Florian Sprenger
Gefährdungen der Zukunft
«Denn es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit,
das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht,
die sich nicht als in ihm gemeinte erkannte.»
Walter Benjamin, Gesammelte Schriften,
Band I/2, Frankfurt/Main 1977, S. 695.
Die Zukunft ist gefährlich, gefährlich für jede Gegenwart, weil sie mit einer
Kontingenz von Möglichkeiten konfrontiert, mit möglichen Entscheidungen
und möglichen Geschehnissen, die auf unvorhersagbare Weise miteinander
verknüpft sind. Die Zukunft ist nicht gegeben und gefährdet sich ständig
selbst, weil jede Entscheidung für eine Möglichkeit sie neu entwirft. Wird diese Kontingenz möglicher Zukünfte unerträglich, lauten Gegenstrategien: Wahrscheinlichmachung der Zukunft, Regulierung aller Gefahren, Fixierung des
Zufalls durch einen unüberwindlichen Sinn. Eine solche Konstellation des Umgangs mit Gefährdungen der Zukunft (zu lesen im genitivus obiectivus und im
genitivus subiectivus) lässt sich in exemplarischer Weise an der mit ›langfristig‹
nur euphemistisch beschriebenen Endlagerung radioaktiven Abfalls darstellen.
Denn die Gefahrenlage ist die Gefahrenlänge, und als solche bildet sie ganz
eigene Logiken aus. Eine Bearbeitung der Gefährdungen der Zukunft ist nur
vom Möglichen her sinnvoll: »While predicting what the future will be is folly,
it is useful to consider what futures are possible.«1 Diese Möglichkeiten stehen
einer Gegenwart offen, die die Zukünfte braucht, um sich auf die beste aller
möglichen hin zu entwerfen: auf die gefahrlose Zukunft. Zu fragen wäre also
danach, wie das Virtuelle der möglichen Gefahren sich aktualisiert oder aktualisiert wird, ohne je gefährlich zu werden. Wie sieht eine Zukunft aus, an die
erstens einen Sinn zu übermitteln möglich ist, der den Menschen dieser Zukunft zweitens erlaubt, Gefahren zu umgehen und diese Zukunft damit drittens
für uns ungefährlich macht? Gerade weil eine Beantwortung dieser Fragen
unmöglich ist, können wir von den Antwortversuchen um so mehr lernen.
Denn dass die Aufgabe unmöglich ist, macht sie umso empfänglicher für einen
Möglichkeitssinn, der in verschiedenen Konstellationen auftritt.
(1) Stephen C. Hora, Detlof von Winterfeldt und Kathleen M. Trauth, Expert Judgement on Inadvertent Human Intrusion into the Waste Isolation Pilot Plant. Albuquerque/New Mexico 1991,
S. V–2.
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Florian Sprenger
Unsichtbare Gefahr
Radioaktivität ist nicht wahrnehmbar, und in der unbemerkten Verstrahlung
liegt ihre größte Gefahr, die für die finale unterirdische Endlagerung von Atommüll in medientheoretisch relevanter Weise virulent wird. Aus versicherungstechnischen (und erst an zweiter Stelle aus ethischen) Gründen müssen (zumindest in den USA) die Generationen der nächsten zehntausend Jahre (ein
Näherungswert an die Halbwertszeit) davon abgehalten werden, versehentlich
die (noch zu bauenden) unterirdischen Lagerstätten aufzubrechen. Die Gefährlichkeit dieser zivilisatorischen Reste bleibt über Zehntausende von Jahren
bestehen. Es fehlen nur die Götter, um es mit den Pyramidengräbern der Ägypter aufzunehmen. Zehntausend Jahre – ein Zeitraum, der unüberschaubar, unvorstellbar, unüberbrückbar erscheint und alle historischen oder kulturellen
Kategorien sprengt. Die toxische Wirkung und die Halbwertszeit des Abfalls
machen jedoch eine dauerhafte Einlagerung unumgänglich. Das Problem, das
sich damit abseits von technischen Machbarkeiten, moralischen Bedenken und
ökologischen Einwänden stellt, besteht darin, dass niemand weiß, was irgendjemand tun könnte, der irgendwann auf unsere Hinterlassenschaften stößt. Ein
unwissentliches Eindringen in die Lagerstollen könnte – dieser Konjunktiv wird
noch eine Rolle spielen – fatale Folgen haben, potenziert durch eine doppelte
Unsichtbarkeit: Einerseits wäre der eingelagerte Abfall unter der Erdoberfläche
unsichtbar, zumindest für heutige Ortungsverfahren. Andererseits wäre selbst
bei einem Eindringen in die Stollen ohne Geigerzähler oder andere Ortungsmittel gar nicht erkennbar, dass dort eine Gefahr lauert. Nur über die Symptome an Organismen und durch Zeichen auf Instrumenten wird sie erkennbar.
Jeder Verweis, den der Atommüll erzeugt, bedeutet eine Gefährdung. Jedes
natürliche Zeichen, das Radioaktivität an lebenden Organismen nachträglich
sichtbar werden lässt, kann eine Gefahr sein. Die Zeichen, die auf den Müll
verweisen, müssen also so lange auf ihn verweisen, bis seine eigenen Verweise
nicht mehr in Symptomen ihren Ausschlag finden.
Das zu all dem verfasste Gesetz ist der Nuclear Waste Policy Act von
1982, nach dem in den USA radioaktive Abfälle sicher gelagert werden müssen und keine Gefahr für die Bevölkerung darstellen dürfen. Die Auslegung
dieses Gesetz besagt, dass die in einem geologisch langfristig stabilen Gebiet
einzurichtenden Endlager 100 Jahre lang aktiv kontrolliert werden müssen.
