Academia.eduAcademia.edu

Gefährliche Augenblicke

2019, Gefahr oder Risiko

Es mag verwunderlich erscheinen, warum ich einen Text über die Fotografie des Falls oder Fallens mit dem Bild der Kopfkamera eines Wissenschaftlers aus dem Life Magazine vom 10. September 1945 beginne. Für den hier verhandelten Sachverhalt scheint sich mir an dieser Stelle eine der unerwarteten Fluchtlinien des Themas zu zeigen. Die Kamera, die von Vannevar Bush in seinem visionären und einflussreichen Essay »As we may think« als eine von Rechenmaschinen unterstützte Zukunft beschrieben wird, ist der Prototyp für eine an den Körper gebundene Technologie, die den Status einer unbewussten Übertragung der Wahrnehmung auf eine apparative Anordnung und deren Einbettungen in eine vernetzte (digitale) Umwelt hat. Sie ist wiederum die Bedingung einer veränderten Wahrnehmung und damit auch der (fotografischen) Sicht auf die Welt, respektive der medialen Konstruktion bzw. Erzeugung von Welt und der Art, wie diese Sicht oder Welt produziert wird. Sie ist ebenfalls die Vorahnung einer operativen Bildlichkeit, wie sie sich erst in den letzten Jahren gezeigt hat. Im Kern dieses Textes wird es um die Produktion von Bildern des riskanten Fallens gehen, deren handlungsbezogener Ausgangspunkt hauptsächlich Action-Cams wie die GoPro sind. Ihrer technologischen und visuellen Vorgeschichte, ihrer Gebrauchsgeschichte und ihrer Einbettung in eine technologische Umwelt gilt das hauptsächliche Interesse dieses Beitrags. Die Art von Bildproduktion, über die hier zu sprechen ist und das damit verbundene Risiko eines Unfalls, hat eine Vorgeschichte in unserer bildlichen Kultur, auf die-zwangsläufig skizzenhaft-einführend eingegangen werden soll. Obwohl mit Newton alles Irdische hinfällig geworden ist, erzählen die Geschichten des Fliegens immer von einem Aufstand gegen das Fallen und gegen die Gravitation oder aber gegen das Göttliche, der aber, bezogen auf den Menschen, meist auf dem Erdboden endet. Sieht man von den wenigen Ausnahmen der Weltraumbestattung ab … Bildgeschichte Erst in der ausgehenden Renaissance bzw. im Übergang zum Barock werden Bilder denkbar und damit auch darstellbar, die frei fliegende oder zu Boden stürzende menschliche Figuren zeigen. Mit der ›(Er-)Findung‹ der Unendlichkeit der Welt durch Giordano Bruno, Johannes Kepler, Nikolaus Kopernikus und anderen

Abb. 1: »As we may think« Illustration im Life Magazine (1945) und GoPro Headmount (ca. 2008) Winfried Gerling Gefährliche Augenblicke – die Fotografie und der Fall Es mag verwunderlich erscheinen, warum ich einen Text über die Fotografie des Falls oder Fallens mit dem Bild der Kopfkamera eines Wissenschaftlers aus dem Life Magazine vom 10. September 1945 beginne. Für den hier verhandelten Sachverhalt scheint sich mir an dieser Stelle eine der unerwarteten Fluchtlinien des Themas zu zeigen. Die Kamera, die von Vannevar Bush in seinem visionären und einflussreichen Essay »As we may think« als eine von Rechenmaschinen unterstützte Zukunft beschrieben wird, ist der Prototyp für eine an den Körper gebundene Technologie, die den Status einer unbewussten Übertragung der Wahrnehmung auf eine apparative Anordnung und deren Einbettungen in eine vernetzte (digitale) Umwelt hat. Sie ist wiederum die Bedingung einer veränderten Wahrnehmung und damit auch der (fotografischen) Sicht auf die Welt, respektive der medialen Konstruktion bzw. Erzeugung von Welt und der Art, wie diese Sicht oder Welt produziert wird. Sie ist ebenfalls die Vorahnung einer operativen Bildlichkeit, wie sie sich erst in den letzten Jahren gezeigt hat. Im Kern dieses Textes wird es um die Produktion von Bildern des riskanten Fallens gehen, deren handlungsbezogener Ausgangspunkt hauptsächlich ActionCams wie die GoPro sind. Ihrer technologischen und visuellen Vorgeschichte, ihrer Gebrauchsgeschichte und ihrer Einbettung in eine technologische Umwelt gilt das hauptsächliche Interesse dieses Beitrags. Die Art von Bildproduktion, über die hier zu sprechen ist und das damit verbundene Risiko eines Unfalls, hat eine Vorgeschichte in unserer bildlichen Kultur, auf die – zwangsläufig skizzenhaft – einführend eingegangen werden soll. Obwohl mit Newton alles Irdische hinfällig geworden ist, erzählen die Geschichten des Fliegens immer von einem Aufstand gegen das Fallen und gegen die Gravitation oder aber gegen das Göttliche, der aber, bezogen auf den Menschen, meist auf dem Erdboden endet. Sieht man von den wenigen Ausnahmen der Weltraumbestattung ab … Bildgeschichte Erst in der ausgehenden Renaissance bzw. im Übergang zum Barock werden Bilder denkbar und damit auch darstellbar, die frei fliegende oder zu Boden stürzende menschliche Figuren zeigen. Mit der ›(Er-)Findung‹ der Unendlichkeit der Welt durch Giordano Bruno, Johannes Kepler, Nikolaus Kopernikus und anderen 148 WINFRIED GERLING scheint die Vorstellung eines frei im Raum beweglichen – menschlichen – Körpers überhaupt möglich, und wie es scheint, beginnt damit auch erst tatsächlich ein technologisch begründeter Traum vom Fliegen. Alle Versuche bildlicher Darstellung der Levitation vor diesem Zeitpunkt sind kaum als die eines Falls oder Schwebens anzusehen, es handelt sich eher um Darstellungen mühsam hängender Figuren oder Körper, die wirken, als seien sie an den Malgrund geheftet oder als stünden sie irgendwie in der Luft. Abb. 2.: Michelangelo Buanarotti: Das Jüngste Gericht (Detail) Sixtinische Kapelle, Rom (1535–1541) GEFÄHRLICHE AUGENBLICKE 149 Dies ist zum Beispiel in Michelangelos Ausmalung der Sixtinischen Kapelle im Jüngsten Gericht (Abb. 2) gut zu sehen. Trotz großer Könnerschaft in der Darstellung des körperlichen Volumens gelingt die Darstellung der unbegrenzten Bewegung im Raum nur unzureichend. Die Körper stürzen weder dem Boden entgegen, noch fliegen sie frei in den Himmel auf. Hendrik Goltzius ist wenige Jahrzehnte später sehr viel freier in der Darstellung fliegender Körper. Ihr Aufbegehren gegen den Fall wird so auch deutlicher und erfahrbarer (Abb. 3). Abb. 3.: Hendrick Goltzius: Phaeton (aus der Serie: Die vier Himmelsstürmer [1588]) Andrea Pozzo ist 100 Jahre danach so meisterlich in der Darstellung der Unendlichkeit und des Aufstiegs in diese, dass er die Decke Sant’Ignazios in Rom gen Himmel vergessen macht (Abb. 4). Die erstaunliche Leistung des Pozzobildes ist die durch Anamorphosen gelungene perspektivisch korrekte Darstellung schwebender und aufsteigender Körper auf einer gewölbten Decke und anderen Architekturformen der Kirche. Diese Darstellung ist auf einen Punkt im Raum