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Bild - Raum - Handlung

2012

Von der ›Macht‹, die Bildwerke innehaben, ist in der Archäologie und der Kunstgeschichte seit langem die Rede 1. Die modernen Medien haben seit der 2. Hälfte des 20. Jhs. die Grundlage für eine Renaissance des Bild-Begriffes gelegt, wobei vor allem der Einsatz von Bildern durch oder für die Politik den kritischen Blick der Forschung schärfte 2. Auch die Politik selbst ist sich der Wirkung, die Bilder ausüben können, zunehmend bewusst. So wurde das Bild des im April 2011 getöteten Terroristen Bin Laden durch die US-Regierung gezielt zurückgehalten, was ex negativo die diesem Bild zugemessene Macht belegte. Am vorläufigen Ende des »Weltkriegs der Bilder«, den die Ereignisse des 11. September 2001 ausgelöst hatten, stand damit zugleich ein zwar besonnener Akt, in dem sich letzten Endes aber doch der Anspruch der überlegenen Supermacht inszenierte 3. Denn die Medien erhielten einen höchst bezeichnenden Ersatz für das Bild des Toten: eine sofort weithin verbreitete Photographie, die den amerikanischen Präsidenten und seine engsten Berater ihrerseits als Zuschauer der aus der Ferne übertragenen Live-Bilder der Tötung zeigten-ein Bild also, in dem sich das eigentliche, zurückgehaltene Bild und die mit ihm verbundene Beweiskraft spiegelten, ohne dessen vermeintlich negative Wirkmächtigkeit freizusetzen (Abb. 1). Die Diskussion über solche gegenwärtigen Bilder prägt zunehmend auch die historischen Bildwissenschaften, als die sich die Archäologie und die Kunstwissenschaft inzwischen verstehen. Sie suchen nach Möglichkeiten der kulturgeschichtlichen Einordnung: Wie charakterisiert sich und in welcher Weise entstand die Wirkungsmacht vergangener Bilder? Die Kluft zu den Erkenntnismöglichkeiten bei der Erforschung zeitgenössischer Bilder mit ihrer Suggestionskraft, aber auch ihrer Verbreitung im Internet und Fernsehen in Sekundenbruchteilen um die ganze Welt ist dabei für Studien zu antiken oder gar prähistorischen Bildwerken gewaltig. Dennoch ist es notwendig, die genannten Fragen auch für vergangene Kontexte systematisch anzugehen, da auch sie erhebliches Potential für eine bildwissenschaftliche Analyse bieten. Der vorliegende Band wagt eine solche Annäherung. Die hier vereinten Beiträge zu Bild, Raum und Handlung gehen auf die gleichnamige Tagung des Exzellenzclusters Topoi im Oktober 2009 zurück. Die Kooperation zwischen den zwei Cluster-Forschergruppen »Images« (C-II) und »Acts« (C-III) ermöglichte die Einladung von Forscherinnen und Forschern verschiedener archäologischer 1 Vgl. den Titel von Freedbergs Studie »The

Bild – Raum – Handlung Topoi Berlin Studies of the Ancient World Edited by Excellence Cluster Topoi Volume 11 De Gruyter Bild – Raum – Handlung Perspektiven der Archäologie Herausgegeben von Ortwin Dally Susanne Moraw Hauke Ziemssen De Gruyter ISBN 978-3-11-026633-7 e-ISBN 978-3-11-026634-4 ISSN 2191-5806 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandbild: Tagungsmotiv © Birgit Nennstiel Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen o Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com IV Inhaltsverzeichnis ORTWIN DALLY, SUSANNE MORAW, HAUKE ZIEMSSEN Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 TONIO HÖLSCHER Bilderwelt, Lebensordnung und die Rolle des Betrachters im antiken Griechenland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Bild und Naturraum K ARSTEN L AMBERS Von Bildern zu Bühnen: Die Geoglyphen von Palpa und Nasca (Süd-Peru) in ihrem räumlichen und sozialen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 THIERRY AUBRY, LUÍS LUÍS Umwelt und sozialer Kontext der paläolithischen Freilandkunst im Côa-Tal (Portugal) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Bilder im städtischen Raum ALESSANDRA GILIBERT Archäologie der Menschenmenge. Platzanlagen, Bildwerke und Fest im syro-hethitischen Stadtgefüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 HAUKE ZIEMSSEN Der Herrscher im Tempel. Bild und Inszenierung im kaiserzeitlichen Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Bilder als Elemente von Innenräumen UTE GÜNKEL-MASCHEK In die Augen, in den Sinn. Wandbilder als konstitutive Elemente von (Handlungs-)Räumen in der minoischen ›Neupalastzeit‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 INHALTS VER ZEICHNIS V ULRICH THALER Going Round in Circles. Anmerkungen zur Bewegungsrichtung in mykenischen Palastmegara . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 ORTWIN DALLY Bild – Raum – Handlung. Die Faustinathermen in Milet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Bilder als Elemente ritueller Handlungen KLAUS SCHMIDT Die megalithischen Kreisanlagen des steinzeitlichen Göbekli Tepe . . . . . . . . . . . . . 243 VI INHALTS VER ZEICHNIS Ortwin Dally, Susanne Moraw, Hauke Ziemssen Einleitung Von der ›Macht‹, die Bildwerke innehaben, ist in der Archäologie und der Kunstgeschichte seit langem die Rede1. Die modernen Medien haben seit der 2. Hälfte des 20. Jhs. die Grundlage für eine Renaissance des Bild-Begriffes gelegt, wobei vor allem der Einsatz von Bildern durch oder für die Politik den kritischen Blick der Forschung schärfte2 . Auch die Politik selbst ist sich der Wirkung, die Bilder ausüben können, zunehmend bewusst. So wurde das Bild des im April 2011 getöteten Terroristen Bin Laden durch die US-Regierung gezielt zurückgehalten, was ex negativo die diesem Bild zugemessene Macht belegte. Am vorläufigen Ende des »Weltkriegs der Bilder«, den die Ereignisse des 11. September 2001 ausgelöst hatten, stand damit zugleich ein zwar besonnener Akt, in dem sich letzten Endes aber doch der Anspruch der überlegenen Supermacht inszenierte3. Denn die Medien erhielten einen höchst bezeichnenden Ersatz für das Bild des Toten: eine sofort weithin verbreitete Photographie, die den amerikanischen Präsidenten und seine engsten Berater ihrerseits als Zuschauer der aus der Ferne übertragenen Live-Bilder der Tötung zeigten – ein Bild also, in dem sich das eigentliche, zurückgehaltene Bild und die mit ihm verbundene Beweiskraft spiegelten, ohne dessen vermeintlich negative Wirkmächtigkeit freizusetzen (Abb. 1). Die Diskussion über solche gegenwärtigen Bilder prägt zunehmend auch die historischen Bildwissenschaften, als die sich die Archäologie und die Kunstwissenschaft inzwischen verstehen. Sie suchen nach Möglichkeiten der kulturgeschichtlichen Einordnung: Wie charakterisiert sich und in welcher Weise entstand die Wirkungsmacht vergangener Bilder? Die Kluft zu den Erkenntnismöglichkeiten bei der Erforschung zeitgenössischer Bilder mit ihrer Suggestionskraft, aber auch ihrer Verbreitung im Internet und Fernsehen in Sekundenbruchteilen um die ganze Welt ist dabei für Studien zu antiken oder gar prähistorischen Bildwerken gewaltig. Dennoch ist es notwendig, die genannten Fragen auch für vergangene Kontexte systematisch anzugehen, da auch sie erhebliches Potential für eine bildwissenschaftliche Analyse bieten. Der vorliegende Band wagt eine solche Annäherung. Die hier vereinten Beiträge zu Bild, Raum und Handlung gehen auf die gleichnamige Tagung des Exzellenzclusters Topoi im Oktober 2009 zurück. Die Kooperation zwischen den zwei Cluster-Forschergruppen »Images« (C-II) und »Acts« (C-III) ermöglichte die Einladung von Forscherinnen und Forschern verschiedener archäologischer 1 Vgl. den Titel von Freedbergs Studie »The Power of Images« (Freedberg 1989). In der Klassischen Archäologie ist die »Macht der Bilder« spätestens mit Paul Zankers Buch »Augustus und die Macht der Bilder« (Zanker 1987) zum Schlagwort geworden; vgl. auch Giuliani 2003, 13, mit leichter Kritik an diesem Ausdruck. 2 Vgl. Sauerländer 2004. 3 Vgl. zum »Bilderkrieg« nach ›9/11‹ Bredekamp 2010, 224–230. EINLEITUNG 1 Abb. 1 | US-Präsident Barack Obama und Vizepräsident Joe Biden beobachten gemeinsam mit weiteren Mitgliedern aus Militär und Regierung die Aktion gegen Osama bin Laden am 1. Mai 2011. Disziplinen und eine übergreifende Diskussion, bei der die drei Schlagworte des Titels als heuristische Schlüsselbegriffe dienten. Mit ihnen werden Statuen, Wandmalereien, Münzbilder, Felsreliefs und Geoglyphen als Bestandteile ihres architektonischen oder naturräumlichen Kontextes erschlossen. Prähistorische, Vorderasiatische und Klassische Archäologie und ebenso die Geoarchäologie bemühen sich darum, Bilder in einen Bezug zu Handlungsformen der jeweiligen Gesellschaften zu setzen und damit zugleich ihre kulturspezifischen Eigenheiten zumindest ansatzweise zu beleuchten. Vom Neolithikum über die minoisch-mykenische Epoche bis in die römische Kaiserzeit und von Südamerika bis nach Syrien und in die Südosttürkei reichen die Beispiele. 1 Bild und Handlung Bilder sind Bestandteile von Handlungszusammenhängen. Erst unter dem Blickwinkel der Einbindung in Handlungskontexte lässt sich die Wirksamkeit eines Bildes definieren. Damit nähert man sich auch einer Analyse jener Faktoren, die ein Bild überhaupt von einer textlich oder mündlich übergebenen Mitteilung unterscheiden. Dieser Ansatz erweitert die Prämissen der Ikonologie, wie sie maßgeblich von Erwin Panofsky formuliert wurden. Als zentrale Methode der Kunstgeschichte zielt die Ikonologie auf die Erforschung der symbolischen Bedeutungen und des einstigen Sinnes von Bildern und fügt die formal-stilistische Analyse damit in das ikonographische und zugleich das weitere geistige Umfeld ihrer Zeit ein 4 . Panofsky beschränkte seine Ikonologie jedoch historisch und gattungsmäßig weitgehend auf die Behandlung der Allegorien der Renaissance, die sich in Rückbezug 4 Panofsky 1939, 3–32. Übergreifend zur »ikonographisch-ikonologischen Methode«: Eberlein 2003; Bachmann-Medick 2007, 337. 2 ORT WIN DALLY, SUSANNE MOR AW, HAUKE ZIEMSSEN auf Texte deuten ließen5 . Entsprechend gliederte der sog. linguistic turn der 60er und 70er Jahre Bilder in ein sprachlich geordnetes und wiedergegebenes Bezugssystem ein; auch in der Klassischen Archäologie werden diese seitdem allgemein als Träger von Wertvorstellungen oder unmittelbar von politischen Aussagen interpretiert6. Doch Bilder sind nicht nur Zeichenträger mit verschlüsselten Inhalten, die der Forscher lesbar zu machen hat. Vor allem in jüngeren kunstgeschichtlichen Arbeiten wird darauf hingewiesen, dass die Wirkungsweise von Bildern noch mit einem anderen Instrumentarium als demjenigen einer auf intellektuelle, sprachlich gefasste Zusammenhänge gerichteten Wissenschaft erfasst werden müsse7. So entwarf Hans Belting eine »Bild-Anthropologie«, die den Verbindungen zwischen dem »Bild im Kopf und dem Bild an der Wand« nachgeht 8. Mit Belting lässt sich formulieren, dass es bei Bildern nicht vorrangig um das »›Was‹ im Sinne von Inhalt oder Thema« geht, sondern vielmehr das »›Wie‹ […] die genuine Mitteilung, […] die echte Sprachform des Bildes« ist9. Der neben Belting von weiteren amerikanischen und deutschen Kunsthistorikern seit den frühen 90er Jahren formulierte iconic turn bezieht neben jenen Disziplinen, die sich selbst als Bildwissenschaften verstehen, wie der Kunstgeschichte oder der Archäologie, auch andere Wissenschaften ein: die Wahrnehmungsphysiologie, die Naturwissenschaften mit ihren bildgebenden Verfahren oder die Philosophie10. Von ethnologischer Seite hat Alfred Gell in seinem posthum 1998 erschienenen Werk »Art and Agency. An Anthropological Theory« einen umfassenden theoretischen Entwurf zum Verständnis von Kunst geliefert, die er als »a system of action« ansieht, »intended to change the world rather than encode symbolic propositions about it«11 . Dieser Gegenentwurf zu einem Verständnis von Kunst als »Sprache«, ausgestattet mit »symbolischer Bedeutung«, hat auch Widerhall in kunstgeschichtlichen und archäologischen Disziplinen gefunden 12 . Ziel der heute in zahlreichen Kongressen, Forschungsprogrammen 5 Belting 2001, 15. 6 Hölscher 1995, bes. 14. 38–39; Hölscher 2000, 147–148. 151–153. 7 Vgl. Boehm 1994, wo er unter der Überschrift »Die Wiederkehr der Bilder« den »iconic turn« einleitete und zugleich (ebd. 29–36) die spezifische Qualität von Bildern mit dem Begriff der »ikonischen Differenz« bezeichnet. Zur Debatte der letzten Jahre vgl. zusammenfassend Bredekamp 2004, 15–17 und Boehm 2004, 35: »Wer den Text hinter dem Bild aber allzu stark betont, landet unweigerlich bei einer Dominanz der Sprache, die das Bild – im wörtlichen Sinne – in seinen Möglichkeiten »übersieht«. Für die Klassische Archäologie: Hölscher 2000, 151. Wiesing 1998, 101 hebt hervor, dass die »Unersetzbarkeit des Bildes […] weniger semiotischer, als vielmehr phänomenologischer Natur [ist]. Man muß sich vor Augen halten: Wenn der Mensch keine Bilder hätte, würde er zweifelsohne weniger wissen und würde einen großen Verlust an Informationen erleiden. Doch prinzipiell stünden ihm noch andere Zeichensysteme zur Mitteilung und Auf bewahrung von Informationen zur Verfügung; in semiotischer Hinsicht ist das Bild kein unersetzbares Phänomen. Was allerdings für immer verloren wäre, wenn der Mensch keine Bilder mehr hätte, das wäre die Sichtbarkeit des Abwesenden.« 8 Belting 2001, bes. 11–55 (Zitat: 54). 57–86. 9 Belting 2001, 12. 10 Kunstgeschichte: Mitchell 1994 (mit dem Begriff des »pictorial turn«: ebd. 11–34) und Boehm 1994; Wahrnehmungsphysiologie: Singer 2004; Naturwissenschaften: Heckl 2004. Vgl. Bachmann-Medick 2007, 329–380. 11 Gell 1998, 6. 12 Vgl. insbesondere die Beiträge in Osborne – Tanner 2007. EINLEITUNG 3 und Internetforen diskutierten bildwissenschaftlichen Ansätze ist die Untersuchung von Macht und Möglichkeiten, die Bildern gerade im Unterschied zu sprachlichen Ausdrucksformen zukommen13 . Im Exzellenzcluster Topoi nähern sich die beiden Forschergruppen zu »Bildern« und zu »Handlungen« diesen Fragen aus unterschiedlichen Perspektiven. Ausgangspunkt der Forschergruppe »Bilder«/»Images« ist die Frage, wie (rituelle) Räume in den Kulturen des Vorderen Orients, Griechenlands und Roms zwei- und dreidimensional dargestellt werden konnten. Die Forschergruppe »Handlungen«/»Acts« wiederum stellt die Untersuchung von Sakrallandschaften in das Zentrum ihrer Forschungen. Dabei geht es um die Rekonstruktion komplexer Handlungsräume in der Archäologie und Ethnologie und um die Handlungen und Bewegungen der Protagonisten des Ritualgeschehens in solchen Räumen. Auch hier spielen Bilder eine besondere Rolle: Die Gegenwart von Bildern beeinflusste rituelle Räume sowohl in ihrer konnotativen Wahrnehmung als auch in ihrer praktischen Nutzung; sie ist zugleich aber auch selbst Ergebnis kollektiver Entscheidungen und fixiert allgemein anerkannte Sichtweisen auf Bilder in Form räumlicher Anordnungen 14 . Mit diesen Ansätzen rückt der Handlungszusammenhang von Bildwerken, der ihre Wirkungsformen und ihre Wirkungskraft bestimmt, in den Mittelpunkt der Forschung. Unterstützt wird diese Annäherung durch die gegenwärtig allgemeine Aufmerksamkeit der Kulturwissenschaften für performative Aspekte 15, die schon seit längerem in der ethnologischen Forschung vorbereitet worden ist 16. 13 Von den unzähligen Publikationen der letzten Jahre seien hier nur einige erwähnt: Boehm 1994; SachsHombach – Rehkämper 1998; Burda – Maar 2004. Von Bedeutung sind u.a. der Schweizer NFS Bildkritik (www.eikones.ch) oder die interdisziplinäre Arbeitsgruppe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften »Die Welt als Bild« (http://www.bbaw.de/bbaw/Forschung/Forschungsprojekte/Weltbilder/de/). 14 Vgl. zu den Forschungen dieser beiden Gruppen des Exzellenzclusters Topoi die Beiträge in der elektronischen Zeitschrift eTopoi: Bonatz – Fabricius 2011 und Dally et al. 2011. 15 »Während sich die Textkategorie eher auf die Sedimentation von Bedeutungen richtet, geht es hier um die Frage, durch welche Handlungsvollzüge (kulturelle) Bedeutungen erzeugt werden.« (Bachmann-Medick 2007, 110). Zur Definition des Performanz-Begriffes und zu seiner Verwendung in der gegenwärtigen Forschungsdiskussion vgl. Martschukat – Patzold 2003; Bachmann-Medick 2007, 104–143. Zur Kunstgeschichte: vgl. u. a. die Auseinandersetzung mit der Architektur der Kathedrale von St. Denis in Beiträgen der Kongresse von Rom (»Kunst und Liturgie im Mittelalter«, 1997: Speer 1999) und Lausanne-Fribourg (»Art, Céremonial et Liturgie au Moyen Age«, 2000: Jacobsen 2002). »[…] Fragen der liturgischen Einrichtung von Kirchen und deren Wandel im Laufe der Jahrhunderte haben in der kunsthistorischen Forschung bisher erst wenig Beachtung gefunden. Im Gegenteil, der Blick auf den Raum und die ›reine‹ Architektur als ästhetisches Erlebnis war der kunsthistorischen Forschung zweckdienlich. […] Die ›lichte Weite‹ des Raumes und die ›luftige Höhe‹, die man hier vorfand, wurden zu Determinanten unserer üblichen Vorstellung von gotischer Architektur, welche das tatsächliche einstige Geschehen innerhalb dieses Raumes, seine Einrichtung und deren Gliederung weitgehend unbeachtet ließ.« (Jacobsen 2002, 191–192). Altertumswissenschaften: vgl. u. a. Wallace-Hadrill 1988 zu den Bezügen zwischen der architektonischen Gliederung römischer Häuser und ihrer gesellschaftlichen Nutzung: »Connections need to be made between the archaeological and literary evidence […] at the more difficult level of exposing the rhythms of social life that underlie and are implicit in the physical remains.« (48); außerdem Muth 1998, 49–50; Muth 1999, bes. 199–209. Zum performativen Aspekt von Herrschaft im augusteischen Rom: Sumi 2005. 16 Für Turner 1986 ist Pilgern ein performativer Prozess, der durch Bewegungen im Raum, rituelle Handlungen, visuelle und auditive Eindrücke sowie sinnliche Wahrnehmungen bestimmt ist.– Vgl. zur Archäologie: Juwig et al. 2006. 4 ORT WIN DALLY, SUSANNE MOR AW, HAUKE ZIEMSSEN Für die Bildwissenschaften hat Horst Bredekamp vor kurzem eine methodisch umfassende »Theorie des Bildakts« vorgelegt. Analog zur »Sprechakttheorie« analysiert er, »welche Kraft das Bild dazu befähigt, bei Betrachtung oder Berührung aus der Latenz in die Außenwirkung des Fühlens, Denkens und Handelns zu springen«17. Als fruchtbar erweist sich in Hinblick auf den vorliegenden Band insbesondere seine Kategorie des »schematischen Bildakts«18. Bredekamp fasst unter dieser Kategorie die verlebendigten Bilder zusammen, insbesondere die tableaux vivants und ihre Vorläufer seit dem Mittelalter sowie die Automaten – »Bilder, die darin musterhafte Wirkungen erzielen, daß sie auf unmittelbare Weise lebendig werden oder Lebendigkeit simulieren«19. Diese allzu enge Definition soll hier auf jene Darstellungen von Handlungsabläufen erweitert werden, die sich realen Handlungen bildhaft unmittelbar anschließen und die Distanz zwischen Bild und Realität somit bewusst minimieren. Die Statuenikonographie in einzelnen Ambienten kaiserzeitlicher Thermen scheint neben ideellen Mustern auch Handlungsvorgaben für die Benutzer der jeweiligen Räume übermittelt zu haben (vgl. den Beitrag von Dally). Stärker noch zeigt sich die schematische Inszenierung in Bildern zeremonieller Akte, wie sie in den vorderasiatischen, den minoischen und mykenischen und auch den griechischrömischen Kulturen immer wieder auftreten. In unterschiedlicher Brechung stehen sie in einem formal-ikonographischen Bezug zu realen Handlungsformen. Dies können vor allem die Beiträge von Gilibert, Günkel-Maschek, Hölscher, Thaler und Ziemssen aufzeigen, die sich mit Darstellungen zeremoniellen Inhalts an solchen Orten beschäftigen, an denen selbst Zeremonien abgehalten wurden. Die Realität von religiösen Umzügen oder von Akten der Herrscherehrung, ihrerseits hochgradig inszeniert, fand in den Bildern eine dauerhafte Form. Die symbolische Dimension solcher Darstellungen soll dabei nicht ignoriert und das Bild einer Zeremonie nicht als deren photographische Wiedergabe missverstanden werden20. Doch unabhängig von diesen notwendigen Differenzierungen auf der ikonographischen Ebene wurde die Wahrnehmung solcher ›Handlungsbilder‹ wesentlich in jenen Momenten aktiviert, wenn die ihnen zugrundeliegenden realen Handlungen tatsächlich in unmittelbarer Nähe stattfanden. Eine über solche Wiedergaben sogar noch hinausgehende Eingliederung des Bildwerks in den zeremoniellen Ablauf – im Sinne ›steinerner Teilnehmer‹ – könnte der Befund am Göbekli Tepe suggerieren (Beitrag von Schmidt). Vollends als eine Form des tableau vivant stellt sich schließlich die Rekonstruktion von Zeremonien in minoischen und mykenischen Palästen dar, in denen der Herrscher zum lebenden Teil einer Bildkomposition geworden zu sein scheint (Beiträge von Günkel-Maschek und Thaler)21 . Die Untersuchung derartiger Wechselwirkungen 17 Bredekamp 2010, 52. 18 Bredekamp 2010, 103–169. 19 Bredekamp 2010, 104. 20 Vgl. Hölscher 1980 zur symbolischen Bedeutung der »realistischen« Darstellungen römischer Kunst. 21 Diese »Überlagerung von Bild- und Betrachterraum« beschreibt auch Bredekamp im Zusammenhang der tableaux vivants (Bredekamp 2010, 119). EINLEITUNG 5 erfordert in jedem Fall detaillierte Beobachtungen zur Ausgestaltung von Räumen, Bildern und Übergängen zwischen Räumen insbesondere dann, wenn kaum oder keine Schriftquellen vorliegen22 . 2 Bild und Raum Die Bedeutung von Bildern gerade als Elementen von Zeremonien und damit von ortsübergreifenden Handlungen verdeutlicht, dass die Verwendung des Handlungsbegriffs in der Archäologie auch eine Reflexion des archäologischen Raumbegriffes umfassen muss. Prozessionen schaffen zusammengehörige, wenn auch zeitlich flüchtige Zeremonialräume, die weit über die architektonischen Grenzen von Plätzen und einzelnen Straßenzügen hinausgreifen können und die durch die formalen Charakteristika von Bildwerken und ihrer Präsentation wesentlich beeinflusst werden23 . Solche »Zeremonialräume« sind dabei jedoch nur der eklatante Beleg für die Notwendigkeit eines relationalen Verständnisses von Raum. Der ›Raum‹ von Bildwerken lässt sich nicht auf die Vorstellung eines ›Behälterraums‹ beschränken, der die Bilder selbst und die mit ihnen verbundenen Handlungen passiv aufnimmt 24 . Bilder sind gerade durch ihre räumliche Präsenz grundsätzlich von der zeitlich-narrativ sich entfaltenden Sprache unterschieden25 . Als anthropologisch relevante Einheiten (Belting) wandeln sie ihre Bedeutung und Funktion je nach ihrem Bezug zu den Menschen, die sie erblicken26. Die von einer Statue, einem Wandbild oder einer Felszeichnung beeinflussten Handlungen sind insofern stets über räumliche Relationen 22 Thaler 2010. 23 Dabei können Bildnisse auch selbst mobiler Bestandteil von Festzügen sein und so in ihrer Bewegung einen Zeremonialraum schaffen. Historisch gut dokumentierte Beispiele dafür bieten etwa die Umzüge von Götterbildern in ägyptischen Kultfesten (Assmann 1991), die im römischen Triumphzug transportierten Ereignisbilder oder die mittelalterliche August-Prozession in Rom mit dem Christusbild nach Santa Maria Maggiore (Belting 1990, 348–368). 24 Der neu entstandene Forschungszweig der »Raumsoziologie« bietet zahlreiche Ansätze dafür, materielle Eigenschaften von Räumen in ihren Verf lechtungen mit gesellschaftlichen Strukturen zu begreifen. Zum Perspektivwechsel der Forschung (»spatial turn«) vgl. Bachmann-Medick 2007, 284–328. Grundlegend sind die Arbeiten von Pierre Bourdieu und (für die deutsche Soziologie) Martina Löw. Vgl. u. a. Bourdieu 1991, 26 zu den Strukturgleichheiten zwischen »sozialem Raum« und »physischem Raum«; der soziale Raum weise »die Tendenz auf, sich mehr oder weniger strikt im physischen Raum in Form einer bestimmten distributionellen Anordnung von Akteuren und Eigenschaften niederzuschlagen«. Löw 2001, bes. 158–172 verzichtet vollständig auf die Vorstellung eines »physischen Raums«; Raum sei nicht absolut, sondern relational zu verstehen und konstituiere sich erst durch die gegenseitigen Bezüge von örtlich bestimmbaren Objekten und Personen. Löw interpretiert Räume sowohl in ihrer Dimension als »Ordnung« für Handeln und damit als Wiedergabe gesellschaftlicher Strukturen als auch, im selben Moment, im Sinne einer An-Ordnung, die durch Handeln erst entsteht. – Vgl. auch Jöchner 2008. 25 Belting 2001, 25–26; Hölscher 2000, 148. 26 Belting 2001, 57–65 behandelt diese anthropologische Abhängigkeit unter der Überschrift »Der Ort der Bilder«. 6 ORT WIN DALLY, SUSANNE MOR AW, HAUKE ZIEMSSEN Abb. 2 | Die Statue des ehemaligen Bundeskanzlers Willy Brandt im Berliner WillyBrandt-Haus, geschaffen durch den Bildhauer Rainer Fetting. zu begreifen, die zwischen Bildwerk und Menschen vermitteln27. Diesem relationalen Ansatz steht ein in vielen archäologischen Studien bis heute vorherrschendes absolutes Raumverständnis gegenüber, das räumliche Angaben nur im Sinne eines architektonisch bestimmten, zumeist städtischen oder häuslichen Ortes (Straße, Platz, Zimmer) in die Bildanalyse einbezieht. Zwar sind auch auf dieser Basis aussagekräftige Ergebnisse möglich, indem etwa für römische Bildwerke die Scheidung zwischen der öffentlichen Statuenehrung einerseits und derjenigen im privaten Landhaus andererseits mit den ideellen Aktionsbereichen des negotium und otium verknüpft werden kann28. Dennoch stehen diese Ansätze in der Gefahr, das Bildwerk aus seiner konkreten Wechselwirkung mit dem materiellen und sozialen Umfeld zu isolieren. Bei den zeitgenössischen elektronischen Bildern wird diese Problematik unmittelbar ersichtlich, wenn man ihre weltweite Verbreitung in Rechnung stellt, die sich mit einem absoluten Raumbegriff nicht mehr erfassen lässt und metaphorische Konstruktionen wie den cyberspace erfordert 29. Doch auch für scheinbar statische Bildwerke gilt, dass ihr Raum sich nicht als passives Raumgehäuse verstehen lässt. Ein Beispiel der Gegenwart kann dies verdeutlichen. In der nach dem ehemaligen Bundeskanzler Willy Brandt benannten Parteizentrale der SPD in der Berliner Wilhelmstraße steht eine Statue Brandts, die der Künstler Rainer Fetting entworfen hat (Abb. 2). Die Figur ist das bekannteste Objekt in diesem Bauwerk, oftmals photographiert, 27 Paul Zanker hat dies bündig auf den Begriff des »Bild-Raums« gebracht (Zanker 2000, 206). 28 Zanker 2000, 207–214. Die Scheidung zwischen privat und öffentlich, otium und negotium, muss dabei allerdings ihrerseits stets f lexibel gehandhabt werden und neben den Unterschieden zum modernen Verständnis der Begriffe auch f ließende räumliche Übergänge in Rechnung stellen, wie sie etwa Wallace-Hadrill für die römische domus herausgearbeitet hat (Wallace-Hadrill 1988; vgl. auch Zanker 2000, 207). 29 Belting 2001, 61–65. EINLEITUNG 7 Zielpunkt von Besuchergruppen und Gegenstand kunstgeschichtlicher Aufsätze. In einer Publikation wird die Figur als ein Kunstwerk vorgestellt, das den Charakter des Politikers nach außen trage und in dem »jeder Betrachter andere Wesenszüge Willy Brandts entdecken« könne30. Doch gerade dieser gewissermaßen statische, bildimmanente Aspekt wird vom Fernseh- und Zeitungspublikum wohl kaum wahrgenommen. In bewegten und stillen Bildern wurde die Statue vielmehr zum Protagonisten und Kommentator politischer Aktion: so etwa nach der Niederlage der SPD am Wahlabend des 27. September 2009 als mahnender Alter im Hintergrund, der über die Katastrophe seiner Nachfahren wacht (Abb. 3)31 . Die Inszenierungen dienen stets der Legitimation durch einen verehrten Übervater; ähnlich verbindet sich Angela Merkel des Öfteren mit Konrad Adenauer. Das Bild selbst bindet politische Absichten und gesellschaftliche Vorstellungen, Werte und Haltungsideale. All diese Bildinhalte werden aber erst aktiviert durch die Einbeziehung der Statue auf der Medienbühne. Die Gestik des Politikerbildes scheint die Gestik der Nachfahren bereits vorwegzunehmen; die Pressekonferenz selbst definiert gemeinsam mit der Statue einen Raum politischer Kommunikation. Bleibender Beleg für diese Verknüpfung sind die Scheinwerfer, die das Bildwerk auch ohne Menschenmenge zum sichtbaren Zentrum eines – von Zeit zu Zeit aktivierten – Aktionsraums machen. Und erst die medial vermittelte Handlung macht auch jene formalen Aspekte verständlich, die man mit den traditionellen Fragestellungen der Kunstgeschichte analysieren würde: die Aufstellung der Statue im Fluchtpunkt des Foyers und ihre Wiedergabe in rednerischer Aktion. Die Gegenwart von Bildern verändert Räume somit in ihrer konnotativen Wahrnehmung und genauso in ihrer praktischen Nutzung, wirkt also auf gesellschaftliches Handeln ein. Zugleich ist die Art und Weise der Positionierung eines Bildwerkes auch Ergebnis kollektiver Entscheidungen und fixiert allgemein anerkannte Sichtweisen in Form räumlicher Bezüge. Indem Bilder etwas darstellen, das sie selbst nicht sind, erheben sie in heutigen wie in vergangenen Kulturen stellvertretenden Anspruch und erzeugen eine Spannung zwischen dem Abbild und der umgebenden Realität32 . In Räumen wird diese Spannung aktualisiert und einer Analyse zugänglich, die auch die Handlungsweisen einer Gesellschaft im Umgang mit Bildern erfasst. Wie die Statue Willy Brandts lassen sich auch andere Bildwerke nicht ohne die mit ihnen verbundenen, bei der Aufstellung 30 Ronte 1996; Linnekugel 1999. 31 Vgl. dazu die Bemerkungen von Dieter Bartetzko (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.09.2009): »Das massive Bronzegebilde überragte die beiden Redner nicht nur, es schien sich dank der unvermeidlichen Untersicht aus verschiedenen Perspektiven mal drohend, mal schützend, aber immer übermächtig über sie zu neigen. Das für jedermann sichtbare stumme Wechselspiel von Kunst und Leben dürfte mitgewirkt haben, dass die Assoziation von der ›Betonmiene‹ des SPD-Vorsitzenden Müntefering die Runde machte.« 32 Vgl. zu diesem Charakter von Bildern Boehm 2004, 32: »Die Macht, die Bildern innewohnen kann, liegt offenbar auch in ihrer Fähigkeit, Zugänge zu etwas zu öffnen, was tot oder was anderswo ist […]«; vgl. auch Wiesing 1998, 98. 101: »Nur durch Bilder ist dem Menschen die Möglichkeit gegeben, etwas nicht real Anwesendes sehen zu können. Es gibt keinen anderen Gegenstand, der diese Leistung erbringen könnte, ohne selbst ein Bild zu sein.« 8 ORT WIN DALLY, SUSANNE MOR AW, HAUKE ZIEMSSEN Abb. 3 | Der damalige SPDKanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier und der damalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering bei der Pressekonferenz in der SPD-Zentrale im Willy-Brandt-Haus am Abend der Bundestagswahl am 27. September 2009. intendierten oder erst nachträglich entwickelten Handlungsabläufe erklären. Für den vorliegenden Band und die in ihm untersuchten archäologischen Kontexte ergeben sich daraus mehrere Leitfragen. In welchem Verhältnis stehen Bilder zum umgebenden Raum? Welche Handlungen wurden im betreffenden Raum vollführt? Welche Auswirkungen hatte die Präsenz der Bilder auf die Art und Weise des Vollzugs dieser Handlungen? Und inwieweit ist die Art und Weise der Gestaltung der Bilder und des Raumes eine Folge der dort vollzogenen Handlungen? 3 Bild – Raum – Handlung: Die Beiträge des Bandes Die Analyse von Bildwerken als konstituierenden Elementen von Räumen und als Bestandteilen von Handlungskontexten hat sich in den letzten Jahren national wie international in einer Vielzahl an Projekten und theoretischen Arbeiten der archäologischen Disziplinen niedergeschlagen. Die Berliner Tagung führte eine Reihe dieser Vorhaben zusammen33 und verfolgte dabei das Ziel, das methodische Feld von »Bild – Raum – Handlung« für ausgewählte Epochen im Sinne eines Querschnittes durch die archäologischen Disziplinen exemplarisch zu behandeln. Die vier Kapitel sind daher nicht von geographischen 33 Zahlreiche Autoren wären zu ergänzen. Beispielhaft seien für die Klassische Archäologie genannt: Paul Zankers grundlegender Beitrag »Bild-Räume und Betrachter im kaiserzeitlichen Rom« (Zanker 2000); Susanne Muth mit ihren Arbeiten zu Mosaiken in den Innenräumen römischer Villen und domus (Muth 1998, 49– 50; Muth 1999, bes. 199–209); Jane Fejfer mit ihrer Studie zu »Roman Portraits in Context« (Fejfer 2008); für die Vorderasiatische Archäologie: vgl. die Beiträge in Cheng – Feldman 2007, die einen Überblick über den gegenwärtigen Stand von Methodik und Themen der Bildwissenschaften in diesem Bereich insbesondere in den USA geben; einschlägige Beiträge verschiedener archäologischer und kunstwissenschaftlicher Disziplinen aus dem angelsächsischen Bereich sind in Osborne – Tanner 2007 vereint. EINLEITUNG 9 oder chronologischen Kriterien bestimmt. Gliederungsprinzip der Beiträge ist vielmehr der räumliche Bezug, in dem sich die diskutierten Bilder befanden und sich die rekonstruierten Handlungen abspielten: Naturraum (1), städtischer Raum (2), Innenraum (3) sowie rituell definierter Raum (4). Im einleitenden Beitrag des Klassischen Archäologen Tonio Hölscher mit dem Titel »Bilderwelt, Lebensordnung und die Rolle des Betrachters im antiken Griechenland« geht der Autor der Frage nach, welche Rolle Bildwerke im gesellschaftlichen Leben der griechischen Antike spielten. Bildwerke dienten sozialen und kulturellen Bedürfnissen in bestimmten Situationen; ihre Aufstellung in verschiedenen Lebensräumen stand in enger Beziehung zu deren Funktionen und wurde von Normen, Gebräuchen, Regeln und Gesetzen bestimmt. Die Rolle von Bildwerken bestand darin, Personen und Vorgängen, die in Zeit und Raum weit entfernt waren, eine dauerhafte Präsenz zu geben. Der Umgang der Menschen mit den Bildwerken vollzog sich nicht in einem ›musealen Habitus‹ der interpretierenden Betrachtung in exklusiven Räumen der ›Kunst‹ oder ›Kultur‹, sondern bestand in einem partizipierenden ›Leben mit Bildern‹. Im Kontext des sozialen Lebens fanden Bildwerke, neben anderen Elementen, Personen und Vorgängen der Lebenswelt, teils größere teils geringere Aufmerksamkeit, je nach ihrer Bedeutung in der betreffenden Situation. Besondere Beachtung erfordert das Phänomen, dass antike, vor allem griechische Bildwerke zwar oft deutlich auf Sichtbarkeit hin aufgestellt wurden, vielfach aber auch erstaunlich wenig Rücksicht auf den Betrachter nehmen. Nach dem hier begründeten Konzept konstituieren Bilder, zusammen mit anderen Elementen der Lebenskultur, eine geordnete Welt (»kosmos«), in der der Mensch seine Orientierung schafft und findet, die aber unabhängig von optimaler Sichtbarkeit eine gewisse Autonomie besitzt. Das Kapitel zu Bild und Naturraum legt den Schwerpunkt auf die Wirkungsweisen von Bildwerken in landschaftlichen Zusammenhängen, die architektonisch nicht oder nur in geringem Maße gestaltet sind. Ausgehend von den Fragen der Sichtbarkeit, Symbolik und praktischen Nutzung werden rituelle Bedeutungen der Bilder gesichert und ihre Einbindung in zeremonielle Akte bestimmt. Der Geoarchäologe und Altamerikanist Karsten Lambers beschäftigt sich in seinem Beitrag mit den Geoglyphen von Palpa und Nasca (Südperu) in deren räumlichen und sozialen Kontext. In einer ersten Phase, der Paracas-Zeit, wurden Geoglyphen bevorzugt in Hanglage angelegt und ihr Motivrepertoire (vor allem anthropomorphe Wesen) von anderen Medien übernommen. Diese Bilder müssen im Zusammenhang mit in einer gewissen Distanz ausgeführten, nicht näher bestimmbaren Handlungen gestanden haben. In der darauffolgenden Nasca-Zeit gingen die Menschen dazu über, auf den wüstenartigen Fußflächen zwischen den Flusstälern riesige Geoglyphen in Form von Linien oder anderen geometrischen Mustern anzulegen. Diese Geoglyphen dienten nunmehr als Bühne für zahlreiche rituelle Handlungen (fassbar etwa anhand von Opferdepots). Diese Riten standen vermutlich in Verbindung mit der zunehmenden Aridisierung und der Bitte um Wasser und Fruchtbarkeit. Von Bedeu- 10 ORT WIN DALLY, SUSANNE MOR AW, HAUKE ZIEMSSEN tung war hier nicht mehr so sehr das Bild, die Geoglyphe, sondern die darauf vollzogene Handlung, in deren Rahmen nun andere Medien die Rolle des Bildträgers einnahmen. Die prähistorischen Archäologen Thierry Aubry und Luís Luís setzen sich mit den paläolithischen Felsbildern im Côa-Tal auseinander. Entgegen der landläufigen Meinung war im europäischen Paläolithikum nicht die künstlerische Verzierung von Höhlen die Regel, sondern die Gestaltung von Bildwerken unter freiem Himmel. Im Gebiet des portugiesischen Côa und seiner Nebenflüsse fanden sich zahlreiche paläolithische Felsbilder, die vor allem pferde-, rinder-, ziegen- und hirschartige Tiere zeigen. In der ältesten Phase waren die Bilder auf wenige Anbringungsorte beschränkt und auf größtmögliche Sichtbarkeit angelegt. Sie dienten der Markierung und Monumentalisierung eines Territoriums. Möglicherweise wurde der solcherart hervorgehobene Raum zur (potentiell stets problematischen) Interaktion verschiedener Gruppen der weiteren Umgebung genutzt. In einer späteren Phase werden kleinere, aus mehreren Tieren bestehende Szenen bevorzugt, die nur aus der Nähe erkennbar sind. Hier beschränkt sich der markierte Raum auf die nächste Umgebung des dekorierten Felsens. Es ist anzunehmen, dass auch die mit diesem Ort verbundenen Handlungen anderer Art waren. Das Kapitel zu Bildern im städtischen Raum versammelt zwei Beiträge, in denen die Funktionsweisen von Bildern im zeremoniellen Handeln von Städten des Altertums im Mittelpunkt stehen. Die Vorderasiatische Altertumskundlerin Alessandra Gilibert untersucht Platzanlagen und ihren Skulpturenschmuck im syro-hethitischen Raum (um 900 v. Chr.). Sie vertritt die Auffassung, dass die Herrscherdynastien der frühen Eisenzeit zeremonielle Platzanlagen im Herzen ihrer Hauptstädte als Bühnen für Rituale ausgestalteten, die große Mengen an Zuschauern einbezogen. Der aufwendige Skulpturenschmuck der Plätze war auf die hier stattfindenden Ereignisse bezogen und wurde unmittelbar in diese einbezogen. Die Bilder zeigen an, dass die auf dem Platz vollzogenen Rituale ihren Mittelpunkt im Kult der königlichen Dynastie, deren Macht und deren Legitimität hatten. In einigen Fällen deuten sie auch darauf hin, dass Teile dieser Zeremonien einen weniger formalen oder sogar karnevalesken Charakter gehabt haben könnten. Die Errichtung von Monumenten trug in großem Maße zur spezifischen Atmosphäre des syro-hethitischen Platzes bei und diente sowohl der Erinnerung an die rituellen Ereignisse wie auch als deren eindrucksvoller szenischer Hintergrund. Der Klassische Archäologe Hauke Ziemssen behandelt das Rom des beginnenden 4. Jhs. n. Chr. Ausgehend von einem Münzbild des Maxentius, das den Kaiser in Interaktion mit der als leibhaftig anwesend dargestellten Göttin Roma in deren Tempel zeigt, diskutiert er kaiserliche Strategien der Selbstinszenierung als gottgleiche Person. Auch wenn die dargestellte Globusübergabe durch Roma an den Kaiser keine reale Handlung abbildet, referiert sie doch auf zeremonielle Handlungsformen und verortet diese in einem konkreten architektonischen Kontext. Der Tempelbau wurde von Maxentius restauriert und diente gemeinsam mit einer gegenüber errichteten kaiserlichen Empfangshalle (der Maxentiusbasilika) als Bühne eines elaborierten städtisch-höfischen Zeremoniells. Das Münzbild greift diese Handlungen EINLEITUNG 11 auf, entfaltet seine ideologische Aussagekraft aber, entsprechend der Natur des Mediums, ohne am Ort der Zeremonien selbst präsent zu sein. Die damit konstruierten räumlichen Bezüge erinnern somit an moderne Phänomene des cyberspace. Im folgenden Kapitel zu Bildern als Elementen von Innenräumen werden Befundsituationen der minoischen, mykenischen und klassischen Archäologie behandelt. Im Mittelpunkt der Beiträge steht die Frage, inwieweit Bilder auch in eng definierten Baukomplexen Räume schaffen und deren Identität, Bestimmung und Funktion definieren. Die Klassische Archäologin Ute Günkel-Maschek analysiert das Zusammenspiel von Wandbildern und (Handlungs-)Räumen in der minoischen ›Neupalastzeit‹ und ›Endpalastzeit‹. Figürlich bemalte Wände fanden sich hauptsächlich in Gebäuden des ›palatialen Architekturstils‹. Im Falle des Palastes von Knossos lassen sich mindestens drei Typen von Räumen mit jeweils spezifischer Bemalung unterscheiden: Eingangsräume wurden mit einem heranstürmenden Stier dekoriert; Durchgangsräume mit Prozessionen; der Thronraum mit antithetischen Greifen, welche sowohl eine Art Erscheinungstür als auch den Thron rahmten. Die Bilder fungierten also entweder als ein Emblem, welches beim Betreten des Palastes symbolisch auf die Machtinhaber verwies, oder gaben in idealisierter Form Handlungen wieder, die sich realiter in dem betreffenden Raum abspielten, so im Fall der Durchgangsräume, oder verliehen der dort vollzogenen Handlung eine ergänzende Bedeutungsebene, wie im Fall der Greifen im Thronsaal: Greifen rahmen in der minoischen Bilderwelt in der Regel eine Göttin. Die den Thronsaal betretende und sich auf dem Thron niederlassende Person sollte demnach vermutlich als Epiphanie der Göttin inszeniert werden. Der ur- und frühgeschichtliche Archäologe Ulrich Thaler kann zeigen, dass auch die Inszenierung des mykenischen wanax mittels einer ausgefeilten und normierten Choreographie geschah. Sowohl die architektonische Gestaltung als auch zahlreiche Elemente der malerischen Ausschmückung der Megara von Mykene, Pylos und Tiryns stützen die These, dass ein Besucher nach Betreten des Thronraumes nicht den kürzesten Weg zum Herrscher nahm, sondern im Uhrzeigersinn um den Zentralherd und so erst einmal zur dem Thron entgegengesetzten Seite schritt. Nur von dort entfaltete das ephemere Bild des thronenden, zumindest in Pylos von Greifen und Löwen gerahmten, jenseits des von Säulen umstandenen Herdes platzierten wanax seine volle Wirkung. Nur ausgewählte Besucher durften nach diesem Anblick mutmaßlich noch weiter um den Herd Richtung Herrscher schreiten, eventuell sogar bis direkt an den Thron. Der Klassische Archäologe Ortwin Dally behandelt die Ausstattung der kaiserzeitlichen Faustinathermen von Milet, die seit wenigen Jahren von der Antikensammlung Berlin und dem Deutschen Archäologischen Institut neu untersucht wird. Die seither erfolgte Erforschung und Darstellung der verschiedenen Phasen des Baus und seiner Ausstattung mit Inschriften, Skulpturen und Graffiti zwischen dem 2. und 7. Jh. n. Chr. erlauben Beobachtungen zum Zusammenhang von Skulpturenausstattung und umgebendem Raum sowie zum Bewegungsablauf der Besucher und den von diesen vollzogenen Handlungen. Die Abfolge der von den Badegästen aufgesuchten Räume in der Thermen- 12 ORT WIN DALLY, SUSANNE MOR AW, HAUKE ZIEMSSEN anlage, die dem sogenannten Ringtypus zuzurechnen ist, war von den Erbauern zum Teil vorgegeben. In frühbyzantinischer Zeit unterlag sie ebenso gewissen Veränderungen wie die Ausstattung der Räume. In einem abschließenden Kapitel zu Bildwerken als Elementen ritueller Handlungen behandelt der Prähistorische Archäologe Klaus Schmidt die am Übergang zum Neolithikum errichteten megalithischen Kreisanlagen auf dem Göbekli Tepe. Die Ausgrabungen der letzten Jahre haben als wesentliches Element eine große Anzahl T-förmiger, monolithischer Pfeiler zum Vorschein gebracht, die aufgrund der manchmal in Flachrelief dargestellten Arme und Hände als hochstilisierte, anthropomorphe steinerne Wesenheiten gedeutet werden können. Diese teilweise über 5 m großen Pfeilerwesen umschließen und definieren den Raum. Im Innern dieses Raumes fanden rituelle Handlungen statt, bei denen nach Ausweis der Befunde Flüssigkeiten eine große Rolle spielten. Eine genaue Definition der Beziehung zwischen den Pfeilerwesen (samt den auf ihnen gelegentlich abgebildeten Tieren) und den hier vollzogenen Handlungen scheint derzeit nicht möglich. Doch könnten die Anlagen des Göbekli Tepe – ebenso wie die vieler anderer Kulturen – letztlich im Kontext von Begräbnisriten und im Dienste der kulturellen Überwindung des Todes gestanden haben. Der vorliegende Band profitiert in hohem Maße von den Diskussionen der dreitägigen Konferenz »Bild – Raum – Handlung«, und die Herausgeber danken allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern sowie den mit der Organisation betrauten Personen. Unser Dank geht ebenso an die anonymen Gutachter des Bandes für ihre hilfreichen Hinweise sowie an Nadine Riedl für die Organisation des peer review und an Dorothee Fillies für die kompetente redaktionelle Betreuung. Konferenz und Publikation wurden erst durch die Förderung im Rahmen des Exzellenzclusters 264 Topoi ermöglicht. Auch dafür unseren herzlichen Dank. Die Epochen- und Disziplinen-übergreifende Auseinandersetzung mit bildlichen, baulichen und textlichen Quellen bietet, so hoffen wir, ›Perspektiven der Archäologie‹ als einen Ansatz für künftige Forschungen. Bibliographie Assmann 1991 J. Assmann, Das ägyptische Prozessionsfest, in: J.Assmann – T. Sundermeier (Hgg.), Das Fest und das Heilige. Religiöse Kontrapunkte zur Alltagswelt, Studien zum Verstehen fremder Religionen 1 (Gütersloh 1991) 105–122. Bachmann-Medick 2007 D. Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften 2 (Reinbek 2007). EINLEITUNG 13 Belting 1990 H. Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst (München 1990). Belting 2001 H. Belting, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft (München 2001). Boehm 1994 G. Boehm, Die Wiederkehr der Bilder, in: G. Boehm (Hg.), Was ist ein Bild? (München 1994) 11–38. Boehm 2004 G. Boehm, Jenseits der Sprache? Anmerkungen zur Logik der Bilder, in: H. Burda – C. 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Sculptures met social and cultural needs in specific situations; a close relationship existed between their functions and their installation in diverse living spaces in accordance with various norms, usages, rules and laws. The role of sculptures consisted in lending a permanent presence to events and personages that were far removed temporally and spatially. Human interaction with sculptures took place not in a »museal habitus« of interpretive contemplation exclusively within the confines of »art« or »culture;« rather, it consisted in a participatory »life with images.