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Gefährliche Augenblicke

2019, Gefahr oder Risiko

Es mag verwunderlich erscheinen, warum ich einen Text über die Fotografie des Falls oder Fallens mit dem Bild der Kopfkamera eines Wissenschaftlers aus dem Life Magazine vom 10. September 1945 beginne. Für den hier verhandelten Sachverhalt scheint sich mir an dieser Stelle eine der unerwarteten Fluchtlinien des Themas zu zeigen. Die Kamera, die von Vannevar Bush in seinem visionären und einflussreichen Essay »As we may think« als eine von Rechenmaschinen unterstützte Zukunft beschrieben wird, ist der Prototyp für eine an den Körper gebundene Technologie, die den Status einer unbewussten Übertragung der Wahrnehmung auf eine apparative Anordnung und deren Einbettungen in eine vernetzte (digitale) Umwelt hat. Sie ist wiederum die Bedingung einer veränderten Wahrnehmung und damit auch der (fotografischen) Sicht auf die Welt, respektive der medialen Konstruktion bzw. Erzeugung von Welt und der Art, wie diese Sicht oder Welt produziert wird. Sie ist ebenfalls die Vorahnung einer operativen Bildlichkeit, wie sie sich erst in den letzten Jahren gezeigt hat. Im Kern dieses Textes wird es um die Produktion von Bildern des riskanten Fallens gehen, deren handlungsbezogener Ausgangspunkt hauptsächlich Action-Cams wie die GoPro sind. Ihrer technologischen und visuellen Vorgeschichte, ihrer Gebrauchsgeschichte und ihrer Einbettung in eine technologische Umwelt gilt das hauptsächliche Interesse dieses Beitrags. Die Art von Bildproduktion, über die hier zu sprechen ist und das damit verbundene Risiko eines Unfalls, hat eine Vorgeschichte in unserer bildlichen Kultur, auf die-zwangsläufig skizzenhaft-einführend eingegangen werden soll. Obwohl mit Newton alles Irdische hinfällig geworden ist, erzählen die Geschichten des Fliegens immer von einem Aufstand gegen das Fallen und gegen die Gravitation oder aber gegen das Göttliche, der aber, bezogen auf den Menschen, meist auf dem Erdboden endet. Sieht man von den wenigen Ausnahmen der Weltraumbestattung ab … Bildgeschichte Erst in der ausgehenden Renaissance bzw. im Übergang zum Barock werden Bilder denkbar und damit auch darstellbar, die frei fliegende oder zu Boden stürzende menschliche Figuren zeigen. Mit der ›(Er-)Findung‹ der Unendlichkeit der Welt durch Giordano Bruno, Johannes Kepler, Nikolaus Kopernikus und anderen

Abb. 7: Willi Ruge: Mit dem Kopf nach unten hängend, bei ungeöffnetem Fallschirm …

aus der Serie Ich fotografiere mich beim Absturz mit dem Fallschirm (1931) Willi Ruge ist ein Fotojournalist der ersten Stunde. In den 1910er-Jahren beginnt er zuerst als Amateur, seine Fotografien illustrierten Zeitschriften anzubieten und professionalisiert sich dabei schnell. Seine Bilder sind geprägt von den Möglichkeiten der immer kleiner werdenden transportablen Kameras. Einige wesentliche Elemente der weiteren Beschreibung des fotografischen Gerätes in der memex betreffen die erhebliche Verkleinerung der fotografischen Apparatur mit einem 4 x 4 mm großen Negativ, 113 die Fokussierung der Aufnahme durch die Brille des Nutzers (siehe kleines Quadrat im Glas) und die unmittelbare Sichtbarkeit des visuellen Outputs als trocken entwickeltes Positiv. Er ist damit noch sehr dem Denken einer analogen Apparatur verhaftet, die alle Arten von Bildern aufnehmen sollte, die mit der Arbeit der Forscherin am Arbeitsplatz des memex verbunden waren, also Bilder, Texte, Grafiken etc. Die Einbindung dieser powerful instrumentalities come into use. Photocells capable of seeing things in a physical sense, advanced photography which can record what is seen or even what is not, [thermionic tubes capable of controlling potent forces under the guidance of less power than a mosquito uses to vibrate his wings, cathode ray tubes rendering visible an occurrence so brief that by comparison a microsecond is a long time, relay combinations which will carry out involved sequences of movements more reliably than any human operator and thousands of times as fast -there are plenty of mechanical aids with which to effect a transformation in scientific records.] // […] // A record if it is to be useful to science, must be continuously extended, it must be stored, and above all it must be consulted. Today we make the record conventionally by writing and photography, followed by printing; but we also record on film, on wax disks, and on magnetic wires. Even if utterly new recording procedures do not appear, these present ones are certainly in the process of modification and extension. Certainly progress in photography is not going to stop. Faster material and lenses, more automatic cameras, finer-grained sensitive compounds to allow an extension of the minicamera idea, are all imminent. Let us project this trend ahead to a logical, if not inevitable, outcome. The camera hound of the future wears on his forehead a lump a little larger than a walnut. It takes pictures 3 millimeters square, later to be projected or enlarged, which after all involves only a factor of 10 beyond present practice. The lens is of universal focus, down to any distance accommodated by the unaided eye, simply because it is of short focal length. There is a built-in photocell on the walnut such as we now have on at least one camera, which automatically adjusts exposure for a wide range of illumination. There is film in the walnut for a hundred exposures, and the spring for operating its shutter and shifting its film is wound once for all when the film clip is inserted. It produces its result in full color. It may well be stereoscopic, and record with two spaced glass eyes, for striking improvements in stereoscopic technique are just around the corner. The cord which trips its shutter may reach down a man's sleeve within easy reach of his fingers. A quick squeeze, and the picture is taken. On a pair of ordinary glasses is a square of fine lines near the top of one lens, where it is out of the way of ordinary vision. When an object appears in that square, it is lined up for its picture.