hin kon- 150 WINFRIED GERLING struiert und im Moment des Verlassens dieses Augenpunktes, einem Ort für die Betrachterin, der im vorderen Drittel der Kirche am Boden markiert ist, bricht sie völlig in sich zusammen und thematisiert auf diese Weise auch die Bewegung des Betrachters und dessen Verhältnis zum Bild.100 Abb. 4.: Andrea Pozzo: Die Apotheose des heiligen Ignatius von Loyola Sant’Ignazio, Rom (ca. 1681–1685) 100 Vgl. Felix Burda-Stengel: Andrea Pozzo und die Videokunst. Neue Überlegungen zum barocken Illusionismus. Berlin 2001. GEFÄHRLICHE AUGENBLICKE 151 Eine zweite wichtige Vorgeschichte der Bildlichkeit, über die ich sprechen möchte, beginnt mit den Bildern, die erzeugt werden, wenn der Blick oder die Kamera aus der Höhe auf den Boden gerichtet wird und damit auch die (Zentral-)Perspektiven auf den Kopf gestellt werden. Der visuelle Aufstieg wurde möglich mit der Theoretisierung der Perspektive in der Renaissance. In einer Zeit, in der das Erheben in die Luft technisch noch nicht möglich war, entsteht zumindest das Bedürfnis, das, so gut es möglich war, mittels des Bildes zu tun. Die Vorstellung einer Welt von oben ist dann auf das Schönste in Jacopo de’ Barbaris großem Holzschnitt Veduta di Venezia aus dem Jahre 1500 zu sehen. Abb. 5.: Jacopo de’ Barbari: Veduta di Venezia (1500) Die ersten Fotografien eines Aufstiegs in die Lüfte werden von Nadar (GaspardFélix Tournachon) 1858 aufgenommen. Obwohl sie sicherlich weder technisch noch künstlerisch eine Besonderheit der Zeit darstellen, waren sie dennoch eine »optische Sensation«101. Die geringe Höhe der Aufnahmen erlaubt noch keine rein vertikale Sicht, aber genau das Bewegte und Unpräzise macht sie für den hier verhandelten Sachverhalt interessant. Schon in der Produktion dieser Bilder wird deutlich, welches Risiko die Luftfahrer eingehen, um diese Bilder aufzunehmen: Nadar und seine Frau wurden bei einem Absturz seines Ballons in der Nähe von Nienburg am 18. Oktober 1863 schwer verletzt. Mit diesen Bildern beginnt die lange Geschichte der Luftaufklärung und der Luftüberwachung, die im massenhaften Einsatz heutiger Drohnen und der Popularisierung kartografischer Informationsvernetzung (wie auf Google Maps) ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden hat. 101 Vgl. Christoph Asendorf: Super Constellation Flugzeuge und Raumrevolution. Wien 1997, S. 34 ff. 152 WINFRIED GERLING Die Ästhetik, die den Horizont als wesentliches Kompositions- und Konstruktionsprinzip negiert,102 schlägt sich schnell auch in der Malerei nieder, wird aber besonders virulent in der Fotografie des Neuen Sehens und des Futurismus, die beide auf je verschiedene Weise die Beschleunigung der Welt thematisieren und versuchen, dieser durch stürzende Perspektiven und Bewegungsunschärfen einen visuellen Ausdruck zu geben, der auch eine veränderte Wahrnehmung in dieser Zeit nachvollziehbar machen soll. Abb. 6: Filippo Masoero: Scendendo su San Pietro (Abstieg über St. Peter [ca. 1927]) Am 24. Oktober 1946 startet in der Wüste von Nevada eine von den Amerikanern erbeutete V2-Rakete, die statt mit Sprengstoff mit diversen Messgeräten und einer Kamera beladen ist. Sie nimmt die ersten Bilder der Erde aus dem Weltall auf. Die Kamera ist eine 35-mm-Filmkamera, die alle 1,5 Sekunden ein Bild aufzeichnet und nach der Aufnahme aus einer Höhe von 65 Meilen zurück auf die Erde abgeworfen wurde. Die Kamera wird dabei zerstört. Der Film, der in einer speziellen Stahlkassette aufgehoben war, übersteht den Fall unbeschadet.103 102 Vgl. Hito Steyerl: In Free Fall. A Thought Experiment on Vertical Perspective. In: e-flux journal vom 24. April 2011. 103 Die Wissenschaftler, die damals den Versuch begleiteten, waren völlig euphorisiert, als sie diese Aufnahmen das erste Mal betrachteten. Vgl. Tony Reichardt: First Foto From Space. In: Air & Space vom 24. Oktober 2006, online unter www.airspacemag.com/space/the-first-photo-from- GEFÄHRLICHE AUGENBLICKE 153 Das vermutlich erste filmische Zeugnis des Falls eines Menschen wird am 4. Februar 1912 aufgezeichnet. Der deutsch-französische Schneider Franz Reichelt – »The Flying Tailor« – hat einen Fallschirm angefertigt, den er der anwesenden Presse mit einem Sprung von der ersten Plattform des Eiffelturms vorführen will. Obwohl zwei Tests mit Puppen gescheitert sind, springt er selbst aus 57 m Höhe relativ ungebremst in den Tod. Die Reihe der prekären Fotografien von in den Tod springenden Menschen aus einer außenstehenden Beobachterperspektive ließe sich weiter fortsetzen, das habe ich an anderer Stelle getan.104 1931 erscheint eine Fotoreportage des Fotografen Willi Ruge, der als Erster einen geglückten Fallschirmabsprung aus der Perspektive des Springers fotografisch dokumentiert (Abb. 7). Abb. 7: Willi Ruge: Mit dem Kopf nach unten hängend, bei ungeöffnetem Fallschirm … aus der Serie Ich fotografiere mich beim Absturz mit dem Fallschirm (1931) Willi Ruge ist ein Fotojournalist der ersten Stunde. In den 1910er-Jahren beginnt er zuerst als Amateur, seine Fotografien illustrierten Zeitschriften anzubieten und professionalisiert sich dabei schnell. Seine Bilder sind geprägt von den Möglichkeiten der immer kleiner werdenden transportablen Kameras. So entwickelt er früh space-13721411 (Stand: 30.11.2018). Das geschah ca. 22 Jahre vor dem berühmten Foto der Apollo-8-Mission Earthrise (1968) und dem für die Umweltbewegungen noch bedeutender gewordenen Bild der Blue Marble der Apollo-17-Mission (1972). 104 Vgl. Winfried Gerling/Fabian Goppelsröder: Was der Fall ist – Prekäre Choreographien. Berlin 2017. 154 WINFRIED GERLING den für ihn eigenen Stil der Berichterstattung aus der Ego-Perspektive105 und es entsteht im Mai 1931 seine erfolgreichste Reportage Ich fotografiere mich beim Absturz mit dem Fallschirm, die am 21. Mai 1931 in der Berliner Illustrirten Zeitung (Nr. 21) erstmals veröffentlicht wird. Die Ästhetik seiner Bilder ist typisch für das Neue Sehen, speziell ist allerdings das Moment, sich selbst im Bild sichtbar zu machen und so nachvollziehbar in Gefahr zu bringen, um die Folgen der ›neuen‹ Geschwindigkeit visuell erfahrbar zu machen. Das setzt sein Projekt auch deutlich von dem Reichelts ab und lässt die Bedingungen der Gefahr nicht aus einer Perspektive des sicher beiseite Stehenden, sondern aus einer Perspektive der maximalen Beteiligung miterleben. Eine Ästhetik des ›Dabei-Seins‹ zeigt sich hier, die ihre volle Ausprägung erst unter den Bedingungen einer ubiquitären und vernetzten digitalen Fotografie erreichen wird, als einer Fotografie des »Es ist gerade