« In a social context, sculptures enjoyed, along with other environmental elements, personages and events, a greater or lesser degree of attention depending on their significance in a given situation. Of particular interest is the noteworthy fact that although ancient, especially Greek, sculptures were often set up in clearly visible locations, they could also be installed with surprisingly little consideration for the viewer. Sculptures constituted, along with other cultural elements, an ordered world (kosmos) in which mankind established and found its bearings, but a world which, independent of the rules of optimal visibility, possessed a certain degree of autonomy. 1 Räume von Bildwerken in der Antike und heute Der römische Architekt und Architekturtheoretiker Vitruv mokiert sich über die Bewohner von Alabanda, einer Provinzstadt im südwestlichen Kleinasien: Sie hätten auf der Agora Standbilder von Diskuswerfern, Läufern und Ballspielern, in ihren Sportstätten dagegen Statuen von Rechtsanwälten stehen 1 . Die Maßstäbe, von denen er dabei ausgeht, werden im 4. Jh. v. Chr. von dem athenischen Staatsmann Lykurg bestätigt, der voller Stolz sagt, auf der Agora seiner Stadt seien ausschließlich Standbilder von Feldherren und den Tyrannenmördern, nicht aber von Athleten zu sehen 2 . Es gab also Standards, die definierten, welche Art von Bildwerken für welche Orte und Lebensräume angemessen war. Dabei müssen wir uns freilich hüten, Vitruvs Maßstäbe absolut zu setzen. Denn natürlich hatten die Leute von Alabanda ebenfalls ihre Gründe für ihre abweichende Praxis: Sie folgten nur anderen Maßstäben. Während in Athen und Rom die Agora bzw. das Forum bewusst als ein politischer Raum konzipiert wurde, schloss die Stadt Alabanda die athletischen Traditionen Griechenlands in die Gestaltung ihres öffentlichen Zentrums ein. Die Griechen und Römer lebten, vielleicht mehr als alle anderen Kulturen der Weltgeschichte, mit Bildwerken. Alle Bildwerke hatten ihren Ort in sozialen Räumen. Die Räume Eine erste Version dieses Textes habe ich im Juli 2007 als Herbert Lutz Gedächtnis Vorlesung an der Universität München, eine überarbeitete Version im Januar 2008 als Abschiedsvorlesung an der Universität Heidelberg vorgetragen. In weiterem Zusammenhang wird dies Thema wieder aufgenommen in meinem Buch »Visual Power in Ancient Greece and Rome«, Sather Lectures 94, 2007 (in Vorbereitung). 1 Vitruv 7, 5, 6 (Tadel aus dem Mund des Mathematikers Lycinus). 2 Lykurg. Leocrates 51. BILDERWELT, LEBENSORDNUNG UND DIE ROLLE DES BE TR ACHTERS 19 waren dafür maßgebend, welche Bildwerke in ihnen aufgestellt wurden, und umgekehrt prägten die Bildwerke den Charakter der Räume. Räume und Bildwerke definierten sich wechselseitig. Für den Historiker der antiken Kunst bedeutet diese Situation eine Herausforderung ersten Ranges. Denn sie steht im diametralen Gegensatz zu den Bedingungen und Institutionen des neuzeitlichen Konzepts von ›Kunst‹. In unserer eigenen Vorstellung ist ein Bildwerk eine Schöpfung der ›Kunst‹, durch die ein ›Künstler‹ einer subjektiven Vorstellung visuelle Form gibt. ›Freie‹ Kreativität und Subjektivität sind Grundelemente dieses Konzepts des ›Künstlers‹. Sein Werk drückt durch seine kreativen Formen einen subjektiven ›Sinn‹ aus, und die Betrachter sind aufgefordert, sich diesen ›Sinn‹ des Werkes durch einen Akt des subjektiven Verstehens anzueignen. Die spezifischen Räume dieses Konzepts der ›Kunst‹ sind das Museum und das Buch. Das Museum ist eine Institution, die Kunstwerke und Betrachter in einem autonomen ästhetischen Raum vereinigt. Dort ist das Werk aus seinen ursprünglichen Kontexten und Funktionen herausgelöst und mit anderen Werken in neue ästhetische und historische Kontexte eingeordnet. Ähnlich ist der Betrachter aus dem Kontext seiner sozialen Welt herausgelöst und in eine Sphäre der ›Kunst‹ versetzt. Dies ist ein Raum der reinen intensiven Betrachtung, entweder der intuitiven Wahrnehmung oder der intellektuellen Analyse. Das heißt: Das Museum ist ein Raum einer Haltung, die man als ›musealen Habitus‹ bezeichnen kann. Das Buch mit seinen Räumen der Produktion und Rezeption, Schreibtisch und Bibliothek, ist ein Laboratorium, in dem Autoren und Leser die Werke der Kunst nach wissenschaftlichen Kategorien wahrzunehmen und zu interpretieren suchen. Auch hier werden die Kunstwerke in neue Kontexte eingeführt: Sie werden zu Beispielen für die Geschichte der Stile, für die Ordnung der Ikonographie, für die Grammatik der Bildsprache gemacht. Aus heutiger Sicht besitzen diese Kategorien ein großes Potential an historischer Erklärung; sie scheinen uns so evident, dass wir Kunstwerke kaum mehr anders zu sehen vermögen. Wir müssen uns aber klar machen, dass dies moderne Konstrukte sind, die wenig damit zu tun haben, warum die Bildwerke in der Antike geschaffen und aufgestellt und wie sie wahrgenommen wurden. Kein antikes Bildwerk wurde geschaffen, um ein Schritt in der Stilgeschichte, ein Beispiel einer Ikonographie oder ein Element der Bildsprache zu sein. Das heißt: Ein angemessener Zugang zu den Werken der antiken Kunst muss zunächst vor allem zum Ziel haben, die Aufstellung und die Funktionen der Bildwerke an den Orten herauszufinden, für die sie bestimmt waren. Darüber hinaus aber stellt sich die Aufgabe, die Praxis und die sozialen Lebensformen zu rekonstruieren, die die Wahrnehmung von Bildwerken und den Umgang mit ihnen bestimmten3 . 3 Pionierarbeit in dieser Richtung: Stemmer 1995. Grundsätzlich wichtig: Gell 1998. Dazu Osborne – Tanner 2007. 20 TONIO HÖL SCHER 2 Die Praxis der Aufstellung von Bildwerken Im antiken Griechenland hatten alle Bildwerke, in Skulptur, Malerei und anderen Medien, klar bestimmte Funktionen: als Kultbilder in den Tempeln, Votivgaben in den Heiligtümern, Bildnisse der Toten auf den Gräbern, politische Denkmäler und Ehrenstatuen auf öffentlichen Plätzen, Ausstattung privater Wohnsitze, Geräte und Gefäße für Ritual und Lebensvollzug und so fort. Für all diese Bereiche aber gab es bestimmte Praktiken, Regeln und Normen, die die Herstellung, den Gebrauch und die Wahrnehmung der Bildwerke prägten 4 . Zwei Beispiele sollen diese Praxis und ihre Folgen erläutern: die Standbilder von siegreichen Athleten und die Bildnisstatuen von Staatsmännern. 2.1 Athletenstatuen Die ersten berühmten Personen, die in Griechenland mit öffentlichen Bildnisstatuen geehrt wurden, waren Sieger in den gesamtgriechischen Spielen. Für ihren Ruhm gab es zwei Bühnen: zum einen die großen Heiligtümer, in denen sie den Sieg errungen hatten, vor allem Olympia, zum anderen ihre Heimatstädte5 . In den Heiligtümern entwickelte sich die Errichtung von Athletenstatuen im Rahmen des religiösen Weihgeschenks: als Gabe an die Gottheit zum Dank für den Sieg. Dabei kamen zwei Tendenzen zur Geltung, die umso mehr divergierten, je höher die Ansprüche der Sieger auf öffentliches Prestige waren: Zum einen ging es um den Dank an die Gottheit, zum anderen um Ruhm für den Sieger selbst. Es ist bekannt, dass athletische Siege in den großen gesamtgriechischen Wettkämpfen außerordentliche gesellschaftliche Anerkennung eintrugen, weit über den Bereich der Athletik hinaus6. In diesem Sinn ist die Sitte der Aufstellung von Siegerstatuen zu verstehen: Standbilder von Siegern waren die beste Möglichkeit, diesen Ruhm über den Augenblick des Sieges hinaus zu verewigen. Umso schärfer aber waren die Kontrollen, die dabei ausgeübt wurden: für die Zulassung zu den Wettkämpfen, die Einhaltung der Regeln, die Bestimmung der Sieger – und besonders für die Errichtung von Standbildern. In Olympia untersagten die offiziellen Beamten des Kults, die Hellanodiken, jede Form von überzogener Darstellung, sei es im Format, sei es in eklatanter Ähnlichkeit; sie waren weit strenger bei der Zustimmung zu Standbildern im Heiligtum als bei der Zulassung von Athleten zu den Kämpfen. Unter 4 Versuch einer Geschichte der griechischen Bildkunst im Rahmen ihrer sozialen Orte und Situationen: T. Hölscher 2007. 5 Allgemein zu griechischen Athletenstatuen: Rausa 1994; Smith 2007; Scott 2010, 153. 159–162. 189–190. 196–201. 209–210. 213–217. 6 Mann 2001. BILDERWELT, LEBENSORDNUNG UND DIE ROLLE DES BE TR ACHTERS 21 diesen Voraussetzungen entwickelte sich in Olympia und sicher auch an anderen Orten eine vielfältige Praxis, die von der Spannung zwischen Dank an die Gottheit und Rühmung der Sieger geprägt ist7: – Ein siegreicher Athlet konnte unmittelbar nach dem Sieg ein Standbild von sich aufstellen. Das war zunächst ein Akt der Dankbarkeit an die Gottheit. Wenn er mehr als einmal einen Sieg errungen hatte und jedes Mal eine Statue errichtete, trat der Aspekt der Selbstrühmung schon mehr in den Vordergrund8. – Der Ruhm des Sieges war aber nicht nur eine persönliche Sache: Oft wurden Standbilder von athletischen Siegern von ihren Verwandten errichtet. Das konnte sowohl unmittelbar nach dem Sieg als auch in späterer Zeit, insbesondere durch den Sohn, geschehen. Daraus wird deutlich, welche Bedeutung athletische Siege für das Prestige der Familie hatten. Berühmte ›Dynastien‹ von athletischen Siegern stellten ihre Bildnisse nebeneinander auf und bildeten damit große Familiengalerien9. – Schließlich konnte sogar die Gemeinschaft der Polis einem Sieger eine Statue in einem gesamtgriechischen Heiligtum errichten. Das geschah z. T. lange nach seinem Tod: So stellte Sparta im mittleren 5. Jh. in Olympia ein Standbild des Chionis auf, der zwei Jahrhunderte früher dreimal hintereinander gesiegt hatte, zur selben Zeit als dieselbe Stadt dies Heiligtum auch sonst zur Bühne ihrer politischen Ansprüche machte10. In Olympia lässt sich auch ungefähr die Aufstellung der Athletenstatuen erkennen 11 . Sie wurden vor allem entlang den Wegen der großen Rituale im Heiligtum errichtet: an dem Weg der großen Prozession vom Eingang im Süden zu dem großen Altar und an den Wegstrecken um den Tempel des Zeus, an dessen Rückseite der heilige Ölbaum stand, von dem die Zweige für die Siegerkränze geschnitten wurden. Die Standbilder der früheren Sieger nahmen also an den gemeinsamen Auftritten der Festgemeinschaft teil, als ideale Zuschauer und zugleich als leuchtende Exempel für die lebenden Teilnehmer. Daneben konnte die Form der Siegerstatue von den Siegern selbst in ihrer eigenen Stadt eingesetzt werden, um ihre politische Stellung zu stärken. In Athen mobilisierte sich offenbar die konservative Faktion um die Mitte des 5. Jhs. gegen Perikles, indem sie ihren athletischen Ruhm auf der Akropolis durch aufsehenerregende Standbilder in 7 Zum Folgenden s. besonders: Amandry 1957; ferner Gross 1969. – Zu den Hellanodiken: Lukian. Imagines 11. 8 Weihung unmittelbar nach dem Sieg: Amandry 1957, 63–64, nach mehrfachen Siegen: 64–66. 9 Aufstellung durch Verwandte, gewöhnlich den Sohn: Amandry 1957, 64–67. – In späterer Zeit: Amandry 1957. – Zusammenstellung zu ›Galerien‹: am berühmtesten die Gruppe der Diagoriden von Rhodos: Paus. 6, 5, 1 – 6, 7, 1. Amandry 1957, 67. 10 Paus. 6, 13, 2. Datierung um die Mitte des 5. Jh. durch den ausführenden Bildhauer Myron. Weitere Fälle: Amandry 1957, 67. 11 s. dazu Herrmann 1988. 22 TONIO HÖL SCHER Erinnerung brachte: Besonders spektakulär war ein gewisser Pronapes, der sich als Ankläger gegen Themistokles hervorgetan hatte und der seinen vornehmen Anspruch mit einem Denkmal kundtat, das ihn auf der Quadriga darstellte, und damit seine Siege im Wagenrennen feierte12 . Die Praxis der Errichtung von Standbildern für siegreiche Athleten war also vielfältig, sie war gesteuert von klar erkennbaren religiösen Motiven und politischen Zielen. 2.2 Öffentliche Ehrenstatuen Der nächste Schritt, mit dem herausragenden Bürgern öffentliches Ansehen und gesellschaftliches Prestige verliehen wurde, war die Errichtung öffentlicher Ehrenbildnisse. Diese Praxis entwickelte sich im 5. Jh. v. Chr. und erhielt in Athen im 4. Jh. eine relativ standardisierte Form. Ehrenstatuen garantierten den dargestellten Personen Präsenz und Gedächtnis im öffentlichen Raum. In den hoch kompetitiven Gesellschaften der griechischen Stadtstaaten waren solche Auszeichnungen wirksame Mittel zur Ausbildung von Macht. Aus diesem Grund waren Ehrenstatuen Gegenstände von heißen politischen Debatten: Erst in der Volksversammlung, wo die Entscheidungen über die Errichtung gefällt wurden; später in öffentlichen Diskursen und politischen Diskussionen, in denen aus unterschiedlichsten politischen Positionen Urteile geäußert und Kommentare abgegeben wurden. Diese Diskurse waren der Grund dafür, dass die Praxis der Errichtung von öffentlichen Ehrenstatuen immer mehr in kollektiv akzeptierten Formen geregelt wurde: Die Gefahr von Konflikten wurde durch Regulierung und Ausrichtung an Präzedenzfällen eingeschränkt 13 . Die entscheidenden Fragen, um die es in solchen Debatten ging, waren: Wer sollte mit einem öffentlichen Ehrenbildnis ausgezeichnet werden? Wer sollte die Ehrung durch eine Bildnisstatue vornehmen? Wann war der angemessene Zeitpunkt für eine solche Ehrung, zu Lebzeiten oder erst nach dem Tod? Wo sollte ein Ehrenbildnis errichtet werden? Aus welchen Gründen, d. h. für welche Leistungen und Verdienste war eine öffentliche Ehrenstatue gerechtfertigt? Und schließlich: Wie und in welchen Formen sollten die Bildnisse die Ehrung zum Ausdruck bringen14? 12 Zu den Athletenstatuen auf der Akropolis von Athen s. Raubitschek 1939, 155–160; Raubitschek 1949, 464; Keesling 2003, 170–175. Pronapes: Krumeich 1997, 113–114. Weitere Athletenstatuen dieser Zeit von Staatsmännern der aristokratischen Faktion, Kallias Didymiou: Krumeich 1997, 89–91; Kallias Hipponikou: Krumeich 1997, 91–93. Zu der hier vertretenen politischen Deutung s. Raubitschek 1939, 164. Die Tendenz von Krumeich, bei diesen Bildwerken eine rein religiöse Motivation zu erkennen und politische Ziele weitgehend auszuschließen (zusammenfassend Krumeich 1997, 214–215), scheint mir nicht zutreffend zu sein; dazu an anderem Ort. 13 Gründliche Untersuchung der Zeugnisse bei Krumeich 1997, passim. Zur Praxis in Athen s. bereits Thompson – Wycherley 1972, 155–160. Dazu Tanner 1992; Krumeich 1997, 207–212; Dillon 2006, 101–106; Tanner 2006, 97–140. 14 Dazu besonders die Schriftquellen, in Ausschnitten gesammelt bei Wycherley 1957, 207–217. Wichtig ist dabei immer der weitere Kontext in den literarischen Werken. BILDERWELT, LEBENSORDNUNG UND DIE ROLLE DES BE TR ACHTERS 23 Die Entstehung öffentlicher Ehrenstatuen in Griechenland kann mit zwei Beispielen beschrieben werden, die den Anfangs- und einen ersten Endpunkt bezeichnen. Um 540 v. Chr. weihte ein gewisser Aiakes, Sohn des Brychon, auf Samos ein überlebensgroßes Marmorbildnis von sich selbst, auf einem Thron sitzend, der Göttin Hera, wohl in ihrem städtischen Heiligtum. Mit einiger Wahrscheinlichkeit kann er als Vater des Tyrannen Polykrates identifiziert werden, jedenfalls muss er einer der führenden Männer von Samos gewesen sein 15 . Ein Bildnis von sich selbst einer Gottheit zu weihen, war damals eine geläufige religiöse Praxis; nur der Typus einer thronenden Gestalt und das große Format bezeugen Aiakes’ außergewöhnliche politische Ambitionen 16. – Im Jahr 394 v. Chr. wurde der athenische Feldherr und Staatsmann Konon von der Volksversammlung seiner Stadt mit einer Reihe hoher Auszeichnungen geehrt. Die größte dieser Ehren war eine Bildnisstatue auf der Agora. Ein bekannter Kopftypus eines Strategen mit Helm wurde gelegentlich als Konon gedeutet; die Gründe dafür sind nicht ausreichend, aber ungefähr in dieser Weise kann man sich den Kopf des Standbildes vorstellen. Der Körper könnte nackt gewesen sein, wie bei der Bronzestatuette eines Strategen, die wohl ein großformatiges Original dieser Zeit wiedergibt. Wie dem auch sei, hier war es die institutionelle Autorität des athenischen Staates, der diese öffentlich-politische Anerkennung im Namen der gesamten Gemeinschaft der Bürger verlieh 17. Zwischen diesen beiden Polen wurde die Verherrlichung politischer Leistung und Macht immer deutlicher vorangetrieben. Ein entscheidender Schritt war die Statuengruppe der Tyrannenmörder Aristogeiton und Harmodios. Sie war von der Gemeinschaft der Bürger errichtet worden, im politischen Zentrum von Athen, frei von jeder religiösen Funktion; dort diente sie einzig der Rühmung einer politischen Tat, die der Gründungsmythos der athenischen Demokratie werden sollte. In diesem Sinn standen die Statuen der Tyrannenmörder als Vorbild am Rand der Stätte der demokratischen Volksversammlung, die ihr politisches Grundziel in der Abwehr einer neuen Tyrannis sah. Bei den politischen 15 Freyer-Schauenburg 1974, 139–146 Nr. 67. 16 Zur Praxis der Selbstweihung s. die wichtige Studie von Himmelmann 2001. Himmelmann sieht hierin eine entscheidende, religiöse Wurzel der griechischen Porträtstatue, nicht zuletzt auch der realistischen Darstellungsweise mit individueller Physiognomie. Dagegen sehe ich den entscheidenden Schritt in Richtung auf eine politische Bedeutung gerade im Abgehen von dieser Praxis in Form der Statuensetzung durch die politische Gemeinschaft. Die Entwicklung individueller Bildnisformen vollzieht sich nicht Schritt für Schritt parallel zu dieser Politisierung, sondern steht in einer signifikanten Spannung zu ihr. Aber im Wesentlichen dienen diese Formen meines Erachtens der Darstellung – und Anerkennung! – einzigartiger Rollen im öffentlichen Leben. Das kann hier nicht genauer ausgeführt werden. 17 Bildnis des Konon: Krumeich 1997, 207–208. – Strategen-Typus ›Pastoret‹: Pandermalis 1969, 46–55. Wegen der Zahl der römischen Kopien offenbar ein in späterer Zeit berühmter Mann. Eine Alternative innerhalb des Zeitraums, der nach dem Stil möglich scheint, wäre Alkibiades; bei ihm möchte man allerdings mehr jugendliches Charisma erwarten. – Bronzestatuette Hartford: Bielefeld 1962. – Anders Himmelmann 1990, 86–101, der für die Darstellung der Strategen Kleidung annimmt (und die Statuette Hartfort für ein klassizistisches Bild des Ares hält). 24 TONIO HÖL SCHER Entscheidungen sollte jeder Bürger ein potentieller Tyrannenmörder werden. Wenn man sich vor Augen hält, dass durchaus noch eine große Gruppe von einflussreichen Anhängern der Tyrannen in Athen lebte, so war die Besetzung der Agora durch ein Denkmal der Attentäter ein Akt von höchster Brisanz: Es war eine symbolische Vertreibung der Gegner aus dem politischen Zentrum der Stadt. Die Tyrannenmörder waren das erste eigentlich ›politische Denkmal‹ Griechenlands18. Die Entstehung des politischen Denkmals ist das eindeutigste Symptom für das, was Christian Meier die »Entstehung des Politischen« genannt hat 19. Mit dem politischen Denkmal wird der öffentliche Raum der Agora in einer neuen Weise als ›politischer Raum‹ definiert. Die Personen, die mit öffentlichen Ehrenstatuen ausgezeichnet wurden, waren zunächst ausschließlich erfolgreiche Feldherren, wie Konon, der Athen durch einen Seesieg von der Vorherrschaft Spartas befreit hatte. Spätere Ausweitungen der Ehre waren heftig umstritten: So wurden einflussreiche politische Redner wie Aischines oder Demosthenes erst postum mit öffentlichen Bildnisstatuen geehrt 20. Schließlich wurden auch auswärtige Wohltäter des Staates einbezogen: Zuerst der zyprische König Euagoras, weil er Konon gegen Sparta unterstützt hatte; später drei Könige vom Bosporos, Pairisades, Satyros und Gorgippos, weil sie Athen mit Kornlieferungen unterstützt hatten 21 . Dabei gab es eine Hierarchie der Orte. Mehrfach wurde beschlossen, die Wahl des Standortes den Stiftern oder dem Geehrten zu überlassen. Dabei werden sie eine möglichst wirkungsvolle Aufstellung gewählt haben; in späteren Inschriften heißt es oft, Standbilder für besonders prominente Männer sollten »an dem sichtbarsten Ort« errichtet werden22 . Eine zusätzliche Auszeichnung lag in der Aufstellung in Verbindung mit anderen berühmten Monumenten. So wurden die Standbilder des Konon und des Euagoras vor der Halle des Zeus Eleutherios errichtet, des Gottes der Freiheit, der Athen vor den Persern und anderen Unterdrückern gerettet hatte: ein angemessener Platz für die Männer, die Athens Unabhängigkeit von Sparta erkämpft hatten. Dass der Feldherr Timotheos dann neben seinem Vater Konon aufgestellt wurde, ist ein frühes Beispiel für die sukzessive Entstehung von ›Familiengalerien‹. Ähnlich wurde eine Bildnisstatue des Kallias, der die berühmte ›Friedens‹-Abmachung mit den Persern ausgehandelt hatte, lange nach seinem Tod neben dem Altar und dem Standbild der Friedensgöttin Eirene aufgestellt 23 . Und so fort. 18 Brunnsåker 1971; Fehr 1984; Taylor 1992; F. Hölscher 2010. 19 Meier 1980. 20 Aischines: Richter 1965, II 212–215; Zanker 1995, 51–54. – Demosthenes: Richter 1965, II 215–223; Zanker 1995, 85–89. 2 21 Euagoras: s. o. Anm. 17 zu Konon. – Herrscher vom Bosporos: Deinarch. Demosthenes 43. IG II 653, 40–42. Wycherley 1957, n. 700. 711. 22 Wahl des Standortes: Wycherley 1957, Nr. 278; vgl. 701. 704. – Epiphanestatos topos: Bielfeldt 2012. 23 Konon: s. o. Anm. 17. – Timotheos: Aischin.Ctes. 243. Cornelius Nepos, Timotheus 2, 3. – Kallias: Paus. 1, 8, 2. Dazu Simon 1988, 63–64; Krumeich 1997, 93. BILDERWELT, LEBENSORDNUNG UND DIE ROLLE DES BE TR ACHTERS 25 Sogar mit Gesetzen griff man ein. Es war verboten, Ehrenstatuen neben den Tyrannenmördern aufzustellen, weil keine andere Person mit diesen Gründerheroen des Staates auf eine Stufe gestellt werden sollte. Nur zwei Ausnahmen wurden gemacht, eben um diesen Vergleich doch zu suggerieren, für die makedonischen Herrscher Antigonos und Demetrios Poliorketes nach der Befreiung Athens von der makedonischen Vorherrschaft, dann für Brutus und Cassius nach dem Mord an Julius Caesar. Diese Taten wurden als Befreiung von Tyrannis gedeutet, vergleichbar der Tat der Tyrannenmörder24 . Schließlich wurde eine sehr konkrete Unterscheidung bei der Finanzierung gemacht. Bei prominenten Männern übernahm selbstverständlich der Staat die Kosten für die Ehrenstatue. Bei weniger bedeutenden Personen aber konnte es auch vorkommen, dass die Volksversammlung nur die Erlaubnis für eine Ehrenstatue aussprach, die der Geehrte dann selbst bezahlen sollte25 . Dies waren die Anfänge einer differenzierten Praxis der Errichtung öffentlicher Ehrenstatuen, die dann in den folgenden Jahrhunderten bis in die römische Kaiserzeit weiter entwickelt und gepflegt wurde. Wenn man diese Bildnisstatuen zusammen sah, so ergaben sie eine historische Physiognomie des athenischen Staates, mit seinen Gründerheroen, seinen führenden Staatsmännern und seinen auswärtigen Wohltätern. Die Bildnisse siegreicher Athleten und ruhmreicher Staatsmänner bezeugen ein umfassendes Phänomen der griechischen Bildkultur. Bildwerke verschiedenster Art stellten ›Bilder-Welten‹ dar, die die Lebensräume der menschlichen Gesellschaften mit Sinn erfüllten. Das gilt nicht nur für die politischen Räume der Agora, sondern auch für die sakralen Räume der Heiligtümer, für die Gedenk-Räume der Nekropolen und für die privaten Räume des Wohnens. Darum noch ein Beispiel aus einem großen griechischen Heiligtum. 2.3 Schatzhaus von ›Sikyon‹ Im Apollon-Heiligtum von Delphi wurde eine Serie von Reliefs aus archaischer Zeit gefunden, die als Serie von Metopen ein Schatzhaus geschmückt haben müssen, d. h. einen kleinen Bau, der ein wertvolles Weihgeschenk einer Stadt barg; die Zuweisung an die Stadt Sikyon ist nicht sicher, aber wahrscheinlich. Auf diesen Reliefs sind Mythen dargestellt, die für die betreffende Stadt offenbar paradigmatische Bedeutung hatten26. Zwei dieser Mythen stellen große kollektive Unternehmen dar, wie sie auch in der Lebenswelt der archaischen Zeit hoch geschätzt waren. Ein Bild eines Ebers stammt aus einer Schilderung der Jagd auf den Eber von Kalydon, zu der sich mythische Helden aus 24 Verbot: Thompson – Wycherley 1972, 159. – Antigonos und Demetrios: Diod. 20, 46, 2. – Brutus und Cassius: Cass.Dio 47, 20, 4. 2 25 Asandros (Makedone, Reiterstatue): IG II 450, b 7–12. 26 Knell 1990, 18–23; T. Hölscher 2009, 58–61. 26 TONIO HÖL SCHER vielen Städten vereinigt hatten. Gleichzeitige Vasenbilder können die ursprüngliche Komposition veranschaulichen. Dieser Mythos konnte als Vorbild für die gegenwärtigen Gesellschaften dienen, so wie etwa verschiedene Städte sich im sog. Heiligen Krieg zum Schutz von Delphi gegen die Stadt Phokis zusammengeschlossen hatten. Da Jagd und Krieg in archaischer Zeit als eng verwandte Bereiche männlicher Bewährung angesehen wurden, konnte die kalydonische Jagd zum mythischen Muster gemeinsamer Kriegszüge werden. Dabei wird in den gleichförmigen Bewegungen der Jäger ein Ethos der koordinierten Aktionen, des Zusammenhalts und der Gleichheit vor Augen gestellt, das grundlegend für die archaischen Gesellschaften war. Eine andere Metope schilderte die Fahrt des Schiffes Argo mit vielen Helden zum fernen Kolchis, wo sie das goldene Vlies rauben sollten. In diesem Mythos sind die Seefahrten kühner Adeliger in ferne Länder präfiguriert, bei denen sich Handel, Piraterie und Landgewinnung zu einem Ideal expansiver Kühnheit verbanden. Auch hier war der Gemeinschaftsgeist der mythischen Helden aus allen Teilen Griechenlands ein Vorbild für die kollektive Solidarität gegenwärtiger Seefahrer. Weitere Metopen rühmten mythische Muster persönlichen Heldenmuts. Die Dioskuren Kastor und Polydeukes stehlen gemeinsam mit den Brüdern Idas und Lynkeus eine große Herde von Rindern. Auch hierin wird eine Tugend gepriesen, die in der Gegenwart der archaischen Zeit hoch im Kurs stand: Gewaltsamer Rinderraub war damals noch eine übliche Praxis, vor allem in den Grenzzonen zwischen den Stadtstaaten, wo immer wieder Konflikte zwischen reichen Herdenbesitzern sich zu Kriegen zwischen größeren politischen Gemeinschaften entwickelten. Der Raub von Rindern galt als Beweis von männlichem Mut, für den große Helden das Vorbild abgaben: Achill war der berühmteste individuelle Rinderräuber, die Brüderpaare auf den delphischen Reliefs tun dasselbe in koordinierter Solidarität. Selbst der wilde Mythos von Zeus, der sich der schönen Königstochter Europa in Gestalt eines Stieres nähert, sie abschleppt und liebt, spricht ein zentrales Thema der archaischen Gesellschaft an: die Hochzeit und das Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Das Grundkonzept der Hochzeit, das in diesem Mythos präfiguriert war, war der Raub der Braut durch den Bräutigam. Solche frühen rituellen Praktiken stehen hinter dem Mythos des Helden Peleus, der die Meeresgöttin Thetis im Ringkampf bändigt, so wie in der Lebenswelt die ›wilden‹ Züge junger Mädchen für ihre Rolle als Herrin des Hauses und Mutter der Kinder ›gezähmt‹ werden sollten. Im Mythos der Europa wird ein anderer Aspekt gezeigt: die Einwilligung einer schönen jungen Frau, sich von dem Stier davontragen zu lassen, der die höchste Virilität verkörpert und dabei Zeus, den mächtigsten aller Bräutigame, einschließt. Der Bildschmuck dieses Schatzhauses ist weit mehr als eine Sammlung von ›interessanten‹ Mythen, er ist ein ganzer Kosmos von Grundkonzepten der archaischen Gesellschaften. Dieser Kosmos diente als ideeller Rahmen für das große verlorene Weihgeschenk an den Gott, für den der Bau errichtet worden war. Die Stadt, die das Schatzhaus stiftete, hat dafür keine spezifischen Mythen aus der eigenen Vergangenheit gewählt, sondern sich als Vertreterin und Protagonistin von mythischen Leitbildern präsentiert, BILDERWELT, LEBENSORDNUNG UND DIE ROLLE DES BE TR ACHTERS 27 die allgemeine Geltung besaßen. In diesem Sinn aber hat das Schatzhaus im Heiligtum von Delphi eine präzise Funktion: Es bewirkt die Präsenz der Stadt mit ihren zentralen Leitvorstellungen vor der gesamtgriechischen Öffentlichkeit in diesem Heiligtum, gewissermaßen als Verstetigung der vornehmen Gesandtschaften, die die Bürgerschaft bei den großen Festen repräsentierten. In diesem Sinn sind alle figürlichen Weihgeschenke, in großen wie in kleinen Formaten, in den Heiligtümern zu verstehen. Sie alle sind Teil eines vielfältigen Zusammenspiels von Bildwerken, die die verschiedensten Stifter errichteten und die mehr und mehr zu einer komplexen Bilderwelt zusammenwuchsen. Das Spektrum der Möglichkeiten ist weit und es änderte sich von Epoche zu Epoche. Zur selben Zeit, als das Schatzhaus von ›Sikyon‹ gebaut wurde, stellte die Stadt Argos in Delphi Standbilder ihrer Helden Kleobis und Biton auf, die ein leuchtendes Exempel der Sohnesliebe dargestellt hatten: Hier präsentierte sich eine Stadt mit ihren eigenen Vertretern als Muster für ganz Griechenland. Die Stadt Naxos dagegen errichtete eine hohe Säule mit einer Sphinx, die als unheimliches Wesen der wilden Natur dies Heiligtum als Ort der göttlichen Ordnung bewachte 27. Individueller Ruhm, allgemeine Leitbilder und göttlich-mythische Machtwesen ergaben einen ständig sich wandelnden und erweiternden religiösen Raum, in dem die lebenden Menschen die Rituale ihrer Lebensordnung vollzogen. Dies ist ein Grundphänomen der antiken Bildkunst. Alle Bildwerke im antiken Griechenland und Rom, die Kultstatuen in den Tempeln, die Weihgeschenke in den Heiligtümern, die Bilder auf den Gräbern und so fort, erfüllten klar bestimmbare Funktionen, an bestimmten Orten und in bestimmten Situationen des sozialen Lebens. Überall gab es Gebräuche und Normen, Regeln und Vorschriften, die die Praxis der Aufstellung und den Umgang mit den Bildwerken bestimmten. 3 Die Rolle von Bildwerken im gesellschaftlichen Leben Wie konnten die Bildwerke diese Funktion im gemeinschaftlichen Leben erfüllen? Der eigentliche Sinn eines Bildwerks in der Antike war: ›präsent‹ zu machen. Ein Bild hat die Kraft, Personen und Gegenstände aus der Distanz des Raumes und der Zeit in die Welt der lebenden Menschen zu versetzen 28. Diese Kraft, etwas unmittelbar vor Augen zu führen, ist die wichtigste Leistung von Bildern gegenüber den in anderer Hinsicht überlegenen Texten. Dass sie nicht nur für die Antike gilt, kann ein Vorgang aus unserer eigenen Zeit belegen. Vor einigen Jahren fiel die Prinzessin Caroline von Monaco vom Pferd und erregte damit eine Flut von 27 Kleobis und Biton: Rolley 1994, 168–170; Bol 2002, 143–145 Abb. 212 a–d (D. Kreikenbom). – Sphinx der Naxier: Amandry 1953, 1–32; Bol 2002, 169 Abb. 244 a–c (D. Kreikenbom). 28 Zum Folgenden s. allgemein: Niemeyer 1996; Steiner 2001. 28 TONIO HÖL SCHER Medienberichten. Daraufhin verklagte sie mehrere Zeitschriften wegen »Verletzung ihrer äußeren Privatsphäre«. Da der Fall internationale Dimensionen annahm, ging er in verschiedenen Ländern bis in die höchsten Gerichtshöfe. In Deutschland entschied man eindeutig: Caroline sei eine Person von öffentlichem Interesse, daher sei die Berichterstattung zulässig. Differenzierter urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte: Geschriebene Reports seien zuzulassen, aber Photographien bedürften der Zustimmung der betroffenen Person. Offenbar waren die Richter der Meinung, dass Bilder ein höheres Potential der Vergegenwärtigung und damit auch der Verletzung besäßen als Texte29 . In der Antike wurden die Götter, die in weiter Ferne lebten, durch Bildwerke in den Tempeln und in den Lebensräumen der Menschen ›präsent‹ gemacht. Mythische Heroen und verstorbene Vorfahren wurden über die Distanz der Zeit in die Welt der Gegenwart versetzt. Zeitgenössische Personen von öffentlicher Bedeutung wurden in den städtischen Zentren in Bildnisstatuen vor Augen gestellt, wo sie in corpore nicht immer gegenwärtig sein konnten. Die Bildwerke stellten eine ideale Gemeinschaft von Göttern und Heroen, verstorbenen und lebenden Menschen dar, innerhalb derer die gegenwärtige Gesellschaft ihre kulturelle und ethische Orientierung definieren und ihre Lebenspraxis ausrichten konnte. Diese Kraft der Bilder, ›Präsenz‹ zu schaffen, beruht auf ihrer erstaunlichen Lebendigkeit. Mit Bildwerken ging man um wie mit lebendigen Wesen. Das gilt zunächst für die Bilder von Göttern, über die nur wenige bekannte Züge in Erinnerung zu rufen sind. Die Kultbilder aus den Tempeln wurden z. T. in Prozessionen herumgetragen, in Flüssen und an der Meeresküste rituell gewaschen, mit Duftölen gesalbt, mit Kleidern angetan und mit Schmuck ausgestattet, als wären sie die Gottheit selbst. Von Götterbildern wurde berichtet, dass sie die Köpfe bewegt, Tränen geweint oder Blut geschwitzt und damit Zustimmung oder Abweisung in bestimmten Situationen kund getan hätten. Solche Praktiken und Vorstellungen sind nicht auf eine urtümliche Frühzeit beschränkt, sondern blieben bis in späte Zeiten lebendig. Die Epheser schickten ein Bild ihrer Göttin Artemis als Gesandte nach Rom zum Kaiser Caracalla, um ihm eine Bitte vorzutragen. Die bekannte Geschichte von einem jungen Mann, der sich in das Bild der Aphrodite von Praxiteles verliebte und sich nachts mit ihr in ihrem Tempel einschließen ließ, ist nur eines von vielen Beispielen eines weit verbreiteten Topos30. Der mythische Prototyp dieser Vorstellungen ist der Ur-Bildhauer Daidalos, dessen Bildwerke angeblich gefesselt werden mussten, damit sie nicht davonliefen. Umgekehrt, und noch erstaunlicher, ist eine Stelle bei Euripides, wo die Troianerkönigin Hekabe Agamemnon um Gnade anfleht und sich wünscht, in ihren Armen, Händen, Haaren und dem Gang ihrer Füße, eine Stimme zu haben, »durch die Kunst des Daidalos oder eines 29 Stürner 2005. 30 Allgemein: Scheer 2000, 44–148; Bettinetti 2001; Steiner 2001; F. Hölscher 2004; F. Hölscher 2005; Chaniotis in Vorbereitung. – Artemis von Ephesos als Gesandte zu Caracalla: SEG XXXI 955. – Aphrodite von Knidos: Ps-Lukian, Amores 11–16. Dazu allgemein Olmos 1992. BILDERWELT, LEBENSORDNUNG UND DIE ROLLE DES BE TR ACHTERS 29 Gottes«, dass sie alle zusammen weinend seine Knie umfassten und ihm mit vielfältigen Worten ihre Klage vortrügen. Während also die Bildwerke des Daidalos voll wunderbaren Lebens sind, wird hier sogar umgekehrt die Lebendigkeit einer wirklichen Person mit der Ähnlichkeit zu einem Bildwerk des Künstlers beschworen31 . Ähnlich ›lebend‹ sind Bildwerke von menschlichen Wesen. Noch aus dem 5. Jh. v. Chr. wird berichtet, der berühmte Athlet Theagenes von Thasos habe einen persönlichen Feind gehabt, der sich nach seinem Tod an ihm rächte, indem er seine öffentliche Bildnisstatue auf der Agora täglich auspeitschte – bis das Bildwerk zurückschlug, auf ihn fiel und ihn tötete. Die Söhne des Opfers erhoben Anklage gegen das Bildwerk wegen Mordes, sie bekamen Recht und die Thasier warfen das Standbild zur Strafe ins Meer. Bald danach wurden sie von einer Hungersnot heimgesucht, woraufhin sie das Orakel in Delphi befragten und die Antwort erhielten, sie sollten alle Exilierten in die Stadt zurückholen. Das taten sie, doch die Hungersnot wiederholte sich. Auf eine neue Anfrage kam aus Delphi die Antwort, sie hätten Theagenes vergessen. Daraufhin fischten sie dessen Standbild aus dem Meer und stellten es wieder auf. Sie verehrten Theagenes’ Bild über Jahrhunderte und der Held dankte ihnen mit wirkungsvollen Heilwundern. Das ständige Hin und Her zwischen Wirklichkeit und Bildwerk bezeugt eindrucksvoll, dass die Person und ihr Bild austauschbar waren32 . Im Jahr 480 v. Chr. verurteilten die Athener Hipparch, den Sohn des Charmos, einen alten entschiedenen Gefolgsmann der inzwischen vertriebenen Tyrannen, in Abwesenheit zum Tod. Da sie seiner nicht habhaft werden konnten, vollzogen sie die Strafe, indem sie sein bronzenes Bildnis auf der Akropolis einschmolzen. Aus der Bronze fertigten sie eine Stele an, auf der sie alle politischen Verräter aufschrieben und auf der Akropolis bekannt machten33 . Das Bild war getötet worden, aber das Material schloss immer noch die Identität der Person ein und wurde darum mit den Namen derer gebrandmarkt, die seine politische Position vertraten. Sogar tote Gegenstände konnten in dieser Weise behandelt werden: Der archaische Gesetzgeber Drakon soll nicht nur Mörder aus Athen verbannt haben, sondern sogar Gegenstände, mit denen eine Person getötet worden war, aus dem Land verwiesen haben34 . Es kam vor, dass Bilder von Menschen hergestellt wurden, um Interaktion mit ihnen möglich zu machen. Als der Spartanerkönig Leonidas bei den Thermopylen fiel, konnte sein Leichnam nicht nach Sparta transportiert werden; darum fertigte man ein eidolon von ihm an, um mit ihm die Rituale des Begräbnisses zu vollziehen35 . Zwei Jahrzehnte später verurteilten die Spartaner ihren Regenten Pausanias, den Feldherrn der Schlacht 31 Daidalos: Morris 1992, 215–237; Eur.Hec 836–840. 32 Paus. 6, 11, 2–9. Standort des Bildwerks auf der Agora von Thasos: Grandjean – Salviat 2000, 76–76 (mit Lit.). Allgemein wichtig zu dem ganzen Fragenkomplex: Niemeyer 1996. 33 Lykurg. Leokrates 117–119. Krumeich 1997, 63–64. 34 Aischin.Ctes. 244; Paus. 1, 28, 11. 35 Hdt. 6, 58. Niemeyer 1996, 36. 30 TONIO HÖL SCHER bei Plataiai, wegen Verrats zum Tod. Er floh in das Heiligtum der Athena, wo er im Schutz der Gottheit nicht verhaftet werden konnte; worauf seine Mitbürger ihn Hungers sterben ließen. Als daraufhin eine Seuche ausbrach, befahl das Orakel von Delphi den Spartanern, sie sollten zum Ersatz für den einen Menschen zwei Standbilder von ihm errichten. Bezeichnenderweise wird der Begriff soma gebraucht, der sowohl den Körper des Toten als auch das plastische Bildwerk bezeichnen kann36. Ähnliche Vorstellungen waren in Kyrene in Geltung, wo ein Gesetz vorschrieb, wie man sich verhalten sollte, wenn man einen Flüchtling aufnehmen wollte, der aus einer anderen Stadt verbannt worden war. Um Frieden mit den Initiatoren der Verbannungen zu machen, sollte man Bildnisse von ihnen aus Holz oder Ton anfertigen, diese Bildnisse in das eigene Haus laden und sie mit Speise und Trank bewirten37. Weniger urtümlich, aber besonders rührend ist die Anekdote von einem athenischen Söldner, der beim Aufbruch in den Krieg sein Vermögen in die Hände der Ehrenstatue des Demosthenes auf der Agora legte – und es bei der Rückkehr unberührt vorfand. Es kommt nicht darauf an, ob die Geschichte wahr ist oder nicht: Jedenfalls wurde die bekannte Integrität des Demosthenes ohne Zögern auf sein Standbild übertragen und damit eine wirkungsvolle Schutzkraft für reales Geld geschaffen38. In diesem Sinn bewirken Bildwerke für solche Personen eine machtvolle physische ›Präsenz‹, die tatsächlich in Raum und Zeit weit entfernt waren, denen aber eine ›konzeptuelle Präsenz‹ gegeben werden sollte. Diese ›lebenden‹ Bildwerke waren bei allen Gelegenheiten und Situationen des öffentlichen Lebens gegenwärtig. In Olympia säumten die Standbilder früherer athletischer Sieger als ›Betrachter‹ und zugleich Vorbilder die Wege der Prozessionen und anderer Rituale. In Epidauros war der Platz des Altars vor dem Tempel von Standbildern gesäumt, deren Fundamente und Postamente sich erhalten haben. Damit wurde ein sakraler Raum abgegrenzt, in dem die Festgemeinde an dem Opfer teilnahm; diese Teilnehmer wurden wiederum umgeben von den Bildnissen berühmter Personen der Vergangenheit und Gegenwart, die dort eine ideale Gemeinschaft von Zuschauern bildeten. Noch eindrucksvoller ist die Situation an der Agora von Priene: Sie wurde an der Nordseite von der Prozessionsstraße durchquert; diese Straße wurde auf der einen Seite von einer treppenartigen Tribüne gesäumt, auf der anderen Seite von einer freien Zone, wo die Zuschauer der Prozessionen sich postieren konnten; und hinter ihnen erhob sich die Reihe der Ehrenstatuen bekannter Bürger, die im Bild an den Ritualen teilnahmen. Immer war da eine dichte Reihe von Bildern ›großer Männer‹, von Vorfahren und Vorbildern, die die lebenden Menschen beobachteten und ihnen ihre Leitbilder aufdrängten39 . 36 Thuk. 1, 134, 4; Paus. 3, 17, 7–9. Krumeich 1997, 156–159. 37 SEG IX 72. Niemeyer 1996, 38–39. 38 Plut.Dem. 30, 5 – 31, 2; s. o. Anm. 20. 39 Olympia: T. Hölscher 2002. Epidauros: Gruben 2001 Abb. 115. Allgemein ausgezeichnete Untersuchung zu Priene s. Bielfeldt 2012. BILDERWELT, LEBENSORDNUNG UND DIE ROLLE DES BE TR ACHTERS 31 Mit ›konzeptueller Präsenz‹ ist gemeint, dass die Bildwerke nicht magische Evozierungen der dargestellten Wesen sind. Im Gegenteil, die Schriftquellen heben sehr ausdrücklich den künstlichen Charakter dieser ›lebenden‹ Bildwerke hervor, sie betonen die Materialien, Gold oder Stein, und bezeugen die Urheberschaft berühmter Bildhauer. Es waren geschaffene Bilder mit den Komponenten des Materials und des Stils: Gerade darin – hier liegt die eigentliche Aufgabe der kunstgeschichtlichen Analyse – kommt die konzeptuelle ›soziale‹ Bedeutung dieser Gestalten zum Ausdruck. Allerdings war dies eine Bedeutung mitten im Leben: Die Funktion der Bildwerke, den dargestellten Personen und Gegenständen eine konkrete visuelle und materielle Präsenz zu geben, sollte dazu führen, dass die gegenwärtige Gesellschaft mit ihnen in konkreten Handlungen und Ritualen umgehen konnte. In diesem Sinn wurden Ehrenstatuen auf öffentlichen Plätzen an Festtagen bekränzt und auf diese Weise in die Festgemeinschaft integriert. Die Standbilder der Tyrannenmörder auf der Athener Agora wurden in öffentlichen Debatten als ideale Muster konkreten politischen Verhaltens aufgerufen. Wie geläufig das Bildwerk als Vorbild für das reale Verhalten war, zeigt eine höchst wirkungsvolle Szene in Aristophanes’ Komödie »Lysistrate«, in der die Frauen die Macht im Staat ergreifen wollen: Dort tritt der Anführer der Männer, die die öffentliche Ordnung gegen die rabiaten Frauen verteidigen wollen, mit dem erheiternden Versprechen auf, sich kämpfend neben Aristogeiton zu stellen und sogar dessen Kampfhaltung einzunehmen. Die Kehrseite der Vorbildlichkeit zeigt sich in einer Anklage-Rede des Lykurgos, der seinen Gegner Lysikles dafür beschimpft, dass er es wage, in persona auf der Agora aufzutreten, obwohl er in seiner Stadt eine Erinnerung von Schande und Ehrlosigkeit hinterlassen habe: Das ist sicher vor dem Hintergrund all der Ehrenstatuen zu sehen, die die Agora zu einem Platz politischer Tugenden machten; zu diesen Bildnisstatuen stand der lebende Lysikles in eklatantem Widerspruch 40. In diesem Sinn wurden Götter und mythische Heroen, Herrscher, Staatsmänner und Athleten, Dichter und Philosophen in den Räumen des Lebens ›konzeptuell präsent‹ gemacht. Die Toten und die Lebenden, die Abwesenden und die Gegenwärtigen bildeten eine konzeptuelle Gemeinschaft. Wenn man zusammenfassend versucht, diesen Umgang mit den Bildwerken soziologisch zu gliedern, dann lässt sich das nach drei Grundkategorien tun: Raum, Zeit und Handlung. – Sozialer Raum. Bildwerke dienten zur Ausstattung der wichtigsten Orte und Räume des sozialen Lebens: Heiligtümer, öffentliche Plätze und Gebäude, Wohnsitze, Gräber. Allgemein gab es dabei keine festgelegten Zuordnungen zwischen Räumen und Bildern, sondern ein dynamisches Wechselverhältnis. Wie der Fall von Alabanda 40 Bekränzung von Bildwerken an Festtagen: SEG VIII 529; XVIII 953, Z. 63. 71–72; XLVIII 742 B 7 (für die Hinweise danke ich A. Chaniotis). – Tyrannenmörder als Beispiel: F. Hölscher 2010. – Aristoph.Lys. 631–634. – Schande auf der Agora: Lykurg. Lysikles, Fr. XII 1. 32 TONIO HÖL SCHER – – zeigt, kam es durchaus zu Varianten in der Ausstattung von öffentlichen Plätzen: Die Agora war ein Rahmen für Bildwerke von ›öffentlicher‹ Bedeutung, aber sie legte nicht ein bestimmtes Repertoire fest. Bildwerke konnten der Agora einen spezifisch politischen, aber auch einen allgemeiner ›öffentlichen‹ Charakter unter Einschluss der agonalen Feste geben. Die Leute von Alabanda, die von Vitruv wegen ihrer ›abwegigen‹ Praxis getadelt werden, hatten in Wirklichkeit ihre eigenen Parameter. Dasselbe gilt für alle anderen Räume des sozialen Lebens. Exemplarische Untersuchungen haben für römische Wohnhäuser die dichte Interferenz zwischen der Funktion der Räume und ihrer Ausstattung mit Mosaiken und Wandbildern aufgezeigt: Räume und Bilder bedingten sich – und interpretierten sich wechselseitig 41 . Soziale Zeit. Bildwerke waren auf soziale Situationen bezogen. So unterschieden sich etwa die Diskurse über die Perserkriege stark, je nach spezifischen Anlässen. An der Athener Agora war die Schlacht von Marathon um 460 v. Chr. in einem Gemälde in der Stoa Poikile, der ›Bunten Halle‹, dargestellt, in dem die Protagonisten die Qualitäten der militärischen Führung, der tollkühnen Einsatzbereitschaft und des Selbstopfers für den Staat zur Schau stellten: Im öffentlichen Zentrum waren die heldenhaften und patriotischen Aspekte des Sieges gefragt. Kurz zuvor war auf der Bühne des Dionysos-Theaters Aischylos’ Drama »Die Perser« aufgeführt worden, in dem der griechische Sieg einen Diskurs über Hybris und Untergang auslöst: Die Tragödie war ein Ort der komplexen Reflexion auf fundamentale ethische Kategorien menschlichen Handelns. Und zur selben Zeit konnten die Teilnehmer eines Symposions über das Bild auf einer Weinkanne lachen: Hier ist die Demütigung der Perser in einen obszönen homosexuellen Missbrauch eines Orientalen umgesetzt, der den Namen Eurymedon trägt, den Ort der letzten siegreichen Schlacht gegen ein persisches Heer42 . Bildwerke waren stark bedingt von den sozialen Situationen, für die sie gemacht waren und in denen sie benutzt wurden, und sie trugen ihrerseits wirkungsvoll zu dem mentalen Klima dieser Situationen bei. Soziale Handlungen. Bildwerke waren Faktoren menschlicher Handlungen. Einerseits waren sie Objekte von Handlungen: in religiösen Ritualen oder politischen Debatten. Andererseits konnten sie selbst in die Angelegenheiten der Menschen eingreifen. Bildwerke sprechen durch ihre Inschriften die Betrachter an, etwa Grabstatuen, die Trauer oder Bewunderung für die Verstorbenen einfordern: »Bleib stehen und trauere beim Grab des schönen Kleoitas, wie schön er war und doch sterben musste«. In der römischen Kaiserzeit waren Bildwerke des regierenden Kaisers im ganzen Reich 41 In diesem Sinn grundlegende, theoretisch fundierte Untersuchungen zur Ausstattung von Privathäusern mit Mosaiken und Wandbildern: Muth 1998; Lorenz 2008. 