffenheit, Toleranz sowie zu Reflexions- und Empathiefähigkeit zu schaffen. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 126 In diesem Verständnis gehen Antisemitismusprävention und Demokratiebildung Hand in Hand, sie ergänzen und bestärken einander. Demokratiebildung trägt wesentlich zur Prävention von Antisemitismus bei, indem sie grundlegende Werte der Gleichberechtigung, Toleranz, Akzeptanz von Vielfalt und friedlicher Konfliktbeilegung vermittelt. Außerdem sind in einem demokratischen Schulklima bessere Voraussetzungen dafür gegeben, dass die Interessen und Wünsche jedes/jeder Einzelnen artikuliert werden können und von der Gemeinschaft ernst genommen werden. In der Prävention von Antisemitismus nehmen auch die Fortbildungsangebote für Lehrkräfte und andere in Bildung und Erziehung Tätige eine wichtige Rolle ein. Um die Analyse- und Handlungskompetenz zu stärken, müssen diese nicht nur Wissen über Antisemitismus und pädagogische Konzepte der Intervention umfassen, sondern auch die Möglichkeit zur Selbstreflexion und zur Reflexion von Strukturen und Prozessen der eigenen Institution geben. 6 Welche Interventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich bei Vorfällen von Antisemitismus? In den letzten Jahren kristallisieren sich im Besonderen vier Bildungsstrategien gegen Antisemitismus heraus. Sie berücksichtigen verschiedene Konstellationen mit unterschiedlichen Maßnahmen (vgl. Eckmann 2012): • Antisemitismus als Konstellationen von Diskursfiguren erkennen und dekonstruieren: In diesem Ansatz geht es darum, zunächst antisemitische Denkfiguren und Bilder als solche erkennen zu können, um damit Bilder, Narrative und Diskurse zu analysieren, sie zu dekonstruieren und antisemitische Denkmuster aufzudecken. • Antisemitismus als Erfahrung im Gesamtbereich Rassismus/Diskriminierung – eine Intervention im sozialen Nahraum: Diese Bildungsstrategie sucht in sozialen Gruppen von den persönlich erlebten Erfahrungen auszugehen und Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen anzusprechen. In diesem Ansatz wird Antisemitismus also als Erfahrung im sozialen Nahraum und im Kontext zunehmender Ethnisierung von sozialen Konflikten angegangen. Dabei geht es darum, eine soziale Erfahrung zu teilen, die in einer alltäglichen Lebenswelt von allen Beteiligten in ihren Dimensionen von Inklusion und Exklusion erlebt wird. • Antisemitismus als Intergruppenkonflikt und demzufolge Begegnungsprojekte vor dem Hintergrund der Kontakthypothese: In diesem Ansatz wird vor dem Hintergrund der aus der Sozialpsychologie bekannten Maßnahme © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 127 • 7 der Kontakt zwischen „feindlichen“ Gruppen eingerichtet, um bei den realen Begegnungen Vorurteile und Stereotype abzubauen und positive Effekte zu forcieren. Diese Überlegungen haben auch zu Dialogprojekten zwischen Jüdinnen/Juden und Nichtjüdinnen/Nichtjuden geführt. Allerdings haben Begegnungen nur einen positiven Effekt, wenn gewisse Bedingungen berücksichtigt werden, da sich im schlimmsten Fall die Feindseligkeiten zwischen den Gruppen noch vergrößern könnten. Antisemitismus als Global- und Lokalgeschichte – Arbeit mit Geschichte(n) und Erinnerung(en): Sich mit dem lokalen Kontext zu beschäftigen, Spuren alltäglicher und außerordentlicher Ereignisse nachzugehen, stellt den vierten Ansatz dar. Er fördert das Bewusstsein über die Verbindung lokaler und globaler Geschichte sowie über die Diversität der Gesellschaft gestern und heute. Es gilt einerseits, Erinnerungen der eigenen Biografie und der Familie aufzuarbeiten, also biografische Zugänge zu Zu- und Wegwanderung, zu erlebtem Krieg, Flucht, Exil oder zur Geschichte der Alltags- und Arbeitswelt zu finden. Andererseits ermöglicht dieser Zugang, auch die Geschichte Anderer kennenzulernen, und in diesem Kontext kann außerdem auf das Zusammenleben von Jüdinnen/Juden und Nichtjüdinnen/Nichtjuden eingegangen werden. Wo erkennen Sie in Ihrem Fachbereich Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten, um künftigen Lehrpersonen in der Lehrer:innen-Aus- und Weiterbildung eine Auseinandersetzung mit Antisemitismen zu ermöglichen? Ein diskursorientierter und systemischer Zugang zum Thema setzt, wie wir an den obigen Interventionsmaßnahmen gesehen haben, nicht nur domänenspezifische und fachdidaktische, sondern grundlegende Reflexionskompetenzen einer Lehrkraft voraus. Besonders mit dem oben angesprochenen vierten Interventionsansatz (Arbeit mit Geschichten) kommt ein Aspekt ins Spiel, der meiner Meinung nach besonders in der Lehrer:innenbildung noch viel zu wenig Beachtung gefunden hat und eine Schlüsselrolle in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus an (Hoch-)Schulen spielen könnte: die Reflexion der eigenen Identitätsentwicklung (Biografie) im sozialen Nahraum. Die Befähigung zur Dekonstruktion gesellschaftlicher Narrative und Ideologien würde historische und aktuelle Machtverhältnisse sichtbar machen und die eigene Position im Lichte sozialer Gruppierungen hinterfragen lernen: Wer wird als zu „uns“ gehörend bezeichnet – und warum? Wer sind die „Anderen“ – und wie gehen wir in „unserer“ Gesellschaft damit um? Welche Vorstellungen leiten mein eigenes Handeln dabei? © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 128 Diese biografischen Erfahrungen und „subjektiven Theorien“ (Mandl/Huber 1983) sind intentionale Sinnkonstruktionen, die in sozialen Kollektiven gebildet werden und tradiert werden. Sie schlagen sich nicht nur in unserem privaten Alltag, sondern auch auf unsere Haltungen und Einstellungen im Beruf nieder (Hansen 2018). Weil sie aber oftmals nicht reflektiert werden, wirken sie unbewusst auch auf Unterrichtsziele (Altrichter 2000). Pointiert gesagt: Wer im privaten Umfeld die Überlegenheit einer weißen, katholisch-christlichen Werteordnung vertritt, wird diese subtile Haltung vermutlich auch im Unterricht bei der Einordnung des aktuellen Weltgeschehens projizieren. Könnte man Ersteres noch unter „private Meinung“ subsumieren, wäre die pädagogische Praxis dann aber von zweifelhaftem Wert, wenn sie nicht von Reflexionen über die eigenen (biografischen) Sinnkonstruktionen durchdrungen sind. Wer nicht gelernt hat, die eigene (kulturell geprägte) Entwicklung zu hinterfragen, wird diese Kultur unbewusst tradieren und damit kritische Bildungsprozesse bei Kindern und Jugendlichen erschweren. Das Bewusstwerden kultureller Interpretationsmuster birgt umgekehrt aber hohes Potenzial, in der Reflexion von „Beziehungsgefügen zu strukturierten und handlungsleitenden Einsichten zu kommen und so über strukturanaloge Funktionen zum wissenschaftlichen Theoretisieren zu verfügen“ (vgl. Groeben/Scheele 2010). Für die Lehrer:innenbildung wäre es deshalb wichtig, angehende Pädagog:innen dahingehend zu befähigen, ihr professionelles Wissen und Handeln auf der Grundlage eigener, biografisch und kulturell gesättigter Interpretationsmuster fruchtbar zu machen. Entsprechend ist es erforderlich, bislang ausschließlich fachdidaktische Fragestellungen in der Lehrer:innenbildung um diese professionstheoretischen Komponenten zu erweitern, damit angehende Lehrkräfte von Beginn an lernen, ihre Zugänge und Haltungen systematisch und vor dem Hintergrund gesellschaftlich-kultureller Interpretationsmuster zu reflektieren. Derzeit mangelt es noch an Ansätzen, die profigrafische Reflexion (Schenz 2012, Hansen/Rachbauer 2018) für einen kritischen Diskurs mit historischem und gegenwärtigem Antisemitismus anzustoßen und damit für eine zeitgemäße Holocaust Education anschlussfähig zu machen. An diesem Desiderat setzt ein Lehrformat aus der universitären Lehrer:innenbildung an der Universität Passau an, das im Folgenden skizziert wird: Ziel des Lehrformats ist es, praktizierenden und angehenden Lehrkräften berufsbezogene Zugänge zur Shoah auf didaktischer und professionstheoretischer Ebene zu eröffnen. Neben einer Beschäftigung mit den didaktischen Rahmenbedingungen einer zeitgemäßen „Holocaust Education (for Young Agers)“, geht es insbesondere darum, die Begründungslinien unter Berücksichtigung der © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 129 eigenen biografischen Entwicklung und Positionierung für die Thematisierung im eigenen Unterricht zu reflektieren („profi-grafische Reflexion“: siehe Schenz 2012, Hansen/Rachbauer 2018). Die Teilnehmer:innen setzen sich in diesem Verständnis aber nicht nur mit historisch-didaktischen Fragestellungen auseinander, sondern auch damit, wie Bildungsprozesse in der Schule der Gegenwart organisiert und welche Strategien verfolgt werden müssen, um Schüler:innen aktuell auf dem Weg zu selbstbestimmten, solidaritäts- und partizipationsfähigen Individuen für eine Gesellschaft ohne Antisemitismus begleiten zu können. 8 Welche Forderungen und Wünsche, auch Hoffnungen oder Befürchtungen haben Sie im Hinblick auf eine Zukunft mit weniger / ohne Antisemitismus? In der pädagogischen Praxis sind Lehrkräfte mit den unterschiedlichsten Facetten von Antisemitismus und den oben beschriebenen moralischen Paradigmen konfrontiert – und das verunsichert: Wie damit umgehen? Die Reaktionen reichen von der Moralisierung bis zur Tabuisierung des Themas (Meseth 2007). Das ist einerseits aufgrund der Komplexität des Themas verständlich. Andererseits wäre die Schule der beste Ort, genau über diese Irritationen zu sprechen – Antisemitismus zu thematisieren, über den eigenen Standpunkt zu reflektieren und Strategien aufzuzeigen, diesem entgegenzutreten. Die Schule wäre wohl „the best place“ für die Ermöglichung einer Zukunft mit weniger Antisemitismus. Insbesondere mit der Aussprache der eigenen Gefühle und Perspektiven auf das Thema Antisemitismus sind oftmals Befürchtungen verbunden, etwas Falsches zu sagen und daraufhin beschuldigt zu werden. Daher ist im Hinblick auf die Gefühle und Bedürfnisse der Lernenden (zu denen ich auch Lehrkräfte und Dozierende zähle) der oben beschriebene vertrauliche Rahmen notwendig, in dem eigene Gefühle, Bedürfnisse und Anliegen reflektiert und bewusst Räume für die Auseinandersetzung mit anderen und sich selbst zum Thema geschaffen werden, um einen Prozess der Auseinandersetzung zu ermöglichen. Dazu sollte die Lehrkraft die Erfahrungen und Sichtweisen der einzelnen Lernenden ernst nehmen und gleichzeitig ihre eigene persönliche Haltung zum Thema sowie die damit im Zusammenhang stehenden pädagogischen Zielsetzungen reflektieren. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 130 ALTRICHTER, Herbert/Posch, Peter (2002): Lehrerinnen und Lehrer erforschen ihren Unterricht. Bad Heilbronn. GROEBEN, Norbert/Scheele, Brigitte (2010): Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien. In: Mey, Günter/Mruck, Katja (Hg.), Handbuch qualitative Forschung in der Psychologie, Wiesbaden, S. 151-165. ECKMANN, Monique (2012): Gegenmittel. Bildungsstrategien gegen Antisemitismen. In: Fritz Bauer Institut (Hg.): Einsicht 08. Frankfurt/M., S. 44-49. FOSTER, Stuart et.al. (2016): What do students know and understand about the Holocaust? Evi- dence from English secondary schools. London. HANSEN, Christina/Rachbauer, Tamara (2018): Reflektieren? Worauf und Wozu? Arbeiten mit dem E-Portfolio – ein Reflexionsinstrument für die LehrerInnenbildung am Beispiel der Universität Passau. In: e-teaching.org: Tübingen. URL: https://www.eteaching.org/etresources/ pdf/erfahrungsbericht_2018_hansen_rachbauer_arbeiten_mit_dem_e_portfolio_reflexionsinstrument_fuer_die_lehrerbildung.pdf KULTUSMINISTERKONFERENZ, „Aufgaben der Kultusministerkonferenz“ unter https://www. kmk.org/kmk/aufgaben (Zugriff: 13.8.2021). KÖRBER, Andreas/von Borries, Bodo (2008): Historisches Denken – Zur Bestimmung allgemeiner und domänenspezifischer Kompetenzen und Standards. In: Meyer, Meinert A./Prenzel, Manfred/Hellekamps, Stephanie (Hg.), Perspektiven der Didaktik. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Sonderheft 9. Berlin. LEVY, Daniel/Sznaider, Natan (2006) The Holocaust and Memory in the Global Age. Philadelphia. MANDL, Heinz/Huber, Günter (1983): Subjektive Theorien von Lehrern. Psychologie in Erziehung und Unterricht 30, S. 98-112. MESETH, Wolfgang (2007): Die Pädagogisierung der Erinnerungskultur. Erziehungswissenschaft- liche Beobachtungen eines bisher kaum beachteten Phänomens. In: Zeitschrift für Genozidforschung 8 (2), S. 96-117. MKAYTON, Noa (2011): Holocaustunterricht mit Kindern – Überlegungen zu einer frühen Erst- begegnung mit dem Thema Holocaust im Grundschul- und Unterstufenunterricht, [online] http://www.medaon.de/archiv-9-2011-bildung.html (Zugriff: 16.9.2021). MKAYTON, Noa (2020): Pädagogische Grundlinien im Umgang mit dem Thema Shoa in Yad Vashem. In: Hansen, Christina/Plank, K. (Hg.): Mind the Gap: Holocaust Education in der Lehrer*innenbildung, Wien, S. 39-52. NÄGEL, Verena/Kahle, Lena (2018). Die universitäre Lehre über den Holocaust in Deutschland. Berlin. PECH, Detlef (2010): Wirklich mit Kindern? Zum Forschungsstand. In: Anne-Frank-Zentrum (Hg.): Nicht in die Schultüte gelegt. Schicksale jüdischer Kinder 1933-1942 in Berlin. Berlin. SCHENZ, Christina (2012): LehrerInnenbildung und (Grund-)Schule. Professionalisierung im Spannungsfeld zwischen Person und Gesellschaft. München. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 131 SIGEL, Robert (2020): Zur Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der schulischen Bildung. In: Einsichten und Perspektiven. Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte. Themenheft 1/2020. München, S. 33-41. CHRISTINA HANSEN , Prof.in Dr.in, Studium der Bildungswissenschaften und Psychologie in Wien, von 2003 bis 2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Wien, von 2007 bis 2010 hatte sie eine Professur für Begabtenförderung und Begabungsforschung in Karlsruhe inne. Seit 2010 ist Hansen Lehrstuhlinhaberin für Pädagogik mit dem Schwerpunkt Diversitätsforschung an der Universität Passau. Darüber hinaus ist sie wissenschaftliche Leiterin der Abteilung Internationalisierung der Lehrerbildung am ZLF Passau. Seit 2020 ist Hansen Vizepräsidentin für Internationalisierung, Europa und Diversität. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Diversitätsforschung, Holocaust Education und Internationalisierung in der Lehrer:innenbildung. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 132 SYBILLE HOFFMANN Jüdische Perspektiven und Antisemitismuserfahrungen sichtbar machen 1 Gibt es in Ihrem Fachbereich Berührungspunkte mit Antisemitismus? Meine Arbeit gegen Antisemitismen vollzieht sich sowohl professionell als auch zivilgesellschaftlich. In beiden Bereichen kann ich bisweilen ein Bedürfnis beobachten, das Problem Antisemitismus möglichst weit von sich wegzuschieben, zum Beispiel indem man es in der Geschichte, „anderen Kulturen“ oder an den „Rändern der Gesellschaft“ verortet. Bei einer sicheren Distanz lässt sich dann gut über Antisemitismus reden und den Antisemitismus der „Anderen“ kritisieren. Sobald er aber in den persönlichen Nahbereich (sei es beruflich, familiär etc.) rückt, sinkt die Bereitschaft, darüber zu sprechen. Ich möchte den Fokus bei der Beantwortung der Frage auf meinen Alltag legen und auch den privaten Bereich miteinbeziehen. „Du siehst überall Antisemitismus!“, höre ich manchmal leicht vorwurfsvoll, wenn ich von meinem Beruf erzähle. Dieser Logik nach gibt es Antisemitismus nur, weil Menschen wie ich ihn suchen und sehen wollen, so als ob Antisemitismus ein Produkt meiner persönlichen Wahrnehmung sei. Wenngleich ich an die Kraft der menschlichen Vorstellungskraft glaube, kann die Kontinuität eines so alten und wirkmächtigen Weltbilds wie des Antisemitismus nicht den Personen angelastet werden kann, die erklärtermaßen dagegen arbeiten. Und noch viel weniger sollte er den Menschen zugeschrieben werden, die davon betroffen sind: Jüdinnen und Juden. Victim Blaming, die sogenannte Täter-Opfer-Umkehr, ist ein Strukturmerkmal des sekundären Antisemitismus, der Jüdinnen und Juden die Verantwortung für Antisemitismus anlastet und Täter:innen bzw. ihre Nachfahren so entlastet. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 133 Von dieser Bemerkung ist es dann auch nur ein kleiner Schritt zum Infragestellen der Erfahrungen von Jüdinnen und Juden mit Alltagsantisemitismus als zu „emotional“ und „nur“ „subjektiv“. Dabei ist ganz klar, dass Perspektiven von Jüdinnen und Juden ernst genommen werden müssen und dass Erfahrungen mit Alltagsantisemitismus für die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft, die solche Erfahrungen eben nicht macht und der ich auch angehöre, sichtbar gemacht werden müssen, will man Antisemitismus ernsthaft bekämpfen. In diesem Sinne sehe ich meine Aufgabe auch darin, Erfahrungswissen von Jüdinnen und Juden mit Antisemitismus in Lernräume zu tragen und Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen ein Sprechen über Antisemitismus möglich wird, auch über den eigenen. 2 Gab es für Sie Anlässe, sich mit Antisemitismen im Bildungsbereich zu beschäftigen? Die oben geschilderte Begegnung mit Antisemitismen in Form von Historisierung, Externalisierung und Relativierung ist sicherlich ein Hauptanlass. Grundlegend ist meine Beschäftigung aber familienbiografisch und durch mein Aufwachsen in den 1970er-/1980er-Jahren in einer postnationalsozialistischen und postkolonialen Gesellschaft motiviert, in der Antisemitismus und Rassismus allgegenwärtig waren und sowohl in der Familie, dem Bekanntenkreis, aber auch in der Schule ohne erlebten Widerspruch sag- und ohne Konsequenzen auslebbar waren. Das konnte die Oma sein, die zu Hause offen von Hitler schwärmte und keine Orangen aus Israel kaufen wollte, der Onkel, der rassistisch über seine afroamerikanischen Mieter lästerte, oder die Grundschullehrerin, die das türkische Mädchen vor der ganzen Klasse ins Gesicht schlug. Ich studierte später Geschichte auf Lehramt, auch weil ich an die Bedeutung von historisch-politischer Bildung als Beitrag zur Menschenrechtsbildung glaube, muss aber rückblickend feststellen, dass es im Rahmen der gesamten Lehrer:innenausbildung damals keine antisemitismuskritischen und rassismuskritischen Bildungsangebote gab (damals waren mir die Konzepte auch nicht bekannt). Die Auseinandersetzung mit Antisemitismus erfolgte historisiert im Rahmen des Geschichtsstudiums. Menschenrechtsdefizite und -verletzungen in unserer gegenwärtigen demokratisch verfassten Gesellschaft waren auch kein Thema im Vorbereitungsdienst, wo ich auch keine Kompetenzen erworben habe, die mich zu einem diskriminierungskritischen Umgang mit Schüler:innen befähigt hätten. Mein dennoch einsetzender Lernprozess in diesem Bereich war primär familienbiografisch begründet und vollzog sich in einer langjährigen Auseinandersetzung mit rassistischer Diskriminierung in Bildungseinrichtungen. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 134 Im Kontext eines intensiven Projekts zu Salafismus an Schulen begann ich mich verstärkt mit aktuellen Erscheinungsformen und Wirkweisen von Antisemitismus zu beschäftigen. Interessant fand ich dabei, dass es in Fortbildungen leichter schien, Antisemitismus unter Muslim:innen zu thematisieren, als ihn als gesamtgesellschaftliche Herausforderung einer Post-Shoah-Gesellschaft zu begreifen. Aufgefallen ist mir auch die hohe Expertise und langjährigen Erfahrungen außerschulischer Bildungsakteur:innen in diesem Bereich, deren Konzepte ich für die schulische Bildungsarbeit, die hier ja nachholend Maßnahmen ergreift, nutzbar machen und auf die Bedürfnisse von Schule anpassen konnte. Für mich ist all dies auch mit einer fortwährenden, kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen antisemitischen Sozialisation verbunden – einem wohl nie abgeschlossenen Lernprozess. 3 In welchen Kontexten bzw. im Rahmen welcher Konzepte sollten Ihrer Ansicht nach Antisemitismen an Schulen, Hochschulen und in der Öffentlichkeit betrachtet werden, um sich damit angemessen auseinandersetzen zu können? Die Betrachtung und Bearbeitung von Antisemitismus in Schulen allein auf der Einstellungsebene, wie es das Konzept der sogenannten Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (nach Heitmeyer) nahelegt, greift aus meiner Sicht für die Schule insofern zu kurz, als dass der pädagogisch wichtige Konstruktionsprozess („wo und wie beginnt GMF?“, „wo beginnt Antisemitismus“?) so nicht nachvollzogen werden kann und vor allem die Auswirkungen von antisemitischen Handlungen auf Betroffene und deren Erfahrungen Gefahr laufen, in den Hintergrund zu rücken. Empirische Befunde aus Deutschland zu Antisemitismus allgemein (Zick 2017) und in der Schule (Bernstein 2020, Chernivsky/Lorenz 2021) zeigen, dass Antisemitismus (in unterschiedlichen Lebensbereichen) für Jüdinnen und Juden eine belastende Alltagserfahrung darstellt, die eine lange Geschichte und Kontinuität aufweist, weit über einzelne „Vorfälle“ hinausgeht und sich im (hierarchisch strukturierten) Raum Schule aber verdichtet und dort eine große Alltagsbelastung darstellt. Will man Antisemitismus an der Schule nachhaltig entgegenwirken, gilt es, sich mit Antisemitismuserfahrungen im Kontext Schule auseinanderzusetzen, diese ernst zu nehmen und anzuerkennen, dass Antisemitismus nicht nur von Schüler:innen, sondern potenziell auch von Lehrkräften und anderen professionell an Schulen tätigen Personen ausgehen kann. Es gilt auch anzuerkennen, dass Antisemitismus nicht unbedingt an eine böse Absicht gekoppelt sein muss, um zu verletzen, und dass es die Wirkung einer Handlung auf Betroffene ist, die hier entscheidend sein sollte. Dies be- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 135 deutet auch, zu reflektieren, dass auch in Lernmaterialien (manchmal mit bester Absicht) Antisemitismus reproduziert werden kann, dann etwa, wenn Geschichte nur aus einer Täterperspektive erzählt wird und jüdische Perspektiven unsichtbar bleiben. Bildung gegen Antisemitismus muss jüdische Perspektiven und Erfahrungen im Unterricht sichtbar machen und im Schulalltag zum Ausgangspunkt der Entwicklung aller Maßnahmen gegen Antisemitismus machen. 4 Was ist Ihrer Ansicht nach in Bezug auf Antisemitismus für die Schule besonders bedeutsam? Schulen sind wichtige Institutionen im Kampf gegen Antisemitismus, weil ihre Bildungsangebote durch die allgemeine Schulpflicht letztendlich alle zukünftigen Bürger:innen erreichen und es Möglichkeiten der spiralcurricularen Vertiefung zu verschiedenen Zeitpunkten gibt. Normative Vorgaben zur Demokratieund Menschenrechtsbildung (zum Beispiel Länderverfassungen, Schulgesetze, Bildungspläne etc.) schaffen einen verpflichtenden Charakter, sodass Maßnahmen gegen Antisemitismus keine Kür bzw. keine freiwillige Zusatzaufgabe besonders engagierter Schulen sind. Umgekehrt müssen wir aber auch sehen, dass Schulen keine antisemitismusfreien Räume sind und dass jüdische Schüler:innen in ihnen auch schmerzhafte Antisemitismuserfahrungen machen. Wie kaum eine andere Institution spiegeln Schulen gesamtgesellschaftliche Problemlagen und machen sie wie durch ein Brennglas sichtbar. Die Reflexion eben dieses Spannungsfelds muss allen Maßnahmen gegen Antisemitismus zugrunde gelegt werden: Schulen sind einerseits kraft ihres Bildungs- und Erziehungsauftrags zu Menschenrechtsbildung und somit zur Arbeit gegen Antisemitismus verpflichtet, andererseits sind sie trotz bester Absichten nicht immer davor gefeit, Antisemitismus zu reproduzieren, und gebieten ihm nicht immer entschiedenen Einhalt. Zentral für alle schulischen Maßnahmen gegen Antisemitismus ist es deswegen, Antisemitismus als Diskriminierungs- und Gewaltform an Schulen zu begreifen, die sich konkret auf jüdische Schüler:innen im Alltag auswirkt und die auch an der eigenen Schule wirksam werden kann. Antisemitismus muss in der eigenen Institution wahr- und ernst genommen werden. Es ist nicht zielführend, nur über den Antisemitismus „der Anderen“ zum Beispiel an sogenannten „Brennpunktschulen“ zu reden. Wenn Antisemitismus wirklich ernsthaft bekämpft werden soll, dann muss ihm an der eigenen Schule begegnet werden und das heißt auch, dass wirklich alle am Schulleben Beteiligten (auch die Lehrkräfte) ihr eigenes professionelles Handeln daraufhin kritisch reflektieren. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 136 Die immense Bedeutung der häufig benannten Vorbildfunktion von Lehrkräften (und anderen am Schulleben beteiligten Erwachsenen) ganz unabhängig vom Fach kann in diesem Zusammenhang nicht oft genug hervorgehoben werden. Als Repräsentant:innen des Staates ermöglichen sie Jugendlichen wichtige erste Erfahrungen mit Staatlichkeit. Wenn Antisemitismus und anderen Diskriminierungsformen entschieden entgegengetreten wird, erleben die Jugendlichen einen Staat, der die Grundrechte aller anerkennt und sie auch schützt. Dies setzt eine grundrechteklare Haltung und Konfliktfähigkeit aufseiten der Lehrkräfte voraus, die ganz unabhängig von der Schulart und vom Unterrichtsfach in ihrer Interventionsfähigkeit gestärkt werden müssen. Lernende, die solche starken Lehrkräfte als Vorbilder erleben dürfen, lernen, dass Grundrechte etwas zählen und dass es sich lohnt, sich für sie einzusetzen. Anti-antisemitische Haltungen und die Bereitschaft zum Eintreten für Menschenrechte werden durch solche Lehrkräfte verstärkt. 5 Welche Präventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich zur Vorbeugung von Antisemitismus? Im Kontext Antisemitismus in der Schule ist der Präventionsbegriff nicht unumstritten, da er suggeriert, dass etwas Unerwünschtes verhindert werden kann. Da Antisemitismus aber ein gesamtgesellschaftliches Phänomen ist und auch vor Schultüren nicht haltmacht, ist es meiner Ansicht nach wichtig, das Handlungsfeld der Prävention um das der gezielten Intervention und Nachsorge zu ergänzen und im gegenseitigen Zusammenspiel zu betrachten. Dabei zielt Intervention und Nachsorge auf das Handeln bei antisemitischen Vorkommnissen, während das Handlungsfeld der Prävention ein breites Spektrum möglicher schulischer Maßnahmen unabhängig von konkreten Vorkommnissen betrifft, zum Beispiel begegnungspädagogische Projekte, Schulpartnerschaften mit Israel, Gedenkstättenfahrten, Zeitzeug:innenbegegnungen, Projekttage, die Thematisierung der Geschichte und der Gegenwart des Staates Israel (ganz unabhängig vom sog. Nahostkonflikt) wie auch des Judentums in seiner Vielfalt und ganz unabhängig von einer Geschichte der Verfolgung und nicht zuletzt auch die Behandlung diversen jüdischen Lebens in der Gegenwart in Deutschland, das sich durch den Zuzug von postsowjetischen und israelischen Migrant:innen stark verändert und diversifiziert hat. Wichtig dabei ist mir, an dieser Stelle hervorzuheben, dass die Prävention von Antisemitismus durchgängige Kernaufgabe von Schule und Unterricht sein muss und nicht auf außerschulische Akteur:innen ausgelagert werden sollte. Im Folgenden soll auf die hinsichtlich der Prävention von Antisemitismus be- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 137 deutsame Thematisierung von Antisemitismus im Fachunterricht eingegangen werden. Sehr verkürzt gesagt: Lehrkräfte sollten bei der Planung von Unterrichtseinheiten zu Antisemitismus vorab reflektieren, inwiefern die gemachten Lernangebote nicht nur Wissen über Antisemitismus vermitteln, sondern Bildungsangebote gegen Antisemitismus darstellen, die anti-antisemitische Haltungen stärken, die Reflexion der eigenen (antisemitischen) Sozialisation anregen und Handlungsstrategien gegen Antisemitismus vermitteln, die gemeinsam im Lernraum erprobt, reflektiert, diskutiert, aber v. a. auch im Schulalltag von den Lehrkräften selbst vorgelebt werden müssen. Einige fachdidaktische Konsequenzen eines Unterrichts gegen Antisemitismus sollen an dieser Stelle sehr kurz angerissen werden: • Jüdische Schüler:innen müssen als Zielgruppe aller möglichen Bildungsangebote im heterogenen Lernraum mitgedacht werden. Das bedeutet, mögliche Verletzungen von jüdischen Schüler:innen durch Reproduktion von Antisemitismus bei der Unterrichtsplanung zu reflektieren und bewusst stärkende Lernangebote zu machen. • Die Beschäftigung mit Antisemitismus im Unterricht sollte auf Basis einer soliden Antisemitismusdefinition erfolgen. Unabhängig von der gewählten Definition sollte Antisemitismus mit den Lernenden als Konstrukt und Fantasie thematisiert werden, die unabhängig von der Präsenz von Jüdinnen und Juden wirksam wird. • Die Funktion von Antisemitismus als Krisenerklärung muss mit den Lernenden analysiert werden. Antisemitische Deutungen entlasten von der eigenen Verantwortung und erklären scheinbar Kolonialismus, Kriege, Corona, Ungerechtigkeiten des Kapitalismus etc. Die Thematisierung der Funktion von Antisemitismus als Welterklärung kann Ambiguitätstoleranz anbahnen und gegen andere demokratiefeindliche Deutungsangebote stärken. • Statt Antisemitismus als abstraktes Phänomen zu behandeln, sollte den Lernenden ermöglicht werden, sich mit Antisemitismus in Verbindung zu setzen und die persönliche Relevanz für das eigene Leben zu erörtern. Über den Zugang „Was hat das mit mir zu tun?“ können Fragen nach eigenen stereotypen Bildern und dem eigenen Handeln ausgelotet werden. • Antisemitismus ist ein affektgeladenes Weltbild. Die Dekonstruktion von antisemitischen Bildern darf sich nicht in einer rein kognitiven Auseinandersetzung erschöpfen, sondern muss auch emotional erfolgen. Die Beschäftigung muss aktuellen Antisemitismus miteinschließen und die Kontinuitäten antisemitischer Stereotype und Topoi thematisieren. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 138 • • • 6 Die Beschäftigung mit Antisemitismus als Diskriminierungs- und Gewaltform muss die Stufen antisemitischer Denk- und Handlungsweisen herausarbeiten. Antisemitismus beginnt bei scheinbar harmlosen (manchmal philosemitischen) Zuschreibungen und kann zu Diskriminierung und Gewalt gegen Menschen und jüdische Einrichtungen führen. Eine pädagogisch zielführende Frage ist deswegen: „Wo beginnt Antisemitismus?“ Die Thematisierung von antisemitischen Diskriminierungs- und Gewaltpraxen darf nicht nur der Täter:innenperspektive verhaftet bleiben. Erfahrungen und Perspektiven von Jüdinnen und Juden müssen sichtbar werden. Diese dürfen nicht nur als passive Opfer, sondern müssen als individuell handelnde Subjekte erscheinen. Geschichten jüdischen Überlebens, von Resilienz und Widerstand sind in diesem Zusammenhang wichtig. Die Beschäftigung mit Antisemitismus sollte im Kontext einer umfassenden Menschenrechtsbildung erfolgen, die auch andere Formen der Diskriminierung und Menschenrechtsverletzung historisch und aktuell thematisiert. Bei der Thematisierung sollten Parallelen und Unterschiede wie die Spezifika von Antisemitismus herausgearbeitet werden. Welche Interventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich bei Vorfällen von Antisemitismus? Vorab erst einmal: Antisemitische (Sprach-)Handlungen sollten nie unkommentiert stehen gelassen werden. Lehrkräfte sollten Antisemitismus, egal wie er in Erscheinung tritt oder von wem er ausgeht, klar benennen, diesen zurückweisen und Distanzierungen ermöglichen. Dabei gilt, dass immer davon ausgegangen werden muss, dass jüdische Schüler:innen im Raum anwesend sind und sie es sind, die in erster Linie geschützt werden müssen. Opferschutz muss Priorität haben und Schutz sollte dabei nicht paternalistisch über den Kopf der Betroffenen hinweg, sondern auf Grundlage von deren Wünschen und Bedürfnissen erfolgen. Aus der Perspektive von nichtjüdischen Lehrkräften gilt es, sich zu vergegenwärtigen, dass Antisemitismus im Raum Schule häufig nicht oder viel zu spät wahrgenommen und oft nur (zeit)verzögert dagegen vorgegangen wird. Betroffene fühlen sich dann alleingelassen und erleben, dass ihre Rechte nicht geschützt werden. Die in ersten Pilotstudien aus Deutschland herausgearbeitete Perspektivendivergenz zwischen nichtjüdischen Lehrkräften und jüdischen Schüler:innen/Erziehungsberechtigten/Lehrkräften oder Sozialarbeiter:innen kann im Schulalltag auch dazu führen, dass die Antisemitismuserfahrungen der jüdischen Schüler:innen relativiert oder bagatellisiert werden. Spricht ein:e © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 139 Schüler:in bei der Lehrkraft dann Antisemitismus an, sollte die Erfahrung ernst genommen und die Situation sofort gestoppt werden. Sekundäre Viktimisierungserfahrungen, bei denen die Wahrnehmung der Betroffenen infrage gestellt wird und ihnen die Verantwortung für das Erlebte selbst zugeschrieben wird (Victim Blaming/Täter-Opfer-Umkehr), sollten unbedingt vermieden werden. Bei der Entwicklung eines Interventionskonzepts für die ganze Schule ist zu beachten, dass pädagogische Maßnahmen, schulrechtliche Maßnahmen und ggf. strafrechtliche Maßnahmen sinnvoll verzahnt werden müssen. Schulen haben in erster Linie einen Bildungs- und Erziehungsauftrag und sind keine Sicherheitsbehörden. Pädagogische Maßnahmen haben unbedingten Vorrang, dennoch muss das Handeln der Schule auch justiziabel sein. Schulen haben ein breites Spektrum an möglichen Maßnahmen im pädagogischen Bereich, die sie abhängig vom individuellen Vorfall anwenden können – es darf nicht gleich der Verfassungsschutz angerufen werden! Auch sollte das Vorgehen bei möglichen Fällen transparent einsehbar und so abgestimmt sein, dass es klare Zuständigkeiten, aber eine gemeinsame Verantwortung gibt. Die enorm wichtige Rolle der Schulleitung kann hier nicht genug hervorgehoben werden: Die Entwicklung und Umsetzung eines Interventionskonzepts ist v. a. auch Führungs- und Lenkungsaufgabe, die nicht auf einzelne (möglicherweise intrinsisch motivierte) Personen abgewälzt werden darf. Es obliegt der Schulleitung, Antisemitismus besprechbar zu machen, eine Kultur des Hinschauens und der Intervention zu fördern und ggf. Vorfälle ohne Furcht um den „Ruf der Schule“ konsequent zu ahnden, ggf. zu melden. 7 Wo erkennen Sie in Ihrem Fachbereich Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten, um künftigen Lehrpersonen in der Lehrer:innen-Aus- und Weiterbildung eine Auseinandersetzung mit Antisemitismen zu ermöglichen? Um ein schulisches Interventionskonzept zu entwickeln, braucht es ein Fortbildungsmanagement aufseiten der Schule und eine Offenheit bezüglich der Kooperation mit außerschulischen Expert:innen/Akteur:innen. Ziel von Fortbildungsmaßnahmen ist die Anbahnung von Interventionskompetenz aller Lehrkräfte unabhängig von Fach und Schulart. Der Kernansatz von Fortbildungen sollte sein, Lehrkräfte in ihren Kompetenzen zu stärken, antisemitische Äußerungen und Handlungen wahrzunehmen, klar zu benennen und dagegen zu intervenieren. So folgt auch die gemeinsam mit dem Kultusministerium und der Landeszentrale für politische Bildung herausgegebene Basishandreichung zu Antisemitismus an Schulen diesem klassischen Dreischritt aus der Prävention: Wahrnehmen – Be- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 140 nennen – Handeln (LpB/ZSL/KM 2019). Intervention zielt dabei nicht nur auf den pädagogischen Umgang und auf die Sanktionierung von Diskriminierungsverantwortlichen, sondern v. a. auch auf Opferschutz, Nachsorge und ggf. die Einleitung längerfristiger und nachhaltiger Präventionsmaßnahmen. Maßnahmen in der Weiterbildung von Lehrkräften, die bereits im Schuldienst sind, sind zwar wichtig, aber der Beginn der Auseinandersetzung müsste schon viel früher erfolgen. Wenn in den ersten beiden Phasen der Lehrer:innenausbildung (Uni/PH und Vorbereitungsdienst) der Erwerb von professionellen Kompetenzen gegen Antisemitismus keine Rolle gespielt hat, stellt es für Vollzeit im Dienst stehende Lehrkräfte eine erhebliche Belastung dar, diese Kompetenzen nachholend unter den Bedingungen einer großen Arbeitsbelastung und beschränkter zeitlichen Ressourcen zu erwerben. Aus diesem Grund sollte der Erwerb von professionellen antisemitismuskritischen und allgemein auch diskriminierungskritischen Handlungskompetenzen verpflichtend in die Ausbildung aller Lehramtsstudierenden integriert werden und auch für Prüfungen Relevanz haben. Diese Ausbildungsinhalte sollten unabhängig vom studierten Fach für alle Lehrkräfte verpflichtend sein, sodass zum Beispiel auch Chemie- oder Sportlehrkräfte antisemitische Äußerungen erkennen, entsprechend einordnen und professionell dagegen intervenieren können. In der Bildung von Fachlehrkräften (Geschichte, Ethik, Politik, Religionslehre) sollten die entsprechenden Fachdidaktiken diskriminierungs- und antisemitismuskritisch weiterentwickelt werden. Kriterien für die Prüfung von Lernmaterialien können helfen zu gewährleisten, dass im Unterricht kein Diskriminierungswissen unabsichtlich weitergeben wird. 8 Welche Forderungen und Wünsche, auch Hoffnungen oder Befürchtungen haben Sie im Hinblick auf eine Zukunft mit weniger / ohne Antisemitismus? In den letzten Jahren sind durch das Anwachsen des Rechtspopulismus und durch den Einzug der AfD in den Bundestag und in Länderparlamente geschichtsrevisionistische, antisemitische und rassistische Positionen öffentlich sagbarer und sichtbarer geworden. Die Coronapandemie, die als kollektiver Kontrollverlust erlebt wurde/wird, dient als Gelegenheitsstruktur für antisemitische Deutungen; antisemitische Verschwörungserzählungen haben derzeit enormen Zulauf, kursieren im Internet, aber auch analog und zeigen ein erhebliches Maß an Wissenschafts-, Politik- und Journalismusfeindlichkeit, die auch in die Schulklassen und Lehrer:innenkollegien hineinwirkt. 2021, das Jahr, in dem wir in Deutschland 1700 Jahre jüdisches Leben gefei- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 141 ert haben, ist gleichzeitig das Jahr, in dem antisemitischen Straftaten so zahlreich wie noch nie sind und Menschen auf Demonstrationen gegen die Coronamaßnahmen die Opfer der Shoa verhöhnen, indem sie sich selbst als „neue Juden“ inszenieren. All dies bereitet mir große Sorgen und verlangt danach, schulische Bildungsangebote gegen Antisemitismus breit und nachhaltig aufzustellen. Und das muss (bildungs-)politisch gewünscht und umgesetzt werden. Ich wünsche mir, dass von staatlicher Seite Antisemitismusbekämpfung Priorität hat und mit entsprechenden Ressourcen kontinuierlich ausgestattet wird. Der Staat muss mit gutem Beispiel vorangehen und zivilgesellschaftliche Akteur:innen und Initiativen langfristig und verlässlich fördern. Zentrale Akteure in Justiz, Verwaltung, Polizei müssen antisemitismuskritisch ausgebildet bzw. weitergebildet werden. In Schule und Hochschule sollte antisemitismuskritische Bildung verpflichtend werden. Diese darf aber nicht auf Antisemitismus verengt werden, sondern sollte gleichermaßen jüdische Geschichte und Gegenwart miteinbeziehen. Überhaupt sollten Erwachsene als Zielgruppe antisemitismuskritischer Bildung mehr in den Fokus rücken. Antisemitismus auf ein Problem (migrantischer) Jugendlicher zu reduzieren, wird der gesellschaftlichen Wirklichkeit einfach nicht gerecht. ADORNO, Theodor W. (1966): Erziehung nach Auschwitz. In: Ders.: Erziehung zur Mündig- keit, Vorträge und Gespräche mit Hellmuth Becker 1959 – 1969. Hg. v. Gerd Kadelbach. Frankfurt/M., S. 92-109. BEER, Florian (2021): Was macht ein gutes Schulbuch aus? Prüfsteine für einen antisemitismuskri- tischen Geschichtsunterricht. In: Grimm, Marc/Müller, Stefan (Hg.): Bildung gegen Antisemitismus. Spannungsfelder der Aufklärung. Frankfurt/M., S. 248-262. BERNSTEIN, Julia (2020): Antisemitismus an Schulen in Deutschland: Befunde – Analysen – Handlungsoptionen. Weinheim. BESAND, Anja/Behrens, Rico/Breuer, Stefan (2021): Politische Bildung in reaktionären Zeiten. Plädoyer für eine standhafte Schule. Frankfurt/M. CHERNIVSKY, Marina/Lorenz, Friederike (2020): Antisemitismus im Kontext Schule – Deutungen und Umgangsweisen von Lehrer*innen an Berliner Schulen; Berlin; online unter: https://zwst-kompetenzzentrum.de/wp-content/uploads/2020/11/Forschungsbericht_2020.pdf (Zugriff: 21.3.2022). CHERNIVSKY Marina/Lorenz, Friederike (2020): Antisemitismus im (Schul-)Alltag. Erfahrungen und Umgangsweisen jüdischer Familien und junger Erwachsener. https://zwst-kompetenzzentrum. de/wp-content/uploads/2022/01/KoZe_Familienstudie_web_14-01.pdf (Zugriff: 21.3.2022). © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 142 DEMKE, Elena (2016): Geschichtspolitik und historisch-politische Bildung – ein Spannungsfeld; online unter: http://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/content/12970 (Zugriff: 21.3.2022). DEUTSCH-ISRAELISCHE Schulbuchkommission (2017): Deutsch-israelische Schulbuchempfeh- lungen. Paderborn. FOITZIK, Andreas/Holland-Cunz, Marc/Riecke, Clara (2019): Praxisbuch Diskriminierungskriti- sche Schule. Weinheim/Basel. KILGUS, Hans-Peter/Meier, Marcus/Werner, Sebastian (Hg.) (2020): Bildungsarbeit gegen Antise- mitismus. Grundlagen, Methoden, Übungen. Frankfurt/M. ZICK, Andreas/Küpper, Beate/Heitmeyer, Wilhelm (2012): Vorurteile als Elemente Gruppenbezoge- ner Menschenfeindlichkeit – eine Sichtung der Vorurteilsforschung und ein theoretischer Entwurf. In: Pelinka, Anton (Hg.): Vorurteile: Ursprünge, Formen, Bedeutung. Berlin, S. 287-316. SYBILLE HOFFMANN ist Gymnasiallehrerin (Fächer Russisch, Englisch, Geschichte) und seit vielen Jahren in der politischen Bildung und Lehrer:innenbildung tätig. Am Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung konzipiert und steuert sie schulart- und fächerübergreifende Maßnahmen zum Umgang mit Antisemitismus und Rassismus in der Schule und arbeitet dabei eng mit dem Beauftragten des Landes Baden-Württemberg gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben Dr. Michael Blume zusammen. Sie berät den Beauftragten der Bundesregierung gegen Antisemitismus Dr. Felix Klein ehrenamtlich und engagiert sich in unterschiedlichen Projekten gegen Diskriminierung im Bildungsbereich. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 143 UFFA JENSEN Präventionsarbeit, die sich ihrer eigenen Begrenztheit bewusst ist 1 Gibt es in Ihrem Fachbereich Berührungspunkte mit Antisemitismus? Als stellvertretender Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung ist meine Aufgabe vornehmlich, Antisemitismus zu erforschen, was ich aufgrund meines akademischen Hintergrundes eher historisch anlege. Schwerpunktmäßig habe ich mich dabei mit deutschen und europäischen Formen des Antisemitismus seit dem 19. Jahrhundert beschäftigt. Gleichzeitig entwickeln wir gerade einen Forschungsschwerpunkt, der sich mit antisemitischen Bildern und Objekten beschäftigt. Aber in meiner Funktion habe ich natürlich auch mit gegenwärtigen Formen des Antisemitismus zu tun. Oft werden wir durch Medien oder Bildungsträger angefragt, Vorfälle von Antisemitismus, Holocaust-Leugnung, Rassismus oder Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit als Expert:innen zu kommentieren und einzuordnen. Natürlich beschäftigen wir uns daher eingehend mit den verschiedenen Daten und Erkenntnissen (Einstellungsforschung, Straftaten-Statistiken etc.), die zum gegenwärtigen Antisemitismus vorliegen. Gleichzeitig analysieren wir diesen auch in vielen verschiedenen Projekten, etwa Online-Formen von Antisemitismus in dem Projekt „Decoding Antisemitism“. Hier stehen wir auch immer vor der Herausforderung, die sich wandelnden Erscheinungs- und medialen Präsentationsformen von Antisemitismus quasi in Echtzeit analysieren zu können. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 144 2 Gab es für Sie Anlässe, sich mit Antisemitismen im Bildungsbereich zu beschäftigen? Für mich persönlich waren es verschiedene Anlässe, die mich motiviert haben, mich eingehender mit der Geschichte und Gegenwart von Antisemitismus zu beschäftigen. Als Kind und Jugendlicher habe ich mich bereits früh mit der Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust beschäftigt, auch war das in meiner nichtjüdischen Familie in der norddeutschen Provinz oft Gegenstand von Debatten und Erzählungen, die nicht selten problematisch waren, wie ich aber erst mit der Zeit begriff. Ich habe nicht direkt rebelliert, aber mich herausgefordert gesehen, mich immer intensiver damit zu beschäftigen. Ein wichtiger Aspekt dabei war, dass ich früh nach Israel gereist bin, was aber zugleich eine ganze Reihe von neuen Interessen (jüdische Geschichte, Nahostkonflikt) entstehen ließ. Im Rückblick kann ich erkennen, dass mich damals etwas antrieb, was vielen in meiner Generation wichtig wurde: Das war neben der NS-Geschichte und der Geschichte des Antisemitismus auch gerade jüdische Geschichte. Als ich mit dem Studium begann, war das lange Zeit mein Schwerpunkt, der mich dann auch zum Studium an die Hebräische Universität gebracht hat. Antisemitismus blieb aber stets im Fokus, auch weil ich zunehmend wahrnahm, wie präsent das Thema nach dem (und zunehmend wegen des) Holocaust geblieben war. Heute sehen das viele Menschen und auch die breite Öffentlichkeit und Politik, aber eigentlich war Antisemitismus seit dem Krieg nie verschwunden; nur hat das lange Zeit kaum jemanden interessiert. 3 In welchen Kontexten bzw. im Rahmen welcher Konzepte sollten Ihrer Ansicht nach Antisemitismen an Schulen, Hochschulen und in der Öffentlichkeit betrachtet werden, um sich damit angemessen auseinandersetzen zu können? Das ist eine komplexe Frage, auf die es keine einfache, eindimensionale Antwort gibt. Antisemitismus ist für mich ohne Zweifel eine Form Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Dieser teilt auch viele Gemeinsamkeiten mit Rassismus, was ja inzwischen eher kontrovers diskutiert wird. Zugleich lässt sich mit guten und historisch nachvollziehbaren Gründen auch argumentieren, dass Antisemitismus eine besondere Form darstellt, die allein schon aufgrund des Alters der christlichen Judenfeindschaft eine besondere Stellung einnimmt. Auch der Holocaust war einerseits eingebettet in die genozidale, rassistisch begründete NS-Vernichtungspolitik, hatte andererseits als ausschließlich gegen Jüdinnen und Juden gerichteter Massenmord besondere Züge. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 145 Im Umgang mit Antisemitismus erscheint mir ein historischer Ansatz unerlässlich, obwohl das von vielen Akteur:innen im Feld der Antisemitismusprävention anders gesehen wird, die die Besonderheit der gegenwärtigen Formen des Antisemitismus besonders betonen. Dabei wird immer wieder auf den sogenannten „Neuen Antisemitismus“, der sich vor allem gegen Israel richtet und – so wird immer wieder angenommen – besonders stark unter Muslim:innen und Migrant:innen vorhanden ist. Ich bestreite nicht, dass es diesen gibt und dass dies ein wichtiger Fokus der Antisemitismusprävention sein muss. Zugleich verkürzt jedes Präventionskonzept das Phänomen Antisemitismus, wenn es ausschließlich auf die Gegenwart schaut. Gerade das Alter judenfeindlicher Ressentiments, ihre tiefe kulturelle Verankerung in der europäischen und westlichen Welt, ist ein wesentlicher Aspekt. Auch deswegen sehe ich Präventionsarbeit, die vornehmlich die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust zum Ausgangspunkt wählt, zumindest in Teilen kritisch, weil wir so eine in der Bevölkerung weitverbreitete Assoziation von Antisemitismus und Nationalsozialismus – die oft genug auch als Entschuldigung funktioniert, nach dem Motto: „Ich bin doch kein Nazi!“ – eher bestärken. Gerade auch der Blick auf religiöse Formen von Judenfeindschaft ist völlig aus der Mode gekommen, weil wir uns selbst in der Regel als säkularisierte Gesellschaft auffassen, in der kaum mehr jemand in die Kirche geht und Religion zur Privatsache geworden ist. Zugleich erleben religiös unterfütterte Selbst- und Fremdzuschreibungen eine wichtige Renaissance, die aber selbst so selten beschrieben werden. Gerade die angebliche Frontstellung gegen „den Islam“ hat hier einige verborgene Aspekte wieder sichtbar werden lassen; Stichwort: Pegida (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes). Die nahöstliche Konfliktsituation spielt in vielen Bereichen der Antisemitismusprävention eine wichtige Rolle, nicht zuletzt, weil einige Jugendliche mit palästinensisch-arabischem Hintergrund in den letzten Jahren darauf wieder einiges an identitärem Gewicht gelegt haben (was im Übrigen oft mit ihrer marginalisierten und nicht selten prekären Wirtschafts- und Bildungslage zu tun hat). Ganz grundsätzlich gehe ich jedoch davon aus, dass wir Antisemitismus als Bestandteil, Erbe und Möglichkeit „unserer“ Kultur begegnen sollten. Wenn Bezüge zum Nahen Osten hergestellt werden, sind diese ernst zu nehmen – und am besten zu begegnen, wenn man ein Grundverständnis des Nahostkonflikts bzw. des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern besitzt. Gleichzeitig ist auch das Selbstbestimmungsrecht und die Perspektive von Palästinenser:innen, die etwa in Europa heimisch geworden sind, aber mit der Entwicklung im Nahen Osten unzufrieden sind, nicht einfach als (potenziell) antisemitisch einzu- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 146 ordnen. Es bleibt aber aus meiner Sicht notwendig, den Blick beim Antisemitismus vornehmlich auf die europäischen Gesellschaften und ihre inneren Prozesse zu richten. Es kann nicht darum gehen, den Nahostkonflikt mit lösen zu wollen. Zugleich bietet dieser Komplex der nichtmigrantischen „Mehrheitsgesellschaft“ allzu oft die Möglichkeit, von dem eigenen Antisemitismuspotenzial abzulenken und von einem „immigrierten Antisemitismus“ zu sprechen. Das ist falsch – und im Übrigen gilt auch für die allermeisten „Migrant:innen“, dass sie in den europäischen Gesellschaften aufgewachsen sind und durch die hiesigen Bildungsinstitutionen sozialisiert wurden. Die Veränderungen in den Curricula, die aus meiner Sicht notwendig wären, richten sich weniger auf eine Zunahme an Kenntnisvermittlung in Bezug auf Nahost oder auf historische Bildung, worunter hier ja meist NS-Aufklärung verstanden wird. Ich halte es für sinnvoll, dass die Geschichte von Antisemitismus und Rassismus – und zwar gleichermaßen und zu gleichen Anteilen, aber den jeweiligen Unterschieden gerecht werdend – in den verschiedenen Bildungseinrichtungen stärker berücksichtigt werden. 4 Was ist Ihrer Ansicht nach in Bezug auf Antisemitismus für die Schule besonders bedeutsam? Die Anknüpfungspunkte für den schulischen Unterricht sind bei Antisemitismus und Rassismus groß und vielfältig. Gerade auch extra-curriculares Lernen (in den überall oft schon fest etablierten Projektwochen, im Nachmittagsunterricht bei den zahlreicher werdenden Ganztagsschulen u. Ä.) werden meines Erachtens (und Eindrucks auch als Vater junger Kinder) viel zu wenig genutzt, um entsprechende Aspekte in den Schulalltag zu integrieren. Neben den klassischen Fächern des Geschichts- und Gemeinschaftskundeunterrichts bieten sich auch Fächer wie Ethik/Lebenskunde sowie Philosophie- und Religionsunterricht besonders an. Auch Literatur lässt sich in vielfältiger Weise nutzen: im Deutschunterricht, aber ebenso im Fremdsprachenunterricht. Auch kreative Fächer wie Kunst oder freies Schreiben können hier gut integriert werden. Innovativer und wahrscheinlich sehr vom Lehrpersonal abhängig wäre aber auch eine Integration in den Biologie-Unterricht, da Fragen wie Abstammung und Humandiversität durchaus Fragen sind, die Schüler:innen in einer Welt, in der Genetik – und durchaus auch in der Verbreitung von genetischen Abstammungstests – noch immer eine wichtige Rolle spielt, beschäftigen. Idealerweise würde man die Thematisierung von Antisemitismus und Rassismus in verschiedenen Fächern und miteinander abgestimmt – ob parallel oder aufein- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 147 ander aufbauend – organisieren, aber das ist im Alltag einer Schule nur schwer organisierbar. Ich würde speziellere Ausbildungsformen für Lehrer:innen und – insbesondere – Erzieher:innen im Bereich von Antisemitismus- und Rassismusprävention begrüßen. Die Einbringung von externen Fachkräften sehe ich eher skeptisch, da sie mit den entscheidenden Dynamiken auf der Ebene des Klassenverbandes oft nicht genug vertraut sein können. Das kann zu einem besonderen Moment eine Wirkung haben, muss aber selbst dann durch den regulären Unterricht abgesichert sein. Es ist oft völlig wirkungslos und sogar kontraproduktiv, wenn die mit der Thematik überforderten Lehrkräfte auf einen antisemitischen Vorfall im Klassenverband mit einem Pflichtbesuch in einer KZ-Gedenkstelle reagieren, der nicht in den Unterricht eingebunden ist und von den Schüler:innen als kollektive Bestrafung verstanden werden muss. 5 Welche Präventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich zur Vorbeugung von Antisemitismus? Berufsbedingt kenne ich wohl die meisten, wenn nicht alle Verlautbarungen, Empfehlungen und Schulungsangebote. Anstatt sie aufzuzählen, möchte ich lieber betonen, wie wichtig ein lokaler Ansatz bei der Auswahl sein kann (wenn es zum Beispiel eine externe Bildungseinrichtung, ein historischer Bildungsort etc. sein soll). Bei schwierigen, auch für Schüler:innen herausfordernden und oft unangenehmen Thematiken ist die Arbeit mit Vertrautem, Nahem und Nachvollziehbarem sowieso wichtig. Zugleich bieten sich so auch Möglichkeiten für Schüler:innen und andere, diesen Ort erneut zu besuchen oder im Alltag über diesen später wieder zu stolpern. Aus naheliegenden Gründen haben viele dieser Orte einen NS-Bezug, was natürlich nicht per se ein Problem ist. Alle sollten sich aber stärker bewusst sein, dass Antisemitismusprävention in einer gewissen Spannung zur NS-Aufklärung steht. Gerade für Schüler:innen ist es oft nicht leicht nachvollziehbar, wie sie eine problematische antisemitische Äußerung im Klassenraum in eine KZ-Gedenkstätte gebracht hat, und sie sind nicht selten überfordert, etwaige Verbindungslinien erkennen zu können. 6 Welche Interventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich bei Vorfällen von Antisemitismus? Auch hier kenne ich berufsbedingt einige Maßnahmen. Es gilt auch hier, was ich bei der Frage zuvor geschrieben habe. Zugleich existiert noch immer eine © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 148 große Unsicherheit bei Bildungsträgern und individuellen Lehrkräften in allen möglichen Bildungseinrichtungen, wie man konkret bei Vorfällen reagieren soll. Antisemitische und rassistische Beschimpfungen oder Attacken stellen den pädagogischen Prozess ja ganz grundsätzlich infrage. Plötzlich müssen Grenzen gezogen, Autoritäten müssen eingeschaltet und es muss autoritär gehandelt werden. Dies gefährdet die pädagogische Beziehung mit den Lehrkräften, die zugleich sich selbst nicht immer als sicher und sattelfest in der Auseinandersetzung empfinden. In meiner Erfahrung nutzen Einzelne eine solche Situation gelegentlich, um eine Lehrkraft oder eine Bildungseinrichtung zu einer Reaktion zu provozieren. Hier Grenzen zu einer unhaltbaren Äußerung oder Schlimmerem ziehen zu müssen und gleichzeitig auch dies für einen fortzusetzenden Bildungsprozess – auch der etwaigen Täter:innen – nutzen zu können, ist eine extrem große Herausforderung, bei der wir die Bildungseinrichtungen besser unterstützen müssen. 7 Wo erkennen Sie in Ihrem Fachbereich Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten, um künftigen Lehrpersonen in der Lehrer:innen-Aus- und Weiterbildung eine Auseinandersetzung mit Antisemitismen zu ermöglichen? Für meinem Fachbereich der Antisemitismusforschung sind die Anknüpfungsmöglichkeiten offenkundig. Ich sehe einen konkreten Ansatzpunkt darin, Antisemitismus und Rassismus in Geschichte und Gegenwart stärker in die Lehrpläne zu überführen – und zwar dabei durchaus verbunden mit, aber auch stärker getrennt von NS-Geschichte, als dies heute der Fall ist. Antisemitismus ist nicht identisch mit Nationalsozialismus. Man kann auch sicher darüber nachdenken, Handreichungen für eine Berücksichtigung von Antisemitismus und Rassismus in verschiedenen Fächern, etwa jene, die ich oben angeführt habe, zu erstellen, die die vorhandenen Kompetenzen der Lehr- und Erzieherkräfte sinnvoll thematisch erweitern. 8 Welche Forderungen und Wünsche, auch Hoffnungen oder Befürchtungen haben Sie im Hinblick auf eine Zukunft mit weniger / ohne Antisemitismus? Natürlich wünsche ich mir eine Zukunft mit weniger oder gar ohne Antisemitismus, nur halte ich das für keine realistische, sondern für eine verführerische Hoffnung, zumindest was eine Welt ohne Antisemitismus betrifft. Etwas, das mehrere tausend Jahre alt ist, verschwindet nicht über Nacht. Ich würde auch davor warnen, Präventionsarbeit gegen Antisemitismus und Rassismus © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 149 mit einem solchen Ziel zu begründen. Was passiert denn, wenn wir das Ende des Antisemitismus nicht erreichen? Greifen wir dann zu immer drastischeren Maßnahmen, um unseren Erfolg doch noch feiern zu können? Noch eine Überlegung: Gesellschaftspolitische Utopien sind immer davon bedroht, ihr Gegenteil zu erreichen. Präventionsarbeit muss stets mitbedenken, dass sie mit ihren besten Intentionen ihr Gegenteil bewirken kann. Gerade bei Antisemitismus sollte man sich da keinen allzu großen Illusionen hingeben: Antisemit:innen können stets auf die gegen sie gerichtete Präventionsarbeit mit dem Satz reagieren, der so oder ähnlich lauten kann: „Seht mal, wie mächtig die Juden sind, dass wir hier alle ein KZ besuchen müssen.“ Aus meiner Sicht ist nur eine Präventionsarbeit, die sich ihrer eigenen Begrenztheit bewusst ist, ein wirksames Mittel gegen Antisemitismus. BERGMANN, Werner (2002): Geschichte des Antisemitismus. München. JENSEN, Uffa (2017): Zornpolitik. Berlin. NIRENBERG, David (2015): Anti-Judaismus: Eine andere Geschichte des westlichen Denkens. München. STEINKE, Ronen (2020): Terror gegen Juden. Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt. Eine Anklage. Berlin. UFFA JENSEN , Prof. Dr., ist seit 2017 Inhaber einer Heisenberg-Professur der DFG und stellvertretender Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung. Er hat in Kiel und Berlin sowie an der Hebräischen Universität Jerusalem und der Columbia University in New York Geschichte und Philosophie studiert, sowie an der Universität Göttingen, der Sussex of University in Großbritannien sowie am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin geforscht und unterrichtet. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Geschichte des Antisemitismus, der deutschen und europäischen Juden, der historischen Bildforschung, der Geschichte der Psychoanalyse sowie der Emotionsgeschichte. Zu seinen wichtigsten Publikationen zählen: „Wie die Couch nach Kalkutta kam: Eine Globalgeschichte der frühen Psychoanalyse“ (Berlin 2019), „Zornpolitik“ (Berlin 2017), „Recht und Politik, Perspektiven deutsch-jüdischer Geschichte“ (Paderborn 2014), „Gebildete Doppelgänger. Bürgerliche Juden und Protestanten im 19. Jahrhundert“ (Göttingen 2005). © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 150 HOLGER KNOTHE Lehrkräfte agieren nicht im außergesellschaftlichen Raum 1 Gibt es in Ihrem Fachbereich Berührungspunkte mit Antisemitismus? Nicht in dem Sinne, dass mir manifeste antisemitische Übergriffe bekannt wären. Ich beobachte jedoch sowohl bei Studierenden als auch bei Fachkolleg:innen relativ häufig Unsicherheiten und Unklarheiten, was denn unter Antisemitismus eigentlich zu begreifen sei, ob Antisemitismus nicht letztlich auch eine weitere Variante des Rassismus sei, was man über Israel noch sagen dürfe etc. Auf den ersten Blick scheint mir dabei vor allem der israelbezogene Antisemitismus eine große Leerstelle zu sein. Das ist m. E. aber nur Ausdruck eines tieferliegenden Problems, nämlich des Unbehagens und der Abwehr, sich mit Antisemitismus überhaupt ernsthaft auseinanderzusetzen. Konkret zeigt sich das u. a. daran, dass Antisemitismus im Studium der Sozialen Arbeit wie vor allen Dingen auch in der Schulsozialarbeit nicht als Gegenstand etabliert ist. Das bedeutet letzten Endes, dass Studierende der Sozialen Arbeit während ihres Studiums nicht mit dem Thema Antisemitismus in Berührung kommen und dann, sollten sie zum Beispiel in der Schulsozialarbeit tätig werden, nicht über die entsprechenden Kenntnisse und Fertigkeiten verfügen, um mit antisemitischen Vorfällen professionell umzugehen. Hier besteht zweifellos Handlungsbedarf. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 151 2 Gab es für Sie Anlässe, sich mit Antisemitismen im Bildungsbereich zu beschäftigen? Neben den in der Antwort zur ersten Frage genannten Anlässen, die aus meiner Sicht bereits hinreichenden Grund zur Beschäftigung mit Antisemitismus nicht nur im Bildungsbereich geben, ist es vor allen Dingen die Einsicht, dass Bildung im weitesten Sinne eine Möglichkeit zur Bekämpfung antisemitischer Einstellungen sein kann. Diese Einsicht geht allerdings mit einer Beschränkung im Hinblick auf die gewünschten Bildungseffekte einher, denn Bildung und Antisemitismus stehen in einem sehr ambivalenten Verhältnis. So führt Bildung keineswegs automatisch zu einer Verringerung antisemitischer Einstellungen, im Gegenteil kann Bildung zum Beispiel auch darin resultieren, dass antisemitische Vorurteile subtiler, eben: gebildeter formuliert werden können. Letzten Endes hängt ein möglicher Bildungseffekt also immer vom Kontext der jeweiligen Thematisierung ab. Eine naive und idealistische Vorstellung von bloßer Faktenvermittlung oder der Erzeugung von Emotionen, die dann gleichsam wie von selbst zum Abbau antisemitischer Einstellungen führt, wird überdies dem Charakter des antisemitischen Ressentiments nicht gerecht. Antisemitismus als irrationale Weltdeutung entzieht sich allzu häufig wissensbasierten Vermittlungsansätzen. Die Pointe besteht darin, dass Antisemitismus relativ faktenresistent und durch den Ausfall an Reflexion gekennzeichnet ist. Er funktioniert also nicht trotz, sondern wegen seines irrationalen Charakters. Diese folgenreiche Einsicht sollte die Grundlage der Bemühungen, Antisemitismus mit Bildung zu bekämpfen, sein. Zudem gibt es viele Befunde, die darauf hindeuten, dass selbst engagierte und motivierte Lehrkräfte Ambivalenzen und Unsicherheiten hinsichtlich der Kontextualisierung gegenwärtiger antisemitischer Ausdrucksformen, der Prävention, aber auch der Intervention derselben zeigen. Das ist einerseits erklärbar, denn Lehrkräfte agieren nicht im außergesellschaftlichen Raum. Und in dieser Gesellschaft sind sekundär antisemitische oder antisemitisch-antizionistische Einstellungen leider relativ verbreitet. Auf der anderen Seite verdeutlicht dies die Größe des Problems und die Notwendigkeit eines angemessenen Umgangs damit. 3 In welchen Kontexten bzw. im Rahmen welcher Konzepte sollten Ihrer Ansicht nach Antisemitismen an Schulen, Hochschulen und in der Öffentlichkeit betrachtet werden, um sich damit angemessen auseinandersetzen zu können? Die Frage nach angemessenen Konzepten der Auseinandersetzung mit Antisemitismus im Bildungsbereich sollte eigentlich ein viel diskutiertes Thema © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 152 sein. Doch wenn wir von der grundsätzlichen Gesellschaftlichkeit der Schulen ausgehen und gleichzeitig durch die empirische Sozialforschung Kenntnis über eine nicht zu unterschätzende gesellschaftliche Virulenz antisemitischer Einstellungen erlangen, was zum Beispiel den gegenwärtigen israelbezogenen Antisemitismus betrifft, dann kann es einen nur wundern, dass Schulen nicht schon längst als wesentlicher Schauplatz der Thematisierung, Aufklärung und Bekämpfung des Antisemitismus in den Fokus des fachlichen wie des öffentlichen Interesses gerückt sind. Das beinhaltet auch eine Diskussion über die möglichen Limitationen schulischer Vermittlung dazu. Darüber hinaus sind m. E. zwei Aspekte dieser Diskussion von besonderer Bedeutung: erstens die Frage des Verhältnisses von Antisemitismus zu anderen Formen der Diskriminierung und Ausgrenzung wie zum Beispiel Rassismus oder Antiziganismus sowie daraus resultierend die Frage nach den möglichen pädagogischen Fallstricken im Umgang mit den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen diesen Formen der Diskriminierung. Aus der empirischen Sozialforschung wissen wir, dass die Neigung zur antisemitischen Einstellung häufig mit der Neigung zu weiteren abwertenden und ausschließenden Einstellungen gegenüber als Minderheiten wahrgenommenen Gruppen wie zum Beispiel Migrant:innen oder Obdachlosen einhergeht. Wir haben es also nicht nur mit einer Einstellung, sondern mit einem Syndrom an unterschiedlichen Einstellungen zu tun. Insofern hat die Rede von der „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ als integrierendem Konzept hier ihre Berechtigung. Essenziell ist es aber hierbei, die Spezifika der jeweiligen Einstellungen nicht außer Acht zu lassen. Für den pädagogischen Umgang mit Antisemitismus bedeutet das, zum Beispiel dessen extreme Wandelbarkeit und Flexibilität sowie vor allen Dingen den Aspekt der Macht stärker in den Fokus zu rücken. So ist Antisemitismus nach seiner Ideologie und Praxis gekennzeichnet durch die Vorstellung eines allumfassenden jüdischen Einflusses auf unterschiedliche und zeitlich wie politisch heterogene Phänomene wie die Ermordung Christi und die Durchsetzung des Kapitalismus und des Kommunismus. Es gibt in dieser Vorstellungswelt theoretisch wie praktisch keine gesellschaftliche Erscheinung, die sich nicht in irgendeiner Art und Weise auf jüdischen Einfluss zurückführen ließe. Dies führt gleichzeitig dazu, dass sich Antisemit:innen als Opfer begreifen und ihre Projektionen als gerechten Kampf interpretieren und erleben können. Antisemitismus ist in dieser Hinsicht mehr als nur eine Facette eines Modells zur empirischen Deskription von Vorurteilen, sondern ein Ressentiment, eine Weltdeutung, die einander widersprechende Projektionen des Jüdischen umstandslos in sich vereinen kann. Diese Erkenntnis gilt es m. E. sehr viel stärker bei den jeweiligen Praktiker:innen zu verankern. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 153 Zweitens und daran anschließend und erweiternd unter Rückgriff auf die ältere kritische Theorie erscheint mir die Bezeichnung und sozialpsychologische Rahmung des gerade genannten Syndroms an Einstellungen als Autoritarismus immer noch empirisch haltbar und tragfähig: Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Antisemitismus einerseits und Autoritarismus andererseits. Diese Einsicht ist auch folgenreich für die pädagogische Praxis insofern, als hier auch Limitationen pädagogischen Handelns sichtbar werden, denn Schüler:innen oder auch Studierende mit antisemitischen Einstellungen können aufgrund gefestigter autoritärer Muster nur sehr begrenzt durch pädagogische und didaktische Interventionen erreicht werden. Oftmals wären hier womöglich rechtliche Sanktionen im Sinne des Jugendschutzes oder des Strafrechts sinnvoller. In dieser nicht immer übersichtlichen Gemengelage differenzieren zu können, dürfte eine zentrale Herausforderung für Lehrkräfte sein. 4 Was ist Ihrer Ansicht nach in Bezug auf Antisemitismus für die Schule besonders bedeutsam? Dazu gibt es gut informierte und ausgearbeitete Vorschläge und Interventionen der entsprechenden Fachkolleg:innen. Anstelle einer weiteren Aufzählung möchte ich vielmehr auf eine grundsätzliche Prekarität des Praxisfeldes Schule hinweisen. Aus einer soziologischen Perspektive erscheint Schule als Feld einer spezifischen sozialen Praxis, in der das Handeln der Akteure nach bestimmtem Regeln, Gesetzen und Normen organisiert ist. Diese Praxis erzeugt Handlungszwänge und -erfordernisse, die von Schüler:innen mehr oder weniger erfolgreich internalisiert werden und deren Praxis wesentlich strukturieren, wie zum Beispiel bei Messung individuellen Lernfortschritts durch das Instrument der Benotung. Diese Erkenntnis ist wichtig, wenn wir normativ von dem Ziel ausgehen, dass Schüler:innen in die Lage versetzt werden sollen, antisemitische Äußerungen erkennen und zurückweisen zu können. Das sonst für die Feststellung individuellen Lernfortschritts verwendete Instrument der Notengebung ist hier womöglich nur bedingt hilfreich; vielmehr kann es angesichts des Gegenstandes zu rhetorischen Artefakten im Sinne pädagogischer und sozialer Erwünschtheit kommen. Angesichts dessen steht selbst eine gelingende schulische Thematisierung von Antisemitismus, ja, generell die Beschäftigung mit gesellschaftlichen Vorurteilen, immer auch im Spannungsverhältnis zu den Rahmenbedingungen der auf Wissensvermittlung qua Konkurrenz und Vergabe von Teilhabemöglichkeiten ausgerichteten Institution Schule. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 154 5 Welche Präventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich zur Vorbeugung von Antisemitismus? Hier gibt es aus meiner Sicht eine gute und eine nicht ganz so gute Nachricht, zuerst die gute: In den letzten beiden Jahrzehnten haben sich die Rezeption und die Sensibilität für das Problem meiner Wahrnehmung nach spürbar erhöht. Dies findet seinen Niederschlag auf der Ebene der politischen Entscheidungsträger:innen wie zum Beispiel in der gemeinsamen Empfehlung des Zentralrats und der KMK in diesem Jahr. Aber auch auf der institutionellen Ebene, zum Beispiel bei der mittlerweile doch recht weitverbreiteten und gut rezipierten IHRA-Definition. Zusammen mit dem neu erschienenen Handbuch zur praktischen Anwendung derselben (Europäische Kommission & IHRA 2021) werden nützliche Richtlinien und Praxisbeispiele zur Orientierung zur Verfügung gestellt. Damit geht eine, so zumindest mein Eindruck, im Vergleich zu früheren Jahren quantitative Steigerung an Bildungsformaten zum Thema Antisemitismus einher, zumindest aufseiten der zivilgesellschaftlichen Akteure wie zum Beispiel der Amadeo-Antonio-Stiftung oder des Kompetenzzentrums für Prävention und Empowerment der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland ZWST. Neben dem quantitativen Zuwachs gibt es erfreulicherweise ein qualitativ gut ausdifferenziertes Angebot an Workshops zu Themen wie zum Beispiel israelbezogenem Antisemitismus, Antisemitismus im Netz oder Verschwörungstheorien. Die nicht ganz so gute Nachricht bei den Angeboten zivilgesellschaftlicher Akteure dürfte darin bestehen, dass hauptsächlich diejenigen erreicht werden, die für die Thematik bereits hinreichend sensibilisiert sind. Es kommt also darauf an, das vorhandene Engagement und Wissen zu denjenigen zu bringen, die dafür nicht sensibilisiert oder die gar anfällig für antisemitische Regungen sind. Dafür wiederum sollten die institutionellen Rahmenbedingungen zum Beispiel im Lehrplan oder der Lehrer:innenausbildung geschaffen werden. Neben dem Problem der Adressierung ist aber auch die Frage zu stellen, ob Schulen und ihre Akteur:innen mit einer kurzfristigen Antisemitismusprävention wie zum Beispiel Projekttagen nicht zwangsläufig aus strukturellen wie inhaltlichen Gründen zum Scheitern verurteilt sind. Hier käme es darauf an, strukturelle Maßnahmen zur Antisemitismusprävention auch langfristig zu verankern. Inwiefern hierfür der ernsthafte politische Wille vorhanden ist und welche möglichen Fallstricke sich bei der Implementierung zeigen können, vermag ich nicht zu beurteilen, bin jedoch nach der gemeinsamen Erklärung des Zentralrats und der KMK gedämpft optimistisch. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 155 6 Welche Interventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich bei Vorfällen von Antisemitismus? Studien zu den Erfahrungen Betroffener antisemitischer Vorfälle im schulischen Kontext legen den Eindruck nahe, dass antisemitische Vorfälle von deren Umfeld häufig nicht als solche wahrgenommen werden. Mit der Folge, dass antisemitische Vorfälle zum Teil von den Betroffenen selbst trivialisiert oder erst retrospektiv thematisiert werden. Zudem berichten Betroffene von negativen Auswirkungen auf ihr psychisches oder soziales Wohlbefinden. Wir können also zusammenfassend davon ausgehen, dass schulische Kontexte in dieser Hinsicht oftmals noch nicht hinreichend sensibilisiert sind. Um diesem Zustand entgegenzuwirken und ein Klima des Ernstnehmens antisemitischer Vorfälle zu erzeugen, wäre neben der besseren Ausbildung der Lehrkräfte (s. o.) auch ein institutionalisiertes und gut kommuniziertes Meldesystem oder ein CaseManagement für antisemitische Vorfälle mit klar formulierten Richtlinien und Prozessen ein Schritt in die richtige Richtung. Eine erste Orientierung könnten dabei die Richtlinien der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) geben. 7 Wo erkennen Sie in Ihrem Fachbereich Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten, um künftigen Lehrpersonen in der Lehrer:innen-Aus- und Weiterbildung eine Auseinandersetzung mit Antisemitismen zu ermöglichen? Antisemitismus wird in der Sozialen Arbeit so gut wie gar nicht thematisiert, auch wenn in letzter Zeit Versuche unternommen wurden, diese Lücke wenigstens zu beschreiben (Perko 2020). Darüber hinaus gehe ich in Anlehnung an Rajal (2020) davon aus, dass eine systematische Berücksichtigung und Bearbeitung möglicher Fallstricke antisemitismuskritischer Bildungsarbeit sowohl bei der Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften als auch im Studium der Sozialen Arbeit grundsätzlich hilfreich ist. Diese Fallstricke zeigen sich zum Beispiel in der Engführung von Antisemitismus auf den Nationalsozialismus (als ob es davor und danach keinen Antisemitismus gegeben hätte) oder in der Überbetonung des Nahostkonflikts (im Vergleich zu vielen anderen Konflikten). Ganz generell sind auch die gesellschaftlichen Erwartungen an Holocaust Education zu hoch. Dies zeigt sich unter anderem an den Vorstellungen der einzelnen Lehrkräfte über einen gelungenen Unterricht zu diesen Themenfeldern (Knothe/Broll 2019). Des Weiteren ist es wichtig, eine grundlegende Einsicht der Sozialwissenschaften in der Ausbildung zu berücksichtigen, nämlich, dass Antisemitismus in © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 156 den Projektionen der Antisemit:innen wurzelt und nicht in der Unkenntnis des Judentums begründet ist. Insofern kann auch die bestgemeinte Aufklärung über die Objekte des Ressentiments nichts zur Verringerung des Antisemitismus beitragen. Zu guter Letzt wäre auch auf die gesellschaftliche Tendenz zur zeitlichen (Historisierung) und räumlichen (Dislokation) Externalisierung des Antisemitismus hinzuweisen, die letzten Endes funktional für die Abwehr der Erkenntnis über die eigenen Verstrickungen in antisemitische Deutungsmuster ist. Es käme also für Lehrkräfte wie auch Sozialarbeiter:innen darauf an, sich diese eigenen Verstrickungen bewusst zu machen und zu reflektieren. 8 Welche Forderungen und Wünsche, auch Hoffnungen oder Befürchtungen haben Sie im Hinblick auf eine Zukunft mit weniger / ohne Antisemitismus? So wünschenswert eine Zukunft ohne Antisemitismus auch wäre, so unwahrscheinlich erscheint mir dies in Anbetracht des gegenwärtigen Erkenntnisstandes. Dafür reicht erstens jenseits jeder empirischen Evidenz bereits anekdotisch ein Blick auf das erste Halbjahr 2021, zum Beispiel auf die sekundär-antisemitischen Manifestationen bei den Anti-Corona-Protesten oder den israelbezogenen Antisemitismus während der Demonstrationen zum Nahostkonflikt. Beide Ereignisse illustrieren die Hartnäckigkeit und Wandlungsfähigkeit des antisemitischen Weltbildes. Zweitens ist Antisemitismus nicht nur ein akademisches Problem, vielmehr müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass jüdisches Leben in diesem Land oftmals nur unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen möglich ist. Drittens zeichnen sich Teile des gesellschaftlichen Selbstgesprächs durch Tendenzen aus, die gegenwärtig attraktivste antisemitische Manifestation, den israelbezogenen Antisemitismus systematisch verharmlosen zu wollen. Sowohl die „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“ als auch die Bemühungen, die IHRADefinition zu desavouieren, bezeugen in dieser Hinsicht ein starkes Bedürfnis nach Abwehr. Tatsächlich wäre zum Beispiel bei den massiven Bemühungen um die Ersetzung der IHRA-Definition die Frage zu stellen: Was ist denn mit der Jerusalem-Definition gewonnen? Eignet sie sich besser, um Antisemitismus zu erkennen? Stellt sie genauere Instrumente zur Verfügung? Ich habe keinesfalls den Eindruck. Jenseits dieser aktuellen Befunde und Diskussionen wird man einerseits nicht um die Einsicht der älteren Kritischen Theorie herumkommen, dass die gegenwärtige Gesellschaftsordnung notwendigerweise auch Antisemitismus hervorbringt. Andererseits suspendiert diese Erkenntnis nicht die Notwendigkeit, Antisemitismus zu bekämpfen. Vielmehr sollte die systematische Berücksichtigung gesellschaftlicher Machtverhältnisse und deren Auswirkun- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 157 gen auf die einzelnen Subjekte grundlegend für die Analyse antisemitischer Weltbilder sein, innerhalb wie auch außerhalb des Bildungsbereiches. ADORNO, Theodor W. (1996): Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit? In: Ders.: Kultur- kritik und Gesellschaft II. Gesammelte Schriften Bd. 10. 2, Frankfurt/M., S. 555-572. CHERNIVSKY, Marina /Lorenz, Friederike (2020): Antisemitismus im Kontext Schule – Deu- tungen und Umgangsweisen von Lehrer*innen an Berliner Schulen. Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment. Berlin. https://zwst-kompetenzzentrum.de/wp-content/uploads/2021/02/Forschungsbericht_Lehrerstudie_2020.pdf (Zugriff: 27.7.21). EUROPÄISCHE Kommission & IHRA (2021): Handbuch zur praktischen Anwendung der IHRA- Arbeitsdefinition von Antisemitismus. https://report-antisemitism.de/documents/IHRA-Definition_Handbuch.pdf (Zugriff: 27.7.21). KILLGUSS, Hans-Peter/Meier, Marcus/Werner, Sebastian (Hg.) (2020): Bildungsarbeit gegen An- tisemitismus. Grundlagen, Methoden & Übungen. Frankfurt/M. KNOTHE, Holger/Broll, Mirko (2019): „…und es war wirklich stecknadelruhig.“ Zwischen Fak- tenwissen und Betroffenheit. Was meinen Lehrkräfte, wenn sie von gelingendem Unterricht zu NS und Holocaust sprechen? In: Ballis, Anja/Gloe, Markus (Hg.): Holocaust Education revisited: Wahrnehmung, Vermittlung und Rezeption (Holocaust Education – Historisches Lernen – Menschenrechtsbildung). Wiesbaden, S. 123-140. KURTH, Alexandra/ Salzborn, Samuel (2019): Antisemitismus in der Schule. Grundannahmen für die schulische Präventionsarbeit. https://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/297570/antisemitismus-in-der-schule (Zugriff: 27.7.21). PERKO, Gudrun (Hg.) (2020): Antisemitismus in der Schule. Handlungsmöglichkeiten der Schul- sozialarbeit. Weinheim. POSTONE, M. (1995): Nationalsozialismus und Antisemitismus. Ein theoretischer Versuch. In: Werz, Michael (Hg.): Antisemitismus und Gesellschaft. Zur Diskussion um Auschwitz, Kulturindustrie und Gewalt. Frankfurt/M., S. 29-43. RAJAL, Elke (2020): Möglichkeiten und Grenzen antisemitismuskritischer Pädagogik. Anregungen für die Bildungsarbeit. In: Grimm, Marc/Müller, Stefan (Hg.): Bildung gegen Antisemitismus. Spannungsfelder der Aufklärung. Frankfurt/M., S. 182-197. RENSMANN, Lars (2020): „Die Jerusalemer Erklärung“. Eine Kritik aus Sicht der Antisemitismus- forschung. https://www.belltower.news/die-jerusalemer-erklaerung-eine-kritik-aus-sicht-derantisemitismusforschung-116093/ (Zugriff: 27.7.21). HOLGER KNOTHE , Prof. Dr., ist Professor für Soziale Arbeit und Sozialwissenschaften an der IU Internationalen Hochschule Nürnberg. Arbeitsschwerpunkte u. a.: Antisemitismus, Holocaust Education, Qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 158 HANNAH LANDSMANN Jüdische Museen als Orte der Annäherung 1 Gibt es in Ihrem Fachbereich Berührungspunkte mit Antisemitismus? Bei der Arbeit in einem jüdischen Museum hat man zwangsläufig auch mit Antisemitismus zu tun, da dieses Phänomen nun einmal die gesamte jüdische Geschichte und Gegenwart begleitet. Eine Auseinandersetzung mit jüdischer Kulturgeschichte muss auch dieses negative Moment einbeziehen, indem durch ausgewählte Objekte oder gar spezielle Sonderausstellungen Judenfeindschaft in den Blick genommen werden kann. In der museumspädagogischen Betreuung von Schulklassen oder Besucher:innengruppen kann es spezifische Workshops geben, die sich dem Kampf gegen Antisemitismus verschreiben. Lehrende buchen ein solches Programm, da es das Curriculum so verlangt oder aber, weil in der Klasse respektive in der Schule etwas vorgefallen ist. Solche Vorfälle nehmen wir im Museum erst wahr, wenn Lehrer:innen mit genau diesem Anliegen an uns herantreten. Provokationen oder womöglich bedenkliche Aussagen bzw. Verhaltensweisen, die während der in den Räumlichkeiten der beiden Standorte des Jüdischen Museums Wien abgehaltenen Vermittlungsprogramme auftreten, sind hingegen an einer Hand abzählbar. Junge Leute provozieren, um sich auszuprobieren, um den Klassenkolleg:innen zu gefallen oder auch um den Workshop bzw. die Führung vorzeitig abzubrechen, damit die jungen Leute bei McDonald’s frühstücken gehen können. Die Kulturvermittler:innen im Jüdischen Museum Wien brechen dann die Workshops jedoch nicht ab, sondern provozieren häufig selbst, indem sie eine überraschende Gegenfrage stellen, sodass das Gespräch in Gang bleibt oder sich überhaupt erst ein solches entwickelt. Auch erwachsene Gäste provozieren manchmal, wie etwa zwei mitteljunge Herren bei einer © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 159 „Langen Nacht der Museen“: Sie mutmaßten während der „Mitternachtsführung“, dass „die Juden“ immer überall „mitmischen“ würden, sogar beim Bau einer Kirche. Der historische Hintergrund: Markus und Meir Hirschl zahlten 1727 eine enorm hohe Summe Aufenthaltssteuer in Wien, welche auch dazu verwendet wurde, die Karlskirche und die Hofbibliothek in Wien fertig zu bauen. Sie beteiligten sich also nicht bewusst oder gar mit Vorsatz an der Fertigstellung eines katholischen Gotteshauses. Die beiden Herren wiederholten ihren Kommentar, ich meine Ausführung, um sie dann zu fragen, warum sie sich, trotz ihres fühlbaren Missmutes um drei Minuten vor Ende der langen Museumsnacht, also kurz vor ein Uhr früh, immer noch ausgerechnet im Jüdischen Museum befänden? Meine Frage blieb unbeantwortet. Die vielfältigen Vermittlungsprogramme, welche jüdische Museen anbieten, sind im Übrigen hervorragend geeignet, den Kampf gegen Antisemitismus aufzunehmen, weil sie Möglichkeiten der Annäherung an etwas schaffen, was man nicht kennt. Das gilt für Jugendliche, die sich etwa über jüdische Feiertage und Speisegesetze informieren, ebenso wie für Erwachsene, die Führungen buchen oder an Veranstaltungen teilnehmen. Neben der Beschäftigung mit Antisemitismus gehört auch die Auseinandersetzung mit der Shoah zu den einem jüdischen Museum innewohnenden Bildungszielen, auch wenn sich dieses selbst nicht als „Holocaust Memorial Museum“ bezeichnen würde wie das Jüdische Museum der Stadt Wien. Dass es in Bezug auf die Shoah keine Wahl hat, steht im Katalog zur Dauerausstellung „Unsere Stadt! Jüdische Wien bis heute“. Das gilt wohl für alle Museen, jedenfalls aber für jüdische und besonders für jene, welche nach 1945 in deutschsprachigen Ländern gegründet oder wieder begründet wurden. Im Kampf gegen Antisemitismus spielt die sogenannte Holocaust Education eine nicht unbedeutende Rolle, da sie oft als Vehikel angesehen wird, dem steigenden Antisemitismus beizukommen. Das kathartische Moment der Holocaust Education scheint nicht ganz zu greifen, der Antisemitismus steigt, obwohl seit Dezennien schon Holocaust Education angeboten wird. Eine Gymnasiallehrerin meinte nach zwei Stunden Workshop rund um eine Kindertransport-Geschichte, in der auch die Ermordung der Eltern des geretteten Kindes angesprochen wurde, dass ihr das „zu wenig Holocaust-Bezug“ habe. Unsere Argumente, dass wir weitere derartige Workshops im Repertoire hätten, das Zeitbudget dafür aber wohl nicht ausreichen würde, schmetterte sie mit der Feststellung ab, sie sei ja ohnehin vor drei Wochen im „Konzentrationslager Mauthausen“ gewesen. Wir entgegneten, dass wir das nicht glauben würden, worauf sie ausführlich das komplizierte Prozedere mit der Organisation des Busunternehmens erläuterte. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 160 Dass wir es dennoch nicht glaubten, weil sie nämlich nicht in einem Konzentrationslager gewesen sei, sondern eine Gedenkstätte besucht hätte, quittierte sie mit den Worten: „Ist ja egal!“ Der Besuch einer Gedenkstätte ist jedenfalls entgegen der Behauptung des damals für die Gedenkstätte Mauthausen zuständigen österreichischen Innenministers Ernst Strasser keine Schutzimpfung. Insgesamt macht es für mich den Eindruck, als würden Lehrende befinden, über Antisemitismus und Holocaust könne am besten in einem jüdischen Museum gesprochen werden. Aber warum eigentlich? Vielleicht weil jene Lehrpersonen, die solche Workshops buchen, denken, in jüdischen Museen würden Jüdinnen und Juden die Fragen beantworten – und die müssten es am besten wissen. Warum eigentlich? Und warum sollen Jüdinnen und Juden Antisemitismus erklären, bekämpfen, verhindern? 2 Gab es für Sie Anlässe, sich mit Antisemitismen im Bildungsbereich zu beschäftigen? Beim Lesen der Frage denke ich über den Begriff „Antisemitismen“ nach, der mir seltsam vorkommt, wiewohl er natürlich sprachlich ganz korrekt ist. „Antisemitismen“ klingt einen Hauch weniger drastisch, oder? Gemeint ist vermutlich, dass es verschiedene Formen und Stärken antisemitischer Ausdrucks- oder Handlungsweisen gibt? Weniger schlimme und richtig problematische? Im Museum erleben wir, wenn überhaupt, die ganz wenig drastischen, das betrifft auch Führungen im Stadttempel, eines der religiösen Zentren der heutigen Jüdischen Gemeinde in Wien. Die Frage, ob in einem jüdischen Museum oder in einer Synagoge über Antisemitismus gesprochen werden kann oder gesprochen werden muss, wurde schon angedeutet. Ja. Und es geht wohl auch gar nicht anders. Wenn Hakenkreuze geschmiert werden oder Jugendliche (in diesem speziellen Fall türkische Jugendliche) vor der Gelsenkirchener Synagoge herumgrölen, muss man sich Sorgen machen. Zu den türkischen Jugendlichen fällt mir eine Vitrine im Jüdischen Museum Wien ein, die mit Objekten aus dem „türkischen“ Tempel aufwartet. Türkische Jugendliche sind erstaunt, den Begriff „türkisch“ überhaupt im jüdischen Museum zu finden. Wir erzählen dann von den sephardischen Jüdinnen und Juden und wie die „osmanischen“ Untertanen bereits im 18. Jahrhundert in Wien eine Gemeinde bilden und eine Synagoge errichten durften, während ihre aschkenasischen Glaubensgenoss:innen noch bis 1852 warten mussten. Auf diese Weise wird etwas im jüdischen Museum Erzähltes Teil ihrer eigenen Geschichte und Gegenwart. Und es beantwortet die Frage: „Was hat das mit mir zu tun?“ Reden hilft. Fragen auch. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 161 3 In welchen Kontexten bzw. im Rahmen welcher Konzepte sollten Ihrer Ansicht nach Antisemitismen an Schulen, Hochschulen und in der Öffentlichkeit betrachtet werden, um sich damit angemessen auseinandersetzen zu können? Antisemitismus, Rassismus und alle Formen von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sind eher ein Problem der Mehrheit mit der Minderheit, nicht umgekehrt. Es kann also nicht schaden, die Blickrichtung zu ändern oder wenigstens zu schärfen. Aus meiner Erfahrung als Kulturvermittlerin weiß ich, dass der Aufenthalt von Besucher:innen im Museum eher kurz ist, dass man in einem 90 Minuten dauernden Workshop nur bedingt eine Darstellung des Antisemitismus im Längsschnitt leisten wird können und vor allem Gefahr läuft, dass diese Darstellung ihr Ziel verfehlt, jenes Ziel, das man im Rahmen eines Museumsworkshops erreichen kann: aufmerksam machen und Reaktionen provozieren. Bevor wir also die Entwicklung vom Antijudaismus zum Antisemitismus ausführlich darlegen, müsste die Dummheit antisemitischer Stereotype und ihre Haltlosigkeit herausgestrichen werden. Für eine eingehende Behandlung des Nahostkonflikts etwa ist die Zeit im Museum ebenfalls zu kurz, zumal es keine Objekte in den Vitrinen gibt, welche aktuelle Konflikte zwischen den einen und den anderen im Nahen Osten veranschaulichen könnten. Nach meinem Verständnis sollten in Museen die Objekte der Ausgangspunkt von Erzählungen sein und man sollte tunlichst in der Nähe der Objekte bleiben und eine Nähe oder zumindest Annäherung herzustellen versuchen! Diese Nähe gelingt ganz vortrefflich unter Zuhilfenahme der Fiktion, wenn man etwa an eine geflüchtete Person einen Brief schreibt. Wenn die Schreiber:innen selbst geflüchtet sind, muss das nicht sofort „nutzen“, „schaden“ tut es jedenfalls nicht. Der Unmöglichkeit, sich etwas vorzustellen, kann vielleicht mit Fantasie begegnet werden. Ein Zeitzeuge meinte zu Jugendlichen im Museum, dass sie sich nichts antun sollten, man könne sich Auschwitz nicht vorstellen. Er selbst sei dort gewesen. Und er kann es sich nicht vorstellen. Es schiene mir wichtig, in der Lehrer:innenbildung ein großes Repertoire an Methoden kennenzulernen und einzuüben, wie eine derartige Auseinandersetzung sinnvoll und womöglich auch noch wirksam vor sich gehen kann. Schon länger frage ich mich, ob in der Primarstufe bereits Holocaust Education und eine Auseinandersetzung mit Antisemitismus Platz haben sollte? Ja, darüber ist man sich auch in den einschlägigen Symposien einig, man könne nicht früh genug beginnen. Von sich aus gehen allerdings die jungen Rezipient:innen nicht in Museen, doch viele lesen Bücher. Gegen gute Lektüre in jungen Jahren ist gar nichts einzuwenden, ein Museumsbesuch hingegen wird wohl schon deshalb nicht in Betracht gezogen, weil es nur © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 162 ganz wenige geeignete Programme gibt, die im Alter zwischen sechs und zehn Jahren sinnvoll sind. Von einem Gedenkstättenbesuch im Kindesalter würde ich jedenfalls Abstand nehmen, einen Museumsbesuch dagegen sehr empfehlen. Eines der besten Programme für das junge Alter ist jenes rund um Lilly Bials Schachtel, welche von den Eltern vor deren Deportation 1942 gepackt wurde, die aber Wien nie verlassen hat. Erst im Jahr 2004 wurde Lilly Bial vom Jüdischen Museum Wien ausfindig gemacht. Sie wollte zwar nicht nach Wien kommen, aber diese Schachtel, ihr Kinderleben, im Museum ausgestellt und verwendet wissen. Mit den jungen Besucher:innen packen wir die Schachtel aus. Nachdem wir viele Fotos von Lilly – in Wien noch Lilli – ihren Eltern, gemeinsamen Ausflügen, Puppenstubenmöbel, Postkarten, Sammelkarten, Schmuck und anderen Krimskrams gemeinsam betrachtet und beschrieben haben, um Lilli und Lilly so besser kennenzulernen, wird auf einem Blatt Papier eine eigene Schachtel gepackt (d. h. gezeichnet). In diese legen wir Dinge, die wir einer geliebten oder sehr befreundeten Person übergeben würden, wenn diese zum Beispiel aus beruflichen Gründen, zum Studium, wegen einer Scheidung oder sonst einem Grund die eigene Stadt oder gar das Land verlassen müsste. Wir stellen uns nicht die Reise auf einem Kindertransport vor. Man soll sich nicht vorstellen, was man sich nicht vorstellen kann. Bei einem dieser Workshops packte ein Mädchen Dinge für die verstorbene Großmutter ein. Sie erzählte das der Gruppe so selbstverständlich, dass niemand sich wundern oder fragen musste, ob oder warum man Verstorbenen solche Schachteln packen kann. Der Lehrplan der Primarstufe sieht das Vermitteln von der die Kinder umgebenden Zeit und umgebenden Orten vor, sodass selbstverständlich die Geschichte der eigenen Stadt und des eigenen Wohnbezirks Thema werden kann oder eigentlich muss. Jüdische Geschichte sollte Teil der Auseinandersetzung sein, denn in Wien ist jüdische Geschichte Teil der Stadtgeschichte. Lillis Wohnbezirk war Meidling, die Schüler:innen werden diesen Bezirk kennen oder vielleicht sogar selbst dort wohnen. Auch die Auseinandersetzung mit anderen – Kindern, Nachbar:innen, Verwandten, Freund:innen, Klassenkamerad:innen – ist im Lehrplan der Volksschule verankert. Wenn anstelle des Antisemitismus Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit betrachtet und bearbeitet wird, ist ein erster und guter Schritt getan, da Antisemitismus eine Ausdrucksform dieses Problems ist, bei dem es auch um die Spannungen zwischen Mehrheit und Minderheit geht und es dabei scheint, als hätte die Mehrheit ein Problem mit einer Minderheit, vor der man sich – in Zahlen gedacht – so gar nicht fürchten muss. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 163 4 Was ist Ihrer Ansicht nach in Bezug auf Antisemitismus für die Schule besonders bedeutsam? Solange Holocaust und Antisemitismus oder womöglich vielleicht in Zukunft allgemeiner als Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit benannte Phänomene nur im Geschichtsunterricht und nur in einer bestimmten Altersgruppe Thema sind, greift die Auseinandersetzung zu kurz. In nahezu allen Fächern, vor allem aber Deutsch, Fremdsprachen, Politische Bildung, Kunsterziehung, Philosophie und Psychologie sowie Religion und Ethik kann, ja, muss über die nicht ganz einfachen Beziehungen zwischen den einen und den anderen, dem Eigenen und dem Fremden, der Mehrheit und der Minderheit nachgedacht werden. Um den womöglich engen Museumsblick wieder etwas zu weiten, sollten in Schulen Möglichkeiten und Angebote geschaffen werden, wohin sich Lehrende und Schüler:innen vielleicht für eine Weiterbildung wenden können, oder die kontaktiert werden könnten, wenn es wirklich problematisch ist. Wann ist etwas problematisch? Muss man gleich eine entsprechende Stelle, zum Beispiel ZARA (Zivilcourage und Antirassismus-Arbeit www.zara.or.at) kontaktieren, wenn Schüler:innen sagen, sie dächten, alle Juden seien reich? Ich würde das nicht tun, sondern fragen, wieso sie das denn annehmen? Das sei so. Ob sie Jüdinnen und Juden kennen? Nein. Warum nicht? Und hier gilt es einzuhaken: Wäre es in den 1930er-Jahren anders gekommen, müssten Jugendliche heute nicht in ein jüdisches Museum gehen und sich dort über Geschichte, Kultur und Traditionen bilden lassen, denn jede und jeder hätte Freund:innen, Nachbar:innen oder Kolleg:innen, bei denen man zu Chanukka eingeladen ist, mit denen man Fußball spielt oder zuschaut oder Eis essen geht. Womöglich würde es keine jüdischen Museen brauchen, denn man würde das für ein gedeihliches Miteinander Erforderliche kennen und verstehen – ohne unsere museumspädagogischen Hilfestellungen. Kulturvermittler:innen und Lehrer:innen sollten versuchen, das gerissene Loch spürbar zu machen. Dazu müsste man auch den Lehrplan zumindest adaptieren, womöglich neu schreiben. Außerschulisches Lernen hielte ich für eine sehr wesentliche Ergänzung. Die Involvierung von Fachleuten in die Schule gerät hingegen oft zu einer Alibihandlung, auch die Einladung von Zeitzeug:innen kann so eingesetzt werden. Meine wenigen Erfahrungen mit Zeitzeug:innen im Jüdischen Museum Wien waren immer sehr ernüchternd, denn nach den Ausführungen der betagten Gäste hätten die Schüler:innen Fragen stellen sollen. Doch niemand konnte eine Frage stellen, denn was hätte man auch fragen sollen? Dieses Schweigen blieb liegen, als sei es bleischwer. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 164 5 Welche Präventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich zur Vorbeugung von Antisemitismus? Empfehlungen sind womöglich nur bedingt nützlich, da man im Fall des Falles im Moment reagieren muss. Eine wie immer geartete verbindliche Regelung müsste so klar formuliert sein, dass daraus hervorgeht, wer einzubeziehen und zu kontaktieren ist. Was passiert, wenn jemand im jüdischen Museum oder in der Synagoge sagt, der Staat Israel solle von der Landkarte gelöscht werden? Muss die Kultusgemeinde informiert werden oder die Museumsleitung? Muss man gleich anschließend einen Workshop anbieten, Expert:innen einladen oder die Polizei rufen? Mir sind bislang keine Workshops bekannt, welche diese sehr erwünschte Sensibilisierung zur Folge hätten. Sensibilisierung meint hier vor allem, dass Schüler:innen lernen, sich bei dem zuzuhören, was sie sagen. Eine Schutzimpfung gibt es nicht. Wenn wir das medizinische Bild aufrechterhalten, könnte man das Immunsystem zu stärken versuchen. Mit Informationen, mit aktiver Auseinandersetzung, mit Gesprächen. Die Saat, die dadurch hoffentlich aufgeht, müsste auch in der Lehrer:innenbildung gesät werden, und es müsste normaler werden, sich regelmäßig oder immer wieder, weil es immer wieder etwas gibt, das besprochen werden sollte, zu treffen, seien diese Treffen professionell betreut oder auch nicht. Empathie zu empfinden und zu vermitteln, muss man lernen, Supervision kann da beispielsweise sehr hilfreich sein. In meiner Zeit als Lehrerin, die Ausbildungszeit einberechnet, habe ich jedoch nur ein einziges Mal Supervision erlebt, die von der Schulleitung initiiert und umgesetzt wurde. 6 Welche Interventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich bei Vorfällen von Antisemitismus? Die Frage verweist darauf, dass es keine festgelegten Verfahren gibt, die regeln, was im Fall von antisemitischen Vorfällen im Bildungsbereich zu tun ist. In Unkenntnis solcher Abläufe würde ich im Museumskontext, wenn das Gespräch, das Reagieren und Reden als Reaktion auf eine Provokation nicht zielführend ist, die Lehrer:innen und Begleitpersonen mit der Museumsleitung in Kontakt bringen, um auf einer anderen Ebene, außerhalb des Workshop-Settings, die Ursachen und Umstände, die zu dem Vorfall geführt haben, zu besprechen. Ich würde, solange es sich nicht um ein anzeigepflichtiges Delikt handelt, stets das Gespräch suchen beziehungsweise geeignete Gesprächspartner:innen zu finden versuchen – erst einmal die beteiligten Personen, die Lehrer:innen und Fachleute, vielleicht Sozialarbeiter:innen. Eine offiziell angeordnete Interventions- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 165 möglichkeit kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass das Problem mitsamt der Provokation ausgelagert wird, also von den beteiligten Schüler:innen und Lehrer:innen an externe, womöglich kompetente Fachleute, die das dringend erforderliche Gespräch aber nicht führen werden können, aus Zeitgründen nicht, aus Gründen der Struktur solcher Maßnahmen nicht und vor allem wegen ihrer Unkenntnis der beteiligten Akteur:innen. Die Zeit, die es braucht, einander gut kennenzulernen, um komplizierte Gespräche führen zu können, wird in diesem Rahmen bestimmt zu kurz sein. Auf der Suche nach einer Meldestelle für antisemitische Vorfälle in Wien kommt man zur Meldestelle der Israelitischen Kultusgemeinde, wo man ein Formular ausfüllen und den Vorfall beschreiben kann. Bei Gefahr in Verzug kann man anrufen. Doch wann ist Gefahr in Verzug? 7 Wo erkennen Sie in Ihrem Fachbereich Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten, um künftigen Lehrpersonen in der Lehrer:innen-Aus- und Weiterbildung eine Auseinandersetzung mit Antisemitismen zu ermöglichen? Natürlich lassen sich Antisemitismus und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit nicht nur in einem Museum wie dem Jüdischen Museum Wien besprechen, alle Museen sollten jedenfalls als Orte spezifischer Aus- und Weiterbildung für Lehrkräfte aller Schulstufen in Betracht gezogen werden. Objekte in den Vitrinen stehen sehr grundsätzlich als Gesprächspartner:innen und Reflexionsflächen zur Verfügung, das Museum oder eine geeignete Ausstellung sind außerschulische, in gewisser Hinsicht neutrale Orte, die zum Nachdenken einladen und auffordern. Sie sind Orte für Gespräche und damit für Auseinandersetzung und Dialog. Beide Seiten, Lehrer:innen und Museen, können davon profitieren. 8 Welche Forderungen und Wünsche, auch Hoffnungen oder Befürchtungen haben Sie im Hinblick auf eine Zukunft mit weniger / ohne Antisemitismus? Es ist hoch an der Zeit, im Geschichtsunterricht und in der Museumspädagogik den (methodischen) Blickwinkel zu ändern, weil wir mit großen Überblicken im Längsschnitt nicht weiterkommen. Weil die Schüler:innen „das“ entweder bereits wissen oder uns gar nicht zuhören und weil sich in 90 Minuten Museumszeit die Welt weder erklären noch verändern lässt. In dieser kurzen Zeit können wir mit Objekten und Geschichten ein Fenster in den Köpfen der Besucher:innen öffnen. Mehr nicht. Aber auch nicht weniger. Hoffentlich wird es gelingen, über den Tellerrand hinauszuschauen und „das andere“ und „das © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 166 eigene“ und alles dazwischen unter einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Ideen und womöglich Mut geben manchmal auch kleine Bücher, die diesen Blickwechsel zum Thema machen. Rabbinerin Delphine Horvilleur offeriert Leser:innen „Überlegungen zur Frage des Antisemitismus“. Franz Kafkas Zitat „Was habe ich mit Juden gemeinsam? Ich habe kaum etwas mit mir gemeinsam“ ist wie ein Motto noch der Inhaltsangabe vorangestellt. Darauf folgt nach dem Umblättern gleich JeanPaul Sartre: „Wir sind jetzt in der Lage, den Antisemiten zu verstehen. Er ist ein Mensch, der Angst hat. Nicht vor den Juden, gewiss: vor sich selbst, vor seinem Bewusstsein, vor seiner Freiheit, vor seinen Trieben, vor der Veränderung, vor der Gesellschaft und der Welt.“ Dass „die Antisemiten immer die anderen sind“ vereinfacht die Lage nicht. Eine SWR-Dokumentation dieses Titels aus der Reihe „Echtes Leben“ berichtete Ende Oktober 2021 über Strategien und das vielseitige Engagement gegen Antisemitismus und Judenhass in Deutschland. Ob man ein Rendezvous über „Meet a Jew“ bucht und dabei Jüdinnen und Juden zu Gesprächen an die Schulen und in die Öffentlichkeit holt oder ob man durch direkte Begegnungen mit Zeitzeug:innen die Erinnerung an den Holocaust aufrechtzuerhalten und damit auch gegen Antisemitismus anzukämpfen versucht, in Zukunft wird es jedenfalls mehr Fantasie brauchen, um (junge) Menschen mit Themen und Anliegen zu konfrontieren, mit denen sie vermeintlich nichts zu tun haben wollen. Weil sie nämlich gar nicht jüdisch sind. Und auch keine Antisemit:innen. Und keine kennen. Keine Jüdinnen und Juden und schon gar keine Antisemit:innen. Der israelische Fotograf Erez Kaganovitz porträtiert Holocaust-Überlebende aus einem sehr persönlichen, lebensbejahenden Blickwinkel. Seine Bilder sind Beispiele für eine emotionale Erinnerungskultur. Judenhasser:innen und Holocaustleugner:innen, so meint er, sei nicht mit Geschichtsunterricht beizukommen. Eines seiner Fotos zeigt den „Judenstern“ als großen gelben und heiteren Luftballon. Geht das? Das geht, aber nicht überall und nicht immer. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 167 JÜDISCHES Museum der Stadt Wien (2013): Unsere Stadt! Jüdisches Wien bis heute. Ausstel- lungskatalog. Wien. HORVILLEUR, Delphine (2020): Überlegungen zur Frage des Antisemitismus. Berlin. „ANTISEMITEN sind immer die anderen: Nie wieder Judenhass – eine Illusion?“ https://www. swr.de/unternehmen/kommunikation/pressemeldungen/antisemiten-sind-immer-die-anderen-2021-106.html (25.10.2021). HANNAH LANDSMANN leitet seit 2000 die Abteilung Kommunikation und Vermittlung im Jüdischen Museum Wien; Konzeption und Durchführung von Vermittlungsangeboten für erwachsene Besucher:innen und Schüler:innen, Ausstellungskonzeptionen, zahlreiche Vorträge und Publikationen. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 168 THOMAS METZGER Bildung, die sich kritisch mit Antisemitismus in der Gesellschaft auseinandersetzt, muss gewissen Ansprüchen genügen 1 Gibt es in Ihrem Fachbereich Berührungspunkte mit Antisemitismus? Zwar mögen in „westlichen“ Demokratien der Bevölkerungsanteil mit einem manifesten antisemitischen Weltbild in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen und gleichzeitig der gesellschaftliche Konsens gegen Antisemitismus gewachsen sein, doch Antisemitismus ist auch heute mitten in der Gesellschaft präsent. Antisemitismus ist auch Gegenwart und nicht einfach Vergangenheit und dies erst recht global gesehen. Quantifizierungen sind zwar sehr herausfordernd, aber es gibt Hinweise, dass Antisemitismus in den vergangenen Jahren wieder verstärkt die Latenz durchbrochen hat und sichtbar geworden ist. So haben beispielsweise in Deutschland polizeilich erfasste antisemitische Straftaten in den letzten Jahren deutlich zugenommen (Bundesministerium 2019, 5; Bundesministerium 2021, 7-8; Schüler-Springorum 2020, 34), und Studien belegen dessen starke Präsenz im Internet (zum Beispiel Schwarz-Friesel 2020). Vor allem aber nehmen diese Zunahme auch Jüdinnen und Juden wahr. Mögliche Faktoren scheinen mir zum einen etwa der Bedeutungsgewinn gewisser Kommunikationsräume zu sein, in denen Hemmschwellen sinken, seien dies Online-Kommentarspalten oder Social Media. Auch scheint die Wahrnehmung gewisser Ereignisse ebenfalls diese Hemmschwellen zu senken. Dies kann unter anderem am Nahostkonflikt oder aber an in den vergangenen Jahren an Popularität gewonnenen Verschwörungsnarrativen festgemacht werden. Verschwö- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 169 rungsnarrative, die eine lange Tradition in der Geschichte des Antisemitismus aufweisen, zirkulieren zurzeit oft rund um Flucht und Migration, aber auch um Covid-19. Sie reichen durchaus auch in den breiteren politischen Diskurs hinein, sodass die Befürchtung, dass sich die „Grenzen des Sagbaren“ angesichts rechtskonservativer und rechtspopulistischer politischer Erfolge (u. a. in Ungarn) verschieben könnten, nicht unbegründet scheint. Was ist von solchen Entwicklungen im Bildungssektor spürbar? Dabei möchte ich mich auf Beobachtungen in meiner Tätigkeit an einer Pädagogischen Hochschule beschränken. Grundsätzlich bin ich davon überzeugt, dass antisemitische Denkmuster unter den Studierenden, aber auch unter den Dozierenden präsent sind. An einer Hochschule lebt man nicht entkoppelt von der Gesellschaft, was natürlich auch hinsichtlich rassistischer, islamfeindlicher, homophober oder anderer ausgrenzender Vorstellungen der Fall ist. Zwei Beobachtungen möchte ich vertiefen. Erstens: Antisemitische Äußerungen seitens Studierender könnten in einem regelmäßig von mir durchgeführten Modul zur Geschichte des Rassismus, des Antisemitismus, der Islamfeindlichkeit und der Fremdenfeindlichkeit erwartet werden. Hier zeigt sich jedoch, dass die Studierenden, die dieses Wahlmodul bis anhin wählten, entweder bezüglich Judenfeindschaft besonders sensibilisiert waren oder im Sinne sozialer Erwünschtheit ihre allfälligen antisemitischen Vorstellungen für sich behielten. Spannend ist allerdings, dass am ehesten bei der Thematisierung der antisemitischen Dimension des Antizionismus diese Zurückhaltung abgelegt und judenfeindliche Topoi sichtbar wurden. Zweitens sind Verschwörungsnarrative unter den Studierenden durchaus präsent. Im Kontext von Geschichtsmodulen zeigte sich dies primär anhand der Terroranschläge vom 11. September 2001. Antiamerikanische Einstellungen machten sich hier besonders bemerkbar. Und Antiamerikanismus ist bekanntlich ja sehr anschlussfähig für Antisemitismus. 2 Gab es für Sie Anlässe, sich mit Antisemitismen im Bildungsbereich zu beschäftigen? Ich beschäftige mich nicht spezifisch mit Antisemitismus im Bildungsbereich, sondern betrachte als Historiker Antisemitismus aus einer geschichtswissenschaftlichen Perspektive. Seit meinem Studium stellt die Kultur-, Sozial- und Ideengeschichte des Antisemitismus einen Interessenschwerpunkt dar, was letztlich in meiner Promotion zum Antisemitismus im Deutschschweizer Antisemitismus 1870 bis 1950 (Metzger 2017) und weiteren Publikationen mündete. Mein Forschungsschwerpunkt führte mich an die Pädagogische Hochschule © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 170 St. Gallen, die sich mit der 2015 gegründeten und am Fachbereich Geschichte angesiedelten Fachstelle Demokratiebildung und Menschenrechte einen strategischen Schwerpunkt im Bereich Holocaust Education und gesellschaftlicher Inklusions- und Exklusionsprozesse gab. Die Fachstelle hat sich im Rahmen mehrerer Projekte der Holocaust Education, die oft in Kooperation mit Studierenden umgesetzt werden, auch Aspekten des Antisemitismus gewidmet. Die Fachstelle kann somit diesen Unterrichtsgegenstand in die Lehre einbringen. Zudem geben mir die bestehenden Modulgefäße die Freiheit, Lehrveranstaltungen zum Thema anzubieten, was aktuell alle zwei Jahre in Form des bereits erwähnten Wahlmoduls der Fall ist. Die künftigen Lehrpersonen sollen so das Phänomen Antisemitismus in seiner ganzen Komplexität kennenlernen. Dadurch sollen sie Antisemitismus kompetent auf der Zielstufe thematisieren können. Zugleich sollen sie aber auch fähig sein, Judenfeindschaft im gesellschaftlichen und schulischen Kontext zu erkennen. An der Pädagogischen Hochschule St. Gallen gibt es in anderen Fachbereichen weitere Dozierende, die sich ebenfalls den Mechanismen von Inklusion und Exklusion sowie der Identitätskonstruktion zuwenden. Auch hier erwerben Studierende wichtige Kompetenzen, die für die Auseinandersetzung mit Antisemitismus nutzbar gemacht werden können. 3 In welchen Kontexten bzw. im Rahmen welcher Konzepte sollten Ihrer Ansicht nach Antisemitismen an Schulen, Hochschulen und in der Öffentlichkeit betrachtet werden, um sich damit angemessen auseinandersetzen zu können? Gerne möchte ich hier die Ausbildung von Lehrpersonen in den Fokus nehmen. Warum biete ich das Modul „Rassismus, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Fremdenfeindlichkeit. Zur Geschichte gesellschaftlicher Ausgrenzung“ an? Die Studierenden sollen sich vertieft mit diesen vier Phänomenen auseinandersetzen, deren spezifische historische Genese und Ausprägung kennenlernen und somit ein differenziertes Verständnis von diesen erhalten. Dieses soll ihnen auch ermöglichen, begrifflich und konzeptbezogen präzise zu argumentieren. Nur auf dieser Grundlage, so bin ich überzeugt, werden sie als künftige Lehrpersonen in der Lage sein, diese Themenbereiche kompetent zu unterrichten und nicht etwa selbst mittels undifferenzierten, unpräzisen oder gar trivialisierenden Unterrichtes diese Phänomene gar noch zu befördern. Dies bedingt auch, dass sie ihre eigenen, womöglich selbst von judenfeindlichen Stereotypen geprägten Haltungen kritisch reflektieren können sowie denselben Reflexionsprozess bei den Schüler:innen befördern (siehe auch: Mendel 2020, 41). © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 171 Mit Blick auf die hier genannten Ziele möchte ich die Wichtigkeit trennscharfer Begrifflichkeiten besonders herausstreichen. Präzision in Sprache und Argumentation ist essenziell. In Präkonzepten, und dies ist ein erstes Beispiel, vermengen Studierende oft Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, und auch Antisemitismus verschwimmt oft mit Rassismus. Es geht folglich darum, die Phänomene als eigenständig wahrzunehmen und ihre spezifische historische Bedingtheit zu erfassen. Zwei Dinge schließt dies selbstverständlich nicht aus: Erstens gilt es, die Überlappungen und Verschränkungen der Phänomene zu thematisieren. Sehr gut kann daran die historische Entwicklung der Phänomene aufgezeigt werden. Dass rassistische Konzeptionen sehr wohl in den Antisemitismus eingeflossen sind, ist bestens bekannt und ist etwas, das mit Fokus auf den Nationalsozialismus auch auf der Sekundarstufe I und II vermittelt wird. Sogar zwischen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit kann seit Neuestem eine argumentative Verknüpfung beobachtet werden, nämlich in Narrativen, die im Kontext der Flüchtlingsbewegungen Mitte des letzten Jahrzehnts rund um George Soros eine Weltverschwörung konstruieren, die einer angeblich gezielt gesteuerten Migration von Musliminnen und Muslimen das Wort redet (siehe zum Beispiel: Kalmar 2020). Zweitens kann das Vergleichen verschiedener Ausgrenzungsphänomene gewinnbringend sein. Der Vergleich, eine Grundmethode der Geschichtswissenschaft, darf aber nicht mit Gleichsetzung verwechselt werden. Hinsichtlich der historischen Entstehungsgeschichte und Wirkmächtigkeit sowie der Argumentationsmuster stellen Antisemitismus, Rassismus, Islamfeindlichkeit und Fremdenfeindlichkeit keineswegs dasselbe dar. Hier stößt der Vergleich daher schnell an Grenzen. Auf der Ebene argumentationsstruktureller Prinzipien, der Muster von Vorurteilen, aber auch von Funktionen hingegen ist der Vergleich produktiver (Metzger 2018, 348). Die Konstruktion von Identität und Alterität, die Ein- und Ausgrenzung spezifischer Gruppen oder die Rechtfertigungsstrategie der Realkonfliktkonstruktion sowie die Verkehrung von Täter:in und Opfer können hier genannt werden. Als zweites Beispiel sei die Auseinandersetzung mit Antizionismus genannt, die mit Blick auf die Analyse des Antisemitismus nach dem Holocaust von großer Bedeutung ist. Wie erwähnt, treten hier antisemitische Einstellungen der Studierenden vielleicht am einfachsten aus der Latenz heraus, da sie ihre Aussagen als vermeintlich legitime Kritik an Israel verstehen. Für judenfeindlichen Antizionismus ist es unter anderem bezeichnend, dass die Kollektivbegriffe „die Juden“ und „die Israeli“ verschmelzen, dass also „Juden“ und „Israeli“ gleichgesetzt werden. Nicht „die Israeli“, sondern „die Juden“ werden so zur Konfliktpartei im Nahen Osten erklärt. Schnell ist dann die Brücke zu lang etablierten © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 172 antisemitischen Diskursen geschlagen. Bei Studierenden kann anhand der Analyse ihres undifferenzierten Sprachgebrauchs gut eine kritische Selbstreflexion angestoßen werden. 4 Was ist Ihrer Ansicht nach in Bezug auf Antisemitismus für die Schule besonders bedeutsam? Bildung, die sich kritisch mit Antisemitismus in der Gesellschaft auseinandersetzt, muss gewissen Ansprüchen genügen. Selbstverständlich ist es wichtig, Wissen über Erscheinungsformen sowie die Geschichte der Judenfeindschaft zu vermitteln. Doch es sollte das Ziel sein, die Komplexität weiter zu steigern. So sollte auch die Funktion von Antisemitismus in Gesellschaften thematisiert werden. Das Phänomen Antisemitismus wird dadurch noch differenzierter beleuchtet. Je differenzierter und selbstreflektierter die Auseinandersetzung mit Antisemitismus erfolgt, desto erfolgreicher erscheint mir die Antisemitismusprävention durch Bildung. Als Umkehrschluss kristallisieren sich entsprechend mehrere Fallstricke für den Unterricht heraus, der Judenfeindschaft zum Thema machen will. Ein erster ist präsent, wenn Antisemitismus als Gegenstand so unterrichtet wird, dass er zu einem rein historischen Phänomen erklärt wird (Mendel 2020, 41). Wenn Antisemitismus etwa nur hinsichtlich des Nationalsozialismus thematisiert wird, kann das dazu führen, dass er für die Gegenwart als nicht mehr existent angenommen wird. Ein zweiter Fallstrick liegt vor, wenn die Phänomene Rassismus und Antisemitismus nicht trennscharf vermittelt werden (siehe auch: Bernstein/Diddens 2020, 44–46). Das geschieht vor allem dann, wenn Antisemitismus dem Rassismus zugewiesen wird. Die Marginalisierung des Antisemitismus stellt einen dritten Fallstrick dar (Mendel 2020, 41). Antisemitismus darf nicht als Problem einer kleinen, isolierten Gruppe dargestellt, sondern muss in seiner gesamtgesellschaftlichen Wirkmächtigkeit erörtert werden. Es besteht des Weiteren das Risiko, dass der Unterricht über Antisemitismus diesem nicht entgegenwirkt, sondern diesen vielmehr tradiert respektive befördert (zum Beispiel Mendel 2020, 40–41; Bernstein/Diddens 2020, 47). Bestehen bei Lehrpersonen große inhaltliche Unsicherheiten oder zeigen sich bei ihnen selbst antisemitische Stereotypen, so besteht die Gefahr der Verwendung stereotyper Erklärungsmuster im Unterricht, welche „den Juden“ eine (Teil-) Schuld am Antisemitismus zuschreiben. Es wird folglich ein vermeintlich realer Konflikt als Ursache für Antisemitismus angedeutet. Die hier genannten Schwierigkeiten bedingen, dass Lehrpersonen gerade auch fachwissenschaftlich eine sehr gute Kenntnis der Materie aufweisen. Sie müssen in der Lage sein, © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 173 differenziert zu vermitteln und souverän auf Fragen zu reagieren (siehe auch: Brumlik 2008). Weniger ein Fallstrick denn eine große Herausforderung bedeutet die couragierte Reaktion von Lehrpersonen (Bernstein/Diddens 2020, 47; Brumlik 2008) auf antisemitische Aussagen von Schüler:innen. Die Aussagen sollen nicht links liegen gelassen werden, und die Reaktion muss bestimmt sein. Zugleich muss sie, wenn die Äußerungen einem (noch) nicht gefestigten antisemitischen Weltbild entspringen, auch mit einer gewissen Achtsamkeit auf die betroffenen Schüler:innen erfolgen (Bernstein/Diddens 2020, 47). (Fach-) Didaktisch-methodische Kompetenzen sind hier gefordert. Was hinsichtlich einer wirksamen antisemitismuskritischen Ausbildung von Schüler:innen zu sagen ist, kann natürlich auch auf Phänomene wie Rassismus oder Islamfeindlichkeit übertragen werden. Zudem bedeutet es, dass künftige Lehrpersonen in der Ausbildung an pädagogischen Hochschulen auch mit dem entsprechenden Rüstzeug für dieses Vorgehen ausgestattet werden müssen. Zugleich müssen Weiterbildungsangebote für aktive Lehrpersonen verfügbar sein. Eine gangbare Lösung – in der Hoffnung auf Multiplikatoreneffekte – wäre, dass sich einzelne Lehrpersonen einer Schule gezielt weiterbilden und in ihren Institutionen zu Expertinnen und Experten sowie Ansprechpersonen für diese Themen werden. Dass Geschichte eine zentrale Funktion für antisemitismuskritische Bildungsarbeit zukommt, ist wohl unbestritten. Das widerspiegeln auch Lehrpläne. Mitgedacht ist dabei oft die politische Bildung, die etwa in der Schweiz auf der Sekundarstufe I und II mit dem Fach Geschichte verwoben ist. Für das Ziel, Antisemitismus möglichst differenziert zu beleuchten, kommt aber auch anderen Fächern eine große Bedeutung zu. Zu nennen sind insbesondere Religion, Ethik und Philosophie (siehe auch: Kurth/Salzborn 2019). Interdisziplinäre Ansätze wären dabei besonders wünschenswert, indem etwa die Genese des Antisemitismus in dem sich aus dem Judentum herauslösenden Christentum sowohl theologisch wie auch historisch beleuchtet würde. Dies müsste sich auch in Lehrplänen niederschlagen, respektive bestehende Lehrpläne müssten entsprechend ausgelegt werden. Die Lehrpläne in Deutschland, Österreich und der Schweiz für die Volks- und Mittelschulen bieten grundsätzlich Raum für eine Auseinandersetzung mit Antisemitismus. Auch die in den letzten Jahren entstandenen lehrplankonformen Lehrmittel – ich habe hier die Schweiz im Blick – gehen auf das Thema ein. Was eine Herausforderung und in gewissem Sinne auch ein Desiderat ist, ist eine Auseinandersetzung mit der Thematik, die nicht nur an einzelnen historischen Ereignissen anknüpft (zum Beispiel Kreuzzüge, Holocaust), sondern der Judenfeindschaft als historischem Phänomen an sich breiten Raum bietet und einen differenzierten Unterricht ermöglicht. Das © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 174 Spezifische am Antisemitismus sind ja nicht zuletzt seine zweitausendjährige Tradition, seine verschiedenen Ausprägungen, die etwa religiöse, soziokulturelle, nationalistische oder rassistische Argumentationen hervorbrachten, und seine große Wandelbarkeit. 5 Welche Präventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich zur Vorbeugung von Antisemitismus? Die Volks- und Mittelschulen in der Schweiz in den Blick nehmend, ist davon auszugehen, dass bestehende Angebote nicht per se bekannt sind. Es gibt einige wenige Pädagoginnen und Pädagogen, die sich auf Antisemitismus- und Rassismusprävention spezialisiert haben. Auch gibt es Angebote, die den Kontakt zu Jüdinnen und Juden sowie Holocaustüberlebenden herstellen. Seit einem Jahr ist www.stopantisemitismus.ch online. Diese Plattform, die Argumentarien gegen antisemitische Äußerungen zur Verfügung stellt, verweist auch auf diverse Unterstützungs- und Bildungsangebote. Das Projekt ist dem deutschen Vorbild www.stopantisemitismus.de nachempfunden. Deutschland ist im Vergleich zur Schweiz hinsichtlich Präventions- und Hilfsangeboten deutlich breiter aufgestellt. Etwa die Zentralen für politische Bildung leisten hier Wertvolles. Prävention muss auch mit Blick auf die Lehrer:innen- und Dozierendenschaft gedacht werden. Auch in ihren Reihen müssen Bewusstsein und Sensibilität für Diversität, Diskriminierung usw. geschaffen werden. 6 Welche Interventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich bei Vorfällen von Antisemitismus? Diese spannende Frage bedürfte wohl einer vertieften Recherchearbeit. Ich gehe davon aus, dass in der Schweiz von Schule zu Schule unterschiedliche Richtlinien vorhanden sind, sofern sie denn vorhanden sind. Der ausgeprägte Föderalismus bietet hier zudem wohl nicht ideale Strukturen für einheitliche Vorgehensweisen. Wünschenswert wäre, wenn Bildungsinstitutionen – von Volksschulen bis hin zu universitären Einrichtungen – ein klar definiertes Case-Management hätten. Die Schulen müssten somit für sich klare Abläufe definieren, mit denen sie auf antisemitische, aber auch rassistische, islamfeindliche, homophobe usw. Vorfälle reagieren. Allerdings stellt sich die große Herausforderung, dass Vorfälle überhaupt bekannt werden. Entsprechend muss an den Bildungsinstitutionen ein Klima herrschen, das Diskriminierung nicht nur ächtet, sondern Diskriminierung auch offenkundig werden lässt. Schüler:innen oder auch Studierende © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 175 müssen schrankenlos die Möglichkeit haben, Erlebtes zu melden. Dies trifft nicht nur auf Vorfälle in der Schüler:innen- und Studierendenschaft, sondern auch auf Diskriminierungen zu, die von der Lehrer:innen- und Dozierendenschaft oder gar der Institution selbst ausgehen. Das Hierarchiegefälle zwischen Schüler:innen/Studierenden und Lehrer:innen/Dozierenden kann hier aber hemmend wirken. 7 Wo erkennen Sie in Ihrem Fachbereich Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten, um künftigen Lehrpersonen in der Lehrer:innen-Aus- und Weiterbildung eine Auseinandersetzung mit Antisemitismen zu ermöglichen? Mit Blick auf meine bisherigen Ausführungen möchte ich herausstreichen, dass eine qualitativ hochwertige, in die Tiefe gehende, differenzierende und interdisziplinär verankerte Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der Lehrer:innenbildung sowie in Weiterbildungsprogrammen für bereits im Berufsfeld stehende Lehrpersonen die Grundlage für eine antisemitismuskritische Bildungsarbeit darstellt. Hierfür muss erstens an den Lehrer:innenbildungsstätten selbst ein vertieftes Bewusstsein für die Problematik vorhanden sein, damit ihr angemessen Raum gegeben wird. Zweitens sind verschiedene Fachbereiche in der Pflicht, in ihren Curricula Anknüpfungsmöglichkeiten zu bieten. Selbstverständlich sehe ich hier auch besonders die Fächer Geschichte und Politische Bildung in einer Bringschuld. Aber auch andere Fächer können substanzielle Beiträge leisten, so etwa durch einen theologischen, religionswissenschaftlichen oder philosophischen Zugang. Auch Expertinnen und Experten der Medienbildung können unterstützen, verbreiten sich heutzutage doch antisemitische Diskurse gerade auch über digitale Kanäle. Wenn die so in der Ausbildung vermittelten Inhalte dann auf den Zielstufen nicht auch gebührend Relevanz in den Lehrplänen erhalten, können sie drittens natürlich nicht wirkmächtig werden. Lehrpläne sind meistens dick bepackt, gerade auch im Fach Geschichte. Doch eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus sollte auch deshalb einen hohen Stellenwert erhalten, da sie demokratiefördernd wirkt, und dies sollte auch im Sinne der politischen Entscheidungsträger:innen sein. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 176 8 Welche Forderungen und Wünsche, auch Hoffnungen oder Befürchtungen haben Sie im Hinblick auf eine Zukunft mit weniger / ohne Antisemitismus? Der Bildung kommt bei der Prävention und dem Zurückdrängen von Antisemitismus sicherlich eine wichtige Funktion zu. Entsprechend stehen Institutionen der Lehrer:innenbildung in der Pflicht, ihre Studierenden fachlich und methodisch-didaktisch darauf vorzubereiten. Zugleich ist es eine gesamtgesellschaftliche Verpflichtung, sich Antisemitismus entgegenzustellen. Entsprechend stehen andere Akteurinnen und Akteure der Zivilgesellschaft wie auch des Staates ebenfalls in der Pflicht, sich Antisemitismus entgegenzustellen und dadurch Demokratie zu stützen. Hier braucht es konstruktive Zusammenarbeit und nicht zuletzt eine „éducation permanente“. BERNSTEIN, Julia/Diddens, Florian (2020): Umgang mit Antisemitismus in der Schule. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 26–27/2020, S. 42–47. Online: https://www.bpb.de/apuz/311629/ umgang-mit-antisemitismus-in-der-schule (Zugriff: 18.10.21). BRUMLIK, Micha (2008): „Dass Auschwitz sich nie wiederhole …“. Pädagogische Reaktionen auf Antisemitismus. In: Online-Dossier „Rechtsextremismus“ der Bundeszentrale für politische Bildung. Online: https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/41277/dassauschwitz-sich-nie-wiederhole- (Zugriff: 18.10.21). BUNDESMINISTERIUM des Innern, für Bau und Heimat (2019): Politisch Motivierte Kriminalität im Jahr 2018. Bundesweite Fallzahlen. Online: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2019/pmk-2018.pdf ?__blob=publicationFile&v=2 (Zugriff: 18.10.21). BUNDESMINISTERIUM des Innern, für Bau und Heimat (2021): Politisch motivierte Krimina- lität im Jahr 2020. Bundesweite Fallzahlen. Online: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/ downloads/DE/veroeffentlichungen/2021/05/pmk-2020-bundesweite-fallzahlen.pdf ?__ blob=publicationFile&v=4 (Zugriff: 18.10.21). KALMAR, Ivan (2020): Islamophobia and anti-antisemitism: the case of Hungary and the ‚Soros plot‘. In: Patterns of Prejudice, 1–2/2020, S. 182–198. KURTH, Alexandra/Salzborn, Samuel (2019): Antisemitismus in der Schule. Grundannahmen für die schulische Präventionsarbeit. In: Bundeszentrale für politische Bildung. Online: https:// www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/297570/antisemitismus-in-der-schule (Zugriff: 18.10.21). MENDEL, Meron (2020): Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Herausforderungen antise- mitismuskritischer Bildungsarbeit. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 26–27/2020, S. 36-41. Online: https://www.bpb.de/apuz/311627/herausforderungen-antisemitismuskritischer-bildungsarbeit (Zugriff: 18.10.21). © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 177 METZGER, Thomas (2018): Konstruktion von Differenz: Ein Vergleich argumentativer Strategien der Befürworter der Schächtverbotsinitiative (1893) und der Antiminarettinitiative (2009). In: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, 2018, S. 347–363. METZGER, Thomas (2017): Antisemitismus im Deutschschweizer Protestantismus 1870–1950. Berlin. SCHÜLER-SPRINGORUM, Stefanie (2020): Antisemitismus und Antisemitismusforschung: Ein Überblick. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 29–35/2020, S. 36-41. Online: https://www. bpb.de/apuz/311627/herausforderungen-antisemitismuskritischer-bildungsarbeit (Zugriff: 5.9.21). SCHWARZ-FRIESEL, Monika (2020): Judenhass im Internet. Antisemitismus als kulturelle Kons- tante und kollektives Gefühl. Bonn. THOMAS METZGER, Prof. Dr., nach Studium und Promotion an der Universität Freiburg (CH) seit 2014 Dozent für Geschichte sowie Co-Leiter der Fachstelle Demokratiebildung und Menschenrechte an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen. Darüber hinaus ist er Lehrbeauftragter an der FernUni Schweiz. Forschungsschwerpunkte sind insbesondere die Geschichte gesellschaftlicher Inklusion und Exklusion mit einem Schwerpunkt auf der Kultur-, Sozial- und Ideengeschichte des Antisemitismus. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 178 ELISABETH NAURATH Antisemitismusprävention im religiösen Bildungsbereich 1 Gibt es in Ihrem Fach Berührungspunkte mit Antisemitismus? Für die evangelische Theologie und Religionspädagogik spielt der Bezug zum Judentum in all seinen Facetten eine gewichtige Rolle. Damit lässt sich das Thema Antisemitismus nicht ausblenden. Im Gegenteil: Antijudaismus ist ein genuines Problemfeld christlicher Theologie seit den Anfängen christologischer Fundierungen und hat in seinen historischen Wirkungsgeschichten antijudaistische und in Folge auch antisemitische Tendenzen befördert. Es geht also auch um eine selbstkritische Aufarbeitung christlicher Theologiegeschichte, die für den Protestantismus mit dem 500-jährigen Lutherjubiläum dezidiert als Problem aufgegriffen wurde. Als evangelische Religionspädagogin möchte ich die Fragestellung aus zwei Perspektiven beantworten: für meine Forschung wie auch für meine universitäre Lehre im Fach Evangelische Religionspädagogik. Zunächst zur Forschung: Mit meiner Habilitationsschrift „Mit Gefühl gegen Gewalt. Mitgefühl als Schlüssel ethischer Bildung in der Religionspädagogik“ (Naurath 32010) habe ich einen forschungswissenschaftlichen Schwerpunkt im Bereich der Friedenspädagogik gesetzt, um die Förderung von Mitgefühl als Ansatz zur Gewaltprävention zu profilieren. Für die Antisemitismusthematik ist dies in zweierlei Hinsicht relevant: Zum einen wird hier ein Ansatz aus der Emotionspsychologie zur Mitgefühlsforschung als Grundlage ethischer Bildung fokussiert. Auf den Nenner gebracht ließe sich sagen, dass mitfühlende und damit emotionale Kompetenzen zugleich auch als prosoziale Kompetenzen zu sehen sind. Beispiel: Wenn ich mich in eine Person hineinfühlen kann, die © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 179 ausgegrenzt oder diskriminiert wird, werde ich schwerer in die Täterrolle kommen, als wenn ich keine Empathie empfinden kann. Dies ist selbstverständlich mit Blick auf das Thema Antisemitismus als sozialem Vorurteil (Zick/Küpper 2012) äußerst relevant. Insofern zielen meine aktuellen Forschungsprojekte auf Präventionsstrategien zu religiösem Mobbing, religiösen Vorurteilen und Feindbildern. Zur Lehre: Hier hat mir ein einsemestriges Unterrichtsprojekt zum Thema „Judentum begreifen“ an der Universität Osnabrück, das gemeinsam mit der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit vor Ort durchgeführt wurde, in gewisser Weise die Augen geöffnet. Das Projekt sah vor, dass man gemeinsam mit Vertreter:innen jüdischen Glaubens einen Projekttag an einer Schule zum Thema Judentum durchführt – mit dem Ziel, dass die Schüler:innen jüdisches Leben konkret in der Begegnung mit Jüdinnen und Juden kennenlernen konnten. Diese Projektidee war sehr gewinnbringend, um zu sehen, wie heterogen das Judentum in sich ist – vergleichbar mit allen anderen Religionen. Sichtbar wurde dadurch auch, wie wenig die Studierenden, die an dem Projekt beteiligt waren, von jüdischem Leben wussten. Deutlich kamen wir zu der Einsicht, dass man die das Judentum historisch begleitende Problematik des Antisemitismus auch im Kontext von Grundschule nicht ausklammern kann. Denn es wurden auch von Grundschulkindern konkrete Nachfragen zur Geschichte, zu den Nazis, zu Hitler gestellt. Hier zeigten sich durch kindliche Bemerkungen eingebrachte Assoziationsketten zum Holocaust – freilich ohne, dass die Kinder dies klar benennen oder historisch einordnen konnten. Die Brisanz dieser ungeklärten und damit auch Vorurteilen zuspielenden, in der alltagsweltlichen Erfahrung oder durch Medien aufgeschnappten Kenntnisse offenbarte klar die Notwendigkeit, dass man diese Halbwahrheiten so keinesfalls stehen lassen oder übergehen kann. Wir haben dabei auch deutliche Ängste und Widerstände bei den Grundschullehrkräften bemerkt, dieses ‚schwierige‘ Thema überhaupt aufzugreifen. So kamen wir dazu, im Rahmen des Projekts eine Zeitzeugin, nämlich Erna de Vries einzubeziehen, die als 18-Jährige Auschwitz überlebt hatte und sich schließlich im hohen Alter noch dazu entschieden hatte, mit ihrer Lebensgeschichte an Schulen zu gehen und von ihren Erfahrungen zu erzählen. Es ist von unschätzbarer Bedeutung, wenn man heute noch die Möglichkeit hat, Erfahrungsberichte von Augenzeug:innen – eventuell auch medial – einzubeziehen. Das war in unserem Projekt auch ein Schlüssel, die Vorbehalte der Lehrkräfte zu entkräften und ihre Offenheit für Themen der Antisemitismusprävention zu gewinnen. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 180 2 Gab es für Sie Anlässe, sich mit Antisemitismen im Bildungsbereich zu beschäftigen? Wie eben beschrieben gab es zahlreiche Anlässe: Sowohl auf der Theorie-Ebene christlicher Theologie stoßen wir immer wieder auf Fragen der Verhältnisbestimmung zu jüdischen Ursprüngen und in diesem Kontext auch auf eine lange Geschichte von Antisemitismus. Aber auch im Praxisbezug religiöser Bildung kann christliche Religionspädagogik, die sich auch als Friedenspädagogik versteht, nicht an Erfahrungen der Verletzung von Menschenwürde wie Rassismus, Sexismus und selbstverständlich auch Antisemitismus vorbeisehen. Bildung bedeutet meines Erachtens eine Förderung der Fähigkeiten zur Reflexion. Dies beinhaltet auf der einen Seite eine Stärkung der selbstreflexiven Kompetenzen, also auch zu eigenen Denkweisen, Einstellungen, Verhaltensformen und Haltungen selbstkritisch so in Distanz gehen zu können, dass quasi wie aus der Vogelperspektive betrachtet Strukturmomente deutlich werden können. Auf der anderen Seite bezieht sich die gemeinte Reflexionsfähigkeit aber auch auf gesellschaftliche Phänomene und Entwicklungen – dies auf der Basis eines historisch gebildeten Bewusstseins. Mit Blick auf historische, aber auch aktuelle Phänomene von Antisemitismus bedürfen wir dringend dieser Bildungsimpulse, um nicht immer wieder in alte Fallen antisemitischen Denkens und Urteilens zu tappen. Ich möchte in diesem Zusammenhang an Hannah Arendts Buch mit dem prägnanten Titel erinnern, dass man nur auf dem Mond vor Antisemitismus sicher sei. Gemeint ist, dass auf der Ebene des kollektiven Bewusstseins, das beispielsweise in der Sprache seine Spuren hinterlässt, auch unbewusste Formen der Diskriminierung, der Vorurteile und Ausgrenzung geschehen. Man kann hier durchaus auch Analogien zu rassistischem oder sexistischem Denken ziehen. Ich möchte dies mit einem Beispiel aus diesem anderen Metier untermauern, um das Gemeinte alltagsnah zu verdeutlichen: Nach einem Seminar zu Feministischer Religionspädagogik kam eine Studentin zu mir und sagte, dass sie nun überall Probleme sähe, wo vorher keine waren. Für mich war das eine große Bestätigung, denn es war ein Sensibilisierungsprozess in Gang gesetzt worden. Ähnlich sehe ich es auch hinsichtlich einer Sensibilisierung für antisemitische Denkstrukturen, die deshalb so gefährlich sind, weil sie sich meist unbewusst generieren bzw. etablieren und dann in krisenhaften gesellschaftlichen Momenten völlig überraschend wie Pilze aus dem Boden schießen. Das Erstaunen darüber, dass sie augenscheinlich über lange Zeit ihre Verwurzelungen und Verflechtungen – quasi unterirdisch – vorangetrieben haben, ist dann sehr groß. Wie gefährlich dies ist, müsste jedem historisch gebildeten Menschen eigentlich © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 181 klar sein. Dies ist für mich der Anlass, mich mit dem Thema Antisemitismus im Bildungsbereich zu beschäftigen. Wer mit Adorno von einem „Nie wieder!“ überzeugt ist, kann die Evidenz dieses Themas weder leugnen noch verdrängen. 3 In welchen Kontexten bzw. im Rahmen welcher Konzepte sollten Ihrer Ansicht nach Antisemitismen an Schulen, Hochschulen und in der Öffentlichkeit betrachtet werden, um sich damit angemessen auseinandersetzen zu können? Es reicht nicht aus, nur zu appellieren – im Sinne von wohlgemeinten Sonntagsreden. Von der Lerntheorie und der Motivationspsychologie wissen wir ja, dass didaktisch sogenannte „Win-win-Situationen“ am effektivsten sind: wenn also die Schüler:innen (oder auch die Lehrkräfte) ihren eigenen Gewinn erkennen, der in der Auseinandersetzung mit bzw. im Engagement für dieses Thema liegt. Hierzu eine Konkretion: Gerade auch im Bereich der Hochschuldidaktik müssen wir noch sehr viel verändern, denn die Lehramtsausbildung ist sehr stark kognitiv geprägt. Ich verweise hier auf das evidente Feld der Persönlichkeitsbildung: Das bedeutet, dass eben auch die emotionale Lerndimension wie auch die pragmatische Lerndimension in den Bildungsprozess zu integrieren sind. Erwiesenermaßen lernt ein Mensch am besten, wenn die kognitive, die emotionale und die pragmatische Lerndimension zusammenspielen. Universitäre Bildung steht immer in der Gefahr einer zu starken kognitiven Fixierung. Das heißt: Ich lerne Zahlen, Texte, Begriffe, aber es hat wenig mit mir selbst zu tun. Und insofern ist dann auch die Motivation, sich selbst in diesem Bereich zu engagieren und wertorientierte Haltungen zu entwickeln, viel geringer. Um also die emotionale und pragmatische Dimension zu stärken, muss man auch den Erfahrungskontext stark machen, d. h. in Erfahrungssituationen gehen. Und gerade beim Thema „Antisemitismus“ haben wir das Problem: Nur wenige kennen Jüdinnen und Juden. Da weiß man nichts, weil man keine eigene Erfahrung hat. In diesem Kontext ist es also ganz wichtig, dialogische Projekte durchzuführen, also in die Begegnung und in den Dialog zu kommen. Konkret für die Lehramtsausbildung ist wichtig: Wo auch immer Sie später in Ihrem Beruf als Lehrkraft stehen werden, an welchen Orten und in welchen Kontexten, versuchen Sie, Bezugspunkte zum Judentum zu finden. Es gibt keinen Ort in Deutschland, wo es keine Spuren jüdischen Lebens in der Gegenwart oder Vergangenheit gäbe. Die Geschichte ist gegenwärtig, wenn man sensibilisiert den Kontext wahrnimmt. Wo man hinkommt, findet man Hinweise über Symbole an Häusern, Gedenktafeln, (ehemalige) Synagogen oder Friedhöfe. Hierfür möchte ich die Religions- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 182 lehrkräfte (wie auch Studierende aus anderen Disziplinen) sensibilisieren, ihnen also die kontextuelle Antisemitismusprävention näherbringen. 4 Was ist Ihrer Meinung nach in Bezug auf Antisemitismus für die Schule besonders bedeutsam? Veränderungen für den schulischen Kontext müssen im Studium von angehenden Lehrkräften angestoßen und konstruktiv implementiert werden. Das bedeutet, dass bereits im Hochschulkontext antisemitische Einstellungen zu thematisieren sind. Der Bildungsimpuls liegt auf der Hand, nämlich bei und mit den zukünftigen Multiplikator:innen von schulischer Bildung Reflexionskompetenzen zu fördern. Hierbei geht es zunächst um eine selbstkritische Aufarbeitung eigener antisemitischer Vorurteile und Feindbilder. Gerade im Kontext religiöser Bildung liegt insofern eine große Verantwortung, da religiöse als soziale Vorurteile auch emotional gefärbt sind und Religiosität eben auch mit emotionalen Gehalten – zum Beispiel mit Blick auf Wahrheitsansprüche – einhergeht. Beispielsweise hatte ich vor Kurzem ein Seminar zum Thema „Antisemitismusprävention im evangelischen Religionsunterricht“ angeboten und mehr als 40 Studierende zeigten großes Interesse, da ihnen die eigene Verantwortung als künftige Religionslehrerkräfte mit Blick auf Antisemitismusprävention sehr bewusst war. Wir haben dann in dem Seminar auch erfahrungsbezogen gearbeitet: Auf Plakaten sollte assoziativ festgehalten werden, was Christ:innen, Muslim:innen oder auch Jüdinnen und Juden ausmacht. Auf dem jüdischen Plakat waren dann erschreckenderweise in der Tat antisemitische Zuschreibungen zu lesen. Das ging assoziativ in Richtung „Finanzjudentum“, äußere Erscheinungsmerkmale und auch Israelfeindlichkeit. Insofern haben auch Studierende diese Einstellungen, das kann man nicht anders sagen. Dies zeigt die Dringlichkeit einer selbstkritischen Reflexionsförderung. Aus diesem Grund ist es evident, bei den Lehramtsstudierenden und über Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen bei Lehrkräften anzufangen, um später in der Schule eine gelingende Antisemitismusprävention leisten zu können. Hier bedarf es reflektierter und erprobter Strategien, die leider für die Universitäten und Hochschulen, aber auch an den religionspädagogischen Zentren zur Fortbildung noch viel zu wenig etabliert sind. Da kann es zum Beispiel darum gehen, dass Studierende während des Semesters selbst eigene Unterrichtsbausteine zur Antisemitismusprävention im Kontext ihrer Fachdidaktik entwickeln und wenn möglich auch unterrichtspraktisch erproben. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 183 5 Welche Präventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich zur Vorbeugung von Antisemitismus? Sowohl fachspezifisch wie auch fächerübergreifend gibt es noch zu wenige Impulse. In der Tat wäre auch eine interdisziplinäre Herangehensweise zukunftsweisend. Die Förderung von Pluralismusfähigkeit ist zum Beispiel in der letzten Denkschrift der evangelischen Kirche in Deutschland (Kirchenamt der EKD 2014) zum Religionsunterricht als zukunftsweisendes Bildungsziel festgelegt worden. Fächerübergreifend sehe ich eine große Chance darin, beispielsweise in einem Wahlpflichtmodul über die LPO (Lehramtsprüfungsordnung) Bildungsangebote zur Prävention religiös bedingter Vorurteile wie Antisemitismus oder Islamfeindlichkeit einzubringen. Meine Vision wäre, dass man neben oder im erziehungswissenschaftlichen Basismodul für alle angehenden Lehrkräfte auch friedenspädagogische Bausteine implementiert. Dann hätten wir wirklich die Chance, auch grundlegend bildungstheoretisch etwas zu verändern. Und das könnte dann auch interdisziplinär aufgebaut werden. Ich würde diese Herangehensweise als friedenspädagogischen Ansatz bezeichnen. Es geht also darum, deutlich zu machen, warum es in unserer Gesellschaft wichtig ist, auch in einem inneren sozialen Frieden zu leben, und wo dieser soziale und unsere Demokratie stärkende Zusammenhalt andererseits gefährdet ist. 6 Welche Interventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich bei Vorfällen von Antisemitismus? Bildung impliziert eine Förderung von Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungskompetenzen. Insofern geht es darum, latente antisemitische Einstellungen überhaupt erst bewusst zu machen und offensichtliche Vorfälle von Antisemitismus diskursiv zu bearbeiten, d. h. auf der Basis einer wertorientierten Didaktik beispielsweise Themen wie Menschenwürde und -rechte, Friedensund Demokratiebildung – immer verbunden mit einer fundierten historischen Bildung – zu konkretisieren. Vorurteile lassen sich am ehesten dann verändern, wenn dahinter liegende Probleme und Ängste der betreffenden Personen wahrund ernst genommen werden. Das geht nur in einem vertrauensvollen Rahmen, den ich als didaktische Grundhaltung gegenseitiger Wertschätzung bezeichnen möchte. Besonders positive und effektive Erfahrungen habe ich angesichts der konstruktiven Aufarbeitung antisemitischer Einstellungen dann gemacht, wenn es gelang, begegnungs- und dialogorientiert zu arbeiten, denn nicht selten ge- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 184 nerieren sich besonders starke Feindbilder dann, wenn kein wirklicher Bezug zu den Menschen der stigmatisierten Gruppe vorhanden ist. 7 Wo erkennen Sie in Ihrem Fachbereich Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten, um künftigen Lehrpersonen in der Lehrer:innen-Aus- und Weiterbildung eine Auseinandersetzung mit Antisemitismen zu ermöglichen? Hierzu ein Beispiel: Vor drei Jahren wurde an der Universität Augsburg ein Zusatzstudiengang (Zertifikats-Studiengang) „Interreligiöse Mediation“ (ZIM) eingeführt. Das ist ein freiwilliger Studiengang, den man natürlich auch im Rahmen des erziehungswissenschaftlichen Studiums von angehenden Lehrkräften verpflichtend machen könnte. Dieses Zusatzstudium hat zur Voraussetzung, sich mit interreligiöser Bildung und Mediation auseinanderzusetzen und Kompetenzen zu erwerben, religiösen Vorurteilen, Mobbing und Konflikten an den Schulen als pluralen Lern- und Lebensorten vorzubeugen. Im Modulplan dieses Zusatzstudiengangs kann im Basismodul, wo es um friedenspädagogische Voraussetzungen interreligiöser Kompetenzentwicklung geht, die Antisemitismusprävention als Pflichtmodul aufgenommen werden. Das ist eine Möglichkeit, für alle zukünftigen Lehrkräfte (aller Fächer) entsprechende Voraussetzungen zu schaffen und dadurch sensibilisierter in die eigene Berufspraxis zu gehen. Die besondere Chance liegt darin, dass dieser Zusatzstudiengang für alle Lehramtsstudierenden geöffnet ist. Der Bedarf und die Nachfrage sind groß, denn auch Studierende von anderen Lehramtsstudiengängen wissen, dass sie diese Kompetenzen für ihre zukünftige Berufstätigkeit erwerben sollten. Im Rahmen dieses Zertifikatsstudiums haben wir auch jeweils einen Lehrauftrag „Jüdische Theologie“ und „Islamische Theologie“ integriert, das heißt, die Studierenden erfahren hier aus erster Hand, im Gespräch mit jüdischen Lehrpersonen, was es zum Beispiel heißt, jüdisch zu glauben und zu leben. Dieses Angebot wird sehr positiv aufgenommen. Positiv ist auch, dass wir im Seminar bereits eine sehr heterogene Zusammensetzung von Lehramtsstudierenden aus unterschiedlichen Religionen oder Weltanschauungen haben. Allein diese Diversität im Seminar ist für die Lernprozesse schon sehr fruchtbar und hilft dabei, Klischees abzubauen und im diskursiven Austausch hinzuzulernen. Hierzu ein weiteres konkretes Beispiel: Die Masterarbeit einer Studentin, die für ihre Forschung spezielle Befragungen mit Lehrkräften durchgeführt hatte, zeigte als Ergebnis, dass die meisten Lehrkräfte eigentlich schon ein ungutes Gefühl hatten, das Wort „Jude“ überhaupt in den Mund zu nehmen. Dass hier schon ein Reflex entsteht, weil man Angst hat, etwas Falsches zu sagen, und © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 185 dann das Thema lieber vermeidet, ihm ausweicht. Gefühlsmäßig ist das ein gefährliches Terrain für viele. Dahinter können eigene Familiengeschichten liegen, auf die man nicht so genau hinschauen mag. Im internationalen Vergleich wird die Thematik hingegen sehr viel leichter angegangen, während im deutschen Kontext noch immer sehr viele Ängste und Widerstände ausgelöst werden. Es braucht Mut, sich diesen im kulturellen Gedächtnis verankerten und in vielen Familiengeschichten verborgenen Vorbehalten zu nähern. Dies betrifft natürlich nicht nur Lehrkräfte, sondern auch schon Lehramtsstudierende. Betrachtet man den mittlerweile großen zeitlichen Abstand, erstaunt dies umso mehr: Zuerst gab es die Generation, die verdrängte; dann kam die 68er-Generation, die versuchte, aufzudecken; dann gab es die Generation, die sozusagen „überfüttert“ wurde – nach dem Motto: „Oh nein, nicht schon wieder dieses Thema ...“. Jede Generation hat ihre spezifischen Probleme mit der Aufarbeitung von Antisemitismus – auch eine heutige Variante von „Gedenkstättengeneration“, die didaktisch mehr oder weniger gut an das Thema herangeführt wurde. Hier habe ich viele negative Beispiele selbst erlebt und bin in didaktischer Hinsicht kritisch, wie man einer heutigen jungen Generation gut vermitteln kann, dass aus aktuell friedenspädagogischen Gründen das Thema Antisemitismus von bleibend hoher Bedeutung ist. 8 Welche Forderungen und Wünsche, auch Hoffnungen oder Befürchtungen haben Sie im Hinblick auf eine Zukunft mit weniger/ ohne Antisemitismus? Aktuell wachsen meine Befürchtungen zur Entwicklung antisemitischer Einstellungen in unserer Gesellschaft. Grund hierfür sind globale Probleme bzw. Krisen – wie beispielsweise der Klimawandel – die die Zukunftsängste von Menschen erhöhen und nicht selten dazu führen, Verschwörungstheorien zu entwickeln. Es ist ein bekanntes Phänomen, dass angesichts des Komplexitätsproblems von gesellschaftlichen Transformationsprozessen in Krisenzeiten eine Abwehrstrategie dahingehend aufgebaut wird, einige wenige gesellschaftliche Minderheiten zu „Sündenböcken“ zu stilisieren. Antisemitische wie auch islamfeindliche Einstellungen nehmen daher deutlich zu. Nur groß angelegte und gezielte Präventionsprogramme sowie gemeinsame, d. h. interdisziplinäre Bildungsbemühungen können hier dieser für uns alle bedrohlichen Entwicklung entgegenhalten und – so hoffe ich – Einhalt gebieten, um den inneren wie äußeren Frieden in unserer Gesellschaft zu bewahren. Hierbei ist Demokratiebildung ein ganz wichtiger Punkt. Das muss von klein auf gelernt werden und dann hat man auch eine größere Chance, widerständig zu werden, sich einzusetzen © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 186 und Zivilcourage zu entwickeln. Das sind alles wichtige Punkte, die aber unsere Lehrpläne bislang noch nicht deutlich genug hergeben. BEINER, Jens (2019): Das Friedenspädagogische Zentrum der Universität Augsburg. In: Kontakt. Informationen zum Religionsunterricht im Bistum Augsburg 14, S. 75-78. BOSCHKI, Reinhold/Jäggle, Martin u. a. (Hg.) (2020): Erinnerung an den Holocaust im Religions- unterricht: Empirische Einblicke und didaktische Impulse. Religionspädagogik innovativ 35. Stuttgart. KAMPLING, Rainer (2012): Religiöses Vorurteil. In: Pelinka, Anton (Hg.) (2012): Vorurteile. Ur- sprünge, Formen, Bedeutung. Berlin/Boston, S. 147-168. KIRCHENAMT der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) (2014): Religiöse Orientierung gewinnen. Evangelischer Religionsunterricht als Beitrag zu einer pluralitätsfähigen Schule. Gütersloh. KRIESTEN, Jasmin (2019): Zusatzqualifikation Interreligiöse Mediation an der Universität Augs- burg. Professionalisierung der Lehramtsstudierenden im Sinne interreligiöser Bildung. In: Kontakt 14, S. 79-83. NAURATH, Elisabeth (32010): Mit Gefühl gegen Gewalt. Mitgefühl als Schlüssel ethischer Bildung in der Religionspädagogik. Neukirchen-Vluyn. NAURATH, Elisabeth (2020): Antisemitismusprävention im Religionsunterricht. In: Sedlmeier, Franz (Hg.): Wider das Vergessen – 80 Jahre nach der Reichspogromnacht. Augsburger Universitätsreden 81. Augsburg, S. 117-131. NAURATH, Elisabeth (2020): Antisemitismus-Prävention im Religionsunterricht der Grundschule – Wagnis, Herausforderung und Ermutigung. In: Mokrosch, Reinhold/Naurath, Elisabeth/ Wenger, Michèle (Hg.): Antisemitismusprävention in der Grundschule – durch religiöse Bildung. Göttingen, S. 11-21. NAURATH, Elisabeth (2020): Antisemitismus als religiöses Vorurteil: entwicklungspsychologische Möglichkeiten der Vorurteilsprävention in der Grundschule durch religiöse Bildung. In: Mokrosch, Reinhold/Naurath, Elisabeth/Wenger, Michèle (Hg.): Antisemitismusprävention in der Grundschule – durch religiöse Bildung. Göttingen, S. 79-86. PELINKA, Anton (Hg.) (2012): Vorurteile. Ursprünge, Formen, Bedeutung. Berlin/Boston. ZICK, Andreas/Küpper, Beate/Hövermann, Andeas (2011): Die Abwertung der Anderen: Eine eu- ropäische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen und Diskriminierung. Berlin. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 187 ELISABETH NAURATH , Dr.in, arbeitet seit 2013 als Professorin für Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts am Institut Evangelische Theologie der Universität Augsburg. Ihr Schwerpunkt liegt im Bereich Friedenspädagogik und Interreligiöse Bildung, Prävention von Antisemitismus und Islamfeindlichkeit: Aufbau des Friedenspädagogischen Zentrums für interreligiöse Bildung der Universität Augsburg (Lernwerkstatt), Forschungsstelle Interreligiöse Bildung (FIB) und Zertifikatsstudiengang Interreligiöse Mediation (ZIM). Seit 2021 ist sie Vorsitzende von Religions for Peace Deutschland. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 188 LJILJANA RADONIĆ Als „heikel“ geltende Inhalte offensiv beleuchten 1 Gibt es in Ihrem Fachbereich Berührungspunkte mit Antisemitismus? Antisemitismustheorie ist einer meiner Arbeitsbereiche. Einige meiner Lehrveranstaltungen beschäftigen sich mit der Frage nach der gemeinsamen Schnittmenge, aber auch den gewichtigen Unterschieden zwischen Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus und der sogenannten „Islamophobie“ – wobei ich letzteren Begriff als problematisch ablehne, da er notwendige Kritik an Islamismus, Unterdrückung von Frauen, Homophobie etc. und antimuslimische Ressentiments in einen Topf wirft und somit Erstere zu delegitimieren versucht. Die Besonderheit von Antisemitismus liegt darin, dass er zwar einerseits, wie die anderen Phänomene, zur Abgrenzung nach unten geeignet scheint: das berühmte „Nach-unten-Treten“, historisch etwa gegen den als schmutzig vorgestellten „Shtetljuden“. Andererseits aber werden „die Juden“ darüber hinaus auch als negative Autoritäten in einer Welt abstrakter Herrschaftsverhältnisse vorgestellt: autoritätshörige Persönlichkeiten zeichnen sich durch das „Nachoben-Buckeln“ aus, doch die imaginierte Verschwörung jüdischer Bankiers, Medien oder der „Ostküste“ darf gehasst werden und erfüllt so eine psychologische Funktion der (falschen) Welterklärung, die die anderen Phänomene nicht erfüllen. In meiner Forschung habe ich mich unter anderem mit der Frage beschäftigt, ob es eine spezifisch feministische Ausprägung von Antisemitismus gibt. Die (nicht zutreffende) Vorstellung vom Judentum als einer besonders patriarchalen Religion hat, so mein Ergebnis, zu der fixen Idee geführt, dass man nicht © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 189 gleichzeitig Jüdin und Feministin sein könne. Sogenannte Matriarchatsforscherinnen wie Hanna Wolff, Gerda Weiler oder Christa Mulack trieben diese Idee auf die Spitze, indem sie dem Judentum die Schuld an der „Ermordung“ des Matriarchats gaben – weswegen ihnen zufolge „die Juden“ in letzter Konsequenz selbst schuld am Holocaust seien. Dies bezeichne ich als „Projektion“ eigener unaufgearbeiteter Anteile, wie der Abwehr der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, auf „die Juden“. Man kann sich vorstellen, wie sehr jüdische Feministinnen mit solchen Vorstellungen zu kämpfen hatten und haben. Ich fungierte auch als Beraterin bei der Ausarbeitung der Nationalen Strategie gegen Antisemitismus, die unter der Leitung des Kultusamtes im Bundeskanzleramt im März 2021 veröffentlicht wurde. Im Zuge der Arbeit daran hat sich gezeigt, dass die Bekämpfung von Antisemitismus ein Zusammenspiel unterschiedlichster Elemente sein muss: von Sicherheitsmaßnahmen wie der Finanzierung des Schutzes jüdischer Einrichtungen, Schulungen von Polizei und Justiz, der Einführung des Themas Antisemitismus in Orientierungskursen des Österreichischen Integrationsfonds für Asyl- und subsidiär Schutzberechtigte, der Einführung von Antisemitismusbeauftragten und vieles andere mehr. Früher war ich auch bei der Organisation von Gedenkveranstaltungen aktiv. Ich nahm zuerst jahrelang an der Gedenkveranstaltung am Jahrestag des Novemberpogroms am Wiener Aspangbahnhof teil, von wo aus die Deportationszüge abfuhren. Untragbar wurde dann aber der linke Antisemitismus, der sich als israelbezogener Antisemitismus in manchen der Reden niederschlug. So organisierte ich dann mit jüdischen und nicht-jüdischen Gruppen mehrere Jahre lang eine alternative Gedenkveranstaltung am Ort einer im Novemberpogrom zerstörten Synagoge. Als dann das Gedenken am 9. November zunehmend in Österreich zur Staatsraison wurde und nicht mehr marginalisiert war, stellten wir die Gedenkveranstaltungen ein. Bei meinen jüdischen Freund:innen habe ich die Erfahrung gemacht, dass sie sehr schnell mit Antisemitismus konfrontiert werden, sobald sie aktiv und selbstbewusst politisch im Kampf dagegen aktiv werden. Aber auch wenn dies nicht der Fall ist, habe ich einmal erlebt, wie eine Freundin zielsicher aus dem Nichts heraus als Jüdin ausgemacht und antisemitisch beschimpft wurde. Zusammenfassend lässt sich hier vielleicht sagen, dass ich bei meiner Arbeit vor allem mit linkem und israelbezogenem Antisemitismus, der etwa Israelis als die neuen Nazis imaginiert, konfrontiert wurde. Oder mit Aussagen von Studierenden wie: „Wenn ich einen Juden im Bus sehe, würde ich ihm wie bei behinderten Menschen meinen Platz überlassen.“ Ich bin selten sprachlos, aber in dieser Situation war ich sehr froh, dass, wenn ich das noch richtig im Kopf © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 190 habe, eine Mitstudierende schneller war in ihrem Protest gegen die Aussage. Da hatte ich mich dann schon etwas gesammelt und konnte ruhig eine Diskussion darüber beginnen, warum das eine problematische Aussage war. 2 Gab es für Sie Anlässe, sich mit Antisemitismen im Bildungsbereich zu beschäftigen? Ich hatte einmal eine Lehrveranstaltung für Lehrer:innen im Bereich Politische Bildung über Geschichtspolitik und Erinnerungskultur angeboten. Ich hatte erwartet, dass wir unter anderem über das Problem sprechen würden, dass Schüler:innen abweisend auf das Thema Holocaust im Unterricht reagieren würden, nach dem Motto: „Nicht schon wieder das.“ Es stellte sich aber zu meiner großen Überraschung heraus, dass es viele Lehrer:innen selbst waren, die abwehrend auf das Thema reagierten – was ich bei einem Kurs über politische Bildung nicht erwartet hätte. Der einzige jüdische Lehrer vertrat zunächst einen antiimperialistischen Standpunkt und dämonisierte Israel, musste dann jedoch seinen Kolleg:innen widersprechen, als diese wie allergisch auf das Thema Nationalsozialismus reagierten. Leider bestätigte sich meine frühere Erfahrung, dass diejenigen, die am wenigsten über den Holocaust und den Nationalsozialismus wussten, nie Überlebendenberichte gelesen oder an Projekten dazu mitgewirkt hatten, am lautesten riefen: „Das wissen wir doch schon längst alles und es muss endlich Schluss sein!“ Da das schon viele Jahre her ist, hoffe ich, dass die neue Generation von Lehrer:innen anders reagieren würde. 3 In welchen Kontexten bzw. im Rahmen welcher Konzepte sollten Ihrer Ansicht nach Antisemitismen an Schulen, Hochschulen und in der Öffentlichkeit betrachtet werden, um sich damit angemessen auseinandersetzen zu können? Wie ich das schon bei meinen eigenen Lehrveranstaltungen getan und oben geschildert habe, finde ich es sehr wichtig, einerseits Gemeinsamkeiten zwischen Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus und antimuslimischen Ressentiments herauszuarbeiten, andererseits aber auch die Besonderheiten des jeweiligen Phänomens. Antiziganismus arbeitet zum Beispiel auch mit Verschwörungstheorien, doch werden die als „Zigeuner“ Vorgestellten als Teil einer sehr konkreten, alltagsweltlichen Verschwörung imaginiert, etwa einer Bettlerbande. Die Vorstellung von der jüdischen Weltverschwörung ist hingegen eine abstrakte Verschwörungstheorie, die als Welterklärung herhalten soll. Oft ist mir auch die Idee begegnet, dass „die Muslime“ „die Juden von heute“ seien. So © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 191 wichtig es ist, sich intensiv mit antimuslimischem Ressentiment kritisch auseinanderzusetzen, so sehr ist dieser Vergleich problematisch. Er impliziert etwa, dass es Antisemitismus heute nicht gäbe, was schlicht absurd ist. Der Vergleich unterschlägt ferner, dass sich heutige Autoritäten explizit gegen jegliche antimuslimische Hetze aussprechen, während Antisemitismus ein von Staat und Gesellschaft getragenes Programm war. Der Vergleich kann auch einer kritischen Auseinandersetzung mit islamistischem und islamischem Antisemitismus im Wege stehen. Man kann aber gleichzeitig voller Empathie Ressentiments gegen Geflüchtete und antimuslimische Projektionen bekämpfen und sich gegen Antisemitismus einsetzen, das sollte sich keinesfalls ausschließen. Es ist völlig legitim, Antisemitismus als eigenständiges, wenn auch mit anderem verwandtes Phänomen zu beleuchten, obwohl man sich manchmal heute schon rechtfertigen muss, wenn man Antisemitismus nicht immer im Kontext anderer Ressentiments und Ideologien erörtert. Dieser Trend, sich rechtfertigen zu müssen, obwohl man bereits gute Argumente für die Themenwahl genannt hat, sollte kritisch hinterfragt werden. Kolonialismus und Sklaverei wurden lange nicht aufgearbeitet und deshalb müssen wir gegen die Marginalisierung dieser Geschichte angehen. Antimuslimische Ressentiments und Rassismus müssen bekämpft werden, Antisemitismus aber gerade im post-nationalsozialistischen Deutschland und Österreich ohne jeglichen Zweifel auch. Bestreitet man die Legitimität eines derartigen Aufklärungsprogramms und Kampfes speziell gegen Antisemitismus, sollte man sich selbst kritisch fragen, ob man dabei eine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte abwehrt, ob die Argumentation also eine psychologische Entlastungsfunktion hat. Wenn es ferner um die Auseinandersetzung mit Antisemitismus geht, ist es wichtig, dieses Phänomen in keine Richtung falsch zu vereinfachen: Weder ist es vor allem ein Problem der extremen Rechten, noch des rechten und linken Extremismus, sondern es gibt auch einen Antisemitismus der politischen Mitte, der im deutschen Sprachraum sehr stark auch als israelbezogener Antisemitismus zutage tritt. Obwohl immer wieder behauptet wird, die Rede von Antizionismus oder israelbezogenem Antisemitismus würde auch „bloße Israel-Kritik“ diffamieren, habe ich noch nie jemanden tatsächlich die absurde Behauptung aufstellen gehört, dass Kritik an der Politik Israels antisemitisch sei. Im Gegenteil gibt es klare Kriterien, wann israelbezogener Antisemitismus vorliegt – und diese können bei der Lehrer:innenausbildung wie im Unterricht diskutiert werden. Am einfachsten hat diese Kriterien Natan Scharanski in der 3-D-Regel zusammengefasst: Dass es sich um keine legitime Kritik, sondern um eine antisemitische handelt, erkennt man daran, dass Israel dämonisiert wird © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 192 (zum Beispiel Israelis als neue Nazis), delegitimiert wird (zum Beispiel Israel hat keine Existenzberechtigung und soll von der Landkarte verschwinden) oder an den Staat doppelte Standards angelegt werden (weil zum Beispiel „die Juden“ den Holocaust mitgemacht haben, sollte sich Israel moralischer verhalten als andere Länder). 4 Was ist Ihrer Ansicht nach in Bezug auf Antisemitismus für die Schule besonders bedeutsam? Ich kann zu dieser Frage nur sagen, dass ich es immer für zentral halte, gegen Schwarz-Weiß-Malerei anzukämpfen, indem man gerade die als „heikel“ geltenden Inhalte offensiv aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet und zur Diskussion stellt. Lehrende an Schulen wie an Hochschulen können sich zunächst selbst fragen, bei welchen Themen sie sich am unwohlsten fühlen oder Projektionen bei sich selbst vermuten, dann zu genau diesen Themen lesen bzw. eine Weiterbildung machen, um dann offensiv auch „schwierige“ Fragen anzusprechen. Zum Beispiel muss ich öfter jemandem sagen, dass es völlig in Ordnung ist, von Jüdinnen und Juden zu sprechen und dass der Ausdruck „jüdische Menschen“ eher von einer Unsicherheit bei dem Thema zeugt. Auch bemerke ich Scheu davor, islamistische und islamische antisemitische Vorstellungen anzusprechen, weil man nicht als kulturunsensibel dastehen will. Das ist eine höllische Aufgabe und ich ziehe den Hut vor allen, die sich diesen scheinbar unlösbaren Herausforderungen stellen, bei denen man manchmal erst vor der eigenen Tür kehren muss und manchmal einfach sprachlos ist, ob der Aussagen, die man hört. 5 Welche Präventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich zur Vorbeugung von Antisemitismus? Je weniger verhärtet jemandes Weltbild ist, desto erfolgreicher kann man Antisemitismus durch Aufklärung und Diskussion bekämpfen. Je sicherer man selbst bei dem Thema ist, desto selbstbewusster kann man auftreten und muss nach guten Schulungen das Rad ja nicht neu erfinden, sondern kann auf erprobte und bewährte Konzepte zurückgreifen. Frustrationstoleranz muss aber vorhanden sein, denn im Antisemitismus stören Widersprüche nicht, man kommt manchmal mit Fakten nicht gegen wilde Projektionen und falsche Welterklärungen an. Aber auch wenn es bei der einen oder dem anderen nichts mehr bringt, die Aufklärung fruchtet hoffentlich bei allen anderen Anwesenden. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 193 6 Welche Interventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich bei Vorfällen von Antisemitismus? Ich weiß nicht, ob das im schulischen Bereich auch funktioniert, aber in universitärer Lehre habe ich es immer sehr hilfreich gefunden, wenn die Teilnehmer:innen des Kurses selbst spontan auf problematische, tendenziell antisemitische oder auch philosemitische Äußerungen ihrer Kolleg:innen reagiert haben. Ich habe sie dann auch in den Pausen manchmal dazu ermuntert, weil ich es leichter finde, auf derselben Hierarchieebene einer problematischen Aussage zu begegnen als aus meiner Autoritätsposition. Es wäre sinnvoll, wenn es für antisemitische Vorfälle eine besonders geschulte Person in jeder Institution gäbe, mit der man über das weitere Vorgehen beraten kann und die mit unterschiedlichen Reaktionsmöglichkeiten einschließlich ihrer Vor- und Nachteile Erfahrung hat. Allein schon, dass man in diesen Situationen nicht auf sich gestellt ist, hilft schon. Dann kann man zur Not auch im konkreten Fall sagen: „Ich würde gerne nächstes Mal auf diese Aussage zurückkommen.