so«106, wie Wolfgang Ulrich sie bezeichnet. Ruge nutzt für die Aufnahme des Falls eine modifizierte Filmkamera mit automatischer Filmbeförderung und einem besonderen Auslösemechanismus. Hier wird früh erprobt, wie die Funktionalität einer Filmkamera für fotografische Aufnahmen zu nutzen ist. Die Aufnahmen seines Falls könnte man als erste riskante ›Selfies‹ bezeichnen. Eine Perspektive, die in der Geschichte der analogen Fotografie ziemlich einzigartig ist und über lange Zeit mehr oder weniger komplett verschwindet.107 Es kann hier nicht auf das übergroße Thema des Selfies108 eingegangen werden, zumal die Form des Selbstbildes, um die es hier geht, nicht mit dem Selfie gleichzusetzen ist. Dazu später etwas mehr. Die Geschichte des menschlichen Sprungs aus einem Flugkörper ließe sich fortsetzen mit den Sprüngen des Wingsuit-Pioniers Clem Sohn, den ersten Stratosphärensprüngen des Airforce-Angehörigen Colonel Joseph Kittinger, in der jüngeren Vergangenheit mit Felix Baumgartner, dem Google-Manager Alan Eustace und nicht zuletzt dem extrem waghalsigen Projekt des Skydivers Luke Aikins, der am 30. Juli 2016 aus 7 600 m Höhe in ein 30 x 30 Meter großes Netz sprang.109 105 Im Übrigen gibt es in der GoPro-Gemeinde tatsächlich das Genre der gefilmten Nachahmung von Computerspielen aus der sogenannten First-Person-Perspective. 106 Wolfgang Ulrich: Instant-Glück mit Instagram. In: Neue Zürcher Zeitung vom 10. Juni 2013, online unter www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/uebersicht/instant-glueck-mit-instagram-1.18096066/ [Stand: 30.11.2018]. 107 Sieht man von den eher vergnüglichen Bildern eines Jaques Henri Lartigues ab. 108 Vgl. hierzu meinen Beitrag: Be a Hero. Self-Shoots at the Edge of the Abyss. In: Exploring the Selfie – Historical Theoretical and Analytical Approaches to Digital Self-Photography. Hg. v. Julia Eckel, Jens Ruchatz u. Sabine Wirth. London 2017, S. 261–283. 109 Es existiert eine lange Geschichte der Aufzeichnung von Körperfunktionen wie Herzschlag, Blutdruck und Atemfrequenz, die derartige Flüge ›wissenschaftlich‹ begleiten. So z. B. schon 1932, als Lola Schröter den Weltrekord eines Absprungs aus 7 350 Metern Höhe aufstellte. Ihre Herztätigkeit wurde zumindest direkt beim Absprung aufgezeichnet (vgl. Franz Burda [Hg.]: Fünfzig Jahre Motorflug. Offenburg 1953, S. 199). GEFÄHRLICHE AUGENBLICKE 155 Abb. 8: Clem Sohn mit aufgespannten Flügeln, bereit zum Abflug (New York Times vom 16. Dezember 1930) Technologische Bedingungen Aber nach dieser sehr skizzenhaften Konturierung der verschiedenen Historien meines Themas zurück zu dem einleitenden Beispiel, der Life-Illustration für Vennevar Bushs As we may think.110 Bush formuliert in seinem Essay das Konzept einer memex (Memory Extender) genannten informationsverarbeitenden Maschine zur persönlichen Unterstützung einer Wissenschaftlerin, das für die gesamte Entwicklung des Personal Computers große Bedeutung erlangen sollte. Der Untertitel, der dem Essay in der Times vorangestellt ist – »A top U.S. scientist forsees a possible future world in which manmade machines will start to think« spricht Bush im Verlauf des Essays dann auch tatsächlich von der Fotografie als einer wahrnehmenden Sensorik. But there are signs of a change as new and powerful instrumentalities come into use. Photocells capable of seeing things in a physical sense, advanced photography which can record what is seen or even what is not […].111 110 In der gleichen Life-Ausgabe erschienen Bilder des von Atombomben zerstörten Hiroshimas. 111 Hervorh. des Verf. – Hier das ausführliche Zitat: »But there are signs of a change as new and 156 WINFRIED GERLING Bush war zur Zeit der Veröffentlichung einer der einflussreichsten und bekanntesten Wissenschaftler der USA. Er beriet von 1941 bis 1951 Roosevelt und Truman als »Science Advisor« und hatte 1940 als Vorsitzender des National Defense Research Committee (NDRC) und 1941 als Direktor des Office of Scientific Research and Development (O.S.R.D.) die Kooperation von Militär, Industrie und universitärer Forschung stark vorangetrieben und sogenannte kriegswichtige Technologien entwickelt.112 Einige wesentliche Elemente der weiteren Beschreibung des fotografischen Gerätes in der memex betreffen die erhebliche Verkleinerung der fotografischen Apparatur mit einem 4 x 4 mm großen Negativ,113 die Fokussierung der Aufnahme durch die Brille des Nutzers (siehe kleines Quadrat im Glas) und die unmittelbare Sichtbarkeit des visuellen Outputs als trocken entwickeltes Positiv. Er ist damit noch sehr dem Denken einer analogen Apparatur verhaftet, die alle Arten von Bildern aufnehmen sollte, die mit der Arbeit der Forscherin am Arbeitsplatz des memex verbunden waren, also Bilder, Texte, Grafiken etc. Die Einbindung dieser powerful instrumentalities come into use. Photocells capable of seeing things in a physical sense, advanced photography which can record what is seen or even what is not, [thermionic tubes capable of controlling potent forces under the guidance of less power than a mosquito uses to vibrate his wings, cathode ray tubes rendering visible an occurrence so brief that by comparison a microsecond is a long time, relay combinations which will carry out involved sequences of movements more reliably than any human operator and thousands of times as fast – there are plenty of mechanical aids with which to effect a transformation in scientific records.] // […] // A record if it is to be useful to science, must be continuously extended, it must be stored, and above all it must be consulted. Today we make the record conventionally by writing and photography, followed by printing; but we also record on film, on wax disks, and on magnetic wires. Even if utterly new recording procedures do not appear, these present ones are certainly in the process of modification and extension. Certainly progress in photography is not going to stop. Faster material and lenses, more automatic cameras, finer-grained sensitive compounds to allow an extension of the minicamera idea, are all imminent. Let us project this trend ahead to a logical, if not inevitable, outcome. The camera hound of the future wears on his forehead a lump a little larger than a walnut. It takes pictures 3 millimeters square, later to be projected or enlarged, which after all involves only a factor of 10 beyond present practice. The lens is of universal focus, down to any distance accommodated by the unaided eye, simply because it is of short focal length. There is a built-in photocell on the walnut such as we now have on at least one camera, which automatically adjusts exposure for a wide range of illumination. There is film in the walnut for a hundred exposures, and the spring for operating its shutter and shifting its film is wound once for all when the film clip is inserted. It produces its result in full color. It may well be stereoscopic, and record with two spaced glass eyes, for striking improvements in stereoscopic technique are just around the corner. The cord which trips its shutter may reach down a man‘s sleeve within easy reach of his fingers. A quick squeeze, and the picture is taken. On a pair of ordinary glasses is a square of fine lines near the top of one lens, where it is out of the way of ordinary vision. When an object appears in that square, it is lined up for its picture. […] Often it would be advantageous to be able to snap the camera and to look at the picture immediately.