Anschließend sollen sogenannte Passive Institutional Controls, die vom zuständigen Department of Energy (DOE) zu erarbeiten sind, ohne menschliche Aufsicht dafür Sorge tragen, dass der Atommüll weitere 10000 Jahre lang vor
einem ungewollten menschlichen Eindringen bewahrt bleibt. Es wird dabei
keine Verantwortung für die Radioaktivität übernommen, sondern nur für die
Wirksamkeit der Warnungen.2 Deshalb wurden vom US-Energieministerium in
den 1980er und 1990er Jahren für viel Geld verschiedene Konzepte zur Kom(2) Sollte die Warnung zwar verstanden, aber nicht befolgt werden, so würde das nicht mehr
unter die Verantwortung der Gegenwart fallen: »The Department of Energy has taken the position that this generation bears no responsibility if a later generation decides to do something
which would affect the repository behavior (e.g. retrieve the waste) if that generation is fully
cognizant of the hazards and consequences of that action.« (Maureen F. Kaplan, Archaeological
Data as a Basis for Repository Marker Design, Reading/Massachusetts 1982, S. 4) Deshalb handeln alle Entwürfe von ›inadvertent intrusion‹. Die Argumentation besagt nicht, dass gewarnt
werden muss, sondern dass sicher gelagert werden muss, und dafür sollte gewarnt werden. Damit
verschiebt sich die Verhandlung ethischer Fragestellungen (in Form von ›Generationengerechtigkeit‹ und nachhaltiger Umweltpolitik) auf einen dieser Gesetzgebung vorgeschobenen Bereich. Einige Ansätze für zukunftsethische Normen der Wissensweitergabe liefert Stefan Berndes. Leider
übersieht er zahlreiche für den Kontext der Atommüllendlager wichtige Quellen. (Stefan Berndes,
Wissen für die Zukunft. Ethische Normen der Auswahl und Weitergabe naturwissenschaftlichen
und technischen Wissens, Münster 2001.)
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Gefährdungen der Zukuft
munikation mit unbekannten Adressaten in der fernen Zukunft entworfen und
zum Teil im Waste Isolation Pilot Plant (WIPP) in New Mexico bereits umgesetzt.3 Diese auf dauerhaften Trägern anzubringenden Warnungen sollen vielen denkbaren Wesen in vielen denkbaren Zukünften verständlich sein.4 Vor
aller Kommunikation liegt die – letztlich unaufhebbare – Unbekanntheit der
Zukunft, der eigens begegnet werden soll. Deshalb sind die entworfenen Zukünfte Versuche, virtuelle Welten zu erzeugen, mit denen der virtuelle Un/Zufall zu einer Variablen werden kann, mit der man planen kann – eine Relativierung des Konjunktivs. Dass die gefährliche Latenzzeit der Halbwertszeit
entspricht oder noch über sie hinausgeht, hat Auswirkungen auf die Zeit, die
hier gedacht wird: Sie verliert ihren Horizont. Zehntausend Jahre mögen eine
unvorstellbare Dauer sein, aber sie sollen übersichtlich gemacht werden,
indem nur bestimmte Möglichkeiten zugelassen werden. Sie sollen das NochNicht verlieren.5
Entscheidend ist dabei, dass der Müll als gefährdet gedacht wird
und nicht als gefährlich. Um die Strahlungsgefahr einzuhegen wird die Zukunft
zur Gefährdung der Gefahr, die letztlich auf sie lauern könnte. Solange der Müll
in seiner unterirdischen Sicherheit nicht gefährdet ist, gefährdet er niemanden.
Wir haben es also zu tun mit einem veritablen Regierungswissen, das die Zukunft nicht nur durch den Müll kolonisieren, sondern ihr zugleich Verhaltensweisen aufzwingen will oder muss.6 Regierung bedeutet hier nicht nur Macht
über den Raum an der Oberfläche, sondern vor allem über Zeitpunkte. Es geht
um ›long-term Technikfolgenabschätzung‹, für die jede Technik mit ihrem virtuellen Unfall einhergeht. Wir haben es also zu tun mit einer Angst vor dem
Atommüll und seinen Gefahren, die einen veritablen Gefahrensinn herausfordert, Praktiken des Umgangs mit zukünftiger Gefahr (und damit mit gegenwärtiger Angst) zu entwerfen. Sie stellt unsere Handlungsmacht auf die Probe.
Das Wissen um die Gefahren soll die Lagerstätte durch die Zeit begleiten, an
sie gekettet und untrennbar mit ihr verbunden, aber unabhängig von Raum
und Zeit, von Umwelt und Kultur: ein an die Zeit geketteter Sinn für eine Gefahr oder vielmehr Sinn einer Gefahr, der nicht einschlafen darf. Die kulturelle
Variabilität des Sinns, seine inhärente Dissemination wird damit selbst zur Gefahr, die unter den Warnungen ebenso schlummert wie der radioaktive Abfall.
(3) In anderen Ländern sind die Bestrebungen zur Endlagerung nicht so weit vorangeschritten,
was angesichts der Mengen des radioaktiven Mülls in den USA (ein Viertel der weltweiten Gesamtmenge) einsichtig ist. Außerdem sind die USA das einzige Land, das die Warnungen an die
Zukunft in die Endlager integrieren will. Die Atomenergiebehörde in Wien geht im Gegensatz zu
den USA davon aus, dass die Sicherheit der langfristigen Lagerung ein geringes Maß an ständiger Überwachung erfordert und deshalb keine Warnungen nötig sind. (Persönliche email von Insook Kim/Atomenergiebehörde, sowie IAEA, Geological disposal of radioactive waste: safety requirements, Wien 2006.) Die schweizerische Nagra hält die Warnungen – trotz ihrer öffentlichen
Wirkung – für unnötig, weil eine Kultur, die so weit fortgeschritten ist, dass sie die Stollen erreichen und öffnen könnte, entsprechende Sicherheitsmaßnahmen treffen würde. Selbst bei einem
ungewollten Eindringen in die Bergstollen sei die Gefahr von radioaktiver Kontamination sehr gering (Persönliche email von Urs Frick/Nagra). – Zu den Planungen in anderen Ländern vgl. etwa
http://www.akend.de (Deutschland), http://www.nwmo.ca (Kanada), http://www.nagra.ch
(Schweiz) http://www.posiva.fi (Finnland).
(4) Der Fall, dass nicht Menschen, sondern Aliens, Insektenkollektive oder Roboter zu den Eindringlingen zu zählen sein könnten, wird aus praktischen, vielleicht aber auch ethischen Gründen
nicht in Erwägung gezogen: Es wäre nahezu unmöglich, sich eine solche Kommunikationssituation vorzustellen und Strategien zu ihrer Meisterung zu entwerfen.