42 Gemälde der Schlacht von Marathon: T. Hölscher 1974, 50–84; De Angelis 1996. – Aischyl.Pers.: Grethlein 2010, 74–104. – Perser-Kanne Hamburg: Schauenburg 1975; Wannagat 2001; Miller 2010. BILDERWELT, LEBENSORDNUNG UND DIE ROLLE DES BE TR ACHTERS 33 in den Räumen des politischen Lebens, der Verwaltungsgeschäfte und der Rechtsprechung gegenwärtig; hier diente die ›Präsenz‹ des Herrschers dazu, den Handlungen der Administration und der Jurisdiktion kaiserliche Autorität zu verschaffen 43 . 4 Der Status des Bildes und das Leben mit Bildern Welcher Status kommt unter diesen Umständen dem Bildwerk und welche Rolle dem ›Betrachter‹ zu? Die Funktion von Bildwerken, deren Herstellung und Wahrnehmung sowie der Umgang mit ihnen, hatten ihre Orte in konkreten Situationen des sozialen Lebens. Dieser Umstand prägt die gesamte Haltung und Einstellung zu den Bildwerken in der vormodernen Zeit. Der neuzeitliche ›museale Habitus‹ ist von der Autonomie einer ästhetischen Sphäre geprägt: Das Museum als autonomer ästhetischer Raum, ausgegrenzt aus allen anderen sozialen Kontexten; das Werk der ›Kunst‹ als autonomes ästhetisches Produkt, herausgelöst aus allen anderen Funktionen; der ›Künstler‹ als autonomer Schöpfer und der Besucher als autonomer Betrachter, beide losgelöst aus allen sozialen Bindungen und Verpflichtungen. Die ästhetischen Handlungen, die mit dieser Vorstellung von ›Kunst‹ verbunden sind, werden durch ein hohes Maß an kommunikativer Intensität geprägt: Der ›Künstler‹, der mit höchster kreativer Kraft ein Werk seiner subjektiven Vorstellung schafft; das Werk, das eine intensive Botschaft übermittelt; und der Betrachter, der das Werk mit eben so starker Intensität wahrnimmt und interpretiert und es dabei seinem eigenen kulturellen und mentalen Horizont einfügt. Der theoretische Rahmen, der dieser Situation entspricht, ist ein semiotisches Konzept der intensiven Kommunikation zwischen ›Sender‹ und ›Empfänger‹, Autor und Publikum. Es ist offensichtlich, wie grundverschieden die Situation im antiken Griechenland und Rom war. Und dieser Unterschied betrifft nicht nur die Funktionen der Bildwerke, sondern das ganze Feld der Produktion und Rezeption von Bildkunst und dazu die Begriffe, mit denen wir uns den antiken Bildwerken zu nähern versuchen. ›Museum‹ und ›Betrachter‹, ›Kreativität‹ der ›Schöpfung‹ wie der ›Interpretation‹, selbst ›Kunst‹ und ›Künstler‹: All das gab es in der Antike nicht – zumindest nicht in dem Sinn, den wir damit verbinden. Der ontologische Status des Bildwerkes war in der Antike nicht: eine intensive Botschaft von einem intensiven ›Sender‹ an einen intensiven ›Empfänger‹ zu übermitteln, sondern: ›da‹ zu sein, ›präsent‹ zu sein im Kontext des sozialen Lebens. Dem entsprechend war die Grundhaltung gegenüber Bildwerken nicht: sie mit exklusiver Intensität zu betrachten und zu interpretieren, sondern: mit den Bildwerken zu leben und an ihrer Sphäre teilzuhaben. 43 Grabepigramm des Kleoitas: Peek 1955, Nr. 1223; Jeffery 1962, 197 n. 67. – Präsenz der römischen Kaiser in ihren Statuen: Pekáry 1985, 43. 34 TONIO HÖL SCHER Damit soll gewiss nicht das grundsätzliche kommunikative Modell einer Konstellation von Sendern und Empfängern kultureller Zeichen geleugnet und auch nicht die Bedeutung der Rezeption von Bildwerken durch Individuen oder soziale Gruppen gemindert werden. Worum es geht, ist: dem ›Hersteller‹ und dem ›Wahrnehmer‹ der Bildwerke eine andere Rolle zuzuweisen – und damit auch dem Bildwerk selbst als Träger von Bedeutung einen anderen Status zuzuerkennen. Der ›Hersteller‹ von Bildwerken ist kein ›Schöpfer‹ einer Vorstellung, die ihren Sinn in sich selbst trägt und nach eigenen formalen Gesetzen entwickelt. Ebenso ist der ›Wahrnehmer‹ nicht ein intensiver Betrachter im Sinn des ›musealen Habitus‹. Auch der beliebte Begriff des »flüchtigen Betrachters«, der nur eben einmal unaufmerksam hinschaut, geht an der Sache vorbei, denn der Begriff »Betrachtung« reduziert den Umgang mit dem Bildwerk auf die reine Perzeption, und der Begriff der »Flüchtigkeit« suggeriert ein Defizit gegenüber dem Postulat einer adäquat intensiven Betrachtung. Worum es geht, ist: ›Partizipation‹ an einer gemeinsamen kulturellen ›Welt‹, im umfassenden Sinn, in dem man mit bedeutungsvollen Wesen der Lebenswelt zusammenlebt. Diese Welt umfasst mehr als den Kreis der Lebenden, die in der vorgegebenen Kontingenz des Lebens anwesend sind, zu ihr gehören auch die Götter und die Heroen der ›mythischen‹ Vorzeit, die verstorbenen Vorfahren der jüngeren Vergangenheit und die nicht präsenten bedeutungsvollen Gestalten der Gegenwart mit ihren exemplarischen Eigenschaften und Leistungen. Die Bildhauer, Maler und anderen Handwerker geben diesen Gestalten konkrete bildhafte Präsenz im Leben der Gesellschaft. »Partizipation« bedeutet Teilhabe an gesellschaftlichen Situationen, in denen Bildwerke – neben anderen Elementen – eine mehr oder minder bedeutungsvolle Rolle spielten: bei religiösen Festen, Volksversammlungen, juristischen Angelegenheiten und Handelsgeschäften auf der Agora, Begräbnisritualen, Hochzeitszeremonien, privaten Ess- und Trinkgelagen und so fort. Hier fand ›Leben mit Bildwerken‹ statt – das heißt: mit den dargestellten Gestalten und Vorgängen in ihrer ›konzeptuellen Präsenz‹. Der Umgang mit den Bildwerken wurde in solchen Situationen zum Teil in rituellen Formen geregelt. Kult-Statuen wurden mit angemessenen Riten geweiht, verehrt und gepflegt, Weihgeschenke wurden nach traditionellen Sitten aufgestellt, erhalten und entsorgt, Ehrenstatuen wurden nach strikten Gebräuchen und sogar bindenden Gesetzen beschlossen und errichtet. Diese Regulierungen sind grundlegend für ein richtiges Verständnis der Bildwerke als Elemente des sozialen Lebens. Normalerweise aber müssen Bildwerke bei diesem Umgang in derselben Weise wahrgenommen worden sein wie andere Elemente der sozialen Räume und Situationen. In der Regel waren die Menschen ja mit anderen Dingen beschäftigt: mit den Entscheidungen in den Volksversammlungen, den Rechtsfällen der Gerichtshöfe, den Handelsgeschäften, den Ritualen des Götterkults und der Totenverehrung und so fort. Dabei konkurrierten die Bilder mit anderen Personen und Gegenständen um Aufmerksamkeit. Die lebenden Menschen konnten ihnen starke, aber auch nur schwache Beachtung schenken. BILDERWELT, LEBENSORDNUNG UND DIE ROLLE DES BE TR ACHTERS 35 Auf der einen Seite konnten die Bildwerke stärksten Eindruck und höchste Bewunderung erregen. Das Standbild des Theagenes ist für die Bürger von Thasos über lange Zeit zum kollektiven Schicksal geworden; der Anführer der Männer in Aristophanes’ »Lysistrate« nimmt das Bild des Aristogeiton als exemplarisches Verhaltensmuster in den eigenen Körper auf: Beides sind Zeugnisse für höchst intensives Sehen. Und noch Jahrhunderte später wünscht sich Asinius Pollio, dass die Besucher seines Wohnsitzes die dort aufgestellten Bildwerke »vehementer« anschauen 44 . Bei diesem intensiven Sehen spielten auch die formalen, stilistischen Aspekte der Bildwerke eine große Rolle: Sie waren es ja, die der ›Präsenz‹ der Gestalten und Vorgänge ihre Evidenz und Wirkung gaben. Hier liegt die Wurzel für ästhetische Diskurse, Reflexionen und Theorien zur antiken Bildkunst, die seit der klassischen Zeit Griechenlands bis in die römische Kaiserzeit zu einer gewissen Komplexität geführt wurden. Allerdings blieben diese theoretischen Diskurse in der Regel – explizit oder implizit – den Themen und Funktionen der Bildwerke untergeordnet: Der Stil war nicht ein autonomer Ausdruck einer individuellen schöpferischen Kreativität, sondern in der formalen Gestaltung wurden die Qualitäten und Aspekte zum Ausdruck gebracht, um derentwillen die Bildgegenstände, d. h. die dargestellten Gestalten und Vorgänge, ›Bedeutung‹ im Lebenskontext der Gesellschaft erhalten sollten. Museen im modernen Sinn, als Räume einer reinen Betrachtung von ›Kunst‹, gab es nicht. Auf der anderen Seite aber muss die Wahrnehmung von Bildwerken oft sehr viel weniger intensiv gewesen sein: Die Menschen konnten sie einfach als Gegebenheit hinnehmen, sie tolerieren, sie nur gelegentlich bemerken oder sie auch völlig ignorieren. Kurzum: Sie müssen sich zu den Bildwerken wie zu anderen Personen und Gegenständen des Lebens verhalten haben. Partizipation findet in Akten von mehr oder minder starker Aufmerksamkeit statt. Die Aufmerksamkeit wird von den Situationen und Diskursen der Gesellschaft und ihrer Individuen gesteuert. Dabei konnten sie den Gestalten und Vorgängen der Bilder größere oder kleinere Bedeutung beimessen. Nur selten allerdings werden die Menschen in der Antike die Bildwerke in unserem Sinn intensiv, d. h. ›um ihrer selbst willen studiert‹ und interpretiert haben. 4.1 Dichte Bedeutung und schlechte Sichtbarkeit Dies alles hat auch Folgen für die Sichtbarkeit der Bildwerke, die von einer eigentümlichen Ambivalenz geprägt ist. Die Standbilder von Athleten und Staatsmännern waren in den öffentlichen Räumen so aufgestellt, dass sie gut sichtbar waren für alle, die sie sehen wollten und sollten: Hier führte die kompetitive Situation des Strebens nach öffentlichem Ansehen zu einer Aufstellung in den Brennpunkten des Lebens. Auch die Standbilder der Götter und Heroen, ebenso wie die Vielzahl der Votivbilder in den Heiligtümern und 44 36 Plin.nat. 36, 33. Vgl. Cic.Att. 1, 9, (5.)2 (für die Hinweise danke ich A. Bravi). TONIO HÖL SCHER nicht zuletzt die Statuen und Reliefs der Verstorbenen auf den Gräbern, wurden wegen ihrer exemplarischen Bedeutung nahsichtig für die Lebenden positioniert. Das ›Leben mit‹ diesen Bildwerken war ›auf Augenhöhe‹ möglich. Daneben aber gab es viele Bildwerke, die erstaunlich wenig Rücksicht auf Sichtbarkeit nahmen. Das ist für unser Verständnis von ›Kunst‹ als visueller Botschaft irritierend und die Forschung ist diesem Phänomen darum auch gewöhnlich ausgewichen. Ein Verständnis dessen, was Bildkunst in Griechenland war, ist jedoch nur möglich, wenn wir uns diesem Phänomen stellen 45 . Das Schatzhaus von ›Sikyon‹, das vermutlich auf allen Seiten mit Metopen geschmückt war, kann in Delphi bestenfalls von drei Seiten sichtbar gewesen sein. Das Schatzhaus von Siphnos jedenfalls war an dem Prozessionsweg so positioniert, dass man es zunächst von der Rückseite sah, dann die eine Längsseite passierte, sich schließlich zur Frontseite umwenden musste – und die abgewandte Längsseite überhaupt nicht sehen konnte. Dasselbe gilt sogar für das politisch anspruchsvolle Schatzhaus von Athen. Die ›Bild-Programme‹ solcher Bauwerke stellten zwar eine komplexe Konstellation von Themen dar – diese konnten aber nur reduziert wahrgenommen werden. Dies Paradox zeigt sich in aller Klarheit an dem größten und komplexesten Ensemble der griechischen Bildkunst, dem Parthenon 46. Wer sich dem Bau näherte, blickte wahrscheinlich zuerst auf die großen Giebelkompositionen, die Athena als Herrin des Tempels in den Vordergrund stellten: im Osten ihre Geburt im Kreis der Götter, im Westen ihren Sieg über Poseidon im Wettstreit um die Herrschaft über Athen. Um diese Beziehung der beiden Themen zueinander zu realisieren, muss man sich zunächst von einer Fassade zur anderen bewegen. Schwieriger wird es schon bei den Metopen, die sich um alle vier Seiten ziehen und einen kohärenten Zyklus von Mythen schildern: Die Götter im Kampf gegen die Giganten, die heroischen Lapithen gegen die Kentauren, die Athener gegen die Amazonen und die griechischen Helden gegen Troia. Sie ergänzen einander gegenseitig zu einer hochbedeutsamen Sequenz von archetypischen Kämpfen griechischer Götter und Heroen gegen Feinde der griechischen Kultur. Dieser Zyklus erschließt sich nur beim völligen Umkreisen des Baues. Mit noch größeren Schwierigkeiten war der Fries zu betrachten, der sich innerhalb des Säulenkranzes um die Cella zog. Er schilderte mit vielen Details die große Prozession der athenischen Bürgerschaft zum Fest der Athena. Wer das verfolgen wollte, musste noch einmal neu ansetzen, musste an der Ecke im Südwesten anfangen, den Tempel zunächst im Westen und Norden bis zum Ziel des Zuges im Zentrum der Ostseite umschreiten, dann vom selben Ausgangspunkt noch einmal die Südseite passieren bis zur Ostseite, um zu begreifen, dass die Prozession den Bau auf beiden Seiten in zwei parallelen Zughälften umschritt. Es ist schwer denkbar, dass viele Besucher der Akropolis diese Folge von komplexen Bewegungen vollzogen haben. 45 46 Zum Folgenden s. T. Hölscher 2009, 54–57. Zum Folgenden s. T. Hölscher 2009, 54–57. Unabhängig in ähnlichem Sinn: Marconi 2009. BILDERWELT, LEBENSORDNUNG UND DIE ROLLE DES BE TR ACHTERS 37 Der Fries war zudem nur in großer Höhe und im Halbdunkel des Umgangs zu betrachten, in den, anders als in der heutigen Ruine, kein Licht von oben fiel. Wer das Friesband in seiner Längserstreckung verfolgen wollte, musste in den Säulenumgang eintreten, wo aber der äußerst steile Sichtwinkel jede genauere Betrachtung verhinderte. Ein flacherer Ansichtswinkel ergab sich von außen, doch hier wurde die Folge der Prozession in kurzen Abständen von den Säulen unterbrochen. Sicher nicht erkennbar waren die vielen signifikanten Details. So ist die Kavalkade der verwirrend gestaffelten Reiter in zehn Gruppen gegliedert, die offenbar die zehn attischen Phylen darstellen; doch die subtilen Charakterisierungen durch Einzelheiten der Kleidung und Ausrüstung können unter den genannten Sichtbedingungen nicht unterscheidbar gewesen sein. Überhaupt war der bildliche Schmuck griechischer Architektur außerordentlich Betrachter-unfreundlich. Das gilt insbesondere für die zentralen Bauten griechischer Städte: die Tempel. Hier waren Bildwerke entweder in den monotonen Reihen der Metopen oder in den endlosen schmalen Friesen oder schließlich in den flachen Dreiecken der Giebel angebracht. All diese Bildformate sind denkbar schlecht geeignet, um wichtige Bildthemen wirkungsvoll einem Betrachter vor Augen zu führen. Darüber hinaus sind die Bilder in großer Höhe angebracht, was einen Blick aus weiter Entfernung und/oder aus steilem Winkel bedingt. Keine Frage also, dass all die vielen bedeutungsvollen Details kaum wahrzunehmen waren, vor allem während der religiösen Rituale, die die Aufmerksamkeit weitgehend anderweitig beansprucht haben müssten. Hier wird ein Grundzug griechischer Bildkunst deutlich, den man auch sonst immer wieder antrifft. Viele Bildwerke der griechischen Kunst nehmen erstaunlich wenig Rücksicht auf den Betrachter. Die schönsten griechischen Vasen wurden den Toten in die Gräber mitgegeben, wo sie niemand mehr zu sehen bekam. Wertvolle Gemmen mit eingeschnittenen Bildern wurden in Ringen am Finger getragen, wo sie sich, bei ständiger Bewegung der Hand und in ihrem Miniaturformat, keinem normalen Blick darboten. Und noch das größte politische Denkmal Roms, die Traianssäule, entfaltet ihren vielszenigen Bildbericht der Kriege Traians gegen die Daker in einer Höhe und in einer steilen Ansicht, in der kein menschliches Auge die höchst komplexen politischen Aussagen wahrnehmen konnte. An die gotischen Kathedralen mit ihrem Bildschmuck in großer Höhe muss nur ›im Vorbeigehen‹ erinnert werden. Was sagt dies Paradox über die Bildwerke aus? Und was über die Formen, mit diesen Bildwerken zu leben? Auch hier ist das Konzept des ›Lebens mit Bildern‹ hilfreich. Der griechische Begriff für architektonischen Bildschmuck war »kosmos«. Dieser Begriff bezeichnet Schmuck, zugleich aber auch die richtige, angemessene, sinnvolle Ordnung, die die Bild- und Bauwerke miteinander ergeben 47. Man kann von hier aus 47 38 Marconi 2004. TONIO HÖL SCHER die Brücke zu den lateinischen Begriffen »ornamentum« und »decor« schlagen, die die Grundlage einer fruchtbaren, weit mehr als ästhetischen Theorie bilden. Das kann hier nur knapp skizziert werden. Das Schatzhaus von ›Sikyon‹ wie der Parthenon tragen reichen Bildschmuck und sind zugleich reiche, geordnete Bilderwelten. Dasselbe gilt auch für die Ausstattung von Lebensräumen mit Bildern: Auf der Agora bildeten die Standbilder von Staatsmännern, mythischen Heroen und Göttern eine ideale Ordnung des Gemeinwesens; in den Heiligtümern schlossen sich die geweihten Bildwerke zu einem Sinngeflecht religiöser Vorstellungen zusammen; in den Nekropolen stellten Bilder die soziale Welt der Verstorbenen in den Rahmen von Leben und Tod. Überall entstanden bildhafte Konzepte eines Kosmos, die zugleich ›Schmuck‹ und ›Ordnung‹ sind. Diese Ordnungen aber hatten zu einem gewissen Grad ihr eigenes Leben, unabhängig von den Menschen, die in ihnen lebten. Die Götter, mythischen Heroen und berühmten Menschen, die in den Bildwerken gegenwärtig gehalten wurden, entfalteten ihre primäre Wirkung zunächst durch ihre reine Präsenz. Weil die Gestalten der Bildkunst so unmittelbar präsent waren, besaßen sie eine gewisse Autonomie gegenüber dem Betrachter. Sie ›sind da‹ und stellen eine ›Bilder-Welt‹ dar, auch wenn die lebenden Menschen sie nur eingeschränkt oder gar nicht sehen konnten bzw. sie nur eingeschränkt wahrnahmen oder gar ignorierten. Die Menschen waren nicht ständig mit dem intensiven Betrachten, Verstehen und Interpretieren der Bildwerke beschäftigt. Sie ›lebten‹ mit den Bildern. Die Bildwerke waren mehr als zielgerichtete Botschaften von bestimmten Autoren/ Sendern an bestimmte Empfänger. 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These rites were presumably connected with the increasing aridisation of the climate and with prayers for water and fertility. The important thing here was no longer so much the picture, the geoglyph, but rather the activities performed upon them, activities in which other media now came to assume the role of image bearer. 1 Einführung Die Geoglyphen zwischen Palpa und Nasca an der Südküste Perus, auch als ›NascaLinien‹ bekannt, sind ein in Art und Umfang einzigartiges Beispiel prähistorischer Landschaftsgestaltung. Mehr als 500 km2 der Steinwüste des Nasca-Beckens am Fuße der Anden (Abb. 1) wurden zwischen ca. 350 v. Chr. und 700 n. Chr. durch die damaligen Bewohner der Region mit Bodenzeichnungen überzogen und damit nach ihren kulturellen Konzepten und Bedürfnissen großflächig und dauerhaft umgestaltet. Die verwendete Technik der Steinumlagerung war dabei denkbar einfach; die Lage in der Wüste, wo natürliche Erosion und sonstige menschliche Nutzung nur eine geringe Rolle spielen, trug zur weitgehenden Erhaltung dieser Bodendenkmäler bei. Über Funktion und Bedeutung der Geoglyphen sind uns keinerlei Informationen überliefert. Aus vorspanischer Zeit existieren für ganz Südamerika keine Schriftquellen; zudem wurde die Geoglyphentradition bereits viele Jahrhunderte bevor spanische und einheimische Chronisten nach der Conquista (ab 1532 n. Chr.) kulturelle und religiöse Eigenheiten des Andenraumes beschrieben aufgegeben. Somit konnte nach der Wiederentdeckung der Geoglyphen durch Wissenschaftler in den 1920er Jahren zunächst allein ihre Gestalt Anhaltspunkte zu ersten Interpretationen liefern. Dazu trug der damals aufkommende Flugverkehr entscheidend bei. Erst aus der Vogelperspektive wurden Ausmaß und Bedeutung des Geoglyphen-Phänomens erkannt und so bestimmte die Sicht von oben, die einen Überblick über die Geoglyphen erlaubte, viele Deutungsversuche1 . Aus der Vogelperspektive erscheinen die großflächig 1 Horkheimer 1947; Kosok – Reiche 1947. VON BILDERN ZU BÜHNEN: DIE GEOGLYPHEN VON PALPA UND NA SC A 47 über den Wüstenboden ausgebreiteten Geoglyphen wie auf eine Wandtafel gemalt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Geoglyphen häufig als Bilder aufgefasst und gedeutet werden. Dies liegt besonders bei einigen figürlichen Geoglyphen nahe, die in der Tat leicht als Abbildungen von Tieren zu erkennen sind. Dazu zählen so bekannte Figuren wie Kondor, Hund, Spinne, Kolibri, Affe, Eidechse und Pelikan, die meisten davon auf den Pampas von Nasca zwischen Río Ingenio und Río Nasca 2 . Diese figürlichen Darstellungen prägen auch heute noch das Bild der Geoglyphen in der Öffentlichkeit, da sie das wichtigste Ziel der täglichen touristischen Flüge über die Pampas von Nasca sind. Eine simple Interpretation der Geoglyphen als Abbildung natürlicher Objekte greift jedoch deutlich zu kurz. Das wird schon allein dadurch klar, dass die figürlichen Geoglyphen trotz ihres hohen Bekanntheitsgrades nur einen Bruchteil des Corpus ausmachen. In diesem Corpus dominieren stattdessen geometrische Geoglyphen, die aus Linien und Flächen in verschiedenen Größen und Formen gebildet werden. Diese Bodenzeichnungen können nicht einfach als Bilder angesprochen werden, da sich ihre Formensprache stark von der vorspanischen Ikonographie der Region unterscheidet, die von Keramik und Textilien bestens bekannt ist. Zudem entspricht die Vogelperspektive nicht der Perspektive der Erbauer und Nutzer, die die Geoglyphen am Boden konzipierten, anlegten und erlebten. Zwar sind alle Geoglyphen am Boden als solche erkennbar, doch können viele von ihnen, seien es figürliche Darstellungen oder geometrische Kombinationen, nicht gänzlich überblickt und daher auch nicht wie Bilder betrachtet werden. Nachdem ab den 1940er Jahren die Geoglyphen sukzessiv auch am Boden kartiert und untersucht wurden, rückten die zahlreichen Linien, Trapeze und anderen geometrischen Geoglyphen und damit auch ein anderer Deutungsansatz in den Mittelpunkt der Diskussion3 . Die Geoglyphen wurden nun als ein gigantischer astronomischer Kalender verstanden 4 . Man nahm an, dass Linien und Trapeze auf Punkte am Horizont wiesen, an denen zu kalendarisch bedeutsamen Daten die Sonne oder andere Himmelskörper aufbzw. untergingen oder ihren Zenit durchschritten. Diese astronomische Hypothese hatte den Vorzug, dass sie von der Bodenperspektive ausging und – in der Rolle des Betrachters – auch die Erbauer und Nutzer der Geoglyphen einbezog. Der damalige Kenntnisstand über die Kulturgeschichte der Nasca-Region blieb jedoch weitgehend unberücksichtigt. Verschiedene Untersuchungen in den folgenden Jahrzehnten ergaben dann auch, dass die Orientierung der großen Mehrheit der geometrischen Geoglyphen nicht mit astronomischen Konstellationen erklärt werden kann5 . Aus der Sicht jüngerer Ansätze der Landschaftsarchäologie6 weisen bisherige Deutungsversuche das Manko auf, dass sie die soziale Dimension der Anlage und Nutzung 2 3 4 5 6 48 Aveni 1990; Aveni 2000; Clados 2006. Reiche 1949. Reiche 1993. Aveni 1990 Knapp – Ashmore 1999; Gramsch 2003; David – Thomas 2008. K ARS TEN L AMBERS der Geoglyphen vernachlässigen. Zum einen sind die damaligen Bewohner der Region als handelnde Akteure stärker in den Blick zu nehmen. Sowohl der erhebliche Arbeitsaufwand, der zur Anlage der Geoglyphen notwendig war, als auch die konkret umgesetzten Formen und Merkmale der Geoglyphen mussten kulturell eingebettet und sozial legitimiert sein. Die auf den Geoglyphen anzunehmenden Aktivitäten, die sich nicht auf reine Beobachtung beschränkt haben dürften, sind zu rekonstruieren und auf ihre soziale und kulturelle Rolle hin zu untersuchen. In der Tat fanden schon die frühen Erforscher der Geoglyphen zahlreiche Hinweise auf solche Aktivitäten, ohne sie jedoch stärker in ihre Interpretationen einzubeziehen7. Zum anderen definieren Akteure auch soziale Räume, Aktivitäten auch Handlungsräume in der Wüste8. Es ist also von einem erweiterten Raumkonzept auszugehen, das nicht nur durch natürliche, sondern auch durch soziale und kulturelle Parameter definiert wird. In diesem Sinne gibt das Thema »Bild – Raum – Handlung« der Berliner Topoi-Tagung einen geeigneten Rahmen für eine zeitgemäße Interpretation der Geoglyphen vor. Eine gute Grundlage, um solchen Fragen nachzugehen, boten die zwischen 1997 und 2004 vom Archäologischen Projekt Nasca-Palpa durchgeführten archäologischen Untersuchungen der Geoglyphen von Palpa im nördlichen Teil des Nasca-Beckens9. Im Folgenden werden zunächst das Nasca-Becken selbst, sodann die frühen biomorphen Geoglyphen der Paracas-Zeit und schließlich die geometrischen Geoglyphen der Nasca-Zeit in der Umgebung von Palpa vorgestellt und in ihrem räumlichen und sozialen Kontext interpretiert. Die zugrundeliegenden archäologischen Daten wurden bereits an anderer Stelle vorgelegt 10. 2 Das Nasca-Becken Das Nasca-Becken in Süd-Peru (Abb. 1) befindet sich in einem nur ca. 50–70 km breiten Wüstenstreifen zwischen der Pazifikküste im Südwesten und der Andenkordillere im Nordosten. Obwohl in der Nähe des Meeres gelegen, ist es von diesem durch eine 7 Ausnahme: Horkheimer 1947. 8 Vgl. Llobera 1996. 9 Das Archäologische Projekt Nasca-Palpa wurde 1997 initiiert und mit verschiedenen Schwerpunkten bis heute fortgeführt. Es wird geleitet von Markus Reindel (Bonn) und Johny Isla (Lima). Beteiligt sind u. a. das DAI, die ETH Zürich, die Universität Heidelberg und weitere Institutionen (s. den Überblick in Reindel – Wagner 2009, auf deren Band auch die im Text genannten Datierungen beruhen). Die Finanzierung erfolgte zunächst durch die SLSA, Zürich, sodann durch das BMBF, Bonn; weitere Beiträge zu den hier beschriebenen Arbeiten kamen vom DAI, der ETH und der Universität Zürich. Für die enge und fruchtbare Zusammenarbeit bei der Erforschung der Geoglyphen von Palpa danke ich den Projektleitern Markus Reindel und Johny Isla, den Betreuern meiner Dissertation, Philippe Della Casa und Armin Grün, sowie meinen Kollegen Martin Sauerbier, Sabine Beutner, Juan Carlos De La Torre, Alfredo Bautista und Alejandra Figueroa. 10 Lambers 2006; Reindel et al. 2006. VON BILDERN ZU BÜHNEN: DIE GEOGLYPHEN VON PALPA UND NA SC A 49 niedrige Küstenkordillere getrennt und befindet sich mit 300–600 m deutlich über dem Meeresspiegel, so dass es sich eigentlich nicht um eine Küstengegend handelt. Wie in fast ganz Peru und in weiten Teilen Nordchiles herrschen im schmalen Landstreifen zwischen Küste und Anden extrem aride Bedingungen. Saisonale Regenfälle in den Anden speisen jedoch eine Reihe von Flüssen, die die Wüste durchschneiden und in den Pazifik entwässern. In der Nasca-Region fließen diese vor der Küstenkordillere zunächst im Río Grande zusammen, bevor dieser Fluss als einziger das Meer erreicht. So ergibt sich eine an der peruanischen Küste einzigartige Beckensituation. Dieses Becken wurde bis vor ca. 45.000 Jahren mit unterschiedlich groben Sedimenten angefüllt, die von der Andenwestabdachung aberodierten und am Andenfuß flache Fußflächen und Schwemmkegel ausbildeten11 . In diese mächtigen Ablagerungen schnitten sich in der Folgezeit die Flüsse ein, so dass die heutigen Flusstäler deutlich unter dem Niveau der Fußflächen liegen. Auf diese Weise entstand am Andenfuß die charakteristische Landschaft aus wüstenhaften, annähernd flachen Fußflächen (pampas), die von Trockentälern (quebradas) und fruchtbaren Flussoasen unterbrochen werden. Die Flusstäler mit ihren saisonal Wasser führenden Flüssen und fruchtbaren Böden stellten schon immer die Lebensgrundlage für die ansässige Bevölkerung dar und tun dies bis heute. In der Paracas-Zeit (800–200 v. Chr.) und der Nasca-Zeit (120 v. Chr. – 620 n. Chr.), um die es im Folgenden geht, wurde jedoch durch die Anlage von Geoglyphen auch die Wüste in die kulturelle Domäne der Gesellschaft einbezogen. Die Geoglyphen konnten leicht angelegt werden, da sich an der Oberfläche der Ablagerungen, die die Beckenfüllung bildeten, durch Ausblasen des Feinsedimentes ein dichtes Wüstenpflaster aus rotbraun oxidierten Steinen auf einer Schicht helleren und lockereren Sedimentes gebildet hatte12 . Zur Anlage von Bodenzeichnungen mussten lediglich die dunklen Steine aufgesammelt und an anderer Stelle deponiert werden, um einen starken Kontrast zwischen dem originalen Wüstenpflaster und dem exponierten helleren Sediment zu erzielen. Wo das freigelegte Sediment nicht durch häufige Begehung stark kompaktiert war, wurde es zwar durch Winderosion nach und nach beeinträchtigt, so dass die Stärke der Erosionsspuren einen ersten Hinweis auf das relative Alter der Geoglyphen geben kann. Aber insgesamt blieben die Geoglyphen bemerkenswert gut erhalten, da trotz diverser Klimaschwankungen die Kernzone der Geoglyhen seit der Nasca-Zeit weitgehend frei von Niederschlägen blieb13 . Ihre größte Bedrohung stellt heute neben den sehr seltenen Regenfällen die Nutzung des Geländes durch den Menschen dar. Des Weiteren ist der Naturraum des Nasca-Beckens von Elementen in der Umgebung geprägt, die für sein Verständnis wichtig sind 14 . Der Horizont wird durch die das Becken 11 12 13 14 50 Mächtle 2007. Eitel et al. 2005. Eitel – Mächtle 2009. Mächtle 2007. K ARS TEN L AMBERS Abb. 1 | Das Nasca-Becken in Süd-Peru zwischen Pazifik und Anden. bildenden Hügel und Berge in allen Himmelsrichtungen definiert, vor allem durch die massive, die Pampas überragende Andenkordillere im Nordosten. Aus dieser erreichen die so wichtigen Flüsse das Becken; sie bieten zudem schon in kurzer Entfernung die Täler hinauf deutlich feuchtere Bedingungen und damit ergänzende Ressourcen. Das Meer im Südwesten ist zwar nicht sichtbar, bestimmt aber mit dem vorherrschenden Wind aus dieser Richtung, der oft Wolken, manchmal auch Sandstürme mit sich bringt, dennoch den Charakter des Naturraumes mit. Auch das Meer bietet in erreichbarer Nähe Ressourcen, die in den Flusstälern des Nasca-Beckens sonst nicht vorhanden wären. Jüngste Forschungen in Palpa ergaben erste Hinweise auf menschliche Präsenz im Archaikum (ab 3500 v. Chr.) sowie eine permanente Besiedlung spätestens seit der Initialperiode (ab 1500 v. Chr.)15 . Ein starkes Bevölkerungswachstum und eine erste kulturelle Blüte erfolgte zur Zeit des Frühen Horizontes, als die Paracas-Kultur (800–200 v. Chr.) in einem weitläufigen kulturellen Austausch mit anderen Regionen des Andenraumes stand. Nach einer Übergangsphase, der sog. Nasca-Initialzeit (120 v. Chr. – 90 n. Chr.), setzte sich diese Blüte in der Frühen Zwischenperiode mit der Nasca-Kultur (90–620 n. Chr.) fort, die sich durch einige technologische Innovationen auszeichnete und deren 15 Reindel 2009; Isla 2012. VON BILDERN ZU BÜHNEN: DIE GEOGLYPHEN VON PALPA UND NA SC A 51 polychrome Keramik zu den Höhepunkten der Handwerkskunst im vorspanischen Andenraum zählt. Gegen Ende der Nasca-Zeit führte jedoch die fortschreitende Aridisierung zu einer Verlagerung der Bevölkerungsschwerpunkte vom Andenfuß in Richtung Osten, d. h. die Täler aufwärts. Aus dem Mittleren Horizont (620–1000 n. Chr.) sind daher zumindest aus der Region Palpa nur wenige Spuren menschlicher Aktiväten erhalten. Auf diese teilweise Entvölkerung folgte erst in der Späten Zwischenperiode ab ca. 1150 n. Chr. aus den Anden heraus eine Neubesiedlung mit einer weiteren kulturellen Blüte, bevor die Nasca-Region im 15 Jh. zunächst ins Inka-Imperium und dann im 16. Jh. in das spanische Kolonialreich eingegliedert wurde. 3 Die Geoglyphen Die Geoglyphen der Paracas- und Nasca-Zeit in der Umgebung der heutigen Stadt Palpa im nördlichen Teil des Nasca-Beckens wurden zwischen 1997 und 2004 näher untersucht. Palpa liegt in einer weiten Schwemmebene, die von zwei Zuflüssen des Río Grande gebildet wird. Während im Westen eine Hügelkette die Grenze des Beckens markiert, ist Palpa im Norden, Osten und Süden von Fußflächen umgeben. Diese nehmen zwar nicht Ausmaße an wie die ca. 40 km südlich gelegenen, besser bekannten Pampas von Nasca, bieten jedoch besonders südlich von Palpa viel Raum für die Anlage von Geoglyphen, der auch ausgiebig genutzt wurde. In dieser Umgebung wurden auf einer Fläche von 89 km 2 auf der Grundlage von speziell dafür angefertigten Luftbildern mehr als 1500 Geoglyphen photogrammetrisch kartiert. Ein großer Teil der kartierten Geoglyphen wurde sodann im Gelände begangen, beschrieben und archäologisch untersucht. Die Feldarbeiten umfassten die Dokumentation von Spuren menschlicher Aktivitäten und Oberflächenfunden 16, Magnetfeldmessungen auf ausgewählten Geoglyphen 17 sowie kleinräumige Ausgrabungen von Steinplattformen auf und neben einigen Geoglyphen 18. Damit liegt nun erstmals für ein Teilgebiet des Nasca-Beckens eine flächendeckende Kartierung und Dokumentation der Geoglyphen vor. Die Auswertungsarbeiten umfassten die Erstellung einer Typochronologie der Geoglyphen, die Interpretation von Funden und Befunden im Hinblick auf die Rekonstruktion menschlicher Aktivitäten, eine virtuelle 3-D-Modellierung der Geoglyphen und des Geländes, GIS-gestützte räumliche Analysen und schließlich eine kulturgeschichtliche Einordnung und Interpretation 19. Die Geoglyphen von Palpa sind einerseits Teil desselben kulturellen Phänomens wie die bekannteren Geoglyphen auf den Pampas von Nasca weiter südlich 20. Das grund16 17 18 19 20 52 Lambers 2006. Gorka et al. 2007. Reindel et al. 2006. Lambers 2006. Aveni 1990; Reiche 1993. K ARS TEN L AMBERS legende Repertoire an Formen und Typen, die Konstruktionstechniken, die assoziierten Funde und Befunde und damit auch der chronologische Rahmen sind hier wie dort weitgehend gleich. Die Geoglyphen von Palpa weisen jedoch einige lokale Besonderheiten auf. So finden sich hier nur wenige der eingangs erwähnten bekannten Tierfiguren, wie sie vor allem am Nordrand der Pampas von Nasca vorkommen. Dies ermöglichte eine Fokussierung der Untersuchungen auf die viel häufigeren geometrischen Geoglyphen. Wie erst im Laufe der Untersuchungen klar wurde, sind allerdings in Palpa anthropomorphe Figuren, die überwiegend aus frühen Phasen stammen, in größerer Zahl vertreten. Durch die größere zeitliche Tiefe konnten Ursprung und Entwicklungsgeschichte der Geoglyphen in Palpa besonders gut nachvollzogen werden. 3.1 Biomorphe Geoglyphen der Paracas-Zeit Während der überwiegende Teil der Geoglyphen in Palpa zur Nasca-Zeit angelegt wurde (120 v. Chr. – 620 n. Chr.), sind in den Trockentälern zwischen den Fußflächen auch zahlreiche Geoglyphen aus der Paracas-Zeit erhalten (800–200 v. Chr.)21 . Die Bedeutung dieser Befundgattung wurde erst im Laufe der Projektarbeiten erkannt, weil die frühen Bodenzeichnungen oftmals in einem schlechten Erhaltungszustand sind. Dies hängt nicht nur mit ihrem höheren Alter, sondern auch mit einer weiteren Eigenschaft zusammen, die für diese Befunde typisch und ein wesentlicher Schlüssel zu ihrem Verständnis ist. So finden sich praktisch alle frühen Geoglyphen in Hanglage (Abb. 2), wo sie stärker als anderswo der natürlichen Erosion ausgesetzt sind – dies im Gegensatz zu späteren Geoglyphen, die zumeist auf den ebenen Fußflächen angelegt wurden. Die Hanglage korrespondiert auch mit einer geringeren Größe der frühen biomorphen Geoglyphen, die zwischen 5 und 30 m beträgt, im Gegensatz zu teils mehreren Kilometer langen Linien und Trapezen auf den Fußflächen. Der essentielle Unterschied zu späteren Geoglyphen besteht jedoch in den Motiven. Dargestellt sind – neben einigen Tieren (Vögel, Katzen, Fische) und rituellen Gegenständen (tumi, ein Zeremonialmesser) – anthropomorphe Wesen, teils in Frontalansicht, teils in Seitenansicht, wobei das Gesicht immer dem Betrachter zugewandt ist (Abb. 2). Es handelt sich um mit nur wenigen geräumten Linien und Steinanhäufungen ausgeführte Figuren, die häufig einen auffälligen Kopfputz tragen, manchmal Gegenstände in den Händen halten, gelegentlich jedoch auch nur als Kopf ausgeführt sind. Vergleichbare, oft bis in Details übereinstimmende Figuren sind von Textilien der Paracas-Kultur bekannt, die als Teil von Mumienbündeln an Bestattungsplätzen in der trockenen Küstenwüste erhalten blieben22 . Dargestellt sind darauf teils Menschen, teils Mischwesen mit 21 22 Isla – Reindel 2007. Chamorro 2009. VON BILDERN ZU BÜHNEN: DIE GEOGLYPHEN VON PALPA UND NA SC A 53 menschlichen, tierlichen und übernatürlichen Zügen, die aufgrund ihrer Merkmale und Paraphernalia als Ahnen, Priester oder Schamanen oder auch als übernatürliche Kräfte oder Gottheiten gedeutet werden23 . Bei einer Figur mit auffällig betonten Augen handelt es sich um das sog. Augenwesen (Ser Oculado bzw. Oculate Being), das als wichtigste Figur im Pantheon der Paracas-Kultur gedeutet wird 24 und als Vorläufer des zur Nasca-Zeit in der Ikonographie häufig vertretenen ›Anthropomorphen Mythischen Wesens‹ gilt (Ser Mítico Antropomorfo bzw. Anthropomorphic Mythical Being oder »AMB«)25 . Diese Motive wie auch der Grabkontext der Textilien deuten auf einen im weitesten Sinne kultischen Zusammenhang hin. Vergleichbare Motive finden sich zudem auf Paracas-Keramik sowie in einfacherer Form auf Felsbildern der Paracas-Zeit 26. Letztere Parallele ist deshalb wichtig, weil sie auf den wahrscheinlichen Ursprung der frühen Geoglyphen hinweist. Die Paracas-Petroglyphen finden sich im Gelände auf einzelnen Felsblöcken oder Felswänden fast immer in Hanglage. Diese topographische Situation entspricht derjenigen der frühen Geoglyphen. Vermutlich entstand die Geoglyphen-Tradition also aus einer Übertragung bekannter Motive, die bereits auf Textilien, Keramik und auch Felsen ausgeführt wurden, auf die steinige Oberfläche des Wüstenbodens. Es ist naheliegend anzunehmen, dass die Kontexte, aus denen diese Motive ursprünglich stammten, auch zur Interpretation der frühen Geoglyphen beitragen können. Zwar handelt es sich um sehr verschiedene Kontexte: im Falle der Textilien um aufwendige, festen Mustern folgende Bestattungszeremonien 27, im Falle der von Fux 28 besprochenen Petroglyphen um Aktivitäten an Rast- und Handelsplätzen entlang von Fernhandelswegen. Diesen Kontexten ist jedoch gemeinsam, dass die Bilder an bestimmten Orten in Relation zu spezifischen, in der Gruppe durchgeführten Handlungen standen und ihnen in diesem Rahmen offensichtlich eine visuelle Bedeutung zukam. Es bestand also jeweils ein Zusammenhang zwischen Bild, Raum und Handlung. Dies dürfte auch für die frühen Geoglyphen gelten. Ihre Lage im Gelände erlaubte es, sie aus einer gewissen Distanz, z. B. von einer Fußfläche, vom gegenüberliegenden Hang oder auch vom Boden des Trockentales aus, ganz zu überblicken und damit das Motiv zu betrachten (Abb. 2). Es handelte sich also tatsächlich um Bilder, die zur Betrachtung dienten – dies im Gegensatz zu den oben angesprochenen Tierfiguren der Nasca-Zeit, die erst mit heutigen technischen Mitteln zur Gänze betrachtet werden können. Die Parallelen zu ähnlichen anthropomorphen Motiven auf Textilien und Felswänden deuten darauf hin, dass diese Bilder im Zusammenhang mit bestimmten Handlungen ihre Bedeutung erlangten – Handlungen, die aus Gründen der Bildwahrnehmung vermutlich in einiger 23 24 25 26 27 28 54 Makowski 2000; Silverman – Proulx 2002; Proulx 2006. Isla – Reindel 2007. Makowski 2000; Proulx 2006. Fux et al. 2009. Chamorro 2009. Fux et al. 2009. K ARS TEN L AMBERS Abb. 2 | Restaurierte anthro-pomorphe Geoglyphen der ParacasZeit im Río Grande-Tal bei Llipata südwestlich von Palpa, Ansicht vom Trockental im Süden aus. Distanz stattfanden. Somit würde eine Geoglyphe nicht selbst als Ort für Handlungen gedient, sondern im umliegenden Gelände eine potentielle Aktivitätszone aufgespannt haben. Bestätigung findet diese Hypothese in der Tatsache, dass direkt bei und auf den frühen anthropomorphen Geoglyphen kaum Spuren von Aktivitäten festgestellt werden konnten – dies in deutlichem Gegensatz zu den späteren geometrischen Geoglyphen auf den Fußflächen, auf denen eine Vielfalt von Funden und Befunden auf häufige Aktivitäten hindeuten (s. u.). Vergleichbare Konstellationen zwischen Geoglyphen und Aktivitätszonen finden sich auch bei den späteren Geoglyphen der nordchilenischen Atacama-Wüste29 . Wie die hier postulierten Handlungen aussahen, zu denen die frühen Geoglyphen in visueller Beziehung standen, ist archäologisch schwer zu fassen. Dies liegt nicht nur daran, dass jeweils größere Zonen dafür in Frage kamen, die Handlungen also an verschiedenen Orten, von denen aus eine visuelle Verbindung zu den Geoglyphen bestand, stattfinden konnten; sondern auch – vor allem – daran, dass die gesamte Umgebung der frühen Geoglyphen zur Nasca-Zeit intensiv und großflächig genutzt und umgestaltet wurde (s. u.), folglich viele Spuren dieser Aktivitäten bereits damals zerstört worden sein dürf29 Lambers im Druck. VON BILDERN ZU BÜHNEN: DIE GEOGLYPHEN VON PALPA UND NA SC A 55 ten. Dennoch hat sich südlich von Palpa ein Befund erhalten, der möglicherweise Ausdruck solcher Aktivitäten ist. Auf der Pampa von San Ignacio fanden sich in einer flachen Senke zahlreiche Keramikdeponierungen der Paracas-Zeit. Dabei handelt es sich zumeist um zerbrochene Einzelgefäße der Keramik-Phase Ocucaje 8 (ca. 370–200 v. Chr.), die auf einer Fläche von ca. 50 × 50 m2 auf dem Wüstenboden deponiert wurden. Aufgrund ihrer Form könnten die Gefäße Speisen und Getränke enthalten haben, jedoch waren davon keine Spuren erhalten. Der zunächst nicht ersichtliche Kontext könnte durch anthropomorphe Paracas-Geoglyphen an einem flachen Hang in geringer Entfernung hergestellt worden sein. Zwar sind diese von der flachen Senke aus nicht direkt sichtbar. Doch die gesamte Umgebung beider Befunde, Keramikdeponierungen und anthropomorphe Geoglyphen, wurde zur Nasca-Zeit in einen der größten Komplexe geometrischer Geoglyphen des gesamten Nasca-Beckens umgestaltet. Wie die Fußfläche zur Paracas-Zeit aussah, ist daher kaum zu rekonstruieren. Es scheint zumindest denkbar, dass noch weitere frühe Geoglyphen und auch Keramikdeponierungszonen existierten, die heute nicht mehr erhalten sind. Somit sind diese Keramikdeponierungen zwar kein Beleg, aber ein Indiz für die vermuteten Handlungen, die in einem visuellen Zusammenhang zu den frühen anthropomorphen Geoglyphen standen. Während die frühen anthropomorphen Geoglyphen Teil eines ikonographischen Komplexes waren, der auf verschiedenen Medien verwirklicht wurde (Textilien, Keramik, Felsen, Wüstenboden), entwickelte sich aus der Dynamik der Bild-Raum-HandlungsBeziehungen bald ein eigenständiges Phänomen. Dazu trug nicht nur bei, dass Bodenzeichnungen durch Verlagerung der Steine des Wüstenpflasters sehr einfach anzulegen waren, was bald zur Anlage größerer Geoglyphen und zu Experimenten mit neuen Formen führte. Entscheidend dürfte vielmehr gewesen sein, dass die Bevölkerung bereits in der Paracas-Zeit regelmäßig in die Wüste hinausging und an verschiedenen Stellen Handlungen vollzog, bei denen die Geoglyphen eine visuelle Rolle spielten. So wurde der wirtschaftlich bis auf geringe Jagdaktivitäten nicht nutzbare Wüstenraum immer stärker in die kulturelle Domäne der Gesellschaft, deren Lebensgrundlage ansonsten die Täler bildeten, einbezogen, was den Weg für weitere Aktivitäten in der Nasca-Zeit bereitete. 3.2 Geometrische Geoglyphen der Nasca-Zeit In Palpa konnte anhand relativ- und absolutchronologischer Daten nachvollzogen werden, dass auf die frühen biomorphen Geoglyphen an den Hängen bald erste gerade Linien folgten, zunächst ebenfalls an den Hängen und dann erstmals auch auf den darüber liegenden Fußflächen. Diese neue Entwicklung entfaltete sich vollends in der Übergangszeit zur Nasca-Periode (120 v. Chr. – 90 n. Chr.) und mündete in der Frühen Nasca-Zeit (90– 325 n. Chr.) schließlich in eine große formale Vielfalt an figürlichen und geometrischen Bodenzeichnungen, die nun in erster Linie auf den Fußflächen angelegt wurden und 56 K ARS TEN L AMBERS Abb. 3 | Typische Kombination von geometrischen Geoglyphen der Nasca-Zeit auf der Fußfläche oberhalb von Llipata südwestlich von Palpa. dort Handlungsräume definierten. Spätestens ab dieser Phase waren die Geoglyphen zu einem eigenständigen, von anderen Medien unabhängigen Kulturphänomen geworden, das sich durch eine hohe Dynamik auszeichnete, einen erheblichen Teil der gesellschaftlichen Arbeitsleistung absorbierte, soziale Handlungen und Beziehungen definierte und zu einem Grundpfeiler dessen wurde, was Helaine Silverman treffend als »Nascaness« bezeichnet hat30. Zwar umfasst der sehr vielfältige Komplex von Geoglyphen der frühen Nasca-Zeit in Palpa auch wenige figürliche Geoglyphen, die den bekannten Figuren der Pampas von Nasca ähneln, doch soll es im Folgenden um die geometrischen Geoglyphen gehen, die die große Mehrheit der Geoglyphen bilden. Dabei handelt es sich um Linien – gerade, zickzackförmige, mäandrierende, spiralförmige u. a. – und geräumte Flächen – trapezförmige, rechteckige und unregelmäßige – sowie Kombinationen von beiden (Abb. 3). 30 La Silverman 2002, 122. VON BILDERN ZU BÜHNEN: DIE GEOGLYPHEN VON PALPA UND NA SC A 57 Die Länge der Trapeze reicht von mehreren Metern bis zu knapp 2 km, die Breite der Linien von einer Handbreit bis zu einigen Metern. Das heute sichtbare Endergebnis von mehreren Jahrhunderten der Anlage und Nutzung von Geoglyphen auf den weitläufigen Fußflächen rund um Palpa besteht neben einer Vielzahl einzelner Geoglyphen aus verschiedenen großen Komplexen von zahlreichen sich überlagernden und schneidenden Linien und Flächen (Abb. 3). Auf diesen Geoglyphenkomplexen sind vielfältige Spuren menschlicher Aktivitäten erhalten, die sich auf oder bei den Geoglyphen abspielten31 – dies in deutlichem Gegensatz zu den oben beschriebenen frühen anthropomorphen Geoglyphen, bei denen die entsprechenden Aktivitäten vermutlich in einiger Entfernung stattfanden. Die erste Art von Handlung, die rekonstruiert werden konnte, war die Anlage der Bodenzeichnungen. Dies mag trivial erscheinen, doch wurde auch die Bedeutung dieses Befundes erst im Laufe der Untersuchungen klar. Bisher wurde in der Literatur überwiegend der Nutzung der Geoglyphen Bedeutung beigemessen, während ihre Anlage allenfalls unter technischen Gesichtspunkten von Interesse zu sein schien. Die Befundlage in Palpa deutet jedoch auf eine erhebliche soziale Bedeutung dieses Arbeitsschrittes hin. Diese ergibt sich aus einer über lange Zeiträume fortwährenden Anlage neuer bzw. Umgestaltung vorhandener Geoglyphen, die schließlich zu den heute sichtbaren komplexen Konzentrationen führte. Zahlreiche Überlagerungen sowie unvollendete Geoglyphen erlauben es, diesen Prozess im Detail zu studieren32 . Teils wurden bei der Anlage neuer oder der Erweiterung bestehender Geoglyphen vorhandene Geoglyphen respektiert oder in das neue Design integriert, teils wurden sie aber auch überlagert und damit obsolet. Linen wurden häufig in Trapeze umgestaltet, Trapeze seitlich erweitert, manche Flächen mehrfach geräumt. Diese Arbeiten wurden in unterschiedlicher Intensität anscheinend über längere Zeiträume hinweg durchgeführt; einige Arbeiten blieben auch unvollendet. Beides stand einer zwischenzeitlichen Nutzung jedoch nicht im Wege, wie Nutzungsspuren auf unvollendeten oder in Umgestaltung befindlichen Geoglyphen deutlich zeigen. Es ging also offensichtlich nicht darum, z. B. ein Trapez einmalig in möglichst effizienter Weise anzulegen, um es dann über lange Zeiträume auf welche Weise auch immer zu nutzen. Vielmehr kam der Anlage selbst bereits eine große Bedeutung als sozialer Akt zu. Die Details des Arbeitsprozesses deuten darauf hin, dass in größeren Gruppen gearbeitet wurde, vermutlich angeleitet von Spezialisten. Über die Zusammensetzung dieser Gruppen wissen wir nichts. Aufgrund des Umfanges sowie der Häufigkeit und Dauer der Anlage- und Umgestaltungsaktivitäten ist es jedoch wahrscheinlich, dass zeitweilig große Bevölkerungsteile beteiligt waren. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass die Nasca-Kultur mit wenigen Ausnahmen kaum monumentale Architektur kannte, wie sie in der zeitgleichen Moche-Kultur an der Nordküste Perus so spektakuläre Gestalt annahm. 31 32 58 Lambers 2006; Reindel et al. 2006. Lambers 2006. K ARS TEN L AMBERS Abb. 4 | Ausgegrabene Steinplattformen am nordöstlichen Ende des zentralen Trapezes des in Abb. 3 wiedergegebenen Geoglyphenkomplexes auf der Fußfläche oberhalb von Llipata südwestlich von Palpa. Im Nasca-Becken wurde eine vergleichbare Arbeitsleistung stattdessen in die Anlage oder Umgestaltung der Geoglyphen investiert33 . Dies deutet auf jährlich wiederkehrende, vermutlich vom Zyklus der landwirtschaftlichen Tätigkeiten abhängige Bauarbeiten hin, was auch die häufigen Umgestaltungen erklären würde. Was sodann gemeinhin unter der Nutzung der Geoglyphen verstanden wird, umfasste nach der Befundlage in Palpa eine Bandbreite verschiedener Tätigkeiten. Am klarsten nachweisen ließen sich34: – die häufig wiederkehrende Begehung von Linien, in geringerem Maße auch von großen Trapezen, vor allem entlang deren Rändern, – die Deponierung von Keramikgefäßen, die Speisen oder Getränke enthalten haben könnten, auf oder neben den Rändern von Linien und Trapezen, wobei viele Gefäße offensichtlich intentionell zerschmettert wurden, – der Bau von Steinplattformen auf Trapezen (Abb. 4) oft lange nach deren ursprünglicher Anlage, teils verbunden mit der Errichtung hoher Holzpfosten, die eventuell zu Orientierungszwecken oder zur Aufhängung von Gegenständen dienten, 33 34 Isbell 1978. Lambers 2006; Reindel et al. 2006. VON BILDERN ZU BÜHNEN: DIE GEOGLYPHEN VON PALPA UND NA SC A 59 – die Deponierung von Keramikgefäßen, Textilien, Feldfrüchten, Muscheln und Krebsen auf den Steinplattformen, offenbar in rituellem Kontext. Daneben ist auf den gesamten Fußflächen ein lockerer Fundschleier aus Keramikscherben, aber auch Textilresten, Steinwerkzeugen etc. festzustellen, der weitere menschliche Präsenz und Aktivität anzeigt. Diese fällt, nach den datierbaren Keramikscherben zu urteilen, chronologisch überwiegend ebenfalls mit der Nutzung der Geoglyphen zusammen und dürfte daher mit ihnen zu tun gehabt haben. Einzige Ausnahme sind Funde aus der Späten Zwischenperiode (ca. 1150–1550 n. Chr.) im Umfeld größerer Ansiedlungen am Andenfuß, die im Zuge einer Wiederbesiedlung der Palpa-Region von Osten her auf den Fußflächen und teils direkt auf den Geoglyphen von einer Bevölkerung angelegt wurden, die die Geoglyphentradition offenbar nicht mehr kannte oder ihr jedenfalls keinen Wert mehr beimaß. Aus der Nasca-Zeit werden menschliche Aktivitäten am klarsten direkt auf den Geoglyphen fassbar: auf Linien, entlang den Rändern von Trapezen, rund um Steinplattformen auf Trapezen. Die Geoglyphen definierten auf den weiten Hochflächen also Handlungsräume und gaben den dort stattfindenden Tätigkeiten durch ihre Form Orientierung und Ziel, beispielsweise indem eine Linie einen abzuschreitenden Weg vorgab (Abb. 5) oder ein Trapez zu einer Plattform an seinem Ende hinführte. Gleichzeitig entstanden die Geoglyphen selbst durch andere Handlungen – die Anlage und Umgestaltung von Geoglyphen –, was die intensive Wechselwirkung zwischen Raum und Handlung anzeigt. Bild- und Bedeutungsträger waren in diesem Kontext jedoch nicht mehr, wie noch zur ParacasZeit, die Geoglyphen selbst, sondern die Gegenstände, die auf ihnen deponiert wurden, vor allem Keramikgefäße. Die außerordentlich reich verzierten polychromen Keramikgefäße der Nasca-Zeit weisen eine vielfältige Ikonographie auf, die die Lebenswelt der Nasca-Gesellschaft samt ihren natürlichen, sozialen und metaphysischen Elementen eindrucksvoll illustriert35 . Interessanterweise sind darauf jedoch – mit wenigen unsicheren Ausnahmen36 – nirgends Geoglyphen abgebildet, zumindest nicht in einer für uns heute erschließbaren Form. Stattdessen sind Handlungen und Kontexte abgebildet, die möglicherweise auf Geoglyphen stattgefunden haben, so z. B. auf Steinplattformen abgestellte Keramikgefäße oder Holzpfosten mit daran befestigten Bannern und Trophäenköpfen, des Weiteren Schamanen und mythische Wesen, die in kultischen Ritualen eine Rolle gespielt haben dürften und deren Gewänder und Schmuck wiederum die Rolle von Bildträgern einnahmen37. Dies bestätigt die Hypothese, dass die geometrischen Geoglyphen zur Nasca-Zeit nicht mehr selbst als Bildträger dienten, sondern den räumlichen Rahmen für Handlungen definierten, die dann wiederum auf anderen Medien abgebildet wurden. 35 36 37 60 Silverman – Proulx 2002; Proulx 2006. Clados 2006. Silverman – Proulx 2002. K ARS TEN L AMBERS Abb. 5 | Nachgestellte Prozession auf einer Spirale des in Abb. 3 gezeigten Fundortes oberhalb von Llipata südwestlich von Palpa. Über Inhalt, Verständnis und Bedeutung dieser Handlungen lassen sich nur recht allgemeine Hinweise aus dem archäologischen Befund ablesen. Zum einen haben die Gegenstände, die auf den Steinplattformen deponiert wurden, alle im weitesten Sinne einen Zusammenhang mit Wasser 38: die Feldfrüchte, deren Ernte vom Bewässerungsfeldbau abhing, die Flusskrebse, die aus den nur zur Regenzeit in den Bergen Wasser führenden Flüssen stammten, und nicht zuletzt die Spondylusmuscheln. Deren Wanderungsbewegungen entlang der Küste in Abhängigkeit von El-Niño-Ereignissen, welche die Verbreitung von Regenfällen an Land beeinflussen, waren im gesamten Andenraum bekannt und ließen Spondylusmuscheln zu einem wichtigen Kultgegenstand werden. Die Deponierung von Objekten, die thematisch Bezüge zu Wasser, Regen und Fruchtbarkeit erkennen lassen, auf Steinplattformen auf Trapezen dürfte im Zusammenhang mit der zunehmenden Aridisierung der Nasca-Region zur Nasca-Zeit39 stehen, die zumindest im Raum Palpa am Übergang zum Mittleren Horizont (700–800 n. Chr.) zu einer weitgehenden Abwanderung der Bevölkerung gen Osten führte und die Aufgabe der Geoglyphentradition nach sich zog. Dazu passt, dass mehrere der Steinplattformen, 38 39 Reindel et al. 2006. Eitel et al. 2005. VON BILDERN ZU BÜHNEN: DIE GEOGLYPHEN VON PALPA UND NA SC A 61 auf denen sich die genannten Objekte fanden, deutlich nach der Anlage der Geoglyphen, auf denen sie stehen, errichtet wurden, also in einer späten Phase, als die Aridisierung zunehmend die Lebensgrundlage der Bevölkerung beeinträchtigte. Zum anderen dürften die Handlungen, die auf den Geoglyphen vollzogen wurden, abgesehen von ihrem vordergründigen Inhalt auch eine erhebliche soziale Bedeutung gehabt haben. Aus der großen Zahl der weit über die Wüstenlandschaft verstreuten Geoglyphen stechen mehrere große Komplexe heraus, die über viele Jahrhunderte genutzt und immer wieder umgestaltet wurden. Ein Vergleich der räumlichen Entwicklung dieser Komplexe mit der Entwicklung der Siedlungsmuster während der Nasca-Zeit zeigt, dass kein direkter Zusammenhang zwischen Geoglyphenkomplexen und bestimmten Siedlungen bestand 40. Dies bedeutet, dass bestimmte Geoglyphenkomplexe nicht einfach bestimmten Siedlungen zugeordnet waren. Vielmehr war das Siedlungsmuster viel volatiler als das Verbreitungsmuster der Geoglyphen. In den Tälern lösten zahlreiche Kleinsiedlungen, die oft nur über wenige Generationen genutzt wurden, einander ab und folgten dabei der lokalen Wasserverfügbarkeit, was im Laufe der Zeit zu deutlichen Verlagerungen der Siedlungsschwerpunkte führte. Die großen Geoglyphenkomplexe auf den Fußflächen waren dagegen ortsfest; sie bestanden über Jahrhunderte und wurden auch dann weiter genutzt, wenn die nächstgelegenen Siedlungen aufgegeben wurden. Die Menschen, die auf den Geoglyphenkomplexen zusammentrafen, um dort neue Geoglyphen anzulegen oder rituelle Handlungen zu vollziehen, kamen also aus verschiedenen Siedlungen, die zudem im Laufe der Zeit verlagert wurden. Somit handelte es sich um soziale Gruppen, die auf einer gesellschaftlichen Ebene oberhalb der Siedlungen organisiert waren und auch bei Veränderungen im Siedlungsmuster Bestand hatten. In diesem Zusammenhang erscheint es interessant, dass ein wichtiges Kriterium für die Auswahl eines Geländes zur Anlage neuer Geoglyphen seine gute Einsehbarkeit war, wie GIS-basierte Sichtbarkeitsstudien zeigten 41 . Wie oben dargelegt, ging es dabei nicht um die Sichtbarkeit der Geoglyphen selbst, die ja nur den Rahmen für darauf zu vollziehende Handlungen definierten. Vielmehr war der Punkt wesentlich, dass diese Handlungen und die daran beteiligten Personen gesehen werden konnten – vom umliegenden Gelände, von anderen Geoglyphenkomplexen und selbst von den Siedlungen im Tal aus. Offensichtlich hatten diese Handlungen und Rituale einen öffentlichen Charakter, weshalb man die Geoglyphen auch als ›Bühnen‹ mit darauf agierenden Akteuren verstehen kann. Da gleichzeitig mehrere große Komplexe in Benutzung standen, die, wie oben dargelegt, mit größeren sozialen Gruppen oberhalb der Ebene einzelner Siedlungen assoziiert gewesen sein dürften, könnten diese von allen sichtbaren Handlungen einen kompetitiven Charakter gehabt haben, indem die verschiedenen sozialen Gruppen ihre Stellung in der Nasca-Gesellschaft verhandelten und definierten. Dazu passt die Beob40 41 62 Lambers 2006. Lambers – Sauerbier 2009. K ARS TEN L AMBERS achtung, dass sich das Geoglyphenrepertoire ab der mittleren Nasca-Zeit auf immer weniger standartisierte Typen (vor allem Trapeze und Linien) reduzierte, gleichzeitig jedoch immer größere Geoglyphen angelegt wurden. Dies könnte damit erklärt werden, dass bei der Anlage neuer Geoglyphen um gesellschaftliche Akzeptanz gerungen wurde, was die Hypothese vom kompetitiven Charakter unterstützt. Grundsätzlich sind Fragen zur Sozialstruktur der Nasca-Gesellschaft und ihres Wandels im Laufe der Zeit aufgrund der Befunde von den Geoglyphen allein jedoch kaum zu beantworten. Unzweifelhaft ist allerdings, dass die Aktivitäten, die mit den Geoglyphen im Zusammenhang standen, eine erhebliche soziale Bedeutung für die Nasca-Gesellschaft hatten. 4 Von Bildern zu Bühnen Obwohl keine Überlieferungen zur konkreten Bedeutung und Funktion der Paracas- und Nasca-zeitlichen Geoglyphen existieren, lassen sich aus ihrem archäologischen Kontext weitreichende Schlüsse ziehen. Simple und eher plakative Bildansprachen, wie sie lange Zeit üblich waren und noch heute oft den Anforderungen des Tourismus geschuldet sind, greifen für die Erklärung des Geoglyphenphänomens zu kurz. Aus dem komplexen Wechselspiel zwischen Geoglyphen, Naturraum und menschlichen Aktivitäten ergeben sich jedoch umfassende Implikationen für die soziale und kulturelle Rolle der Geoglyphen. Die ersten Geoglyphen der Paracas-Zeit waren Teil eines ikonographischen Komplexes, der sich über verschiedene Medien erstreckte: Keramik, Textilien, Felsen, Wüstenboden. Es handelte sich um biomorphe Abbildungen mit teils übernatürlichen Zügen. Ihr jeweiliger Kontext auf verschiedenen Medien weist darauf hin, dass es sich tatsächlich um Bilder handelte, die aus einer gewissen Distanz betrachtet und gedeutet wurden. Ihre visuelle Bedeutung erlangten sie wahrscheinlich im Rahmen verschiedener Handlungen, die ihre Betrachter in ihrem Blickfeld ausführten. Die Geoglyphen der Paracas-Zeit definierten also Handlungsräume in der Wüste. Aus den Anfängen einer medienübergreifenden Ikonographie entwickelte sich am Übergang zur Nasca-Zeit ein eigenständiges Phänomen, in dem die Geoglyphen sich von Bildern zu ›Bühnen‹ wandelten. Die assoziierten Handlungen fanden nun nicht mehr bei, sondern auf den Geoglyphen statt; die Handlungsräume wurden nun nicht mehr visuell aufgespannt, sondern physisch markiert. Die Geoglyphen büßten dabei ihre bildliche Bedeutung ein; vielmehr waren es nun die Handlungen, die auf den Geoglyphen stattfanden, und die daran beteiligten Akteure, die gesehen werden sollten und die wahrscheinlich auch dargestellt wurden, z. B. auf Keramikgefäßen und Textilien. Aus den Bildern waren also Bühnen für Handlungen geworden, denen eine wichtige rituelle und soziale Bedeutung zukam. Die Geoglyphen von Palpa und Nasca sind damit ein Beispiel dafür, wie Menschen ihre Umwelt mittels ihrer Handlungen sozial und kulturell durchdringen und gestalten. VON BILDERN ZU BÜHNEN: DIE GEOGLYPHEN VON PALPA UND NA SC A 63 Obwohl der Naturraum in der Wüste am Fuße der Anden an sich bereits spektakulär ist, tritt er in seiner Bedeutung hinter dem von Menschen definierten sozialen Raum und seiner physischen Manifestation, den Geoglyphen, zurück. Im Sinne der Definition von Knapp und Ashmore42 handelt es sich sowohl um eine »constructed« als auch um eine »conceptualized« Landschaft, in der sich kulturelle Konzepte mittels physischer Modifikationen in der Landschaft manifestierten und Orte schufen, die mit bestimmten Handlungen und Bedeutungen assoziiert wurden. Wenn heutige Besucher der Region die Geoglyphen aus der Luft betrachten, nehmen sie nicht nur eine ahistorische Perspektive ein, sondern müssen auch auf zentrale Elemente zum Verständnis der Geoglyphen verzichten: die Menschen, die sich zur Paracasund Nasca-Zeit auf und bei den Geoglyphen versammelten, sowie die kulturell und sozial eingebetteten Handlungen, die sie dort durchführten. Nur unter Berücksichtigung dieses Kontextes erschließen sich Funktion und Bedeutung der Geoglyphen von Palpa und Nasca. 42 64 Knapp – Ashmore 1999, 10–11. K ARS TEN L AMBERS Bibliographie Aveni 1990 A. F. Aveni (Hg.), The Lines of Nazca (Philadelphia 1990). Aveni 2000 A. F. Aveni, Between the Lines: the Mystery of the Giant Ground Drawings of Ancient Nasca, Peru (Austin 2000). Chamorro 2009 A. Chamorro Malagón (Hg.), Mantos para la eternidad: textiles Paracas del antiguo Perú (Madrid 2009). Clados 2006 C. Clados, Neue Erkenntnisse zur Ikonographie der Geoglyphen von Nazca, Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift (EAZ) 47, 2006, 299–324. David – Thomas 2008 B. David – J. Thomas, Landscape Archaeology: Introduction, in: B. David – J. Thomas (Hgg.), Handbook of Landscape Archaeology (Walnut Creek 2008) 27–43. Eitel et al. 2005 B. Eitel – S. Hecht – B. Mächtle – G. Schukraft – A. Kadereit – G. A. Wagner – B. Kromer – I. Unkel – M. 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Sauerbier, Context Matters: GIS-Based Spatial Analysis of the Nasca Geoglyphs of Palpa, in: M. Reindel – G. A. Wagner (Hgg.), New Technologies for Archaeology: Multidisciplinary Investigations in Palpa and Nasca, Peru (Heidelberg 2009) 321–338. Llobera 1996 M. Llobera, Exploring the Topography of Mind: GIS, Social Space and Archaeology, Antiquity 70, 1996, 612–622. Mächtle 2007 B. Mächtle, Geomorphologisch-bodenkundliche Untersuchungen zur Rekonstruktion der holozänen Umweltgeschichte in der nördlichen Atacama im Raum Palpa / Südperu (Heidelberg 2007). Makowski 2000 M. Makowski, Los seres sobrenaturales en la iconografía Paracas y Nasca, in: K. Makowski – K. M. Hanula et al. (Hgg.), Los dioses del antiguo Perú (Lima 2000) 277–323. Proulx 2006 D. A. Proulx, A Sourcebook of Nasca Ceramic Iconography: Reading a Culture through Its Art (Iowa City 2006). Reiche 1949 M. 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Silverman, Nasca Settlement and Society on the Hundredth Anniversary of Uhle’s Discovery of the Nasca Style, in: W. H. Isbell – H. Silverman (Hgg.), Andean Archaeology I: Variations in Sociopolicital Organization (New York 2002) 121–158. Silverman – Proulx 2002 H. Silverman – D. A. Proulx, The Nasca (Oxford 2002). Abbildungsnachweis Abb. 1: Karte H. P. Wittersheim; Abb. 2: Photographie J. Isla; Abb. 3: Karte K. Lambers, Orthophoto IGP, ETH Zürich; Abb. 4: Photographie J. Isla; Abb. 5: Photographie M. Reindel. 68 K ARS TEN L AMBERS Thierry Aubry, Luís Luís Umwelt und sozialer Kontext der paläolithischen Freilandkunst im Côa-Tal (Portugal)* Upper Palaeolithic authorship of open-air rock art is a fairly recent discovery. After Altamira and cave art, the discovery of Côa Valley rock art and its archaeological context was pivotal in the process by which this new reality achieved scientific recognition. Although stylistically similar and representing the same general species (mostly horses, aurochs, ibex and deer), these images were inscribed in rock panels distributed within the same territories exploited by their forager authors. Interpretation of why certain surfaces were chosen and what function these images served must be based on the study of the geological nature of the engraved panels, dating of the engravings and their subsequent evolution. Once these factors have been evaluated, it will be possible to interpret the distribution of the Côa Valley’s two most important phases (pre-Magdalenian and Lateglacial) and consider their visibility and possible spatial relations. Our final goal will be to try to understand this rock art in its social contexts. Im Jahre 1981 wurde eine in Mazouco, im Nordosten Portugals, entdeckte Gravierung, die ein Pferd darstellt (Abb. 1), mit den Bildern verglichen, die man seit mehr als einem Jahrhundert auf Wänden von Höhlen und Abris sowie auf beweglichen Gegenständen zu entdecken gewohnt war1 . Implizit wurde damit erstmals angenommen, dass Gravierungen paläolithischen Alters sich auch auf unmittelbar einer Beeinträchtigung durch die Verwitterung ausgesetzten Felsen erhalten können. Diese Entdeckung und ihre zeitliche Einordnung ebneten den Weg für weitere Funde (Abb. 1) in Spanien2 und an der östlichen Grenze des französischen Teils der Pyrenäen3 . 15 Jahre später führte der Konflikt um den von der Elektrizitätsgesellschaft EDP (Energias de Portugal) geplanten Bau eines Staudammes und die deshalb drohende Überflutung von Felsbildstationen des unteren Côa-Tales4 zur Entdeckung weiterer Fundplätze in Portugal – im Tal des Sabor, des Ocreza5 und des Zêzere6 –, in Spanien – in Molino Manzanez7 – sowie, fast ein Jahrhundert nach bekanntwerden der Höhlenkunst, zur Anerkennung der Existenz einer paläolithischen Freilandkunst, und zwar sowohl durch die Prähistoriker als auch durch einen geringen Teil des breiten Publikums. Diese Bilder befinden sich auf ebenen, senkrechten oder seltener nahezu waagerechten Oberflächen im Bereich der Aufschlüsse metamorpher Gesteine alter Gebirgsstöcke, * Übersetzung aus dem Französischen von Renate Heckendorf. 1 Jorge et al. 1981. 2 Balbín Behrmann et al. 1991; Balbín Behrmann – Alcolea González 2002; Ripoll López – Municio González 1992. 3 Sacchi et al. 1988; Bahn 1985. 4 Rebanda 1995; Baptista 1999; Baptista – Gomes 1995; Zilhão 1997. 5 Baptista 2001a. 6 Baptista 2004. 7 Collado 2009. UMWELT UND SOZIALER KONTE X T PAL ÄOLITHISCHER FREIL ANDKUNS T, CÔA -TAL 69 Abb. 1 | Lagebestimmungskarte der unterschiedlichen Typen jungpaläolithischer Zeichnungen. die das Gerüst der Iberischen Halbinsel und der Pyrenäen-Kette bilden (Abb. 1). Sie sind in klimatischen Umgebungen erhalten, in denen die Verwitterung der Aufschlüsse unter dem Einfluss des Klimawandels des letzten glazialen Maximums und des Spätglazials auf den ersten Blick weniger stark als die periglazialen Prozesse nördlich der Pyrenäen8 ausgeprägt war. Die Freilandkunst ist gedanklichen Prozessen geschuldet, die sich – durch die symbolische Aneignung des Territoriums durch das Bild und dessen Fortbestand – von dem in den Tiefen der Höhlen hinterlassenen graphischen Ausdruck unterscheiden9. Während die Höhlenarchitektur von grundlegender Bedeutung für die Interpretation der darin erhaltenen Bilder ist, erlangen im Fall der Freilandkunst Merkmale wie die Sichtbarkeit und die Beziehung zur Umwelt eine andere Bedeutung und werfen neue Fragen auf. 15 Jahre nach der Entdeckung der Gravierungen des Côa-Tales möchten wir eine von 8 9 70 Zilhão 1997. Otte 2002. THIERRY AUBRY, LUÍS LUÍS Abb. 2a | Lagebestimmung der Freilandfundstellen von Felsbildern und Besiedlungsspuren im Côa-Tal. Abb. 2b | Topographische Position der Freilandfundstellen im Verhältnis zum Wasserlauf. 71 uns entwickelte Methodik vorstellen, mit der eine Deutung der Bilder und der sonstigen Überreste, die innerhalb der von ihren Urhebern in mehreren Phasen des Paläolithikums aufgesuchten Territorien erhalten sind, möglich ist. 1 Die Kunst des Côa-Tales Bei den als »Kunst des Côa-Tales« bezeichneten Hinterlassenschaften handelt es sich um ca. 30 Fels-Konzentrationen, die Petroglyphen oder seltener mit mineralischen Pigmenten ausgeführte Zeichnungen tragen und sich auf die letzten 17 Kilometer des Côa-Flusses und der unmittelbar oberhalb und unterhalb seiner Einmündung in den Douro gelegenen Nebenflüsse verteilen (Abb. 2)10. Im Jahre 1998 wurde dieses Ensemble, dessen erste Bestandteile im Jahre 1991 – im Zusammenhang mit dem heute aufgegebenen Staudammprojekt – entdeckt wurden, in die Weltkulturerbeliste der Unesco aufgenommen. Als Ergebnis der seither durchgeführten Begehungen konnte eine Liste mit etwa 1000 Bildfeldern erstellt werden, die Petroglyphen aus allen Perioden tragen, wobei 330 dieser Felsoberflächen Motive aufweisen, die nach stilistischen Kriterien dem Paläolithikum zuzuordnen sind11. Die Bilder wurden im Verlauf eines über 20.000 Jahre andauernden Zyklus, der im Jungpaläolithikum begann und sich dann bis in das 20. Jahrhundert hinein fortsetzte, an den Felswänden angebracht. Die ältesten Darstellungen zeigen bestimmte, von ihren Urhebern gejagte Tiere (Pferde, Auerochsen, Steinböcke, Hirsche, Pyrenäen-Gämsen etc.; Abb. 4). Gegen Ende des Paläolithikums kommen menschliche Darstellungen und Zeichen zu den Tierbildern hinzu 12 . Die eisenzeitlichen Petroglyphen zeigen mythologische Szenen sowie Kriegs- und Jagdszenen (Krieger, Waffen, Pferde, Rothirsche, Hunde) 13 . Die jüngsten, häufig datierten Zeichnungen bilden religiöse Gegenstände oder alltägliche, von ihren Urhebern – den Müllern, die das Tal in den 1950er Jahren aufgegeben haben – beobachtete Begebenheiten ab 14 . Im Lauf der Zeit ist ein Wandel der Techniken, die die ›Verewigung‹ der Bilder ermöglicht haben, zu beobachten (Abb. 3). Grundsätzlich ging es darum, auf einer ebenen und, in Abhängigkeit von der Expositionsdauer, braunen oder dunkelgrauen Oberflächen aus Schiefer- oder Grauwacke einen Kontrast zu erzeugen. Der Strich besteht zumeist aus feinen während des Paläolithikums mit Steinwerkzeugen und von der Eisenzeit an mit Metallgerätschaften erzeugten Ritzlinien. In anderen Fällen entstanden durch wiederholte Punzund Ritzvorgänge, gelegentlich auch durch Abschaben [Anm. d. Übers.: bzw. Abschleifen] der Felsoberfläche, tief eingeschnittene Linien mit U- oder V-förmigem Querschnitt. 10 11 12 13 14 72 Zilhão 1997; Baptista 2001b; Baptista – García Diez 2002; Baptista et al. 2006; Baptista – Reis 2008. Baptista – Reis 2008. Baptista 1999; Baptista 2009. Luís 2009. García Diez – Luís 2003. THIERRY AUBRY, LUÍS LUÍS Abb. 3 | Im Côa-Tal verwendete Techniken zur Ausführung von Gravierungen. Abb. 4 | Während der verschiedenen Phasen des künstlerischen Zyklus in der Kunst des Côa-Tales dargestellte Motive. Die an den paläolithischen Fundorten der Region durchgeführten Ausgrabungen erbrachten in einer um 28.500 BP datierten Schicht der Fundstelle Olga Grande 4 15 die Entdeckung von Grobspitzen, deren Enden Schäden aufweisen, die einer Verwendung zur Erzeugung von Punzungen und Rillen entsprechen 16. Obwohl die Ausgrabungen der jungpaläolithischen Fundplätze der Region zahlreiche Fragmente mineralischer Pigmente aus unterschiedlichen regionalen Quellen zu Tage gefördert haben 17, war hinsichtlich der gravierten Felsbildlinien nur in denen der Fundstelle Faia stellenweise die Erhaltung mineralischer Pigmente nachweisbar. 15 16 17 Valladas et al. 2001; Aubry 2009. Plisson 2009. García Diez et al. 2009. UMWELT UND SOZIALER KONTE X T PAL ÄOLITHISCHER FREIL ANDKUNS T, CÔA -TAL 73 1.1 Aus welcher Zeit stammen die im Côa-Tal erhaltenen paläolithischen Petroglyphen? Bereits zum Zeitpunkt der Entdeckung der Côa-Gravierungen waren sich die Prähistoriker darüber einig, dass ein Teil der Felsbilder in keiner Weise den Zeichen oder den schematisierten anthropomorphen und zoomorphen Motiven der Bauern und Hirten des Neolithikums oder der jüngeren Perioden ähnelt, sondern den durch paläolithische Jäger in Höhlen und Abris hinterlassenen, gemalten und in Stein geschlagenen Tierdarstellungen entspricht. Die EDP (Energias de Portugal) versuchte unter Berufung auf einige abweichende Stimmen, die Geltung des stilistischen Vergleiches [Anm. d. Übers.: grundsätzlich] in Frage zu stellen. Anhand von Kleinstbruchstücken des organischen Materials, das in den Felsbildlinien einiger Darstellungen an den Fundorten Penascosa, Piscos und Canada do Inferno erhalten war, wurde mit Hilfe der Radiokarbonmethode eine Altersbestimmung vorgenommen. Die Ergebnisse liegen nach Alan Watchman18 zwischen 2000 und 7000, nach Ron Dorn19 zwischen 2120 und 5480 Jahre vor heute. Gleichwohl reichen die durch Dorn vorgenommenen Datierungen von Kleinstbruchstücken organischen Materials, das sich auf den an die Gravierungen angrenzenden Oberflächen erhalten hat, im Fall einer Probe vom Fundort Penascosa etwa 29.990 Jahre zurück. Unter den beiden zitierten Autoren ist die Bedeutung der Ergebnisse der Datierungen und deren Verwendbarkeit zur Bestimmung der zeitlichen Abfolge der Herstellung bzw. Auffrischung der Gravierungen strittig. Auf der Grundlage einer vergleichenden Betrachtung der an Kleinstbruchstücken organischen Materials (sowohl aus den Felsbildlinien als auch von angrenzenden Oberflächen) vorgenommenen Datierungen schließt Dorn20 – ebenso wie João Zilhão21 es bereits auf der Basis theoretischer Überlegungen erklärt hatte –, dass die Verwitterungsrinde der Felsen nicht als geschlossenes System anzusehen ist und folglich, aufgrund der Besiedlung durch Mikroorganismen, seit dem Zeitpunkt der Erstexposition die Felsoberfläche einer fortwährenden Verunreinigung ausgesetzt gewesen war. Deshalb ist nicht davon auszugehen, dass die Datierungsergebnisse den Herstellungszeitpunkt der Felsbildlinien angeben. In Anbetracht der Tatsache, dass sich die Gravierungen mittels der Radiokarbonmethode nicht datieren lassen, wurde schnell klar, dass eine Bestimmung ihres archäologischen Kontextes notwendig war. Aus den an rund 15 jungpaläolithischen Stationen – von denen zehn sondiert oder ausgegraben werden konnten – erhaltenen Abfolgen ist seither der genaue Rahmen der Besiedlung der Region ersichtlich 22 . Die seit Beginn der Forschungen auf der Grundlage typologischer und technologischer Erwägungen vorgebrach18 19 20 21 22 74 Watchman 1995; Watchman 1996. Dorn 1997. Dorn 1997. Zilhão 1995. Aubry 2001; Aubry – Sampaio 2008; Aubry 2009. THIERRY AUBRY, LUÍS LUÍS Abb. 5 | Rekonstruktion der den Felsen Nr. 1 des Fundortes Fariseu umgebenden Felsaufschlüsse und Überlagerung der Darstellungen durch datierte Schichten, die jungpaläolithische Besiedlungsreste enthielten. ten Thesen über die menschliche Besiedlung des Côa-Tales während mehrerer Phasen des Jungpaläolithikums23 konnten durch Thermolumineszenzdaten bestätigt werden 24 , so dass sich auch die von Bednarik 25 vorgebrachte Argumentation hinsichtlich eines fehlenden Kontextes widerlegen ließ. Im Jahre 1999 konnte am Fundort Fariseu das paläolithische Alter der Gravierungen nachgewiesen werden. Dort bedeckten Schichten mit jungpaläolithischen Besiedlungs23 24 25 Zilhão 1995; Zilhão 1997; Aubry 1998; Aubry 2001. Mercier et al. 2001; Valladas et al. 2001; Mercier et al. 2006. Bednarik 1995. UMWELT UND SOZIALER KONTE X T PAL ÄOLITHISCHER FREIL ANDKUNS T, CÔA -TAL 75 resten eine Wand, die mit stilistisch dieser Periode zugehörigen Motiven verziert war. Der Fundplatz lieferte eine stratigraphische Abfolge mit Überresten mehrerer jungpaläolithischer Besiedlungsphasen. Die Stratigraphie befand sich im direkten Kontakt mit einer Felswand, die 94 Tierdarstellungen trägt (Abb. 5). Diese durch Punzung, tiefe Schlifflinien [Anm. d. Übers.: im Originaltext ist von »Rillen« die Rede] oder seltener Ritzung erzeugten Bilder zeigen Pferde, Hirsche, Rinder und Ziegenartige (Abb. 4. 5)26. Am Ausgangspunkt der ausgegrabenen Sequenz fand sich ein von der bearbeiteten Felswand herabgefallenes Bruchstück. Der archäologische Befund – d. h. zum einen die die bearbeitete Felswand bedeckende stratigraphische Abfolge und zum anderen die Überlagerungssequenz der Felsbilder – zeigt, dass von Anfang an – d. h. nach der verfügbaren OSL-Datierung seit mindestens 18.400 ± 1600 BP, was einer Radiokarbondatierung von 14.500/15.000 Jahren entspricht 27 – die gesamte verfügbare Felsoberfläche genutzt wurde. Diesem Befund nach zu urteilen gehen die Bilder des Côa-Tales, die mehrere übereinstimmende formale Merkmale aufweisen – Profildarstellung von Tieren durch die Verknüpfung gerader, geometrischer, durch tiefe Punzung und/oder Schlifflinien [Anm. d. Übers.: im Originaltext ist von »Rillen« die Rede] 28 erzeugter Linien, wobei keine Einzelheiten des Körpers und die vorderen und hinteren Gliedmaßen jeweils nur einfach und ohne das Extremitätenende abgebildet sind – zeitlich dem Datum von 18.400 BP voraus und sind älter als die Magdalénien-Kultur. Eine im Jahre 2007 im Mittelpunkt des Fundortes durchgeführte Sondierungsgrabung führte zur Entdeckung älterer Besiedlungsspuren, die – aufgrund der Datierungsergebnisse von Holzkohleproben, die ein Alter von 19.020 ± 80 BP (GrA 40167) ergaben – dem Solutréen und – aufgrund der Merkmale der lithischen Industrie – dem Gravettien zuzuordnen sind. Dieser Befund deutet darauf hin, dass die Ausarbeitung der gepunzten und geschabten [Anm. d. Übers.: im Originaltext ist von »Rillen« die Rede] Felsbildsequenz des Felsens Nr. 1 älter als oder zeitgleich mit dem ›Oberen Solutréen‹ ist, dass im Übrigen an mehreren Fundstellen der Region nachgewiesen werden konnte29 . 1.2 Chronologische Abfolge auf der Grundlage von Überresten der Kleinkunst Während die Ausgrabungen am Fundort Fariseu einen Mindestzeitansatz für die frühe Kunstphase des Paläolithikums im Côa-Tal ergaben, führten die archäologischen Ausgrabungen an anderen Fundplätzen zur Entdeckung graphischer Zeugnisse auf beweglichem steinernen Trägermaterial, anhand derer sich die stilchronologische Abfolge näher bestimmen lässt (Abb. 6). Die Fundstelle Quinta da Barca Sul erbrachte einen schiefernen 26 27 28 29 76 Aubry – Baptista 2000; Aubry – García Diez 2000; Baptista 2009. Aubry – Sampaio 2008; Aubry 2009. Guy 2010. Zilhão 2003; Aubry 2009. THIERRY AUBRY, LUÍS LUÍS Abb. 6 | Chronologischer Rahmen der Zeichnungen auf beweglichen steinernen Bildträgern aus den paläolithischen Fundorten des Côa-Tales. Kieselstein, der auf beiden Seiten Bündel paralleler Ritzlinien trägt und somit definitionsgemäß den ›Azilien-Kieseln‹ zuzurechnen ist30. Diese stilistische Einordnung wird durch das in der stratigraphischen Einheit Nr. 3, aus der dieses Objekt stammt, gefundene lithische Material und die TL-Datierung dreier erhitzter Quartz-Kiesel (11.600 ± 1.200, 11.900 ± 1.100 und 12.700 ± 100 BP) aus diesem Befund gestützt. Zu den ersten beiden Exemplaren, die im Rahmen der im Jahre 1999 am Fels Nr. 1 des Fundortes Fariseu durchgeführten Sondierungsgrabung in der Schicht Nr. 4 gefunden wurden31, sind mehr als 80 Stücke hinzugekommen. Unter diesen im Jahre 2004 bei geologischen und geophysikalischen Sondierungen sowie in den Jahren 2005 und 2007 30 31 Couraud 1985; D’Errico 1994. García Diez – Aubry 2002. UMWELT UND SOZIALER KONTE X T PAL ÄOLITHISCHER FREIL ANDKUNS T, CÔA -TAL 77 bei Ausgrabungen entdeckten Objekten weisen rund 50 zweifellos anthropogene Ritzungen auf32 . Zwei Exemplare mit anthropogenen Zeichnungen stammen aus einem Bereich, in dem sich die stratigraphischen Einheiten Nr. 7 und Nr. 8 nicht voneinander unterscheiden lassen. Obgleich sie unvollständig sind, zeigt jedes dieser Stücke ein unter stilistischen Gesichtspunkten charakteristisches Motiv. Alle übrigen gravierten Schieferstücke stammen aus der stratigraphischen Einheit Nr. 4. Aufgrund der TL-Datierungen (11.000 ± 1.000, 10.800 ± 1.700 und 11.800 ± 900) sowie der Datierung der Knochen (10.510 ± 40 et 9.830 ± 130 BP), die dem organischen Material der Schicht Nr. 4 zugehören, ist die Ausarbeitung dieser zoomorphen Motive in die Kaltphase der älteren Dryaszeit einzuordnen und somit zeitgleich mit der Besiedlungsphase an der Basis der Schicht Nr. 3 vom Fundplatz Quinta da Barca Sul. Bezüglich morphologischer und stilistischer Aspekte unterscheiden sich die an den zoomorphen Figuren aus der Schicht Nr. 4 erkennbaren Darstellungskonventionen nicht von denen, die schon bei den ersten Fundobjekten beobachtet wurden33 . Die von Fernando Barbosa und André Santos vorgelegten Beschreibungen und systematischen Aufnahmen zeigen, dass zur Erzeugung der einzelnen Linien, die man in Parallelsequenzen anordnete oder zu figurativen bzw. zoomorphen Darstellungen zusammenfügte, feine Ritzungen als Technik angewandt wurden. Unter den zoomorphen Abbildungen dominieren Hirsche, Ziegenartige oder Gämsen. In einem Fall handelt es sich möglicherweise um eine anthropomorphe Figur oder um die Darstellung eines nachtaktiven Raubvogels in Vorderansicht. Die Wiedergabe des Körpers der zoomorphen Figuren gründet sich auf dieselben geometrischen Konstruktionsprinzipien, die bereits an den im Jahre 1999 entdeckten Objekten aufgefallen waren, wobei an den jeweils zwei oder vier abgebildeten Gliedmaßen das Extremitätenende nicht dargestellt ist (Abb. 6). Der Vergleich der Kleinkunstfunde aus der Schicht 4 vom Fundort Fariseu mit den Zeichnungen an den Felswänden des unteren Côa-Tales und der Einmündung in den Douro zeigt große stilistische Übereinstimmungen34 . Auf dieser Grundlage lassen sich zahlreiche durch Mehrfachritzungen erzeugte Bilder von Hirschen und Ziegenartigen in diese Endphase des Pleistozäns einordnen (Abb. 7). Weil genau diese Technik auch auf einem Fundstück aus der Schicht Nr. 7/8 verwendet wurde, kann allerdings nicht ausgeschlossen werden, dass diese stilistische Tradition in einer dem Magdalénien vorausgehenden Phase begonnen hat. Im stratigraphischen Zusammenhang mit den Objekten, die gegenständliche Motive aufweisen, wurde auch ein Quarzit-Kiesel gefunden, der auf beiden Seiten die Reste mineralischer, in parallelen Streifen angeordneter Pigmente trägt35 . Dieses Motiv ist Bestandteil der Bildervielfalt der ›Azilien-Kiesel‹36. 32 33 34 35 36 78 Aubry 2009. García Diez – Aubry 2002. Baptista 2008. Aubry 2009. D’Errico 1994; Couraud 1985. THIERRY AUBRY, LUÍS LUÍS Abb. 7 | Stilkonventionen der älteren und jüngeren Phasen des Jungpaläolithikums. UMWELT UND SOZIALER KONTE X T PAL ÄOLITHISCHER FREIL ANDKUNS T, CÔA -TAL 79 2 Interpretation der paläolithischen Petroglyphen 2.1 Was stellen die paläolithischen Petroglyphen dar? Die Tierdarstellungen überwiegen bei weitem – wie es auch im restlichen in den Höhlen und Abris des Côa-Tales erhaltenen Bilderkorpus und während der verschiedenen Kunstphasen der Fall ist – und im Bestiarium dominieren die Pferde, die großen Rinder (im vorliegenden Fall der Auerochse) und in geringerem Maße die Gämsen. Gleichwohl zeigt der Vergleich zwischen den beiden anerkannten Hauptphasen (d. h. einerseits die durch die Bilder auf dem Felsen Nr. 1 von Fariseu verkörperte vor-magdalénienzeitliche Kunst und andererseits das Ende des Spätglazials), dass die Hirsche gegen Ende der Sequenz an Bedeutung gewinnen – wie es auch durch die Untersuchung der Reste der Jagdfauna aus den gleichzeitigen Besiedlungsphasen der Höhlen und Abris hinsichtlich der relativen Häufigkeit dieser Art bezeugt ist37. In der älteren Phase handelt es sich im Wesentlichen um Tierdarstellungen im Vollprofil oder im verzerrten Profil, deren vollständige Gliedmaßenpaare ohne Hufe und mittels derselben Konturlinie abgebildet sind. Emmanuel Guy hat, wie oben beschrieben, mehrere konventionelle Formmerkmale bestimmt (geometrische Kontur, einfache Abbildung der Gliedmaßen ohne das Ende der Extremitäten, fehlende Darstellung von Einzelheiten des Körpers), die er als Argument für die Existenz einer künstlerischen Schule betrachtet, diese Schule sei durch gemeinsame Mythogramme gekennzeichnet38. Zumeist überlagern sich die Darstellungen aus dieser Zeit traubenartig39 und bilden auf diese Weise einen Verbund, der einer geplanten Ordnung unterworfen ist und dessen Linien bis zu einem Viertel der bearbeiteten Oberfläche bedecken 40. Die Darstellung der Tierbewegungen geschieht durch segmentale Belebtheit. Diese Belebtheit kann sowohl durch die Abbildung der Momentaufnahme einer Bewegung – wie es von einem Großteil der paläolithischen Höhlenkunst bekannt ist 41 – als auch (vor allem) durch die Aufgliederung der Körpersegmente des Tieres bzw. durch die Darstellung einer Figur mit mehreren Beinen und/oder Köpfen erzeugt werden 42 . Dieses Verfahren, das in der paläolithischen Kunst seltener vorkommt, ist auch in der Höhlenkunst belegt 43 . In Verbindung mit Tierfiguren, die nach stilistischen Kriterien dem ›Mittleren‹ oder ›Oberen‹ Magdalénien zuzuordnen sind, treten auch karikaturhafte menschliche 37 38 39 40 41 42 43 80 Zilhão 1997. Guy 2010. Schefer 1999. Guy 2010. Leroi-Gourhan 1992. Luís 2008. Azéma 1992. THIERRY AUBRY, LUÍS LUÍS Darstellungen auf. In der jüngsten Phase des Jungpaläolithikums erscheinen geometrische Zeichen und Szenen, in denen mehrere Tiere derselben Art miteinander verknüpft sind. 2.2 Von welchen natürlichen und menschlichen Faktoren hängt die Verteilung der Petroglyphen im Côa-Tal ab? Obgleich die Verbreitungskarte der Felsen mit Petroglyphen das Ergebnis systematischer Begehungen ist, muss das Gesamtbild relativiert werden. Es ist weder möglich denjenigen Teil des Côa-Tales zu begehen, der sich derzeit im Einzugsbereich des Stauwerkes von Pocinho befindet, noch einen großen Teil des Douro-Beckens, dessen portugiesischer Bereich durch mehrere Staudämme in Mitleidenschaft gezogen ist. Ein weiterer unsere Erkenntnismöglichkeiten begrenzender Faktor ist die Verwendung von Bruchstücken der Felsritzungen tragenden Aufschlüsse zur Errichtung von Stützmauern für die landwirtschaftlichen Terrassenkulturen 44 . Es handelt sich dabei um für das Douro-Tal kennzeichnende Anlagen, die seit dem Beginn des 17. Jhs. belegt sind. Unter Berücksichtigung dieser beiden Faktoren wird gleichwohl deutlich, dass die Bildfelder – ungeachtet ihrer Zeitstellung – keine gleichmäßige Verteilung aufweisen. Vielmehr sind sie auf den letzten acht Kilometern des Tales zusammengedrängt, und zwar genau in dem Bereich, in dem der Wasserlauf die Schiefer der Pinhão-Formation verlässt und in die des Rio Pinhão eintritt. Der Fundort Faia, der von den größeren Bildfeldkonzentrationen relativ isoliert ist, besteht aus zwei Granit-Aufschlüssen, die durch eine kleine Auskragung geschützt sind. In Anbetracht der räumlichen Übereinstimmung mit der Grenze zwischen zwei geologischen Formationen haben wir die Vermutung geäußert, dass in Abhängigkeit von den Auswirkungen klimatischer Faktoren sowie von der Höhenlage, der Temperatur und der mineralischen Zusammensetzung ein unterschiedlicher Erhaltungsgrad der natürlichen Felsoberflächen vorliegt 45 . Bei den paläolithischen Motiven auf den 330 veröffentlichten Bildfeldern handelt es sich mehrheitlich um Ritzungen, die – auf der Grundlage eines morphologischen und stilistischen Vergleiches mit den Kleinkunst-Stücken aus der stratigraphischen Einheit Nr. 4 vom Fundort Fariseu – der jüngeren Dryaszeit zugerechnet werden können 46. Diese Bilder befinden sich auf Felsoberflächen, die sich auf alle Hänge verteilen, wobei die größte Dichte im Bereich des Zusammenflusses von Côa und Douro zu verzeichnen ist und kürzlich mehrere neue Bildfelder im Gipfelbereich des bei Vila Nova de Foz Côa gelegenen Plateaus entdeckt worden sind 47. Demgegenüber drängen sich die gepunzten 44 45 46 47 Baptista – Reis 2008. Aubry et al. 2002. Baptista 2009; Aubry – Sampaio 2008. Baptista – Reis 2008. UMWELT UND SOZIALER KONTE X T PAL ÄOLITHISCHER FREIL ANDKUNS T, CÔA -TAL 81 Petroglyphen der älteren Stilphase48 – trotz der systematisch durchgeführten Begehungen – in der unteren Zone zusammen, dabei beschränkt sich ihre Verbreitung im Wesentlichen auf den Bereich der letzten acht Kilometer und die unteren 70 Meter oberhalb der Niedrigwasserlinie. In einem kürzlich veröffentlichten und durch eine bereits vor einigen Jahren vorgelegte Arbeit 49 angeregten Aufsatz50 wurde die Vermutung geäußert, dass die Häufung der südlichen und östlichen Expositionsrichtung bei den Bildfeldern, die paläolithische Motive tragen, durch eine anthropogene, zum Zeitpunkt ihrer Herstellung getroffene Wahl bedingt sei (Abb. 2). Die allgemeine Nordwest-Südost Ausrichtung des felsigen Untergrundes entspricht jedoch vollkommen derjenigen, die aus den Übersichten der regionalen tektonischen Verwerfungen hervorgeht, die sich wiederum aus den Auswirkungen der Kompressionsspannung in der jüngsten Phase der variszischen Orogenese ableiten lassen51. Die räumliche Verteilung der der Eisenzeit zuzurechnenden Petroglyphen deckt sich im Übrigen mit derjenigen der aus dem Endpaläolithikum datierenden Darstellungen (Abb. 2). In unterschiedlichen Hanglagen sind mehrfach Überlagerungen von stilistisch dem Spätglazial zuschreibbaren Darstellungen durch eisenzeitliche Motive festzustellen52 . Daran zeigt sich, dass die Felsoberflächen zumindest seit dem Ende des Pleistozäns stabil sind. Da die beiden Phasen künstlerischer Darstellung mit ganz verschiedenen Gesellschaften verknüpft sind, ist nur schwer vorstellbar, dass einerseits Jäger und Sammler und andererseits hierarchischen Regeln unterworfene Erzeuger dieselben Bildfelder ausgewählt haben, um darauf sehr unterschiedliche Motive abzubilden. Vielmehr verhält es sich so, dass die Mehrzahl der der älteren Phase zugehörigen Bildfelder, die sich auf die beiden den Fundorten von Quinta da Barca und Penascosa gegenüberliegenden Hänge verteilen, keine durch jüngere Bilder überlagerten paläolithischen Motive aufweisen (Abb. 9). Diese sind zwar auch an den Fundplätzen vorhanden, befinden sich jedoch auf anderen Bildfeldern53. Eine Studie zum Erhaltungsprozess hat gezeigt, dass die Erhaltung der metallisch-siliziösen Patina – bei der es sich um einen der wichtigsten Faktoren für den Schutz der gravierten Felsoberflächen handelt – mit zunehmender Entfernung von der Niedrigwasserlinie des Côa-Flusses schnell abnimmt54 . Die Unterschiede hinsichtlich der räumlichen Verbreitung der Petroglyphen aus den beiden wichtigsten paläolithischen Kunstphasen – die sich durch einen stilistischen Vergleich anhand der am Fundort Fariseu objektiv gesicherten Daten zeitlich einordnen lassen – sind sowohl durch die Auswahl bestimmter Felsbildträger55 als auch durch Unterschiede bei den Erhaltungs48 49 50 51 52 53 54 55 82 Baptista et al. 2008a; Baptista 2008b. Baptista – García Diez 2002. Fernandes 2010. Ribeiro 2001. Zilhão 1997; Baptista – Reis 2008. Baptista – Santos 2010. Chauvière et al. 2009. Baptista – Santos 2010. THIERRY AUBRY, LUÍS LUÍS bedingungen der Gravierungen der älteren Phase (insbesondere unter dem Einfluss von Temperaturschwankungen während mehrerer Kaltphasen des Spätglazials, die durch dem Felsen Nr. 1 von Fariseu gegenüberliegende Ablagerungen belegt sind)56 zu erklären. Diese verschiedenartigen Feststellungen implizieren, dass die Expositionsrichtung der Bildfelder durch die Ausrichtung des Netzes der tektonischen Frakturen (die entlang der Nordost/Südwest-Achse konzentriert sind) vorgegeben ist. Im Übrigen gehen die Unterschiede im Erhaltungszustand der Gravierungen auf klimatische Faktoren zurück wie auch auf die Verwitterungswirkung, die seit dem Spätglazial durch die Besiedlung mit Flechten und Moosen ausgelöst ist und besonders die nach Nordwesten exponierten Felsoberflächen betrifft57. Es ist hervorzuheben, dass allein der Felsen Nr. 1 von Fariseu insgesamt 94 von 397 der älteren Phase zuzuordnenden Darstellungen trägt58 und dass das Potential dieses Fundortes, der noch mindestens einen weiteren reich bebilderten Felsen aufweist, nicht ausgeschöpft ist. Diese Feststellung und die Tatsache, dass die beiden Felsen, die die meisten Bildüberlagerungen aufweisen, nahe am Rand der Aufschüttungsebene liegen (Fels Nr. 1 von Quinta da Barca und Fels Nr. 1 von Fariseu), geben uns Anlass zu der Vermutung, dass die Überlieferung der Petroglyphen der älteren Phase in direktem Zusammenhang mit der Existenz einer Abdeckung des Talgrundes durch eine Aufschüttungsebene steht. Die Entdeckung des Felsens Nr. 1 von Fariseu zeigt, dass folglich noch zahlreiche Felsbildträger unter den Anschwemmungen zu entdecken sein werden59. 