« (Vannevar Bush: As we may think. In: The Atlantic Monthly 176 [1945], S. 101–108, Auszüge aus Abschnitt 1 u. 2) 112 Auch nach dem Krieg plädierte er für eine weiterhin starke Forschungsförderung und die Zusammenarbeit von Militär, Industrie und Universitäten. 113 Der technische Hintergrund ist der des Mikrofilms. GEFÄHRLICHE AUGENBLICKE 157 Apparatur in die vernetzte Speicherumgebung des memex ist die Vorstellung einer an Apparate delegierten (Hilfs-)Wahrnehmung. Die Auslagerung der menschlichen Wahrnehmung an Maschinen wird in gewisser Weise schon rund eineinhalb Jahrzehnte früher von Ernst Jünger in der Einleitung zu dem 1931 erschienen und von Ferdinand Buchholtz herausgegebenen Band Der gefährliche Augenblick beschrieben. Es ist dasselbe Jahr, in dem Ruge seine Reportage veröffentlicht: Auch die Geschichte der Erfindungen stellt uns immer deutlicher die Frage, ob ein Raum der absoluten Bequemlichkeit oder ein Raum der absoluten Gefahr das verborgene Endziel der Technik ist. Ganz abgesehen davon, daß es kaum eine Maschine, kaum eine Wissenschaft gab, die nicht schon im Weltkriege eine mittelbar oder unmittelbar gefährliche Funktion besaß, haben bereits heute Erfindungen wie die des Automobilmotors, größere Verluste im Gefolge gehabt als jeder noch so blutige Krieg […].114 Und weiter: Darüber hinaus ist an dieser zugleich nüchternen und gefährlichen Welt das Wunderbare die Registratur der Augenblicke, in denen die Gefahr erscheint, – eine Registratur, die wiederum, wenn sie nicht das menschliche Bewußtsein unmittelbar übernimmt, durch Maschinen geleistet wird. Schon heute gibt es kaum einen Vorgang, der Menschen von Bedeutung scheint, auf den nicht das künstliche Auge der Zivilisation, die photografische Linse gerichtet ist. So entstehen oft Bilder von einer mathematischen Dämonie, durch die das neue Verhältnis des Menschen zur Gefahr auf eine besondere Weise sichtbar wird. Man muß erkennen, daß es sich hier weit weniger um die Eigenheit neuer Mittel handelt als um einen neuen Stil, der sich technischer Mittel bedient.115 Abgesehen davon, dass hier eine wesentliche These Paul Virilios (und auch Friedrich Kittlers) vorweggenommen wird, beschreibt Jünger auf eigentümliche Weise eine Tendenz, die in den letzten Jahren eine neue Ausprägung bekommen hat: Digitale Maschinen leisten die Registratur und »übernehmen das Bewusstsein, wenn es nicht vom Menschen geleistet wird«. Er beschreibt – in sehr aktueller Sprechweise – die Technik als eine Umgebung oder Umwelt, die menschliche Züge annimmt bzw. übernimmt. Die technologische Bedingung,116 wie es Erich Hörl genannt hat. Das »künstliche Auge der Zivilisation« als selbstständig handelnde Entität. Hierauf werden wir zurückkommen. 114 Ernst Jünger: Über die Gefahr. In: Ders.: Der gefährliche Augenblick. Hg. v. Ferdinand Bucholtz. Berlin 1931, S. 15. 115 Ebd., S. 16 (Hervorh. des Verf.). 116 Vgl. Erich Hörl: Die technologische Bedingung. Zur Einführung. In: Ders. (Hg.): Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt. Berlin 2011, S. 7–53. 158 WINFRIED GERLING Environment Mit einem kleinen zeitlichen Sprung möchte ich mich nun dem Kern dieses Textes zuwenden: Menschen, die mit Kameras eine körperliche Verbindung eingehen und den Fall erproben. Diese Verbindung gab es mit wenigen Ausnahmen wie z. B. Willi Ruge bis vor wenigen Jahren nicht. Abb. 9: Brandon Mikesell: Urban Wingsuit Flight (2017) Der Entwickler der GoPro und Gründer der Company – Nick Woodman – ist ein passionierter Surfer und Extremsportler. Er erkannte einen Mangel an Equipment, das es Surfer/-innen erlaubt, angemessene Aufnahmen ihrer Erlebnisse zu produzieren. Gewöhnliche Kameras waren zu unhandlich und meist zu empfindlich, um in der Umgebung des Surfens gut zu funktionieren. So entwickelte er ab 2002 einen analogen Prototyp, der 2004 als eine sehr leicht zu bedienende, analoge, nicht zu fokussierende 35-mm-Kamera in einem wasserdichten Gehäuse mit einer Armbefestigung in den Handel kam. Damit entwickelt er das, was später einmal ActionCam genannt werden wird. Der Name der Firma entsteht aus der metaphorischen Übertragung des Bedürfnisses, mit einfachen Mitteln unter schwierigen Bedingungen professionelle Bilder zu produzieren: go professional. Schnell wird von allen erdenklichen (Extrem-)Sportler/-innen erkannt, dass sich die Kamera sehr gut eignet, um ihr Erleben aus der sehr speziellen Ego-Perspektive zu zeigen, die schon bei Willi Ruge zu sehen war. Die digitale GoPro erscheint 2006 als eine der ersten digitalen Kameras, die sowohl Video- (10 sec.) als auch Fotoaufnahmen erzeugen kann. GoPro war zeitweilig der am stärksten wachsende Kamerahersteller weltweit. Seitdem immer weiterentwickelt, ist die GoPro inzwischen ein kleiner, sehr stabiler Hightech-Apparat GEFÄHRLICHE AUGENBLICKE 159 mit extremem Weitwinkel, der auf vieles verzichtet, was heute in Digitalkameras üblich ist. Es gibt z. B. kein Display (jedenfalls bis zur GoPro Hero 4), keinen Zoom, keine Möglichkeit zu fokussieren etc. Bestimmte Funktionalitäten können an externe Geräte wie ein Tablet übertragen werden, da die Kamera über die Möglichkeit der WLAN-Vernetzung verfügt. Intendiert ist, dass diese Apparate erstens viele Einstellungen automatisiert selbsttätig übernehmen und dass zweitens häufig die zeitaufwändige Postproduktion Teil dieser Kultur ist.117 Die GoPro produziert im weitesten Sinne Serienaufnahmen, die als Video, als Einzelbild, als Zeitraffer oder Zeitlupe aufgenommen und betrachtet werden können. Die technologische und ästhetische Konvergenz von Fotografie und Bewegtbild im Digitalen wird in diesem Apparat auf einzigartige Weise vorangetrieben.118 