[…] Often it would be advantageous to be able to snap the camera and to look at the picture immediately.« (Vannevar Bush: As we may think. In: The Atlantic Monthly 176 [1945] 118 Interessant ist für den hier betrachteten Gegenstand, dass die GoPro-Company sehr geringe Aufwendungen für Werbung hat, da der Video-Content für die Werbeclips in der Regel durch die Nutzer selbst produziert wird bzw. die vernetzten Videos schon Werbung genug sind. Es werden allerdings immer wieder verhältnismäßig geringe Summen aufgewendet für Wettbewerbe -sogenannte Challenges 119wie das beste Surfvideo oder die beste Aufnahme eines Basketball-Trick-Shots. 120 Diese Fotos und Videos werden dann wiederum in der GoPro-Community verbreitet bzw. ›geteilt‹, was in der Regel über YouTube, Facebook, Twitter und Instagram passiert, sodass es immer neuen Ansporn gibt für die Nutzer/-innen, sich zu überbieten und spektakulärere Bilder zu machen. Das ist eine typische Strategie der freiwilligen Einbindung von User/-innen in Produktionsprozesse von Firmen im Kontext digitaler Medien.

Martin Lister beschreibt diese Einbindung wie folgt: »Forms of social media […] are now also recognised as ways of ›monetizing‹ the labour of amateurs and selling it back to them.« 121 Zu dem hier beschriebenen medialen Environment gehören zusammengefasst die GoPro mit ihren sehr speziellen Features, ubiquitäre, mobile und smarte Rechnerumgebungen und deren weltweite Vernetzung, damit materiell auch die Kabel und Server, Festplatten etc. ( Abgesehen also von einer technischen Konvergenz des bewegten und des statischen Bildes unter den Bedingungen digitaler Produktionsweisen, die hier nicht weiter ausgeführt werden kann, 128 gehört die besondere Perspektive dieser Bilder zu dem einschlägigen Kennzeichen dessen, was man als wesentliche Veränderung ausmachen kann. Es läge nahe zu vermuten, dass es sich bei den Bildern um eine Art von ›Selfies‹ handelt, da auch die aufnehmenden Personen immer wieder im Bild sind. Während der Selfiestick 129 im Bild aber immer der Ausdruck des etwas verzweifelten Versuches ist, eine Perspektive von außerhalb des Körpers einzunehmen und in gewisser Weise ›herkömmliche‹ (Selbst-)Porträtaufnahmen zu produzieren, verändert die an den Körper montierte GoPro diese Perspektive entscheidend: Es handelt sich vorrangig um Bilder aus der sogenannten First-Person-Perspective, deren Geschichte im Film beginnt, um eine subjektive Perspektive zu erzeugen und die im Computerspiel der sogenannten First-Person-Shooter in den letzten rund 25 Jahren eine außerordentliche Konjunktur erlebt hat.