2.3 Von wo aus sind die Bilder sichtbar und in welcher Weise stehen sie zueinander in Beziehung? Die Sichtbarkeit ist nach den für die paläolithischen Bilder des Côa-Tales vorliegenden funktionalen Deutungen ein bedeutender Faktor60. Gleichwohl weisen die Positionsmerkmale der Gravierungen mit Bezug auf ihre natürliche Umgebung in den beiden zeichnerischen Hauptphasen des Paläolithikums deutliche Unterschiede auf. In der älteren Phase treten die Bildfelder hauptsächlich im Randbereich der Aufschüttungsebene des Côa-Flusses auf, so dass mehrfach auf ihre Beziehung zum Wasserlauf bzw. seine jahreszeitlich bedingten Schwankungen hingewiesen wurde61 . In den ergiebigsten Bereichen sind die Bildfelder häufig wie auf einem Podest angeordnet. Diese Gliederung ergibt sich aus dem Zusammenspiel der Ausrichtung der Schieferlagen des Muttergesteins und der parallelen Brüche, die das Muttergestein durchziehen (Abb. 5). Diese 56 57 58 59 60 61 Aubry et al. 2010. Aubry et al. 2012. Baptista et al. 2008a; Baptista et al. 2008b. Aubry et al. 2010. Baptista – García Diez 2002. Schefer 1999. UMWELT UND SOZIALER KONTE X T PAL ÄOLITHISCHER FREIL ANDKUNS T, CÔA -TAL 83 Häufungen [Anm. d. Übers.: von Bildfeldern] befinden sich am Rand der Hanglagen62 in den Bereichen, in denen das Tal breiter wird und sich derzeit Anschwemmungen ablagern. Isolierte Felsen mit einer geringeren Zahl von Bildern stehen in höheren Hanglagen oder entlang der zeitweiligen Zuflüsse des Côa-Flusses. Die Anhäufungen nebeneinander gesetzter Bilder auf ein und demselben Bildträger wurden dahingehend gedeutet, dass eine Monumentalisierung des natürlichen Raumes beabsichtigt gewesen sein könnte63 . Innerhalb dieser absichtlichen Störung durch die Überlagerung von Bildern – die jeweils vereinfachte taxonomische Merkmale aufweisen und unmittelbar lesbar sind – wird von einigen Autoren64 für die dieser Phase der Fundorte Quinta da Barca, Penascosa, Fariseu und Canada do Inferno zugeschriebenen Bilder die Existenz struktureller Muster angenommen, bei denen die dargestellten Arten, die Größe und Ausrichtung der Figuren sowie der Abstand zwischen den Felsen eine Rolle spielten. Die jeweiligen Anteile der auf den einzelnen Bildfeldern dargestellten Tierarten hätten darüber hinaus unterschiedliche Bereiche innerhalb dieser Felsbildfundorte definiert (hauptsächlich Hirsch, hauptsächlich Aurochse, usw.). Durch die Orientierung der jeweiligen Figurenmehrheit auf einem Bildfeld schließlich sei auch eine Laufrichtung im Rahmen eines die verschiedenen Bildfelder miteinander verbindenden Parcours definiert worden. Die Bilder aus der Endphase des Paläolithikums sind demgegenüber von geringerer Größe, sie weisen nur selten Überlagerungen auf und sind in den Fällen, in denen mehrere Tiere derselben Art miteinander verknüpft sind, szenisch angeordnet. Sie befinden sich auf Bildfeldern, die sich über die gesamten Hanglagen verteilen. Im Hinblick auf die Bildfelder, die Darstellungen dieser Periode aufweisen, wurde die Vermutung geäußert, dass sie zwar nach wie vor dieselbe Funktion hatten, ihre sequentielle Visualisierung jedoch die Anwesenheit eines über ihr Vorhandensein informierten ›Führers‹ erfordert hätte, was mehrere Erkenntnisebenen implizieren würde65 . Um diese Beobachtungen zur Sichtbarkeit der Darstellungen in den beiden wichtigsten zeichnerischen Phasen genauer zu bestimmen, wurde nach Techniken untergliedert der den Bildern zugeschriebene Sichtbarkeitsabstand in messbare Größen umgesetzt. Aufgrund der Untersuchungsergebnisse schlagen wir eine Deutung der paläolithischen Darstellungen vor. Es wurde eine Versuchsreihe mit der Zielsetzung durchgeführt, die Sichtbarkeit der Linien auf einem – nach der Farbskala der Bodenfarben von André Cailleux66 – dunkelbraunen Bilduntergrund (Farbton R-69) zu bewerten. Die mit Hilfe von zwei Personen – die sich auf ebenem Untergrund schrittweise von der Felswand entfernten – erarbeiteten Ergebnisse erlauben eine Quantifizierung der maximalen Entfernung, bei der übereinstimmend breite Linien in drei unterschiedlichen Farbtönen noch erkennbar sind (Abb. 8). 62 63 64 65 66 84 Baptista – García Diez 2002. Zilhão 1998. Baptista et al. 2006; Baptista et al. 2008a; Baptista et al. 2008b; Baptista – Santos 2010. Baptista – Santos 2010. Cailleux 1979. THIERRY AUBRY, LUÍS LUÍS Abb. 8 | Experimentelles Bezugssystem zur Bewertung der Sichtbarkeit anhand von Farbe und verwendeter Technik. UMWELT UND SOZIALER KONTE X T PAL ÄOLITHISCHER FREIL ANDKUNS T, CÔA -TAL 85 Abb. 9 | Sichtbarkeit der Darstellungen der älteren Phase an den Fundorten Quinta da Barca und Penscosa (M. 1 : 7500). 86 THIERRY AUBRY, LUÍS LUÍS Abb. 10 | Sichtbarkeit der vom Ende des Jungpaläolithikums datierenden Darstellungen auf Felsen der Fundorte Vale de José Esteves, Vermelhosa und Penascosa. UMWELT UND SOZIALER KONTE X T PAL ÄOLITHISCHER FREIL ANDKUNS T, CÔA -TAL 87 Tab. 1 | Sichtbarkeit zwischen den Bildfeldern von Quinta da Barca. Die Abfolge zwischen den Bildfeldern folgt der von Baptista et al. 2008b vorgeschlagenen Anordnung. Die Werte entsprechen: nicht sichtbar (0), Sichtbarkeit des Aufschlusses außerhalb des Lesbarkeitsbereiches der Linien von 150 m (1), Sichtbarkeit des Aufschlusses innerhalb des Lesbarkeitsbereiches der Linien (2), Sichtbarkeit der Bildfeldoberfläche außerhalb des Lesbarkeitsbereiches der Linien (3) und Sichtbarkeit der Bildfeldoberfläche und der Linien innerhalb des Lesbarkeitsbereiches (4). Bezüglich der Oberflächen, die die im Tal am häufigsten vertretenen Farbtöne aufweisen, war festzustellen, dass die gepunzte Linie, die darauf einen weißen Kontrast bildet, über die größte räumliche Distanz hinweg sichtbar ist. In einem zweiten Schritt wurden unter Einsatz mehrerer im Paläolithikum verwendeter Techniken Felsbildlinien erzeugt und die maximale Sichtbarkeitsentfernung quantifiziert. Schließlich wurde ein Versuch durchgeführt, bei dem die Beobachter sich schrittweise den in den verschiedenen Techniken als Zahlen ausgeführten Darstellungen näherten. Es ist nun möglich, bezüglich der in den unterschiedlichen Techniken ausgeführten frischen Linien, die den größten Kontrast gegenüber dem Untergrund aufweisen, einen Grenzwert für die Sichtbarkeit der gravierten Darstellungen anzugeben. Wir haben diesen Ansatz auf Bildfelder der beiden Kunstphasen des Jungpaläolithikums angewendet: Dies betraf an den Fundorten Penascosa/Quinta da Barca die ältere Phase (Abb. 9) und auf einem Felsen von Vale de José Esteves, Vermelhosa und Penascosa das Ende des Jungpaläolithikums (Abb. 10) Die im Rahmen der Versuchsreihen gewonnenen Daten wurden unter Nutzung der Sichtbarkeitsanalyse in einem geographischen Informationssystem auf die während des 88 THIERRY AUBRY, LUÍS LUÍS Tab. 2 | Sichtbarkeit der Bildfelder von Penascosa in Quinta da Barca (s. Tab. 1 für weitere Einzelheiten). Tab. 3 | Sichtbarkeit zwischen den Bildfeldern von Penascosa (s. Tab. 1 für weitere Einzelheiten). Tab. 4 | Sichtbarkeit der Bildfelder von Quinta da Barca in Penascosa (s. Tab. 1 für weitere Einzelheiten). Paläolithikums gearbeiteten Bildfelder angewendet67. Die verschiedenen Bildfelder und die Darstellungen der älteren Phase an den Fundorten Penascosa und Quinta da Barca wurden insgesamt auf die Sichtbarkeit der Linien, der Oberflächen und des Aufschlusses hin betrachtet. Darüber hinaus wurde die durch die bevorzugte Ausrichtung der Klüfte (NNO/SSW in Penascosa und Quinta da Barca, NO/SW an den übrigen Fundorten) vorgegebene Ausrichtung der Bildfelder einbezogen (Tab. 1–4). Im Hinblick auf die Vermutung, dass sie ein und demselben Parcours zugehören, zeigen die Ergebnisse, dass sich die vorgeschlagenen Strecken nicht vollständig durch die Ortung der entlegenen Darstellungen erklären lassen68. In zahlreichen Fällen sind sie, aufgrund der Entfernung und der Topographie des dazwischen liegenden Geländes, nicht erkennbar. 67 68 Wheatley – Gillings 2002. Baptista et al. 2008b; Baptista – Santos 2010. UMWELT UND SOZIALER KONTE X T PAL ÄOLITHISCHER FREIL ANDKUNS T, CÔA -TAL 89 Unter der Voraussetzung, dass eine stilistische Homogenität einem übereinstimmenden symbolischen Code entspricht, lassen sich mit Rücksicht auf die örtliche Topographie anhand der räumlichen Analyse alternativ diejenigen Plätze bestimmen, von denen aus die größte Zahl von Bildfeldern lesbar ist. Der Punkt A befindet sich [Anm. d. Übers.: mit Bezug auf den Parcours] auf halbem Wege von der Aufschüttungsebene entfernt (Abb. 9). Von dort aus sind die Linien auf allen Bildfeldern des Fundortes sichtbar – mit Ausnahme des Felsens Nr. 11, der in einer Entfernung von 253 Metern flussabwärts liegt. Darüber hinaus ist von dort aus der größte Teil der Gravierungen sichtbar, die sich am Hangfuß des Fundplatzes Quinta da Barca befinden. Der Punkt B liegt auf einer durch eine Aufschüttungsterrasse gebildeten Plattform. Von dort aus sind die Bildfelder im oberen Hangbereich des Fundortes Quinta da Barca sowie die am Rand der Aufschüttungsebene von Penascosa befindlichen Bildfelder sichtbar, wobei jedoch die gravierten Linien nicht erkennbar sind. Auf die an das Ende des Jungpaläolithikums datierte jüngere zeichnerische Phase bezogen ist vor dem Hintergrund der Versuchsergebnisse festzustellen, dass sich – im Unterschied zu den gepunzten Gravierungen der älteren Phase – die Sichtbarkeit ihrer Bilder auf den Raum der kleinen Plattformen beschränkt, die direkt an den Bildfeldern liegen (Abb. 10). Von keinem Punkt aus sind die Darstellungen von mehr als zwei verschiedenen Bildfeldern lesbar (Vale do José Esteves 16, Vermelhosa 1, Penascosa 10). 3 Übertragung der aus Côa bekannten Gegebenheiten auf einen größeren Maßstab Trotz fehlender systematischer Begehungen im größten Teil Portugals und Spaniens und der Schwierigkeiten, die mit der Auffindung patinierter, fein eingeritzter Gravierungen verbunden sind, zeigt die verfügbare Verbreitungskarte69, dass die im unteren Côa-Tal vorhandene Dichte künstlerischer Zeugnisse des Paläolithikums und der Eisenzeit entlang der nahe gelegenen Nebenflüsse des Douro, die noch nicht durch Staudammbauten (Ribeira de Aguiar, Àgueda) in Mitleidenschaft gezogen worden sind, keine Entsprechung hat. Im oberen Bereich dieses Einzugsgebietes und desjenigen weiterer Nebenflüsse des Douro dürfte jedoch während des letzten glazialen Maximums ein ähnliches durch Regen und Schnee gekennzeichnetes Niederschlagsregime vorgeherrscht haben, wie wir es für das Côa-Tal rekonstruiert haben. Bei letzterem ist dies eine mögliche Erklärung für dessen Besiedlung während des Jungpaläolithikums70. Am Fundort Siega Verda können nur einige wenige Darstellungen unter stilistischen Gesichtspunkten mit den Bildern der älteren Phase des Côa-Tales gleichgesetzt werden71 . Die in einem aus dem jüngeren 69 70 71 90 Baptista 2009; Reis mündliche Mitteilung. Aubry et al. 2002. Guy 2010. THIERRY AUBRY, LUÍS LUÍS Abb. 11 | Herkunft der während des Jungpaläolithikums an den Fundstellen des Côa-Tales verwendeten Silexstücke und mögliche Deutungsmodelle. Holozän datierenden, alluvialen sedimentären Zusammenhang erhaltenen Felsbilder72 könnten ein Gegenstück zu den in Penascosa und Quinta da Barca entdeckten Petroglyphen darstellen. Sie könnten darüber hinaus als Hinweis auf die Existenz weiterer, unter Sedimenten verborgener Fundplätze im flussabwärts gelegenen Teil des Einzugsgebietes zu werten sein. Hinsichtlich der für das Coâ-Tal charakteristischen Ausdehnung und großen Dichte der Felsbildfundplätze sind mehrere, auch einander ergänzende Erklärungen möglich. Eine erste Vermutung besagt, dass die Überlieferung der Gravierung das Ergebnis des Zusammenspiels natürlicher Faktoren sei, die mit der Art des geologischen Untergrundes, der Tektonik und den während des Pleistozäns und des Holozäns herrschenden klimatischen Bedingungen zusammenhängen würden und bessere Erhaltungsbedingungen als anderswo geboten hätten. Auch ist vorstellbar, dass sich – abgesehen von den besonderen Erhaltungsbedingungen – die Dichte der erhaltenen Gravierungen aus einer im Vergleich zu den angrenzenden Regionen intensiveren Besiedlung des Tales aufgrund besonderer Merkmale und Ressourcen ergibt. Wobei dies sowohl für die Jäger- und Sammlergesellschaften als auch für die Bauern und Viehzüchter gilt. Die Untersuchung der Herkunft der an den Fundorten des Côa-Tales – einer Region, in der dieser Rohstoff nicht natürlich vorkommt – zurückgelassenen Silexstücke liefert weitere Informationen, die das Bild der Verbreitung der paläolithischen Felsbilder und der sonstigen Fundstellen abrunden. Auf dieser Grundlage ist nicht nur eine Bewertung der 72 Alcolea González – Balbín Behrmann 2006. UMWELT UND SOZIALER KONTE X T PAL ÄOLITHISCHER FREIL ANDKUNS T, CÔA -TAL 91 Größe der genutzten Territorien möglich, sondern es können auch mehrere Hypothesen bezüglich des zugrundeliegenden sozialen Netzwerkes entwickelt werden, die zur Erklärung derartiger Bewegungen beitragen73 (Abb. 11). Als Ergebnis dieser Untersuchung ist festzuhalten, dass Silex aus zwei einander entgegengesetzt liegenden Regionen verwendet wurde – das Material stammte zum einen aus der im Osten gelegenen Meseta und zum anderen aus Quellen, die sich im Südwesten, im Sedimentgestein Zentralportugals befanden. Dabei ist hervorzuheben, dass Geographen das Côa-Tal als natürliche Grenze zwischen dem Zentralplateau der Meseta und den westlichen Gebirgen ansehen74 . Eine Vermutung zur Frage der Versorgung mit Silex aus weit entfernten Regionen besagt, dass Menschengruppen, die regelmäßig die biotischen und lithischen Ressourcen der beiden geographischen Regionen nutzten, sich im Rahmen ihrer saisonalen Wanderungen ebenso regelmäßig an den Fundorten des Côa-Tales getroffen haben könnten (Abb. 11). Demnach könnte das im Grenzbereich zweier geographischer Regionen gelegene Côa-Tal ein bevorzugter Ort des wirtschaftlichen und kulturellen Austausches gewesen sein – dies wäre eine Erklärung für die Notwendigkeit, graphische Symbole mit starkem Identitätswert herzustellen75 . 3.1 Was bedeuten die Freilandzeichnungen der Iberischen Halbinsel? Die Daten, die dank der Umsetzung eines systematischen Forschungsprojektes über die Freilandkunst des Côa-Tales und ihren Kontext gesammelt werden konnten, ermöglichen ein verbessertes Verständnis der Prozesse, die im Laufe der Zeit die Erhaltung der Petroglyphen bedingt haben und auch eine bessere Einschätzung der Repräsentativität der überlieferten Bilder. In Anbetracht der für die Iberische Halbinsel inzwischen klarer bestimmten Bedingungen und in Folge der Entdeckung pleistozäner Gravierungen im Nilbecken76 ist für die Zukunft mit einem exponentiellen Anwachsen der Entdeckung pleistozäner Freilandkunst zu rechnen. Es ist nun möglich, den quantitativen Unterschied zwischen dem Bestand der Darstellungen im Freiland und dem der in Höhlen und Abris erhaltenen Gravierungen und Malereien zu relativieren, der zum Zeitpunkt der Entdeckung der ersten Anzeichen für die Existenz einer paläolithischen Freilandkunst hervorgehoben worden war77. Es bleibt jedoch weiterhin zu klären, ob das Fehlen zeichnerischer Äußerungen auf den unter freiem Himmel gelegenen Aufschlüssen der Karstregionen, in denen auch Bilderhöhlen vorkommen, das Ergebnis einer kulturell bedingten Auswahl oder die Folge zerstörender 73 74 75 76 77 92 Aubry 2009; Aubry et al. 2002; Aubry – Igreja 2009; Aubry – Mangado 2006. Ribeiro 1971. Aubry – Mangado 2006; Luís – García Diez 2008. Huyge et al. 2007. Lorblanchet 1995. THIERRY AUBRY, LUÍS LUÍS Verwitterungswirkungen ist, die auf den durch die Frostverwitterung stärker in Mitleidenschaft gezogenen Kalkfelsen nördlich der Pyrenäen ausgeprägter sind. Im Hinblick auf die ältere Kunstphase im Côa-Tal deuten die verwendeten Techniken, der breite lineare Strich, die morphologische und stilistische Vereinfachung sowie die topographische Positionierung, darauf hin, dass – wie es sich auch durch unsere Raumanalyse der Fundorte Quinta da Barca und Penascosa bestätigt hat – ein klarer Wille vorhanden war, die Bilder auf möglichst breitem Raum den Blicken auszusetzen. Die kleineren und topographisch anders positionierten Ritzzeichnungen aus der Endphase des Jungpaläolithikums sind demgegenüber – trotz der Verwendung von Mehrfachlinien – deutlich schlechter sichtbar. Dieser Gegensatz ist Ausdruck unterschiedlicher Symbolgehalte, Funktionen, Umstände und Lesarten. Während die Kunst der älteren Phase eine Verknüpfung der Bilder im Maßstab der in ein Denkmal verwandelten Landschaft voraussetzt, scheint diejenige der jüngeren Phase auf den Maßstab des Felsens beschränkt zu sein. Die Sichtbarkeitsanalyse zeigt, dass das Bestehen organisierter Parcours zwischen den Bildfeldern der älteren Phase78 auch – da sie untereinander nicht sichtbar sind – das Vorhandensein bestimmter durch die Darstellungen gelieferter Botschaften zur Orientierung sowie die Existenz eines Mittlers oder eines kollektiven Gedächtnisses bezüglich ihrer Standorte impliziert. Der Einwand, dass Darstellungen aus dazwischenliegenden Positionen eventuell nicht überliefert sind, lässt sich nicht ausräumen. Deshalb vertreten wir die alternative Vermutung, dass Bildfeldgruppen als szenographische Elemente gedient haben könnten, die Punkte umgeben haben, an denen Ereignisse von großer sozialer Bedeutung stattfanden. In diesem Sinne hat die Kulisse keine dekorative Funktion, sondern schafft einen Raum und nimmt an den darin ausgeführten Handlungen teil. Die Vermutung einer Verbindung zwischen paläolithischer Kunst und sozialem Zusammenhalt ist nicht neu79. Mit Bezug auf die Fundstellen des Gravettien und des Solutréen ist auf regionaler Ebene das systematische Vorhandensein von aus 150 km Entfernung stammenden Silexstücken, nämlich aus in der Meseta und im lusitanischen Sedimentbecken gelegenen Rohstoffquellen, ein zusätzliches Argument sowohl für das Vorhandensein eines regelmäßigen Austausches zwischen den verschiedenen Menschengruppen dieser beiden Regionen als auch für diese erklärende Hypothese [Anm. d. Redaktion: die Verbindung der Bilder mit Funktionen im sozialen Gefüge] selbst80. Die sozialen Praktiken heutiger Jäger- und Sammler-Gruppen – wie etwa der Einwohner der Andamanen-Inseln (Indischer Ozean) – können uns über den möglichen Zusammenhang der sozialen Verwendung dieser Kunst Auskunft geben. Zur Vermeidung territorialer Konflikte oder der Blutsverwandtschaft versammeln sich – in Regionen mit hohem demographischen Druck – Gruppen in angrenzenden oder umstrittenen Gebieten, 78 79 80 Baptista et al. 2008b; Baptista – Santos 2010. Conkey 1980. Aubry – Mangado 2006. UMWELT UND SOZIALER KONTE X T PAL ÄOLITHISCHER FREIL ANDKUNS T, CÔA -TAL 93 Fariseu (c4) – 10.800/11.800 BP Abb. 12 | Unterschiede hinsichtlich der Versorgung mit Silex und siliziumhaltigem Gestein zwischen Besiedlungsschichten des Endmagdalénien (Fariseu, Schicht 4) und des Gravettien (Olga Grande 4, Schicht 3). Olga Grande (c3) – 27.200/31.00 BP um dort wirtschaftlichen Aktivitäten nachzugehen, gemeinsam zu essen, Geschenke auszutauschen, zu singen und zu tanzen oder gar Ehepartner auszutauschen und Kinder zu adoptieren81 . Das Côa-Tal betreffend lässt sich die in einer geomorphologischen Grenzregion befindliche Kunst der älteren Phase unter einem derartigen Blickwinkel deuten. In der Endphase des Jungpaläolithikums ist dagegen zu beobachten, dass die Bildfelder auf den geneigten Hängen verstreut und folglich in geringerem Umfang sichtbar sind. Ein Bruch wird auch durch die Untersuchung der Silexversorgung bestätigt, die eine Verringerung der Bedeutung der im Inneren der Iberischen Halbinsel gelegenen Rohstoffquellen anzeigt (Abb. 12). Dieser Wandel könnte eine Änderung der Bedeutung des Côa-Tales als Versammlungsort für Gruppen, die Territorien im Bereich der Küste und der Meseta nutzten, widerspiegeln82 . Abgesehen von der Verbreitung innerhalb der Territorien ist ein weiterer grundlegender Unterschied [Anm. d. Übers.: gegenüber der 81 82 94 Kelly 2005. Aubry – Mangado 2006. THIERRY AUBRY, LUÍS LUÍS älteren Kunstphase] zu berücksichtigen: Das Auftreten von Kleinkunst in großer Menge – wie es in Fariseu belegt ist – zu einer Zeit, in der ein Teil der Gravierungen der älteren Phase, die den Fundort umgeben, noch sichtbar war. 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Aubry – L. Luís; Tab. 1–4: T. Aubry – L. Luís. UMWELT UND SOZIALER KONTE X T PAL ÄOLITHISCHER FREIL ANDKUNS T, CÔA -TAL 103 Bilder im städtischen Raum Alessandra Gilibert Archäologie der Menschenmenge Platzanlagen, Bildwerke und Fest im syro-hethitischen Stadtgefüge This paper investigates ceremonial plazas and monumental imagery in the Syro-Hittite city-states around 900 BC. It argues that the ruling dynasties of the early Iron Age designed ceremonial plazas at the heart of their capital cities as theatrical arenas for rituals involving crowds of spectators. The lavish sculptural decoration of the plazas related to events taking place on site and was directly involved in these events. The images indicate that the rituals at the plaza focused on the cult of the royal dynasty, its power and its legitimacy. In some cases, they also suggest that part of the ceremonies may have had a less formal, even carnevalesque spirit. The set-up of monuments contributed greatly to the specific atmosphere of the Syro-Hittite plaza and served as both a commemorative device and an impressive scenic backdrop for the rituals. Öffentliche Versammlungen von Menschen gehören zum Alltag jeder urbanen Gesellschaft. Oft erleben einzelne Individuen solche Ereignisse als sinnstiftende Momente der Selbstentgrenzung und der Konstruktion einer kollektiven Identität1. Für die Institutionen der Macht haben großangelegte Menschenansammlungen jedoch immer ein Janusgesicht. Sind sie spontan, beinhalten sie einen antagonistischen, bedrohlichen Charakter und jederzeit können sie »subversive Dämonen«2 entfesseln. Finden sie aber unter kontrollierten Umständen statt, haben sie ein enormes Potential für die Machtlegitimierung. Muammar alGaddafi beschreibt die Ambivalenz der Masse für viele Machtinhaber treffend, wenn er formuliert: »Ich liebe die Massen wie meinen Vater, und ich fürchte sie, wie ich ihn fürchte. […] Diese Massen… Selbst wenn sie klatschen, habe ich das Gefühl, dass sie mit dem Hammer schlagen«3. Um das politische Potential der Menschenmenge zu kontrollieren und zu kanalisieren, unterstützen Machtinstitutionen bestehende Massenrituale oder sie führen neue ein, die ihren Zwecken dienen4. Die Inszenierung von ritualisierten Massenereignissen ist ein komplexes Unterfangen, das auch im Bereich der Stadtplanung durchdachte Lösungen erfordert. Als ideale Raumkonfiguration für Menschenansammlungen wurden durch die Jahrtausende hindurch von Tikal bis Prag, von Rom bis Peking zentrale Platzanlagen errichtet. Plätze reflektieren die politische Ambivalenz von Massenveranstaltungen: Wer eine Platzanlage schafft, schafft gleichzeitig einen politisch gefährlichen Ort, wo Menschen sich auch spontan und antagonistisch versammeln können, um Macht neu zu verhandeln5. Um die Unberechenbarkeit der Zweckentfremdung zu minimieren, entstehen Platzanlagen 1 2 3 4 5 Köpping – Rao 2008. Giesen 2006, 359. Al-Gaddafi 2004, 59. Kertzer 1991. Jöchner – Nova 2010, 11; Wu Hung 1991. ARCHÄOLOGIE DER MENSCHENMENGE 107 meist in strategisch durchdachten Raumgefügen, in Zusammenhang mit Steuerungs- und Regelungssystemen des Verkehrs, wie Kontrollschleusen oder Zugangstrichtern. Wenn die Platzanlage ausdrücklich als Festplatz konzipiert ist, wird vor allem ihre choreographische Dimension bedacht: Tore, Blickachsen, Podeste, Kolonnaden, Fassadenschmuck, Inschriften und monumentale Bilder funktionieren als »Raummaschine«6, um die Wirkung von Zeremonien und Ritualen am Platz zu steigern. Die Macht der monumentalen Bilder ist hier von besonderer Bedeutung. Durch die Aufstellung permanenter Bilder und Inschriften wird am Platz ein Metadiskurs über den Raum und seine Nutzung eröffnet. Bilder und Texte nehmen Bezug auf die Handlungen, für die der Platz eingerichtet wurde, und versuchen, die Art und Weise der Wahrnehmung dieses Ortes einzugrenzen und zu strukturieren. Als architektonischer Körper7 und fühlbarer Raum8 zugleich bieten der Platz und seine Bilder den Besuchern ein mächtiges immersive environment. Insbesondere der Festplatz gewinnt eine herausragende Bedeutung als »gestalteter Außenraum«, der im Zentrum der Stadt Raum für öffentliche Ritualhandlungen schafft, diese ›aktiviert‹ und zugleich symbolisch veranschaulicht9. Von diesen Überlegungen ausgehend, versucht dieser Beitrag, das Phänomen »Menschenmenge« durch die Analyse ihrer architektonischen Korrelate archäologisch zu untersuchen. Im Zentrum der Untersuchung steht die Topologie des urbanen Platzes in den syro-hethitischen Stadtstaaten um 1000 v. Chr. Die Existenz von Stadtplätzen im alten Vorderen Orient ist selten wahrgenommen worden 10. Dies ist zu einem großen Teil einem orientalistischen Blick der Forschung auf die islamische Stadt geschuldet 11: Man lässt die labyrinthische Bebauungsdichte der islamischen Stadt zu einem dystopischen Phantasiegebilde, abstrahiert von Raum und Zeit, mutieren, das zum ewigen Modell der altorientalischen Stadttopographie erkoren wird – ein undurchdringbares Konglomerat, in dem einzig die geschlossenen Höfe von Palast und Tempel freie Fläche bieten. Der archäologische Befund und die schriftlichen Quellen widersprechen jedoch diesem Bild 12 . Im Folgenden wird am Beispiel der syro-hethitischen Stadtstaaten (Abb. 1) gezeigt, dass Plätze im Alten Orient existierten, dass sie in der Stadttopographie fest verankert waren und dass sie als öffentliche Räume für große Menschenansammlungen eine politische Dimension besaßen. 6 Hillier 1999. 7 Jöchner 2010, 56. 8 Glabau 2010, 20. 9 Jöchner – Nova 2010, 12. 10 Für zwei rezente Ausnahmen s. Buccellati 2010 und Laneri 2011. 11 Bonine 1979; Mazower 2002; Raymond 1994. 12 So erzählt zum Beispiel eine babylonische Novelle von einem kranken Mann, der in der Stadt Nippur nach dem Weg zum Arzt fragt: »Geh durch das große Tor«, erklärt ihm ein Freund, »es kommt zuerst eine Straße, dann eine Allee, und schließlich ein Platz« (Forster 1995, 363). 108 ALESSANDR A GILIBERT Abb. 1 | Die wichtigsten syro-hethitischen Zentren um 900 v. Chr. 1 Städtebau, Stadtplanung und zentrale Platzanlage im früheisenzeitlichen Syro-Anatolien Nach dem Ende des hethitischen Großreiches um 1200 v. Chr. bildeten sich im heutigen syrisch-türkischen Grenzgebiet einige unabhängige Fürstentümer heraus. Diese »rump states«13 pflegten zunächst weiterhin die hethitischen Traditionen. Große politische Bedeutung erhielt insbesondere die Stadt Karkemisch am Euphrat, die schon im hethitischen Großreich Sitz eines Vizekönigtums gewesen war. Dort überdauerte die Dynastie der hethitischen Vizekönige den Zerfall des Reiches: Der König Kuzi-Tešub, Urururenkel eines hethitischen Großkönigs, berief sich noch im 12. Jh. auf seine Abstammung und stilisierte sich bewusst als der rechtmäßige Erbe des Großreiches14 . Im Laufe der folgenden zwei Jahrhunderte wuchs die Anzahl der unabhängigen Fürstentümer und gleichzeitig sanken zunehmend die Territorialansprüche der mächtigsten unter ihnen. Gegen Ende des 10. Jhs. v. Chr. war keines der existierenden Fürstentümer länger in der Lage, Territorialansprüche zu formulieren. Infolgedessen etablierte sich in der Region ein Netz aus 13 14 Harrison 2009a, bes. Fig. 1. Hawkins 1988; Hawkins 1995. ARCHÄOLOGIE DER MENSCHENMENGE 109 Abb. 2 | Der Stadtplan von Karkemisch, Ende 10./Anfang 9. Jh. v. Chr. (M. 1 : 12 000). miteinander konkurrierenden »peer polities«15 mit stadtstaatlicher Identität (Abb. 1). Die Region war zu diesem Zeitpunkt geprägt von politischen Umwälzungen und dynastischen Unruhen. In Karkemisch und anderen traditionsreichen Stadtstaaten kämpften alteingesessene dynastische Linien um die Macht. Anderswo etablierten sich neue aufsteigende Eliten, die nicht selten ihre eigenen Städte gründeten. In vielen Bereichen kann man die bewusste Konstruktion neuer Traditionen aus Legitimationsgründen beobachten. Mit der politischen Neudefinition fiel ein ökonomischer Aufschwung zusammen, und beide Faktoren schlugen sich in der Neugestaltung vieler Städte nieder. Einer der wichtigsten 15 Das Begriff »peer polities« wird hier nach C. Renfrew als »autonomous socio-political units (i.e., selfgoverning and in that sense politically independent) which are situated beside or close to each other within a single geographical region« verstanden (Renfrew 1986, 1). 110 ALESSANDR A GILIBERT Abb. 3 | Der Stadtplan von Zincirli, Ende 10./Anfang 9. Jh. v. Chr. (M. 1 : 10 000). Aspekte dieser stadtplanerischen Welle war der Ausbau großer Platzanlagen im Zentrum der Stadt. Diese Platzanlagen blieben Jahrhunderte bestehen und wurden immer wieder wie ein architektonisches Palimpsest erweitert, verändert und umgestaltet. Im Folgenden wird jedoch ihre diachrone Entwicklung ausgeklammert. Die Platzanlagen werden vielmehr in ihrem Anfangszustand am Ende des 10./Anfang des 9. Jhs. analysiert. In dieser Phase der syro-anatolischen Eisenzeit entstanden Platzanlagen, die in der Stadttopologie als umbilicus urbis funktionierten. Die damalige Stadtstruktur – das zeigen die großflächigen Untersuchungen in Karkemisch, Zincirli, Tell Tayinat und Tell Halaf – folgte grundsätzlich einem konzentrischen Stadtmodell mit Befestigungsanlagen und ummauertem Zentrum (Abb. 2–5)16. Die Platzanlagen befanden sich unmittelbar hinter dem Haupteingangstor zum ummauerten Zentrum. Von dort aus öffneten weitere monumentale Tore den Zugang zu anderen, teilweise ineinander verschachtelten Sektoren des Zentrums, vor allem zum Palastbezirk. In der Tat ist die Teilung des Zentrums in Platz- und Palastbereich ein wichtiges Merkmal der syro-hethitischen Stadt 17. Demnach 16 Ein ähnliches Stadtmodell zeichnet sich ebenfalls in der topographischen Aufnahme von Tell Ahmar (Roobaert – Bunnens 1999) und Ain Dara (Stone – Zimanski 1999) ab. 17 Pucci 2008a, 126. 172. Für die besonders klare Zweiteilung in Tell Halaf vgl. auch Orthmann 2002, 28– 30. Der architektonische Befund in Hama lässt eine ähnliche Trennung zwischen zeremoniellem Zentrum und Wohnpalastbereich erkennen. Das Haupttor zur Zitadelle (ursprünglich vermutlich das Bâtiment III und ARCHÄOLOGIE DER MENSCHENMENGE 111 Abb. 4 | Der Stadtplan von Tell Tayinat, Ende 10./Anfang 9. Jh. v. Chr. (M. 1 : 10 000). bildete die Platzanlage den Mittelpunkt des Stadtzentrums, während die Palastanlagen mit Wirtschafts- und Wohnräumen an dessen Rand angelegt und, mit Ausnahme von Zincirli, durch Nebentore direkt von der Außenstadt erreichbar waren. In Zincirli, Karkemisch, Tell Halaf und Hama ermöglichen die Befunde einen Eindruck von der Größe der jeweiligen Platzanlagen (Abb. 3. 6–8). Berechnet anhand der ausgegrabenen Fläche, misst die Mindestgröße der Platzanlage in Karkemisch 2600 m 2 , in Hama 3600 m2 , in Zincirli 2400 m2 und 3500 m2 in Tell Halaf 18. In Zincirli, Tell Halaf und wahrscheinlich auch in Tell Tayinat verdoppelte man die freie Fläche, indem man hinter einem Mitteltor einen zweiten, ähnlichen Platz baute. Der zweite Platz lag hinter später das Bâtiment I) führte dort zunächst zu einem zentralen Platz. Von diesem Platz aus war über ein weiteres Tor (vermutlich das Bâtiment IV) der hintere Bereich der Zitadelle zu erreichen, wo Teile eines Wohnpalastes (Bâtiment V) ausgegraben worden sind: Fugmann 1958. 2 18 Oppenheim schätzt die Gesamtgröße der Fläche auf 6475m (Oppenheim 1950, 97). 112 ALESSANDR A GILIBERT Khab ur N M 100 0 50 300 metres M Platzanlagen mit „Tempel-Palast“ N Wohnpalastanlage 200 Abb. 5 | Der Stadtplan von Tell Halaf, um 900 v. Chr. (M. 1 : 10 000). einer Trennmauer auf einer höheren Geländestufe und war vom ersten Platz aus nicht einsehbar, so dass von einem Unter- und einem Oberplatz gesprochen werden kann 19. Eine ähnliche Platzanlage vom Ende des 10. bzw. Anfang des 9. Jhs. v. Chr. wurde in Malatya angeschnitten und Platzanlagen sind ebenso im urbanen Gefüge von Tell Ahmar und Arslan Tash zu vermuten20. Zusammenfassend lässt sich bemerken, dass im Zentrum liegende innerstädtische Platzanlagen eines des wichtigsten Kennzeichen, wenn nicht das Organisationsprinzip schlechthin der syro-hethitischen Stadtmorphologie waren. 19 Auch in Karkemisch ist die Existenz eines Oberplatzes auf der sog. Acropolis zumindest möglich: nach Woolley ist das Geländegefälle der ›Acropolis‹ durch die Existenz von »two separate buildings with an open space between them« (Woolley 1952, 205) zu erklären. Vgl. hierzu auch Woolley 1921, 40. 20 Für die »grande cour d’honneur« gleich hinter dem sog. Löwentor in Malatya, s. Delaporte 1940, 14 Pl. XI. XIII. Für die Topographie von Tell Ahmar und Arslan Tash s. Roobaert – Bunnens 1999 und ThureauDangin et al. 1931, Plan 1. ARCHÄOLOGIE DER MENSCHENMENGE 113 2 Die zeremonielle Funktion der Platzanlagen und die Rolle monumentaler Bilder Die syro-hethitischen Plätze waren weder Verkehrs- noch Marktplätze, sondern wurden als Freiflächen zeremonieller und feierlicher Art angelegt 21 . Eindeutiger Hinweis darauf ist zunächst ihr urbanistischer Kontext. Die Plätze bildeten den Kulminationspunkt von geradlinig angelegten Hauptwegen, die die wichtigsten Stadttore mit dem ummauerten Zentrum verbanden22 . Die Tore, durch die man von der Außenstadt in das Zentrum gelangte, waren zudem keine Verteidigungsanlagen, sondern besaßen einen symbolischrituellen Charakter, wie kultische Installationen und umfangreiche Reliefzyklen verdeutlichen23 . An sie grenzten zudem in Hama, Tell Halaf und Malatya breite Pfeilerhallen, in denen Installationen und Inventar eine Nutzung als festliche Banketträume nahelegen 24 . Die Tore zum Platz sowie die Tore, die vom Platz aus weiter ins Innere des Zentrums führten, funktionierten somit als Stationen einer Rituallandschaft und ließen zugleich jene räumliche Geschlossenheit entstehen, in der der Platzforscher Camillo Sitte die Hauptbedingung für die raumbildende Wirkung des klassischen zeremoniellen Platzes sieht 25 . Betrat ein Besucher eine der zentralen syro-hethitischen Platzanlagen, wurden seine Wahrnehmung und sein ›Raumgefühl‹ allerdings in hohem Maße durch ein auffälliges Bauwerk bestimmt, das als einziges den jeweiligen Platz überragte. In Karkemisch war es der Tempel des Wettergottes, der sich turmartig hinter einem kulissenhaften Temenos in der Mitte des Platzes erhob (Abb. 6, 5). In Zincirli war es das Hilani I, welches sich über 21 Der zentrale Platz von Karkemisch könnte jedoch auch eine Funktion als Drehscheibe im Fußgängerverkehr zwischen dem Euphrat und dem östlichen Hinterland gehabt haben. Hier ref lektiert die forma urbis von Karkemisch, anders als etwa die Neugründungen von Zincirli, Tell Halaf und Tell Tayinat, noch stark eine über ein Jahrtausend gewachsene Stadtstruktur. In diesem Zusammenhang wäre es auch interessant zu untersuchen, ob die Struktur, die Woolley »Mill Tower« nennt, doch kein weiteres Stadttor gewesen sein könnte. Im Übrigen unterscheidet sich Karkemisch von dem syro-hethitischen Stadtmodell auch insofern, als die Lage der Palastbezirke diffuser ist. So befindet sich der Hauptpalastbezirk auf der ›Acropolis‹, ein ummauerter Palastbezirk in der Gegend des Hilani. Auf der ›Acropolis‹ kann man jedoch die typisch syro-hethitische Zweiteilung mit dem ummauerten Palastbezirk im Südosten und einem möglicherweise ebenfalls ummauerten Tempelbezirk im Nordwesten (dem sog. Temple of Kubaba) erahnen (Woolley 1952, 205–226). Der ›Temple of Kubaba‹ erinnert in Lage und Grundriss an die großen Tempel in Aleppo und Ain Dara. Aufgrund der nur spärlichen Ausgrabungstätigkeiten in diesem Bereich kann man jedoch wenig über die innere Aufteilung der ›Acropolis‹ am Anfang der Eisenzeit sagen. Offen bleiben muss vorerst insbesondere, ob sich um den Tempel herum ein Platz befand oder nicht. Vgl. hierzu auch Anm. 19. 22 Oppenheim 1950, 25; Mazzoni 2006, 231; Pucci 2008a, 171–172. 23 Mazzoni 1997. 24 Für die Salle C im Torgebäude (Bâtiment I) von Hama s. Fugmann 1958, 166–168. Das Bâtiment I wurde vermutlich in der 2. Hälfte des 9. Jhs. gebaut. Als Tor diente früher wohl das Bâtiment III, das später zum Verwaltungsgebäude umgestaltet wurde. Auch im Bâtiment III war eine Pfeilerhalle vorgesehen, die Salle D. Für die Halle, die östlich des sog. Skorpionentores von Tell Halaf angebaut wurde s. von Oppenheim 1950, 89. 95–96. In Malatya ist 2008 eine vergleichbare Pfeilerhalle direkt hinter dem Tor zur Zitadelle ausgegraben worden: vgl. Liverani 2009, der jedoch eine Interpretation als Raum für die Wächter bevorzugt (hierzu s. Liverani 2011 und Liverani im Druck), und Manuelli 2010. 25 Jöchner 2010, 52–56. 114 ALESSANDR A GILIBERT Abb. 6 | Die zentrale Platzanlage von Karkemisch (M. 1 : 1500). dem Platz erhob, vermutlich umgeben von einem ähnlichen Temenos wie in Karkemisch (Abb. 3)26. In Tell Halaf wurde der Raum durch den sog. Tempel-Palast dominiert, der mittig zwischen Ober- und Unterplatz errichtet worden war (Abb. 7, 1). In Tell Tayinat übernahm das Building XIII diese Rolle (Abb. 4) und in Hama schließlich erstreckte sich die gewaltige Baumasse des Bâtiment II entlang der gesamten südwestlichen Front des Platzes (Abb. 8, 2). Diese zentralen, weithin sichtbaren Gebäude markierten einerseits die Verortung des Platzes im Stadtgefüge auch über die Stadtgrenzen hinaus. Andererseits verlieh der Platz selbst den zentralen Gebäuden Raumwirkung, so dass man durchaus von einer Symbiose zwischen Platz und Zentralgebäude sprechen kann. Was kann man nun über Natur und Funktion der Zentralgebäude sagen? In Karkemisch ist die Identifikation des Zentralgebäudes mit dem Tempel des Wettergottes durch zwei Laibungstorinschriften des Königs Katuwas (frühes 9. Jh. v. Chr.) 26 Für die Datierung des Hilani I von Zincirli in die früheste Eisenzeit s. Pucci 2008a, 25–27. Dagegen Lehmann 1994, gefolgt von Mazzoni 2006 und zuletzt Vallorani 2010. ARCHÄOLOGIE DER MENSCHENMENGE 115 Oberplatz Q N M Unterplatz O P 5 0 20 10 100 m 40 30 j „Tempel-Palast“ mit vorgelegener Terrasse k „Skorpionentor“ l Südtor der Burg m n 50 Abb. 7 | Der Westbezirk bzw. das zeremoniellen Zentrum der Burg von Tell Halaf (M. 1 : 1500). gesichert 27. In den anderen Fällen ist die funktionale Einordnung schwieriger. Von dem Hilani I in Zincirli und dem Building XIII in Tell Tayinat hat man nur die Fundamente bergen können28. Es wurde jeweils der Grundriss eines mehrstöckigen Baus mit säulengetragener Vorhalle und großen, langgestreckten Hallen im Erdgeschoss rekonstruiert. Hierbei handelt es sich um für Nordsyrien typische architektonische Grundformen, die sich sowohl bei Palästen als auch bei Tempeln und Toren finden. Gebäude, die diese Merkmale aufweisen, werden in der Literatur mit der assyrischen Bezeichnung bit hilani 27 KARKAMIŠ A2+3, Hawkins 2000, 108–112. Zum Tempel des Wettergottes von Karkemisch s. auch Gilibert 2011a. 28 Luschan 1898, 136–137. 116 ALESSANDR A GILIBERT Abb. 8 | Die zentrale Platzanlage von Hama (M. 1 : 1500). angesprochen29 . Im Fall des Hilani I und des Building XIII legen das Fehlen von Wirtschafts- und Lagerräumen, die prominente Lage des Gebäudes an höchster Stelle der Siedlungshügel und die Existenz eines Wohnpalastbereichs an anderer Stelle im Zentrum eine Primärfunktion im kultisch-repräsentativen Bereich nahe30. Ähnliches gilt für den sog. Tempel-Palast in Tell Halaf, wobei die von dem Ausgräber bevorzugte ambivalente 29 Novák 2004; Mazzoni 2006, 232–234; Monamy 2010, 458. 30 Pucci 2008a, 76. 160–161. Zur besonderen Stellung des Hilani I in der Stadtentwicklung von Zincirli äußerte sich schon der Ausgräber: »Die Lage unmittelbar an der alten Burgmauer und auf der Höhe innerhalb des inneren Rings, sowie die festungsartigen Mauerdimensionen lassen vermuthen, dass das ganze Befestigungssystem geradezu für diesen Bau angelegt worden sei« (von Luschan 1898, 138–139). In der Tat erinnern Lage und Größe des Hilani I an den Tempel in Ain Dara, der vermutlich am Ende der hethitischen Großreichszeit erbaut wurde und der in der frühen Eisenzeit weiterhin benutzt wurde (hierzu s. Kohlmeyer 2008). Eine Reihe von Sphingenprotomen der Spätbronzezeit zeigt, dass gegen 1200 v. Chr in Zincirli ein ähnliches Gebäude wie in Ain Dara geplant war (Gilibert 2011b). Sollte sich die umstrittene Datierung des Hilani I in der allerersten Bauphase von Zincirli bestätigen, so wäre zu überlegen, ob die spätbronzezeitlichen Sphingenprotomen nicht möglicherweise für das Hilani I bestimmt waren. ARCHÄOLOGIE DER MENSCHENMENGE 117 Bezeichnung des Gebäudes dessen unklare Funktionszuweisung widerspiegelt31 . Lage und Grundriss des Gebäudes lassen auf eine offizielle Funktion schließen32 . Am Bau angebrachte Inschriften bezeichnen die Anlage mit zwei offenbar gleichzeitig verwendeten und einander dabei nicht widersprechenden Funktionsbezeichnungen als »Palast des [Königs] Kapara« (É.GAL-lim lKa-pa-ra) und als »Palast des Wettergottes« (É.GAL dU)33 . Vor dem monumentalen Eingang lagen eine weite Terrasse mit einem zentralen Podest aus bunten Ziegeln (der ›Altar‹) und, westlich davon, eine größere Opfergrube (Abb. 9). Die Terrasse wurde von drei monumentalen Karyatiden am Haupteingang des Gebäudes ›bewacht‹ (Abb. 10). Üblicherweise als »Göttertriade« bezeichnet, repräsentieren sie jedoch möglicherweise drei vergötterte Ahnen der königlichen Dynastie (auf diese Deutung wird weiter unten noch einmal eingegangen). Weitere Reliefs kultischen Inhalts rahmten die Hauptfassade des Gebäudes. Bildwerke und Installationen deuten also darauf hin, dass der ›Tempel-Palast‹ religiösen Zwecken diente oder zumindest in die religiöse Praxis einbezogen war. Nur im Bâtiment II von Hama wurden ausgedehnte Speicherräume freigelegt34 . Aber auch in diesem Fall war der Eingang mit Löwenstatuen monumental gestaltet und in der Vorhalle befanden sich ein flaches Basaltbecken und eine Basaltschale, die rituellen Zwecken gedient haben dürften. Vor dem Gebäude erstreckte sich eine weite Terrasse, die über eine 4 m breite Außentreppe erreichbar war35 . Obwohl die Terrasse bei der Ausgrabung schlecht erhalten war, konnte eine an zentraler Stelle der Steinpflasterung eingelassene Basaltschale freigelegt werden, die vermutlich ebenfalls rituellen Zwecken diente36. Darüber hinaus befanden sich unmittelbar vor der Terrasse ein monolitisches Kultbecken und zwei Basaltthrone für Sitzstatuen37. 31 »Die Bauanlage […] erhielt die Benennung ›Tempel-Palast‹ wegen ihrer einem Hilani ähnlichen monumentalen Gliederung in Verbindung mit reicher Ausstattung durch sakrales Bildwerk« (von Oppenheim 1950, 23). 32 »Die mächtige Vor- und Mittelhalle, die gestreckten umgangartigen Langräume an Ost-, Süd- und Westseite, der großartig gegliederte unverschließbare Haupteingang an der Außenseite und der zweite bildwerkgeschmückte Durchlaß zwischen Vor- und Mittelhalle, die freie Lage der Eingangsschauseite des Gebäudes an offener Terrasse, die breite Zugängigkeit durch die von einem besonderen, gleichfalls bildwerkgeschmückten Tor ausgehende und vor einer Freitreppe endende Rampenstraße zeigen, daß der Tempel-Palast öffentlichen Zwecken diente. Er steht mit seiner Gliederung in vollkommenem Gegensatz zum Wohnpalast im Nordosten […]« (von Oppenheim 1950, 24). Vgl. hierzu auch Pucci 2008a, 107. 121 und Cholidis – Martin 2010, 70. 33 Meissner 1933. 34 Fugmann 1958, 226–227; De Maigret 1979, 34–40. Das Fehlen von Wirtschaftsräumen für die Weiterverarbeitung der Nahrungsmittel suggeriert, dass die Speicherräume des Bâtiment II der Lagerung von Nahrungsvorräten für Redistributionszwecke dienten. 35 In den Ausgrabungsberichten wird auf das Vorhandensein der Treppe nicht hingewiesen. Im Plan sind jedoch die Fundamente der einzelnen Stufen klar zu erkennen: vgl. Fugmann 1958, Fig. 265. 36 Fugmann 1958, 214–215. 37 Fugmann 1958, 195–200. In einer zweiten Bauphase wurde zwischen der Terrasse und dem kultischen Becken eine schmale architektonische Struktur hinzugefügt. Die Ausgräber deuten sie als kleinen Tempel in antis (Fugmann 1958, 200–205), was in der Literatur unwidersprochen geblieben ist (für eine indirekte Kritik an der Deutung s. Matthiae 1992, der die Struktur nicht unter den bekannten syro-hethitischen Tempeln auflistet). Wegen der geringen Dicke der vorhandenen Mauerreste und der gemessenen Höhenunterschiede erscheint jedoch eine Interpretation als Terrassenerweiterung mit eigener Treppe wahrscheinlicher. Die Lage 118 ALESSANDR A GILIBERT Abb. 9 | Rekonstruktion der Terrasse vor dem ›Tempel-Palast‹ von Tell Halaf. Abb. 10 | Rekonstruktion der Hauptfassade des ›Tempel-Palastes‹ von Tell Halaf. Die Architektur der syro-hethitischen Platzanlagen und ihrer Gebäude zeichnet sich somit durch eindeutig zeremonielle und kultische Merkmale aus38. Dennoch verraten die architektonischen Strukturen relativ wenig über die genaue Natur der Handlungen, für die die Platzanlagen geplant wurden. Hier hilft die Analyse der Skulpturen und Inschriften weiter, die in reicher Zahl zur Ausstattung der Plätze gehörten39 . Insbesondere zeigt und vor allem einige Graffiti mit kurzen Weihungen im Bereich der Außentreppe bestätigen jedenfalls den Eindruck der Ausgräber, dass die Struktur in den Kult einbezogen war. Zum kleinen Tempel bzw. der Terrassenerweiterung gehörte zudem eine Balustrade aus Basalt, die Vergleiche im Wettergott-Tempel von Aleppo und im Tempel von Ain Dara findet (die Basaltfragmente sind im Ausgrabungsbericht mit falscher Orientierung veröffentlicht: Fugmann 1958, Fig. 257). 38 Im 8. Jh. v. Chr. wird der kultische Charakter der Plätze nochmals durch die Errichtung von AntenTempeln entlang der die Plätze einfassenden Mauern verstärkt: s. hierzu die Situation in Tell Tayinat (wo jedoch eventuell schon früher ein Tempel existierte: Harrison 2009b und Harrison 2010) und möglicherweise auch in Karkemisch (Mazzoni 2006, 236). 