Interessant ist für den hier betrachteten Gegenstand, dass die GoPro-Company sehr geringe Aufwendungen für Werbung hat, da der Video-Content für die Werbeclips in der Regel durch die Nutzer selbst produziert wird bzw. die vernetzten Videos schon Werbung genug sind. Es werden allerdings immer wieder verhältnismäßig geringe Summen aufgewendet für Wettbewerbe – sogenannte Challenges119 – wie das beste Surfvideo oder die beste Aufnahme eines Basketball-Trick-Shots.120 Diese Fotos und Videos werden dann wiederum in der GoPro-Community verbreitet bzw. ›geteilt‹, was in der Regel über YouTube, Facebook, Twitter und Instagram passiert, sodass es immer neuen Ansporn gibt für die Nutzer/-innen, sich zu überbieten und spektakulärere Bilder zu machen. Das ist eine typische Strategie der freiwilligen Einbindung von User/-innen in Produktionsprozesse von Firmen im Kontext digitaler Medien. Martin Lister beschreibt diese Einbindung wie folgt: »Forms of social media […] are now also recognised as ways of ›monetizing‹ the labour of amateurs and selling it back to them.«121 Zu dem hier beschriebenen medialen Environment gehören zusammengefasst die GoPro mit ihren sehr speziellen Features, ubiquitäre, mobile und smarte Rechnerumgebungen und deren weltweite Vernetzung, damit materiell auch die Kabel und Server, Festplatten etc. (Hardware), die sogenannten sozialen Netzwerke, insbesondere YouTube, Instagram, Facebook und Twitter, Red Bull als Sponsor, respektive The Red Bulletin Magazine, die GoPro-Company, Algorithmen (Software) und nicht zuletzt die Menschen (Wetware), die Teil dieses Environments sind. In dieser technologischen Umwelt existiert das Modell einer Fotografin, die ein 117 Es ist zu beobachten, dass oftmals soviel Aufwand für die Postproduktion der Bilder betrieben wird, wie es Aufwand war, die aufgenommene Situation zu erzeugen. Am Abend wird das geschnitten, was am Tag aufgenommen wurde, und sofort ins Netz gestellt. 118 Vgl. hierzu Winfried Gerling: Moved Images – Velocity, Immediacy and Spatiality of Photographic Communication. In: Mika Elo/Merja Salo/Marc Goodwin (Hg.): Photographic Powers. Helsinki 2015, S. 287–307. 119 Ein typisches Beispiel für eine digitale Kultur der Überbietung und gleichzeitigen Vermessung. 120 Marty Biancuzzo: Why GoPro is Set for a Strong Wall Street Debut. In: Wallstreet Daily vom 21. Mai 2014, online unter www.wallstreetdaily.com/2014/05/21/gopro-ipo (Stand: 30.11.2018). 121 Martin Lister: Introduction. In: Ders.: The photographic image in digital culture. Routledge 2 2013, S. 1–21, hier S. 2. 160 WINFRIED GERLING Bild produziert, um es anderen zu zeigen, nicht mehr. Das Modell ist ein komplexes Gefüge aus Bewusstem, absichtsvoll Erzeugtem und technologisch Unbewusstem, dessen wichtigste Bedingung die mit dem Körper verbundenen und vernetzten digitalen Apparate sind. Ein wesentliches Indiz dafür ist, dass die GoPro über keinen Sucher und, zumindest in der Anfangszeit, kein Display verfügt, die Bilder werden als Produkt der körperlichen Aktion begriffen und nicht als fotografische Suche nach dem entscheidenden Augenblick oder der besten Komposition. Das heißt dann aber auch, dass die Situationen, in denen aufgenommen wird, spektakulär bzw. besser noch riskant zu sein haben. Die Sichtbarkeit der Bilder wird von Algorithmen der jeweiligen Plattformen bestimmt und so gehört zu dem spektakulären Bild auch immer noch ein Aufmerksamkeitsoutfit des Files, das heißt bearbeitete Metadaten wie Tags, Aufnahmeort, Technik etc. Allein der Tag »GoPro« sorgt bei Youtube für eine deutlich erhöhte Aufmerksamkeit bestimmter Bild-Genres. Als Grundlage dieser Prozesse ist eine Operativität der digitalen Bilder zu konstatieren: Die Algorithmen zum Durchsuchen dieser kaum zu überblickenden Bildermengen sind heute so ›schlau‹, dass sie die interessantesten Bilder in den erzeugten Bildmengen heraussuchen, wie ein bekannter Softwarehersteller wirbt: »Smart image Algorithms highlight your best shoots for you.«122 Die Möglichkeit der unmittelbaren Vernetzung von Kameras und sonstigen Produktionsplattformen mit sozialen Netzwerken ist heute hoch standardisiert, eine automatisierte, nichtmenschliche Auswahl der ›besten‹ Bilder ist mehr als vorstellbar.123 Bilder werden also von Apparaten für Maschinen produziert, die ihnen Bedeutung zuschreiben oder eben nicht. Volker Pantenburg beschreibt die operativen Bilder mit Bezug auf Harun Farocki als ›Zwischenprodukt‹ innerhalb des Prozesses: »Operativ« heißt in diesem Zusammenhang, dass das Bild in keiner Weise mehr »für sich« und einem potentiellen Betrachter gegenüber steht, sondern ganz zum Bestandteil einer elektronisch-technischen Operation wird. […] Sie [die operativen Bilder] sind nicht zur separaten Veröffentlichung gedacht und müssen strenggenommen gar nicht als Bilder in Erscheinung treten, sondern entstehen lediglich als Zwischenprodukt innerhalb eines umfassenderen technischen Prozesses […].124 Als Zwischenprodukt könnten, mit Bezug auf die digitale Fotografie, dann die Bilder gelten, die nicht mehr gebraucht werden, von der Software als Ausschuss definiert also nicht mehr angesehen werden. Sie sind sozusagen das operative Bild einer Negativität. So bleibt der größte Teil dieser Produktion absolut unsichtbar. 122 Vgl. http://getnarrative.com (Stand: 30.11.2018). 123 Auf den Seiten der großen Social-Media-Portale ist das Normalität. 124 Volker Pantenburg: Vermessen: Bilder der Welt und Inschrift des Krieges. In: Ders.: Film als Theorie. Bildforschung bei Harun Farocki und Jean-Luc Godard. Bielefeld 2006, S. 217–233, hier S. 227 f. GEFÄHRLICHE AUGENBLICKE 161 Ästhetik Trotz der konstatierten technologischen Annäherung von bewegtem und stillgestellten Bild gibt es eine Differenz in dessen Wahrnehmung. Das Medienspezifische des fotografischen Bildes ist, dass es den Sturz im Stillstand zeigt, der Film/das Video macht daraus immer den trivialen oder erbärmlichen Moment einer Nichtbeherrschbarkeit der Schwerkraft durch den Menschen oder das spektakuläre Bild der Gerade-noch-Überlebenden. So stellt die Fotografie immer auch die Möglichkeit eines medialen Widerstands gegen das Vergängliche dar. Wobei sie die Mortifikation in sich führt. In den Fotografien und Videos von Unfällen mit der GoPro lässt sich deren mediale Differenz aufs Beste nachvollziehen. So wie wir es einerseits gewohnt sind, mit dem fotografischen Bild als augenblickskritischem Medium die Vergänglichkeit des im Bild Fixierten als Grundsätzliches zu akzeptieren, sind wir andererseits durch den Film mit der immer