“ 7 Wo erkennen Sie in Ihrem Fachbereich Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten, um künftigen Lehrpersonen in der Lehrer:innen-Aus- und Weiterbildung eine Auseinandersetzung mit Antisemitismen zu ermöglichen? Schulungen sollten Antisemitismus als eigenen Gegenstand betrachten, denn in den post-nationalsozialistischen Gesellschaften Deutschlands und Österreichs nimmt die Auseinandersetzung damit einen besonderen Stellenwert ein. Nicht nur rechter sekundärer, post-Holocaust-Antisemitismus, also der Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz sollte thematisiert werden, sondern auch der linke Antisemitismus, der sich nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 vor allem als israelbezogener Antisemitismus Bahn bricht und wahlweise von falscher Kapitalismuskritik oder philosemitischen Vorstellungen über „die Juden“ gespeist wird. 8 Welche Forderungen und Wünsche, auch Hoffnungen oder Befürchtungen haben Sie im Hinblick auf eine Zukunft mit weniger / ohne Antisemitismus? Nicht bloß historischer, sondern auch aktueller Antisemitismus – und zwar nicht nur von rechts – sollte in der Schule verstärkt beleuchtet werden. Krisen wie die Coronapandemie, die mitunter verschwörungstheoretische antisemitische Vorstellungen befördern, sollten zeitnah in den Unterricht eingebaut werden. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 194 Einerseits könnte es für die Zukunft überraschend optimistisch stimmen, dass sich die aktuelle österreichische Regierung die Bekämpfung von Antisemitismus auf die Fahnen geschrieben hat. Die getroffenen Maßnahmen sollten handfest sein, wie zuletzt die Sicherung einer nun pauschalen Finanzierung von Sicherheitsmaßnahmen für jüdische Einrichtungen sowie die Einrichtung einer eigenen Stabsstelle zur Antisemitismusbekämpfung, auch wenn diese aktuell unter der etwas verklausulierten Bezeichnung „für Österreichisch-Jüdisches Kulturerbe“ läuft, und ihre Fortführung über diese Regierungsperiode hinaus sollte gesichert werden. Andererseits werden wohl auch in Zukunft zu viele mit „Antisemitismus“ ein vergangenes Übel assoziieren, das erst bei körperlichen Übergriffen beginnt. Die aktuellen antisemitischen Denkmuster, gar bei sich selbst, zu erkennen und zu bekämpfen, wird sicher nicht leichter. ADORNO, Theodor W. (1972): Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959 bis 1969. Frankfurt/M. GRIMM, Marc/Kahmann, Bodo (Hg.) (2018): Antisemitismus im 21. Jahrhundert: Virulenz einer alten Feindschaft in Zeiten von Islamismus und Terror. Berlin/Boston. HEINE, Susanne (1994): Die feministische Diffamierung der Juden. In: Kohn-Ley, Charlotte/Ko- rotin, Ilse (Hg.): Der feministische „Sündenfall“? Antisemitische Vorurteile in der Frauenbewegung. Wien, S. 15-59. KAHLWEISS, Luzie H./Salzborn, Samuel (2012): „Islamophobie“ als politischer Kampfbegriff. Zur konzeptionellen und empirischen Kritik des Islamophobiebegriffs. In: Pfahl-Taughber, Armin (Hg.): Jahrbuch für Terrorismus- und Extremismusforschung 2011/2012 (II). Brühl, S. 248263. RADONIĆ, Ljiljana (2020): Die friedfertige Antisemitin reloaded. Weibliche Opfermythen und ge- schlechtsspezifische antisemitische „Schiefheilung“, Graz. SALZBORN, Samuel (2020): Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern, Leipzig. SCHWARZ-FRIESEL, Monika/Friesel, Evyatar (2012): „Gestern die Juden. Heute die Muslime …“? Von den Gefahren falscher Analogien, in: Botsch, Gideon et al. (Hg.): Islamophobie und Antisemitismus – ein umstrittener Vergleich. Berlin/Boston, S. 29-50. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 195 LJILJANA RADONIĆ leitet das vom Europäischen Forschungsrat (ERC) finanzierte Projekt „Globalised Memorial Museums. Exhibiting Atrocities in the Era of Claims for Moral Universals“ am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), in dessen Rahmen auch dieser Text entstand. Ihr Habilitationsprojekt über den Zweiten Weltkrieg in postsozialistischen Gedenkmuseen führte sie an der ÖAW durch und sie wurde 2020 am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien habilitiert, wo sie seit 2004 über Antisemitismustheorie sowie (Ostmittel-)Europäische Erinnerungskonflikte seit 1989 lehrt. Zuletzt erschienen: Radonić, Ljiljana (2021): Der Zweite Weltkrieg in postsozialistischen Gedenkmuseen. Geschichtspolitik zwischen der ‚Anrufung Europas‘ und dem Fokus auf ‚unser‘ Leid. Berlin; Radonić, Ljiljana/Uhl, Heidemarie (Hg.) (2020): Das umkämpfte Museum. Zeitgeschichte ausstellen zwischen Dekonstruktion und Sinnstiftung. Bielefeld. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 196 SAMUEL SALZBORN Verbindung aus Weltanschauung und Leidenschaft 1 Gibt es in Ihrem Fachbereich Berührungspunkte mit Antisemitismus? und 2 Gab es für Sie Anlässe, sich mit Antisemitismen im Bildungsbereich zu beschäftigen? Das Land Berlin verfügt als erstes Bundesland über ein ressortübergreifendes Konzept zur Antisemitismusbekämpfung, das der Senat von Berlin am 12. März 2019 unter dem Titel „Berlin gegen jeden Antisemitismus! Berliner Landeskonzept zur Weiterentwicklung der Antisemitismus-Prävention“ beschlossen hat. Das Berliner Landeskonzept umfasst dabei fünf Handlungsfelder: „Bildung und Jugend: Frühkindliche Bildung, Jugendarbeit, Schule und Erwachsenenbildung“, „Justiz und Innere Sicherheit“, „Jüdisches Leben in der Berliner Stadtkultur“, „Wissenschaft und Forschung“ und „Antidiskriminierung, Opferschutz und Prävention“ und verknüpft damit die drei zentralen Säulen – Prävention, Intervention und Repression – der Antisemitismusbekämpfung integral und schließt in seinem Antisemitismusverständnis an den wissenschaftlichen Erkenntnisstand der sozialwissenschaftlichen Antisemitismusforschung an. Der Senat kam im Landeskonzept darin überein, dass die Wirksamkeit hierbei von einem abgestimmten Vorgehen aller Beteiligten abhänge, die durch die Einrichtung der Stelle eines Ansprechpartners des Landes Berlin zu Antisemitismus (im Mai 2019 zunächst kommissarisch, seit August 2020 hauptamtlich besetzt) hergestellt werden soll. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 197 3 In welchen Kontexten bzw. im Rahmen welcher Konzepte sollten Ihrer Ansicht nach Antisemitismen an Schulen, Hochschulen und in der Öffentlichkeit betrachtet werden, um sich damit angemessen auseinandersetzen zu können? Antisemitismus in der Schule ist ein öffentliches Thema, dem sich manche schulische Akteur:innen dennoch entziehen möchten. Wenn man sich des Themas nur anlassbezogen und sporadisch, beispielsweise in einer Projektwoche, annimmt, kann man Diskussionen über die Fragen vermeiden, ob einzelne Kolleg:innen im eigenen Lehrkörper Antisemit:innen sind, ob es Schüler:innen gibt, bei denen Antisemitismus ein manifestes Problem darstellt, das nicht mehr pädagogisch gelöst werden kann, oder auch, ob Lehrpläne und Unterrichtsmaterialien überhaupt den Ansprüchen genügen, um mittel- und langfristig eine Minimierung von Antisemitismus herbeizuführen. Antisemitismus, das ist vielleicht die für den schulischen Kontext zentralste Erkenntnisvoraussetzung, ist nicht einfach eine Form von Diskriminierung neben anderen, nicht einfach ein Vorurteil wie viele andere. Antisemitismus ist eine grundlegende Haltung zur Welt, die zwar durchaus mit anderen Diskriminierungsformen wie Rassismus, Sexismus oder Homophobie verbunden auftritt, aber in ihrer Konstituierung grundlegend von diesen unterschieden ist: Antisemitismus ist eine Verbindung aus Weltanschauung und Leidenschaft, eine grundlegende Haltung zu Welt, mit der diejenigen, die ihn als Weltbild teilen, alles in der Politik und Gesellschaft, das sie nicht erklären und verstehen können oder wollen, zu begreifen versuchen. Neben der nicht zuletzt in der Shoah zum Ausdruck gekommenen Differenz des Antisemitismus zu Rassismus und anderen Vorurteilen besteht die qualitative Unterscheidung zum rassistischen Vorurteil, in dem die dem Anderen zugeschriebene potenzielle Macht konkret (materiell und sexuell) artikuliert wird, in der Abstraktheit der Zuschreibung beim Antisemitismus, der als „mysteriöse Unfaßbarkeit, Abstraktheit und Allgemeinheit“ (Postone 1982, 15) fantasiert wird. Antisemitismus zielt als kognitives und emotionales System auf einen weltanschaulichen Allerklärungsanspruch: Er bietet als Weltbild ein allumfassendes System von Ressentiments und (Verschwörungs-)Mythen, die in ihrer konkreten Ausformulierung wandelbar waren und sind. Sie richten sich immer gegen Jüdinnen und Juden, da der Antisemitismus auf Projektionen und, wie Theodor W. Adorno (1951, 125) es formuliert hat, „Gerüchten über die Juden“ basiert. Deshalb hat das reale Verhalten von Jüdinnen und Juden ebenso wenig Einfluss auf das antisemitische Weltbild, wie sich eben dieses Weltbild aus den emotionalen Bedürfnissen der Antisemit:innen selbst konstruiert: Antisemit:innen glauben ihr antisemitisches © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 198 Weltbild nicht, obwohl, sondern weil es falsch ist – da es emotionalen Mehrwert für sie schaffen soll. Antisemitismus ist zu verstehen als eine Verbindung aus Weltanschauung und Leidenschaft, also eine spezifische Art zu denken und zu fühlen (Salzborn 2010). 4 Was ist Ihrer Ansicht nach in Bezug auf Antisemitismus für die Schule besonders bedeutsam? Mit Blick auf die unterschiedlichen Altersstufen und Schulformen gestaltet sich das Verhältnis von Weltanschauung und Leidenschaft, also von Kognition und Emotion, höchst different – man findet genauso die weltanschaulich überzeugte und gefestigte Antisemitin, die aufgrund ihrer eigenen Sozialisation in einer rechtsextremen oder islamistischen Familie das antisemitische Weltbild vollkommen internalisiert hat und mit kognitiver Überzeugung vertritt, wie den ungebildeten Antisemiten, der sich aus Versatzstücken von Ressentiments und Vorurteilen seiner subkulturellen Peergroup oberflächlich antijüdischer Rhetorik bedient, ohne sie intellektuell zu verstehen. Relevant ist dabei auch, dass man antisemitische Ressentiments vertreten kann, ohne ein Bewusstsein darüber haben zu müssen, ein:e Antisemit:in zu sein – was an der Tatsache als solcher natürlich nichts ändert, da es sich nicht um eine subjektive Frage des Glaubens über eigene Einstellungen handelt, sondern um das objektive Vorhandensein antisemitischer Einstellungen. Wann sich antisemitische Einstellungen, seien sie bewusster oder unbewusster Natur, in antisemitische Handlungen umsetzen – von der Beschimpfung über die Drohung, das Beschmieren von Toiletten und Tischen und Wänden oder die handgreiflichen Übergriffe und Gewalttaten – hängt stark vom individuellen Verhältnis von Weltanschauung und Leidenschaft und dessen Einbindung in dieses leidenschaftliche Weltbild stützende oder es konterkarierende Strukturen ab. Insofern ist es auch zentral, dass Antisemitismus in der Schule immer, eindeutig, konsequent und unmissverständlich widersprochen wird, um Worte nicht zu Taten werden zu lassen. Antisemitismus ist ein zentrales Element moderner Gesellschaften und als Weltbild sowohl in christlichen wie islamischen Gesellschaften derart dominant (Salzborn 2020a), dass es kontinuierlich in Geschichte und Gegenwart thematisiert werden muss – und zwar nicht exemplarisch, da Antisemitismus nicht einfach ein Vorurteil, sondern ein Weltbild ist, also historisch wie aktuell über eine grundlegend differente Relevanz verfügt als andere Diskriminierungsphänomene. Denn Antisemit:innen erklären sich ihr gesamtes Weltbild durch antisemitische Projektionen und Verschwörungsmythen, in denen Jüdinnen und © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 199 Juden für alles verantwortlich gemacht werden, was sie selbst nicht verstehen können oder wollen – und dabei zugleich als unglaublich mächtig wie unglaublich machtlos fantasiert werden. 5 Welche Präventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich zur Vorbeugung von Antisemitismus? Prävention und Bekämpfung von Antisemitismus in der Schule muss reflektieren, dass die Befassung mit Antisemitismus nicht „nebenbei“ und damit auch nicht im Sinne von exemplarischem Lernen geleistet werden kann, sondern dass diese aktiv betrieben werden muss – was nicht zwingend heißt, dass Antisemitismusprävention unbedingt direkt erfolgen muss. Denn da der Antisemitismus die Unfähigkeit und Unwilligkeit, abstrakt zu denken und konkret zu fühlen, ist, ist jeder Unterricht, der die Fähigkeit der Schüler:innen zu abstraktem Denken und konkreter Empathiefähigkeit fördert, ein wichtiger Teil der Antisemitismusprävention. Dies kann auch und gerade in den nicht-geisteswissenschaftlichen Fächern und besonders in der Grundschule geleistet werden, ohne dass es notwendig ist, die Themenfelder Antisemitismus und Judentum explizit zu thematisieren. Abstraktes Denken kann dabei vielfältig geschult werden. Dazu gehören das Verständnis für die Regeln bei der Wahl von Klassensprecher:innen, die logische Systematik von Sprachgrammatiken, die strukturellen Gemeinsamkeiten von Tierskeletten, die Regeln der Stochastik, die Funktionsweise kapitalistischer Ökonomie (jenseits des irrationalen Affekts gegen Personen), das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit oder die Regelhaftigkeit von Ballsportarten. Und konkrete Empathie besteht eben darin, seine Gefühle nicht auf Kollektive zu richten, sondern auf konkrete Ereignisse und Personen: Wer mehr Empathie für eine unbekannte Mitschülerin auf dem Schulhof empfindet und ihr hilft, nachdem sie gestürzt ist, als für den Gewinn eines Weltmeisterpokals eines Fußballnationalteams, kann grundsätzlich als weniger anfällig für die Strukturmechanismen von Antisemitismus gelten. Und auch ein Sportunterricht, bei dem es primär nicht um den Erfolg und das Gewinnen, sondern in erster Linie um empathische Interaktionen geht, könnte hierzu viel beitragen. Denn die Schüler:innen würden in die Lage versetzt, konkrete Gefühle zu entwickeln, und wären damit nicht dem antisemitischen Grundmuster abstrakter Emotionalität ausgeliefert – die auf Kollektive gerichtet, aber faktisch empathiefrei ist. Die indirekte Thematisierung ist also genauso relevant wie die direkte: Man muss dem Antisemitismus die kognitiven und emotionalen Grundlagen entziehen, © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 200 zugleich aber im Anspruch von Aufklärung und politischer Bildung das Thema Antisemitismus direkt thematisieren und Wissen und Fakten vermitteln: sowohl historisch als auch aktuell, da die Aufklärung und die „Erziehung zur Mündigkeit“ (Adorno 1969) letztlich unhintergehbare Prinzipien von Demokratie und (politischer) Bildung sind – und insofern einseitige Darstellungen, wie sie sich in zahlreichen Schulbüchern beispielsweise mit einer einseitigen Parteinahme zugunsten der Palästinenser:innen im Kontext des Nahostkonflikts finden, bei der sowohl historische und aktuelle Falschaussagen sowie Auslassungen zu finden sind als auch emotionale Überwältigungen, die durch kollektive und abstrakte Emotionalisierungen wirken und antisemitische Ressentiments bei Schüler:innen objektiv ver- und bestärken. 6 Welche Interventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich bei Vorfällen von Antisemitismus? Mit Blick auf antisemitische Diskriminierungsformen in Schulen ist darauf hinzuweisen, dass fast flächendeckend keine oder unzureichende Meldesysteme für antisemitische Vorfälle – bei Schüler:innen wie Lehrer:innen – bestehen. Hierbei mangelt es oft an Problembewusstsein, auch, weil Antisemitismus in seiner Spezifik als leidenschaftliches Weltbild verkannt und unter andere Formen von Diskriminierung summiert wird. Der Handlungsdruck auf Schulen, antisemitische Vorfälle zu melden, ist nur zögerlich in einigen Bundesländern in Gang gekommen, ausgebaute Strukturen auf der Ebene der unteren und oberen Schulaufsicht gibt es – mit Ausnahme von Berlin, Baden-Württemberg und Hessen – im Prinzip nicht (Salzborn 2020b). Neben der offiziellen Meldung von antisemitischen Vorfällen und der fallweisen Entscheidung, welche Formen von Intervention nötig sind und inwiefern sogar strafrechtliche Verfolgung oder disziplinarrechtliche Maßnahmen (im Falle von Lehrkräften) geboten ist, bedarf antisemitische Diskriminierung auch im schulischen Kontext der Öffentlichkeit: Gerade aufgrund der autoritären Strukturierung des antisemitischen Weltbildes ist es unverzichtbar, antisemitische Einstellungen und Verhaltensweisen von Schüler:innen gegenüber den Eltern immer ausdrücklich als Problem zu kommunizieren und diese explizit zur Intervention gegen Antisemitismus in der außerschulischen Erziehung anzuhalten. Der Vergleich zweier Fälle antisemitischer Lehrkräfte in Oldenburg und Berlin aus den letzten Jahren zeigt, dass das Problem der schulischen Bekämpfung von Antisemitismus nicht nur auf der rechtlichen und strukturellen Ebene © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 201 liegt, sondern auch in der Frage, ob bei den Ländern eine Handlungsbereitschaft überhaupt existiert: Die schulrechtlichen Rahmenbedingungen in Niedersachsen und Berlin waren bzw. sind ähnlich, möglicherweise wird man die disziplinarrechtlichen Möglichkeiten in Niedersachsen sogar als günstiger für die Bekämpfung von Antisemitismus bei Lehrkräften einschätzen müssen, das Verhalten war aber diametral: Während Berlin gegen den Fall einer antisemitischen Lehrkraft zeitnah und eindeutig vorgegangen ist, beschwieg Niedersachsen das Problem und beließ die antisemitische Lehrkraft weiterhin im Schuldienst. Jenseits dessen ist ein mangelndes Problembewusstsein im pädagogischen Kontext zu attestieren, neben den Möglichkeiten auch die Grenzen von Pädagogik in der Schule zu reflektieren. Antisemitische Vorfälle sind manchmal, aber eben oft nicht allein durch pädagogische Maßnahmen zu lösen, es bedarf der flankierenden Verbindung von Prävention, Intervention und Repression. Zudem sind bedenkliche Tendenzen im pädagogischen Feld auszumachen, die Kompetenzorientierungen vor Faktenlernen stellen und aus einer falsch verstandenen Multiperspektivität Antisemitismus, etwa aus arabisch-muslimischem Kontext, tolerieren. Jeder Antisemitismus im schulischen Kontext muss ohne Rücksicht auf den politischen, sozialen oder religiösen Kontext der ihn formulierenden Personen als falsch und unwahr zurückgewiesen werden, auch pädagogische Ansätze müssen reflektieren, dass man über viele Fragen unterschiedlicher Meinung sein kann, dass aber manche Meinungen – eben, wenn sie antisemitisch sind – objektiv falsch sind, weil sie auf Unwahrheiten basieren. 7 Wo erkennen Sie in Ihrem Fachbereich Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten, um künftigen Lehrpersonen in der Lehrer:innen-Aus- und Weiterbildung eine Auseinandersetzung mit Antisemitismen zu ermöglichen? und 8 Welche Forderungen und Wünsche, auch Hoffnungen oder Befürchtungen haben Sie im Hinblick auf eine Zukunft mit weniger / ohne Antisemitismus? Der Dreh- und Angelpunkt des Problems bleiben die Schulbücher, die oftmals hinter den – durchaus auch in vielen Fällen als zu rudimentär einzustufenden – Rahmenrichtlinien und Lehrplänen zurückbleiben, in gravierender Weise verkürzend und, im Falle des Themenfeldes Israel, drastisch einseitig propalästinensisch ausgerichtet sind (Deutsch-Israelische Schulbuchkommission 2015). Auf der einen Seite können und sollten in den Ländern, die keine Zulassungs- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 202 verfahren für Schulbücher (mehr) haben, diese Praxis überdacht werden, weil Schulleitungen und Fachkonferenzen faktisch nicht die Kompetenz haben, um über die Qualität von Schulbüchern im schulrechtlichen Kontext zu entscheiden. Zugleich sind aber gerade die Schulbuchverlage gefordert, in den einschlägigen Bereichen die Qualität ihrer Unterrichtsmaterialien zu überprüfen oder (fachkompetent) überprüfen zu lassen, weil das Hauptproblem darin besteht, dass viele Schulbuchautor:innen zu wenig Kompetenz und Wissen in den Bereichen Antisemitismus, Judentum und Israel haben. Grundlagenwissen in der Schule vermitteln immer Schulbücher. Da Antisemitismus eine Querschnittsaufgabe für alle Jahrgangsstufen, Schultypen und Fächer darstellt, wäre anzuregen, als ersten Schritt eines Querschnittsaufgabenansatzes in Abstimmung mit den Kompetenzen jüdischer Institutionen ein spezielles Schulbuch „Antisemitismus“ zu initiieren, das grundlegend über das Thema mit Materialien und Informationen aufklärt und insofern als Background zu anderen Schulbüchern genutzt werden könnte. ADORNO, Theodor W. (1951): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. In: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. 4. Frankfurt/M. ADORNO, Theodor W. (1969): Erziehung zur Mündigkeit. In: Ders.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969. Frankfurt/M., S. 133–147. DEUTSCH-ISRAELISCHE SCHULBUCHKOMMISSION (Hg.) 2015: Deutsch-israelische Schul- buchempfehlungen, Göttingen. POSTONE, Moishe (1982): Die Logik des Antisemitismus. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, H. 1, S. 13–25. SALZBORN, Samuel (2010): Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Sozialwissen- schaftliche Theorien im Vergleich. Frankfurt/M., New York. SALZBORN, Samuel (2020a): Globaler Antisemitismus. Eine Spurensuche in den Abgründen der Moderne. Mit einem Vorwort von Josef Schuster. 2., überarb. u. erw. Aufl. Weinheim. SALZBORN, Samuel (2020b): Meldepflicht für antisemitische Vorfälle in Schulen. In: Pädagogik, H. 1, S. 50–51. SALZBORN, Samuel (Hg.) (2021): Schule und Antisemitismus. Politische Bestandsaufnahme und pädagogische Handlungsmöglichkeiten. Weinheim. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 203 SALZBORN, SAMUEL , apl. Prof. Dr., ist Ansprechpartner des Landes Berlin zu Antisemitismus. Er hat Politikwissenschaft, Soziologie, Psychologie und Rechtswissenschaft studiert und in Politikwissenschaft promoviert und habilitiert. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich Politischer Theorie und Gesellschaftstheorie sowie in Politischer Soziologie und Demokratieforschung. Letze Buchveröffentlichungen u. a.: Schule und Antisemitismus. Politische Bestandsaufnahme und pädagogische Handlungsmöglichkeiten (als Hg., Weinheim 2021); Globaler Antisemitismus. Eine Spurensuche in den Abgründen der Moderne (Weinheim 2020). © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 204 STEFAN SCHMID-HEHER Reflexion statt Distanzierung, Abwehr und Tabuisierung 1 Gibt es in Ihrem Fachbereich Berührungspunkte mit Antisemitismus? Mein Fachbereich ist die Lehrpersonenbildung, wobei Politische Bildung als Fach wie auch als Anforderung an die Schule insgesamt im Mittelpunkt meiner Lehr- und Forschungstätigkeit steht. Hier bestehen grundlegende Berührungspunkte mit Antisemitismus, weil jeder Antisemitismus der Demokratie entgegensteht und Demokratie die Grundlage Politischer Bildung ist. Erstens richtet sich Antisemitismus in jeder Form in letzter Konsequenz immer gegen die bloße Existenz von Jüdinnen und Juden. Zweitens ist Antisemitismus ein Welterklärungsmodell gegen politische Mündigkeit, das real überhaupt keiner Jüdinnen und Juden bedarf. Politische Mündigkeit erfordert vielfältige Kompetenzen, mit deren Hilfe Menschen sich in einer Demokratie orientieren und als politische Subjekte handeln können. Sie erscheint dabei nie ausschließlich als verheißungsvolle Freiheit, sondern immer auch als Zumutung, Belastung und beständige Herausforderung, denn politische Mündigkeit verlangt von jedem und jeder Einzelnen den Umgang mit Widersprüchen, Unsicherheiten und Verantwortung unter sich stetig verändernden Voraussetzungen. Antisemitismus bietet als wandelbares und an viele Welt- und Menschenbilder anschlussfähiges Phänomen Feindbilder, Erklärungen und Orientierungen in allen möglichen Zusammenhängen. Deshalb reicht es nicht aus, wenn sich Politische Bildung in welcher Form auch immer gegen wahrnehmbaren bzw. wahrgenommenen Antisemitismus positioniert. Sie muss Antisemitismus auch als Ausdruck von Unfähigkeit oder Unwillen zur reflektierten Auseinandersetzung mit gesell- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 205 schaftlichen Widersprüchen und zu Mitmenschlichkeit problematisieren (Salzborn 2010, 334). Die relativ verbreitete Ablehnung von offenem Antisemitismus in Österreich stellt sich in diesem Zusammenhang als ambivalent dar. Einerseits ist sie Ausdruck einer zunehmenden Sensibilisierung und des Wunsches nach Abgrenzung gegenüber Antisemitismus nach Jahrzehnten antisemitischer Kontinuitäten. Andererseits kann sie darüber hinwegtäuschen, dass Antisemitismus in der Gesellschaft nach wie vor verwurzelt ist und sich weder auf Einzelfälle beschränkt, noch bloß von „außen“, also durch Migration, hineingetragen wird. Im Hinblick auf politisches Lernen ist diese Ambivalenz herausfordernd. Das Zusammentreffen zwischen einer Distanzierung von Antisemitismus und einer Abwehrhaltung gegenüber einer kritischen und (selbst-)reflexiven Beschäftigung mit Antisemitismus begünstigt eine Tabuisierung. In meiner Arbeit nehme ich Antisemitismus häufig in einem solchen Spannungsfeld wahr. Er äußert sich etwa in Form von vorgeblich wertfreien oder positiven Zuschreibungen von Eigenschaften an Jüdinnen und Juden, wie zum Beispiel, dass diese besonders intelligent, untereinander eben bestens vernetzt oder wirtschaftlich geschickt seien. Solche Vorstellungen haben gemeinsam, dass sie Jüdinnen und Juden als „die Anderen“ konstruieren und Antisemitismus reproduzieren. Das gilt unabhängig davon, ob diese Zuschreibungen in der konkreten Situation als verhohlener Antisemitismus oder unreflektierter Erklärungsversuch für Antisemitismus zu interpretieren sind, weil jeweils die eine Absicht die andere nicht ausschließt. Diese Umstände machen es in der konkreten Situation herausfordernd, die Wahrnehmung von Antisemitismus und seiner gesellschaftlichen Relevanz zu erweitern und die kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Verhältnissen und eigenen Standpunkten zu fördern. Zugleich veranschaulichen sie die Notwendigkeit und nicht zuletzt die Möglichkeiten im Hinblick auf politisches Lernen, die eine reflexive und reflektierte Auseinandersetzung mit Antisemitismus mit sich bringen kann. 2 Gab es für Sie Anlässe, sich mit Antisemitismen im Bildungsbereich zu beschäftigen? Meine Beschäftigung mit Antisemitismus begann vor meiner Tätigkeit als Lehrer und Hochschullehrer. Spezifische Anlässe gab es dafür nicht, aber vermutlich war die Unbegreiflichkeit der NS-Verbrechen, insbesondere des Holocausts, schon sehr früh ein Ausgangspunkt für Fragen und weitere Auseinandersetzungen. Prägend im Hinblick auf meine späteren Tätigkeiten im Bildungsbereich war © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 206 mein Gedenkdienst an der Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Auschwitz. Ich erfuhr dort in der Arbeit mit Jugendgruppen und deren Betreuer:innen, dass auch Wissen über Auschwitz und authentische emotionale Betroffenheit wegen Auschwitz nicht zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Antisemitismus führen müssen. Weder Wissen noch Betroffenheit gehen automatisch mit der Frage danach einher, was die Wirklichkeit von Auschwitz über die Gesellschaft damals und heute aussagt. Auschwitz beantwortet diese Frage nicht, aber antisemitismuskritische Bildung und jede Bildung mit dem Anspruch politischer Mündigkeit muss sie stellen. 3 In welchen Kontexten bzw. im Rahmen welcher Konzepte sollten Ihrer Ansicht nach Antisemitismen an Schulen, Hochschulen und in der Öffentlichkeit betrachtet werden, um sich damit angemessen auseinandersetzen zu können? Jede Auseinandersetzung mit Antisemitismus im Bildungsbereich braucht eine Kontextualisierung im Sinne einer Anknüpfung an Verständnisse, Problemwahrnehmungen und Erfahrungen der Beteiligten. Solche Überlegungen sind Voraussetzung für nachhaltige Bildungsprozesse, die Lernende in die Lage versetzen können, ihre eigenen Haltungen ebenso wie gesellschaftliche Bedingungen und Verhältnisse kritisch zu reflektieren. Diese Anforderung richtet sich zuallererst auch an die Lehrpersonen. Ansonsten läuft Bildungsarbeit gegen Antisemitismus Gefahr, bestenfalls auf Bekenntnisse anstelle von Erkenntnissen abzuzielen und die Beziehung der Lehrenden und Lernenden zum Lerngegenstand auszuklammern. Dass rund drei Viertel von 1.181 schriftlich befragten Wiener Schüler:innen der 9. Schulstufe den Begriff Antisemitismus nicht nach grundlegendsten Kriterien („gegen Juden sein“) richtig beschreiben können (Mittnik u. a. 2021, 55) bzw. es nicht der Mühe wert finden, das auch zu tun (am häufigsten wurde keine Antwort gegeben, je nach Schultyp von 43 bis 84 % der Befragten), verstehe ich als deutlichen Hinweis auf Probleme bei der Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der Schule, die nicht abgekoppelt von der Lehrer:innenausbildung und gesellschaftlichen Diskursen über Antisemitismus zu betrachten sind. Antisemitismus kommt im Lehrplan für Geschichte und Sozialkunde/ Politische Bildung in der Sekundarstufe I (2016) nur im Zusammenhang mit dem Holocaust/der Shoah und der NS-Vernichtungspolitik vor. Die historische Kontextualisierung von Antisemitismus mit dem Holocaust ist notwendig – allein deshalb, weil der Holocaust stattgefunden hat. Der Holocaust ist wegen seiner Unfassbarkeit als alleiniger Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 207 Antisemitismus allerdings deshalb schwierig, weil er die moralische Ablehnung von Antisemitismus besonders leicht und zugleich die kritische Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der Gegenwart bzw. auch mit antisemitischen Kontinuitäten besonders schwer macht. Leichter in der Gegenwart verortet werden können Antisemitismen als Differenzkonstruktionen, die eine konstruierte „Wir-Gruppe“ auf- und „die Anderen“ abwertet. Antisemitismus hat diesbezüglich als Form von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (GMF) Gemeinsamkeiten zum Beispiel mit Rassismus, Sexismus oder Islamfeindlichkeit. Das Potenzial einer solchen Kontextualisierung macht aus, dass auf der Basis dieser Gemeinsamkeiten unterschiedlichste Ausgrenzungserfahrungen in der Gesellschaft zu Anknüpfungspunkten für die Auseinandersetzung mit Antisemitismus werden und einen relevanten Teil der Funktion von Antisemitismus in der Gesellschaft sichtbar machen können (Lauss/Schmid-Heher 2020). Ein mögliches Problem liegt in einer Gleichsetzung von Antisemitismus mit anderen Formen von GMF, weil sie wesentlichen Aspekten des Antisemitismus nicht gerecht wird. Denn Antisemitismus funktioniert als Welterklärungsmodell, weil er Jüdinnen und Juden abwertet und ihnen zugleich eine fantasierte Allmacht zuschreibt, wohingegen andere Formen von GMF „die Anderen“ immer als Bedrohung „von unten“ verorten. Aus diesem Grund können unterschiedlichste Verschwörungstheorien praktisch nie auf Antisemitismus verzichten. Zugleich zeigen sie auch, wie Antisemitismus in Verbindung mit anderen Formen von GMF und Autoritarismus auftritt. Der Nahostkonflikt als Zusammenhang für die Auseinandersetzung mit Antisemitismus ist gleichermaßen herausfordernd wie wichtig. Er ist herausfordernd als komplexer und mit vielen unterschiedlichen Interessen belasteter bzw. von diesen befeuerter Konflikt. Wichtig und in vielen Zusammenhängen unvermeidbar ist seine Thematisierung, weil der Nahostkonflikt Kristallisationspunkt für israelbezogenen und sekundären Antisemitismus ist. Besonders relevant erscheint mir, dass die Existenz Israels als jüdischer Staat mit der Verankerung des Antisemitismus in den europäischen Nationalstaaten, mit dem NS-Antisemitismus und in weiterer Folge auch mit dem Antisemitismus in den Nachbarländern Israels bzw. anderen arabischen Ländern untrennbar zusammenhängt. Antisemitismus ist ein grundlegendes Hindernis für eine Lösung des Nahostkonflikts oder für Fortschritte in diese Richtung, aber nicht seine einzige Ursache. Aus diesem Grund verlangt der Nahostkonflikt nach einer multiperspektivischen Betrachtung und kann nicht auf Antisemitismus reduziert werden. Darüber hinaus gibt es weitere Möglichkeiten, antisemitismuskritische Bil- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 208 dungsarbeit zu kontextualisieren, wie zum Beispiel kulturelle, religiöse bzw. theologische Perspektiven oder die kritische Beschäftigung mit verkürzter Globalisierungs- bzw. Kapitalismuskritik und Verschwörungstheorien. Die Auswahl des Kontexts hängt von gesellschaftlichen Problemwahrnehmungen, der Lerngruppe und dem fachlichen Rahmen ab. Die drei genannten Anknüpfungspunkte – der Holocaust, GMF bzw. Differenzkonstruktionen und der Nahostkonflikt – halte ich im Hinblick auf ihre aktuelle gesellschaftliche Relevanz aber für zentral. 4 Was ist Ihrer Ansicht nach in Bezug auf Antisemitismus für die Schule besonders bedeutsam? Viele Rahmenbedingungen beeinflussen, wie und was in der Schule gelernt wird. Der unmittelbar bedeutendste Faktor für das Geschehen im Klassenraum ist jedoch immer die Lehrperson. Für besonders zentral halte ich in diesem Zusammenhang, was Lehrer:innen als Antisemitismus wahrnehmen und ob bzw. insbesondere warum sie die Auseinandersetzung mit Antisemitismus für wichtig halten. Für beide Fragen maßgeblich ist die eigene, reflexive Auseinandersetzung der Lehrperson mit Antisemitismus in der Gesellschaft, die auch ein zentraler Ausgangspunkt für die in diesem Zusammenhang notwendige fachwissenschaftliche Fundierung ist. Wenn also eine Lehrperson bspw. nur Angriffe gegen oder Herabwürdigungen von Jüdinnen und Juden mit offen ausgesprochenem Bezug auf deren Jüdischsein als Antisemitismus wahrnimmt, ist das ein erstes Hindernis für die Bildungsarbeit gegen Antisemitismus. Solche limitierten Wahrnehmungen machen es leicht, Antisemitismus zurückzuweisen und dabei gleichzeitig Antisemitismus zu reproduzieren, zum Beispiel durch mangelnde oder einseitige Auseinandersetzung mit dem Nahostkonflikt, geschichtspolitischen Debatten, verkürzter Kapitalismuskritik oder durch die grundsätzlich fehlgeleitete Suche nach Erklärungen für Antisemitismus im Verhalten von Jüdinnen und Juden. In einem engen Zusammenhang mit der Wahrnehmung von Antisemitismus sehe ich die Motivation zur Arbeit gegen Antisemitismus. Geht es primär darum, eine möglichst große Distanz zwischen sich bzw. dem eigenen gesellschaftlichen Umfeld und Antisemitismus herstellen zu wollen und bestimmten Normen zu entsprechen? Oder wird Antisemitismus als gesellschaftlich prägend erkannt und daher insbesondere im eigenen Umfeld kritisch wahrgenommen? Besonders bedeutsam in Bezug auf die Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der Schule ist also eine (selbst-)reflexive Grundeinstellung der Lehrperson und der Anspruch, eine solche auch bei den Schüler:innen zu fördern (Radvan 2010). © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 209 5 Welche Präventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich zur Vorbeugung von Antisemitismus? Barbara Schäuble unterteilt antisemitismuskritische Bildungsangebote nach ihrer Herangehensweise in „Lernen über, Lernen aus, Lernen gegen und Lernen wegen Antisemitismus“ (Schäuble 2012, 174). Während beim Lernen über Antisemitismus die Aneignung von Wissen über Formen und Geschichte von Antisemitismus im Mittelpunkt steht, zielt Lernen aus Antisemitismus auf moralische Schlussfolgerungen der Lernenden aus der Verfolgung von Jüdinnen und Juden ab. Beide Ansätze haben ihre Berechtigung, aber sind zur Prävention von Antisemitismus in vielen Fällen nicht geeignet – vor allem dann, wenn die Lernenden nicht bereits die Motivation dazu mitbringen. Allein aus Wissen über Antisemitismus ergibt sich weder eine kritische Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der Gegenwart noch mit eigenen Einstellungen dazu. Das gilt auch für Wissen über das Judentum. Bei Lernen aus Antisemitismus muss hinterfragt werden, inwieweit die gewünschten Ergebnisse bereits vorgegeben sind und lediglich nachvollzogen werden sollen oder ob tatsächlich historischpolitisches Lernen stattfindet. Angebote aus dem Bereich Lernen gegen Antisemitismus können Antisemitismus direkt oder über die Beschäftigung bspw. mit Menschenrechten oder Vorurteilen thematisieren. Wenn die kritische Auseinandersetzung mit Antisemitismus angestrebt wird, muss eine solche auch explizit stattfinden. Allein von der Nennung von Antisemitismus als ein Beispiel neben anderen Vorurteilen oder Menschenrechtsverletzungen kann kaum eine präventive Wirkung erwartet werden. Eine Herausforderung für solche Bildungsangebote ist immer, dass sie einerseits von vornherein gegen jeden Antisemitismus Position beziehen müssen. Andererseits müssen sie so weit subjektorientiert sein, dass bei den Teilnehmer:innen vorhandene antisemitische Vorstellungen und Einstellungen auch geäußert bzw. thematisiert werden können, denn Lernen gegen Antisemitismus findet nicht in einem antisemitismusfreien Raum statt. Eine Tabuisierung von Antisemitismus als Ergebnis des Bedürfnisses nach Distanz zu Antisemitismus und einer Abwehrhaltung gegenüber einer Auseinandersetzung behindert Lernprozesse. So notwendig eine kompromisslose Zurückweisung von Antisemitismus ist, so geht von ihr allein keine nachhaltige Prävention aus. Die vierte Kategorie – Lernen wegen Antisemitismus – beschreibt Bestrebungen, im Zusammenhang mit verschiedensten Themen andere als antisemitische Deutungen und Orientierungen anzubieten. Dieser Anspruch widerspiegelt den zentralen Stellenwert einer kritischen Auseinandersetzung mit Antisemitismus © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 210 für die Politische Bildung. Viele wichtige Themenfelder der Politischen Bildung, wie zum Beispiel Medienkritik, Corona-Krise (zumindest in den Jahren 2020/21), Reichtum und Armut, Legitimation und Kritik von Macht, bringen große Herausforderungen für die Orientierung in einer demokratischen Gesellschaft mit sich und sind deshalb auch Kristallisationspunkte antisemitischer Welterklärungsmodelle. Gute Politische Bildung reflektiert diese gesellschaftlichen Verhältnisse, macht sie aus mehreren Perspektiven zugänglich, befähigt zur (selbst-)reflexiven Auseinandersetzung mit politischen Schlüsselproblemen und fördert eigenständige Urteilsbildung sowie demokratische Mitwirkung. Damit wird Prävention gegen Antisemitismus geleistet, auch wenn Antisemitismus unter Umständen gar nicht thematisiert wird. 6 Welche Interventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich bei Vorfällen von Antisemitismus? Jede Form von Antisemitismus verlangt nach einer Intervention. Im Bildungsbereich wird das in der Regel eine pädagogische Intervention sein, sofern ein Erfolg nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Das kann in einer konkreten Situation der Fall sein, wenn ein Vorfall von Antisemitismus im Zusammenhang mit manifesten antisemitischen Einstellungen des Verursachers oder der Verursacherin steht und keine Bereitschaft zu einer Auseinandersetzung darüber gegeben ist. Auch wenn das vermutlich nur bei einer verhältnismäßig geringen Zahl an antisemitischen Vorfällen zutreffen wird, muss mitbedacht werden, dass antisemitismuskritische Bildung niemandem aufgezwungen werden kann. Jede pädagogische Intervention ist auch eine Prävention gegen eine mögliche weitere antisemitische Radikalisierung. Je nach Vorfall sind auch im Bildungsbereich straf- oder schul- bzw. dienstrechtliche Konsequenzen nötig. Mangels Erfahrungen und spezifischer Kenntnisse blende ich diesen Bereich aus. Ich beziehe mich also nur auf Antisemitismus von Lernenden in einer Unterrichtssituation, wobei das Lehrer:innen in Aus- bzw. Fortbildungen miteinschließt. Im Fall einer pädagogischen Intervention gegen Antisemitismus gibt es grundsätzlich zwei Zielsetzungen, die in Konkurrenz zueinanderstehen können und daher je nach Situation gewichtet werden müssen. Erstens muss durch die kompromisslose Ablehnung von Antisemitismus gegenüber allen Beteiligten bzw. Beobachtenden klargemacht werden, dass Antisemitismus menschenfeindlich und antidemokratisch ist und in der Schule bzw. Bildungseinrichtung nicht toleriert wird. Zweitens sollen der bzw. die Verursacher:in in die Lage versetzt werden, antisemitische Einstellungen zu reflektieren und zu problematisieren, © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 211 um sich in der Situation oder auch danach andere als antisemitische Orientierungen aneignen zu können. Die Zurückweisung von Antisemitismus bzw. antisemitischer Äußerungen soll und muss nicht mit der persönlichen Zurückweisung des bzw. der Urheber:in dieser Äußerungen einhergehen, aber sie kann eine Konfrontation auslösen und weitere Lernprozesse erschweren. Meiner Erfahrung nach unterscheiden sich hier die Voraussetzungen bei Lehrer:innen und Schüler:innen insofern, als es Lehrer:innen bzw. Lehramtsstudierenden in der Regel ein Anliegen ist, keinesfalls als antisemitisch wahrgenommen zu werden. Unabhängig davon, ob das dem tatsächlichen Selbstverständnis der jeweiligen Person entspricht oder ob es sich womöglich bloß um eine strategische Distanzierung handelt, erschwert das eine kritische Intervention gegen Antisemitismus. Für Schüler:innen ist ein vermeintlicher oder tatsächlicher Antisemitismusvorwurf nicht im gleichen Maße ein Problem. Im Gegenteil erscheint es möglich, dass Schüler:innen Antisemitismus auch bewusst als Tabubruch einsetzen. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit können beide Ausgangslagen Konfrontationen begünstigen und damit nicht nur bei dem bzw. der Urheber:in, sondern unter Umständen auch bei einem größeren oder kleineren Teil der gesamten Lerngruppe eine kritische und reflexive Auseinandersetzung mit Antisemitismus erschweren. Schon das klare Benennen von Antisemitismus kann vor diesem Hintergrund eine Hürde sein. Je offener und unverhohlener Antisemitismus geäußert wird, je direkter er sich gegen die persönliche Integrität von bestimmten Menschen richtet, desto notwendiger ist das direkte Benennen und Verurteilen des geäußerten Antisemitismus. Sollte ein Mensch in der Lerngruppe – jüdisch oder auch nicht jüdisch – antisemitisch angegriffen werden, hat die Parteinahme für den bzw. die Betroffenen und gegen Antisemitismus immer Priorität. Wenn es in einem konkreten Fall bspw. um eine einseitig verzerrte, antiisraelische und latent antisemitische Darstellung des Nahostkonflikts geht, kann es sinnvoller sein, diese zunächst nur mit Verweis auf antisemitische Deutungen zu problematisieren und andere Perspektiven zugänglich zu machen, als den verklausulierten Antisemitismus sofort zu benennen und damit auch zu verurteilen. Eine einheitliche Interventionsstrategie zum Beispiel in Form vorgegebener Handlungsmöglichkeiten halte ich nicht für möglich und daher auch nicht für zielführend. Je umfangreicher und tiefgehender sich die intervenierende Person mit Antisemitismus auseinandergesetzt bzw. insbesondere sich selbst dazu in Beziehung gesetzt hat, desto eher kann sachlich differenziert, subjektorientiert und zugleich unmissverständlich gegen Antisemitismus interveniert werden. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 212 7 Wo erkennen Sie in Ihrem Fachbereich Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten, um künftigen Lehrpersonen in der Lehrer:innen-Aus- und Weiterbildung eine Auseinandersetzung mit Antisemitismen zu ermöglichen? Die Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit Antisemitismen sind guter Politischer Bildung immanent. Nichtsdestotrotz halte ich es für wesentlich, dass Antisemitismus auch thematisiert wird und nicht wegen eines vermeintlichen oder tatsächlichen Konsenses gegen Antisemitismus als Nischenthema missverstanden wird. In vielen Fällen kommen erst dabei die eigenen Prägungen zum Vorschein und können reflektiert werden. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist es, die Professionalisierung der Politischen Bildung in Österreich voranzutreiben und den Stellenwert der Politischen Bildung in der Aus- und Fortbildung aller Lehrer:innen deutlich zu erhöhen. Eine solche Aufwertung der Politischen Bildung ist angesichts der vielfältigen Herausforderungen in einer Demokratie und der Erwartungen an die Schule in diesem Zusammenhang notwendig. 8 Welche Forderungen und Wünsche, auch Hoffnungen oder Befürchtungen haben Sie im Hinblick auf eine Zukunft mit weniger / ohne Antisemitismus? Meine Hoffnung ist, dass die zunehmende Sensibilität gegenüber Antisemitismus in Politik, Medien und Gesellschaft verstärkt zum Ausgangspunkt für eine kritische Auseinandersetzung mit den Grundlagen und Funktionen von Antisemitismus wird. Zum Teil war bzw. ist das bereits der Fall, wie etwa die Studien Antisemitismus 2018 und 2020 im Auftrag des Parlaments und die politischen Überlegungen zur Entwicklung von Strategien gegen Antisemitismus deutlich machen. Mit diesen positiven Entwicklungen sind insofern auch Befürchtungen verbunden, als nicht jede Form der Positionierung gegen Antisemitismus geeignet ist, tatsächlich gegen Antisemitismus zu wirken und manche Ansätze darüber hinaus problematisch sind. Es ist beunruhigend, wie sich in Deutschland und Österreich auch rechtsextreme Parteien der Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Antisemitismus zu entledigen versuchen, indem sie Antisemitismus zu einem genuin muslimischen Problem erklären. In diesem Zusammenhang besorgen mich auch Konstruktionen wie das „christlich-jüdische Abendland“ oder der „importierte Antisemitismus“, die in weiten Teilen der Gesellschaft mitgetragen werden. Sie entlasten die Mehrheitsgesellschaft von der Auseinandersetzung mit Antisemitismus und legitimieren antimuslimischen Rassismus und Islamfeindlichkeit. Nicht zuletzt deshalb können sie keinen Beitrag zu einer © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 213 kritischen Auseinandersetzung mit dem tatsächlichen Problem antisemitischer Einstellungen in der muslimischen Community leisten. Ein Auftreten gegen Antisemitismus, das nicht auch ein Bewusstsein gegen andere Feindbilder und ausschließende Identitätskonstruktionen schafft, bleibt meiner Ansicht nach hinter seinen Möglichkeiten und Ansprüchen zurück. An anderer Stelle, nämlich bei vorwiegend jungen Menschen, die vielfach gegen Diskriminierung auftreten, besorgt mich die mangelnde Bereitschaft zur reflektierten Auseinandersetzung mit den eigenen Perspektiven auf Israel und den Nahostkonflikt. Wenn etwa Israel, wie zuletzt im Mai 2021, als einzigem Staat das Recht abgesprochen wird, sich gegen terroristische Raketenangriffe militärisch zu verteidigen und seine Bürger:innen zu schützen, ist das eine Form von Antisemitismus und das muss als solcher problematisiert werden. Auch die Corona-Krise hat zuletzt gezeigt, wie rasch Antisemitismus in für die Demokratie herausfordernden Krisenzeiten an öffentlicher Präsenz gewinnen kann. Eine Zukunft ohne Antisemitismus ist wohl utopisch, aber die Auseinandersetzung mit und das entschlossene Auftreten gegen jeden Antisemitismus ist eine reale Notwendigkeit. LAUSS, Georg/Schmid-Heher, Stefan (2020): Zum Umgang mit Antisemitismus und anderen Formen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in der Berufsschule. In: Hagen, Nikolaus/ Neuburger, Tobias (Hg.): Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft. Theoretische Überlegungen, Empirische Fallbeispiele, Pädagogische Praxis. Innsbruck, S. 161-183. MITTNIK, Philipp/Lauss, Georg/Hofmann-Reiter, Sabine (2021): Generation des Vergessens? De- klaratives Wissen von Schüler*innen über Nationalsozialismus, Holocaust und den Zweiten Weltkrieg. Frankfurt/M. RADVAN, Heike (2010): Pädagogisches Handeln und Antisemitismus. Eine empirische Studie zu Beobachtungs- und Interventionsformen in der offenen Jugendarbeit. Bad Heilbrunn. SALZBORN, Samuel (2010): Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Sozialwissen- schaftliche Theorien im Vergleich. Frankfurt/M. SCHÄUBLE, Barbara (2012): „Über“, „aus“, „gegen“ oder „wegen“ Antisemitismus lernen? Begrün- dungen, Themen und Formen politischer Bildungsarbeit in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus. In: Gebhardt, Richard/Klein, Anne/Maier, Markus (Hg.): Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft. Beiträge zur kritischen Bildungsarbeit. Weinheim, S. 174-191. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 214 STEFAN SCHMID-HEHER war zehn Jahre als Berufsschullehrer mit dem Schwerpunkt Politische Bildung tätig. Seit 2015 arbeitet er als Hochschullehrer am Zentrum für Politische Bildung an der Pädagogischen Hochschule Wien in den Bereichen Lehrer:innen-Aus- und -Fortbildung, Forschung, Entwicklung von Lernmaterialien und Projekten. Seine Schwerpunkte sind Politische Bildung in der Berufsbildung sowie Demokratiekompetenz als Ziel des politischen Lernens. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 215 SEBASTIAN WINTER Benennen von Unbehaglichem 1 Gibt es in Ihrem Fachbereich Berührungspunkte mit Antisemitismus? Die Antisemitismusforschung ist von Anfang an ein zentrales Thema der psychoanalytischen Sozialpsychologie. Sigmund Freud lebte als Jude in dem Vielvölkerstaat der k.u.k. Monarchie, schwankend zwischen patriotischen Inklusionshoffnungen und Abscheu vor dem Alltagsantisemitismus, der ihn umgab. Seine noch heute wichtigen Überlegungen zur Psychologie der Massen und zu den Identifikations- und Ausschlussmechanismen nationaler Vergemeinschaftungen und der „Religion der Liebe“ entwickelte er vor diesem Hintergrund. Die Affinität der psychoanalytischen Sozialpsychologie zur Antisemitismusforschung liegt aber auch daran, dass ihr konflikttheoretischer Fokus auf Ambivalenzen, Doppeldeutigkeiten und auf dem identitätszersetzenden Unbewussten eine Ähnlichkeit zu dem besitzt, was das antisemitische Feindbild auszeichnet. Nicht zufällig wurde die Psychoanalyse oft als „jüdische Wissenschaft“ geschmäht. Eine aktuelle Herausforderung für diese Sozialpsychologie stellen die Intersektionalitätsforschung und die mit ihr verbundenen Identitätspolitiken dar. Deren Herrschaftstheorie (Gesellschaft als ein facettenreiches Geflecht von „oben gegen unten“-Konstellationen) bleibt hilflos gegenüber der Spezifik des Antisemitismus, nicht Herrschaft zu rechtfertigen, sondern sich als „Rebellion gegen oben“ zu imaginieren. Forscher:innen und Aktivist:innen in diesem Feld rutschen trotz ihrer emanzipatorischen Ideale und bester Absichten nicht ganz selten selbst in subtil antisemitisch eingefärbte Argumentationen ab (meist in israelbezogenen Kontexten). Die zugrunde liegenden identitätsstiftenden © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 216 Fantasmen aufzuklären, kann eine wichtige Aufgabe der Sozialpsychologie als selbstkritischem Moment in der Wissenschaftskultur sein. 2 Gab es für Sie Anlässe, sich mit Antisemitismen im Bildungsbereich zu beschäftigen? Einer der Anlässe für meine eigene ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus – mein Familienhintergrund ist ein nichtjüdisch-deutscher – war ein Streit in der Studierendenschaft während meines Studiums an der Leibniz Universität Hannover kurz nach der Jahrtausendwende. Diese Auseinandersetzung hat mich auch einiges an meiner eigenen politischen Biografie in einem neuen, nicht unbedingt angenehmen Licht sehen lassen. Die Antifa AG des Allgemeinen Studierendenausschusses (AStA) hatte ein Flugblatt verbreitet, auf welchem das Westjordanland als Käse dargestellt wurde, der von mit Davidsternen als Juden markierten Ratten durchlöchert wird. Auch der übrige Text des Flugblattes ist ein gutes Beispiel für das, wofür sich später der Begriff „israelbezogener Antisemitismus“ etablieren sollte. Der Streit über dieses Flugblatt wurde erbittert und auch persönlich geführt, letztlich entzog der AStA der Antifa AG die Unterstützung. Damals stellten sich unausweichlich Fragen nach Bündnissen gegen den Antisemitismus – kann man gemeinsam mit dem RCDS gegen „Genoss:innen“ abstimmen? Wieso können „Rechte“ gegen Antisemitismus sein? Wo liegen die Grenzen der Solidarität, wenn sich antisemitische Akteur:innen selbst für „links“ halten und auch von anderen so wahrgenommen werden? Wie unterscheiden sich emanzipatorische von antisemitischen Positionen? Vor allem aber wurde das Problem deutlich, dass Antisemitismus oftmals nicht als solcher wahrgenommen wird, seine Existenz einfach abgestritten wird und er daher auch in einem sozialen Umfeld existieren kann, in dem seine manifeste Ablehnung selbstverständlicher Konsens ist. 3 In welchen Kontexten bzw. im Rahmen welcher Konzepte sollten Ihrer Ansicht nach Antisemitismen an Schulen, Hochschulen und in der Öffentlichkeit betrachtet werden, um sich damit angemessen auseinandersetzen zu können? Erstens muss der Unterschied zwischen Rassismus und Antisemitismus ganz deutlich gemacht werden. Antisemitismus ist eine „konformistische Rebellion“. Antisemit:innen halten sich für Freidenker:innen, mutige Nonkonformist:innen, Kämpfer:innen für die Ausgebeuteten, eventuell auch für Antirassist:innen. Eine moralische Verurteilung von Gewalt und Unterdrückung bleibt gegen diese selbstgerechte Haltung wirkungslos. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 217 Zweitens sollte die Auseinandersetzung mit Antisemitismus nicht auf der kognitiven Ebene verbleiben. So wichtig es auch ist, Verschwörungsmythen mit Fakten und Argumenten zu begegnen, so enttäuschend ist oft das Ergebnis. Antisemitismus ist nicht nur ein aufzuklärendes Vorurteil, eine einfache Welterklärung für denkfaule Leute, sondern – so hat Jean-Paul Sartre es auf den Begriff gebracht – eine „Haltung“. Diese schließt die affektive Ebene mit ein. Gefragt werden muss: Warum „will“ jemand eine antisemitische Haltung einnehmen? Was bringt diese Haltung ihm:ihr affektiv? Das „Rebellische“ am Antisemitismus basiert nicht auf einer Bewusstmachung von Gewaltmechanismen und sozialem Elend, sondern auf deren Unbewusstmachung, die statt Kritik Ressentiment hervorbringt. Ressentiment, der selbstgerechte Groll gegen die angeblich heuchlerischen Eliten „da oben“, vermeidet ohnmächtigen Neid, Abhängigkeits- und Schamgefühle, aber auch potenziell ermächtigende Wut, wertet stattdessen das Ersehnte als böse ab und lauert auf die Gelegenheit, es zu zerstören. Kritik klagt das Versprechen ein, Ressentiment verwirft es. Gegen „die liberalen Globalisten“ zu wettern, ist nicht der noch unpräzise Beginn einer demokratisch-mündigen Haltung, sondern es ist ihr entgegengesetzt, gefährdet sie. Am Ressentiment kann politische Bildung nicht positiv ansetzen. Die Aufmerksamkeit für das Ressentiment sollte aber keinesfalls zum Verurteilen von (gerne auch um Radikalität bemühter) Kritik seitens der Schüler:innen oder Student:innen führen, im Gegenteil. Kritik und Ressentiment sind zwei konkurrierende (aber oft gleichzeitig vorhandene) Haltungen. Das gilt es, kognitiv und affektiv zu vermitteln. Drittens sollte in Deutschland die historische Entwicklung vom Schuldabwehrantisemitismus über den Schuldanerkennungsantisemitismus hin zum aktuell erstarkenden Neo-Schuldabwehrantisemitismus beachtet werden. Über Antisemitismus zu reden, ohne dass Assoziationen zum Nationalsozialismus im Raum sind, ist unmöglich. Das heißt nicht, dass jener nur ein Thema für den Geschichtsunterricht wäre, wohl aber, dass das Reden über ihn gefüllt ist mit unterschwellig tradierten Schamgefühlen, die 1) durch eine wütende Vergangenheitsverleugnung und -tabuiserung abgewehrt, 2) durch mustergültiges Verhalten zu beschwichtigen versucht oder 3) erneut unter dem Vorzeichen der „gelungenen Aufarbeitung, auf die man stolz sein kann“, als „Schuldkult“ wieder abgewehrt werden. Teilnehmer:innen mit Migrations- statt Nazihintergrund können dabei ebenso zu Gegner:innen werden, auf die das Übel projiziert wird, wie zu Bündnispartner:innen, die sich in ihrem Ressentiment ebenfalls von Israel gegängelt fühlen. Diese unbehaglichen Gefühlswelten und Konstellationen sind ernst zu nehmen, zu explizieren und besprechbar zu machen. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 218 4 Was ist Ihrer Ansicht nach in Bezug auf Antisemitismus für die Schule besonders bedeutsam? Es fehlt entgegen der Selbsteinschätzung vieler Lehrkräfte oft an Wissen, aber auch an Willen, um Antisemitismus bei den Schüler:innen und bei sich selbst zu erkennen. Mal wird er muslim:innenfeindlich nur bei „den Anderen“ skandalisiert (was auch die Wahrnehmung des realen islamistischen Antisemitismus erschwert), mal wird er übersehen, weil er nicht als rassistische Gewalt auftritt und die Lehrkräfte das Ressentiment gegen Israel oder die „Globalisten“ sogar teilen oder zumindest für legitim halten. In der pädagogischen Präventionsarbeit haben sich die anschaulichen „3 D“ zur Kennzeichnung antisemitischer Bezugnahmen auf Israel durchgesetzt: Dämonisierung, Delegitimierung und doppelte Standards: Wenn Israel dämonisiert wird („Israelis entführen palästinensische Kinder, um ihre Augen herauszuoperieren und eigenen blinden Kindern einzusetzen“), wenn seine Existenz delegitimiert wird („From the river to the sea, Palestine will be free“), wenn doppelte Standards angewendet werden (Israel unterdrückt Palästinenser:innen → Empörung, die Hamas unterdrückt Palästinenser:innen → Schweigen), dann handelt es sich bei diesen Wahrnehmungsmustern um israelbezogenen Antisemitismus. Denn die drei D markieren Indizien dafür, dass hier etwas nicht stimmt in der Argumentation, dass ein Ressentiment, ein affektgeladener Vorbehalt der Argumentation unterliegt und den Blick verzerrt. Das sollte erkannt und benannt werden. 5 Welche Präventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich zur Vorbeugung von Antisemitismus? Um die Ebene der „affektiven Attraktivität“ des Antisemitismus anzusprechen, bedarf es gar nicht immer der expliziten Thematisierung von Antisemitismus, sondern der durch ihn verdeckten Nöte und Ängste der Heranwachsenden. Dazu gehören beispielsweise Fragen der adoleszenten Identitäts- und Narzissmusentwicklung (Bin ich so, wie ich sein will/sein soll? Das illusionäre Größenempfinden der antisemitischen Gemeinschaft verheißt ein Heil jenseits solcher Zweifel) ebenso wie Fragen nach den Diskriminierungserfahrungen in dem Intersektionalitätengeflecht der Migrationsgesellschaft (Antisemitismus kann als integrierendes Moment einer Schulgemeinschaft dienen, das rassistische Spaltungslinien relativiert). Jüdinnen und Juden sollten in den Präventionskonzepten nicht unsichtbar © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 219 gemacht werden und deren Adressat:innen sollten nicht nur die nichtjüdischen Schüler:innen sein, sondern die Atmosphäre, die in der jeweiligen Einrichtung herrscht. Und dazu gehört die Sichtbarkeit selbstbewussten jüdischen Lebens. Unabdingbarer Bestandteil einer guten Antisemitismus-Prävention ist selbstverständlich das konsequente Eingreifen bei antisemitischen Handlungen, nicht nur, aber eben auch, wenn sich das Ressentiment konkretisiert und als Beleidigung oder tätliche Gewalt gegen Mitschüler:innen oder Kolleg:innen verwirklicht. 6 Welche Interventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich bei Vorfällen von Antisemitismus? Vor einigen Jahren gab es an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/Holzminden/Göttingen (HAWK) einen sogenannten „Antisemitismus-Vorfall“. Seit Jahren hatte regelmäßig ein Seminar stattgefunden, geleitet von einer Lehrbeauftragten, das mehrfach von Studierenden und Kolleg:innen als unwissenschaftlich und israelfeindlich kritisiert worden war – ohne dass dies Folgen gehabt hatte. Erst nachdem Seminarunterlagen geleakt und an die Medien gegeben worden waren, folgte ein mediales Echo. Letztlich führte dies zur Nichtverlängerung des Lehrauftrags. Der erste kritische Bericht über das Seminar erschien auf dem muslimenfeindlich-rassistischen Blog PINews – ein Beispiel sowohl für die rassistische Instrumentalisierung des Antisemitismus als auch für die Schweigsamkeit der breiten Öffentlichkeit. In den folgenden Wochen thematisierten die Presse-Schlagzeilen dann eher die „Antisemitismusvorwürfe“, nicht die fraglichen Inhalte des Seminars. Der Konflikt spitzte sich auf die abstrakte Frage der „Meinungsfreiheit“ zu. Doch die Spannung besteht nicht zwischen Meinungsfreiheit und Diskriminierungsverbot, sondern zwischen Meinungen und deren selbstkritischer Wendung, die sie überhaupt erst diskutierbar machen. Die Bereitschaft, vorgefasste Meinungen wieder infrage zu stellen und eventuell als eigene Wunschbilder zu erkennen, bildet das progressive Moment im (wissenschaftlichen) Denken. Fehlt diese, verkommen „Meinungen“ zu „Rationalisierungen“ – d. h. sie orientieren sich nicht länger am Gegenstand, sondern sind ganz Ausdruck des subjektiven, auch affektiven, vielleicht unbewussten Wollens, das nachträglich plausibel klingende Erklärungen findet. Niemand ist Antisemit:in, weil er/sie denkt, dass Juden Organe palästinensischer Kinder verkaufen, sondern er/sie denkt dies, weil er/sie eine antisemitische Haltung einnimmt und dann eine konkrete Begründung dafür benötigt. „Vernunft im Dienste der Unvernunft“ hat Theodor W. Adorno dies genannt. Kaum jemand will heute ein:e Antisemit:in sein. Aber viele fühlen sich © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 220 trotzdem davon bedroht, als Antisemit:in kritisiert zu werden, wenn sie ihren Gedanken bezüglich Israel freien Lauf lassen würden. Sie wollen Israel kritisieren dürfen, ohne sich deshalb als Antisemit:in bezeichnen lassen zu müssen – der „Antisemitismus-Vorwurf“ wird empört zurückgewiesen. Die Debatte um den Antisemitismus reduziert sich dann auf ein identifikationslogisches Denken: Was ist antisemitisch? Ist dies antisemitisch oder das? Ist der da ein Antisemit oder nicht? Damit ist – so wichtig es auch ist, antisemitische Positionen als solche zu benennen – noch wenig gewonnen, denn es geht um komplexe Haltungen – und wen das Ressentiment trifft, der/die merkt auch ohne komplizierte Definitionen, dass es vorhanden ist. Lernen lässt sich aus dem Diskursverlauf um den „Antisemitismus-Vorfall“ an der HAWK, … • sich nicht auf einen Streit um die Reichweite von Meinungsfreiheit einzulassen, • nicht (nur) auf der Ebene der Rationalisierungen und Definitionen zu argumentieren, sondern auch auf die latenten Dimensionen zu achten • und dabei die antisemitische Weltanschauung genau unter die Lupe zu nehmen, auch wenn sie einem dabei vielleicht unangenehm nahekommt, • nicht der Verlockung zu erliegen, den Antisemitismus muslim:innenfeindlich zu „othern“. 7 Wo erkennen Sie in Ihrem Fachbereich Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten, um künftigen Lehrpersonen in der Lehrer:innen-Aus- und Weiterbildung eine Auseinandersetzung mit Antisemitismen zu ermöglichen? Die Perspektive der psychoanalytischen Sozialpsychologie sollte in der Aus- und Fortbildung von Lehrer:innen gestärkt werden. Sie bietet ein reiches Begriffsinstrumentarium, mit dessen Hilfe sich die „affektive Attraktivität“ des Antisemitismus verstehen lässt („verstehen“ ist nicht dasselbe wie „Verständnis haben“!). Ein solches Verstehen aber ist Voraussetzung für pädagogische Interventionen, die sich nicht mit Wissensvermittlung zur Vorurteilsaufklärung begnügen, sondern auch die von der antisemitischen Haltung verdeckte unbewusste Ebene ansprechbar machen wollen. Zudem sind aus der Psychoanalyse entwickelte Methoden wie die psychodynamische Supervision geeignet, um bei sich selbst und im Kolleg:innenkreis der Ressentimentbereitschaft (die bei niemandem fehlt) nachzuspüren. So kann ihr unerkanntes Agieren erschwert werden. Dabei geht es nicht um gnadenlose Selbstanklage (die auch als Schutzmechanismus dienen kann), sondern um die Bereitschaft, bisherige blinde Flecken zu inspizieren. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 221 8 Welche Forderungen und Wünsche, auch Hoffnungen oder Befürchtungen haben Sie im Hinblick auf eine Zukunft mit weniger / ohne Antisemitismus? Es besteht die Gefahr, dass auch, vielleicht sogar gerade, sich kritisch wähnende Lehrkräfte dem Antisemitismus verständnislos gegenüberstehen, schlechtestenfalls sogar das Ressentiment teilen und ihre davon betroffenen Schüler:innen nicht adäquat beschützen. Eine antirassistische Haltung führt nicht automatisch auch zu einer anti-antisemitischen. Hoffnung liegt in der aktuell verstärkten öffentlich Thematisierung von Antisemitismus (wovon ja auch dieser Sammelband zeugt). Parallel erstarken aber auch antisemitische Stimmungen, bspw. im Umfeld der Querdenker-Bewegung. Letztlich ist für den Kampf gegen den Antisemitismus nicht nur seine direkte Desavouierung nötig, sondern ebenso das Finden von Ausdrucksweisen für individuelles Unbehagen und die Brüchigkeit der Identitätsbildung, für die Entwicklung kritischer Mündigkeit angesichts von Diskriminierungen und sozialem Elend – Möglichkeiten, die der Verlockung des antisemitischen Ressentiments widerstehen und ihm etwas entgegensetzen können. BERNSTEIN, Julia (2020): Antisemitismus an Schulen in Deutschland. Befunde – Analysen Hand- lungsoptionen. Weinheim. BRUNNER, Markus/König, Hans-Dieter/König, Julia/Lohl, Jan (Hg.) (2021): Sozialpsychologie der Massenbildung: 100 Jahre Sigmund Freuds „Massenpsychologie und Ich-Analyse“. Wiesbaden. BRUNNER, Markus/Lohl, Jan/Pohl, Rolf/Winter, Sebastian (Hg.) (2011): Volksgemeinschaft, Tä- terschaft und Antisemitismus. Beiträge zur psychoanalytischen Sozialpsychologie des Nationalsozialismus und seiner Nachwirkungen. Gießen. BUSCH, Charlotte/Gehrlein, Martin/Uhlig, Tom D. (Hg.) (2016): Schiefheilungen. Zeitgenössi- sche Betrachtungen über Antisemitismus. Wiesbaden. GRÜNBERG, Kurt/Leuschner, Wolfgang/Initiative 9. November (Hg.) (2017): Populismus, Para- noia, Pogrom. Affekterbschaften des Nationalsozialismus. Frankfurt/M. HENKELMANN, Katrin/Jäckel, Christian/Stahl, Andreas/Wünsch, Niklas/Zopes, Benedikt (Hg.) (2020): Konformistische Rebellen. Zur Aktualität des autoritären Charakters. Berlin. MENDEL, Meron/Messerschmidt, Astrid (Hg.) (2017): Fragiler Konsens. Antisemitismuskritische Bildung in der Migrationsgesellschaft. Frankfurt/M., New York. STENDER, Wolfram/Follert, Guido/Özdogan, Mihri (Hg.) (2010): Konstellationen des Antisemi- tismus. Antisemitismusforschung und sozialpädagogische Praxis. Wiesbaden. HTTPS://WWW.ANDERS-DENKEN.INFO/ © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 222 SEBASTIAN WINTER , PD Dr., ist Privatdozent an der Leipzig Universität Hannover, Lehrbeauftragter an der International Psychoanalytic University Berlin. Studium der Sozialpsychologie, Soziologie, Geschichte und Gender Studies an der LUH, Promotion mit der Studie „Geschlechterund Sexualitätsentwürfe in der SS-Zeitung Das Schwarze Korps“, Habilitation mit einer Schrift über „Autoritarismus und Geschlecht“; Arbeitsschwerpunkte: Sozialpsychologie von Gemeinschafts- und Feindbildungsprozessen, Autoritarismusforschung, Deutsche „Erinnerungskultur“, Antisemitismusforschung, Misogynie, Anti-Genderismus und männliche Gewalt; Mitherausgeber der Fachzeitschriften „Freie Assoziation“ und „Zeitschrift für Rechtsextremismusforschung“. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 223 RUTH WODAK „Wer schweigt, stimmt zu“ – Die Notwendigkeit von Aufklärung, Dialog und Zivilcourage im Kampf gegen Antisemitismus 1 Gibt es in Ihrem Fachbereich Berührungspunkte mit Antisemitismus? und 2 Gab es für Sie Anlässe, sich mit Antisemitismen im Bildungsbereich zu beschäftigen? An der Universität Wien gab und gibt es Berührungspunkte mit Antisemitismus in ganz verschiedenen Bereichen und aus unterschiedlicher Perspektive: einerseits in der Lehre und in der Forschung, und andererseits in der alltäglichen Interaktion. Drei Begebenheiten sind für mich im Laufe meiner langjährigen Tätigkeit besonders relevant geworden: In der politischen Bildung, in der viele Kolleg:innen viele Jahre hindurch gearbeitet haben, begegnete ich (als langjährige Leiterin eines Seminars zu „Sprache, Macht und Politik“) im Umgang mit Lehrkräften expliziten antisemitischen Vorurteilen; sogar ganz persönlich an/gegen mich gerichtet. Unvergesslich bleibt ein Lehrer, der mich zunächst fragte, welches Parfüm ich verwende; und dann nach meiner Antwort sagte: „Und ich dachte, Juden stinken immer“. Zunächst sprachlos, verwickelten mein Team und ich danach diesen AHS-Lehrer in eine lange und ausführliche Diskussion über Vorurteile, Antisemitismus und die Ursprünge und vielen Manifestationen © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 224 von Antisemitismen in Wort und Bild. Unbelehrbar entschied er sich später, das Seminar zu verlassen. Während der sogenannten „Waldheim-Affäre“ 1986 und des damals vorherrschenden nationalistischen Diskurs (im Sinne von „Jetzt erst recht“) wurde ich vom ehemaligen Vizebürgermeister von Wien, Dr. Erhard Busek, ersucht, eine Studie zum plötzlich wieder wahrnehmbaren „neuen-alten“ Antisemitismus durchzuführen (vgl. Wodak et al. 1990); diese Studie wurde sofort als positives Zeichen immer wieder ins Treffen gebracht, wenn Kolleg:innen aus dem Ausland sich erkundigten, ob es denn Sinn mache, nach Österreich zu reisen, angesichts des hegemonialen ausgrenzenden antisemitischen Diskurses. Gleichzeitig wurde ich im Institut ersucht, ich solle um weitere Projekte ansuchen, denn ich sei ja gut „im Schnorren“ – ein jiddischer Ausspruch, der in diesem spezifischen Kontext auf das Stereotyp der „geldgierigen Juden“ anspielt. Der dritte Vorfall betrifft eine WhatsApp-Gruppe der Jungen ÖVP an der juridischen Fakultät, die explizite rassistische und antisemitische Memes postete. Dies wurde von der Wochenzeitung „Der Falter“ (9.5.2017) aufgedeckt und führte zu einem Skandal. Der damalige Rektor Prof. Heinz Engl beschloss daraufhin, eine Ringvorlesung unter Leitung des Zeithistorikers Prof. Oliver Rathkolb zu initiieren, an der ich eine Einheit zu Antisemitismus übernahm. Diese Ringvorlesung zum Thema Vorurteile wurde mehrfach abgehalten, mit sehr gutem Feedback aus studentischen Kreisen. Andere sehr wichtige Veranstaltungen zum Thema wurden und werden immer wieder mit großem Erfolg vom Peter Ustinov Institut durchgeführt. Im Gegensatz zur Universität Wien herrschte allerdings Anfang 2000 in der Philosophisch-Historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften die Meinung einer kleinen, aber ausschlaggebenden Gruppe von sogenannten wirklichen Mitgliedern vor, dass Rassismus- und Antisemitismusforschung an der ÖAW nichts verloren hätten – solche Forschung sei, so meinten einige Mitglieder, „politisch“ und nicht wissenschaftlich. Im Klartext: Es handelte sich um Aspekte meiner eigenen Forschung im Rahmen meines Wittgenstein-Forschungszentrums ‚Diskurs, Politik, Identität‘, das ich selbst aus den 1996 erhaltenen Preisgeldern finanzierte. Aber das ist eine lange Geschichte, die ich hier nicht ausführen will (vgl. Keller/Wodak 2021). All diese Erfahrungen – und ich könnte noch eine Reihe anderer aufzählen – führten mich dazu, 2001 einen Sammelband im Czernin Verlag zu veröffentlichen mit dem Titel „Das kann einem nur in Wien passieren“. Prominente säkular-jüdische Wissenschaftler:innen, Journalist:innen, Schriftsteller:innen und andere Intellektuelle schilderten darin eigene Erfahrungen mit Alltagsan- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 225 tisemitismus. Das Buch war sehr erfolgreich und alsbald vergriffen. Ich wurde häufig auf das Buch angesprochen, viele Leser:innen schienen überrascht, dass sich tatsächlich solche vorurteilsbehaftete zwischenmenschliche Begegnungen in Wien abgespielt hätten. Viele meinten zunächst, diese seien schlichtweg „erfunden“: Man wollte nicht wahrhaben, dass sich Antisemitismus in unterschiedlichsten Formen im Alltag so vieler Menschen – noch immer oder schon wieder – manifestiert. Insofern sehe ich sicherlich weiteren Handlungsbedarf im Sinne aufklärerischer Veranstaltungen und Materialien, je nach Disziplin und Studienabschnitt. Gerade individuelle Erfahrungen, wie oben geschildert, eignen sich als Einstieg. Soweit ich informiert bin, ist ein Forschungszentrum/eine Forschungsplattform zu „Antisemitismus/Diskriminierung in der Arbeitswelt“ an der Wirtschaftsuniversität Wien im nächsten Jahr geplant, geleitet von Gastprofessor Yochanan Altman. 3 In welchen Kontexten bzw. im Rahmen welcher Konzepte sollten Ihrer Ansicht nach Antisemitismen an Schulen, Hochschulen und in der Öffentlichkeit betrachtet werden, um sich damit angemessen auseinandersetzen zu können? Wie schon oben erwähnt, bieten sich in vielen universitären Kontexten Möglichkeiten an, sich ganz konkret mit Aspekten des Antisemitismus zu beschäftigen. Und zwar sowohl in Lehre, Forschung wie auch, was Alltagserfahrungen der dort Lehrenden und der Studierenden betrifft. In diesem Zusammenhang ist es wichtig – je nach Disziplin und Fachrichtung –, sinnvolle Anknüpfungspunkte zu finden. Da wir in Österreich in einer Migrationsgesellschaft leben, wäre es beispielsweise hilfreich, an Diskriminierungserfahrungen von allen hier lebenden Minderheiten anzuknüpfen. Muster von diskriminierenden Stereotypen, Alltagserfahrungen verpackt in Alltagsgeschichten und Vorurteilsdiskursen ähneln einander. Nachgewiesenerweise ist – wie schon T. W. Adorno und seine Mitarbeiter:innen festgestellt haben (Adorno et al. 1967) – Antisemitismus quasi als Archetypus von ausgrenzenden und diffamierenden Vorurteilen zu verstehen. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 226 4 Was ist Ihrer Ansicht nach in Bezug auf Antisemitismus für die Schule besonders bedeutsam? und 5 Welche Präventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich zur Vorbeugung von Antisemitismus? Natürlich ist zunächst eine Menge an faktischer, v. a. historisch fundierter, Information notwendig, denn viele Menschen aus anderen Regionen und Kulturen besitzen häufig wenig oder gar kein Wissen über die Geschichte des Antisemitismus, ja, nicht einmal über den Holocaust. Andererseits wissen viele wenig oder nichts über Diskriminierungen und Alltagsrassismen, die Menschen aus anderen Minderheiten in ihren ehemaligen Heimaten erlebt haben. Ein Dialog in vielen unterschiedlichen Öffentlichkeiten sollte daher initiiert und gefördert werden – zum Austausch von Erfahrungen, zum Kennenlernen und zum Wissenserwerb. Einen wichtigen Beitrag dazu sollten selbstverständlich die Medien liefern, sowohl die traditionellen Printmedien wie auch TV- und digitale Kanäle. Schwerpunktsetzungen wie beispielsweise im Gedenkjahr 2015 zu „Endphasenverbrechen 1945“ wären zu vielen Aspekten wünschenswert (vgl. de Cillia et al. 2020). Als beispielgebendes Modell wären in diesem Zusammenhang die vielen hervorragenden Initiativen in Schweden zu nennen. Zudem ist es besonders relevant, sich in der Bildungsarbeit nicht ausschließlich auf die Shoah zu beschränken. Vielmehr geht es darum, andere gegenwärtige Formen des Antisemitismus, gerade auch in seiner – zumindest in Westeuropa – noch immer tabuisierten Form, explizit zu machen, zu dekonstruieren. Ein Hinweis auf die Shoah (metonymisch häufig auf „Auschwitz“ bezogen) dient – zumindest manchmal – dazu, andere Formen des Antisemitismus zu verharmlosen. D. h., es sollte besprochen werden, wie in Bild, Text und Wort tagtäglich Anspielungen zu antisemitischen Stereotypen vermittelt werden. Die vielen Formen eines latenten Antisemitismus, der Konstruktion von Sündenböcken, des Antisemitismus „nach Auschwitz“ gehören in Unterrichtsmaterialien didaktisch aufbereitet und gelehrt (Wodak 2019). Das Thema „Israel“ darf ebenfalls nicht vernachlässigt werden – einerseits sind pauschale Generalisierungen zu bestimmten, durchaus auch kritikwürdigen Handlungen der israelischen Regierung nicht auf „alle Israelis“ und schon gar nicht auf „alle Juden und Jüdinnen auf der Welt“ zu beziehen und sind immer Zeichen vorurteilsbehafteten Denkens und Sprechens. Solche Äußerungen un- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 227 terstellen nämlich, dass es eine scheinbar homogene israelische Bevölkerung gibt und entsprechende homogene Meinungen, die so natürlich nicht und in keinem Land bzw. keiner Gesellschaft existieren. Weiter sind manchmal antisemitische Stereotype in eine scheinbar legitime Kritik an Handlungen der israelischen Regierung verpackt, die es zu demaskieren gilt. Und drittens gibt es sicherlich berechtigte Kritik an Handlungen der israelischen Regierung wie an jeder anderen Regierung auch. Auf Doppelmoral und unterschiedliche Bewertungskriterien in Bezug auf Israel ist ebenfalls hinzuweisen. Da gerade dieses Thema oft hochgradig emotionalisiert diskutiert wird, sind Aufklärung und Sachlichkeit besonders gefordert. Zudem ist heutzutage allerorts ein rasanter Aufschwung antisemitischer Verschwörungstheorien zu beobachten, etwa im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie. In diesem Zusammenhang muss deutlich gemacht werden, warum immer dann, wenn es an Erklärungen komplexer Phänomene mangelt, ein Rückgriff auf traditionelle antisemitische Verschwörungstheorien erfolgt. Dass solche einfachen Narrative nicht nur gefährlich sind und für politische Ziele instrumentalisiert werden, sondern auch eine Ablenkung von komplexen Zusammenhängen bedeuten, ist offensichtlich vielen Menschen nicht bewusst. Hier besteht dringender Aufklärungsbedarf (Feldner 2019). Es handelt sich dabei um die sogenannte „Iudeus-ex-machina“-Strategie: Immer, wenn ein Sündenbock gesucht wird, scheinen sich Jüdinnen und Juden dafür am besten zu eignen (Wodak 1989, 2019). 6 Welche Interventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich bei Vorfällen von Antisemitismus? Interventionen sind auf vielen Ebenen möglich, die durchaus im Einzelnen besprochen gehören. Das Verbotsgesetz regelt explizite oder auch latente Äußerungen und die Verwendung von Symbolen, die aus der NS-Zeit stammen oder von Neonazigruppen lanciert werden. Solche Handlungen sind unbedingt anzuzeigen. In einzelnen Interaktionen, wo es zu antisemitischen Äußerungen kommt, sollten die Beteiligten darauf aufmerksam gemacht werden. Es wäre in solchen Fällen wichtig zu wissen, warum solche Äußerungen getätigt werden, welchen Ursprungs sie sind usw. Hier ist Aufklärungsarbeit gefragt. Dazu eignen sich Dialogforen. Kommt es zu Beleidigungen oder gar zu Mobbing von jüdischen Kindern oder Jugendlichen in Schulklassen, so kann beispielsweise der Jugendanwalt der Stadt Wien hinzugezogen werden. Oft kann man Alltagsantisemitismen und Rassismen auf der Straße, in der © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 228 Straßenbahn oder U-Bahn, am Spielplatz oder sogar bei Einladungen beobachten (ich habe oben schon erwähnt, dass dies auch in prominent akademischen Kreisen vorkommt). Es bedarf keiner großen Zivilcourage, hier einzuschreiten. Man kann sich an entsprechende NGOs wenden, wie ZARA, SOS-Mitmensch oder an das Forum gegen Antisemitismus. All diese Möglichkeiten sollten in Schulen besprochen und etwaige Gegendiskurse in Rollenspielen geübt und in Gruppen diskutiert werden. Dazu gibt es hervorragendes Filmmaterial, das gemeinsam mit guter pädagogischer Vorbereitung angeschaut werden kann. Am Institut für Zeitgeschichte gibt es besonders zu filmischen Materialien Lehrveranstaltungen. Die Arbeit des Mauthausen Komitees und die neue Mauthausen-Ausstellung passen ebenfalls in ein solches Konzept. Alle angeführten Vorschläge bedürfen selbstverständlich guter und ausführlicher pädagogischer Begleitung, innovativer altersadäquater Materialien (auch online), und – wie immer – ist genügend Zeit notwendig. Ich könnte mir vorstellen, dass sowohl Wissen, Aufklärung, Empathie-Erwerb, Dialog und Diskussionen im Rahmen der Schwerpunktsetzung „Politische Bildung“ verpflichtend ihren Platz finden könnten. In jedem Fall muss klargestellt werden, dass gilt: „Wer schweigt, stimmt zu.“ 7 Wo erkennen Sie in Ihrem Fachbereich Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten, um künftigen Lehrpersonen in der Lehrer:innen-Aus- und Weiterbildung eine Auseinandersetzung mit Antisemitismen zu ermöglichen? Siehe dazu die vorhergehenden Fragen. 8 Welche Forderungen und Wünsche, auch Hoffnungen oder Befürchtungen haben Sie im Hinblick auf eine Zukunft mit weniger / ohne Antisemitismus? Antisemitismus (wie auch alle Formen von Diskriminierung, Xenophobie, Sexismus, Antiziganismus und Homophobie) betrifft nicht nur oder sogar ausschließlich die Betroffenen. Es ist nicht die Aufgabe der Betroffenen (in unserem Fall der Jüdinnen und Juden), sich um Intervention, Aufklärung und Wissensvermittlung zu kümmern. Dies ist ein gesamtgesellschaftliches Desiderat. Antisemitismus ist kein Kavaliersdelikt: Die sogenannte „rote Linie“ stellt nicht das Verbotsgesetz dar, sondern betrifft alle manifesten und latenten, symbolischen und materiellen Praxen von Ausgrenzung. Solange nicht eindeutig geklärt wird, dass willkürliche Ausgrenzung auf jeden und jede in bestimmten © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 229 Kontexten zielen kann, bleibt Antisemitismus jedoch „das Problem der Juden“. Hier liegt die größte Herausforderung für die Bildungsarbeit. Ich selbst habe angesichts der jahrtausendalten Geschichte des Antisemitismus, der in immer neuen (und alten) Formen hervorkriecht, keine Hoffnung auf eine positive Veränderung. Gerade die Erfahrungen der letzten Jahre beweisen, dass alte negative Stereotype, die im kollektiven Gedächtnis verankert sind, sehr rasch zu mobilisieren sind – sei es anhand der Konstruktion von Sündenböcken, sei es in Form von Verschwörungstheorien. Aktuelle Diskussionen über die Aufnahme von Flüchtlingen, über Asylpolitik und die Europäische Menschenrechtskonvention beweisen, dass leider aus der Geschichte sehr wenig, manchmal gar nichts gelernt wird. Antisemitismus als das archetypische Vorurteil gegenüber sogenannten „Anderen/Fremden“ ist weiterhin präsent und dient in vielfach variierter Form der Ausgrenzung anderer Minderheiten. Daher kann es gar nicht genügend Aufklärungsarbeit geben, angepasst an die Bedürfnisse einer Migrationsgesellschaft im 21. Jahrhundert. ADORNO, Theodor W./Frenkel-Brunswick, Else/Levinson, D./Sanford, R. N. (1967 [1950]): The Authoritarian Personality. New York. DE CILLIA , Rudolf/Wodak, Ruth/Rheindorf, Markus/Lehner, Sabine (2020): Österreichische Iden- titäten im Wandel. Berlin. FELDNER, Gloria (2019): Die Konstruktion des Feindbildes George Soros in Ungarn. Diplomar- beit, Universität Graz. HORKHEIMER, Max/Adorno, Theodor W. (1947a): Elemente des Antisemitismus. In: Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1947b): Dialektik der Aufklärung. Amsterdam. KELLER, Reiner/Wodak, Ruth (2021): Das Gesellschaftliche der Sprache und die Notwendigkeit von Engagement. Ruth Wodak im Gespräch mit Reiner Keller. In: Zeitschrift für Diskursforschung 6, S. 64-102. WODAK, Ruth (1989): „Iudeus ex Machina“. Grazer Linguistische Studien, S. 153–180. WODAK, Ruth (Hg.) (2001): Das kann einem nur in Wien passieren. Wien. WODAK, Ruth (2019): „Und täglich grüßt ‚das Silberstein‘“. In: Hofer, Thomas/Toth, Barbara (Hg.): Wahl 2019: Strategien, Schnitzel, Skandale. Wien, S. 223–38. WODAK, Ruth (2021) The Politics of Fear. The Shameless Normalization of Far-right Populist Dis- courses. London (deutsche Übersetzung: Politik mit der Angst. Die schamlose Normalisierung rechtsextremen und rechtspopulistischen Diskurses. Berlin). WODAK, Ruth/Nowak, Peter/Pelikan, Johanna /Gruber, Helmut/de Cillia, Rudolf/Mitten, Richard (1990): „Wir sind alle unschuldige Täter!