(5) Vgl. Florian Sprenger, The Clock of the Long-Now – Die Uhr, die Langeweile und der Beobachter, in: Augenblick. Marburger Hefte zur Medienwissenschaft, Nr. 41, 2008, S. 104–116.
(6) Vgl. Hans-Joachim Lenger, Zeithunger, in: Ursula Keller, Zeitsprünge, Berlin 1999, S. 131–
141.
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De-Termination der Zukunft
Es lassen sich zwei Projektphasen unterscheiden: Anfang der 80er Jahre entwarf die Human Interference Task Force (HITF) für das Office of Nuclear Waste
Isolation bis heute grundlegende Konzepte.7 Zehn Jahre später installierte das
DOE das Expert Judgement on Inadvertent Human Instrusion into the Waste
Isolation Pilot Plant, kurz Futures Panel,8 (unterteilt in vier Arbeitsgruppen) mit
der Aufgabe, sich mit den grundlegenden Möglichkeiten zu beschäftigen, Entwicklungen in der Zukunft zu antizipieren, das heißt, Bedingungen für optimale Warnungen. Den zweiten Schritt sollte das Expert Judgment on Markers to
Deter Inadvertent Human Intrusion into the Waste Isolation Pilot Plant, kurz
Markers Panel,9 (unterteilt in zwei Arbeitsgruppen) mit der Aufgabe erarbeiten,
die Kommunikations- und Medienaspekte zu erhellen. Die Aufgabe dieser
Arbeitsgruppen lautet behördlich zusammengefasst: »The official aim of the
DOE is to design a visible, passive, durable, and persistently intelligible warning at WIPP – in other words, a synthetic form of landscape permanence.«10
Die Auswahl der Forscher in diesen Phasen lässt sich als Tableau all
der Wissensgebiete lesen, die die kommunikative Überbrückung langer Zeiträume aufruft: »The experts are required to employ substantial creative effort.«11 Semiotiker, Kommunikationswissenschaftler und Linguisten sollen die
Zeichenfunktion klären, Geologen, Materialwissenschafter und Archäologen
›long-term-thinking‹ und dauerhafte Materialität verbinden, Juristen die Gegenwart entschuldigen, weil sie nicht persönlich anwesend sein kann, Soziologen und Anthropologen die kulturellen Vor- und Nachbedingungen herausarbeiten oder diese, unterstützt von Ingenieuren, Architekten und Operations
Researchern, erst herstellen. Astronomen mit dem Spezialgebiet Interstellare
Kommunikation werden immer gebraucht, wenn es um große Distanzen
geht.12
(7) All diese Berichte müssen, so das Gesetz, veröffentlicht werden. Neben dem Hauptbericht
(Human Interference Tast Force, Reducing the Likelihood of Future Human Activities That Could
Affect Geologic High-Level Waste Repositories, Columbus/Ohio 1984.) sind der HITF die Arbeiten von Maureen Kaplan (Maureen F. Kaplan, Archaeological Data as a Basis for Repository Marker Design, Reading/Massachusetts 1982.), Thomas Sebeok (Thomas A. Sebeok, Communication
Measures to Bridge Ten Millenia, Columbus/Ohio, 1984.) sowie David Givens (David Givens,
Was wir aus der Menschheitsgeschichte lernen können, in: Roland Posner (Hg.), Warnungen an
die ferne Zukunft. Atommüll als Kommunikationsproblem. München 1990, S. 95–125.) zuzuordnen. Die Zeitschrift für Semiotik hat zusätzlich zu teilweise gekürzten Übersetzungen dieser
Berichte eine Reihe von erläuternden Beiträgen zum Thema gesammelt (Posner (Hg.), Warnungen an die ferne Zukunft.) Die darin enthaltenen, in den 80er Jahren zu einigem Ruhm gekommenen Arbeiten thematisieren noch nicht die zweite Projektphase, in der sich die semiotischen
Probleme als kulturgeschichtlich-medientheoretische herausgestellt haben.
(8) Hierzu gehört neben dem offiziellen Abschlussbericht (Hora, Winterfeldt und Trauth, Expert
Judgement on Inadvertent Human Intrusion, wie Anm. 1) und der ausführlichen Fassung eines
der vier Teams (Gregory Benford, Craig Kirkwood, Harry Ottway und Martin J. Pasqualetti, Ten
Thousand Years Of Solitude. On Inadvertent Intrusion into the Waste Isolation Pilot Project Repository. Los Alamos/New Mexico 1991.) die populärwissenschaftliche Zusammenfassung des
Physikers und Science-Fiction-Schriftstellers Gregory Benford (Gregory Benford, Deep Time. How
Humanity Communicates Across Millennia. New York 1999.).
(9) Stephen C. Hora, Robert V. Guzowski und Kathleen M. Trauth, Expert Judgment on Markers
to Deter Inadvertent Human Intrusion into the Waste Isolation Pilot Plant. Albuquerque/New
Mexico 1993.
(10) Martin J. Pasqualetti, Landscape Permanence and Nuclear Warnings, in: The Geographical
Review. 87, 1/1997. S. 78.
(11) Hora, Guzowski und Trauth, Expert Judgment on Markers, wie Anm. 9, S. II–1.