wieder neu erzeugten, einbalsamierten Lebendigkeit des Gezeigten konfrontiert, zumindest wenn wir extreme Beschleunigungen oder Verlangsamungen ausnehmen – das optisch Unbewusste125 –, wie es Walter Benjamin genannt hat, das eher der fotografischen Basis des Filmbildes zugewandt ist. Der Film will wie André Bazin sagt: »[…] nicht mehr nur den in einem Augenblick festgehaltenen Gegenstand bewahren wie der Bernstein den intakten Körper von Insekten einer vergangenen Zeit; […] Zum ersten Mal ist das Bild der Dinge auch das ihrer Dauer, eine sich bewegende Mumie«.126 Kann man also in Bezug auf den Film von einer Mumifizierung der Zeit reden, wäre zu überlegen, wie die Fotografie die Zeit festhält, also nicht fallen lässt. Christian Metz sieht das – mit starkem Bezug auf Philippe Dubois – auf folgende Weise: Wie der Tod ist der Schnappschuss [instantanée] [allgemeiner: die Fotografie] ein Raub, eine zugleich gewaltsame und unfaßbare Überschreitung der Schwelle, die das Objekt der gewöhnlichen Welt entreißt, um es in einer anderen Welt unterzubringen, während der Film das Objekt nach dem Akt seiner optischen Aneignung in einem Gesamtablauf wiederherstellt, der um so mehr an denjenigen des Lebens erinnert. Die fotografische »Aufnahme« ist unmittelbar und endgültig, wie der Tod und wie die Bildung des Fetischs im Unbewußten […]. Und weiter: Der Film gibt den Toten einen Anschein von Leben zurück, der zwar schwankend, schattenhaft und fragil ist, aber sogleich durch das Begehren des liebenden Publikums und sein drängendes Verlangen nach Stillung desselben verstärkt wird, während die 125 Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie. In: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt am Main 1977, S. 45–64, hier S. 50. 126 André Bazin: Ontologie des fotografischen Bildes. In: Ders.: Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films. Köln 1975, S. 25 (Hervorh. des Verf.). 162 WINFRIED GERLING Fotografie kraft der objektiven Suggestion ihres Signifikanten – Unbewegtheit und Stille – die Toten als Tote würdigt.127 Abgesehen also von einer technischen Konvergenz des bewegten und des statischen Bildes unter den Bedingungen digitaler Produktionsweisen, die hier nicht weiter ausgeführt werden kann,128 gehört die besondere Perspektive dieser Bilder zu dem einschlägigen Kennzeichen dessen, was man als wesentliche Veränderung ausmachen kann. Es läge nahe zu vermuten, dass es sich bei den Bildern um eine Art von ›Selfies‹ handelt, da auch die aufnehmenden Personen immer wieder im Bild sind. Während der Selfiestick129 im Bild aber immer der Ausdruck des etwas verzweifelten Versuches ist, eine Perspektive von außerhalb des Körpers einzunehmen und in gewisser Weise ›herkömmliche‹ (Selbst-)Porträtaufnahmen zu produzieren, verändert die an den Körper montierte GoPro diese Perspektive entscheidend: Es handelt sich vorrangig um Bilder aus der sogenannten First-Person-Perspective, deren Geschichte im Film beginnt, um eine subjektive Perspektive zu erzeugen und die im Computerspiel der sogenannten First-Person-Shooter in den letzten rund 25 Jahren eine außerordentliche Konjunktur erlebt hat. In den Bildern der GoPro wird die an den Körper gekoppelte Kamera zum eigentlichen Zentrum des Bildes. Sie ist das ruhende Moment, die Welt dreht sich um sie, und so wird auch die First-Person-Perspective relativiert, die Kamera wird zum eigentlichen Akteur bzw. Kern dieser Bilder. Diese Kamera produziert eine andere Form der Stabilität (oder Ruhe) als der statisch feststehende Horizont in einer traditionellen Bildvorstellung. Allein das zufällige Verlassen dieser statischen Ordnung thematisiert die Kamera als Ort der Erzeugung dieser Bilder. Der Körper ersetzt den Horizont. Die Kamera wird zum ruhenden Zentrum in extrem bewegter und stürzender Umgebung. Die tendenzielle Auflösung von perspektivischer Wahrnehmung der Luftaufnahme tut ein Übriges. Diese Apparatur erzeugt eine eigenwillige stabile Verbindung von Aufnahmeperspektive und aufgenommener Trägerin. Mit der ActionCam und durch ihre Koppelung von Körper(-bild) und Apparat verändert sich das, was im Film und in der Fotografie als das Off bezeichnet wird: Die Kamera ist Teil des fotografierten und fotografierenden Körpers und erscheint aufgrund ihrer multiplen Befestigungen an einem Körper häufig mit im Bild. Es handelt sich – wie gezeigt – nicht einfach um die Kenntlichmachung einer subjektiven Kamera. Die an den Körper montierte GoPro verändert die Perspektiven entscheidend: Der Körper ist eins mit der Kamera, als solcher anhaltend im Bild 127 Christian Metz: Foto, Fetisch. In: Hubertus von Amelunxen (Hg.): Theorie der Fotografie IV 1980–1995. München 2000, S. 345–355, hier S. 349 f. 128 Vgl. hierzu Gerling, Moved Images (Anm. 19). 129 Der Selfiestick kam erstaunlicherweise schon 1983 an der Minolta Disc 7 zum ersten Mal zum Einsatz. Die Minolta Disc 7 war eine eigentümliche Kamera für das analoge Film-Disc-Format mit dem sehr speziellen Feature an der Vorderseite der Kamera: ein Spiegel zur besseren Erzeugung von Selbstporträts. Dies kann als die Vorwegnahme der Back Camera des Smartphone angesehen werden. In den USA wurde der Stick 1985 patentiert: US-Patent 4530580; vgl. www.google.de/ patents/US4530580 (Stand: 30.11.2018). GEFÄHRLICHE AUGENBLICKE 163 und damit Teil dessen, was eigentlich einen Aspekt des Offs als hors cadre kennzeichnet. Dieser technologische Körper kann nicht mehr aus dem Bild aus- oder in das Bild eintreten. Wo bleibt das Off, wenn jederzeit die Perspektiven gewechselt werden können und die bildproduzierenden Apparate bzw. die Apparate tragenden Körper ständig mit im Bild sichtbar sind oder sogar die Displays, auf denen die Bilder aktuell angesehen werden?130 Entscheidend für einen tendenziellen Verlust des Off ist, dass wir immer wissen, wer im Bild ist. Champ als das aufgenommene Bild, hors champ als das diegetische Off und hors cadre131 als der Teil des Offs, der nicht ins Bild kommen kann, können so auf diese Weise nicht mehr differenziert werden. Insbesondere auch, weil die Mittel der Erzeugung und die der Distribution Teil des technologischen Körpers sind, von dem hier gesprochen wird. So ist nicht einmal mehr die Position der Rezeption als hors cadre distinkt zu trennen.132 Allerdings könnten hier die Netzwerke des Ver-Teilens als eine Art Off bezeichnet werden. Sie werden in diesen Bildern nicht sichtbar und sind trotzdem Bedingung ihrer Erzeugung und Sichtbarkeit. Abb. 10: GoPro: Pelican learns to fly (2014; Screenshot) 130 Vgl. Florian Krautkrämer: Revolution Uploaded – Un/Sichtbares im Handy-Dokumentarfilm. In: ZFM – Zeitschrift für Medienwissenschaft 11 (2014), S. 113–126. 