39 Stadtmorphologisch gelten die Außenwände der Gebäude entlang der Platzanlagen samt deren monumentaler Gestaltung mit Bildwerken als ›Platzwände‹ und sollten zusammen mit der Platzf läche als Einheit betrachtet werden. Zum syro-hethitischen Raumbegriff als »un ensemble qui conjuge dans une même unité spatio-visuelle la structuration binaire des espaces vides extérieurs pour la circulation et des volumes solides des bâtiments officiels« s. Mazzoni 2006, 231. ARCHÄOLOGIE DER MENSCHENMENGE 119 Abb. 11 | Ahnenstatue am Oberplatz von Zincirli. Basalt. Höhe mit Sockel ca. 3,25 m. Abb. 12 | Die Statue des Atrisuhis am ›King’s Gate‹ von Karkemisch. Basalt. Höhe mit Sockel ca. 2,60 m; Breite ca. 1,50 m. Die Statue befindet sich heute im Archäologischen Museum, Ankara; der Kopf des rechten Löwen befindet sich im British Museum, London; die sonstigen Reste des Sockels sind verschollen. eine Reihe überlebensgroßer Statuen von verstorbenen königlichen Ahnen, dass ein wichtiger Aspekt der Ritualhandlungen vor Ort die Ahnenverehrung betraf 40. Mit weit geöffneten Augen und mit den Insignien der Macht in ihren Händen stehen oder sitzen die verstorbenen Könige auf Tierpodesten oder Steinthronen an zentralen Punkten der Platzanlagen. In Karkemisch thronte neben dem sog. King’s Gate die Statue von Atrisuhis, dessen Name in »Seele des [verstorbenen Königs] Suhis« zu lösen ist (Abb. 6, 2; Abb. 12)41 . Die Statue von (vermutlich) König Katuwas42 stand hingegen am ›Processional Way‹ (Abb. 6, 4). Eine ähnliche Statue fand man am Eingang zum Palastbezirk in Zincirli (Abb. 11)43; dort übersah die Statue den Oberplatz. In Tell Tayinat wurden nahe bei dem Tor, das vom unteren Platz zum oberen Platz führte, im Bereich des Unterplatzes beschriftete 40 Bonatz 2000. 41 Hawkins 2000, 100–101. 42 Die Inschrift KARKAMIŠ A1a (§28) zitiert eine Statue des König Katuwas, die vermutlich mit der erwähnten Statue identifiziert werden kann (Hawkins 2000, 89). 43 Luschan 1911, 363–367; Bonatz 2000, 154; Gilibert 2011a, 76–79. 120 ALESSANDR A GILIBERT Abb. 13 | Verstorbener Herrscher mit Keule, Ähre und Traube; ihm gegenüber weibliche Sphinx mit Löwenprotom auf der Brust. Östlicher Eckorthostat am inneren Vorhof des Tores zur Zitadelle von Zincirli. Anfang 9. Jh. v. Chr. Basalt. Höhe 0,95 m, Breite 0,84 m, Tiefe 0,72 m. Berlin, Vorderasiat. Museum (VA 2657). Abb. 14 | Dynastisches Totenmahl mit verstorbenem Paar (sitzend) und Nachkommen (stehend). Darstellung auf drei Orthostaten am äußeren Vorhof des Tores zur Zitadelle von Zincirli. Anfang 9. Jh. v. Chr. Basalt. Länge gesamt 2,67 m, Höhe 1,15–1,19 m. Reste eines Basaltthrons sowie Bruchstücke einer männlichen Ahnenstatue ergraben 44 . Weiterhin verdeutlichen die zwei Basaltthrone mit Einlasszapfen, die neben dem Kultbecken in Hama standen, dass die königlichen Ahnenstatuen auch im zentralen Bereich einer Platzanlage aufgestellt wurden. Dass die Statuen kultischen Zwecken dienten, steht außer Zweifel. In mehreren Fällen waren Libations- und Opfervorrichtungen direkt vor den Statuen errichtet worden 45 . Monumentale Inschriften auf den Skulpturen oder in der unmittelbar benachbarten Architektur legten das regelmäßige Opfer an die Statuen fest 46. Weitere Darstellungen, die zur Ikonographie des Ahnenkultes gehören, waren an prominenter Stelle der schon erwähnten figürlichen Orthostatenzyklen vertreten, mit denen Torbauten und Außenfassaden der Plätze verkleidet waren (Abb. 13–15). Beispiels- 44 Gelb 1939, 39. 45 Ussishkin 1975. 46 Hawkins 2000, 87–91 (KARKAMIŠ A1a); 100–101 (KARKAMIŠ A4d). Vgl. auch Hawkins 2000, 269– 270 (MARAS 5) und Bonatz 2000, 65–75. ARCHÄOLOGIE DER MENSCHENMENGE 121 weise wurde im ›Long Wall of Sculpture‹ von Karkemisch das Totenbild von BONUS-tis, Gemahlin von König Suhis II. (Ende 10. Jh. v. Chr.), zwischen eine Militärparade und einen Götterzug eingebettet (Abb. 15). Das Bild eines verstorbenen Herrschers gegenüber einer Sphinx (Abb. 13) sowie die Darstellung eines Totenmahles (Abb. 14) lassen sich am äußeren Burgtor von Zincirli belegen 47. In Tell Halaf stand die Platzanlage in direktem Zusammenhang mit einer regelrechten sepulkralen Landschaft 48. Östlich angrenzend an das südliche Burgtor konnten mehrere oberirdische Gruftanlagen mit Brandbestattungen ergraben werden (Abb. 7, 4). In den Gruftanlagen gab es Vorrichtungen für Opfergaben, Libationen und Waschungen. Außerhalb des Komplexes befand sich ein Vorplatz mit Bänken, Sickergruben und Feuermulden, die öffentliche Ritualhandlungen unter freiem Himmel belegen 49. Zwei weitere Grüfte mit Erdbestattungen und erlesenen Beigaben befanden sich in der Mitte des oberen Platzes (Abb. 7, 5). Oppenheim notiert: »Es waren Königsgrüfte, Ruhestätten für jene hohen Herren, die all das, was ringsum ragte, erbaut hatten«50. Die südliche, ältere Gruft lag zum Zeitpunkt der Untersuchung des Platzes durch Oppenheim unsichtbar unter der Begehungsfläche des Platzes51 . Die nördliche, jüngere Gruft, deren Lage sich bewusst an der älteren Gruft orientierte, befand sich dagegen freistehend auf dem Platz. Beide Grüfte waren anlässlich von Bestattungen durch »Schlupfpforten« (so Oppenheim) zugänglich gewesen, die jedoch ansonsten zugemauert blieben. Anders als bei den Grüften, die gleich außerhalb des Unterplatzes errichtet worden waren, existierten bei den Grüften auf dem Oberplatz keine Vorrichtungen für Ritualhandlungen. Mit Oppenheim lässt sich vermuten, dass auf der Terrasse des ›Tempel-Palastes‹ Handlungen zur Ahnenverehrung ausgeführt wurden, worauf auch das skulpturale Programm der Hauptfassade des ›TempelPalastes‹ hindeuten könnte52 . Ob die drei Karyatiden am Eingang des ›Tempel-Palastes‹ ebenfalls eine Bedeutung hinsichtlich der Ahnenverehrung hatten, bleibt unklar. Wie oben schon erwähnt, werden sie üblicherweise als Göttertriade gedeutet. Ihre Ikonographie fügt sich jedoch ohne Widersprüche in die Ikonographie der königlichen Ahnen, die zu dieser Zeit nicht selten – man denke an die genannten Beispiele aus Karkemisch und 47 Gilibert 2011b. 48 Vgl. hierzu auch das Kistengrab neben dem Hilani I in Zincirli (Luschan 1898, 139–141; Pucci 2008a, 26), außerdem ein mögliches Grab am ›Herald‘s Wall‹ in Karkemisch (Gilibert 2007). 49 Oppenheim 1950, 171–178. 50 Oppenheim 1950, 100. 51 Ob die südlichere Gruft älter als der ›Tempel-Palast‹ ist oder nicht, bleibt unklar: Cholidis – Martin 2010, 343. 52 Vgl. Oppenheim: »Die Terrasse schließt die Baulichkeiten von Tempel-Palast, Nordbau und Königsgruft zur Gruppe des Nordwestbezirks der Burg zusammen und war in diesem als Schauplatz der Repräsentation, der Götterverehrung und des Totenkults vom Getriebe des übrigen Burggebietes abgesondert und auch von keiner seiner Anlagen einzusehen« (Oppenheim 1950, 97). Für den funerären Unterton der Orthostaten der Fassade vgl. Gilibert 2011b; s. auch das Relief A 3, 171 mit dem Bildnis eines toten Herrschers, das an prominenter Stelle vor dem ›Skorpionentor‹ angebracht wurde. 122 ALESSANDR A GILIBERT Zincirli – mit göttlichen Attributen und auf Tierbasen dargestellt sind53 . Die Standardinschrift, die auf den Statuen und auf den Sphingen der Fassade angebracht war, beginnt so: »Palast des Kapara, des Sohnes des Hadianu. Was mein Vater und mein Großvater, die Säulen, nicht getan haben, habe ich getan…«54 . Die Syntax des Satzes ist merkwürdig und lässt die Frage offen, ob »die Säulen« das meint, was Vater und Großvater nicht geschafft hatten oder ob man »die Säulen« als Apposition zu Vater und Großvater verstehen sollte (»Was mein Vater und mein Großvater, die [hier als] Säulen [dargestellt sind], nicht getan haben…«). Am Hals der zentralen männlichen Statue ist jedoch eine abweichende Fassung der Inschrift angebracht, die gleich am Anfang im typischen Stil der funerären Inschriften die Identität des dargestellten Mannes eindeutig zu klären scheint: »Ich bin Kapara, der Sohn des Hadianu: Was mein Vater und mein Großvater, die Säulen, nicht getan haben, habe ich getan«55 . Die kultisch-zeremonielle Funktion des syro-hethitischen Platzes erschöpfte sich jedoch nicht in der Verehrung der königlichen Ahnen. Kommemorative Orthostatenzyklen erinnern an Paraden und Prozessionen zu unterschiedlichen Anlässen und zeigen, dass der Platz ebenfalls als Raum für Umzüge und Festspiele genutzt wurde. Das Bildprogramm des zentralen Platzes in Karkemisch ist in dieser Hinsicht eindeutig. Dort ließ Suhis II. am Ende des 10. Jhs. entlang der Außenmauer des Tempels des Wettergottes den oben bereits erwähnten ›Long Wall of Sculpture‹ errichten, ein über 30 m langes Orthostatenband an einer freistehenden Temenosmauer, welches Szenen eines Militärtriumphs darstellte (Abb. 15). Der monumentale Zyklus teilte sich in vier Abschnitte. Der erste Abschnitt, von dem nur zwei Orthostaten erhalten sind, stellte Szenen von Wagenjagdspielen dar56. Der zweite Abschnitt gab eine Prozession von Kriegern wieder, die nackte Gefangene führen oder abgeschnittene Häupter von Gefangenen emporhalten. Der dritte Abschnitt bestand aus einer Kavalkade mit Kriegswagen, die über ebenfalls nackte, 53 Einschlägige Vergleiche bieten auch die Stele von Darende und die Stele von Ispekçir, vgl. hierzu die Anmerkungen in Bonatz 2000, 105–106. 137–138, der jedoch den Vergleich mit Tell Halaf nicht zieht. Trotzdem scheint das Fazit von Bonatz in dieser Hinsicht zutreffend zu sein: »Der Herrscher erscheint in diesem Zusammenhang weniger als tatsächlicher Gott, sondern als einer, dem die göttliche Teilhabe sicher ist […] Kurze Zeit später [als die Stelen von Darende und Ispekçir: also Ende 10./frühes 9. Jh. v. Chr.] entsteht das statuarische Herrscherbildnis auf Tierbasis, das nun […] selbst Gegenstand der kultischen Verehrung, auch in Form der Libation, ist« (Bonatz 2000, 138). 54 Meissner 1933, 72–77. Die Lesung NA 4 tim-me (»die Steinsäulen«) statt DINGIR-lim (»die Vergöttlichten«) folgt Postgate 1983/84. 55 Meissner 1933, 77–79. Die Praxis, für sich noch zu Lebzeiten eine Statue für den späteren Ahnenkult errichten zu lassen, ist auch sonst bekannt, wie die oben zitierten Inschriften von Katuwas aus Karkemisch belegen. Die hier vorgeschlagene Interpretation der Säulen lässt jedoch eine Abweichung zwischen Bild und Schrift ungelöst: Die Inschriften benennen Kapara, Kaparas Vater und Kaparas Großvater, die drei Säulen stellen jedoch zwei Männer und eine Frau dar. 56 Woolley 1952, 200 Pl. B 60 a. b. Ich danke N. May, die mich darauf aufmerksam machte, dass die bei Woolley abgebildeten Orthostaten zum ›Long Wall of Sculpture‹ gehören, und die mir ihre bislang unpublizierte Arbeit »Royal Triumph as an Aspect of the Neo-Assyrian Decorative Program« zur Verfügung stellte. ARCHÄOLOGIE DER MENSCHENMENGE 123 Abb. 15 | Zusammenfassung der Abschnitte zwei bis vier des ›Long Wall of Sculpture‹ von Karkemisch. verwundete Feinde laufen. Schließlich kulminierte die Gesamtdarstellung in einer vom Wettergott angeführten Götterprozession, an deren Ende, unmittelbar hinter einer frontal dargestellten Göttin der Unterwelt, die verstorbene Gemahlin des Königs abgebildet war. Eine monumentale Inschrift zwischen erstem und zweitem Abschnitt des Orthostatenzyklus erinnert daran, wie Suhis II. die abgeschnittenen Hände und Köpfe von abtrünnigen Vasallen als ›Trophäen‹ dem Wettergott übergab57. Die Inschrift lässt sich unter Umständen als ein Beleg für die Historizität des dargestellten Militärumzugs lesen58. Die ›Long Wall of Sculpture‹ beherrschte als Temenosmauer den Platz. Die Reliefs nahmen den Großteil seiner Fläche ein und wirkten somit wie ein dauerhaftes Schaubild, das sich geschickt in die dreidimensionale Gestaltung des Platzes einfügte. Dieses ›Diorama‹ vermochte die Blicke der Besucher des Platzes einzufangen und sie auf die monumentale Treppe neben dem Tempel des Wettergottes zu lenken. Dort befand sich nicht nur der Aufgang zur königlichen Zitadelle, sondern auch eine Bühne mit Opfervorrichtungen, die im hinteren Bereich einen schmalen, direkten Zugang zum Tempel besaß. Diese Opferinstallationen waren direkt vor den Reliefs angebracht und dienten offenkundig der Einbettung des Orthostatenzyklus in Ritualhandlungen59. Im frühen 9. Jh. v. Chr. ließ König Katuwas, der Sohn von Suhis II., in Sichtweite zum ›Long Wall of Sculpture‹ ein Pendant zum väterlichen Bildprogramm errichten, den ›Processional Way‹. Hier bewegen sich eine Prozession von Kriegern zu Fuß und eine Prozession von Gabenbringern beider Geschlechter auf eine Treppe zu, die zu einem zweiten, 57 KARKAMIŠ A1a ll 7–15. 58 Relevant sind hierfür die Einkerbungen in der Torschwelle des ›King’s Gate‹ und der Radabweiser an der Ecke des ›Long Wall of Sculpture‹, die eine gelegentliche Nutzung des Platzes durch Wagen nahelegen (Woolley 1952, 143. 167). 59 Gilibert 2011a. 124 ALESSANDR A GILIBERT von Katuwas ausgebauten Palastbezirk führt60. Wie sein Vater Suhis II. ließ Katuwas den ›Processional Way‹ anlässlich eines militärischen Sieges anlegen. So berichtet Katuwas in zwei monumentalen Inschriften, dass er einen gewissen Ninuwas, der sich des Thrones von Karkemisch bemächtigt hatte, mitsamt dessen Anhängern aus der Stadt verbannt hatte, seinen Sieg mit einer Prozession zu Ehren der Götter feierte und anschließend im Zuge umfangreicher Umbauten am Platz die Orthostaten des ›Processional Way‹ aufstellen ließ61 . Orthostatenzyklen derselben Zeit mit einer ähnlichen oder gar identischen Thematik lassen sich auch in Tell Ahmar, Zincirli, Tell Halaf und Tell Tayinat nachweisen62 . Aufgrund dessen kann angenommen werden, dass die großen Platzanlagen in syro-hethitischen Städten regelmäßig für Prozessionen und Triumphzüge genutzt wurden. Die Monumentalinschriften Katuwas belegen zudem, dass Ahnenstatuen auch im Zusammenhang von Militärparaden errichtet wurden63 . Zusammenfassend lässt sich somit bemerken, dass die syro-hethitischen Platzanlagen im Allgemeinen sowohl für die Verehrung der königlichen Ahnen als auch für Militär- und Götterprozessionen genutzt wurden. Es lässt sich folglich von diesen Plätzen auch als »Außenräumen« sprechen, in denen die regierende Dynastie drei wichtige Säulen ihrer Herrschaft in rituellen und zeremoniellen Akten permanent re-inszenierte: Legitimität durch Rückbindung an die vergöttlichten Ahnen, Anbindung an die Gottheiten durch kultisches Handeln sowie Legitimierung der Macht durch die Inszenierung militärischer Stärke und Einheit. 60 Pucci 2008b. 61 Hawkins 2000, KARKAMIŠ A11a; KARKAMIŠ A11 b–c. 62 Zusammenfassend Orthmann 1971, 398–401. 63 Als weiterer Beleg für den Zusammenhang zwischen Militärtriumph und Errichtung von Ahnenbildnissen sei hier nochmals auf das Bild von BONUS-tis im ›Long Wall of Sculpture‹ verwiesen. ARCHÄOLOGIE DER MENSCHENMENGE 125 Abb. 16 | Rekonstruktion der Südfassade des ›Tempel-Palstes‹ von Tell Halaf. Dort, wo ein Ober- und ein Unterplatz eingerichtet wurden, lässt sich dabei eine bewusste funktionale Zweiteilung der Platzanlagen beobachten. Der Oberplatz diente als bevorzugter Ort der oben besprochenen rituellen und zeremoniellen ›Inszenierungen‹ der Dynastie, worauf die Orthostatenzyklen und die Kultinstallationen hinweisen. Demgegenüber wurde der Unterplatz unspezifischer genutzt. Am besten nachweisen lässt sich die funktionale Zweiteilung anhand der Platzanlage in Tell Halaf. So wurden auf dem Unterplatz von Tell Halaf keine Kultinstallationen ausgegraben, jedoch eine Art Sitzbank entlang der Rückseite des ›Tempel-Palastes‹ (Abb. 16)64 . Über der Bank waren fast 200 kleinere, weniger sorgfältig, aber um so ›freier‹ bearbeitete Steinplatten mit einer erstaunlich breiten Palette an Motiven angebracht, die sog. kleinen Orthostaten65 . Eine größere Anzahl zeigt Varianten von Jagdszenen66, andere präsentieren Szenen aus Mythen67 64 Oppenheim 1950, 85. 65 Die Aufstellungsordnung der ›kleinen Orthostaten‹ in der Form, in der sie ausgegraben wurden, gibt nicht deren ursprüngliche Aufstellungsordnung wieder, sondern ist das Resultat von späteren Renovierungen und Umbauten. Martin und Cholidis (2010, 141–146) argumentieren überzeugend dahingehend, dass die ›kleinen Orthostaten‹ trotzdem von Anfang an für den ›Tempel-Palast‹ – also für die Dekoration des Unterplatzes – geschaffen wurden. 66 Dass auch in Zweitverwendung versucht wurde, einen Orthostaten-übergreifenden inhaltlichen Zusammenhang zu bewahren bzw. neu zu konstruieren, sieht man eindeutig an Martin – Cholidis 2010, Abb. V, 124. 67 Martin – Cholidis 2010, 175–176. 126 ALESSANDR A GILIBERT oder stellen Mut und Geschicklichkeit bei der Ernte bzw. bei der Arbeit zur Schau68. Besonders bemerkenswert sind die Darstellungen außergewöhnlicher Tierparodien mit karnevalesken Zügen69. Vorausgesetzt, dass die Ikonographien der ›kleinen Orthostaten‹ einen Bezug zu möglichen Handlungen auf dem Unterplatz gehabt haben, ließe sich überlegen, ob dieser Platz für Volksfeste im weitesten Sinn genutzt wurde. In jedem Fall ist festzustellen, dass am Unterplatz keine Hierarchisierung des Raumes durch die Art der Bebauung und der Raumgliederung vorgenommen wurde – letzteres ist charakteristisch für den Oberplatz. Vielmehr erlaubte die ungegliederte Raumfläche des Unterplatzes vielfältige Handlungen, Begegnungen und Sichtbezüge auf gleicher Ebene. 3 Eine Choreographie für Massenspektakel Bis heute hat die Forschung angenommen, dass der Zugang zum ummauerten Zentrum der syro-hethitischen Stadtstaaten ausschließlich der Elite gestattet war70. In diesem Beitrag wird hingegen dahingehend argumentiert, dass die Feste und Rituale, die auf den Plätzen stattfanden, keineswegs nur den Eliten vorbehaltene Zeremonien waren, sondern als Spektakel für die gesamte Stadtbevölkerung inszeniert wurden. Dafür sprechen vor allem drei Aspekte: erstens das räumliche Fassungsvermögen der Plätze, zweitens die Anwesenheit von Installationen, die nur ab einer gewissen Zuschaueranzahl Sinn ergeben, und drittens die Anbringungsweise der Bildwerke, die bewusst auf deren maximale Sichtbarkeit abzielte. Das Fassungsvermögen der Plätze kann man anhand ihrer ergrabenen Mindestgröße berechnen. Die Platzanlage in Karkemisch wurde vergleichsweise großflächig ausgegraben und wird daher im Folgenden stellvertretend für weitere Zentren herangezogen. Hier hat der Platz eine Mindestgröße von 3000 m2 . Um abzuschätzen, wie viele Menschen sich bei einem Fest maximal auf dem Platz aufhalten konnten, benötigt man einen Koeffizienten von Menschen pro Quadratmeter. Die ethnographische und soziologische Literatur registriert für festliche Anlässe unterschiedliche, teilweise erstaunlich hohe Koeffizienten71 . Das gegenwärtig in Deutschland gängige ›Maurer-Schema‹ zur Risikobewertung bei Großveranstaltungen berechnet als maximale Besucherzahl für die Gewährleistung der Personensicherheit einen Koeffizienten von vier Menschen pro Quadratmeter72 . Diese Schwelle wird jedoch regelmäßig überschritten. Ab acht Menschen pro Quadratmeter, wie es in Mekka heute regelmäßig der Fall ist, wird es lebensgefährlich73 . Obwohl ältere 68 Martin – Cholidis 2010, 167. 69 Martin – Cholidis 2010, 177. 70 So die Meinung zuletzt von Denel 2007. 71 Allgemein vgl. Hines 2000 und für drei einschlägige, wenn auch rhapsodisch gesammelte Fallstudien s. Barnouw 1954; Vahed 2002, 84; Wiley 2005. 72 Peter – Maurer 2005. 73 Hines 2000, 149. ARCHÄOLOGIE DER MENSCHENMENGE 127 Abb. 17 | Visualisierung von 2,5 Individuen pro Quadratmeter. Aufzeichnungen und antike Darstellungen zeigen, dass ähnliche Menschendichten nicht nur in modernen Zeiten zusammenkommen konnten, werden im Folgenden für Karkemisch die niedrigsten Berechnungen zugrunde gelegt. Als Koeffizient werden also nicht mehr als 2,5 Individuen pro Quadratmeter festgelegt, um genügend Freiraum für unterschiedliche Gruppierungen und Umzüge zu erlauben (Abb. 17). Übertragen auf 3000 m2 ergibt die Kalkulation 7500 Individuen. Vergleicht man dieses Fassungsvermögen mit einer Stadtfläche von geschätzten 90 Hektar, so wird deutlich, dass die Platzanlage von Karkemisch zumindest theoretisch einen signifikanten Teil der gesamten Stadtbevölkerung fassen konnte. Denn bei einer hypothetischen Bevölkerungsdichte von ca. 200 Individuen pro Hektar74 kommt man auf eine geschätzte Einwohnerzahl von ungefähr 18 000 Menschen. Für Zincirli wird eine geschätzte Stadtfläche von 37 Hektar, für Tell Halaf von 55 Hektar angesetzt. Die Platzanlagen in Zincirli und in Tell Halaf sind allerdings mit der von Karkemisch durchaus vergleichbar. Es lässt sich also überlegen, ob in Zincirli respektive in Tell Halaf die gesamte Bevölkerung an Kulthandlungen, Paraden oder Festen, die auf den dortigen Plätzen stattfanden, teilgenommen hat. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch eine Anzahl an Installationen sowie architektonischer Lösungen, die Sinn nur beim Postulieren einer dichten Zuschauermenge ergeben. Darunter fallen die trichterförmigen Einfriedungsmauern der Platzanlage in Karkemisch und die Schranken am Eingang des jüngeren Südtores zum Unterplatz in Tell Halaf75, die wahrscheinlich der Kontrolle beträchtlicher Menschenmassen gedient haben. Andere architektonische Elemente wie monumentale Treppen, Bühnen und Ter74 75 128 Finkelstein 1992; Zorn 1994. Oppenheim 1950, 133. ALESSANDR A GILIBERT rassen entfalteten durch ein subtiles Spiel von Höhenunterschieden, Lichteinfällen und Sichtlinien eine choreographische Kraft, die Großinszenierungen geradezu voraussetzt76. Die große Terrasse vor dem Eingang des ›Tempel-Palastes‹ von Tell Halaf ragte 2 m über dem Platz auf und auf der Terrasse selbst erhob sich noch ein mindestens 1,35 m hohes Postament77. In Hama lag die Terrasse des Bâtiment II ca. 1,5 m über dem Platz. Mehrere bühnenartige Podeste in unmittelbarem Bezug zu Opferplätzen kann man auch in Karkemisch identifizieren78. Diese Bühnen waren vor Toren errichtet, die zu klar abgesonderten Räumen führten. Nur von diesen Räumen aus waren die Bühnen direkt erreichbar, obwohl sie von unten stets gut sichtbar blieben. Monumentale Treppen betonten den Charakter der Bühnen als ›Platz im Platz‹. Ihre deutliche Abgrenzung von der Umgebung isolierte die Ritualhandlungen, machte sie gleichzeitig jedoch für alle sichtbar. So konnten die Bühnen und ihr ›backstage‹ im Rahmen von Großveranstaltungen ähnlich wie im modernen Theater eine raumbildende Kraft79 generieren: »The stage becomes a place of absolute scrutiny, although it may change its nature, constantly alluding to other times, other places: it may play with notions of hiding and revealing, screening and disclosing, seeing or half-seeing.« 80 Auch die Anbringung der Monumentalbilder folgte einer ähnlichen theatralischen, an ein Publikum gerichteten Strategie. In Karkemisch wurden die Orthostaten der ›Long Wall of Scultpure‹ auf einem Sockel über Kopfhöhe angebracht, so dass sie stets sichtbar blieben. In Tell Halaf standen die Bilder am Oberplatz ebenfalls auf erhöhtem Niveau und waren so platziert, dass die Zuschauer sie zwar im Einzelnen betrachten, aber nicht in Interaktion mit ihnen treten konnten. Ganz anders war die Strategie der Bildaufstellung am Unterplatz. Zwar war dort die Sichtbarkeit der Bilder durch die Anbringung auf Sitzhöhe gemindert, der haptische Kontakt und direkte Umgang mit ihnen waren jedoch für das Publikum möglich. Diese Tatsache korreliert mit dem deutlich informelleren Stil und Inhalt der Bilder. Generell kann der Inhalt der Bilder in manchen Fällen einiges über den vorausgesetzten Zuschauer verraten. So erkennt man in den Reliefzyklen mit Prozessionsdarstellungen in Karkemisch den Versuch, Unterschiede in Status und Geschlecht zugunsten einer integrativen Strategie zu vermindern: Anders als in späteren Zeiten sind hier die Prozessionsteilnehmer durch Attribute wenig differenziert, die Kompositionen sind einfach und wiederholen sich, auch die Kopfhöhen sind auffällig gleich. Hier wird ein Bild der Stadt inszeniert, das mit der Betonung der gemeinsamen Zugehörigkeit ein breites Publikum anzusprechen versucht81 . 76 77 78 79 80 81 Die »construction scénographique de l’espace« diskutiert in Mazzoni 2006, 235. Oppenheim 1950, 71–78. Vgl. hierzu auch die bühnenartigen Strukturen in und um die Tempel von Aleppo und Ain Dara. Wangsgaard Jürgensen 2010. Pearson – Shanks 2001, 23. Gilibert 2011a, 121. ARCHÄOLOGIE DER MENSCHENMENGE 129 4 Schluss Am Ende des 10. Jhs. erlebten die syro-hethitischen Stadtstaaten eine Zeit des politischen und ökonomischen Umbruchs. Die Stadtfürsten versuchten die Gunst der Bevölkerung zu gewinnen und den Namen der Dynastie an die Stadtidentität zu binden. Dafür entwickelten sie Volks- und Staatsfeste, die sie auf eigens dafür gestalteten Platzanlagen im Zentrum der Stadt inszenierten. Die Platzanlagen dienten einerseits dazu, die Masse der Zuschauer zu kontrollieren, andererseits funktionierten sie als theatralische Räume, die die emotionale Wirkkraft der Handlungen erhöhten. Übergroße Ahnenstatuen und ausgedehnte, vielschichtige Bildprogramme halfen, den rituellen Handlungen Dauerhaftigkeit und Unveränderlichkeit zu gewähren. Bibliographie Barnouw 1954 V. 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Oppenheim Hausarchiv, Nachlass Max von Oppenheim; Abb. 11: nach Luschan 1911, Abb. 265; Abb. 12: nach Woolley 1961, Abb. 53; Abb. 15: nach Hawkins 1972, Abb. 4a; Abb. 16: nach Oppenheim 1950, Abb. 8; Abb. 17: Graphik A. Gilibert. 136 ALESSANDR A GILIBERT Hauke Ziemssen Der Herrscher im Tempel Bild und Inszenierung im kaiserzeitlichen Rom This paper deals with the Rome of the 4th century A.D., beginning with a coin bearing the image of Maxentius that depicts the emperor interacting with a personification of the Goddess Roma in her temple. It examines imperial strategies for self-depiction as a divine personage. Even if the depiction of the globe being passed from Roma to the emperor does not represent an actual event, it nevertheless refers to ceremonial acts situated in a specific architectonic context. The temple was restored by Maxentius and served, together with an imperial entrance hall (the Basilica of Maxentius) erected across from it, as a stage for an elaborate municipal and imperial ceremony. The coin image addresses these events, but, true to the nature of the medium, it exercises its ideological expressiveness without actually being present at the site of the ceremony. Construed in this way, the spatial references thus recall the modern phenomenon of cyberspace. 1 Einführung Die Bezüge zwischen Bildwerken und Handlungen sind in allen Kulturen und zu allen Zeiten vielfältig. Statuen oder Reliefs können Handlungsabläufe beeinflussen, indem sie den Teilnehmern Hinweise oder sogar Anweisungen für das Verhalten übermitteln. Sie können auch selbst Handlungen darstellen und diese damit zeitlich fixieren und überhöhen. Der vorliegende Tagungsband bietet mit den Befunden in Knossos und in den mykenischen Palästen ebenso wie auf den syro-hethitischen Platzanlagen Beispiele dafür, wie solche Handlungswiedergaben ihrerseits dynamischer Bestandteil von Zeremonien werden können. Auch die klassische Antike kennt derartig eingebundene Bildwerke – man denke an den Parthenonfries, der die Prozession der Panathenäen darstellte und sie zugleich räumlich begleitete, oder an die Friese des Titusbogens in Rom mit ihrer Wiedergabe eines Triumphzuges, wie er durch eben diesen Bogen in ähnlicher Form immer wieder geführt wurde. Der folgende Beitrag widmet sich einem nur scheinbar weniger offensichtlichen Fall der Verknüpfung von Handlung im Bild und in der Realität, zeitlich angesiedelt in der späten römischen Kaiserzeit. In den Jahren zwischen 307 bis 312 n. Chr. prägten die italischen Münzstätten mehrere Serien von folles mit dem Rückseitenbild des Venus- und Romatempels und der Umschrift CONSERVATOR VRBIS SVAE – Retter Der vorliegende Text basiert auf den Studien des Verfassers für die 2006 an der Universität Hamburg abgeschlossene Dissertation »Das Rom des Maxentius«, die zurzeit in Druckvorbereitung ist. Für eine vertiefende Behandlung der hier angesprochenen Fragen sei auf diese Arbeit verwiesen. Vgl. auch Ziemssen 2007; Ziemssen 2010b; Ziemssen 2012. DER HERRSCHER IM TEMPEL 137 a b Abb. 1 | Follis, Aquileia, 307–310 n. Chr., max. Dm 26 mm a) Avers: Kaiser Maxentius, Umschrift IMP C MAXENTIVS P F AVG, b) Revers: Tempel der Venus und Roma mit Kultbild der Roma und Umschrift CONSERV – VRB SVAE (RIC VI Maxentius 121a). seiner Stadt (Abb. 1)1 . Auf den ersten Blick wirken diese Münzen im Rahmen der kaiserzeitlichen Prägung durchaus konventionell: Die Vorderseite gibt das Profil des zu dieser Zeit in Italien und der Provinz Africa regierenden Kaisers Maxentius wieder, während die Darstellung des Tempels auf der Rückseite, einer lang etablierten Ikonographie folgend, die Architektur schematisch beschreibt und in einem stark verbreiterten Mittelinterkolumnium das frontal thronende Kultbild der Göttin Roma mit dem Globus in der rechten Hand zeigt. Die Prägetradition dieser Darstellung von Tempel und Kultbild reicht in die severische Zeit zurück 2 . Bis in das spätere 3. Jh. hinein, vereinzelt auch noch in anderen Reichsteilen während der Herrschaft des Maxentius, wurde dieses Motiv durchgehend von der Münzlegende Roma(e) aeterna(e) begleitet und so eindeutig auf den Tempel der Göttinnen Venus felix und Roma aeterna nahe dem Forum Romanum bezogen3 . Auf den Prägungen des Maxentius belegt noch die Statue der Gottheit selbst diese Identität. Der Tempel wird in schriftlichen Quellen nun allerdings zumeist als templum urbis bezeichnet und die Göttin Venus findet keine Erwähnung mehr4 . Es sind zwei Aspekte, die die erneute Aufnahme dieses Münzmotivs im beginnenden 4. Jh. bemerkenswert machen und in das Zentrum einiger Überlegungen zu den Bezügen zwischen Handlungsformen und bildlichen Darstellungen in der späten Kaiserzeit treten lassen. Ungewöhnlich ist zunächst die Münzlegende conservator urbis suae, bei der es sich weder um eine be- noch umschreibende Ergänzung des Bildes zu handeln scheint. 1 Grundlage für die Analyse der maxentianischen Münzprägung ist der von C. H. V. Sutherland verfasste Band VI der Roman Imperial Coinage (RIC). Die Münzprägungen mit der Darstellung des Tempels und der Legende conservator urbis suae: RIC VI 271–277 (Ticinum); 305–309 (Aquileia); 338–347 (Roma); 393–397 (Ostia). In Karthago werden Münzen mit der Legende conservator Karthaginis suae geprägt: RIC VI 417–435 (Carthago). 2 Einen Überblick über die Prägungen bietet Küthmann 1973, 34–38. 3 In großem Umfang war diese Kombination unter Probus (276–282 n. Chr.) geprägt worden (RIC V 2, 37– 38 Nr. 182–197; 62 Nr. 408–412; 96–97 737–741), außerdem unter Carausius und Allectus (286–297 n. Chr.: RIC V 2, 497 Nr. 389; 512 Nr. 578; 516 Nr. 613; 562 Nr. 40; 568 Nr. 113). Für Konstantin und Maximian erschien die alte Kombination noch im Jahr 307 n. Chr. (RIC VI 130 Nr. 99 (Konstantin). 100 (Maximian)), und für den afrikanischen Usurpator Alexander im Jahr 309/10 n. Chr. (RIC VI 434–435 Nr. 70. 75). 4 Zur spätantiken Geschichte des Tempels und der Namensgebung: Hausmann 2001, 193–194. 138 HAUKE ZIEMSSEN Abb. 2 | Follis, Aquileia, 307–309 n. Chr., max. Dm 28 mm, Revers: Variante der Darstellung in Abb. 1 b mit Maxentius im Interkolumnium des Tempels, Umschrift CONSERV – VRB SVAE (RIC VI Maxentius 113). Offen deskriptiv war die frühere Legende Romae aeternae gewesen. Aber auch die unter Philippus Arabs zur Zeit der römischen Tausendjahrfeier im Jahr 248 n. Chr. zusammen mit dem Tempel verwendete Legende saeculum novum (neues Zeitalter) spielte noch in konnotativem Sinn auf die mit dem Bauwerk verbundene Ideologie des Neuanfangs und der aeternitas an5 . Beim Ausdruck conservator urbis suae dagegen fehlt jeder offensichtliche Bezug. Es handelt sich dabei auch nicht, wie in der Forschung lange angenommen, um eine nüchterne Selbstbezeichnung des Maxentius als »Bewahrer« Roms und Erneuerer des Tempelbaues, der während seiner Herrschaft einem Feuer zum Opfer gefallen war6. Eine semantische Analyse kann zeigen, dass mit der substantivischen Titulatur conservator vielmehr ein Reflex zeitgenössischer Akklamationen in der Münzprägung vorliegt, ähnlich wie mit dem Ausdruck expectate veni auf Münzen des Carausius oder dem bekannten redditor lucis aeternae auf dem Medaillon des Constantius Chlorus7. Ein neuer, expressiver und eng mit den Huldigungen der spätantiken Panegyrici verwandter Zug erfasste mit solchen Legenden seit dem späten 3. Jh. das zuvor wenig panegyrische Medium8. Der Begriff conservator verweist dabei unmittelbar auf zeremonielle Handlungen wie den adventus, bei dem ein Herrscher in der von ihm betretenen Stadt als »Retter« (servator, conservator, σωτήρ) begrüßt und wie ein Heiland empfangen wurde9. Doch nicht nur mit dieser Legende lassen sich auf den maxentianischen Münzen 5 Gagé 1936, 170. 173–174; Körner 2002, 248–259. 6 Chronograph des Jahres 354 n. Chr. s. Maxentius imp. ann. VI: Hoc imp. templum Romae arsit et fabricatum est. Die Deutung des Maxentius als eines rückwärtsgewandten Anhängers der römischen Traditionen – eines »Bewahrers« – beherrscht die Forschung bis heute: vgl. insbesondere Cullhed 1994, 45. 7 Constantius Chlorus: Lehnen 1997, 80; Kolb 2001, 191–193; Carausius: Casey 1977, 222–223; Shiel 1977, 195; Casey 1994, 58. Zur Verbindung dieser Legenden mit der ›Gefühlswelt‹ der Panegyrici vgl. MacCormack 1981, 29–31; Lehnen 1997, 81. 8 Zum adventus in der Zeit der Tetrarchie MacCormack 1981, 17–33; zur Übernahme von adventus-Akklamationen in die Münzprägung vgl. auch Lehnen 1997, 170. 9 Vgl. zu Verwendung und Deutung des Begriffes conservator seit der späten Republik Alföldi 1971; allgemein zu Akklamationen im Zusammenhang der adventus-Zeremonie Lehnen 1997, 169–170; zu bildlichen Darstellungen des adventus Hölscher 1967, 50–59; MacCormack 1981, 29–31. DER HERRSCHER IM TEMPEL 139 Momente repräsentativ überhöhter Handlung greifen. Der zweite ungewöhnliche Aspekt der Prägungen ist eine Bildvariante, die insbesondere von den Münzstätten Aquileia und Ticinum geprägt wurde (Abb. 2). In ihr tritt Maxentius selbst in das Bild und in den Tempel ein. Mit einem Fuß noch auf der Zugangsstufe, mit dem anderen aber fest auftretend bereits im Interkolumnium steht er der thronenden Göttin im Inneren des Tempels direkt gegenüber und greift mit der ausgestreckten Rechten nach ihrem Globus10. Erstmals in seiner über 100jährigen Geschichte wird das Bildmotiv des Tempels mit seiner frontalen Kultfigur damit variiert und regelrecht dynamisiert. Roma ist hier nicht mehr Kultbild, sondern interagierende Gottheit. An die Seite des Tempelinneren und ins Profil gerückt streckt sie den Globus dem Kaiser entgegen. Das auf römischen Münzen geläufige Bildmotiv »Tempel mit Kultfigur« wird zur Szene einer Handlung zwischen zwei Beteiligten. Dabei sind die räumlichen Angaben gerade in ihrer Schematik eindringlich, trennt doch die bildlich wiedergegebene Architektur in ein von der Kultfigur beherrschtes ›Innen‹ und in die Außenwelt als den Bereich, aus dem der Kaiser kommt. Erst in dieser Variante der Tempeldarstellung wird auch die Legende mit der Anrufung des Kaisers unmittelbar verständlich. Die Bildvariation und die Legende verweisen gleichermaßen auf repräsentative Handlungen, auf Akklamationen, Einzugszeremonien und die Übertragung von Herrschaftslegitimation. Ungewöhnlich ist dabei ihre Verknüpfung und Ausdruckskraft, die mit den Darstellungskonventionen für den Venus- und Romatempel auf Münzen ebenso brechen wie mit den Gewohnheiten kaiserzeitlicher Ikonographie insgesamt: Im kaiserzeitlichen Bildbestand ist die Wiedergabe eines lebenden, handelnden Herrschers im Inneren eines Tempelbaues fast einmalig – wir werden dieses verblüffende Motiv weiter unten noch genauer untersuchen. Die Bilder hatten ihren Platz in einem komplexen Bezugsrahmen von Politik, Architektur und Zeremoniell, der in seinen Grundzügen knapp skizziert sei 11 . Im Jahr 306 n. Chr. hatte Maxentius in Rom mit Unterstützung der Prätorianertruppen den Kaisertitel okkupiert. Er war zwar Sohn des Kaisers Maximian, hatte aber im tetrarchischen System keinen Herrscherposten erlangt. Nach seiner Usurpation und bis zur Niederlage gegen Konstantin im Jahr 312 n. Chr. stand Maxentius daher in einem wechselhaften Verhältnis zur Tetrarchie, bestimmt durch die erfolgreiche Abwehr von Angriffen in den Anfangsjahren, durch die zunächst gewährte und dann wieder entzogene Unterstützung seines Vaters sowie durch Bündnisse mit einzelnen Tetrarchen. Von Rom aus beherrschte er Italien mit den großen Inseln und, unterbrochen durch einen Aufstand, auch die Provinz Africa. Im dezentralisierten Reich war Maxentius der seit langer Zeit erste und zugleich der letzte Kaiser, der ohne Unterbrechung in der alten Hauptstadt residierte. 10 Eine der entsprechenden follis-Serien aus Aquileia ist laut RIC häufig belegt: RIC VI, 325 Nr. 113; das gleiche Motiv auf Nr. 114, allerdings im RIC mit »R« belegt. Zwei weitere Serien aus derselben Münzstätte sind bislang nur in Einzelexemplaren bekannt: Jelocnik 1973, 193–194 Nr. 92. 92a. Jeweils eine Serie aus Ticinum (RIC VI 296 Nr. 110) und Rom (RIC VI 378 Nr. 213) liegt in geringer Menge vor. 11 Zur Herrschaft des Maxentius vgl. Cullhed 1994 und zuletzt Ziemssen 2007, 12–34. 36–51. 140 HAUKE ZIEMSSEN Noch einmal wurden hier nun die Mechanismen des Prinzipats mit dessen zeremoniell codierten Austausch zwischen dem Herrscher und den Gruppierungen der römischen Bevölkerung aktiviert. Dabei hatten sich die Voraussetzungen dieses alten »Akzeptanzsystems« (Flaig) seit der Soldatenkaiserzeit des 3. Jhs. und den Reformen der Tetrarchie verändert. Herrschaft wurde zu Beginn des 4. Jhs. unmittelbar göttlich begründet und entzog sich tendenziell der sozialen Kommunikation 12 . Das galt für die Herrscher der ersten und zweiten Tetrarchie nicht weniger als für deren Söhne Konstantin und Maxentius. Im Rom der Jahre zwischen 306 und 312 n. Chr. müssen daher die aus dem Prinzipat überkommenen Bindungsformen einerseits und die Repräsentation des Maxentius als eines entrückten Monarchen andererseits unmittelbar aufeinandergestoßen sein. Die Konsequenzen dieser außergewöhnlichen historischen Situation sind an den Großbauten jener Jahre abzulesen 13 . Sie entstanden in unmittelbarer Verbindung mit den kaiserlichen Palästen auf dem Palatin, sowohl im Süden als auch im Norden des Hügels. Im Süden näherte eine mit hohen Substruktionen bewältigte Erweiterung des Palastbereiches die Residenz dem Circus Maximus an, der zentralen ›Begegnungsstätte‹ zwischen Herrscher und Bevölkerung. Zugleich verwandelten die Maxentiusbasilika und der Wiederaufbau des im Brand zerstörten Tempels der Venus und Roma (s. u. Abschnitt 5) das Gebiet nördlich des Palatin, das unmittelbar an den Haupteingangsbereich des Palastes angegliedert war. Die Basilika ist eine erweiterte Variante der zahlreichen zeitgenössischen Apsidensäle und konnte in ihrer monumentalen Gliederung breite Teile der Bevölkerung vor dem in der Apsis thronenden Herrscher aufnehmen. Der städtebauliche Bezug des Neubaus auf den gegenüberliegenden Tempel legt auch den Gedanken an Herrscherzeremonien in diesem Dreieck zwischen Palast, Aula und Tempel nahe, die das traditionelle Spektrum von Kaiserauftritten in Rom erweiterten und einen direkten Bezug zu den Göttinnen Venus und Roma herstellten: Auszüge des Kaisers aus dem Palast zum öffentlich zelebrierten Opfer vor den Fronten des Tempels, der Einzug in die Basilika, der Zug in das benachbarte Amphitheater oder den Circus Maximus. 2 Handlungen im Bild: Globusübergabe und Opfer in der Darstellung der Münzen Diese im Architekturbefund erkennbare Intensivierung des städtischen Zeremoniells spiegelt sich – dies soll im Folgenden gezeigt werden – in den Bildern der zeitgenössischen Münzen wider. Eine methodisch grundlegende Bemerkung sei vorausgeschickt. Bilder und städtischer Raum sind mit den Handlungsformen einer Zeit stets eng verflochten. Dies gilt zunächst im generellen Sinne Bourdieus’; mit seinem Habitus-Begriff postuliert dieser die »allgemeine Disposition« einer Epoche, deren Äußerungsformen sich 12 13 Martin 1984; Flaig 1992, 174–207. Vgl. Ziemssen 2007, 52–122; Ziemssen 2010b; Ziemssen 2012. DER HERRSCHER IM TEMPEL 141 auf allen Ebenen gesellschaftlicher Realität erkennen lassen14 . Im Rom des beginnenden 4. Jhs. unterschied sich dieser gesellschaftliche Habitus wesentlich von jenem der ersten kaiserzeitlichen Jahrhunderte. Die mit plebs urbana, Senat und Soldaten ausgehandelte Akzeptanz des Maxentius in Rom beruhte auf dem skizzierten, im 3. Jh. gewandelten Herrscherbild und entwickelte sich vor dem Hintergrund einer zum seltenen Ereignis gewordenen kaiserlichen Präsenz in der Hauptstadt. Dieses neue Verständnis von Herrschaft kam in Zeremonien, Bauwerken und Bildern gleichermaßen zum Ausdruck. Zugleich können Bilder auch als unmittelbare Verweise auf spezifische, insbesondere zeremonielle Handlungen funktionieren. Vor dem Hintergrund dieser zweifachen Verknüpfung zwischen Bildern und der Gesellschaft, in der sie entstehen, werden die Abhängigkeiten von Raum, Handlung und bildlicher Darstellung im Folgenden analysiert. Die ereignishafte Szene der Globusübergabe und die akklamative Legende sprechen, das lässt sich bereits andeuten, für einen direkten Bezug des Bildes zum Kultgeschehen des templum urbis. Die Frage, in welcher Art und Weise dieser Realitätsbezug auf den Münzbildern funktioniert, führt mitten in die Diskussion zum Verhältnis von »Symbolik« und »Wirklichkeit« der römischen Repräsentationskunst 15 . Es gibt keinen Zweifel, dass die Szene der Globusübergabe nicht im Sinne eines photographischen Realismus zu verstehen ist. Eine Globusübergabe durch einen Gott besaß im kaiserzeitlichen Zeremoniell keine unmittelbare Entsprechung. Ihre bildliche Formulierung wiederum ist durch Konventionen der Gattung und durch ideelle Konnotationen bestimmt. Vor allem seit der 2. Hälfte des 3. Jhs. zeigen zahlreiche Münzen die Globusübergabe durch eine Gottheit an den Kaiser16. Das Bildschema referiert auf die göttliche Unterstützung eines Herrschers und auf die Vorstellung des princeps a diis electus, die schließlich besonders im 3. Jh. und mit der Tetrarchie weite Verbreitung erfuhr. Die göttliche Wirkungsmacht erstreckte sich, folgt man vor allem den Aussagen der Panegyriker, unmittelbar auf das menschliche und herrscherliche Handeln17. Bilder der Globusübergabe auf Münzen sind dabei entsprechend ihrem Symbolcharakter in den meisten Fällen ohne einen räumlichen Kontext angegeben. Auch ein seltenes maxentianisches Goldmedaillon zeigt die Szene der Globusübergabe zwischen Roma und dem Kaiser in einer zur Bronzeprägung fast identischen Positionierung und Gewandung, jedoch ohne die Architektur des Tempels18. Die follis-Darstellungen könnten insofern zunächst als eine fast spielerische Innovation der römischen Münzpräger erscheinen, in der die beiden bekannten ikonographischen Formeln »Tempelbau« und »Globusübergabe« in einem einzigen Bild verschmelzen. 14 Vgl. die Definition von »Habitus« bei Bourdieu 1974, 144 als den »Ausdruck dieser allgemeinen Disposition […], welche die Einzelmuster erzeugt, die sich dann in den verschiedenen Bereichen des Denkens und Handelns verwenden lassen«. 15 Vgl. Hölscher 1980. 16 Fears 1977, 279–299. 17 Martin 1984; Kolb 2001, 35–37. 18 RIC VI 373 Nr. 173; vgl. Carson 1980, 70 n. 110. 142 HAUKE ZIEMSSEN Abb. 3 | Sesterz, Rom, geprägt unter Kaiser Caligula (37–41 n. Chr.), max. Dm 35 mm, Revers: Darstellung des kaiserlichen Opfers mit Opferdienern und Stier am Altar vor hexastylem Tempel des divus Augustus (RIC I Caligula 44). Doch dieser Eindruck trügt; um ein bloßes künstlerisches Experiment handelte es sich hier mit Sicherheit nicht. Dem römischen Betrachter war geläufig, dass in einem Münzbild wie auch in anderen staatlichen Bildwerken die Wiedergabe von Realität und deren symbolische Überhöhung zusammenfielen 19. Semantisch vergleichbar aufgebaut sind etwa Werke der Staatskunst wie das Triumphrelief des Titusbogens, in dessen realistisch dargestelltem Zug wie selbstverständlich auch Gottheiten auftreten. Näher noch stehen der »Globusübergabe im Tempel« die aus Münzprägung und Reliefkunst bekannten Darstellungen kaiserlicher Opfer vor einem im Bild präzise identifizierbaren Tempelbau Tempelbau, etwa dem Münzbild des Caligula mit dem Opfer vor dem Tempel des divus Augustus (Abb. 3)20. Die vergleichbare Kombination von Tempelbau, handelndem Kaiser und Gottheit auf den maxentianischen Münzbildern konnte einen Betrachter durchaus an solche Opferszenen erinnern. Zwar sind auf den Opferdarstellungen die TempelKulisse und die vor ihr dargestellte Handlung gleichermaßen ›real‹, doch ist auch diese Wirklichkeit bereits inszeniert. Die Bilder geben ein Ritual wieder, das in der römischen Kaiserzeit durch die Platzierung des Altars in der Mittelachse des Tempels selbst »zum plakativen Bild der politischen Frömmigkeit, der pietas« wurde21 . Eine Münzprägung des Alexander Severus zeigt nach diesem Bildschema den Kaiser beim Opfer vor dem durch die Legende ROMAE AETERNAE als das templum urbis identifizierten Heiligtum22 . Das Thema dieser Darstellung ist eine Zeremonie zu Ehren der Roma und der Venus und damit der aeternitas Roms, wobei die Figur des Kaisers mit der von ihr verkörperten Tugend der pietas in den Mittelpunkt der Aussage rückt23. Ähnlich sind Münzdarstellungen 19 Hölscher 1980. 20 Einen Überblick über Münzdarstellungen von Opfern vor Tempeln (mit zahlreichen Beispielen) bietet Scott Ryberg 1955, 186–189. 21 Hölscher 2006, 191–192. 22 Scott Ryberg 1955, 187–188 Abb. 115 a (mit dem Hinweis auf die Betonung der Kultstatue durch die Bildkomposition); Toynbee 1986, 103 Taf. 44, 4. 