“ Diskurshistorische Studien zum Nachkriegsantisemitismus. Frankfurt/M. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 230 RUTH WODAK ist Em. Distinguished Professor of Discourse Studies (Diskursforschung), Lancaster University (UK) und o. Univ. Professorin i. R. für Angewandte Linguistik, Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Kritische Diskursforschung, Sprache und Politik (Populismusforschung), Identitäts- und Vergangenheitspolitik, Gender Studies, Migrationsforschung, und linguistische Vorurteilsforschung zu Rassismus und Antisemitismus. Mehrere Gastprofessuren, Auszeichnungen und Ehrungen (u. a. Wittgenstein Preis 1996 für Elite-Wissenschaftler, das Große Silberne Ehrenkreuz für Verdienste um die Republik Österreich) sowie zahlreiche Publikationen, darunter: Politik mit der Angst. Die schamlose Normalisierung rechtsextremen und rechtspopulistischen Diskurses, 2020; Österreichische Identitäten im Wandel (mit R. de Cillia, M. Rheindorf, S. Lehner), 2020; Handbook of Language and Politics (mit B. Forchtner), 2018. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 231 DINA WYLER Die Scheuklappen müssen fallen! 1 Gibt es in Ihrem Fachbereich Berührungspunkte mit Antisemitismus? Die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) setzt sich seit über dreißig Jahren gegen Rassismus im Allgemeinen und Antisemitismus im Besonderen ein. Als nationales Kompetenzzentrum und „Watch-Dog“ ordnen wir aktuelle Geschehnisse ein und können dadurch neue Entwicklungen frühzeitig erkennen und entsprechend reagieren. Während physische Gewalt gegen Jüdinnen und Juden in der Schweiz zum Glück eher selten vorkommt, ist es vor allem der latente Alltags-Antisemitismus, welcher auch hier in der Schweiz zu beobachten ist. Dieser äußert sich – wie der Name bereits sagt – im täglichen Leben jüdischer Menschen in der Schweiz. Auch Bildungseinrichtungen sind davon betroffen. Uns erreichen beispielsweise Fälle von eingeritzten Hakenkreuzen auf Schulbänken, Hitler-Memes in WhatsApp-Gruppenchats oder das Wort „Jude“ wird als Schimpfwort auf dem Pausenplatz verwendet. Auch Holocaust relativierende Aussagen von Schüler:innen sind uns bekannt. Nicht nur Primar- und Sekundarstufen sind betroffen. Auch an Hochschulen ereignen sich immer wieder antisemitische Vorfälle. Während der Coronapandemie ist es beispielsweise zu zwei Fällen von antisemitisch motiviertem Zoom-Bombing gekommen. Dabei wurden Online-Veranstaltungen gestört und antisemitische Inhalte geteilt. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 232 2 Gab es für Sie Anlässe, sich mit Antisemitismen im Bildungsbereich zu beschäftigen? Die einzige nachhaltige Bekämpfung von Antisemitismus ist Bildung. Da Antisemitismus jedoch in allen Lebensbereichen vorkommt, wäre es verheerend, davon auszugehen, dass Bildungsinstitutionen selbst völlig frei von antisemitischen Denkmustern sind. Diese Gegebenheit anzuerkennen und entsprechend darauf zu reagieren, ist elementar, um eine seriöse Antisemitismusbekämpfung im Bildungswesen zu etablieren. Eine aktuelle Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) ergab, dass Bildungseinrichtungen wie Schulen und Hochschulen zu den meistgenannten Institutionen zählen bei Diskriminierungserfahrungen jüdischer Menschen im Alltag (Baier 2020). Dabei geht es weniger um Einschränkungen religiöser Praktiken, sondern eher um subtile Formen der Diskriminierung. Der Bildungssektor stellt damit einen wichtigen Bereich zukünftiger Präventionsarbeit dar. Aus diesem Grund lanciert die GRA in den kommenden Monaten zwei Bildungsprojekte, die sich an Schüler:innen und Lehrpersonen richten. Sie sollen helfen, Antisemitismus im (Schul-)Alltag besser zu erkennen, und sowohl Schüler:innen wie auch Lehrpersonen dazu befähigen, auf antisemitische Vorfälle zu reagieren. 3 In welchen Kontexten bzw. im Rahmen welcher Konzepte sollten Ihrer Ansicht nach Antisemitismen an Schulen, Hochschulen und in der Öffentlichkeit betrachtet werden, um sich damit angemessen auseinandersetzen zu können? Grundsätzlich ist es wichtig, dass Lehrpersonen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Rassismus und Antisemitismus kennen. Antisemitismus ist eine Form von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, wie auch Rassismus. Während die Wirkung von Rassismus und Antisemitismus auf die betroffenen Personen dieselbe sein kann, sind die dahinter liegenden Mechanismen doch sehr unterschiedlich. Neben dem Was (Was ist Antisemitismus?) ist auch das Wie (Wie äußert sich dieser im Alltag?) ein wichtiger Bestandteil bei der Auseinandersetzung mit dem Thema. Die Behandlung des Holocausts im Unterricht ist wichtig. Daher unterstützen wir auch Schulklassen finanziell, die im Rahmen des Unterrichts ehemalige Konzentrationslager besuchen möchten. Jedoch beobachten wir im Schweizer Kontext leider oft, dass das Thema Antisemitismus (wenn überhaupt) im limitierten Kontext der Shoah behandelt wird. Auch wenn der Holocaust unbedingt © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 233 behandelt werden sollte im Unterricht, eignet er sich nur bis zu einem gewissen Grad zur Aufklärung und Sensibilisierung in Bezug auf Antisemitismus. Denn obwohl die Shoah nicht einmal 100 Jahre zurückliegt, hat sie doch wenig mit der Lebenswelt der Schüler:innen zu tun. Entsprechend wird Antisemitismus automatisch als ein Phänomen der Vergangenheit betrachtet, welches mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges überwunden wurde. Eine solche Vermittlung des Themas ist verheerend, denn es spricht dem Problem die Komplexität ab und verortet es in der Vergangenheit, obwohl Antisemitismus nach wie vor latent in der Gesellschaft vorhanden ist. Stattdessen sollte die Geschichte des Antisemitismus im größeren Kontext betrachtet und aufgezeigt werden, wie viele Formen dieser annehmen kann. Der Holocaust sollte nicht mit Antisemitismus gleichgesetzt werden, sondern vielmehr als mögliches „Endprodukt“ davon, was passieren kann, wenn man Antisemitismus in seinen vielen Erscheinungsformen nicht früh genug erkennt und benennt. Wenn Antisemitismus in dieser Form behandelt wird, ist es für die Schüler:innen auch viel einfacher, neue Formen des Antisemitismus zu erkennen, beispielsweise in den aktuell kursierenden Verschwörungserzählungen. Beim Thema Antisemitismus ist es zudem zentral, dass Lehrpersonen darauf sensibilisiert sind, wie sie über die von Antisemitismus betroffenen Menschen reden, um keine Stereotypen zu reproduzieren. In der Schweiz haben viele Menschen noch nie eine jüdische Person getroffen. Entsprechend gibt es sehr starre Vorstellungen, wie eine Jüdin oder ein Jude aussieht, was diese denken und wie sie sich verhalten. Hier wäre es wichtig, dass die Lehrpersonen den Schülerinnen und Schülern die Diversität innerhalb des Judentums vermitteln, damit diese Stereotypen gegenüber dieser bestimmten Bevölkerungsgruppe aufgeweicht werden können. Dies ist nur möglich, wenn sich die Lehrpersonen selbst mit dem Judentum – aber auch mit antijüdischen Stereotypen – auseinandersetzen. 4 Was ist Ihrer Ansicht nach in Bezug auf Antisemitismus für die Schule besonders bedeutsam? Die wohl wichtigste Voraussetzung sind gut ausgebildete und sensibilisierte Lehrpersonen, die sich nicht davor scheuen, das Thema proaktiv im Unterricht anzusprechen. Unsere Erfahrungen zeigen jedoch, dass bereits hier Schwierigkeiten bestehen. Entsprechende Weiterbildungen und Seminare werden kaum von Lehrpersonen besucht. Gleichzeitig wissen wir von Fällen, wo sich Lehrpersonen davor scheuen, das Thema Holocaust oder Antisemitismus im Unterricht aufzugreifen, da sie sich der möglichen Debatte im Unterricht nicht © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 234 gewachsen fühlen – vor allem in Bezug auf den Nahostkonflikt. Solange Lehrpersonen nicht die entsprechende Ausbildung erhalten und somit Antisemitismus im (Schul-)Alltag einordnen können, sind an die Schüler:innen gerichtete Präventionskampagnen nur beschränkt hilfreich. Diese Problematik lässt sich gut an einem aktuellen Fall erläutern, welcher uns vor Kurzem erreicht hat. Eine verunsicherte Mutter meldete sich bei uns. Es war gerade Ostern, und die Schulklasse ihres Sohnes las daher die Passionsgeschichte im Unterricht. Jedes Kind las einen Abschnitt der Geschichte laut vor. Per Zufall wurde ihrem Sohn – das einzige jüdische Kind in der Klasse – jene Passage zugeteilt, wo Judas, einer der zwölf Apostel, nach der Überlieferung Jesus an die Römer verraten habe. Dem Sohn war dies sehr unangenehm, denn diese Textstelle liefert das Fundament für den Antijudaismus, welcher die Juden als Verräter darstellte und sich über Jahrhunderte in der christlichen Gesellschaft hielt. Die Lehrperson kannte den historischen Hintergrund dieser Textstelle jedoch nicht. Nach einem klärenden Gespräch wurde das Lehrmittel mit einem entsprechenden Kommentar ergänzt, welcher die Textstelle kontextualisiert. Dieses Beispiel zeigt, dass nicht alle Vorfälle immer mit böser Absicht geschehen und dass es wichtig ist, dass Lehrpersonen die Geschichte des Antisemitismus in seinem vollen Umfang behandeln und nicht nur die Shoah. 5 Welche Präventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich zur Vorbeugung von Antisemitismus? Leider gibt es noch immer sehr wenige Bildungsangebote, die spezifisch auf den Schweizer Kontext ausgerichtet sind und die hier bestehenden Problematiken aufgreifen. Auch aus diesem Grund hat die GRA die Website www.stopantisemitismus.ch entwickelt. Anhand 18 realer Zitate aus dem Schweizer Alltag erklärt die Website, was am Gesagten antisemitisch ist, wie darauf reagiert werden kann und wo man Hilfe erhält. Die Inhalte der Website wurden zu einem Bildungstool weiterentwickelt, damit diese Themen noch einfacher im Unterricht behandelt werden können. Denn um die Jugendlichen für das Thema zu sensibilisieren, ist es essenziell, so nahe wie möglich an deren Lebenswelt anzuknüpfen und Beispiele aufzuzeigen, welche sie selbst schon erlebt haben oder erleben könnten. Antisemitismus wird zudem oftmals als ein viel zu abstraktes Gebilde betrachtet und bleibt somit fern von der Lebenswelt der Schüler:innen. Auch hier hilft die Website, um diese spezifische Form der Menschenfeindlichkeit greifbarer zu machen und Lehrpersonen für Alltags-Antisemitismus zu sensibilisieren. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 235 Zudem gibt es in der Schweiz einige Begegnungsprojekte wie etwa „Likrat“ vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund oder das Projekt „Nachkommen Erzählen“ der Stiftung Erziehung zu Toleranz (SET). Vor allem für jüngere Schüler:innen können diese Begegnungen hilfreich sein, um Vorurteile abzubauen und offen mit einer Person jüdischen Glaubens zu sprechen. Jedoch ist es auch hier wichtig, dass die Schüler:innen genügend Kontext zur Hand haben, um aus diesen Begegnungen wiederum keine Stereotypen abzuleiten, sondern das Judentum in seiner Vielfalt zu verstehen. 6 Welche Interventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich bei Vorfällen von Antisemitismus? Der wohl wichtigste Grundsatz ist, dass bei einem (möglichen) antisemitischen Vorfall nicht weggeschaut wird aufgrund des eigenen Unbehagens. Um den Lehrpersonen den Umgang mit antisemitischen Vorfällen zu erleichtern, ist es essenziell, dass sie über bestehende Anlaufstellen informiert sind und niederschwellig beraten und unterstützt werden können. Aus diesem Grund versendet die GRA jedes Jahr Informationsflyer zum Thema Rassismus und Antisemitismus an alle Deutschschweizer Schulen und stellt sich als Informations- und Anlaufstelle bei Antisemitismusvorfällen vor. Aufgrund dieser Sensibilisierungskampagne und durch das Meldetool der GRA werden immer wieder Fälle an uns herangetragen. Wir evaluieren jeden Fall individuell, sprechen mit der Lehrperson und eventuell anderen involvierten Personen und geben Tipps zum weiteren Vorgehen. Bei komplexeren Fällen arbeiten wir eng mit Partnern zusammen, beispielsweise der Stiftung Erziehung zur Toleranz (SET), welche auch Interventionen mit Schulklassen oder mit einzelnen Schüler:innen durchführt. Auch die Schulsozialarbeiter:innen können hier eine wichtige Funktion übernehmen. Besteht der Verdacht auf eine klare Radikalisierung eines Schülers oder einer Schülerin, vermitteln wir die Fälle an uns bekannte Extremismus-Expertinnen und -Experten weiter oder empfehlen, die kantonale Extremismus-Fachstelle zu kontaktieren. 7 Wo erkennen Sie in Ihrem Fachbereich Anknüpfungspunkte und Möglichkeiten, um künftigen Lehrpersonen in der Lehrer:innen-Aus- und Weiterbildung eine Auseinandersetzung mit Antisemitismen zu ermöglichen? Auf fachlicher Ebene ist es schwierig, Judenfeindschaft und damit verbunden den Antisemitismus zu fassen. Selbst wenn dieser im Geschichtsunterricht the- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 236 matisiert wird, taucht er in der Literatur, im Geografieunterricht oder im Fach Wirtschaft und Recht in einem anderen Kontext wieder auf. Die Weiterbildungen der Lehrpersonen müssen deshalb sehr breit aufgestellt werden. Die kritische Auseinandersetzung mit Antisemitismus gehört also nicht nur in den Geschichtsunterricht, denn Antisemitismus ist nicht ausschließlich ein Problem der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart. Antisemitismusbekämpfung sollte daher Teil der Politischen Bildung sein, mit welcher viele Schüler:innen im Laufe ihrer Ausbildung in Berührung kommen. Um Antisemitismus im Bildungsbereich gezielt anzugehen, müssen zudem die Scheuklappen gegenüber dem Thema abgelegt und mehr Wissen generiert werden. Das ermöglicht den Lehrpersonen, Antisemitismus nicht nur als abstraktes Konstrukt, sondern ganz konkret im eigenen (Schul-)Alltag erkennen und benennen zu können. Dazu braucht es genügend Zeit und Raum, um sich intensiv mit der Thematik auseinanderzusetzen, und auch den Willen, eigene Denkmuster kritisch zu hinterfragen. 8 Welche Forderungen und Wünsche, auch Hoffnungen oder Befürchtungen haben Sie im Hinblick auf eine Zukunft mit weniger / ohne Antisemitismus? Antisemitismus ist kein starres Konstrukt. Er ist ständig im Wandel und passt sich den aktuellen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten an. Auch lässt sich der Antisemitismus nicht auf dem klassischen Links-RechtsSpektrum der Politik verorten. Viel zu oft beobachten wir, dass antisemitische Tendenzen im gegnerischen politischen Lager sogleich erkannt und benannt, ähnliche Tendenzen in den eigenen Reihen aber ignoriert werden. Die Anerkennung, dass Antisemitismus in vielen Formen in Erscheinung treten kann, ist die Grundvoraussetzung, um sich ernsthaft mit der Thematik auseinanderzusetzen. Wer vornweg bereits einen limitierten Blick auf das Thema hat, beispielsweise, indem nur der Antisemitismus im anderen politischen Lager anerkannt wird, kann dem Thema nicht gerecht werden. Gerade im Bildungsbereich und für Lehrpersonen ist das eine wichtige Voraussetzung, um Antisemitismus im Klassenzimmer erkennen und benennen zu können. Auch hier ist eine kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Vorurteilen essenziell. Ein weiterer Punkt, welcher die Auseinandersetzung mit Antisemitismus erschwert, ist ein numerisches Problem. In der Schweiz leben (im Vergleich zu anderen Minderheiten) nur wenige Jüdinnen und Juden. Entsprechend haben auch nur wenige Lehrpersonen eine:n jüdische:n Schüler:in im Klassenzimmer. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 237 Dem Thema Antisemitismus wird daher keine große Wichtigkeit beigemessen, da ja „nur“ wenige Schüler:innen betroffen sind (im Gegensatz zum Rassismus beispielsweise). Entsprechend sind es dann vor allem jüdische Institutionen, die sich des Themas annehmen müssen. Dies hat wiederum die Signalwirkung, dass Antisemitismusbekämpfung eine Aufgabe der Jüdinnen und Juden sei. Die Behandlung des Themas sollte nicht davon abhängig gemacht werden, ob ein:e direkt Betroffene:r im Unterricht sitzt. Um Antisemitismus an der Wurzel bekämpfen zu können, muss man verstehen, dass diese spezifische Art der Menschenfeindlichkeit nicht „das Problem der Juden“ ist, sondern eine direkte Gefahr für jede freiheitliche Gesellschaft darstellt. Denn dem Antisemitismus liegt das falsche Vorurteil zugrunde, dass das politische System und damit einhergehend alle demokratischen Institutionen korrupt sind – eine Grundvoraussetzung für den Zerfall der gesunden Demokratie. Dieser Ansatz kann helfen, damit Antisemitismus nicht mehr nur von den direkt Betroffenen als ernst zu nehmendes Problem wahrgenommen wird, sondern ebenfalls vom Rest der Gesellschaft – inklusive Lehrpersonen. Es ist daher fundamental, dass staatliche Stellen, die die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen verantworten, eingebunden sind und Projekte zur Bekämpfung auch finanziell mittragen. BAIER, Dirk/unter Mitarbeit von Ruchti, Nina/Kamenowski, Maria (2020): Erfahrungen und Wahrnehmungen von Antisemitismus unter Jüdinnen und Juden in der Schweiz. Zürich. Online: https://www.zhaw.ch/storage/hochschule/medien/news/2020/200702-zhaw-antisemitismus-studie.pdf (Zugriff: 27.8.21). DINA WYLER ist Geschäftsleiterin der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA). Die Stiftung setzt sich gegen rassistisch motivierte Diskriminierung im Allgemeinen und Antisemitismus im Besonderen ein. Die Tätigkeitsfelder der Stiftung beinhalten Öffentlichkeitsarbeit sowie die Durchführung und Unterstützung von Projekten in den Bereichen Bildung und Erziehung, Politik und Recht. Zuvor lebte Dina Wyler in New York, wo sie am Shalom Hartman Institute Bildungsprojekte für Studierende organisierte mit dem Ziel, das Verständnis zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu stärken. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 238 © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 239 Thesen und Handlungsempfehlungen zum Umgang mit Antisemitismus an Schulen und Hochschulen © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 240 © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 241 VICTORIA KUMAR, WERNER DREIER, PETER GAUTSCHI, NICOLE RIEDWEG, LINDA SAUER, ROBERT SIGEL Thesen und Handlungsempfehlungen zum Umgang mit Antisemitismus an Schulen und Hochschulen Hochschulen – wie auch Schulen – reagieren auf vielfältige Art und Weise auf gesellschaftliche Herausforderungen und Erwartungen, auch im Umgang mit Antisemitismus sowie der Verzerrung und Leugnung des Holocaust. Dies und das Engagement der Lehrenden ist nur in seltenen Fällen in den Curricula bzw. an den Bezeichnungen der Lehrveranstaltungen ablesbar. Die folgenden Thesen und Handlungsempfehlungen sind Beispiele für einen möglichen Umgang mit der in den Textbeiträgen dieses Bandes angesammelten Expertise. Als Verdichtungen mit einem Fokus auf die Ausbildung von Lehrpersonen bieten sie einen raschen Überblick und Anregungen für den Umgang mit Antisemitismen im Bildungsbereich. Sie verweisen auf Möglichkeiten der Prävention und Intervention, welche sowohl in die Weiterentwicklung von Lehrveranstaltungen wie auch von Curricula einfließen können sowie die jeweilige Institution in ihrer Gesamtheit einbeziehen. Auch können sie als Leitfaden dienen, der die Institutionen bei der Evaluierung der Maßnahmen und ihrer Implementierung unterstützt. Vorangestellt wird den Thesen und Handlungsempfehlungen ein aus einer persönlichen Perspektive verfasstes Essay, in dem Robert Sigel zu den Ausgangsbedingungen, den Herausforderungen und Chancen der Bekämpfung von Antisemitismus Stellung bezieht. Die Thesen und Handlungsempfehlungen sind im Rahmen des von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) geförderten und von drei Institutionen – _erinnern.at_ (Österreich), dem Institut für Geschichtsdidaktik und Erinnerungskulturen der Pädagogischen Hochschule Luzern (Schweiz) sowie der Geschäftsstelle des Beauftragten der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus (Bayern) – umgesetzten Projektes „Gegen Antisemitismus an Schulen und Hochschulen“ (2020-2022) entstanden. Gemeinsam mit Expert:innen unterschiedlicher Fachrichtungen wurde © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 242 untersucht, wie didaktisch angemessen und nachhaltig gegen Antisemitismus präventiv, aktiv und intervenierend unterrichtet und gebildet werden kann und wie Lehrpersonen in der Aus- und Weiterbildung am besten – auch im Umgang mit antisemitischen Vorfällen – vorbereitet und qualifiziert werden können. _erinnern.at_ wurde im Jahr 2000 als Verein gegründet und ist seit 2022 als Programm zum Lehren und Lernen über Nationalsozialismus und Holocaust im OeAD – Österreichs Agentur für Bildung und Internationalisierung – angesiedelt. Mit Hauptsitz in Bregenz setzt sich _erinnern.at_ auf internationaler, nationaler sowie lokaler Ebene für die österreichische Erinnerungspädagogik und deren Weiterentwicklung ein. Schwerpunkte liegen dabei auf der Durchführung von Lehrer:innenfortbildungen und der Entwicklung von Unterrichtsmaterialien zu den Themen Holocaust, Nationalsozialismus, Antisemitismus sowie Rassismus. Die Arbeit von _erinnern.at_ ist geprägt von nationalen und internationalen Kooperationen, dazu zählen etwa die Zusammenarbeit mit der IHRA und mit Partner:innen im Rahmen von EHRI (European Holocaust Research Infrastructure). In Österreich arbeitet _erinnern.at_ mit den Pädagogischen Hochschulen, den Bildungsdirektionen und Schulen zusammen. Das Institut für Geschichtsdidaktik und Erinnerungskulturen der Pädagogischen Hochschule Luzern (IGE) beobachtet, erforscht und dokumentiert den Umgang von Menschen mit dem Universum des Historischen. Das IGE verfolgt das Ziel, individuelles und gesellschaftliches Interesse für Vergangenheit zu wecken und aufrechtzuerhalten, um so Geschichte als Erfahrungsquelle zu erschließen und das aufgeklärte Lernen aus der Geschichte für die Gegenwart und Zukunft zu ermöglichen. Die rund 35 Mitarbeitenden beschäftigen sich unter anderem mit Geschichtsunterricht und Schulgeschichtsbüchern, mit Public History, Oral History und Fremdplatzierungen, mit Erinnerungsnarrativen und Mythisierungen sowie mit Menschenrechtsbildung, Umgang mit Holocaust und Antisemitismus. Die Geschäftsstelle des Beauftragten der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, für Erinnerungsarbeit und geschichtliches Erbe wurde im Mai 2018 eingerichtet, Dr. Ludwig Spaenle zum Beauftragten ernannt. Die Darstellung und Förderung jüdischen Lebens und die Bekämpfung von Antisemitismus sind die zwei Hauptaufgaben, Geschichtsund Erinnerungsarbeit die beiden anderen Schwerpunkte seiner Beauftragung. Die Mitarbeit in der deutschen Bund-Länder-Kommission der Beauftragten sowie in der „Working Group on Antisemitism“ der EU-Kommission machen deutlich, dass die Tätigkeit des Beauftragten und seiner Geschäftsstelle in einem © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 243 größeren, über Bayern hinausreichenden Zusammenhang stattfindet. Gesetzlich festgelegt ist, dass er bei allen Gesetzes-, Verordnungs- und sonstigen wichtigen Vorhaben der Staatsregierung eingebunden wird, soweit sie Fragen zum Leben von Jüdinnen und Juden und zur Situation jüdischer Gemeinden und Einrichtungen, aber auch zur Geschichts- und Erinnerungsarbeit berühren. Im Dialog und in Kooperation mit den jüdischen Gemeinden, mit Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen initiiert, entwickelt und unterstützt er Projekte, um dem breiten Spektrum seiner Aufgaben gerecht zu werden. Die Herausgeber:innen danken den im Band zu Wort kommenden sowie all jenen Expert:innen, die sich mit ihren Fachkenntnissen, Erfahrungen und Expertisen in unterschiedlichen Formaten eingebracht und das Projekt kontinuierlich begleitet und unterstützt haben. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 244 ROBERT SIGEL (K)eine hoffnungslose Auseinandersetzung? Ein Essay Oktober 2021, Besuch aus einer deutschen Kleinstadt. Wir sitzen im Café am Jakobsplatz, fast im Herzen von München, bummeln nach einer Pause weiter, keinerlei Verwunderung bei meinem Gast über die Anwesenheit von Polizei, über das Sicherheitspersonal, meine Erklärung wird abgeschnitten: „Ist doch klar, bei all den jüdischen Einrichtungen hier.“ – Ist doch klar! Ist es wirklich so klar? Auf dem weiteren Weg durch die Stadt an Laternen- und Ampelmasten Sticker der Impfgegner:innen mit dem gelben Stern. Später im Büro, Google Alert: „Domradio: Pfarrer erlebt Antisemitismus im Olympiastadion.“ – „Wagner, Bayreuth und der Rest der Welt: Kann man, darf man die Musik eines Antisemiten lieben?“ – „Union Berlin verurteilt antisemitischen Angriff auf Maccabi-Fans.“ Klar also, dass Expert:innen skeptisch sind. Klar, dass die hier Interviewten auf die Frage nach ihren Befürchtungen und Hoffnungen zwar Befürchtungen nennen, aber kaum Hoffnungen. Dass sie eher vor übertriebenen Hoffnungen warnen: die Langlebigkeit, die Anpassungsfähigkeit von Antisemitismus, die Tatsache, dass er bereits seit Jahrtausenden existiert, dass er auch die Jahre nach 1945 und unsere Gesellschaften insgesamt prägt, das Wissen, dass bislang Gesellschaften ohne Gruppenfeindschaft nicht existieren. All das wird als Beleg angeführt, weshalb es angebracht sei, keine zu großen Erwartungen in den Kampf gegen Antisemitismus zu setzen. Aber soll man so, darf man so eine Auseinandersetzung führen, in der es um eine genozidale Vergangenheit, um Menschenrechte, um unsere Demokratie geht? Um tägliche Diskriminierung. Und ist die Skepsis gerechtfertigt? Überlagert nicht vielleicht die Alltäglichkeit der erlebten und berichteten Antisemitismen eine andere, nicht weniger reale Sicht? Und sind nicht gerade die zahlreichen von den Expert:innen vorgetragenen konkreten Hinweise, Ratschläge, Empfehlungen ganz außerordentlich hilfreich? Es stimmt: All die vorgetragenen Bedenken, all die Hinweise treffen zu; aber übersehen sie nicht die für die Bekämpfung des Antisemitismus so günstigen gegenwärtigen Ausgangsbedingungen? Bedingungen, die es in dieser Form © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 245 bisher nie gab? Der Niederlage des nationalsozialistischen Regimes und seiner Verbündeten folgte ja keine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus, folgte ja kein wirklicher Versuch, diesen zu beseitigen, weder in den Besatzungszonen noch in der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland, nicht in der DDR und nicht in Österreich. Und auch in der Schweiz mit ihrer spezifischen geschichtlichen Schuld schien eine solche Auseinandersetzung gleichfalls über Jahrzehnte nicht nötig. Es ist also wohl das erste Mal, dass nun der Kampf gegen den Antisemitismus in einer grundsätzlichen, Staat und Gesellschaft umfassenden Weise begonnen wird, umfassend sowohl was die Breite dieser Auseinandersetzung als auch was ihre Tiefe angeht. So hat die Europäische Union eine Strategie zur europaweiten Bekämpfung von Antisemitismus beschlossen und eine Beauftragte ernannt. In der Bundesrepublik Deutschland wurde ein ebensolches Amt eingerichtet und auch in den hierbei so wichtigen, weil für Bildung, Wissenschaft und Erziehung zuständigen Bundesländern wurden solche Beauftragte ernannt, die bereits Erhebliches geleistet haben. Österreich hat einen nationalen Aktionsplan gegen Antisemitismus verabschiedet, ebenso das nicht der EU angehörende Norwegen. Polizei und Staatsanwaltschaften werden ausgebildet, fortgebildet und darauf vorbereitet, angemessen einzugreifen. Und all dies wird getragen von einer großen Mehrheit der politisch Verantwortlichen. Das Thema Antisemitismus, seine Geschichte, seine Formen, seine Bekämpfung sind unüberhörbar ein Bestandteil des gesellschaftlichen Diskurses geworden. Mit der IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus liegt ein Konzept vor, das als Arbeitsgrundlage dient und nicht nur von zahlreichen Staaten und staatlichen Institutionen angenommen wurde, sondern auch von gesellschaftlichen Organisationen in Deutschland bis hin zum 1. FC Bayern München; sie dient als Ausgangspunkt einer zivilgesellschaftlichen Diskussion. Zahlreiche Initiativen, Stiftungen, Bildungsinstitutionen, in Deutschland etwa die Amadeu Antonio Stiftung, die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA), die Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt/M. und zahlreiche andere Einrichtungen, erarbeiten Fortbildungs- und Präventionsprojekte, gefördert und unterstützt durch öffentliche Mittel. Der Zentralrat der Juden, seine Landesverbände, jüdische Museen, die Europäische Janusz Korczak Akademie ergänzen diese Anstrengungen durch eigene Aktivitäten. Eine große gemeinsame Kraftanstrengung ist zu spüren. Mir fallen die Hunderte von außerordentlich engagierten und klugen Lehrerinnen und Lehrern ein, die ich in den vergangenen Jahren bei Fortbildungen zum Thema kennengelernt habe. Neben dem familialen Kontext ist ja die Schule eine vorrangige Instanz, vorrangig sowohl in der peergroup-geleiteten Äußerung © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 246 und Verbreitung von Antisemitismen, Rassismen, aber vorrangig eben auch in den sich bietenden Chancen der Prävention und der Bekämpfung. Es ist deshalb besonders bedeutsam, dass sich neben den Lehrpersonen die verantwortlichen Ministerien in Deutschland, in der Schweiz, in Österreich, in Europa der Bedeutung der schulischen Auseinandersetzung mit Antisemitismus bewusst sind. In Deutschland war es die Bund-Länder-Kommission der Antisemitismusbeauftragten, die eine Empfehlung initiierte und mit der Kultusministerkonferenz und dem Zentralrat der Juden in Deutschland erarbeitete, eine Empfehlung, die detailliert und präzise darlegt, wie Intervention, Prävention und gegebenenfalls Sanktionierung an Schulen grundgelegt werden müssen. Sollten wir nicht in dieser bei Weitem nicht vollständigen Überblicksdarstellung ein „open window of opportunity“ erkennen, das uns dazu verpflichtet, es zu nutzen? Gerade die Aussagen, Auskünfte und Anregungen der in dieser Publikation versammelten Expert:innen machen es möglich, ein Konzept zu entwerfen, das einem Masterplan gleich die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus aufnimmt. Wissen, sicheres Wissen ist notwendig, zu dessen Vermittlung nötig sind geeignete Schulbücher und Bildungsmaterialien, Curricula, Lehrpersonen, die motiviert sind, ausgebildet und fortgebildet. Deutlich wird in diesen Expertisen, dass die Hochschulen, Universitäten, an denen Lehrer:innen gebildet und ausgebildet werden, eine entscheidende Rolle spielen, nicht nur, was die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken betrifft, sondern auch wesentlich die Erziehungswissenschaften selbst. Und da Antisemitismus mehr ist als fehlendes und falsches Wissen, muss seine Bekämpfung sozialpsychologische Komponenten miteinbeziehen, in denen Othering-Prozesse, die Konstruktion von Mehrheit und Minderheit, die Stigmatisierung und Ausgrenzung von Minderheiten in ihrem Wesen erkannt und die Fähigkeit zu ihrer Dekonstruktion – im privaten wie im gesellschaftlichen Bereich – erlernt wird. Dabei muss Antisemitismus als Phänomen sui generis thematisiert werden, ohne dabei die Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen mit Rassismus und anderen Formen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und den ursächlichen gesellschaftlichen Bedingungen und Voraussetzungen zu übersehen oder außer Acht zu lassen. Zu einem solchen Masterplan gehört die Vermittlung und Aneignung von Kompetenzen, einer medialen, gesellschaftlichen, historischen Kompetenz, der Fähigkeit zur Emotionsreflexion und der Bereitschaft zur biografischen und familialen Selbstreflexion. Zurück in den Oktober 2021, eine Zugfahrt von München nach Wien. In St. Pölten steigt eine junge Frau ein, setzt sich mir gegenüber, ein Gespräch entwickelt sich. Auf ihre Frage, was der Grund meiner Reise nach Wien sei, © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 247 antworte ich, dass es sich um eine Besprechung zum Thema Antisemitismus handle. „Antisemitismus?“ – Der Begriff ist ihr unbekannt. Meine Erklärung unterbricht sie bald: „Ah, ich verstehe, es geht um die Juden und ihre Macht.“ Eine angeregte Diskussion folgt, keineswegs hoffnungslos, aber die Fahrt nach Wien dauert nur eine knappe halbe Stunde. Die Auseinandersetzung mit Antisemitismus braucht ihre Zeit. Dreißig Minuten genügen nicht, und auch nicht einige Unterrichtsstunden; der oben skizzierte Masterplan muss sinnvollerweise den gesamten Zeitraum schulischer Bildung und Erziehung umfassen. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 248 Thesen zum Umgang mit Antisemitismus an Schulen und Hochschulen Kontexte und Rahmungen 1. These: Antisemitismus und Holocaust Distortion Antisemitismus ist in Deutschland, der Schweiz und Österreich sowohl als Konzept wie auch als gesellschaftliches Problem anerkannt. Das Bewusstsein für das Konzept Holocaust Distortion (Holocaust-Verharmlosung und -Verzerrung) sowie dessen gesellschaftliche Relevanz wächst nur langsam. Insbesondere, aber nicht nur in den postnazistischen Gesellschaften, bildet der Mord an den europäischen Jüdinnen und Juden (die Shoah/der Holocaust) den historischen Bezugspunkt für die Auseinandersetzung mit Antisemitismus. Damit Lehrpersonen über das notwendige Professionswissen und die damit verbundenen Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Umgang mit Antisemitismus sowie den diversen Formen von Holocaust Distortion verfügen, benötigen sie in ihrer Ausbildung ein verlässliches Angebot, u. a. über die lange Geschichte des Antisemitismus, seine gegenwärtige Relevanz wie auch zum Erwerb der notwendigen professionellen und persönlichen Kompetenzen. 2. These: Singularität und Besonderheit von Antisemitismus Antisemitismus sollte im Bildungsbereich eigenständig behandelt werden, und die Verbindungen zu anderen Konzepten sollten sichtbar gemacht werden. Das Konzept „Antisemitismus“ hat Berührungspunkte zu anderen Konzepten wie „Rassismus“, „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, „Menschenrechte“, „Autoritarismus“, „Friedenspädagogik“, sozialpsychologischen Ansätzen wie „Othering“ oder „Mobbing“ etc. In vielen Aspekten, wie Antisemitismus als Weltanschauung, als umfassendes Weltbild, beständiges Ressentiment, Verschwörungsfantasie etc., unterscheidet sich Antisemitismus entscheidend von anderen Konzepten. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 249 3. These: Gesellschaftspolitische Kontexte Antisemitismus sollte im jeweiligen Kontext analysiert und als Phänomen von langer Dauer sichtbar gemacht werden. Antisemitismus ist ein Phänomen von langer Dauer, das in der Geschichte in unterschiedlichen Kontexten feststellbar ist. Auch in der Gegenwart tritt Antisemitismus in unterschiedlichen Kontexten und in unterschiedlicher Form in Erscheinung, so etwa in nationalistischen Diskursen, im Bereich des Rechtsextremismus, in kolonialismuskritischen Diskursen, antikapitalistischen Diskursen, in religiösen Kontexten oder etwa im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie, mit Xenophobie/Migrationsbewegungen und antimuslimischen Ressentiments und insbesondere im Zusammenhang mit Israel und den Konflikten im Nahen Osten (Anti-Zionismus). 4. These: Medialer Kontext Antisemitismus in den Neuen Medien ist eine Herausforderung für medienkritische Bildungsarbeit. Für den Bildungszusammenhang ist Antisemitismus als Hass auf „die Juden“ auch ein mit den Neuen Medien verbundenes Phänomen: Verschwörungserzählungen (auch in Zusammenhang mit der Covid19-Pandemie); Hate Speech; Fake News und Desinformationskampagnen. Entscheidend ist dabei die Stärkung der Medienkompetenz, um die Funktionsweise von Medien besser zu verstehen und mit ihnen angemessen umzugehen. 5. These: Holocaust Distortion Holocaust Distortion, also die Verharmlosung des Holocaust und eine verzerrte Darstellung der Verbrechen, ist im Gegensatz zur Holocaust-Leugnung ein weitgehend unbekanntes Konzept. In den Lehrer:innenbildungsinstitutionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz wird das Konzept von „Holocaust Distortion“ im Gegensatz zu Holocaust-Leugnung bisher kaum thematisiert. Wegen der Verwendung von unpassenden Vergleichen mit der Shoah/dem Holocaust durch Gegner:innen von Coronamaßnahmen wächst im deutschsprachigen Raum die Aufmerksamkeit für bewusste und unbewusste Formen der Verharmlosung und Verzerrung des Holocaust. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 250 Lehrpersonen 6. These: Antisemitismusprävention Lehrpersonen benötigen Wissen über eine allgemeine Antisemitismusprävention. Dies ist eine Aufgabe für alle in Hochschule und Schule Tätigen und/oder Fachstellen bzw. Disziplinen. Folgende Ansätze dienen einer allgemeinen Prävention von Antisemitismus und sollten möglichst früh vermittelt werden, ohne dass explizit auf Antisemitismus Bezug genommen werden muss: • Förderung allgemein protektiver Kompetenzen (Perspektivübernahme, Empathiefähigkeit, Gerechtigkeitsdenken, abstraktes Denken); • Aufklärung über Verschwörungsideologien und -narrative; • stärkere Verbindung von kognitiver, emotionaler und pragmatischer Lerndimension (persönliche Relevanz des Wissens für Lehrende und Lernende); • gesellschaftliche Probleme, auch Nöte und Ängste der Heranwachsenden behandeln; • Stärkung der Ambiguitätstoleranz; • Entwicklung von Sprachsensibilität und Einüben von nicht-antisemitischem Sprechen; • Urteilskompetenz in Bezug auf antisemitische Figuren/Rhetorik/Narrative entwickeln; • Gegendiskurse und Strategien einüben; • gut vorbereitete Begegnungen mit Jüdinnen/Juden, jüdischer Kultur in geeigneten Settings; multikollektive, konkrete Begegnungsräume schaffen, um Stereotypisierungen entgegenzuwirken und den Blick für die Vielfalt jüdischer Lebenswelten zu öffnen; • vermittelte Begegnungen über Literatur, Film etc. ermöglichen Perspektivübernahme sowie die Reflexion eigener Haltungen; • Critical Incidents als Lernsituationen nehmen. Eine Vertrauensbasis und Gesprächskultur (Safe Spaces) etablieren, in der möglichst frei gesprochen werden kann, statt einer Pädagogik des Schweigens/Bestrafens/Beschämens. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 251 7. These: Lehrpersonen benötigen ein Bewusstsein für Antisemitismus und Holocaust Distortion Antisemitismus und Holocaust Distortion treten in vielfältiger Form und oft auch verborgen hinter „leerem“, uneigentlichem Sprechen auf, das die kommunikative Absicht nicht offensichtlich macht. Es braucht zunächst Bewusstsein und Wissen, damit sie erkannt werden, und professionelle Kompetenzen, damit sie dann bearbeitet werden können. Zur Sensibilisierung für Antisemitismus und Holocaust Distortion gehört außerdem die Reflexion der eigenen Sozialisation und der eigenen, auch (berufs-)biografisch gewachsenen Vorstellungen und Haltungen. 8. These: Lehrpersonen brauchen Wissen über Antisemitismus und Holocaust Distortion Damit Lehrpersonen sensibel auf antisemitische Aussagen reagieren können und nicht etwa selbst mittels undifferenzierter, unpräziser oder gar trivialisierender Aussagen dieses Phänomen befördern, ist ein Bewusstsein für sowie ein elementares Basiswissen über Antisemitismus notwendig (Wissen zu Geschichte des Antisemitismus, Erscheinungsformen, sozialpsychologische, kommunikative wie politische Mechanismen, Wissen über Diskriminierungserfahrungen von Minderheiten, Professionswissen wie Didaktik/Methodik, kommunikativ-emotionale Kompetenz). Lehrpersonen benötigen auch Wissen über Holocaust Distortion und die damit verbundenen Erscheinungsformen sowie psychischen und gesellschaftlichen Mechanismen. 