131 Diese Unterscheidungen sind im (Spiel-)Film üblich: »Champ« bezeichnet das aufgenommene Bild, als »hors-cadre« wird der Teil des Off bezeichnet, der nicht ins Bild kommen kann, wie die Kamera oder die Bereiche dahinter. Als »hors-champ« bezeichnet man das diegetische Off, der potenziell durch eine Kamerabewegung oder einen Gegenschnitt ins Bild kommen kann. 132 Was hier symptomatisch an der GoPro ausgeführt wird, gilt in ähnlicher Weise für Aufnahmen, die mit dem Smartphone oder dem Tablet in der Öffentlichkeit gemacht werden. 164 WINFRIED GERLING Philippe Dubois hat entschieden den Unterschied zwischen dem filmischen und dem fotografischen Off – als absolut außerhalb des Bildfeldes liegend133 – vertreten oder wie Winfried Pauleit sagt: »Die Qualität des fotografischen Off kann […] als Abwesenheit einer raumzeitlichen Kontinuität gedacht werden.«134 Diese Beschreibung kann kaum noch gelten, wenn Fotografien Einzelbilder serieller oder videografischer Aufzeichnungen sind. Hier zeigt sich ein Symptom der Annäherung von Fotografie und Video unter den Bedingungen digitaler Apparaturen. Das Wissen um die Möglichkeit, das jeweilige Bild im nächsten oder vorigen leicht verändert wieder zu sehen, eine Person aus dem Bild treten zu lassen, lässt das fotografische Off als hors champ näher an das filmische rücken. Eine Fotografie ist zwar immer noch ein distinkter Schnitt in der Raum- und Zeitachse, aber der virtuelle Verweis auf das davor oder danach liegende Bild lässt den Rand des Bildes durchlässig und auch eine Verschiebung auf der Zeitachse möglich werden. Das wird besonders deutlich, wenn man sich die weit verbreiteten Timelapse-(Zeitraffer-)Aufnahmen ansieht. Plötzlich erscheint eine Protagonistin und verschwindet wieder aus dem Bildfeld. Das Wissen um ihre mögliche Gegenwart lässt das fotografische Off weniger absolut erscheinen. Risiko und Gefahr Insbesondere das fotografische Off lässt immer einen Rest an Möglichkeit offen, das veränderte Off der GoPro überlässt wenig der Vorstellungskraft, es soll und kann jederzeit die Perspektive gewechselt werden, davon zeugen schon die multiplen Montagen von Kameras am Körper, aber auch das Fliegen im Schwarm und die Begleitung am Boden. Es wurden nie so viele Bilder von Verletzten und Sterbenden selbst erzeugt wie mit dieser Technologie. Der Körper wird behandelt wie die eingangs besprochene V2-Rakete als Träger einer medial zu erzeugenden Botschaft. Die Bilder müssen als Produkt einer veränderten Wahrnehmung der Realität angesehen werden. Ihre Produktion ist die Bedingung des Risikos, das vielleicht stärker als Teil der Medienproduktion begriffen wird und nicht so sehr als Teil der Existenz … Möglicherweise ist die Ästhetik der GoPro so durchsetzungsfähig, weil sie ihre Vorbereitung im Computerspiel hatte.135 Die Generation der GoPro-User/-innen ist auch eine Generation der Spieler/-innen und damit an die First-Person-Perspective gewöhnt. Mir scheinen hier neben den historischen Linien der zu Beginn ausgeführten Bildlichkeit besonders die des Computerspiels eine wesentliche Rolle zu spielen sowie eine Kultur des Aufmerksamkeit erzeugenden riskanten Handelns. Dass das Computerspiel alles andere als eine virtuelle Realität ist, sondern viel- 133 Philippe Dubois: Der fotografische Akt. Amsterdam/Dresden 1998, S. 198. 134 Winfried Pauleit: Filmstandbilder: Passagen zwischen Kunst und Kino. Frankfurt am Main/Basel 2004, S. 114. 135 Auf die Reinszenierung von Computerspielen mit der GoPro wurde oben schon hingewiesen. GEFÄHRLICHE AUGENBLICKE 165 mehr eine digitale Wirklichkeit, darauf hat Markus Rautzenberg hingewiesen.136 Der Rahmen der Aufmerksamkeitsproduktion kann erst einmal klein sein, unter Umständen nur der eines engeren Freundeskreises (der Community) wie z. B. zu Beginn des im postkommunistischen Russland sich verbreitenden Roofings: das riskante und freie Klettern und Posieren auf hohen Bauten – oftmals verlassene Industriearchitekturen. Wobei die fotografische Dokumentation auch hier immer eine wichtige Rolle gespielt hat. Die Aussicht aber, in seinem riskanten Handeln von einer größeren Community wahrgenommen zu werden und das möglicherweise zu einer Existenzgrundlage zu machen,137 ist für viele ein wichtiger Antrieb. Die Sichtbarkeit bzw. die Aufmerksamkeit in den sozialen Netzwerken wie Youtube und Instagram, in die diese Aufnahmen dann eingespeist werden, ist darüber hinaus algorithmisch bedingt, sodass die Aufmerksamkeit immer auch Produktion des oben beschriebenen technologischen Environments ist. Eine andere Motivation, die hier kaum ausgeführt werden kann, da ich weder Ethnologe, Soziologe noch Psychologe bin, ist die immer wieder stereotyp behauptete Existenzialität und die Kontrolle über das, was die Existenz ist, die von den Extremspringerinnen und -springern (Basejumping, Wingsuit-Flying etc.) angeführt wird. Es gehe um das Sich-selbst-Spüren, und man müsse wissen, ob es der Sprung wert sei zu sterben. »Wenn du unten sicher gelandet bist, weißt du, dass du für dich und dein Handeln absolute Verantwortung übernehmen kannst.«138 Oder: »The Proper Function Of Man Is To Live, Not To Exist. I Shall Not Waste My Days In Trying To Prolong Them. I Shall Live Them.«139 Allein die Anzahl der verunglückten Basejumper/-innen140 lässt darauf schließen, dass es zumindest ein verringertes Bewusstsein von der Endlichkeit der Existenz unter den Bedingungen medial aufzuzeichnender – extremer Geschwindigkeit gibt. Es geht anscheinend nicht um das Unterscheiden einer physischen Realität und einer fotografischen Wirklichkeit, sondern es geht um deren gegenseitige Einflussnahme. 136 Siehe Markus Rautzenberg: Wirklichkeit zur Ikonizität digitaler Bilder. In: Marcel Finke/Mark Halawa (Hg.): Materialität und Bildlichkeit. Visuelle Artefakte zwischen Aisthesis und Semiosis. Berlin 2012, S. 112–125, hier S. 121. 137 Dies ist bei einigen Roofern zu beobachten, die inzwischen weltweit gesponsert Wolkenkratzer besteigen. 138 Mirja Kuckuk: Die Sucht zu springen. Der Tod springt mit. In: Süddeutsche online vom 17. Mai 2010, online unter www.sueddeutsche.de/leben/trendsport-base-jumping-die-sucht-zu-springen1.289096-2 (Stand: 30.11.2018). 