(12) Auch Vertreter der indianischen Bevölkerung sowie die Vorsitzende der League of Women
Voters stehen in der Liste der vorgeschlagenen Personen. Dennoch sind alle von dieser Liste Nominierten weiße Amerikaner und gehören zur akademischen Oberschicht. Selbstverständlich
unterliegt auch die Entscheidung über die Qualifizierung von Kandidaten wiederum dem Urteil
anderer, mit dem Thema beschäftigter Experten, was zu einem gewissen Dilemma führt. Personelle Kontinuitäten sind nicht ausgeschlossen: So ist David Givens Mitglied der HITF und des
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Gefährdungen der Zukuft
In diesem Aufsatz soll weniger die Kommunikation mit der Zukunft
thematisiert werden13, sondern die Entwürfe eben dieser Zukunft mit den Methoden des Futures Panel. Im Fokus steht ein Kontingenzmanagement, das die
Gefahren benennt und für die Gegenwart wirksam macht, um sie zu neutralisieren. Die Aufgabe des Markers Panels könnte man beschreiben als Ausstattung der Zeichen mit einem invariablen Sinn, um der Gefahr des Atommülls
wie der Gefahr der Dissemination Herr zu werden. Die Kommunikationsversuche müssen eindeutig sein. Sie dürfen keinerlei Zweifel aufkommen lassen,
um was für einen Gegenstand es sich handelt und was verboten ist. Die zuständigen Wissenschaftler rekurrieren auf so illustre Denkfiguren wie Archetypen, Urbilder, verkörperte Mythen oder schlicht ›kulturfreie Zeichen‹ (Claus
Pias), um das von vornherein zum Scheitern verurteilte Projekt imaginär zu retten. Den Schwierigkeiten der Kommunikation steht das Ideal einer Unmittelbarkeit gegenüber, einer medien- und kanallosen, an die communitas der Engel
gemahnenden Kommunikation. Das Problem, dass mit dem Kontext der Sinn
einer Botschaft variiert, wird umgangen, indem Botschaften verwendet werden, deren Sinn sich nie ändern, sondern von selbst erklären und ohne Entschlüsselung auskommen soll. Diese Kommunikation mit der Zukunft setzt auf
Verfahren, die die Zerstreutheit der Kommunikation, die Dissemination ihres
Sinns und die Unfixierbarkeit ihres Signifikats, zugunsten einer Unmittelbarkeit
verneinen. Zugleich müssen sich die beteiligten Wissenschaftler auf diese
»nicht kontrollierbare Streuung«14 verlassen, denn sie wenden sich an alle möglichen Empfänger. Die Unmittelbarkeit, die ihrer Übertragung in aller Widersprüchlichkeit zugesprochen wird, ist die Antwort auf die Gefahr, so unlösbar
der damit verbundene Anspruch auch sein mag.
Abb. 1: Stephen C. Hora, Detlof von Winterfeldt und Kathleen M. Trauth, Expert Judgement on Inadvertent
Human Intrusion into the Waste Isolation Pilot Plant. Albuquerque/New Mexico 1991, S. IV–13
Markers Panel. Ebenso lässt sich eine Verbindung zu den SETI-Forschungen (Search for extraterrestrial intelligence) herstellen, da Gregory Benford, Jon Lomberg, Frank Drake, Woody Sullivan
und Ben Finney auch in diesem Bereich tätig sind. Vgl. Hora, Guzowski und Trauth, Expert Judgment on Markers, wie Anm. 9, S. C–1; Hora, Winterfeldt und Trauth, Expert Judgement on Inadvertent Human Intrusion, wie Anm. 1, S. J–1.
(13) Die vorgeschlagenen Kommunikationsentwürfe und ihre Phantasmen habe ich an anderer
Stelle diskutiert: Florian Sprenger: Atommüllendlager. Zur unmittelbaren Überwindung einer
konstitutiven Trennung. In: Claus Pias (Hg.), Kulturfreie Bilder. Berlin 2009. Im Druck.
(14) Jacques Derrida, Die weiße Mythologie. Die Metapher im philosophischen Text. in: ders.,
Randgänge der Philosophie. Wien 1988, S. 289.
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Das Markers Panel rekurriert also auf eine Strategie der Verunmittelbarung zwecks Gefahrenvermeidung. Die Gefahr der Dissemination, der so
begegnet werden soll, hat jedoch einen Rahmen, der sie über die Kontingenz
jeder Kommunikation hinaushebt: die Zeit. Das heißt, dass sich nicht nur die
Frage nach dem Stillstellen der Oszillation von Bedeutung stellt, sondern auch
danach, wie entsprechende Zukünfte konzeptualisiert werden können. Das
Ziel, dass diese Botschaft so verstanden wird, wie wir sie absenden, ist an die
Vorstellung einer zeitlichen wie kulturellen Kontinuität gebunden, während
die Notwendigkeit, sie abzusenden, einen kulturellen oder wenigstens kommunikativen Bruch voraussetzt. Das Atommüllendlager und seine Warnungen
lassen sich also als Errichtung einer Permanenz gegen den Abbruch der Tradition, gegen kulturelle Invarianz beschreiben. Es muss dem Anspruch genügen,
vergessen zu werden, weil es ohne Kontakt zu unserer Gegenwart auskommen
soll. Somit stellt sich das Atommüllendlager als manifestierte Aporie dar, zumal
nicht der Müll gefunden und interpretiert werden darf, sondern nur die Zeichen, die auf ihn verweisen. Aber ohne Zeichen ist der Müll nicht sichtbar, und
vielleicht würde er nie gefunden, wenn es keine Zeichen für ihn gäbe. Die Entscheidung darüber liegt in der Zukunft.
Diese Nähe von Science und Fiction spiegelt sich in der ›Methode‹
des Gedankenexperiments als sowohl rationaler als auch imaginativ-ästhetischer Versuchsanordnung.15 Aus ihr sollen alternative, mögliche Welten erdacht und dann auf ihre Auswirkungen hin ›geprüft‹ werden. Allerdings werden allzu unwahrscheinliche Ereignisse (extraterrestrische Besucher, Kometeneinschlag, Aufhebung der Gravitation) vom DOE von vornherein ausgeschlossen. Diese Gedankenexperimente haben den strategischen Einsatz, nicht nur
Welten zu imaginieren, die sich von unserer unterscheiden, aber möglich sind
und wirklich werden können, sondern bestimmte Optionen in diesen Welten
zu vermeiden – wie auch immer eine solche zukünftige Handlung durch die
Gegenwart machbar sein soll. Eine Mannigfaltigkeit von Zukünften ist zu bearbeiten, dass eine erwünschte Zukunft daraus entsteht.