23 Nach einer überzeugenden Hypothese Paul Zankers gilt diese Deutung auch für all jene Tempeldarstellungen, in denen nur die Kultstatue im Inneren sichtbar ist. Die Wiedergabe des Götterbildes verweise demnach DER HERRSCHER IM TEMPEL 143 Abb. 4 | Aureus des Septimius Severus, Rom,207 n. Chr., max. Dm 21 mm, Revers: Thronende Göttin Roma, Umschrift: RESTITVTOR VRBIS (RIC IVa Septimius Severus 288; Hill 1964, 35 Nr. 975–977). severischer Zeit zu deuten, die zwar nicht den Tempelbau einschließen, den maxentianischen Prägungen aber in anderer Hinsicht stark ähneln. Unter Septimius Severus erschienen mehrere Serien mit der Legende RESTITVTOR VRBIS, die zumeist den Kaiser beim Opfer zeigten24 . Auf den ersten Serien wurde er allein vor einem Dreifuß wiedergegeben, in späteren Serien trat die thronende Figur der Roma auf der anderen Seite des Dreifußes auf. Schließlich erschien die Göttin in den spätesten Serien allein und ohne Dreifuß, aber weiterhin unter der alten, auf den Kaiser bezogenen restitutor urbis-Legende (Abb. 4). Die im Opfer zum Ausdruck kommende pietas gegenüber den Göttern trägt mit dem Verweis auf den Kaiser als Wiederhersteller (restitutor) der Stadt eine besondere Konnotation, die eng mit dem Begriff des conservator verwandt ist. Das substantivierte Verb bezeichnet auch hier den Kaiser als handelnden, Schutz und Fürsorge für Rom gewährenden Herrscher. Die restitutio urbis verwies einerseits auf Baumaßnahmen in Rom, andererseits aber auch auf die in diesen Aktivitäten zum Ausdruck kommende Erneuerung des Staates und die segensreiche Wirkung der severischen Dynastie für das Reich. Im Opfer vor Roma und in dessen Darstellung auf den Münzen verbinden sich diese Gedanken mit dem Konzept der pietas vor der Göttin der Stadt. Auch das reale Handeln und seine bildliche Wiedergabe sind insofern stets symbolisch überhöht. stets auf den Anlass, bei dem es einem größeren Publikum auch real sichtbar wurde, also auf die kultische Zeremonie (Zanker 1997). 24 Zur Chronologie dieser Prägungen: Hill 1964. Zum Kontext vgl. Desnier 1993, 612–615; Daguet-Gagey 2004. 144 HAUKE ZIEMSSEN 3 Handlungsformen: Der Kaiser im Kult Zurück zu den Prägungen des Maxentius. Sie ähneln den beschriebenen Darstellungen des herrscherlichen Opfers in ihrer Kombination von Kultbau und Kaiserfigur, unterscheiden sich aber auch in mehreren wesentlichen Aspekten von ihnen. Im Mittelpunkt der Szenen mit der Globusübergabe im Tempel steht nicht das Opfer, nicht die Idee religiöser pietas, sondern laut der Legende jene einer Auszeichnung des Herrschers als »Retter« seiner Stadt. Die conservatio urbis durch Maxentius ist Voraussetzung für die Verleihung der Herrschaft durch Roma, die hier somit auch die urbs conservata, die gerettete Stadt, repräsentiert. Während Prägungen wie jene des restitutor urbis Septimius Severus über die Opferdarstellung auf die menschliche Handlungssphäre des Kaisers verweisen, stellen die Münzen des Maxentius damit einen göttlichen, der Realität eines für alle Bürger sichtbaren Zeremoniells gerade enthobenen Handlungszusammenhang her. Fundamental unterschiedlich ist daher auch die Positionierung des Kaisers im Bild. In den Opferdarstellungen wie jener des Alexander Severus steht er stets vor dem Tempel am Altar, während das Tempelinnere als Ort der Kultfigur aufgefasst wird. Damit ist eine kultisch wichtige Trennung repräsentiert, die sich im Moment des Zeremoniells ebenso klar vor den Augen der Zuschauer manifestierte. Das Handlungsbild des Maxentius missachtet diese Dichotomie und nähert den Kaiser in seiner aktiven Schrittstellung unmittelbar der Gottheit an. Die Darstellung eines lebenden, handelnden Kaisers im Tempel ist in der Bildkunst außergewöhnlich und wird auf den zeitgenössischen Betrachter entsprechend drastisch gewirkt haben. Im Vergleich mit den Opferdarstellungen stellt sich hier rasch die Frage: War der Kaiser auch in der Realität im Inneren des Tempels gegenwärtig, und wenn ja, in welchem zeremoniellen Rahmen? Durchsucht man die Münz- und Reliefkunst der Kaiserzeit nach Wiedergaben von Kaisern in Tempeln, lassen sich tatsächlich fast ausschließlich Bilder von Kultstatuen eines Herrschers in Tempeln des provinzialen Kaiserkultes anführen, die sich mit der maxentianischen Handlungsszene nicht direkt vergleichen lassen – auch wenn sie die symbolische Bedeutung unterstreichen, die der Darstellung eines Kaisers im Inneren eines Tempels zukommen musste25. Es gibt allerdings eine Ausnahme, die für das Verständnis des maxentianischen Bildes aufschlussreich sein kann und auf der ebenfalls ein lebender Kaiser im Inneren eines Tempels bei der Interaktion 25 Tempel mit kaiserlicher Kultfigur: BMCRE Cilicia 117 n. 9; 118 n. 10; Price – Trell 1977, 276 n. 640 (Cilicia unter Maximinus Thrax); BMCRE Phrygia 307 n. 185 (munizipaler Kaiserkulttempel unter Domitian); BMCRE Pontus 105 n. 9–11. 108 n. 32; vgl. Hänlein-Schäfer 1985, 83–84 (Tempel der Roma und des Augustus in Nicomedia, manchmal mit der Figur des Kaisers allein, zuweilen auch mit bekränzender Roma); BMCRE Mysia 137 n. 236; 139 n. 242–245; 140 n. 253–256; 141 n. 257; 142 n. 267; 166 n. 360–363 (Roma-Augustus-Tempel in Pergamon); BMCRE I 196 n. 228; II 94 n. 449; 352 n. 254*; III 12 n. 79; III 146 n. 711; Hänlein-Schäfer 1985, 81–82 (kleinasiatischer Provinzialtempel der Roma und des Augustus mit Augustusfigur und bekränzender Roma); BMCRE Mysia 142 n. 262–266; Radt 1999, 209–212 (Avers mit Wiedergabe des kleinasiatischen Provinzialtempels, Revers zeigt das Traianeum mit Statuen des Zeus und Trajans). DER HERRSCHER IM TEMPEL 145 Abb. 5 | Billontetradrachme des Hadrian, Alexandria, 132/33, Revers: Tempel mit Hadrian und Serapis im Interkolumnium (Milne 1933, n. 1380 pl. 4). mit der Gottheit erscheint: Auf den Rückseiten hadrianischer Bronze-Münzserien aus Alexandria, die möglicherweise aus Anlass des kaiserlichen Besuchs in der Stadt im Jahr 132 entstanden, sind stets Hadrian und Serapis im Interkolumnium eines distylen Tempels dargestellt 26. Für uns besonders aufschlussreich ist eine in das Jahr 132/133 n. Chr. datierende Serie, in deren Bild der links stehende, in der Linken ein Szepter haltende Serapis dem ihm rechts gegenüber dargestellten Hadrian den Globus überreicht (Abb. 5)27. Noch ein weiteres Exemplar zeigt den Gott bei der Übergabe eines Objektes an den Kaiser, in diesem Fall eines Kranzes mit Taenia28. Auf allen anderen Münzen dieser Serien erhebt Serapis den rechten Arm in Richtung auf den gegenüberstehenden Kaiser. Der Kaiser ist dabei in fast gleichbleibender Weise dargestellt. Er hält in seiner Linken zumeist ein Szepter und legt seine Rechte stets auf eine halb hohe, rechteckige und von einem Giebel bedeckte Stele, die zwischen den beiden Figuren aufgestellt ist und in ihrem Feld den Namen Hadrians im Akkusativ trägt 29. Bei dem Tempel handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um den aus der Zeit Ptolemaios’ III. (246–221 v. Chr.) stammenden Serapistempel auf dem Gelände des alexandrinischen Serapeions, dessen Grundmauern bei Ausgrabungen identifiziert werden konnten30. Der Bau wurde unter Trajan und Hadrian mehrfach auf alexandrinischen Münzen geprägt, stets aber nur mit dem Gott und dem als Inschriftenstele zu deutenden Gegenstand31 . Auf diesen Bildern legt Sera26 Vogt 1924, 69–70; BMCRE Alexandria 101–102 n. 874–876; Tran tam Tinh 1983, 188–189 (Kat. IVB 42). 27 Aus der Sammlung Dattari (n. 1946). Vgl. Milne 1933, n. 1380 pl. 4; Tran tam Tinh 1983, 188 (Kat. IVB 42 c). 28 Tran Tam Tinh 1983, 133 (Kat. IC 31). 29 Zusammenfassend und mit älterer Literatur: Tran tam Tinh 1996, 223. 30 McKenzie – Gibson – Reyes 2004, 85–90. 31 Die Stele erscheint auch auf den früheren Darstellungen des Tempels (unter Trajan wie auch vor und nach der hier behandelten Serie unter Hadrian), auf denen der Kaiser noch fehlt, und trägt dort eine nur durch Punkte angedeutete Schrift, s. Tran tam Tinh 1983, 126–133 (Kat. IC 12–30); Handler 1971, 65–67. Vgl. Vogt 1924, 69–70. Unwahrscheinlich ist die gelegentlich vorgenommene Deutung der Stele als Naos und damit als Hinweis auf eine Baumaßnahme Hadrians im Serapeum (u. a. Beaujeu 1955, 230–231, offensichtlich auch Tran Tam Tinh 1996, 223). 146 HAUKE ZIEMSSEN pis selbst seine Hand auf den Giebel und besetzt die Stele somit für sich32 . Nur auf den hier behandelten Münzen Hadrians ist die Stele durch die Angabe des Kaisernamens im Akkusativ eindeutig als Widmung an Hadrian gekennzeichnet und deutet damit auf eine Ehrung des Kaisers im Tempel des Serapis hin33 . Dass Hadrian im Bild auch selbst innerhalb des Tempels dargestellt ist und ihm die Stele durch den Gestus der Handauflegung in der gleichen Form zugeschrieben wird wie auf den früheren Münzbildern dem Serapis, lässt an eine Aufnahme des Kaisers in den Tempel denken. Auch der grüßende Gestus des Gottes deutet dies an34 . Auszugehen ist zumindest von einer Statuenweihung, entsprechend den zahlreichen Widmungen an Hadrian, die für das athenische Olympieion überliefert sind35 . Wie in Athen muss dies auch in Alexandria nicht zwangsläufig bedeuten, dass der Kaiser als Synnaos Theos (σύνναος θεός) des Serapis verehrt wurde36, wie dort aber ist anzunehmen, dass er im Tempel und dem umgebenden Kultbezirk in statuarisch prominenter Form vertreten war. Mit einiger Wahrscheinlichkeit bezogen sich die Serapis-Prägungen mit Hadrian im Tempel auf solche nicht mehr rekonstruierbaren Ehrenbeschlüsse für den Kaiser37. Entsprechend lässt sich auch die gelegentlich dargestellte Übergabe von Kranz oder Globus durch Serapis verstehen. Sie interpretiert den Bezug des Gottes zum Kaiser als göttliche Auszeichnung und Verleihung von Herrschaftsrecht und Sieghaftigkeit, analog zu der römischen Tradition, höchste Götter als σωτήρες bzw. conservatores der Herrscher anzusehen und ihnen auch die Garantie der Herrschaft zuzuschreiben38. Zwei hadrianische Bauinschriften von Serapistempeln an anderen Stellen Ägyptens bringen genau diese Aspekte zum Ausdruck, indem sie die entsprechenden Bauten ὑπὲρ σωτηρίας καὶ αἰωνίου νίκης des Hadrian und seines Hauses widmen und erst dann den Namen des Gottes nennen (Zeus Helios, der große Serapis)39 . 32 Vogt 1924, 70 vermutet zu Recht eine auf Serapis bezogene Inschrift und denkt an die Verkündung eines von Serapis vollbrachten Wunders oder einer Weihung an den Gott. 33 Vgl. zur Form griechischer Ehreninschriften Guarducci 1974, 89–102. Handler 1971, 67–68 bemüht sich um eine genauere Erklärung der Szene, indem sie diese als Hinweis auf einen administrativen Akt Hadrians deutet. Die Stele würde demnach die öffentlichen Archive Alexandrias versinnbildlichen, die ihren Platz stets im Serapistempel unter dem Schutz des Gottes gehabt hatten und erst unter Hadrian in die von ihm neugeschaffene Bibliothek verlegt, also gewissermaßen unter seinen Schutz gestellt wurden. Abgesehen von der für eine Münzdarstellung wohl etwas zu komplexen politischen Rekonstruktion berücksichtigt diese Deutung nicht, dass die Darstellung des Kaisers im Tempel auf einer Münze außergewöhnlich ist und sich kaum befriedigend mit dem (gemutmaßten) Standort der Archivtafeln erklären lässt. 34 Beaujeu 1955, 230–231 deutet diesen Gestus als Zeichen für die Aufnahme Hadrians durch Serapis als σύνναος θεός. 35 Benjamin 1963, vgl. dort bes. 73–74 (Stele für Hadrian, nicht im Hadrianeum, geweiht durch zwei Phylen); Guarducci 1974, 92–93; Willers 1990, 48–62. 36 Vogt 1924 vermutet, die Stele verkünde die Aufnahme des Hadrian in den Tempel als σύνναος θεός. Hornbostel 1973, 382 deutet die seines Erachtens ebenbürtige Darstellung von Gott und Kaiser umstandslos als Beleg für eine solche Stellung Hadrians. 37 Tran tam Tinh 1996, 222. 38 Serapis galt wie Zeus-Jupiter als allumfassende Gottheit und wurde in der hadrianischen Religionspolitik in gleicher Weise mit dem Kaiser verbunden wie Zeus (Beaujeu 1955, 232–236; Tran tam Tinh 1996, 222–223). 39 Bernand 1977, 59 n. 21 (Architrav mit der Inschrift eines Tempels des Zeus Sol, des großen Serapis, gefun- DER HERRSCHER IM TEMPEL 147 Die hadrianischen Prägungen bieten somit selbst eine Erklärung für ihre ungewöhnliche Darstellung des Herrschers im Tempel. Kaiser und Gottheit sind hier Bestandteile einer Handlungsszene, die zwar nicht bildrealistisch ist, symbolisch aber dennoch unmittelbar mit einer materiellen Ehrung des Herrschers im Tempel verknüpft ist. Wie das Opfer auf den zuvor genannten Münzdarstellungen bezieht sich auch die Globusübergabe auf den hadrianischen Münzen auf eine spezifische Position des Kaisers im Tempel, doch rückt anstelle der pietas seine passive Teilhabe am Kult in den Mittelpunkt, konnotiert mit den Vorstellungen der Herrschaftslegitimation und der Sieghaftigkeit. So weit nun diese Darstellung zeitlich und geographisch auch von jener des Maxentius im Tempel der Roma entfernt ist, verbindet beide doch ein vergleichbarer politischer Kontext 40. Die alexandrinische Münzprägung des Jahres 132/133 n. Chr. stand noch unter dem Eindruck des erst kurz zuvor abgeschlossenen, mehrmonatigen Aufenthalts Hadrians in der Stadt (130/131 n. Chr.). Der in eigener Person gegenwärtige Herrscher muss Gegenstand intensiver panegyrischer Bekundungen der Bevölkerung geworden sein; auf Münzen wurde sein adventus umfangreich gefeiert. Die Präsenz Hadrians könnte somit auch die entsprechenden Beschlüsse zu seiner Aufnahme in das zentrale Heiligtum des Serapis ausgelöst haben. Im Rom des beginnenden 4. Jh. ergab sich mit der erneuerten Präsenz eines Herrschers eine ähnliche Situation. Die Stadt feierte ihren seit Jahrzehnten ersten dauerhaft anwesenden Kaiser als conservator urbis. Damit verbanden sich ohne Zweifel panegyrische Huldigungen, wie wir sie für zeitgenössische Herrscher kennen, ebenso wie die in der gesamten Kaiserzeit üblichen Ehrenbeschlüsse des Senats. Eine Aufnahme des Maxentius in den Venus- und Romatempel ist in diesem Zusammenhang äußerst wahrscheinlich. 4 Ideologische Bilder: Maxentius und die aeternitas Diese Verbindung zwischen Göttin und Kaiser lässt sich noch näher bestimmen. Das oben bereits erwähnte maxentianische Medaillon mit der isolierten Szene der Globusübergabe trägt die einzigartige Legende ROMAE AETERNAE AVCTRICI AVG N (Abb. 6)41 . Dieser Begriff auctor (F. auctrix) – der Urheber, Begründer einer Sache – hatte im Verhältnis eines Gottes zu einem Menschen eine sehr spezifische Bedeutung. Roma Auctrix Augusti bezeichnete die Göttin nicht nur als Urheberin der Herrschaft (auctrix imperii). Der auctor eines Menschen war auch sein Schöpfer in einem genealogischen Sinne, sein den in Gebel Dokhan, datiert auf 117–119 n. Chr.); 98 n. 42 (Architrav mit der Widmung eines Tempels des Zeus Sol, des großen Serapis und verbundener Gottheiten, gefunden in Gebel Fatireh (in situ), datiert auf den 23. April 118 n. Chr.). Vgl. auch Bernand 1984, 77–78 Kat. 16. 17. 40 Es lässt sich nicht völlig ausschließen, dass hier ein direkter Einfluss der alexandrinischen Münzprägung auf die stadtrömische vorliegt; doch spricht angesichts des zeitlichen Abstands wenig für eine solche Hypothese. 41 RIC VI 373 Nr. 173; vgl. Carson 1980, 70 n. 110. 148 HAUKE ZIEMSSEN Abb. 6 | Goldmedaillon des Maxentius, Rom, 307–312 n. Chr., max. Dm. 40 mm, Revers: Roma übergibt den Globus an Maxentius, Umschrift: ROMAE AETERNAE AVCTRICI AVG N (RIC VI Maxentius 173). Ahnherr42 . Dieses Verständnis eines Gottes ist für die Zeit der Tetrarchie gut bekannt; die Götter – Jupiter und Hercules – galten nicht nur als Beschützer der Kaiser und Garanten ihrer Herrschaft, sie waren darüber hinaus auch die Begründer der beiden kaiserlichen Familienzweige der Iovii und der Herculii 43 . Die göttliche Filiation der beiden Augusti war Grundlage des tetrarchischen Herrschaftssystems und im Panegyricus auf Maximian von 291 n. Chr. wird Jupiter auch als der auctor deus des Diocletian angesprochen, als der »Schöpfergott« und göttliche Vorvater des Kaisers44 . Roma und Maxentius waren somit über einen komplexen und für die Zeit der Tetrarchie spezifischen ideologischen Diskurs miteinander verbunden. Roma rückt in der Medaillonprägung als Schöpferin von Person und Status des Maxentius an die Stelle der tetrarchischen Schutzgötter. Es ist anzunehmen, dass diese Rolle der dea Roma in der Kommunikation zwischen den neuen Herrschern und den stadtrömischen Gruppierungen sowie in den Huldigungsadressen der Festredner entstand und ihr kein systematischer Entwurf zugrundelag, wie es ihn offenbar für die Tetrarchie gab. Damit wurde die im hadrianischen Tempel kultisch eng definierte Roma aeterna zu einer Herrschaftsstifterin, die dem Maxentius nicht wie Jupiter oder Herkules den Tetrarchen in abstraktem Wesen gegenüberstand 45; Maxentius wurde stattdessen unmittelbar – und exklusiv – mit dem örtlich klar definierten Kult der Roma im templum urbis assoziiert. Die Bronzeprägungen mit dem Bild des Tempels referieren auf diesen Bezug des Kaisers zum Kultbau im Stadtzentrum und wenden sich daher auch mit der Legende conservator urbis suae nicht ohne Grund immer an den Kaiser, auch wenn nur der Tempel mit der Kultfigur der Göttin, nicht der Kaiser dargestellt ist. Ähnlich wie die Münzen des Hadrian für den Tempel in Alexandria scheinen somit 42 TLL 4,2, 1204 Z. 58–59 s. v. auctor. 43 Kolb 2001, 35–37. 44 Pan. XI (3) , 3, 4. 45 Jupiter, Herkules oder Mars verwiesen in Szenen der Globusübergabe nie auf einen spezifischen Kult, besaßen somit keine dem Kaiser physisch zugängliche Ausdrucksform und waren auch durch die häufige Legende CONSERVATOR AVGVSTI nur in der ihm gegenüber ausgeübten Schutzfunktion gekennzeichnet. DER HERRSCHER IM TEMPEL 149 auch die maxentianischen Prägungen eine Aufnahme des Kaisers in das templum urbis zu spiegeln, sei sie über die Weihung von Statuen oder im Zusammenhang des Neubaus über eine entsprechende Widmungsinschrift erfolgt. Für eine solche Rolle des Kaisers im Kultbau spricht auch eines der wenigen Zeugnisse der Geschichtsschreibung zu den Ereignissen jener Jahre. Aurelius Victor berichtet über die Tage nach der Niederlage des Maxentius, dass der Senat dem Sieger Konstantin das templum urbis, ebenso wie die Maxentiusbasilika, »geweiht« habe (Caes. 40, 6: sacraverunt), ihm den Bau also zusprach, wie es gewöhnlich für einen Gott geschieht. Mit großer Wahrscheinlichkeit wiederholte das Gremium damit nur einen Akt, den es bereits gegenüber dem ursprünglichen Bauherren Maxentius vollzogen hatte und der jeweils als Inschrift an prominenter Stelle verkündet worden sein muss. Mit diesen Bezügen steht das maxentianische Bild der Globusübergabe im Kontext einer Zeit, die den direkten Einfluss der Götter auf das irdische Geschehen und auf die Handlungen der Herrscher annahm. Nicht mehr die pietas, die einem menschlichen Handlungsrahmen entstammt, sondern die Nähe zur göttlichen Natur war nun legitimationsstiftend 46. Die zeitgenössische Panegyrik bietet dafür eine aufschlussreiche Parallele mit der berühmten Schilderung der Apollo-Vision des Konstantin 47. Der Panegyriker baut nach der niedergeschlagenen Rebellion des Maximian ein neues, politisch von der Tetrarchie abgewandtes Herrscherbild Konstantins auf. Gegen Ende der Rede beschreibt er den Abstecher Konstantins zu einem Heiligtum – zu identifizieren vermutlich mit einem auch archäologisch nachgewiesenen Tempel des Apollo in den Vogesen. In diesem templum toto orbe pulcherrimum sieht der Kaiser – so beschreibt es der Redner, gemildert durch ein respektvolles credo – Apollinem tuum comitante Victoria coronas tibi laureas offerentem. Die Passage ist viel diskutiert und kann hier nicht in all ihren möglichen Bezügen beleuchtet werden. Für unseren Zusammenhang wichtig ist die Tatsache, dass die Annäherung von Kaiser und Gott auch hier als Handlung in einem Heiligtum verortet wird. Die Sprache der Münzen und der Panegyrici beweisen hier ihre enge Verwandtschaft, sowohl im sprachlichen Ausdruck, der die außergewöhnliche Natur dieser Nähe emphatisch hervorhebt (Apollo tuus/urbs sua), als auch in der Bildsymbolik. Die von Apollo und Victoria dargereichten Kränze sind als Zeichen für die Dauer eines Lebens oder einer Herrschaft von Münzdarstellungen her bekannt und die Schilderung erinnert insofern auch nicht zufällig an die Übergabe des Globus durch Roma an Maxentius. In beiden Fällen ist die Nähe zum Gott auch die Basis für das Herrschaftsrecht des Kaisers. Wenige Zeilen später spricht der Panegyriker von der Weltherrschaft des Apollo/Konstantin 48. Konstantins Apollo ist ebenso wenig vom tetrarchischen Herrscherbild zu trennen wie die Roma des Maxentius: Stets betont die zeitgenössische Feier eine intime, exklusive 46 Martin 1984. 47 Pan. VI 21, 3–7. Vgl. zu dieser Schilderung Rodgers 1980, 259–278 sowie den Kommentar der Passage bei Nixon – Rodgers 1994, 248–251. 48 Pan. VI 21, 5. 150 HAUKE ZIEMSSEN Abb. 7 | Tempel der Venus und Roma, westliche Cella des unter Maxentius restaurierten Bauwerks nach der neuzeitlichen Restaurierung der 30er Jahre des 20. Jh. Nähe von Herrscher und Gottheit, die in der Verwandtschaftsbeziehung der Tetrarchen und ihrer Schutzgötter vorgebildet ist. Die Hinwendung zu den spezifischen Gottheiten Apollo und Roma, die in den Medien des Panegyricus und der Münzen sehr bewusst herausgestellt wurde, zeigt dabei aber zugleich die politische Abwendung vom System der Tetrarchie. In den Krisenjahren der Tetrarchie nach 305 waren solche religiösen Bezeugungen immer auch öffentlich verbreitete Akte, auf die neben den Herrschern selbst auch die Erwartungen der mit ihnen verbundenen Gruppen Einfluss nahmen. Die Panegyriker und die Münzprägestätten brachten Vorstellungen zum Ausdruck, die der Herrscher und seine Untertanen übereinstimmend teilen konnten 49. 5 Handlungen im städtischen Raum: Maxentius in Rom Zurück zur Stadt Rom. Die Münzprägungen mit der Globusübergabe durch Roma an Maxentius müssen auch hier Teil eines breiten, für uns allerdings vollständig verlorenen panegyrischen Diskurses gewesen sein. Sie sind zugleich – hierin vergleichbar den Münzdarstellungen mit einem kaiserlichen Opfer – räumlich präzise lokalisiert. Die Darstellung des Tempels der Venus und Roma verweist auf das reale Bauwerk, einen der größten Tempelbauten Roms, der noch dazu durch die zeitgleichen, aufwendigen Wiederherstellungsmaßnahmen den Zeitgenossen äußerst präsent sein musste (Abb. 7). Die Rolle der Roma gegenüber dem Kaiser ist insofern nicht allein im Sinne eines ideologischen 49 Zum Bezug zwischen der Apollo-Vision, der Hinwendung zum Christentum und der politischen Situation des Jahres 310 n. Chr. vgl. zuletzt Barceló 2007. DER HERRSCHER IM TEMPEL 151 Konzeptes zu verstehen, vielmehr bildete sie sich in unmittelbarem Zusammenhang mit der Erneuerung des Bauwerkes selbst heraus. Derartige Verbindungen zwischen der Konzeptionierung einer Herrschaft und ihrer architektonischen Formulierung lassen sich in Rom vielfach nachweisen. Zwei besonders aufschlussreiche Beispiele bieten Ereignisse aus den Herrschaftszeiten Cäsars und Caligulas. In einer bei Sueton für das Jahr 44 v. Chr. beschriebenen Szene versammelt Cäsar, zu jener Zeit dictator perpetuus des römischen Staates, den Senat auf dem forum Iulium50. Die Platzanlage war erst kurz zuvor aus eigenen Mitteln und zur Feier der eigenen Person und Familie fertiggestellt worden. Cäsar empfängt den Senat dort zur allgemeinen Empörung sitzend, pro aede Veneris Genetricis, vor dem Tempel der Venus Genetrix, wie Sueton ausdrücklich anmerkt. Dieser Ort ist vermutlich mit dem Podium des Tempels der Venus Genetrix zu identifizieren, in dem Venus als Ahnherrin des julischen Geschlechts verehrt wurde51 . Vor dem in der Apsis des Tempels aufgestellten Bildnis der Venus und im Blickfeld der auf dem Platz versammelten Senatorenschaft hatte Cäsars Sitzenbleiben eine besondere Bedeutung. Cäsar inszenierte sich hier selbst als Kultbild. Er präsentierte sich zwar nicht ausdrücklich als Gott, spielte aber durch die bewusste Respektlosigkeit vor dem Senat höchst ambivalent mit den Ausdrucksmöglichkeiten römischer Repräsentation und den Näherungsstufen zwischen menschlicher und göttlicher Sphäre. Diese Inszenierung findet ihre Bühne und ihr Äquivalent in der Architektur des Platzes. Lässt sich Cäsars Empfang des Senats als ein Spiel mit Deutungen und Formen zeremoniellen Ausdrucks interpretieren, so ist eine für den Kaiser Caligula etwa 80 Jahre später überlieferte Szene weitaus weniger ambivalent. Über ihn berichten Sueton und Cassius Dio, dass er den Tempel der beiden Dioskuren, Castor und Pollux, auf dem Forum Romanum durch eine Brücke mit dem Palatin verband und ihn so zum Eingangsbereich des Kaiserpalastes umbaute. Er selbst soll zwischen den Statuen der Götter sitzend Hof gehalten haben52 . Das war eine Steigerung der Götternähe Cäsars. Der Kaiser rückte ganz unmittelbar neben die Götterstatuen, wurde selbst zu einem lebenden Bildnis und verwandelte dabei das Forum Romanum in den Vorhof seines Domizils. Beide Szenen belegen den Zusammenhang zwischen architektonischen Veränderungen und Handlungsformen und verweisen dabei insbesondere auf die Bedeutung, die in der römischen Kaiserzeit der baulich umgesetzten Nähe von Kaisern und Göttern zukam. Bereits eingangs wurde erwähnt, dass die Architektur des Maxentius repräsentative und zeremonielle Bedürfnisse dieser Herrschaft widerspiegelt. Für den Wiederaufbau des Venus- und Romatempels soll dies nun abschließend noch einmal genauer betrachtet werden. Die beiden Cellae des Venus- und Romatempels wichen in ihrer Neugestaltung unter Maxentius in bezeichnender Weise von der früheren hadrianischen Architektur 50 51 52 152 Suet.Iul. 78, 1. Vgl. Gros 1976, 134; Hölscher 2006, 193–194. Suet.Cal. 22; Cass.Dio 59, 28, 5. HAUKE ZIEMSSEN ab53 . An die Stelle der relativ schlichten älteren Cellae traten nun aufwendig mit seitlichen Statuennischen, Tonnengewölbe und Apsis geschmückte Prunksäle. Treppenanlagen scheinen die Apsispodien mit dem Fußbodenniveau der Cella verbunden zu haben und außergewöhnliche, illusionistisch gestaltete Apsiskalotten berücksichtigten unmittelbar die Blicke von Besuchern. Im neuen Venus- und Romatempel entstand unter Maxentius somit ein Mittelpunkt kaiserlicher Legitimation, wie er bis dahin nur in den Tempeln der Kaiserforen existiert hatte. Die Cellae orientierten sich an der Innenraumarchitektur anderer römischer Apsidentempel, wobei vor allem die Tempel des Cäsar- und des Augustusforums Vorbilder gewesen zu sein scheinen. Die in der Tempelarchitektur keineswegs häufig auftretende Form des Apsidentempels bezog ihre Bedeutung aus der klar strukturierten Trennung in Saal und Kultnische und damit in eine Menge von Personen auf der einen Seite und ein herausgehobenes Objekt auf der anderen54 . Die Tempel der beiden ersten Kaiserforen hatten diese Raumform erstmals erprobt und standen dabei im Kontext der architektonischen Formensprache und ihrer ideellen Implikationen zu Beginn der Prinzipatszeit. Schon Pierre Gros hat diese Zusammenhänge hervorgehoben und mit der urbanistischen Gestaltung der Platzanlagen verknüpft55 . Am Cäsarforum rückte das Götterbild an das Ende einer städtebaulichen Achse, die vom Platz über den Pronaos bis in die Cella hinein auf den Willen eines einzigen Bauherren zurückging. Venus war hier als Venus Genetrix für das julische Geschlecht okkupiert und ihre hierarchische Hervorhebung im Tempel unterstrich Cäsars Anspruch auf die führende Rolle im Staat56. Auch Cäsar war in Gestalt einer Panzerstatue schon zu Lebzeiten auf dem Platz präsent57 und ante Veneris Genetricis aedem war auch eine Statue seines Pferdes aufgestellt, die später wohl ebenfalls das Bildnis des verstorbenen Diktators trug58. Die Szene des Senatsempfangs durch den Diktator vor diesem Tempel illustriert insofern die architektonisch bereits vorgegebene Hierarchisierung der Platzanlage59. Das augusteische Platzprogramm des Augustusforums erweiterte und monumentalisierte diese Ansätze. Stärker noch als am Cäsarforum kulminiert in der Apsis des Mars-Ultor-Tempels ein dynastisches, ganz auf die Person des Bauherren ausgerichtetes und seine göttliche Abstammung thematisierendes Bildprogramm60. Wie auf dem Cäsarforum fanden auch hier Gerichtsver- 53 Ziemssen 2007, 74–82. 54 Gros 1976, 136–137. 55 Viele Tempelinnenräume wurden unter Augustus zu kostbar ausgestatteten, architektonisch vielfältigen Repräsentationssälen neu- oder umgestaltet. In der Nachfolge von Selbstdarstellungsformen der späten Republik erhielt die Repräsentation des einzelnen im Tempel seit Cäsar feste architektonische Form und die übergreifende Intention, den Kaiser durch seine Präsenz im Tempel in eine intime Nähe zu den Göttern zu rücken (Gros 1976, 155–169; Gros 1996, 154–159). 56 Zu Entstehung, Bedeutung und Nutzung des Forum Iulium vgl. Anderson 1984, 39–63. 57 Plin.nat. 34, 18. 58 Plin.nat. 8, 44, 155; Anderson 1984, 48. 59 Vgl. Gros 1976, 134. 60 Zanker 1972; Anderson 1984, 65–100. DER HERRSCHER IM TEMPEL 153 handlungen unter Vorsitz des Kaisers statt, siegreiche Generäle weihten die Abzeichen ihres Triumphes dem Mars Ultor, Statthalter zogen von hier aus in ihre Provinzen, Triumphatoren sollten auf dem Platz eine Bronzestatue erhalten, auch der Senat versammelte sich im Tempel und beschloss hier über Kriege und die Verleihung von Triumphen. Die Architektur mit dem Fluchtpunkt der Apsis bildete den Rahmen all dieser Zeremonien und ermöglichte die Übermittlung der Rolle des Princeps als dem einzigen Triumphator, Kriegsherrn und Lenker des Staates an das teilnehmende Volk61 . Da sich die architektonische Gestaltung der maxentianischen Cellae an diese alten Tempelvorgänger anlehnte, sollten auch die Ursachen dafür nicht nur im Wunsch nach der Wahl einer besonderen Aufwandsform gesehen werden62 . Anzunehmen sind vielmehr ähnliche Nutzungsformen vor einem, wie wir sehen konnten, mit der frühen Kaiserzeit durchaus vergleichbaren ideologischen Hintergrund. Auch im templum urbis bot die Architektur nun den Rahmen für eine Inszenierung der Kultfiguren, von denen zumindest Roma in ähnlichem Nahverhältnis zum Kaiser stand wie einst Venus Genetrix zu Cäsar. Im hadrianischen Vorgängerbau waren solche Bezüge noch nicht vorhanden, daher hatten sie auch keine Umsetzung in der Architektur gefunden. Konkrete Funktionen im Herrscherzeremoniell wie für den Tempel des Mars Ultor oder Handlungsszenen wie jene vor dem Venus-Genetrix-Tempel sind für den Bau des Maxentius zwar nicht überliefert und denkbar ist angesichts der kurzen Regierungszeit des Herrschers auch, dass der Bau erst nach dessen Tod fertiggestellt wurde. Doch sind durchaus plausible Annahmen über die beabsichtigten Nutzungen möglich. Wie im Tempel des Mars Ultor könnten auch im Venus- und Romatempel Senatssitzungen abgehalten worden sein, wofür sich angesichts der speziellen Rolle der Roma für Maxentius deren Cella besonders anbot63 . Der Kaiser selbst könnte – wie einst Cäsar – vor dem Tempel Versammlungen von Senat oder Volk präsidiert und sich dabei vor der in der Apsis thronenden Göttin als Herr des Staates inszeniert haben. Auf der Plattform außerhalb des Baues, aber auch im Tempelinneren ist die Aufstellung von Statuen des Maxentius und seiner Familienangehörigen anzunehmen, die im Zusammenhang mit solchen Staatsakten ähnliche Wirkung entfaltet hätten wie die Bildwerke der Kaiserforen. Tatsächlich könnte sich auch ein Überrest einer solchen Statuenaufstellung erhalten haben: Fundamentierungen vor den Apsispodien lassen sich möglicherweise wie im Mars-Ultor-Tempel zu einer Treppenanlage ergänzen, auf der Weihungen aufgestellt werden konnten. In der Westapsis hätte der dem Podium hier noch 61 Cass.Dio 55, 10, 2–5; Suet.Aug. 29, 1–2; Anderson 1984, 88–97. 62 Brandenburg 1992, 30. Ähnlich spricht zuletzt Oenbrink 2006, 181–184 vor allem von der »Pracht« der Räume und ihrer »zeittypischen Wandgliederung«. 63 Da wohl nur selten alle der in tetrarchischer Zeit ca. 600 Senatoren gleichzeitig in Rom waren, spricht auch der begrenzte Platz in jeweils einer der Cellae nicht zwingend gegen eine solche Annahme. Eine unsichere Angabe in der Historia Augusta nennt für die Zeit des Alexander Severus eine vorgeschriebene Mindestzahl von 70 anwesenden Senatoren: SHA Alex. 16; vgl. zur realen Anwesenheit von Senatoren im spätantiken Rom Löhken 1982, 104–105. Zusammenfassend zu Tempeln als Sitzungsorten des Senats Hölscher 2006, 193. 154 HAUKE ZIEMSSEN Abb. 8 | Maxentiusbasilika und Venus- und Romatempel im Modell des Museo della Civiltà Romana, Rom. zusätzlich aufgesetzte Sockel sogar eine Anordnung der Statuen zugelassen, wie sie auf den Münzdarstellungen erscheint: Roma auf einem erhöhten Podest thronend, Maxentius etwas tiefer stehend64. Bestandteil einer räumlichen Inszenierung war der Venus- und Romatempel aber auch in einem städtebaulichen Maßstab. Zwar bildete er nicht wie die Tempel der Kaiserforen den Abschluss einer geschlossenen Platzanlage, doch war die nach Westen ausgerichtete Cella ein Kulminationspunkte des Straßensystems zwischen Kaiserpalast und Forum Romanum, das die Herrscher seit dem 1. Jh. für die großen Umzüge des adventus, der profectio, der Leichenzüge zum Forum und der Auszüge zu den Spielen nutzten (Abb. 8)65 . Dieses städtische Umfeld verwandelte sich unter Maxentius durch die Errichtung der Basilika. Unmittelbar gegenüber dem Tempel entstand mit diesem Neubau ein gewaltiger Empfangssaal des Kaisers, dessen Eingang sich demonstrativ nach Osten öffnete und dessen Apsis der westlichen Apsis des Venus- und Romatempels zugewandt war. In diesem neu angelegten städteplanerischen Bezugssystem sind nun auch Zeremonien zu erwarten, die das alte Spektrum kaiserlicher Umzüge ergänzten. Der Herrscher muss vom Palatin aus in die Basilika eingezogen sein, kann aber eine solche Prozession auch mit dem Opfer vor dem erneuerten Tempelbau verbunden haben. Die Bauten des Maxentius sind die Bühnen, auf denen der Herrscher als Schützling der Göttin Roma von den Untertanen gefeiert wurde. In unmittelbarer Nähe des Venus- und Romatempels wurde vor wenigen Jahren auch eine der erstaunlichsten archäologischen Entdeckungen der letzten Zeit in Rom gemacht, die der Herrschaftsrepräsentation unter Maxentius einen entscheidenden Aspekt hinzu64 65 Vgl. dazu meine in Druckvorbereitung befindliche Dissertationsschrift. Ziemssen 2010a. DER HERRSCHER IM TEMPEL 155 Abb. 9 | Die Szepter aus dem Fund am Nordhang des Palatin, von links nach rechts: konisches Szepter mit Globus aus Chalzedon; kleines Szepter mit Globus aus grünem Glas; Szepter mit zwei Globen aus vergoldetem Glas. fügen kann66. In einem Raum an der südlichen Seite der zum Titusbogen ansteigenden Straße, der zu einem größeren Baukomplex unklarer Funktion gehörte, wurde das in der Antike angelegte Versteck einer Reihe zeremoniell genutzter Gegenstände gefunden (Abb. 9): ein Kurzszepter mit Glasglobus, Reste eines längeren Szepters mit je einem Glasglobus an jeder Seite, ein weiterer einem dritten Szepter zugehöriger Globus sowie die Reste von Paradelanzen und Standarten, alles in Seidentuch gewickelt und bewusst vergraben. Es sind, daran kann kein Zweifel bestehen, kaiserliche Insignien. Die Ausgräber haben den Zeitpunkt des Versteckens auf Basis der Stratigraphie zwischen den Beginn des 3. und den Beginn des 4. Jhs. datiert. Eine Reihe historischer Erwägungen, ergänzt um die Art und Weise der Deponierung, führt sie schließlich zur weitergehenden und überzeugenden Hypothese, es habe sich um die Herrschaftszeichen des Maxentius gehandelt, die im Zusammenhang des Kampfes gegen Konstantin vor dem Sieger in Sicherheit gebracht werden sollten67. Doch auch ohne diese Datierung zu akzeptieren, bezeugt der Fund in eindrucksvoller Weise die Realität von Gegenständen, die im Bild zunächst als bloße Symbole erscheinen mögen, und die Existenz zeremonieller Handlungen im Umfeld des Palatin. 6 Schlussbemerkungen: Bild, Raum und Handlung im maxentianischen Rom Die Darstellungen der maxentianischen Münzen mit ihrem eigentümlichen Wechsel zwischen Realität und Symbolik bildeten den Ausgangspunkt der Untersuchung. Sie lassen sich, wie wir sehen konnten, als Ausdruck dauerhafter, göttlich fundierter Herrschaft deuten und standen damit sowohl inhaltlich als auch formal in enger Entsprechung zum Vorgehen der lateinischen Panegyriker, die reales Geschehen beschrieben, es aber zugleich auch ideologisch bewerteten. Der vorliegende Aufsatz legte den Fokus auf die Wir66 67 156 Panella et al. 2008; Panella 2011. Panella et al. 2008, 716–718. HAUKE ZIEMSSEN kungsweise der Bilder und auf deren reziproken Bezug zu den Handlungsformen ihrer Zeit. Dabei ist der Unterschied dieser Darstellungen zu allen anderen im Band »Bild – Raum – Handlung« analysierten Bild-Kontexten deutlich und ergibt sich aus der Natur des Mediums selbst. Die Münzbilder begleiteten das Geschehen im Rom des Maxentius nicht in derselben Art und Weise wie dies die Fresken im Palast von Knossos oder auf den Platzanlagen von Karkemish im Fall ihrer jeweiligen Zeremonien taten; sie standen den Teilnehmern der zeremoniellen Handlungen eben nicht am Ort des Geschehens selbst – und nur dort – als örtlich fixierte Monumente vor Augen. Gleichwohl lautet die Prämisse unseres Bandes, dass räumliche Zusammenhänge stets das Ergebnis von Konstruktionen der beteiligten Personen sind. In diesem Sinne eröffneten die follis-Prägungen ein Wechselspiel mit den realen Vorgängen in Rom. Die Betrachter verbanden beim Blick auf die Münze die ikonographischen Angaben mit dem Wissen, das sie aus eigener Anschauung oder aus Berichten vom Umfeld des Tempels der Venus und Roma hatten; umgekehrt rief der Anblick der Tempel-Baustelle und der dort stattfindenden Zeremonien bei den Zeitgenossen zwangsläufig das symbolisch verdichtete Abbild dieses Ortes auf den Münzen wach. Die maxentianischen Münzen stellen uns damit einem medialen Phänomen gegenüber, das der gesamten antiken Münzprägung eigen ist und diese eng mit der uns so vertrauten Bilderwelt des cyberspace verwandt sein lässt. Gerade die in der Bronzeprägung massenhaft verbreiteten Motive gewannen eine Wirksamkeit, die weder über den Ort der Darstellung noch über den der Betrachtung hinreichend zu erfassen ist. Der Begriff »Handlung« wird dabei zu einem heuristischen Schlüsselbegriff, denn es ist gerade das im Münzbild dargestellte Handlungsgeschehen, das in seiner klaren räumlichen Bestimmung auf eine zeremonielle Realität verwies. Erst über diesen eindeutigen Bezug wurde das Bild wirksam und entfaltete seine Aussagekraft. Eine isolierte, ideologiegeschichtliche Deutung der Bilder greift daher zu kurz. Wenn auch die Literatur in Gestalt der Panegyrici ihre Herrschaftssymbolik in ähnlicher Weise zu konkretisieren versuchte – wir konnten dies am Beispiel von Konstantins Besuch im Apollon-Tempel sehen –, waren doch die Bilder der Münzen von einzigartiger Wirksamkeit. Nur in ihnen wurden die komplexen Handlungsvollzüge im Rom des beginnenden 4. Jh. und deren ideologische Hintergründe mit einem einzigen Blick sichtbar, nachvollziehbar und mit Sinn erfüllt. Bibliographie Alföldi 1971 A. Alföldi, Der Vater des Vaterlandes im römischen Denken (Darmstadt 1971). Anderson 1984 J. C. 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Cargnel, Negativ SSBAR 551157; Szepter mit Globus aus grünem Glas Photographie M. Necci; Szepter mit zwei Globen aus vergoldetem Glas Photographie L. Mandato und G. Cargnel, Negativ SSBAR 551159. DER HERRSCHER IM TEMPEL 163 Bilder als Elemente von Innenräumen Ute Günkel-Maschek In die Augen, in den Sinn. Wandbilder als konstitutive Elemente von (Handlungs-)Räumen in der minoischen ›Neupalastzeit‹ This paper analyses the interaction between wall paintings, places and spaces (of activity) in the Minoan Neopalatial and Final Palatial Period on the theoretical basis of a »Pictorial-Space« concept. In the case of the palace at Knossos there are at least three types of spaces, each distinguished by a specific type of painting: entryways were frequently decorated with a bull motif, passageways with processions, and in the ›throne room‹ both the throne and a door in the rearward wall were f lanked by griffins which provided a backdrop for the throne and created the impression of a kind of ›door of epiphany.‹ The paintings therefore functioned either as an emblem that made symbolic reference to the ruler for those entering the palace, or, as in the case of the passageway, they presented idealized depictions of activities that were actually performed in the space in question, or, as in the case of the throne-room griffins, they lent a complementary layer of meaning to events that took place onsite, presenting the person who entered the ›throne room‹ and sat on the throne as the epiphany of a divinity. Die Bildwerke der kretisch-bronzezeitlichen Kultur geben ein faszinierendes, wenngleich in seinem fragmentarischen Erhaltungszustand oft frustrierendes Zeugnis von der Verwendung visueller Medien, mittels derer Inhalte und Bedeutungen in bestimmten Kontexten präsentiert und kommuniziert wurden. Zur Bebilderung der minoischen Lebenswelt griff man auf ein breites Spektrum an materiellen Bildträgern, Themen und Motiven zurück, die je nach Anlass, Kontext und beabsichtigter Wirkung zum Einsatz gebracht wurden. Das Wandbild, die monumentalste Form minoischer Bildwerke, gehörte zu den eindrucksvollsten Mitteln, um architektonische Räume zu dekorieren und ihnen repräsentative oder symbolische Konnotationen zu verleihen. Durch Wandbilder wurden indes nicht nur einzelne Bereiche oder ganze Räume gegenüber undekorierten Bereichen und Räumen hervorgehoben. Vielmehr wurden Wandbilder in Hinblick auf ihre Wahrnehmung durch im architektonischen Raum agierende Personen gewählt, komponiert und platziert, somit dienten sie der visuellen Inszenierung und inhaltlichen Prägung architektonisch eingefasster Handlungsräume1 . In diesem Sinne können sie neben architektonischen Strukturen und Kleinfunden als eine weitere materielle Quelle für die Erschließung von Raumfunktionen und -nutzungen herangezogen werden sowie, mehr noch, für die visuelle Akzentuierung jener Funktionen und Nutzungen durch Blick lenkende und Inhalt vermittelnde Gestaltungselemente. Minoische Wandbilder stammen überwiegend aus architektonischen Kontexten, die durch »palatiale«2 Elemente geprägt sind, d. h. aus den so genannten Palästen selbst sowie 1 Cameron 1970, 163–166; Cameron 1978, 580; Blakolmer 1995, 463–464; Blakolmer 2000, 397. s. ferner Palyvou 1987, 195. 2 Ich folge hierin Blakolmer 1995, 467 Anm. 28: »Der Terminus ›palatial‹ bezeichnet hier eine innovative Architekturform und nicht die Funktion eines Gebäudes«. IN DIE AUGEN, IN DEN SINN 167 aus den Stadthäusern in Knossos und den über die Insel verteilten ›Villen‹, die im Besitz einer herrschenden bzw. elitären Gesellschaftsschicht gewesen sein dürften. Neben dem gemeinsamen architektonischen ›Vokabular‹ legen die nicht nur in den Wandbildern, sondern auch bei zahlreichen weiteren Bildwerken verwendete Motivik und Symbolik nahe, dass sowohl das Geschehen in den ›Villen‹ und Stadthäusern als auch jenes in den ›Palästen‹ mit ähnlichen Ideen und Anschauungen verknüpft war. Während in den ›Villen‹ und Stadthäusern jedoch oftmals nur einzelne Räume farblichen Raumdekor erhielten, waren es im Palast von Knossos Eingangsbereiche, Durchgangsräume und ›Aufenthaltsräume‹, an deren Wänden die mit dem Geschehen im Palast und dem Herrschaftsanspruch der Elite assoziierten Ideen und Vorstellungen durch Bilder präsentiert und kommuniziert wurden3 . Zur Annäherung an jenes Phänomen der durch Wandbilder geprägten (Handlungs-)Räume soll in diesem Beitrag nach einer Skizzierung der theoretischen und methodischen Überlegungen in drei Erklärungshypothesen vorgestellt werden, auf welche Weise die Wandbilder in ausgewählten Bereichen des endpalastzeitlichen Palastes von Knossos (Spätminoisch [SM] II – IIIA1, ca. 1490–1370 v. Chr.)4 in Hinblick auf das dortige Handlungsgeschehen gewirkt haben könnten. 1 Bild-Raum und Handeln – Theoretische und methodische Überlegungen Der Raum als konstitutive Dimension von Lebenswelten ist in den letzten Jahrzehnten verstärkt in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses gerückt. Vor allem in den Sozialwissenschaften wird Raum dabei nicht mehr nur als Rahmenbedingung des menschlichen Handelns zur Kenntnis genommen. Dem konstruktivistischen Raumbegriff Martina Löws zufolge wird Raum in Handlungs- und Platzierungsprozessen sowie in der synthetisierenden Wahrnehmung von platzierten Lebewesen und Objekten durch das Individuum konstituiert5 . Raum ist demzufolge kein in erster Linie materielles Gebilde mehr, sondern lässt sich als relationale (An-)Ordnung von sozialen Gütern und Menschen an Orten begreifen. Durch die temporäre oder dauernde Platzierung von Gestaltungselementen werden räumliche Arrangements an Orten fixiert. Die materielle Gestaltung von Orten ist dabei bestimmend für deren soziale Wirkung und beeinflusst aufgrund von kollektiv attribuierten Bedeutungen und Wertigkeiten das Raum konstituierende Handeln und Verhalten6. 3 Zu Wandmalereiprogrammen in minoischen Palästen siehe vor allem Hägg 1985; Cameron 1987; Marinatos 1996. 4 Momigliano 2007, 7 Taf. 0, 2. Zu dieser Phase unter Betonung deren nicht-mykenischen Charakters s. Niemeier 1983. 5 Löw 2001, 152–230. 6 Löw 2001, 198; Schroer 2006, 176–178. 