139 Brandon Mikesell (bmikesell23, online unter https://instagram.com/bmikesell23/ [Stand: 30.11.2018]) paraphrasiert hier Jack London. Das Original lautet wie folgt: »I would rather be ashes than dust! I would rather that my spark should burn out in a brilliant blaze than it should be stifled by dry-rot. I would rather be a superb meteor, every atom of me in magnificent glow, than a sleepy and permanent planet. The proper function of man is to live, not to exist. I shall not waste my days in trying to prolong them. I shall use my time.« (Jack London zit. n. The Bulletin [San Francisco] vom 2. Dezember 1916, Teil 2, S. 1) 140 Vgl. Base Fatality List, online unter www.blincmagazine.com/forum/wiki_index.php?title=BASE_ Fatality_List (Stand: 30.11.2018). 166 WINFRIED GERLING Die Basis der Produktion dieser Bilder ist dann immer mit einem doppelten Überbietungsgestus verbunden, der sich aus der Vermittlung der aufgenommenen Bilder ergibt. Einerseits geht es darum, die spektakulärsten und damit riskantesten Bilder zu machen, und andererseits, diese in ihrer ästhetischen Qualität auch immer ›besser‹ werden zu lassen. Es werden Situationen herbeigeführt, die ein erhebliches Risiko in sich bergen und außer Kontrolle geraten können und sollen, den (Un-)Fall also geradezu provozieren. So entsteht Unerwartetes, nicht Intendiertes, eine Bildproduktion, die vorsätzlich ›aus Versehen‹ gemacht wird. Es entstehen Bilder, deren Einsatz der Körper ist, sie ziehen eine prekäre Kultur des ›Missglückens‹ (Fail) nach sich. Allerdings entsteht auch ein unerwartetes Moment von Kreativität, wie die große Anzahl vorsätzlich (post-)produzierter Fail-Videos anzeigt.141 Mit Bezug auf den Apparat müssen wir aber mindestens zwei Konzepte von Risiko denken. Einerseits, und das ist naheliegend, das Risiko, das eingegangen wird, um spektakuläre Bilder zu produzieren, aber andererseits auch das Risiko, den Apparat zu verlieren, sei es an die Schwerkraft oder an fotografisch aktive Tiere. Als Folge entstehen mindestens zwei neue Genres von Videos, die des Falls einer einsamen Kamera und die des ›Kameradiebstahls‹ durch Tiere.142 Eine konkrete Gefahr geht von dem Apparat allerdings nicht aus, sieht man einmal davon ab, dass es theoretisch möglich ist, dass eine frei stürzende GoPro auch jemanden verletzen könnte.143 Was für die vielen frei an Drohnen fliegenden Kameras nochmals anders gilt. Die Bilder einer fotografischen Apparatur, die hier besprochen wurden, sind dann immer im doppelten Sinne das Produkt eines Unbewussten: Einerseits sind es Bilder, die, wie Benjamin sagt, der »optisch unbewussten« Produktion des Fotografischen entspringen und damit etwas sichtbar machen, das in der menschlichen Wahrnehmung nicht existiert. Der andere Aspekt, der hier versucht wurde zu zeigen, ist, dass die zugrundeliegenden ubiquitären und vernetzten technologischen Infrastrukturen in unserer Umwelt ein »technologisch Unbewusstes«144 erzeugen, das im Hintergrund (unbewusst) Handlungen und Vorgänge automatisiert und im 141 Siehe z. B. den Youtube-Kanal BestFails TV, online unter www.youtube.com/channel/UCeFh8Gh5MTD3piJE6ID8QmQ (Stand: 30.11.2018), wobei einem hier das schadenfrohe Lachen angesichts der teilweise schreckenerregenden Unfälle immer wieder im Halse steckenbleibt. 142 Vgl. z. B. Möwe klaut meine GoPro und filmt die Aussicht von der Insel Cíes, online unter www. youtube.com/watch?v=vZ_Q6v8kfH0 (Stand: 30.11.2018). 143 Wie Jürgen Fohrmann in seinem Beitrag mit Luhmann für das Flugzeug eindrücklich ausgeführt hat. 144 In jüngerer Vergangenheit ist dieser Begriff ausgehend von Nigel Thrift diskutiert worden: Nigel Thrift: Remembering the technological unconscious by foregrounding knowledges of position. In: Environment and Planning D: Society and Space 22 (2004), S. 175–190, bes. S. 186. Ich möchte auch darauf hinweisen, dass dieser Begriff von dem italienischen Fotografen und Philosophen Franco Vaccari mit Bezug auf die Fotografie schon 1979 geprägt wurde. Vaccari betont, dass neben dem menschlichen Unbewussten ein technologisch Unbewusstes existiert, das immer dann aktiv wird, wenn der Mensch seine Tätigkeit an Maschinen überträgt. Der fotografische Apparat sei fähig, ein Bild ohne das Zutun eines menschlichen Subjekts kulturell zu strukturieren (vgl. Franco Vaccari: Fotografie e inconscio tecnologico. Turin 2011). GEFÄHRLICHE AUGENBLICKE 167 Gebrauch unter die Bewusstseinsschwelle sinken lässt, während diese Technologien immer stärker in körperliche Gewohnheiten eingebunden werden. Sybille Krämer sagt, dass Medien Welten erzeugen: Die Technik als Werkzeug erspart Arbeit; die Technik als Apparat aber bringt künstliche Welten hervor, sie eröffnet Erfahrungen und ermöglicht Verfahren, die es ohne Apparaturen nicht etwa abgeschwächt, sondern überhaupt nicht gibt. Nicht Leistungssteigerung, sondern Welterzeugung ist der produktive Sinn von Medientechnologien.145 So sind diese Bilder dann eben Bilder aus einer Welt, die es ohne die mediale Aufzeichnung nicht gäbe. Sie entspringen der Apparatur oder genauer in unserem Fall der Bedingung, die die Kamera mit den Körpern und ihrer unterbewussten technologischen Einbettung in eine ubiquitäre vernetzte digitale Umwelt erzeugt. Oder wie Mark B. N. Hansen es ausdrückt: Wir können sogar behaupten, dass der Körper eins wird mit der umfassenden Umwelt, aus der er hervorgeht. In dieser Hinsicht werden Medien in erster Linie als ›atomistische‹ Empfindungen in allen Größenordnungen erfahren; erst danach – und auf einer weit höheren Organisationsebene (und Ebene innerer Selbstreferenz) – werden sie als ›Gegenstand‹ von Wahrnehmung erfahren […].146 Symptomatisch ist hier zu sehen, wie sehr diese Bildproduktion in eine technologische Umwelt eingebettet ist, die den Körper des Menschen als Natur zur Not nicht mehr braucht bzw. auch wie naturalisiert, jedenfalls unterhalb der Bewusstseinsschwelle diese Technologie inzwischen in unserer Umwelt aufgegangen ist. So ist am Ende das Erschrecken des Menschen vor dem Kameradiebstahl nur Teil der Erkenntnis, dass hier eine Umwelt erschaffen wurde, deren Gefahr eine Autonomie dieses Environments ist. Die vermeintliche Überlegenheit des Menschen steht auf dem Spiel, wenn die Kamera ohne das Zutun des Menschen Bilder produziert und verbreitet oder das Tier sein Bild selbst erzeugt und dem Menschen den Apparat dieser Erzeugung vorenthält. 145 Sybille Krämer: Das Medium als Spur und als Apparat. In: Dies.: Medien, Computer, Realität, Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt am Main 1998, S. 85. 146 Mark B. N. Hansen: Medien des 21. Jahrhunderts, technisches Empfinden und unsere originäre Umweltbedingung. In: Erich Hörl (Hg.): Die technologische Bedingung – Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt. Berlin 2011, S. 391 f.