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In den Bildern der GoPro wird die an den Körper gekoppelte Kamera zum eigentlichen Zentrum des Bildes. Sie ist das ruhende Moment, die Welt dreht sich um sie, und so wird auch die First-Person-Perspective relativiert, die Kamera wird zum eigentlichen Akteur bzw. Kern dieser Bilder. Diese Kamera produziert eine andere Form der Stabilität (oder Ruhe) als der statisch feststehende Horizont in einer traditionellen Bildvorstellung. Allein das zufällige Verlassen dieser statischen Ordnung thematisiert die Kamera als Ort der Erzeugung dieser Bilder. Der Körper ersetzt den Horizont. Die Kamera wird zum ruhenden Zentrum in extrem bewegter und stürzender Umgebung. Die tendenzielle Auflösung von perspektivischer Wahrnehmung der Luftaufnahme tut ein Übriges. Diese Apparatur erzeugt eine eigenwillige stabile Verbindung von Aufnahmeperspektive und aufgenommener Trägerin.

Mit der ActionCam und durch ihre Koppelung von Körper(-bild) und Apparat verändert sich das, was im Film und in der Fotografie als das Off bezeichnet wird: Die Kamera ist Teil des fotografierten und fotografierenden Körpers und erscheint aufgrund ihrer multiplen Befestigungen an einem Körper häufig mit im Bild. Es handelt sich -wie gezeigt -nicht einfach um die Kenntlichmachung einer subjektiven Kamera. Die an den Körper montierte GoPro verändert die Perspektiven entscheidend: Der Körper ist eins mit der Kamera, als solcher anhaltend im Bild Allein die Anzahl der verunglückten Basejumper/-innen 140 lässt darauf schließen, dass es zumindest ein verringertes Bewusstsein von der Endlichkeit der Existenz unter den Bedingungen medial aufzuzeichnender -extremer Geschwindigkeit gibt. Es geht anscheinend nicht um das Unterscheiden einer physischen Realität und einer fotografischen Wirklichkeit, sondern es geht um deren gegenseitige Einflussnahme.

Die Basis der Produktion dieser Bilder ist dann immer mit einem doppelten Überbietungsgestus verbunden, der sich aus der Vermittlung der aufgenommenen Bilder ergibt. Einerseits geht es darum, die spektakulärsten und damit riskantesten Bilder zu machen, und andererseits, diese in ihrer ästhetischen Qualität auch immer ›besser‹ werden zu lassen.

Es werden Situationen herbeigeführt, die ein erhebliches Risiko in sich bergen und außer Kontrolle geraten können und sollen, den (Un-)Fall also geradezu provozieren. So entsteht Unerwartetes, nicht Intendiertes, eine Bildproduktion, die vorsätzlich ›aus Versehen‹ gemacht wird. Es entstehen Bilder, deren Einsatz der Körper ist, sie ziehen eine prekäre Kultur des ›Missglückens‹ (Fail) nach sich. Allerdings entsteht auch ein unerwartetes Moment von Kreativität, wie die große Anzahl vorsätzlich (post-)produzierter Fail-Videos anzeigt. 141 Mit Bezug auf den Apparat müssen wir aber mindestens zwei Konzepte von Risiko denken. Einerseits, und das ist naheliegend, das Risiko, das eingegangen wird, um spektakuläre Bilder zu produzieren, aber andererseits auch das Risiko, den Apparat zu verlieren, sei es an die Schwerkraft oder an fotografisch aktive Tiere. Als Folge entstehen mindestens zwei neue Genres von Videos, die des Falls einer einsamen Kamera und die des ›Kameradiebstahls‹ durch Tiere. 142 Eine konkrete Gefahr geht von dem Apparat allerdings nicht aus, sieht man einmal davon ab, dass es theoretisch möglich ist, dass eine frei stürzende GoPro auch jemanden verletzen könnte. 143 Was für die vielen frei an Drohnen fliegenden Kameras nochmals anders gilt.

Die Bilder einer fotografischen Apparatur, die hier besprochen wurden, sind dann immer im doppelten Sinne das Produkt eines Unbewussten: Einerseits sind es Bilder, die, wie Benjamin sagt, der »optisch unbewussten« Produktion des Fotografischen entspringen und damit etwas sichtbar machen, das in der menschlichen Wahrnehmung nicht existiert. Der andere Aspekt, der hier versucht wurde zu zeigen, ist, dass die zugrundeliegenden ubiquitären und vernetzten technologischen Infrastrukturen in unserer Umwelt ein »technologisch Unbewusstes« 144