Sie sollen einen Möglichkeitssinn für die Zukunft entwerfen. Der
Musilsche Möglichkeitssinn besteht darin, in Gedankenexperimenten die
Wirklichkeit zu testen, sie in ihren Bestandteilen neu und anders zusammenzufügen, ohne dem Ergebnis einen Realitätsstatus, wohl aber eine Wirksamkeit
zuzusprechen: »So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit
definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht
wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.«16 Produziert wird durch den Möglichkeitssinn ein Wissen über die Zukunft, das in einem Zwischenstadium verharrt, bis es von der Gegenwart eingeholt oder überholt wird, weil es seine
Quelle in der Gegenwart hat.
›Wie kommt das Neue in die Welt?‹, ›Wie kommt das Wissen von
etwas Neuem in die Welt?‹ könnte man also die vom Futures Panel gestellte
Frage formulieren, oder: ›Wie misst man sein Gefahrenpotential?‹. Was, wenn
das Neue so weit in der Zukunft liegt, dass ein Abgleich der Prämissen unmöglich ist, die für die Aufstellung von Hypothesen darüber genutzt werden,
wie dieses Neue in der Zukunft aussehen könnte? Das Neue kann entweder
etwas ganz Neues sein, radikal verschieden vom Alten, oder aber etwas Abgeleitetes. Im ersten Fall stoßen wir auf unsere Erkenntnisgrenzen, die uns nichts
denken lassen, was sich nicht denken lässt. Im zweiten Fall könnte sich bei näherer Untersuchung des Neuen herausstellen, dass es so neu gar nicht ist.
(15) Vgl. Thomas Macho und Annette Wunschel (Hg.), Science & Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur. Frankfurt/Main 2004.
(16) Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Hamburg 2000, S. 16.
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Gefährdungen der Zukuft
Die Bedrohung besteht darin, dass sie, vom Zeitraum potenziert,
gerade nicht aktuell, sondern virtuell ist: Niemand weiß, was passieren wird,
aber weil alles möglich ist, muss damit gerechnet und geplant werden. So bekommt es eine Wirksamkeit, die aktuell wird. In diesem Sinne ist das Virtuelle
Schnittpunkt zum Realen und nicht sein Gegensatz.17 Alle möglichen Zukünfte
sollen in die Planung einfließen, damit die eine kommende Zukunft ungefährdet geschehen kann und mögliche Zukünfte unmögliche Bedrohungen werden. Entwickelt werden Bedrohungsszenarien für den Müll, von denen aus Zukünfte erdacht werden. Die verschränkte Gefahr des Atommülls ist eine
virtuelle und kann nur als solche bearbeitet werden – und gewinnt so eine Realität für die Gegenwart, die sie nur als Gefahr haben kann, mit der gerechnet
werden muss. Dafür wird sie in bearbeitbare ›Bausteine‹ umgewandelt.
Die Überlegungen der HITF sind auf vorgegebene Annahmen gestützt. So wird die zukünftige Kultur grundsätzlich als technische und mit
»knowledge of atomic physics«18 ausgestattet angenommen. Diese Bedingungen entsprechend zwar der »philosophy«19 der gesetzlichen Vorgaben des Nuclear Waste Policy Act, werden aber nicht genauer spezifiziert. Damit erleichtern sie die Arbeit zu Ungunsten der Aufgabe. Eine differenzierte Vorstellung
von zukünftigen Szenarien erscheint aber unabdingbar, wenn diese Offenheit
der Situation auf ein übersichtliches Maß geschrumpft werden soll. Entsprechend fordert die HITF in ihrem Fazit für Folgearbeiten eine Abkehr von vorgegebenen Bedingungen hin zur Entwicklung von Szenarien: »Although the
use of stochastic (probabilistic) techniques to evaluate system effectiveness
may entail a number of difficulties, such techniques would likely present a
more comprehensive and realistic analysis of system effectiveness than could
be obtained on a strictly deterministic basis. The use of fault and event trees
to describe the occurrence of human interference scenarios encountering a
highly redundant communication system would show the continued effectiveness of such a system even though some elements may fail.«20
Diese Anforderung soll das Futures Panel erfüllen. Anhand dieser Arbeiten lässt sich in einem Zug die Produktion von Wissen über die Zukunft erläutern und beleuchten, wie »das Unbekannte wahrscheinlicher gemacht werden könnte», um so «das Bekannte unwahrscheinlicher zu machen.«21 Dieses
Wissen wird generiert durch eine Verbindung von Wahrscheinlichkeitsrechnung und Operations Research, Imagination und Futurologie, Abduktion und
Kybernetik, Gedankenexperiment und Inspiration, Literatur und Wissenschaft.
Man operiert jedoch nicht mit einer phantasmatischen Vorwegnahme der
Ziele. Erst das Markers Panel soll auch praktisch etwas dafür unternehmen,
dass die entworfenen Zukünfte ex negativo eintreten – qua effektiver Warnungen, die ein Eindringen verhindern.
Es lassen sich zwei grundlegende Methoden herausarbeiten, die
durch die Arbeit der vier Teams verfolgbar sind: Zum einen entwirft eine ge(17) Während Deleuze das Mögliche als Abbild, als Ableitung vom Realen ansieht und das Virtuelle mit einem eigenen Status ausstattet, sollen Mögliches und Virtuelles hier zusammengedacht werden. Schließlich geht es darum, alle Möglichkeiten als virtuelle zu bedenken. Auch die
virtuellen Zukunftsentwürfe antizipieren das Reale, weil Zukunft per se mannigfaltig und damit
different ist, aber ähnlich gemacht werden soll. Es geht diesen Projekten also, abstrakt gefasst,
nicht zuletzt darum, Differenzen aufzulösen und zu vereinheitlichen, die vorausgesetzt werden
müssen und deswegen nie getilgt werden können. Vgl. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung. München 1997.
(18) Human Interference Tast Force, Reducing the Likelihood of Future Human Activities, wie
Anm. 7, S. 11.
(19) Ebenda, S. 9.
(20) Ebenda, S. 19.