9. These: Die Persönlichkeit der Lehrperson, ihr Berufsethos und ihre Überzeugungen sind relevant Antisemitismus ist kulturell tief verwurzelt und zeigt sich als gesellschaftliche Konstante, die in ihren historischen Erscheinungsformen stets wandelbar war und ist. Daher bedarf es einer Reflexion der eigenen Sozialisation, der Haltungen und Werte, nicht bewusster Prägungen sowie des jeweiligen Verständnisses der Rolle von Lehrpersonen etc. Persönlichkeitsbildung in dieser Hinsicht sowie eine Stärkung der kommunikativen Kompetenz und der Person sollten Raum in der Ausbildung jeder Lehrperson haben, unabhängig vom Fach. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 252 Dazu gehören auch Supervision; Intervision; Arbeit am Professionsethos (Professionswissen und Haltungen, Umsetzung in Handlungen). Eine derartige berufsbegleitende profigrafische Reflexion müsste in der Lehrer:innenbildung grundgelegt werden. Ein Umgang mit der emotionalen Dimension von Antisemitismus (Ressentiment) wie auch Holocaust Distortion durch Lehrpersonen bedarf einer vorgängigen Klärung der eigenen damit verbundenen Affekte sowie des eigenen familiären bzw. kulturellen Erbes. Schule 10. These: Antisemitismus ist eine allgemeine pädagogische Herausforderung Antisemitismus ist nicht nur für den Fachunterricht in bestimmten Schulfächern relevant, sondern ist eine pädagogische Herausforderung für alle Lehrpersonen. Wenn Lehrpersonen im Klassenzimmer ein offenes und an demokratischen Spielregeln ausgerichtetes Gesprächsklima geschaffen und eingeübt haben, können Schüler:innen offen kommunizieren und ihre Haltungen und Weltsichten reflektieren sowie sach- und schulbezogene Werturteile selbstständig fällen. Schülerinnen und Schüler sollen in die Lage gebracht werden, Antisemitismus wie auch Holocaust Distortion selbst zu erkennen und darauf angemessen zu reagieren. Der Schutz von durch Antisemitismus angegriffenen Personen steht im Vordergrund, und Adressat:innen sind neben dem/der Täter:in und dem Opfer insbesondere die Bystander, welche das Ereignis beobachteten und deren Reaktionen entscheidend sind. Es braucht eine Balance zwischen klaren Positionen und einem offenen Klima bzw. Achtsamkeit vor Lernenden, damit „problematische Positionen“ besprechbar gemacht werden können. Dazu gehören: Subjektorientierter Ansatz – Augenhöhe; Beziehungsarbeit – positive Sozialbeziehungen; kritisieren, ohne zu stigmatisieren; Positionen, nicht Personen kritisieren; demokratischer und argumentativer Gesprächsstil. Ebenso wichtig ist ein Bewusstsein für die Spezifika des Praxisfelds Universität/Hochschule/Schule: Regeln, Normen, Benotung und Selektionsdruck können zu sozial erwünschtem Sprechen führen und behindern dann die tiefergehende Öffnung von vorgängigen Sozialisationsmustern. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 253 11. These: Gewisse Fächer sind besonders relevant Wenn auch antisemitische Vorfälle von jeder Lehrperson bearbeitet werden sollen, die auf einen solchen aufmerksam wird, so scheinen doch gewisse Fächer für eine präventive Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Holocaust Distortion besonders geeignet zu sein: • Geschichte • Politische Bildung • Ethik • Philosophie • Religion • Literatur (Deutsch und Fremdsprachen) • Kunst • Medienpädagogik/digitale Kompetenzen (in allen Fächern) Eine Abstimmung der einzelnen Fächer ist notwendig, auch in der Form von fächerübergreifendem Lernen oder in der Nutzung der extracurricularen Zeit etwa in Gesamtschulen. Lehrer:innenbildung 12. These: Curricula In den Curricula für die Lehrer:innenbildung wird in aller Regel kein Basiswissen zu Antisemitismus und Holocaust Distortion namentlich angeführt. Hochschulen und Universitäten können evaluieren, ob Studierenden bzw. angehenden Lehrpersonen das notwendige spezifische Wissen über Antisemitismus sowie die notwendigen professionellen Kompetenzen vermittelt werden, ebenso zur Geschichte des Holocaust sowie über Holocaust Distortion. Allerdings gibt es keine gesicherte Wirkungskette von den Curricula der Lehrer:innenbildung zur Hochschullehre zum Wissen und Können der Studierenden, zu ihrem Denken, Sprechen und Handeln in Hochschule und Schule und zu ihren Einstellungen sowie Haltungen zu Antisemitismus und Holocaust Distortion. Dennoch ist davon auszugehen, dass in der ersten Phase der Lehrpersonenausbildung vermitteltes Professionswissen grundlegend für die Entwicklung der Lehrpersönlichkeit ist. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 254 Es ist schwierig, ein Basiswissen zu Antisemitismus und Holocaust Distortion in den Curricula der Hochschulen festzuschreiben. Um also Anliegen wie das Einstehen gegen Antisemitismus und HolocaustLeugnung sowie Holocaust Distortion, für Persönlichkeitsbildung, Gerechtigkeit und Toleranz in der Hochschule umzusetzen, ist ein Engagement auf den verschiedensten Ebenen (Dozierende, Fachschaften, Fakultäten, Hochschulleitungen, Hochschulräte) notwendig. 13. These: Ein differenziertes, gestuftes, studiengangspezifisches Lehrangebot Da transversale Themen in der Lehrer:innenbildung curricular schwierig zu verorten, anspruchsvoll zu planen sowie herausfordernd in der Implementierung und Umsetzung sind, könnte in den Studiengängen der Lehrer:innenbildung ein differenziertes, gestuftes, spezifisches Lehrangebot etabliert werden. Grundangebote erreichen alle Studierenden eines Studiengangs und sind obligatorisch. Hier wird das vermittelt, was alle Studierenden mit Blick auf ihren Berufsauftrag als Lehrer:in zu den Themen Antisemitismus und Holocaust Distortion unabdingbar wissen und können müssen. Erweiterungsangebote erreichen Studierende einer bestimmten Fachrichtung und sind für diese Studierenden obligatorisch. Hier wird das vermittelt, was die betreffenden Studierenden mit Blick auf ihren spezifischen Auftrag als Fachlehrer:in zum Thema Antisemitismus und Holocaust Distortion unabdingbar wissen und können müssen. Vertiefungsangebote sind Wahlveranstaltungen und erreichen interessierte Studierende. Hier werden vertiefende Aspekte zur antisemitismuskritischen Bildungsarbeit und zum Lernen über den Holocaust angeboten und vermittelt. Case-Management 14. These: Case-Management Bildungseinrichtungen benötigen ein Case-Management, das angemessene Reaktionen auf antisemitische Vorfälle gewährleistet. Universitäten und Hochschulen benötigen – wie auch Schulen – ein geeignetes Case-Management mit klaren Verantwortlichkeiten und empfohlenen Vorgangsweisen zur Bearbeitung von antisemitischen Vorfällen. Diese sind nicht ausschließlich das Problem jener Lehrper- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 255 son, die als Erste darauf aufmerksam wurde, sondern ein Problem der gesamten Institution und ihrer Leitungs- sowie Unterstützungsebenen sowie jedweder Person, mit der Lernende/Studierende zu tun haben (Schulsozialarbeit, Freizeitbetreuung …). Ein transparentes Meldesystem sowie geschulte interne und externe Ansprechpersonen unterstützen die betroffenen Lehrpersonen in der Kommunikation nach innen und außen. Ein derartiges spezifisches Case-Management kann Teil eines übergreifenden Case-Managements der Institution sein, das sich mit anderen sozial unerwünschten Verhaltensweisen beschäftigt. Institutionelle Rahmenbedingungen 15. These: Antisemitismus in den Strukturen bearbeiten Antisemitismus ist nicht nur ein inter- bzw. intrapersonelles Problem, sondern ein gesamtgesellschaftliches mit langer Tradition. Auch Bildungseinrichtungen und Bildungsstrukturen sind davon betroffen. Eine anti-antisemitische, kritische Revision der Kultur und Organisation der Bildungseinrichtung ebenso wie der institutionellen Rahmenbedingungen (Lehrpläne, Lehrmittel) dient der Bestandsaufnahme. Ausgangspunkt hierfür kann die Diskussion und Annahme der IHRAArbeitsdefinition von Antisemitismus sein. Es braucht auch Klarheit im Hinblick auf dienstrechtliche bzw. disziplinarische Konsequenzen für antisemitische Äußerungen/Handlungen von Lehrpersonen wie auch Lernenden. Bedeutsam ist zudem die Stärkung der demokratischen Gesprächskultur, die die Klärung schwieriger Fragen unterstützt. • Auf der Makroebene sind dies Vorgaben, Rahmenbedingungen, Unterstützungsangebote: Schulgesetze, Bildungspläne, Verwaltungsvorschriften, Aus- und Fortbildungsangebote, Beratungsangebote, Meldepflicht, Ressourcen, Priorisierungen etc. • Auf der Mesoebene der Schule ist dafür relevant: Schulentwicklung, Schulcurriculum, Schwerpunktsetzungen, „Schulkultur“, Leitbild, Schulordnung, Kollegium, Elternvertretungen, Schüler:innenvertretungen, Ressourcenverteilung, Abstimmungen und Zuständigkeiten etc. • Auf der Mikroebene des Unterrichts: Fachdidaktik, Methodik, Lernmaterialien, pädagogisches Handeln, professionelle Beziehungsarbeit, individuelle Schwerpunktsetzungen. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 256 Fortlaufende Qualifizierung 16. These: Fortlaufende Qualifizierung Antisemitismus, auch Holocaust Distortion, berührt – teils auch exemplarisch – viele und tief reichende Aufgaben von Lehrpersonen. Dabei geht es neben der Wissensvermittlung um Reflexion und Erweiterung von Weltzugängen, um grundsätzliches Verständnis von Gesellschaft, um das Verstehen sozialpsychologischer Prozesse wie Othering oder die Konstruktion von Identitäten, um die Dekonstruktion von Codes und Stereotypisierungen sowie um das Einüben in gesellschaftliche Artikulation und Partizipation etc. Diesbezügliche Lehrpersonenbildung findet sinnvollerweise in allen drei relevanten Phasen statt: im Studium, in der Berufseingangsphase sowie berufsbegleitend. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 257 Handlungsempfehlungen zum Umgang mit Antisemitismus an Hochschulen mit Lehrer:innenbildung 1 Hochschulen, die ein Studium für Lehrdiplom bzw. Lehramt anbieten, wird empfohlen 1 in allen Studiengängen bzw. in den jeweiligen Lehramtsstudien für künftige Lehrer:innen ein Grund-, Erweiterungs- und Vertiefungsangebot in der Lehre zum Umgang mit Antisemitismus zu gewährleisten, 2 3 die berufsethischen Erwartungen an Studierende offen zu kommunizieren, 4 auf Ebene der Hochschule ein Case-Management anzubieten, um bei Antisemitismus und anderen diskriminierenden Vorfällen prozessgeleitet und schnell (re)agieren zu können, eine Ansprechperson zu bezeichnen, die hochschulintern im Umgang mit Antisemitismus beraten und unterstützen kann. Kontextualisierung Der verantwortungsbewusste Umgang mit Menschenrechten und Demokratie gehört zum Kernbestand der Lehrer:innenprofessionalität und bekommt daher in der Lehrer:innenbildung einen besonderen Stellenwert eingeräumt. In einer Zeit zunehmender Sensibilisierung für Diskriminierungspraktiken in Form von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, Rassismen, Sexismen und insbe1 Bei der Entwicklung und Formulierung der vorliegenden Handlungsempfehlungen profi- tierten wir von vielen Gesprächen, die wir mit Expertinnen und Experten von Hochschulen führen durften, sowie von einschlägigen Dokumenten, die uns verschiedene Hochschulen zur Verfügung gestellt haben. Explizit genannt werden soll die Broschüre der Pädagogischen Hochschule Luzern von Herbert Luthiger „Verantwortung übernehmen: Berufsethische Erwartungen an Studierende der PH Luzern“ (ohne Jahr). Besten Dank für die große Unterstützung und für die vielen Anregungen. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 258 sondere in Form von Antisemitismen – häufig in Verbindung mit Verschwörungsideologien – gelangen auch Hochschulen verstärkt in die Situation, auf diese Phänomene angemessen reagieren zu müssen. Eine besondere Verantwortung ist dabei für den Bereich der Lehrer:innenbildung gegeben. Antisemitismus ist ein globales Phänomen von langer Dauer und war die leitende Ideologie für den Völkermord an den europäischen Jüdinnen und Juden, den Holocaust / die Shoah. Antisemitismus trat und tritt in ganz verschiedenen zeit- und kontextgebundenen Erscheinungsformen auf. Bildung über den Holocaust immunisiert nicht gegen Antisemitismus und auch nicht dagegen, dass der Holocaust in politischen Kontexten verzerrt dargestellt und instrumentalisiert wird. Angemessenes Lehren und Lernen über den Holocaust ist allerdings Voraussetzung für die reflektierte Auseinandersetzung mit Holocaust-Verharmlosung, -Verzerrung und -Leugnung sowie mit Antisemitismus. Nun ist bekannt, dass transversale Themen in der Lehrer:innenbildung curricular schwierig zu verorten, anspruchsvoll zu planen sowie herausfordernd in der Implementierung und Umsetzung sind. Klar ist, dass solche Bildungsanliegen nicht in die Zuständigkeit eines einzelnen Faches delegiert werden können und dürfen. Den Studierenden muss im Rahmen der gesamten Ausbildung Gelegenheit gegeben werden, ein angemessenes Rollenverständnis sowie professionelles Wissen und Können zu erwerben, das sie auf die Herausforderungen bestmöglich vorbereitet, denen sie in der schulischen Praxis begegnen werden. Notwendige Kompetenzen für Lehrer:innen zum Umgang mit Antisemitismus Professionelle Kompetenzen wie Professionswissen, Überzeugungen und Werthaltungen, motivationale Orientierungen und selbstregulative Fähigkeiten, darüber hinaus ein Bewusstsein für die in unseren Gesellschaften inhärenten antisemitischen Codierungen, sind Voraussetzungen dafür, um Antisemitismus zu erkennen und ihm zu begegnen. Persönlichkeitsbildung in dieser Hinsicht sowie eine Stärkung der kommunikativen Kompetenzen und der Person sollten Raum in der Ausbildung jeder Lehrperson haben, unabhängig von Fach und Schulart. 1. Angebote in der Lehre Um diese Ziele zu erreichen und um die Kompetenzentwicklung der Lehrer:innen zu ermöglichen, wird angeregt, in allen Studiengängen bzw. in den jeweiligen Lehramtsstudien ein strukturanaloges, aber differenziertes dreiteiliges Angebot zu etablieren. Die Ausgestaltung des Angebots kann sich von Hoch- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 259 schule zu Hochschule unterscheiden, sie richtet sich nach dem zur Verfügung stehenden Zeitdeputat sowie nach den personellen Ressourcen und dem Profil der Studiengänge bzw. der Lehramtsstudien. Die folgenden Konkretisierungen sind als Anregung zur hochschulinternen Diskussion gedacht und können als orientierender Leitfaden für eine Selbstevaluation dienen. Grundangebote erreichen alle Studierenden eines Studiengangs bzw. eines Studiums und sind obligatorisch. Hier wird das vermittelt, was alle Studierenden mit Blick auf ihren Berufsauftrag als Lehrer:in zu den Themen Antisemitismus und Holocaust Distortion unabdingbar wissen und können müssen. Dazu gehören zum Beispiel ein Angebot zur Reflexion der Bedeutung von Antisemitismus und gegebenenfalls Holocaust-Distortion in der eigenen Sozialisation, ein Basiswissen (Geschichte, Erscheinungsformen, Mechanismen) zur Sensibilisierung, damit Vorfälle erkannt werden, sowie ein elementares Handlungsrepertoire zum Umgang mit Antisemitismus (Prävention und Intervention) in Unterricht und Schule. Diese Grundangebote können partnerschaftlich und im Teamteaching von den Verantwortlichen der zuständigen curricularen Angebote (zum Beispiel in den Bildungs- und Erziehungswissenschaften) und Fachleuten für Bildung gegen Antisemitismus durchgeführt werden. Grundangebote können eine einzelne Seminarveranstaltung, einen Blocktag, mehrere Blocktage oder auch eine ganze Semesterveranstaltung umfassen, zum Beispiel ein übergreifendes Seminar für alle Studierenden zu Diskriminierungen, in dem auch Antisemitismus ein wichtiges Teilthema ist. Erweiterungsangebote erreichen Studierende einer bestimmten Fachrichtung und sind für diese Studierenden obligatorisch. Hier wird das vermittelt, was die betreffenden Studierenden mit Blick auf ihren spezifischen Auftrag als Fachlehrer:in zum Thema Antisemitismus unabdingbar wissen und können müssen. Dazu gehört für angehende Geschichts-Lehrer:innen zum Beispiel ein basales Überblickswissen über jüdisches Leben in Geschichte und Gegenwart, über Geschichte und Erscheinungsformen des Antisemitismus, über den Holocaust und seine Nachwirkungen sowie über die Formen der Instrumentalisierung von Antisemitismus und Holocaust in gesellschaftlichen Diskursen (beispielsweise im Nahostkonflikt, in postkolonialen Diskursen oder im Rahmen bestimmter Verschwörungserzählungen). Auch bei den Erweiterungsangeboten ist auf eine balancierte Kompetenz- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 260 entwicklung zu achten, welche Wissen, Können, Einstellungen und Haltungen, Motivation und Handlungsmöglichkeiten umfasst. Erweiterungsangebote werden durch jene Dozierenden erteilt, die die Studierenden in den curricular festgelegten Fachveranstaltungen auf ihren Berufsauftrag vorbereiten. Fachleute für Bildung gegen Antisemitismus und Lernen über den Holocaust können gegebenenfalls die Dozierenden beraten und unterstützen, wenn diese es wünschen. Erweiterungsveranstaltungen müssen einen dem Studiengang beziehungsweise den Lehramtsstudien zeitlich angemessenen Umfang haben und können ebenfalls eine einzelne Seminarveranstaltung, einen Blocktag, mehrere Blocktage oder auch eine ganze Semesterveranstaltung umfassen. Vertiefungsangebote sind Wahlveranstaltungen und erreichen alle am Thema besonders interessierten Studierenden. Hier werden vertiefende Aspekte zur antisemitismuskritischen Bildungsarbeit und zum Lehren und Lernen über den Holocaust angeboten und vermittelt. Dazu gehören Spezialisierungsstudien, ein Angebot für Qualifikationsarbeiten (BA, MA, Staatsexamensarbeiten, PhD), Aktivitäten rund um verschiedene Gedenktage, Aktionstage und Begegnungslernen. Vertiefungsangebote können in denselben Formaten wie die Erweiterungsangebote stattfinden oder auch im Rahmen von Gedenktagen hochschulweite Mittags- oder Abendveranstaltung umfassen. Hochschulen, die ein Studium für Lehrdiplom bzw. Lehramt anbieten, wird empfohlen, im Rahmen einer Standortbestimmung oder einer Qualitätsevaluation eine Matrix zu entwickeln, um ein Angebot zu gewährleisten, in der Grund-, Erweiterungs- und Vertiefungsangebote an die einzelnen Studiengänge bzw. Lehramtsstudien angebunden werden. Dies kann wie folgt aussehen (und muss für jede Hochschule entsprechend adaptiert werden): © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 261 Studiengang bzw. Lehramtsstudien Grundangebote Erweiterungsangebote Vertiefungsangebote (alle Studiengänge) Kindergarten / Unterstufe Umgang mit Antisemitismus (AS) in den Einstiegswochen im 1. Semester AS im Modul Sachunterricht im 3. Semester – Spezialisierungsstudium „Gegen Antisemitismen im Bildungsbereich“, offen für alle Studierenden AS in Modul Erziehungswissenschaften im 1. Semester AS im Modul Gesellschaftswissenschaften im 3. Semester Sekundarstufe I / Oberstufe AS im MentoratModul im 5. Semester AS in den Modulen Geschichte sowie Ethik und Religionen im 5. Semester Sekundarstufe II / Gymnasium AS im Modul Erziehungswissenschaften im 2. Semester AS im Modul Fachdidaktik Geschichte im 2. Semester Primarstufe – Qualifikationsarbeiten (Pool Diversität, Pool Geschichte, Pool Ethik und Religionen) – Tagungen, finanziert für Dozierende und Studierende – politische Aktivitäten und Anlässe: Diskurse an sogenannten Aktionstagen am 27.1. und am 8.5. in Zusammenarbeit mit Studierendenorganisationen, Stiftungen, Medien usw. Dreiteiliges, angebotsspezifisches Lehrangebot von Hochschulen zur Ausbildung notwendiger Kompetenzen angehender Lehrer:innen zum Umgang mit Antisemitismus (Mustermatrix) Universitäten und Hochschulen als Standorte der Lehrer:innenbildung, die Studierenden die skizzierte dreiphasige Profilierung eröffnen, könnten ein gemeinsames Zertifikat erarbeiten und dies den Studierenden in Aussicht stellen, die nicht nur das Grund-, sondern auch das Erweiterungs- und ein Vertiefungsangebot absolvieren. Studierende, die sich für solch ein Zertifikat entscheiden, führen während der drei Phasen der fachlichen Profilierung ein Portfolio, um die Entwicklung von Reflexionsvermögen sowie von beruflichem Rollenverständnis zu unterstützen. Je nach rechtlicher Verfasstheit der Hochschulen könnten die Erweiterungsund Vertiefungsangebote auch institutions- sowie phasenübergreifend angeboten werden. Dies eröffnete die Möglichkeit, bereits praktizierende Lehrer:innen sowie allenfalls auch weitere pädagogische Fachkräfte, beispielsweise aus dem Elementarbereich, anzusprechen. 2. Berufsethische Erwartungen an Studierende Der Lehrberuf ist unter anderem gekennzeichnet durch große Verantwortung und durch einen großen Handlungs- und Entscheidungsspielraum. Zu den © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 262 notwendigen professionellen Kompetenzen, die qualitätsvollen Unterricht und Erziehung garantieren, brauchen Lehrer:innen ein berufsethisches Bewusstsein als Selbstverpflichtung auf Normen, Werte, Einstellungen und Haltungen. In einzelnen Ländern sind solche Verpflichtungen als Ergebnis eines gemeinsamen Klärungsprozesses der Lehrer:innen in Berufsleitbildern, Standesregeln, Leitbildern oder in einem Ethikkodex formuliert. Die Bildung von Lehrerinnen und Lehrern hat der Entwicklung des Berufsethos besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Transparente und offen kommunizierte berufsethische Erwartungen ermöglichen es den Studierenden, diese Anforderungen auszudifferenzieren, sind also ressourcenorientiert und bieten ein Angebot zur persönlichen Entwicklung und Selbstbildung. Darüber hinaus ermöglichen sie es den Hochschulen, allfällige inakzeptable Übertretungen zu sanktionieren. Es wird deshalb angeregt, dass Hochschulen mit Lehrer:innenbildung die berufsethischen Kompetenzen sowie detaillierte Erwartungen dazu ausformulieren und den Studierenden gleich zu Beginn des Studiums offenlegen. Berufsethische Erwartungen an Studierende sollen eine unverhandelbare Basis für das Studium und die berufliche Tätigkeit sein. Mit dem Studienziel, Lehrerin oder Lehrer zu werden, erklären sich die Studierenden bereit, die mit diesen berufsethischen Erwartungen verknüpften Verpflichtungen schon während des Studiums einzugehen und sich mit den dahinterstehenden Werten auseinanderzusetzen. Zum Umgang mit Antisemitismus könnten zum Beispiel folgende berufsethische Erwartungen formuliert werden: • Studierende respektieren die Menschenwürde, das Verhalten, die Meinung, das Aussehen aller Menschen und begegnen ihnen mit Achtung und Respekt. • Sie benachteiligen andere Personen nicht wegen ihrer ethnischen oder nationalen Zugehörigkeit, ihrer Geschlechtszugehörigkeit, ihrer Religionszugehörigkeit, ihrer physischen und psychischen Beeinträchtigungen, ihrer sozialen oder regionalen Herkunft, wegen des Alters oder ihrer politischen Einstellungen. • Sie benutzen eine Sprache, die andere nicht diskriminiert und verletzt; sie äußern sich weder rassistisch noch antisemitisch. • Sie nehmen Konflikte oder Diskriminierungen wahr, sprechen diese angemessen an und suchen gerechte Lösungen. • Sie achten auf den Schutz der Integrität sowie auf das psychische und physische Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen. Sie pflegen einen fürsorglichen und wohlwollenden Umgang mit den Kindern und Jugendlichen. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 263 3. Case-Management der Hochschule Vorfälle von Antisemitismus und Holocaust Distortion in Schulen und Hochschulen sind nicht ausschließlich das Problem jener Personen, die als Erste darauf aufmerksam werden, sondern ein Problem der gesamten Institution und ihrer Leitungs- sowie Unterstützungsebenen (Mentorate, Beratungsstellen usw.). Bildungseinrichtungen (Schulen und Hochschulen) benötigen deshalb ein Case-Management, das angemessene Reaktionen auf Vorfälle von Antisemitismus und Holocaust-Distortion gewährleistet. In diesem Case-Management werden die Verantwortlichkeiten und Vorgehensweisen zur Bearbeitung von Vorfällen genau bezeichnet. Ein transparentes Meldesystem sowie geschulte interne und externe Ansprechpersonen unterstützen die betroffenen Dozierenden und Lehrpersonen in der Kommunikation nach innen und außen. Ein derartiges spezifisches CaseManagement kann Teil eines übergreifenden Case-Managements sein, das sich mit anderen sozial unerwünschten Verhaltensweisen, mit weiteren diskriminierenden Vorfällen, Mobbing oder der Nicht-Erfüllung von berufsethischen Erwartungen beschäftigt. Dafür sind etwa folgende Aspekte bedeutsam: • rasche Intervention • gegebenenfalls Opferschutz • hochschulinterne Dokumentation • inneruniversitärer Diskussions- und Reflexionsprozess • Information der Öffentlichkeit • (straf- bzw. personalrechtliche) Sanktionierung. Das Case-Management ist allen Mitarbeitenden der Bildungseinrichtung bekannt. 4. Hochschulinterne Ansprechperson zum Umgang mit Antisemitismus Vor dem Hintergrund der großen Herausforderungen von Hochschulen, insbesondere auch der Lehrer:innenbildung, im Umgang mit Antisemitismus und Holocaust Distortion sowie weiterer Diskriminierungsformen und Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, wird angeregt, hochschulintern eine Ansprechperson für diese Fragen und Probleme zu bezeichnen. Die Ansprechperson zum Umgang mit Antisemitismus unterstützt Lehrende und Studierende – allenfalls auch Lehrer:innen im Schuldienst – bei der Prävention und Intervention gegen Antisemitismus und Holocaust Distortion und gegen weitere Phänomene Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit oder Diskriminierung. Sie pflegt den fachlichen Austausch, unterstützt Dozierende © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 264 bei der qualitativ hochstehenden Lehre gegen Antisemitismus, macht allenfalls selbst Angebote, insbesondere im Vertiefungsbereich, berät Studierende und Dozierende im Umgang mit den berufsethischen Erwartungen und beteiligt sich beim Case-Management, sofern es sich um Antisemitismus oder Holocaust Distortion handelt. Die hochschulinterne Ansprechperson zum Umgang mit Antisemitismus ist für alle Studierenden und Mitarbeitenden der Bildungseinrichtung leicht auffindbar und kann einfach kontaktiert werden. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 265 International Holocaust Remembrance Alliance Arbeitsdefinitionen Arbeitsdefinition von Antisemitismus2 Am 26. Mai 2016 entschied das IHRA-Plenum in Bukarest die nachstehende Arbeitsdefinition von Antisemitismus anzunehmen: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“ Um die IHRA bei ihrer Arbeit zu leiten, können die folgenden Beispiele zur Veranschaulichung dienen: Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden. Antisemitismus umfasst oft die Anschuldigung, die Juden betrieben eine gegen die Menschheit gerichtete Verschwörung und seien dafür verantwortlich, dass „die Dinge nicht richtig laufen“. Der Antisemitismus manifestiert sich in Wort, Schrift und Bild sowie in anderen Handlungsformen, er benutzt unheilvolle Stereotype und unterstellt negative Charakterzüge. Aktuelle Beispiele von Antisemitismus im öffentlichen Leben, in den Medien, Schulen, am Arbeitsplatz und in der religiösen Sphäre können unter Berücksichtigung des Gesamtkontexts folgendes Verhalten einschließen, ohne darauf beschränkt zu sein: • Der Aufruf zur Tötung oder Schädigung von Jüdinnen und Juden im Namen einer radikalen Ideologie oder einer extremistischen Religionsanschauung sowie die Beihilfe zu solchen Taten oder ihre Rechtfertigung. 2 Text wörtlich übernommen von: https://www.holocaustremembrance.com/de/resources/ working-definitions-charters/arbeitsdefinition-von-antisemitismus (Zugriff: 5.1.2022). © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 266 • Falsche, entmenschlichende, dämonisierende oder stereotype Anschuldigungen gegen Jüdinnen und Juden oder die Macht der Jüdinnen und Juden als Kollektiv – insbesondere aber nicht ausschließlich die Mythen über eine jüdische Weltverschwörung oder über die Kontrolle der Medien, Wirtschaft, Regierung oder anderer gesellschaftlicher Institutionen durch die Jüdinnen und Juden. • Das Verantwortlichmachen der Jüdinnen und Juden als Volk für tatsächliches oder unterstelltes Fehlverhalten einzelner Jüdinnen und Juden, einzelner jüdischer Gruppen oder sogar von Nichtjüdinnen und Nichtjuden. • Das Bestreiten der Tatsache, des Ausmaßes, der Mechanismen (z. B. der Gaskammern) oder der Vorsätzlichkeit des Völkermordes an den Jüdinnen und Juden durch das nationalsozialistische Deutschland und seine Unterstützer und Komplizen während des Zweiten Weltkrieges (Holocaust). • Der Vorwurf gegenüber den Jüdinnen und Juden als Volk oder dem Staat Israel, den Holocaust zu erfinden oder übertrieben darzustellen. • Der Vorwurf gegenüber Jüdinnen und Juden, sie fühlten sich dem Staat Israel oder angeblich bestehenden weltweiten jüdischen Interessen stärker verpflichtet als den Interessen ihrer jeweiligen Heimatländer. • Das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen. • Die Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet oder gefordert wird. • Das Verwenden von Symbolen und Bildern, die mit traditionellem Antisemitismus in Verbindung stehen (z.B. der Vorwurf des Christusmordes oder die Ritualmordlegende), um Israel oder die Israelis zu beschreiben. • Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten. • Das kollektive Verantwortlichmachen von Jüdinnen und Juden für Handlungen des Staates Israel. Antisemitische Taten sind Straftaten, wenn sie als solche vom Gesetz bestimmt sind (z. B. in einigen Ländern die Leugnung des Holocausts oder die Verbreitung antisemitischer Materialien). Straftaten sind antisemitisch, wenn die Angriffsziele, seien es Personen oder Sachen – wie Gebäude, Schulen, Gebetsräume und Friedhöfe – deshalb ausgewählt werden, weil sie jüdisch sind, als solche wahrgenommen oder mit Jüdinnen und Juden in Verbindung gebracht werden. Antisemitische Diskriminierung besteht darin, dass Jüdinnen und Juden Mög- © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 267 lichkeiten oder Leistungen vorenthalten werden, die anderen Menschen zur Verfügung stehen. Eine solche Diskriminierung ist in vielen Ländern verboten. Arbeitsdefinition zur Leugnung und Verfälschung/ Verharmlosung des Holocaust3 Der hier vorgelegten Definition liegt die Erkenntnis zugrunde, dass die Leugnung und Verfälschung des Holocaust sowohl national als auch international bekämpft und geächtet sowie weltweit untersucht werden müssen. Die IHRA hat deshalb als Arbeitsgrundlage die folgende, rechtlich nicht bindende Arbeitsdefinition verabschiedet: Als Holocaustleugnung werden solche Diskurse und Formen der Propaganda verstanden, die die historische Realität und das Ausmaß der Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten und ihre Komplizen während des Zweiten Weltkriegs – bekannt als Holocaust oder Shoah – leugnen. Holocaustleugnung bezieht sich namentlich auf jeden Versuch zu behaupten, der Holocaust/die Shoah habe nicht stattgefunden. Holocaustleugnung ist auch gegeben, wenn die wesentlichen Mechanismen der Vernichtung (wie Gaskammern, Massenerschießungen, Verhungern und Folter) oder die Vorsätzlichkeit des Völkermords an den europäischen Juden öffentlich geleugnet oder in Zweifel gezogen werden. Holocaustleugnung ist in all ihren verschiedenen Formen Ausdruck von Antisemitismus. Wer den Völkermord an den Juden leugnet, versucht Nationalsozialismus und Antisemitismus von Schuld und Verantwortung für diesen Völkermord freizusprechen. Formen der Holocaustleugnung bestehen auch darin, den Juden vorzuwerfen, sie übertrieben die Shoah oder hätten sie erfunden, um daraus einen politischen oder finanziellen Vorteil zu ziehen, als sei die Shoah das Ergebnis einer Verschwörung der Juden gewesen. Dies zielt letztlich darauf ab, die Juden für schuldig und den Antisemitismus einmal mehr für legitim zu erklären. Häufig zielt die Holocaustleugnung auf die Rehabilitation eines offenen 3 Text wörtlich übernommen von: https://holocaustremembrance.com/de/resources/working- definitions-charters/arbeitsdefinition-zur-leugnung-und-verfaelschung (Zugriff: 5.1.2022). Der englische Titel der Arbeitsdefinition lautet „Working Definition of Holocaust Denial and Distortion“. Der Begriff „distortion“ umfasst im Deutschen sowohl „Verharmlosung“ als auch „Verfälschung“, die je nach Kontext zu verwenden sind. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 268 Antisemitismus ab und will damit ebenjene politischen Ideologien und Bedingungen fördern, die das Entstehen genau der Art von Geschehnissen begünstigen, die sie leugnet. Unter Verfälschung und Verharmlosung des Holocaust ist unter anderem zu verstehen: 1) das vorsätzliche Bemühen, die Auswirkungen des Holocaust oder seine wesentlichen Elemente, einschließlich der Kollaborateure und der Verbündeten des nationalsozialistischen Deutschlands, zu entschuldigen oder zu verharmlosen; 2) die massive Verfälschung der Zahl der Opfer des Holocaust im Widerspruch zu verlässlichen Quellen; 3) Versuche, den Juden die Schuld an dem an ihnen verübten Völkermord zuzuschreiben; 4) Aussagen, die den Holocaust als positives geschichtliches Ereignis deuten. Solche Aussagen stellen keine Holocaustleugnung im eigentlichen Sinne dar, sie sind jedoch als radikale Form des Antisemitismus eng damit verbunden. Sie können suggerieren, der Holocaust sei nicht weit genug gegangen, um das Ziel einer „Endlösung der Judenfrage“ zu erreichen. 5) Versuche, die Verantwortung für die Errichtung von Konzentrations- und Vernichtungslagern, wie sie vom nationalsozialistischen Deutschland entwickelt und betrieben wurden, zu verschleiern, indem die Schuld daran anderen Nationen oder ethnischen Gruppen zugewiesen wird. © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 269 Herausgeber:innen VICTORIA KUMAR , Dr.in, ist Historikerin und stellvertre- tende Geschäftsführerin von _erinnern.at_; davor wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centrum für Jüdische Studien Graz und am Center for Austrian Studies, The Hebrew University of Jerusalem, Israel. Forschungsschwerpunkte: Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust, Flucht und Exil nach/in Palästina/Israel, Antisemitismen, Oral History, Erinnerungskulturen, Digital Mapping. WERNER DREIER, Dr., ist Historiker, arbeitete als Lehrer und in der Lehrerbildung, leitete 2000 bis 2021 _erinnern. at_ (Nationalsozialismus und Holocaust: Gedächtnis und Gegenwart). Er gehört seit 2001 der österreichischen Delegation zur International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) an, wo er Mitglied der Education Working Group ist. Forschungs- und Publikationsprojekte, u. a. zum historischen Lernen mit Zeitzeuginnen- und Zeitzeugen-Videointerviews und zu Antisemitismus. PETER GAUTSCHI , Prof. Dr., ist Professor für Geschichtsdi- daktik an der Pädagogischen Hochschule Luzern/Schweiz, wo er auch das Institut für Geschichtsdidaktik und Erinnerungskulturen (IGE) leitet. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Geschichtsunterricht, Lehrmittel und Public History. Zum Umgang mit Holocaust in Schule und Öffentlichkeit hat er in mehreren Sprachen publiziert. Verschiedene seiner gedruckten und digitalen Lehrmittel wurden mit Preisen ausgezeichnet (u. a. World Didac Award). © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. 270 NICOLE RIEDWEG , MA, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichtsdidaktik und Erinnerungskulturen der Pädagogischen Hochschule Luzern, Lehrerin der Sekundarstufe I für die Fächer Geschichte, Geografie, Naturwissenschaften und Mathematik sowie Praxisbetreuerin von angehenden Lehrpersonen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind digitale Medien im Geschichtsunterricht, Holocaust Education sowie geschichtsspezifische Überzeugungen von Lehrpersonen. Sie promoviert dazu an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. LINDA SAUER , Dr.in, ist Politikwissenschaftlerin (Politische Phi- losophie). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen an der Schnittstelle von Sozialphilosophie, politischem Extremismus und digitaler Öffentlichkeit. Aktuell forscht sie zu politischen Fragmentierungs- und Radikalisierungsprozessen in Sozialen Medien und der dahingehenden Aktualität von Hannah Arendts Öffentlichkeitsbegriff. Jüngst erschienen: Verlust politischer Urteilskraft. Hannah Arendts politische Philosophie als Antwort auf den Totalitarismus, Schriftenreihe des Hannah-ArendtInstituts für Totalitarismusforschung e. V. (2022). ROBERT SIGEL , Dr., Mitarbeiter in der Geschäftsstelle des Beauftragten der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, für Erinnerungsarbeit und geschichtliches Erbe; Lehrbeauftragter an der LudwigMaximilians-Universität München; Autor von Schulbüchern für das Fach Geschichte, zahlreiche Veröffentlichungen u. a. zur justiziellen Aufarbeitung der NS-Verbrechen, zum nationalsozialistischen Lagersystem, zur Holocaust Education und Erinnerungskultur, zum Antisemitismus, Mitherausgeber der Reihe „Dachauer Diskurse“; von 1998 bis 2018 deutscher Delegierter in der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), Mitglied in der internationalen Didaktik-Expertengruppe bei der Erarbeitung der Online-Materialien „Das Schicksal der europäischen Roma und Sinti während des Holocaust.“ © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. WOCHEN SCHAU VERLAG Antisemitismus und Bildung ... ein Begriff für politische Bildung Marc Grimm, Stefan Müller (Hg.) Bildung gegen Antisemitismus Bildung schützt nicht automatisch vor antisemitischen Ressentiments. In diesem Band werden Ansätze aus der Praxis, aktuelle Kontroversen und der Forschungsbedarf für eine Auseinandersetzung mit Antisemitismen in pädagogischen Kontexten diskutiert. ISBN 978-3-7344-1140-3, 272 S., € 32,00 alle Bände auch als eBook Julia Bernstein, Marc Grimm, Stefan Müller (Hg.) Schule als Spiegel der Gesellschaft Erst wenn die Stimmen von Jüdinnen/Juden ernst genommen werden, können die Verletzungen, Diskriminierungen und sozialen Legitimationen von Antisemitismen und deren Auswirkungen auf jüdische Identitäten und die Gesellschaft verändert werden. Das Buch schlägt daher einen Paradigmenwechsel auf jüdische Perspektiven vor. ISBN 978-3-7344-1354-4, 512 S., € 39,90 Jakob Baier, Marc Grimm (Hg.) Antisemitismus in Jugendkulturen Die Beiträge beleuchten die Rolle und Wirkungsmacht des Antisemitismus in der Jugendsozialisation und nehmen dabei verschiedene jugendkulturelle Kontexte in den Blick. Zudem werden Potenziale von Bildungsprogrammen gegen Antisemitismus diskutiert. ISBN 978-3-7344-1142-7, 248 S., € 29,90 Weitere Bände in Planung: Julia Bernstein, Florian Diddens Antisemitische Kontinuitäten in Bildern Eine Handreichung zum Erkennen und Handeln Marc Grimm, Jacob Baier (Hg.) Antisemitismus im Gangsta-Rap Empirische Ergebnisse und Empfehlungen für die Prävention www.wochenschau-verlag.de www.facebook.com/ wochenschau.verlag © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. @ wochenschau-ver WOCHEN SCHAU VERLAG Bildungsarbeit ... ein Begriff für politische Bildung Christa Kaletsch, Manuel Glittenberg Antisemitismus an Schulen – erkennen und handeln Empfehlungen für eine demokratische Schulkultur Oft fallen auf dem Schulhof oder im Unterricht antisemitische Äußerungen. Manchmal sind sie leicht erkennbar, manchmal muss man auch erst einmal „dekodieren“ bzw. erkennen, dass es sich um Othering, Diskriminierung, Antisemitismus handelt. In jedem Fall stellt sich die Frage: Wie damit umgehen? Dieses Buch stellt authentische Fälle vor und gibt Hilfen, das eigene pädagogische Handeln zu überprüfen, um jüdische Schüler*innen vor Ausgrenzung und Antisemitismus zu schützen. ISBN 978-3-7344-1342-1, 64 S., € 9,90 PDF ISBN 978-3-7344-1343-8, € 8,99 Hans-Peter Killguss, Marcus Meier, Sebastian Werner Bildungsarbeit gegen Antisemitismus Grundlagen, Methoden & Übungen Antisemitismus ist Teil der deutschen Geschichte, aber auch der deutschen Gegenwart. Insbesondere in Schulen kommt es immer wieder zu antisemitischen Beschimpfungen oder gar Übergriffen. Das Buch hilft nicht nur dabei, verschiedene antisemitische Phänomene zu erkennen und einzuordnen, es bietet neben einführenden Texten auch zahlreiche Methoden für den Einsatz in der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit. ISBN 978-3-7344-0894-6, 224 S., € 24,90 PDF ISBN 978-3-7344-0895-3, € 19,99 www.wochenschau-verlag.de www.facebook.com/ wochenschau.verlag © Wochenschau Verlag, Frankfurt/M. @ wochenschau-ver Victoria Kumar, Werner Dreier, Peter Gautschi, Nicole Riedweg, Linda Sauer, Robert Sigel (Hg.) Antisemitismen Sondierungen im Bildungsbereich Welche Präventionsmöglichkeiten gibt es im Bildungsbereich zur Vorbeugung von Antisemitismus? Wie können künftige Lehrpersonen für den Umgang mit Antisemitismen qualifiziert werden? Was ist zu tun, wenn an einer Schule oder Hochschule ein antisemitischer Vorfall geschieht? In diesem Buch beantworten Expertinnen und Experten aus unterschiedlichsten Disziplinen solche und weitere wichtige Fragen. Sie nutzen dazu ihre relevanten Forschungsergebnisse und ihre reichen Praxiserfahrungen. Die Zusammenschau aller Beiträge eröffnet neue Perspektiven und zeigt auf, wie Lehrer:innen, Dozierende, Schulen und Hochschulen ihre gesellschaftliche Verantwortung gegen Antisemitismus wahrnehmen können. Zur Reih Reihe umfasst empirische, didaktische und theoretische Die Reihe Antisemitismus und Bildung Bil Analysen zur Aufklärung Prävention von Antisemitismus in Bildungskontexten. ärung und Präventio ISBN 978-3-7344-1456-5