(21) Claus Pias, Kalküle der Hoffnung, in: Macho und Wunschel, Science & Fiction, wie Anm. 15,
S. 83.
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nerische Herangehensweise anhand der vermuteten Möglichkeiten eines Eindringens in einem ›top-down-Verfahren‹ die Eigenschaften einer Kultur, die ein
solches Eindringen bedingen würden. Diese Methode resultiert in breitgefächerten Zukunftsszenarien. Die Forscher eröffnen einen Möglichkeitszusammenhang aus Technik, Bevölkerungswachstum, Ökonomie, Informationserhaltung und Regierung, indem sie Faktoren zu Welten zusammenknüpfen, und
das kann entweder zu panoramatischen Entwürfen führen, die mehrere Zukünfte zu einem Wissensobjekt verknüpfen. Daneben stehen andererseits spezifische Einzelszenarien, die »creation of inventive, highly-detailed pictures of
the future«22, aus denen dann mögliche Gefahren abgeleitet werden. Die Aufgabe der Experten bei der Erstellung der Szenarien liegt nicht nur darin, das
Problem zu strukturieren und ausgehend von festgelegten oder eigens entwickelten Bedingungen und Prämissen Wahrscheinlichkeiten zu entwickeln.
Da nicht auf Experimente zurückgegriffen werden kann, gilt es, andere Methoden heranzuziehen, um die Faktoren einzukreisen, die nicht vorhersagbar
sind: »The same problem occurs in many studies involving the assessment of
technological risks. When such inresolvable uncertainties do exist, the judgements of experts are often used to quantify the uncertainties and express both
what is known and what is not known.«23 Das bedeutet also, dass ein Gefüge
aus mathematischen, transzendentalen und politischen Aspekten zusammengebracht werden muss.
Die Nähe zu den Regierungspraktiken des Operations Research und
der Systemanalyse, die besonders in den Kriegssimulationen des Kalten Krieges angewandt wurden, ist unübersehbar. Diese Arten der Extraktion entscheidungsfähigen Wissens versetzen sich in das Gegenüber – in diesem Fall in
die Zukunft – und versuchen, dessen Rolle zu spielen. Das Futures Panel geht
allerdings von dort aus nicht den weiteren Schritt in Simulationen über, um folgende Handlungsschritte zu erörtern. Genausowenig soll ein Abbild der Zukunft erstellt werden. Weil die Zukunft selbst im Vergleich zum politischen
Gegner überkomplex ist, erscheinen die Berichte des Futures Panel im Vergleich zu sonstigen Operations Research-Arbeiten unterkomplex.24
Die HITF macht fünf Hauptgefahren eines unwissentlichen Eindringens aus: Ausgrabungen (architektonisch, geologisch oder archäologisch), Lagerungsaktivitäten, Tunnelbau, Bohrungen oder Oberflächenaktivitäten. Der
fachliche Hintergrund und die Erfahrung der Experten soll die Diskussion von
daraus folgenden Szenarien der Zukunft ermöglichen. Diese Szenarien werden
in Diskussionen entworfen und sind Beschreibungen von möglichen zukünftigen, in sich konsistenten und zusammenhängenden Ereignissen und Prozessen
sowie von deren Auswirkungen und Konsequenzen. »Expert Judgement can be
viewed as a representation, a snapshot, of the expert’s state of knowledge at
the time of response to the technical question.«25 Dies geschieht einerseits in
quantitativer Form durch Gewichtung und Schätzung der Wahrscheinlichkeiten der einflussreichen Faktoren. Andererseits kommen aber auch qualitative
Entwürfe ins Spiel, in denen über die quantitativen Elemente hinaus textuelle
Beschreibungen angestrebt sind, also unterschiedliche Textgattungen. Literarische Elemente treffen auf Statistiken, philosophische Erörterungen auf behördliche Verweise. Die Folgen von unwahrscheinlichen, aber möglichen Unoder Zwischenfällen werden durch diese intertextuellen Kopplungen deutlich,
(22) Hora, Guzowski und Trauth, Expert Judgment on Markers, wie Anm. 9, S. III–1.
(23) Hora, Winterfeldt und Trauth, Expert Judgement on Inadvertent Human Intrusion, wie Anm.
1, S. II–1.
(24) Vgl. etwa Pias, Claus: Synthetic History. In: Engell, Lorenz; Vogl, Joseph (2001): Mediale Historiographien. Weimar, Universitätsverlag Weimar. S. 171–184.
(25) Jane Booker und Mary Meyer, Elicitation and Analysis of Expert Judgement. Los Alamos/New Mexico. S. 1.
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auch wenn sie sich nie ereignen. Zwei Teams wählen von vornherein etablierte
Narrative für die Zukunft. Vom Southwest-Team wird sie anhand technologischer Fort- oder Rückschritte sowie Stillstand und einer Kombination von beidem erzählt. Für das Washington-A-Team nehmen Rohstoffe den Platz von
Technologien ein und sind die motivierende Variable in den gleichen Narrativen. All diese Regierungsverfahren denken ihren eigenen Untergang mit, indem sie annehmen, dass ein Fortbestehen der USA über 10.000 Jahre äußerst
unwahrscheinlich ist.
Bei beiden Verfahren wird die Zukunft – gleichsam als Bausatz – aus
verschiedenen Faktoren zusammengesetzt gedacht. Dazu gehören Technologieentwicklung ebenso wie kulturelle Kontinuität oder Diskontinuität, Ökonomie (vor allem der Wasserpreis), Verfügbarkeit von Ressourcen und Energiequellen, (Geo-)Politik und Klimawandel, globale Katastrophen, Veränderungen der Bevölkerungsdichte sowie der Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung und die Potenziale der Informationsweitergabe. Dabei helfen sollen Flussdiagramme und Entscheidungsbäume. Beispielsweise könnte die technologische Entwicklung dazu führen, dass Schäden durch Radioaktivität durch neue
medizinische Verfahren behandelbar werden, was die Gefährlichkeit eines Eindringens minimieren würde. All diese Möglichkeiten sollen einfließen. All diese Faktoren laufen im Ressourcenbedarf zusammen, der das allgemeine Hauptrisiko darstellt. So gelingt eine epistemische Verknüpfung von möglichen Zukünften und ihrer Wahrscheinlichkeit: »Each alternative future provides a picture of certain possible characteristics of society at various points in the future.«26 Die Schwierigkeit dieses Verfahrens liegt in der Rückkopplung der Veränderung eines Faktors nicht nur bezüglich des Gesamtergebnisses, sondern
auch hinsichtlich der anderen Faktoren, die wiederum auf den Ausgangsfaktor
wirken.
Abb. 2: Stephen C. Hora, Detlof von Winterfeldt und Kathleen M. Trauth, Expert Judgement on Inadvertent
Human Intrusion into the Waste Isolation Pilot Plant. Albuquerque/New Mexico 1991, S. IV–34
(26) Hora, Winterfeldt und Trauth, Expert Judgement on Inadvertent Human Intrusion, wie Anm.
1, S. II–1.
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So wird als mögliches Zukunftsszenario beispielsweise der ›Free
State of Chihuahua‹ beschrieben, der nach der Zersplitterung der USA und Mexikos in verschiedene Kleinstaaten die Hispanics im Süden der USA und Mexikos zu einem neuen Nationalstaat vereine. Um das Jahr 3000 kommt es aus
Rohstoffmangel zu einem wirtschaftlichen Zusammenbruch, der zu intensiven
geologischen Erkundungen führt. Dabei stoßen Geologen auf das Atommüllendlager und die Warnungen werden diskutiert: »There are two schools of
thought. One is that there must be danger or else an extensive marker system
would not have been erected. This school is overruled by one arguing that any
danger would certainly not endure for over five hundred years and, furthermore, the site was more likely a primitive religious shrine where artefacts were
deposited precisely for subsequent generations to find […].«27 Die Stollen werden in der Folge aufgebrochen und das Grundwasser radioaktiv vergiftet. Andere Szenarien beschreiben eine Welt nach einem Atomkrieg und damit verbundene Klimakatastrophen, eine Welt, deren technologischer Standard durch
den Verbrauch natürlicher Ressourcen auf Steinzeit-Niveau gesunken ist, oder
eine Welt, in der es durch Nanotechnologien möglich wird, mit atomaren
Werkzeugen nach unterirdischen Rohstoffen zu suchen. Imaginiert wird in
einem der detaillierten Entwürfe etwa eine Bergbau-Sonde, die sich autark
durch die Erde gräbt und nach Rohstoffen sucht: »[…] the mole will use its
seismological sensors to send messages – bursts of acoustic pulses of precise
design which will tell surface listeners what the mole has found.«28 Auch bessere Entsalzungstechniken für Wasser könnten zu einer Gefahr werden. All
diese Zukünfte erfordern je andere Warnungen, die vom Markers Panel umgesetzt werden sollen – etwa auch Warnungen bei einem unterirdischen, horizontalen Eindringen.
Abb. 3: Stephen C. Hora, Robert V. Guzowski und Kathleen M. Trauth, Expert Judgment on Markers to Deter
Inadvertent Human Intrusion into the Waste Isolation Pilot Plant. Albuquerque/New Mexico 1993, S. F–117,
Sind die möglichen Zukunftsszenarien aufgestellt, geben die einzelnen Teammitglieder ihre Schätzungen für die Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens an. Die
Komplexität, die aufgebaut wird, wird auf Wahrscheinlichkeit reduziert und
um alle für Regierungsbeamte offensichtlichen Sinnlosigkeiten (Alieninterventionen, unbekannte Technologien, Umweltkatastrophen) reduziert. Aus diesen
geschätzten Werten wird dann die Gesamtwahrscheinlichkeit für verschiedene
mögliche Zukünfte – von Kriegen bis zu Brunnenbohrungen pro Quadratkilometer und Jahrhundert – berechnet. Die Wahrscheinlichkeit solcher Bohrungen etwa berechnet sich, computergestützt und auf jeweils andere Zeiträume
extrapoliert29, nach der folgenden Formel: bhr*Dm(Ti, VMi)*md (KPk). Bhr
(borehole historic rate) ist die Anzahl der vergangenen Bohrungen, T (time) die
Zeit, VM (value of materials) der Rohstoffpreis, Dm(Ti, VMi) eine zufällige
Variable, die von T und VMi abhängt, KPk (knowledge present) repräsentiert
(27) Benford, Kirkwood, Ottway und Pasqualetti, Ten Thousand Years Of Solitude, wie Anm. 8,
S. 26f. Letztlich bezeichnet dieses Team die Gefahr eines ungewollten Eindringens auf 1–25%.
(Vgl. ebenda, S. 36.)
(28) Ebenda, S. 24.
(29) Computer werden nur zur Wahrscheinlichkeitsberechnung eingesetzt und haben keine epistemologische Funktion.
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Gefährdungen der Zukuft
das Wissen um die Lager und md(KPk) eine davon abhängige Variable. So
liegt, um ein einziges Beispiel anzuführen, für das Southwest-Team die Wahrscheinlichkeit eines Eindringens bei einer kontinuierlichen Regierungskontrolle
im Falle einer Gesellschaft mit einem geringeren technischen Standard als dem
Gegenwärtigen je nach Teammitglied bei 0.050, 0.100, 0.001 oder 0.300, im
Schnitt also bei 0.113.30 Diese Durchschnittsberechnung entzieht den Urteilen
zwar ihre Urteilskraft, ist aber für Politiker gedacht, die nicht den ganzen
Bericht lesen wollen. Die Möglichkeitsform des Szenarios findet somit in
mathematischen und statistischen Berechnungen ihren Ort und ihre Darstellungsform, weil diese den Umgang mit Variablen erlauben. Mit verschiedenen
Werten lassen sich verschiedene Welten erzeugen. Insgesamt liegt die Wahrscheinlichkeit für ein Eindringen ohne Warnungen im Falle des Washington-ATeams zwischen 1% und 25%.
Ein Gefahrensinn für das Mögliche, einen Möglichkeitssinn für die Gefahr
Zu schätzen, wie wahrscheinlich es ist, dass niemand in das Lager eindringt,
bedeutet zugleich, zu schätzen, wie wahrscheinlich es ist, dass jemand in das
Lager eindringt. Bei diesen Schätzungen wird nicht die Wahrscheinlichkeit der
Unversehrtheit der Lager kalkuliert, sondern ihre Gefährdung. Keinen Moment
lang wird darüber nachgedacht, was überhaupt bei einem Eindringen geschehen könnte. Ein ›fatal outcome‹ ist so gewiss wie ungenau, gerade deswegen
aber effektiv. Die Gefahr des Versagens ist virtuell immer gegeben, wenn vom
Gelingen gehandelt wird. Die Berechnung der Bedrohung aktualisiert eine
inhärente Paradoxie, die Peter van Wyck herausgehoben hat: »On one hand, it
is something that is in advance of the accident, something in advance of that
which befalls. But on the other, to be under threat is for something to already
have taken place. To be under the threat of nuclear contamination is for many
things to have already taken place.«31 Ohne die Gefahr wäre die Notwendigkeit
der Endlagerung nicht gegeben. Die Forscher beschäftigen sich mit einer
virtuellen Gefahr, die jetzt hier ist, die gegenwärtig ist. Deshalb beruhen alle
diese Untersuchungen auf einem Kategorienfehler: Durch die Praxis der kausalen wie narrativen Herleitung von Szenarien wird etwas Mögliches erzeugt,
und dadurch bekommt dieses Mögliche den Status eines virtuellen Ereignisses,
das immer schon in die Handlungen und Planungen mit einfließen muss. Ohne
die virtuell immer schon statthabende Katastrophe des Eindringens wäre die
Notwendigkeit von Warnungen nicht denkbar. Es werden zwar allgemeine
Wahrscheinlichkeiten berechnet, ob überhaupt ein Eindringen zu erwarten ist,
aber es wird nicht, zumindest nicht offen, nach den Konsequenzen dieser
Wahrscheinlichkeiten gefragt. Aufgabe des Markers Panels ist es schließlich, sie
auf Null zu reduzieren.
Letztlich führen die Überlegungen des Futures Panel zu fünf ›realistischen‹ Möglichkeiten eines gefährlichen Eindringens: durch Bergarbeiten
(archäologisch, auf der Suche nach Ressourcen), durch Bohrarbeiten auf der
Suche nach Wasser oder zu Forschungszwecken, durch die erneute Einlagerung von Stoffen, durch das unterirdische Graben von Tunneln oder durch Aktivitäten wie Explosionen und den Bau von Staudämmen.32 Dass diese trivial
erscheinenden Ergebnisse monatelange Arbeit erforderten, scheint der Uner(30) Hora, Guzowski und Trauth, Expert Judgment on Markers, wie Anm. 9, S. IV–31.
(31) Peter van Wyck, Signs of Danger. Waste, Trauma and Threat, Minneapolis 2004, S. XIX.
Hervorhebungen im Original.
(32) Hora, Guzowski und Trauth, Expert Judgment on Markers, wie Anm. 9, S. III–9.
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Florian Sprenger
füllbarkeit der Aufgabe geschuldet. Sie sind Symptom für den Umgang der
Gegenwart mit Komplexität, die sie nicht bewältigen kann.
Nach zahlreichen Entwicklungsschritten (die einzeln nachzuvollziehen hier den Platz sprengen würde), hat sich in den behördlichen Abschlussberichten über den Permanent Markers Implementation Plan33 eine Kombination von ›archetypischen Bildern‹, universellen Symbolen und Schrift herauskristallisiert. Die Entscheidung über die endgültige Gestaltung ist zwar noch
nicht gefallen, aber die zusammenfassenden Berichte nehmen Abstand von
den anspruchsvollen Entwürfen, etwa einem schwarzen Quadrat, das sich unerträglich aufheizen soll, klingenden Steinbögen oder riesigen Säulen. Statt der
komplexen, aufwendigen Bauwerke soll eine aus mehreren Monolithen bestehende Anlage von einem fast einen Kilometer langen Wall vor Verschüttungen
geschützt werden. Mehrere Informationszentren, unterirdische Archivräume,
Radarreflektoren, magnetische Materialien und tausende kleiner Informationsplaketten sollen für die Kommunikation sorgen. Die Komplexität der Vorschläge, mit der der Komplexität der Zukunft begegnet werden sollte, wird reduziert. Eben weil die Aufgabe unmöglich zu bewältigen ist, zieht man sich auf
kleinste gemeinsame Nenner zurück. Die gegenseitige Potenzierung beider
Komplexitäten, die in den Berichten des Futures Panel immer wieder aufschien, gerät in Vergessenheit.
Ähnliches gilt für die Zusammenfassung über das Design der Marker. Hier treffen sich behördliche Phantasielosigkeit mit thematischer Überforderung. Die trotz aller Kritik gelegentlich durchaus problembewusste Herangehensweise der Arbeitsgruppen fließt in keiner Weise in die Endberichte ein.
Dies mag man bedauern, man hätte es aber auch vorhersehen können. So werden all die offenen Fragen schlicht beantwortet (wenn auch als ›assumptions‹
tituliert): »English will continue to be read by the natural-resource exploration
and exploitation industries. […] Communicating with future societies using
words, pictographs, symbols, and diagrams through a variety of media is possible.«34
In letzter Instanz hat man es also mit einem transzendentalen Projekt zu tun, weil es Generationen und Zeiträume übergreift und dabei nicht nur
die Gegenwart auf die Zukunft bezieht, sondern die Zukunft auf die Gegenwart. Es sollen die Welten beschrieben werden, die von den möglichen Entscheidungen abhängig sind. Was in Zukunft geschieht, wäre dann im Ideal-,
das heißt im Gelingens- und Überlebensfall, nur noch die Wiederholung des
bereits Eingeplanten. Das wird sie aber nie sein. Die Zukunft frisst die Gegenwart, obwohl sich die Gegenwart von der Zukunft ernährt.
Florian Sprenger forscht an der Universität Wien.
(33) Vgl. John Hart, Permanent Markers Implementation Plan. Carlsbad/New Mexico 2004.
(34) Stephen C. Hora, Robert V. Guzowski, Chris Pflum, Ronald Rodriguez und Kathleen M.
Trauth, Effectiveness of Passive Institutional Controls in Reducing Inadvertent Human Intrusion
into the Waste Isolation Pilot Plant in Use for Performance Assessments. Carlsbad/New Mexico
1996, S. 3ff.
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Gefährdungen der Zukuft