168 UTE GÜNKEL-MA SCHEK Raum impliziert in diesem Sinne also zweierlei: Zum einen besteht er als ›Handlungsraum‹ in den relationalen (An-)Ordnungen, die in Handeln und Wahrnehmung zwischen Lebewesen und Objekten hergestellt werden. Die Platzierung der Lebewesen und Objekte sowie durch deren Aussehen und Materialität evozierte symbolische Konnotationen prägen das physisch-räumliche Erscheinungsbild und beeinflussen den Prozess der Raumkonstitution sowie das Handeln und Verhalten jedes einzelnen. Zum anderen lässt sich Raum als kollektive Sichtweise relationaler Gefüge begreifen, welche als in sozialen Prozessen angeeignete Vorstellungen räumlicher Arrangements vorhanden sind und an den dafür vorgesehenen Orten im Handeln reproduziert werden. Die materielle und symbolische Gestaltung von Orten ist darauf angelegt, an mit den Gestaltungselementen verknüpfte Vorstellungen zu appellieren und ein bestimmtes Handeln und Verhalten zu bewirken. Wenn im Folgenden also von »(Handlungs-)Räumen« die Rede ist, so soll damit jene duale Qualität des Raums hervorgehoben werden, die die gegenseitige Abhängigkeit von gestalteten Orten und menschlichem Handeln bedingt. Das Potential eines solchen Raumbegriffs für die Archäologie besteht darin, architektonische Räume nicht mehr nur als kontextdeterminierende Einheiten zu begreifen, sondern als Orte, die durch die gezielte Herstellung materieller Strukturen und die Aufladung mit konnotativen Wertigkeiten als Orte ganz bestimmten sozialen Handelns inszeniert wurden. Nicht nur die hierfür genutzten Instrumentarien zeichnen sich bis zu einem gewissen Grad in archäologischen Befunden ab. Auch die Art der Handlung und damit zusammenhängende Bewegungsmuster und Blickrichtungen lassen sich ansatzweise rekonstruieren. Durch die Form und Materialität der architektonischen Elemente, die Einrichtung mit fixen oder mobilen Objekten sowie durch weitere Gebrauchsgegenstände erhielten die Räume funktionale und symbolische Bedeutungen, die das Handeln und Verhalten der Menschen prägten. Eine wesentliche Sinnkomponente erhielten Orte durch die Anbringung, Aufstellung oder Verwendung von Bildwerken. (Handlungs-)Räume, die durch die Präsenz oder Verwendung von Bildwerken geprägt sind, sollen im Folgenden als »Bild-Räume« beschrieben werden7. In Bild-Räumen werden nicht nur durch bildliche Darstellungen Bedeutungsinhalte vergegenwärtigt und kommuniziert, die für oder im Bezug auf das Handlungsgeschehen relevant waren. In Bild-Räumen gehen auch die artifiziell präsenten Lebewesen und Objekte sowie die durch ihre Relationen zum Ausdruck gebrachten Inhalte in die Raumkonstitution ein und werden zu festen Bestandteilen der an jenen Orten lokalisierten (Handlungs-)Räume. Auf der Grundlage des Bild-Raum-Konzepts soll daher untersucht werden, in welchen räumlichen Kontexten Bilder verwendet wurden und welche Themen und Motive wie und in welchen Handlungskontexten vergegenwär- 7 Zur Verwendung des Begriffs »Bild-Raum« s. auch Zanker 2000. IN DIE AUGEN, IN DEN SINN 169 tigt wurden. Ziel ist es, der Verwendung von Bildern als Sinn konstituierenden Bestandteilen von (Handlungs-)Räumen näherzukommen. Jedes Bildwerk kann auf diese Weise als Bestandteil von (Handlungs-)Räumen betrachtet und analysiert werden8. Die Gattung der Wandbilder, um die es hier geht, stellt in Hinblick auf die minoische Kultur das monumentalste Mittel der visuellen Kommunikation von Bedeutungen dar. Der Inhalt der Wandbilder sowie ihre Platzierung innerhalb des architekturräumlichen Gefüges dienten dazu, Bedeutungsgehalte an bestimmten Orten, für bestimmte Personen und in Hinblick auf bestimmte Handlungen zu vergegenwärtigen. Im Unterschied zu mobilen Bildwerken, deren Fundumstände nur in Einzelfällen Schlüsse auf ihre einstige Nutzung zulassen oder deren Verwendung oftmals nicht an heute noch feststellbare Kontexte gebunden war, bieten in situ gefundene Wandbilder trotz ihres meist fragmentarischen Erhaltungszustandes die Möglichkeit, bestimmte Themen und Motive in eindeutigen Bezug zu architektonisch gestalteten Orten und dort lokalisierbare, wenn auch nicht eindeutig fassbare Handlungen zu setzen. Je nach Funktion und Nutzung variierten die bildlichen Darstellungen und verliehen dem architektonischen Raum eine jeweils angemessene thematische oder symbolische Konnotation. Wandbilder bieten in dieser Hinsicht eine seltene Möglichkeit, sich – freilich vorbehaltlich chronologischer oder fundkontextbezogener Unsicherheiten – von archäologischer Seite der Konstruktion und Sinnstruktur einer materiellen, mit Bedeutung aufgeladenen Umwelt zu nähern. Auch wenn es bislang kaum möglich ist, die mit den bildlichen Darstellungen zum Ausdruck gebrachten Inhalte nachzuvollziehen, so sind doch die Bildobjekte, die dargestellten Menschen und Gegenstände in ihrem Zusammenhang als solche erkennbar und können als Mittel der Thematisierung und Kommunikation entsprechender Ideen am jeweiligen Ort begriffen werden. Für eine Annäherung an minoische Bild-Räume sind daher neben den materiellräumlichen Gegebenheiten formale Aspekte und Themen des bildlichen Wanddekors einzubeziehen, die in Abhängigkeit von der architektonischen Struktur und der beabsichtigten Wirkweise der Bildthemen gewählt und angebracht wurden. Flächiger, großformatiger Wanddekor, einzelne Wandpaneele, auf Augenhöhe verlaufende horizontale Bildstreifen oder szenenreiche Miniaturdarstellungen im Wandbereich oberhalb der Türstürze dien- 8 Neben den Wandbildern lassen sich als prägende Elemente von Bild-Räumen auch dreidimensionale Bildwerke nennen, wie in Naturheiligtümern aufgestellte Terrakotten und Bronzefigurinen sowie in rituellen Akten zum Einsatz gebrachte Rhyta in Form von Tierköpfen, oder zweidimensionale Darstellungen auf in performativen, rituellen oder administrativen Akten zur Geltung kommenden, funktionalen Bildträgern, wie Siegelringe oder Gefäße mit Reliefdekor. Durch ihre bildliche Darstellung vergegenwärtigen beispielsweise Figurinen mit charakteristischen Gesten den dieser Haltung entsprechenden oder den mit dieser Handlung implizierten Sinn an dem Ort, wo jener Relevanz besaß. Tierkopfrhyta, die vermutlich bei Libationen zum Einsatz kamen, bringen jene Riten in Zusammenhang mit den Ideen, die mit den jeweiligen Tiermotiven assoziiert waren. 170 UTE GÜNKEL-MA SCHEK ten sowohl wahrnehmungstechnisch als auch hinsichtlich der darstellbaren Bildinhalte unterschiedlichen Zwecken. Die bildliche Darstellung selbst ist häufig nur in fragmentarischen Ausschnitten erhalten und kann, wenn überhaupt, lediglich in Hinblick auf das Oberthema bestimmt werden, welches zur konnotativen Charakterisierung des (Handlungs-)Raums gewählt wurde. Vergleiche mit den erhaltenen Fragmenten in ähnlichen architektur- und handlungsräumlichen Kontexten sowie ikonographisch-vergleichende Analysen mit verwandten Darstellungen in anderen Bildgattungen können hilfreich sein, um Aspekte des Darstellungsinhalts oder zumindest des größeren Sinnzusammenhangs des ursprünglichen Wandbildes konkreter zu benennen. Als Nebeneffekt schließlich lassen sich Bildobjekte, die auch auf anderen Bildträgern vorkommen, mit dem Geschehen an existierenden Orten in Zusammenhang bringen. Die Verschränkung von räumlichem Arrangement, bildlicher Darstellung und rekonstruiertem Handeln ermöglicht es also, Aspekte von Bild-Räumen zu fassen, wie es sie am jeweiligen Ort zumindest temporär gegeben haben könnte. Angesichts der Tatsache, dass keine erhellenden Texte zum Geschehen in den Räumlichkeiten der Paläste und anderer Gebäude zur Verfügung stehen, gewinnt dieser Ansatz umso mehr an Relevanz. Mit Bild-Räumen lassen sich demnach ganz besondere, wenn auch bedauerlicherweise ganz besonders rare Einblicke in die kulturell und materiell konstruierte Lebenswelt der bronzezeitlichen Kreter gewinnen. Im Folgenden soll nun in der gebotenen Kürze das Bild-Raum-Konzept in seiner methodischen Praxis anhand dreier Arten von Bild-Räumen exemplifiziert werden, die im endpalastzeitlichen Palast von Knossos existierten (Abb. 1): der am Westhof gelegene Südwesteingang als Eingangsraum, der daran anschließende ›Prozessionskorridor‹ als Beispiel für Durchgangsräume und schließlich der im Herzen des Palastes gelegene Thronraum als ›Aufenthaltsraum‹, als Ort des temporären Aufenthalts und Handelns. Die Wandbilder dieser drei Bereiche waren zum Zeitpunkt der Ausgrabungen zumindest in Resten in situ an den Wänden erhalten. Ihre Einordnung in einen architektonischen Kontext kann demnach als gesichert gelten. Hinsichtlich der Datierungen ist anzumerken, dass in keinem Fall eine eindeutige Festlegung des Zeitpunkts ihrer Anbringung gegeben ist, jedoch alle drei Beispiele bis zum Ende des Palastes an den Wänden blieben und somit zumindest einige Jahrzehnte lang gleichzeitig als prägende Elemente von Handlungsräumen bestanden haben müssen. IN DIE AUGEN, IN DEN SINN 171 Abb. 1 | Grundriss der westlichen Gebäudehälfte des Palastes von Knossos (M. 1 : 1000). 172 UTE GÜNKEL-MA SCHEK Abb. 2 | Südwesteingang und Beginn des ›Prozessionskorridors‹. Versuch einer Re-Platzierung der erhaltenen Wandmalereireste im architektonischen Kontext, Blick nach Süden. 2 Bild-Räume im endpalastzeitlichen Knossos: drei Fallbeispiele 2.1 Der Südwesteingang in den Palast von Knossos Eingangsräume sind grundsätzlich Übergangsbereiche von einem Bereich in einen anderen, von einem Draußen in ein Drinnen oder umgekehrt. In ihrer Gestaltung spiegeln sich die soziale, funktionale und symbolische Bedeutung eines Gebäudes und dessen Verantwortlicher wider. Der Südwesteingang des Palastes von Knossos war vermutlich einer der Haupteingänge in der endpalastzeitlichen Nutzungsphase. Er stellte die Schnittstelle zwischen dem Westhof und dem ›Prozessionskorridor‹ dar, der von dort in das Innere des Palastes, möglicherweise bis zum Zentralhof, führte (Abb. 1. 2). Den Eingangsbereich erreichte man über einen der erhöhten Platten- oder ›Prozessionswege‹, die von der im Westen gelegenen Stadt zum Westhof führten und sich dort mehrmals verzweigten, um in verschiedene Bereiche und Eingänge des Palastareals zu münden. Der zum Eingang führende Plattenweg verlief entlang der Westfassade des Palastes, vorbei an zwei Altären und traf vor der im Süden des Westhofs gelegenen Eingangsportikus rechtwinklig auf einen von Westen nach Osten verlaufenden Plattenweg. Letzterer gehörte bereits zu einer früheren Eingangssituation und bildete nun gleichzeitig eine Art Schwelle zwischen Westhof und Eingangsportikus. Jenseits dieses quer gelagerten Plattenweges setzte sich der Weg fort, um nach etwa drei Metern erneut auf einen quer gelagerten Plattenweg zu treffen, der eine zu rekonstruierende Tür in der Westwand der Eingangsportikus mit einem weiter östlich entlang der Palastfassade verlaufenden Plattenweg verband. Auf dessen Fortset- IN DIE AUGEN, IN DEN SINN 173 zung nach Süden gelangte man durch eine Tür in den ›Prozessionskorridor‹. Parallel zu letztgenanntem Plattenweg führte ein weiterer Weg in den von Arthur Evans als »Reception Area« bezeichneten, im Westen an den Prozessionskorridor angrenzenden Raum9. Die Bodenflächen zwischen den Plattenwegen waren gepflastert und rot verputzt 10. Die Wände der Eingangsportikus waren mit Malereien versehen, von denen sich ringsum eine Steinplatten imitierende, ursprünglich ca. 40 cm hohe Zierleiste erhalten hat. Darüber war zumindest an der Ostwand der Eingangsportikus ein Stier dargestellt, wie sich am in situ dokumentierten Rest der Darstellung eines Vorderbeins erkennen lässt 11 . Der etwa in Lebensgröße wiedergegebene Stier war aus dem Palast heraus und in Richtung des Westhofs orientiert. Aufgrund des fragmentarischen Erhaltungszustandes muss offenbleiben, ob es sich allein um einen nach außen stürmenden Stier oder, wie von Evans vermutet, um eine der typischen Stiersprungszenen handelte 12 . Welche Funktion die Darstellung des Stieres oder Stiersprungs in dem Eingangsbereich ausgeübt haben könnte, wurde bereits mehrfach diskutiert. Nannò Marinatos zufolge hatte der Stier in Eingangsräumen keine Wächterfunktion. Er war vielmehr das stärkste Tier, die gewaltigste Kraft der Natur, die das bronzezeitliche Kreta kannte, und hätte in den Eingangsräumen somit in erster Linie als ein Emblem der Macht fungiert 13 . Nach Birgitta und Erik Hallager waren Stier und Stiersprung Motive, welche sich auch aufgrund ihres Vorkommens in anderen Bildmedien eng mit dem Palast von Knossos bzw. mit den darin agierenden Personen verknüpfen ließen. Der Stier in den Eingangsräumen hätte daher vor allem dazu gedient, die »Macht des Herrschers zu symbolisieren«14 . Marika Zeimbekis hingegen stellte derartige Deutungen angesichts des sonstigen Fehlens von Herrscherikonographie in Frage. Sie wies darauf hin, dass in Knossos durch einige der Wandbilder eine Art dauernder ›Vergegenwärtigung‹ des obersten Amtsinhabers suggeriert würde 15 . Die Platzierung von Stierbildern in den Eingangsbereichen wäre daher vielmehr als ein »kosmologisches Statement« zu verstehen und hätte, wie in Ägypten und Mesopotamien, die von den Machtinhabern ausgeübte Kontrolle zerstörerischer Kräfte zum Ausdruck gebracht 16. Wie sich anhand unterschiedlicher Bildgattungen erschließen lässt, reicht die Tradition der Stierthematik in der minoischen Kultur bis an die Anfänge der Besiedlung Kretas zurück17. Bereits aus der Vorpalastzeit sind Darstellungen von Stieren sowie von Stierfang und damit der Überwindung dieses mächtigen Tieres durch vorzugsweise männliche Mitglieder 9 Evans 1928, 673 Abb. 427. 10 Evans 1928, 670. 11 Evans 1928, 675 Abb. 428; Boulotis 1987, 148 Abb. 3. 12 Evans 1928, 677 Abb. 429. Zu den Resten weiterer Stiermotive in Eingangsbereichen s. Blakolmer 2001, 32; Hallager – Hallager 1995, 547–548; Marinatos 1989, 26; Marinatos 1996, 150–151; Shaw 1995, 97–98 Abb. 8. 13 Marinatos 1996, 151. 14 Hallager – Hallager 1995, 549. 15 Zeimbekis 2006, 33. 16 Zeimbekis 2006, 33. 17 Zeimbekis 2006, 28–37. 174 UTE GÜNKEL-MA SCHEK der Gesellschaft bekannt 18. Zeimbekis zufolge organisierte und formalisierte die knossische Elite Rituale der Unterwerfung und Beherrschung des Stiers, welche bereits lange vor der Etablierung der Palastgesellschaft existiert hatten 19. In seiner ›akrobatischen‹ Form wurde das Überwinden des Stieres nun möglicherweise von den jungen Männern der knossischen Oberschicht praktiziert, die dadurch, so Marinatos, ihre Fähigkeit, das mächtigste Tier Kretas zu beherrschen und zu kontrollieren, zum Ausdruck brachten20. Die Motive des Stieres und vor allem des Stiersprungs, die nicht nur symbolisch auf tief in der minoischen Kultur verankerte Ideen und Rituale verwiesen, sondern spätestens seit der Neupalastzeit auch von der knossischen Palastelite zur Demonstration ihrer Skills für sich beansprucht wurden, stellten somit wohl die eindrucksvollsten Bilder dar, um den Palastbesucher mit den Ideen und Vorstellungen zu konfrontieren, die das Palastgeschehen und insbesondere dessen Verantwortliche charakterisierten. Das Muster von erhöhten Plattenwegen, welches sich deutlich vom umgebenden roten Verputz abzeichnet, erlaubt in diesem Zusammenhang weitere Überlegungen hinsichtlich des Bewegungsmusters, welchem der vielleicht in einer Prozession durch den Eingangsbereich Schreitende gefolgt sein könnte. Auf dem Weg, der über den Westhof führte, erblickte man zunächst die zentrale Säule, im weiteren die oberhalb des Steinimitats ursprünglich vermutlich ebenfalls mit einem Wandbild dekorierte Portikusrückwand sowie den Eingang in die Reception Area. Man überquerte den ersten, in West-Ost-Richtung kreuzenden Plattenweg und umrundete dann auf der Fortsetzung die zentral platzierte Säule, indem man auf dem nächsten quer gelagerten Plattenweg rechtwinklig nach links umbog. Erst auf diesem Plattenweg bot sich das Stier[sprung]motiv an der Wand in seiner vollen Ausdehnung dar. Die lebensgroße Darstellung des Stieres sowie eventuell zugehöriger Stierspringer, auf die man sich nun auf einer Strecke von knapp sieben Metern zu bewegte, dürfte ein imposantes Moment geschaffen haben, in dem sich dem Eintretenden die Bedeutung des Palastes bzw. der darin herrschenden Elite, die den Stiersprung als ihr Emblem zeigte, offenbarte. Kurz vor der Wand bog man auf dem nächsten Plattenweg rechtwinklig nach rechts ab, um an dem eindrucksvollen Bild entlang zur eigentlichen Eingangstür in den ›Prozessionskorridor‹ zu schreiten. Der so beschriebene Pfad stellt eine der Möglichkeiten dar, unter Einhaltung des von den Plattenwegen vorgegebenen Bewegungsschemas vom Westhof zur Eingangstür in den ›Prozessionskorridor‹ zu gelangen21. Die Annäherung an das Palastinnere wäre demzufolge von mehrmaligen Richtungswechseln begleitet gewesen, die möglicherweise die hintereinander erfolgende Wahrnehmung unterschiedlicher visueller Eindrücke und somit die 18 s. auch Sikla 2003, 377–379. 383 Taf. 3. Auch Übergangsriten in den Erwachsenenstatus werden in diesem Zusammenhang oftmals genannt, s. Panagiotopoulos 2006a, 126 Anm. 5 mit Literaturangaben. 19 Zeimbekis 2006, 34. 20 Marinatos 1994, 93. 21 Eine Alternative wäre das Umbiegen nach links bereits auf dem ersten quer gelagerten, von Westen kommenden Plattenweg, der in einer früheren Phase des Palastes die direkte Verbindung zwischen Westhof und IN DIE AUGEN, IN DEN SINN 175 stückweise Erfahrung des Eintretens in das Gebäude zum Ziel hatten. In diesem Sinne erweist sich der Eingangsbereich in den Palast von Knossos als ein Bild-Raum, der in seiner Anlage auf die ›richtige‹ räumliche Annäherung und sukzessive Sinnkonstruktion abzielte. Er war geprägt von einem der urtümlichsten Motive der kretischen Kultur und dafür konzipiert, dem Herannahenden eindrucksvoll die Bedeutung der Palastinhaber zu vermitteln und diesen auf das vor ihm liegende Geschehen einzustimmen. Erst nachdem er selbst den Stier im Vorbeigehen ›überwunden‹ hatte, betrat er durch eine Doppeltür den langen, dunklen ›Prozessionskorridor‹. 2.2 Der ›Prozessionskorridor‹ im Palast von Knossos Im ›Prozessionskorridor‹ setzte sich der erhöhte, weiße Plattenweg zwischen rot verputzten Bodenflächen fort (Abb. 1–3). Der 3,3 m breite Gang führte zunächst nach Süden, bog Evans zufolge nach etwa 24 m nach links bzw. nach Osten um, führte im Geschoss über den South Terrace Basements etwa 48 m lang in östliche Richtung, bog dann noch einmal nach links bzw. Norden um und mündete schließlich nach weiteren 22 m in den Zentralhof22 . Der ›Prozessionskorridor‹ bildete damit einen Abschnitt der wichtigen Verbindungsroute zwischen der Stadt, dem Westhof als Schnittstelle zwischen Stadt und Palast sowie dem Zentralhof als Zielort des Wegesystems23 . Die lang gestreckte architektonische Form des Korridors sowie die Fortsetzung des zentral verlaufenden, erhöhten Plattenwegs legen nahe, dass es sich hier in erster Linie um einen Durchgangsraum handelte. Die Anlage des Weges innerhalb der Gebäudestruktur macht zudem deutlich, dass diese einer künstlichen Verlängerung der Verbindung zwischen dem Westhof und dem Zentralhof diente24 . Möglicherweise sollte hiermit eine Intensivierung der Erfahrung des Eintritts in den Palast oder des Übergangs von dem einer größeren Gruppe von Menschen zugänglichen Westhof in den exklusiveren Bereich des Zentralhofs erreicht werden. Der Akt des Durchschreitens des Korridors spiegelte sich auch in den Bildern an den Wänden wider. Von den Darstellungen auf beiden Seiten des Korridors haben sich die Füße sowie in Einzelfällen die Körper der Figuren erhalten. Orientierung, Gewänder sowie die konZentralhof darstellte. Da jedoch, wie in Evans 1928, 662 Abb. 423 zu sehen, die Plinthe der späteren Westfassade den Plattenweg teilweise überlagert, ist m. E. davon auszugehen, dass dieser in der besprochenen Nutzungsphase des Eingangsbereichs nicht mehr den primär genutzten Eingangsweg darstellte. Ausgeschlossen werden kann dies freilich nicht, da der entlang der dekorierten Wand verlaufende Plattenweg von jenem älteren Weg abzweigend bis in den ›Prozessionskorridor‹ hineinführte. 22 Vgl. Evans 1935, Plan C. 23 Panagiotopoulos 2006b, 35–36 mit weiterer Literatur. 24 Zu den Umbaumaßnahmen, im Zuge derer die ursprünglich direkte Verbindung zwischen Westhof und Zentralhof zugebaut und der gleich verlaufende Vorgänger des ›Prozessionskorridors‹ angelegt wurde, s. Evans 1928, 660–670. 176 UTE GÜNKEL-MA SCHEK Abb. 3 | ›Prozessionskorridor‹, Fragmente der Darstellung an der Ostwand. ventionelle rotbraune und weiße Farbgebung der Hautpartien zeigen, dass es sich um mehrere Gruppen annähernd lebensgroßer, männlicher und weiblicher Figuren handelte, die – entsprechend der Anlage des Korridors – vom Westhof in das Gebäudeinnere schritten25 (vgl. Abb. 3). Lediglich eine Gruppe von vier männlichen Personen, von denen mindestens eine, wie Christos Boulotis nahe legte26, mit einem ›Fellrock‹ bekleidet ist, war in die Gegenrichtung gewandt. Diese Gruppe steht zudem, dies wurde bisher in der Forschung vernachlässigt, hinter einer kleinen Stufe, und damit auf höherem Niveau als die vom Eingang herannahenden Prozessierenden. Wie andernorts ausführlich zu zeigen sein wird, dürfte es sich bei dieser Gruppe um Vertreter des Palastpersonals handeln 27. Aufgrund ihrer Platzierung innerhalb der Bildkomposition lassen sie sich als bereits im Palast anwesend und den Hereinkommenden entgegen gewandt begreifen. Zu ihren Aufgaben gehörte es vielleicht, herbeigebrachte Gaben wie beispielsweise ein ebenfalls von Boulotis identifiziertes Textil28 in Empfang zu nehmen. Der in Form dreier durch Wellenbänder voneinander getrennter Farbflächen gestaltete Hintergrund des Prozessionsgeschehens könnte, wie bereits von Wolfgang Schiering vermutet, eine in Malerei übersetzte Gipssteinvertäfelung darstellen29. In einer früheren Ausstattungsphase des Korridors existierte tatsächlich eine Gipssteinvertäfelung in diesem Bereich30, die im Zuge der Verbreiterung und anschließenden Innenraumgestaltung des Korridors nun in Malerei umgesetzt wurde. Sie legt nahe, dass diese bereits in der früheren Nutzungsphase vorhandene Form der Wandgestaltung auch im letzten ›Prozessionskorridor‹ als angemessener Innenraumdekor gewählt und imitiert wurde. Durch die auf den früheren Innenraumdekor rekurrierende Hintergrundgestaltung wurde folglich auch der spätere, bildlich vergegenwärtigte Prozessionszug in einen ähnlich konzipierten Durchgangsraum eingebettet. 25 Zu den spärlichen Fragmenten der Figurengruppen auf der gegenüberliegenden Westwand s. Boulotis 1987, 150 Abb. 5; Cameron 1987, 323 Abb. 4. 6. 26 Boulotis 1987, 147. 27 Eine ausführliche Darlegung der Neudeutung des ›Prozessionsfreskos‹ befindet sich in Vorbereitung durch die Verf.; s. außerdem Günkel-Maschek 2011, 132–134; Günkel-Maschek im Druck. 28 Boulotis 1987, 150. 154 Abb. 8. 29 Schiering 1960, 26–33. s. im Unterschied dazu die Deutung des Wellenbanddekors als Anspielung auf landschaftliche Konturen bei Evans 1928, 728; Blakolmer 2010, 97. 30 Evans 1928, 668 Abb. 425. IN DIE AUGEN, IN DEN SINN 177 Die Übereinstimmung zwischen den Darstellungen an den Wänden und dem durch die architektonische Form und signifikante Bodengestaltung suggerierten Handlungsgeschehen im Korridor legen nahe, dass an den Wänden das zu bestimmten Zeiten tatsächlich hier stattfindende Geschehen reflektiert und verstetigt wurde. Die Lebensgröße der Figuren trug ihren Teil dazu bei, um in dem lang gestreckten und vermutlich recht dunkleKorridor die Hereintretenden in das Prozessionsgeschehen zu involvieren. Letzteres vermittelte ihnen vielleicht zusätzlich ein Gefühl des kollektiven Handelns, welches einen häufig begegnenden Aspekt minoischen Ritualgeschehens darstellte. Die mehrheitlich eingehaltene Bewegungsrichtung der Figurengruppen in das Gebäudeinnere verlieh dem Raum dabei einen starken richtungsweisenden Charakter31, der den Bewegungsfluss hin zum Zielort potenzierte. Gleichzeitig hielten die Darstellungen fest, aus welchen durch Gewänder und Gedrängtheit der Figuren differenzierten Gruppen sich der Menschenzug zusammensetzte und welche Gaben von wem in den Palast gebracht wurden. Nicht zuletzt veranschaulichten sie, wie die Figuren, die als Mitglieder des Palastpersonals gedeutet werden können (s. o.), im Rahmen des Prozessionsgeschehens die einzelnen Gruppen sowie ihre Gaben in Empfang nahmen32 . Die Darstellungen im ›Prozessionskorridor‹ lassen sich somit als eine Verstetigung des Ritualgeschehens begreifen, in dem sich die soziale Gliederung der palastnahen Elite sowie die Bedeutung des Palastes selbst als Menschen und Gaben empfangender Instanz manifestierte. Die künstliche Verlängerung des Verbindungswegs zwischen Westhof und Zentralhof, auf dem wohl zu bestimmten Anlässen ähnliche Prozessionen in den Palast zogen, diente auf diese Weise nicht nur der Prolongierung und Intensivierung des Aktes des Einzugs in den Palast, sondern zugleich der visuellen Kommunikation von Sachverhalten, die das Geschehen und die Ordnung im Palast konstituierten. 2.3 Der Thronraum im Palast von Knossos In Hinblick auf seine Langlebigkeit, die erhaltene Ausstattung sowie die bildliche Wandgestaltung stellte der Thronraum vermutlich einen der wichtigsten Orte des Geschehens im Palast von Knossos dar (Abb. 1. 4). Vom Zentralhof, dessen Westfassade Eingänge in diverse Raumkomplexe bot, gelangte man zunächst durch eine viertürige pier-and-door partition und über zwei, später vier33 Stufen nach unten in den Vorraum des Thronraums. Entlang der Wände zu beiden Seiten waren niedrige Steinbänke aufgestellt. Die Wandmalereien oberhalb dieser Bänke zeigten zunächst eine Leiste aus Steinimitat, über der sich, 31 s. dazu auch Cameron 1970, 165; Hägg 1985, 210–211. 32 Das von Evans im südlichen Bereich des Palastes geborgene und zum ›Prozessionskorridor‹ gehörende Fragment eines weiteren ›Fellrock‹-Trägers, welches von Christos Boulotis (1987, 149 Abb. 4 a; 4 b) vorgelegt und ergänzt wurde, deutet auf die Beteiligung weiterer ›Fellrock‹-Träger am Prozessionsgeschehen hin. 33 Erst mit der zweiten Erhöhung des Zentralhofniveaus in SM IIIA1 wurden die oberen zwei Stufen angelegt, vgl. Mirié 1979, 56–57 Taf. 10; Niemeier 1986, 68. 93. 178 UTE GÜNKEL-MA SCHEK zumindest auf der links gelegenen Südwand, ein Stier erhob, der auf den Eintretenden zu schritt34 . Hinter einer weiteren, zweifachen Türöffnung35 lag schließlich der Thronraum selbst. Hier befanden sich ein ›Lustralbecken‹ zur Linken und im südlichen Bereich eine Tür in der dem Vorraum gegenüberliegenden Westwand, der steinerne Thron an der Nordwand zur Rechten sowie weitere niedrige Bänke, die an Nord- und Westwand wie auch an der Einfassungsmauer des ›Lustralbeckens‹ entlang verliefen. Die Tür in der Westwand führte zunächst in einen von Evans als »Inneres Heiligtum« bezeichneten Raum mit Podest gegenüber der Tür und von dort in die nördlich gelegene Raumfolge der Service Section. Über eine weitere Tür hinter dem Lustralbecken in der Südwestecke des Thronraums gelangte man in südlich angrenzende Magazinräume. Wie im Vorraum war auch im Thronraum der Boden gepflastert, wobei hier zusätzlich eine rot bemalte Verputzschicht aufgetragen worden war36. Rot war auch die dominante Farbe an den Wänden. So waren die Wände des ›Lustralbeckens‹ bis auf eine Zierleiste im oberen Wandbereich vollständig rot bemalt. Auf der Nord- und Westwand des Thronraums bestand die Hintergrundgestaltung aus vier horizontalen, alternierend roten und elfenbeinfarbenen Flächen mit Wellenkontur, vor denen vereinzelt platzierte Papyrus-Schilfpflanzen sowie Palmen zu beiden Seiten des Throns eine idealisierte Flusslandschaft suggerierten37. In dieser Landschaft befanden sich die lagernden Greifen, die sowohl den Thron als auch die Tür in der Westwand flankierten. Nach unten zu den Bänken hin schloss die Wandmalerei mit einer Leiste aus Steinimitat ab. Stilisierte bikonkave Basen bzw. Friese aus aneinander grenzenden, konvexen Elementen waren an den Wänden zwischen Bänken und Thron platziert. Nach oben hin, in der Fläche oberhalb des Hauptbildfeldes der Wände schlossen schließlich noch zwei, lediglich durch Zierleisten getrennte Register rot bemalter Flächen an. Das insgesamt von der Farbe Rot dominierte Erscheinungsbild des Thronraums, welches Parallelen in neupalastzeitlichen Kulträumen wie dem ›Lustralbecken‹ im Palast von Kato Zakros findet38, dürfte dem Raum eine sinnlich wie symbolisch bedeutsame Atmosphäre verliehen haben, die den angemessenen Rahmen für das Geschehen im Umkreis des Throns darstellte. Bereits Wolf-Dietrich Niemeier fasste die konstitutiven Elemente Thron und Throninhaber sowie Palmen, Greifen und ornamental-symbolische Friese zu beiden Seiten zu einem 34 Evans 1935, 893 Abb. 872. Wieder ist nur ein Huf, diesmal ein Hinterhuf, erhalten, weswegen nicht ausgeschlossen werden kann, dass es sich auch in diesem Fall um eine Stiersprungszene handelte. Die Position des Fußes legt jedoch nahe, dass der Stier nicht im stürmischen Lauf dargestellt war, wie dies für Stiersprungszenen typisch ist. 35 Vgl. Niemeier 1986, 93–94, wonach in der vierten und letzten Nutzungsphase des Thronraums, die Niemeier der mykenischen Okkupation zuordnet, der zentrale Pfeiler entfernt wurde, um ein Megaron zu erschaffen. 36 Evans 1935, 902–903 Abb. 877. 37 Niemeier 1986, 88; Evans 1935, 908. 910. 38 Platon 1971, 183. IN DIE AUGEN, IN DEN SINN 179 Abb. 4a | Thronraum, Blick vom Vorraum aus. »Gottheit-Ideogramm« zusammen39 . Ihm zufolge trugen die gemalten Elemente dazu bei, die Göttlichkeit der thronenden Person zu unterstreichen bzw. visuell zu veranschaulichen. In ähnlicher Weise fungierten die Greifen zu beiden Seiten der Tür in der Westwand, die eine Person flankierten, welche durch diese Tür in den Thronraum trat. Die zu beiden Seiten des Throns und der Tür in der Westwand platzierten Greifen (Abb. 4 a. b), die sich einerseits in der artifiziellen Flusslandschaft befinden, andererseits explizit auf architektonische Elemente im tatsächlichen Thronraum Bezug nehmen, stellen eine Verknüpfung zwischen der künstlich geschaffenen Umgebung und dem realen, architektonisch gefassten Raum bzw. einzelnen darin an bestimmten Stellen agierenden Personen her und suggerieren den übernatürlichen Landschaftsraum als Rahmen und virtuellen Ort des im Thronraum stattfindenden Handlungsgeschehens. Eine aus dem ›Inneren Heiligtum‹ in den Thronraum tretende Person wurde vom Vorraum aus als frontal und von Greifen flankiert wahrgenommen, ein bild-räumliches Arrangement, welches bereits mehrmals mit Siegeldarstellungen in Zusammenhang gebracht wurde, in denen Greifen zu beiden Seiten einer weiblichen Figur auf erhöhten Grundlinien stehen. Dieses Motiv könnte die an den Wänden oberhalb der Bänke platzierten Greifen zu beiden Seiten der Tür in der Westwand reflektieren 40. Sollte es sich bei dieser Gruppe von Siegelbildern tatsächlich um Anspielungen auf den knossischen Thronraum handeln, so ließen sich 39 40 180 Niemeier 1986, 84–88. Vgl. auch Evans 1935, 919–920. Evans 1935, 169; Reusch 1958, 356; Niemeier 1986, 75; Blakolmer 2010, 95. UTE GÜNKEL-MA SCHEK Abb. 4b | Thronraum, Frontaler Blick auf den Thron. diese Darstellungen also möglicherweise auf die zwischen den Greifen ›erscheinende‹ Person in der Westtür beziehen 41 . Bild und Moment der ›Erscheinung‹ einer von Greifen flankierten weiblichen Person entsprachen demnach möglicherweise einem in der religiösen Vorstellung verankerten Ensemble, das im Thronraum durch die artifizielle Hinzugesellung der Greifen an den Wänden in seiner Vollständigkeit realisiert wurde. Ähnliche Überlegungen lassen sich für das bildräumliche Thronensemble aufstellen. Die Platzierung des Throns an der Nordwand und damit an der vom Vorraum aus gesehen rechten Seite stellt ein sehr eigentümliches räumliches Arrangement dar, aus dem sich jedoch, unter Einbeziehung der bildlichen Wandgestaltung zu beiden Seiten des Throns, eine spezifische Abfolge des ›Sehens‹ der thronenden Person rekonstruieren lässt. Näherte man sich vom Zentralhof kommend durch den Vorraum, so wurde der oder die Thronende zunächst im Profil wahrgenommen (Abb. 4 a). Erst wenn man vor dem Thron stand und sich frontal dem Throninhaber zuwandte, konnte das Thronarrangement einschließlich der bildlich vergegenwärtigten Greifen, Palmen und bikonkaven Basen zu beiden Seiten des Throns vollständig wahrgenommen werden (Abb. 4 b). Die Platzierung des Throns an der rechten Wand einschließlich der Platzierung der Wandbilder diente daher möglicherweise der Inszenierung eines ganz bestimmten Erscheinungsbildes bzw. eines ganz bestimmten Ablaufs der sukzessiven Wahrnehmung der thronenden Person. Das 41 Reusch 1958, bes. 354–357; Niemeier 1986, 74–77 bes. 77. IN DIE AUGEN, IN DEN SINN 181 ›Lustralbecken‹ als weitere Installation im Thronraum könnte in diesem Zusammenhang als Standort für den frontalen Blick auf die Person auf dem Thron gedient haben – falls es nicht ausschließlich letzterer vorbehalten war42 . Wie die in der westlichen Tür ›erscheinende‹ Person, so könnte auch das vom Vorraum aus wahrgenommene, räumliche Arrangement der thronenden Person in Siegelbildkompositionen reflektiert worden sein. In mehreren Abdrücken ist auf stets im rechten Bildfeld platzierten Sitzen oder als Sitz dienenden architektonischen Strukturen eine thronende weibliche Figur dargestellt 43 . Ihr nähern sich Figuren von links, deren Handlungen Zuwendungen an bzw. Interaktionen mit der verehrten Gottheit wiedergeben. Greifen fehlen in diesen Darstellungen – sie wären auch in Realität kaum neben der im Profil wahrgenommenen, thronenden Person zu sehen gewesen. Das architekturräumliche Arrangement einschließlich der bildlich vergegenwärtigten Elemente legt folglich nahe, dass je nach Anlass des Geschehens und je nach Grad des Vordringens des Betrachters in Vorraum oder Thronraum das Erscheinungsbild der im Thronraum lokalisierten und von Greifen begleiteten Person variierte. Die Siegelbilder geben möglicherweise eine Vorstellung davon, wie jene Sichtweisen in Bildform festgehalten wurden und welche Ideen oder Aktionen darüber hinaus mit der jeweiligen Erscheinungsform der Person assoziiert wurden. Sind sie außerdem tatsächlich, wie mehrfach vermutet wurde, auf das Geschehen im Thronraum von Knossos zu beziehen, so offenbart sich einmal mehr die Bedeutung, die diesem (Handlungs-)Raum in der minoischen Bild- und Lebenswelt beigemessen wurde. Gerade diese Bedeutung war wohl auch der Grund, weshalb der Thronraum während der Jahrhunderte seines Bestehens immer wieder an neue Verhältnisse angepasst wurde. So wurde in der späten Neupalastzeit das ›Lustralbecken‹ zugeschüttet: Dies bedeutete das Ende der ursprünglich darin durchgeführten Rituale. Mit dem Ende der Endpalastzeit wurde die Tür, die von der im Norden gelegenen Service Section in das ›Innere Heiligtum‹ führte, blockiert 44 , so dass auch ein ›Erscheinen‹ durch diese Tür nicht mehr in der bisherigen Form durchgeführt werden konnte. Was jedoch bis zum Ende des Palastes zumindest dem Erscheinungsbild nach unverändert blieb, war das bild-räumliche Arrangement des Throns. Mit der Aufgabe oder Veränderung einiger Praktiken im Thronraum könnte sich auch die Funktion des Throninhabers gewandelt haben. Was der Hintergrund dieser Veränderungen war, und wer in den Jahrzehnten der Endpalastzeit bis zur mykenischen Übernahme um 1375 v. Chr. 45 auf dem Thron saß, darüber lassen sich nur Vermutungen anstellen. In der mykenischen Zeit schließlich dürfte man den Thronraum aufgrund 42 Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Person, die in der Westtür ›erschien‹ und auf dem Thron Platz nahm, auch das ›Lustralbecken‹ nutzte. Möglicherweise geschah die rituelle Nutzung von Thron, Westtür und ›Lustralbecken‹ in Abhängigkeit von bestimmten Zeitpunkten im Jahr, vgl. Goodison 2004, 342–346. 43 z. B. CMS II.7, 8; II.8, 268; V, 199; I, 101; XI, 30. 44 Niemeier 1986, 93. 45 Nach Niemeier 1986, 93–94. Vgl. auch Momigliano 2007, 7 Taf. 0, 2. 182 UTE GÜNKEL-MA SCHEK seiner zentralen Position als Sitz für den neuen Herrscher gewählt haben 46. Nach Niemeier sprechen bauliche Veränderungen in dieser Zeit dafür, dass der Raumkomplex aus Vorraum und Thronraum nun in ein Megaron abgeändert wurde. Der neue Repräsentativraum sollte bald das Vorbild der Megara der mykenischen Paläste bilden, die sowohl die seitliche Platzierung des Throns als auch die Bildkomposition für dessen Rahmung übernahmen 47. Die Langlebigkeit des Thronarrangements – trotz der Transformationen des mit ihm assoziierten Handlungsraums – deutet darauf hin, dass die Begleitung durch Greifen zu jeder Zeit geeignet erschien, die herausragende Bedeutung und übernatürliche Macht der im Herzen des Palastes thronenden Person eindrucksvoll zu vergegenwärtigen. 3 Zusammenfassung Das Konzept des Bild-Raums, in dem die Rolle von Bildwerken als prägenden Elementen von (Handlungs-)Räumen hervorgehoben wird, eröffnet neue Perspektiven auf den Einsatz von Bildern in der minoischen Kultur. Am Beispiel der Wandbilder wurde dargelegt, wie diese als Bestandteile ihrer räumlichen Kontexte begriffen werden können, wobei jene räumlichen Kontexte nicht nur materiell-architektonische Strukturen bezeichnen, sondern auch das mit ihnen in Zusammenhang stehende Handeln einbeziehen. In diesem Sinne wurden die (Handlungs-)Räume aufgrund ihrer Lage und Form in Eingangsbereiche, Durchgangsräume und ›Aufenthaltsräume‹ differenziert. Die Wandbilder wiesen dementsprechend unterschiedliche Motive und Kompositionen auf, die in Hinblick auf Wahrnehmung und Handeln angebracht waren. Sie veranschaulichten die mit den Funktionen der einzelnen Bereiche assoziierten Ideen und Vorstellungen und verliehen so jedem (Handlungs-)Raum eine angemessene thematische oder symbolische Konnotation. Im Südwesteingang wurden die auf den ›Prozessionswegen‹ herannahenden Personen mit dem Motiv des Stiers oder Stiersprungs konfrontiert, welches die damit verknüpften und tief in der minoischen Kultur verankerten Vorstellungen als für den Palast von Knossos repräsentative Thematik vor Augen führte. Im anschließenden ›Prozessionskorridor‹ fand sich der Hereinkommende in einer Masse von Menschen wieder, die sich wie er durch den langen Gang dem Zentralhof näherten. Dem Prozessionsgeschehen entgegen gewandt dargestellte Mitglieder des Palastpersonals hielten dabei möglicherweise fest, wer in letzter Instanz als Empfänger der realen und gemalten Menschengruppen und Gaben hervortrat. Im Thronraum schließlich, dem langlebigsten Bild-Raum des minoischen Kreta, traf man auf eine von Greifen begleitete Person, deren herausragende 46 47 Pelon 1983, 255; Niemeier 1986, 93–95. Vgl. dazu auch den Beitrag von Ulrich Thaler in diesem Band. IN DIE AUGEN, IN DEN SINN 183 Stellung in Palast und Gesellschaft mittels des bedeutungsvollen und sich je nach dem Standort des Betrachters unterschiedlich darstellenden Thronarrangements effektvoll zum Ausdruck gebracht wurde. Die Wandbilder im Palast von Knossos können damit als ein wesentliches Instrument erkannt werden, mittels dessen das in bestimmten Räumlichkeiten stattfindende Geschehen genau die Sinnkontexte erhielt, welche in der minoischen Vorstellungswelt mit den beteiligten Personen und vollzogenen Handlungen assoziiert wurden. Sie bedienten sich dabei eines motivischen Vokabulars, welches auch sonst in der reich bebilderten Lebenswelt der palastnahen Elite allgegenwärtig war. So, wie sie appliziert auf Gebrauchsobjekten oder in plastischer Form in der Siegelpraxis, der Kultpraxis und anderen Aktivitäten relevante Ideen und Vorstellungen vergegenwärtigten, waren die Bilder auch als prägende Elemente bestimmter architekturräumlicher Kontexte und der Handlungen, für die letztere angelegt waren, unentbehrlich. Mit den unterschiedlichen Formen von durch Wanddekor charakterisierten Bild-Räumen lassen sich folglich Aspekte der Konstitution von Sinngebilden erfassen, in denen die Verknüpfungen zwischen Ideen und Praktiken an konkreten Orten zu Tage treten. Als symbolisch konnotierte Orte bestanden die bebilderten Eingänge, Durchgangsbereiche und ›Aufenthaltsräume‹ nicht zuletzt auch über das aktuelle Handlungsgeschehen hinaus, so dass hier dauerhaft die Ideen und Vorstellungen präsent waren, die in ihrer einstigen Gesamtheit die Bedeutung und Funktion des minoischen Zentrums ausmachten. Bibliographie Blakolmer 1995 F. Blakolmer, Komparative Funktionsanalyse des malerischen Raumdekors in minoischen Palästen und Villen, in: R. Laffineur – W. D. Niemeier (Hgg.), Politeia. Society and State in the Aegean Bronze Age. Proceedings of the 5th International Aegean Conference, University of Heidelberg, Archäologisches Institut, 10–13 April 1994, Aegaeum 12 (Liège 1995) 463–474. Blakolmer 2000 F. 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XXXIII; Hood – Taylor 1981, Plan; Cameron 1987, 323 Abb. 7. 188 UTE GÜNKEL-MA SCHEK Ulrich Thaler Going Round in Circles Anmerkungen zur Bewegungsrichtung in mykenischen Palastmegara The round hearth is a central element of Mycenaean throne rooms, not merely in spatial terms, but equally with regard to iconographic concepts and to acts – to movement in particular – in the palatial megara. On the basis of three premises – 1) the non-axiality of centripetal movement in Mycenaean palaces, 2) the strongly normative form of the megaron, which suggests strong norms governing acts performed in it, and 3) the role of wallpaintings, particularly processional scenes, as what have been termed »sign-posts« – numerous elements of both the painted decoration and the architectural layout of the megara at Mycenae, Pylos and Tiryns can be understood as evidence for a primary sense of movement along a clockwise, circular route around the hearth, from the throne room’s door to the throne itself. In particular, the paintings to the left and right of the Pylian throne, the hearth and the columns surrounding it are all integrated in a coherent and meaningful composition when viewed from a position opposite the throne across the hearth, possibly the closest many – even among those admitted to the megaron – ever got to the enthroned ruler. 1 Vorbemerkung zur Alltagserfahrung und zu Prinzipien der Raumnutzung An American’s devotion to McDonald’s rests in part on uniformities associated with almost all McDonald’s: setting, architecture, food, ambiance, acts, and utterances. The golden arches, for example, serve as a familiar and almost universal landmark […] [T]he restaurants rely on their arches, dull brown brick, plate-glass sides, and mansard roofs to create a setting as familiar as home. […] In this familiar setting, we do not have to consider the experience. We know what we will see, say, eat, and pay.1 Obschon Conrad P. Kottaks sozialanthropologische Ausführungen zur weltweit wohl bekanntesten Fast-Food-Kette insofern im Detail überholt scheinen, als der Erfolg besagter Kette längst ein globales statt ein spezifisch amerikanisches Phänomen darstellt, sind sie Mein besonderer Dank gilt neben den Organisatoren und Teilnehmern der Konferenz »Bild – Raum – Handlung« zunächst den Mitgliedern des Forschungsfeldes 4 »Orte der Herrschaft« im Cluster 3 »Politische Räume« des DAI, meinem Doktorvater Joseph Maran sowie den – akademischen wie nicht akademischen – Teilnehmern von Führungen in Tiryns für produktive Diskussionen der hier vorgestellten Ideen sowohl in abstracto als auch in situ. Ebenso bin ich für die konstruktiven kritischen Stellungnahmen als Diskutanten im Rahmen eines Aigeiros-Vortrags am DAI Athen Walter Gauß und Constance von Rüden dankbar, wobei letzterer ebenso wie Federica Gonzato zudem mein Dank für formlosere Diskussionen gilt, in denen verschiedene der hier formulierten Ideen ihren Anfang nahmen. Maria Kostoula erzeugte aus mehreren mäßigen Kopien eine publikationswürdige Abbildungsvorlage und Joseph Maran gestattete als Leiter des Tiryns-Projektes den Abdruck einer bislang unpublizierten Rekonstruktionszeichnung. Beiden danke ich ebenso für ihre graphische Hilfestellung wie allen, die mir zuliebe im Laufe der letzten beiden Jahre mit einer Kamera in der Hand in den Sanitärbereich des Flughafens Stansted vorstießen: Ann Brysbaert, Jari Pakkanen, Julietta Steinhauer und eine mir namentlich leider nicht bekannte hen-party-Teilnehmerin, auf die am Ziel ihres Fluges sicher attraktivere Motive warteten. 1 Kottak 1978, 77. GOING ROUND IN CIRCLES 189 Abb. 1 | a: Flughafen Stansted, 21. Jh. n. Chr., Schattenrissfigur als Wegweiser zu Damentoiletten; b: Palast von Tiryns, 13. Jh. v. Chr., Wandmalerei einer Gabenträgerin aus der ›großen Frauenprozession‹. a b im Kern ausgesprochen aufschlussreich und illustrieren in großer Klarheit einen Punkt, der für die folgenden Überlegungen zu den Palastmegara der späten Bronzezeit auf dem griechischen Festland von wesentlicher Bedeutung ist: Mit der starken Kanonisierung eines Typus öffentlich genutzter Bauten verbindet sich nicht selten eine vergleichbar starke Kanonisierung und Reglementierung – auch der Begriff »Ritualisierung« scheint keinesfalls fehl am Platze – der in diesen Bauten vollzogenen sozialen Akte. Tatsächlich bietet auch für andere in archäologischen Interpretationen angeführte Prinzipien der Nutzung und Gestaltung von Räumen unsere Alltagserfahrung eindrückliche Illustrationen. So kann z. B. der aufmerksame Reisende im Flughafen Stansted Wandmalereien entdecken, die in ganz ähnlicher Weise eine Wegweiserfunktion erfüllen, wie dies für Prozessionsdarstellungen der ägäischen Bronzezeit in vielen Fällen angenommen wird (Abb. 1) – das Ziel, auf das die Stansteder Wandbilder hinweisen, ist zwar als Sanitärbereich ein vergleichsweise prosaisches, zweifelsohne aber eines, dem ein breites öffentliches Interesse gilt. Ich möchte die Bedeutung heutiger Alltagserfahrung für unser Verständnis der Vergangenheit indes weder überbetonen noch den Leser des Vergnügens berauben, selbst weitere illustrative Parallelen in unserer Lebenswelt zu identifizieren. Entsprechend seien zunächst, bevor ich zur Kernthese dieses Aufsatzes vorstoße – der Annahme einer im technischen Sinne ›rechtsdrehenden‹ Bewegung um den Rundherd als kanonischer Route innerhalb der mykenischen Palastmegara –, drei Grundannahmen in neutralerer Form festgehalten, die ich anschließend als gegeben behandeln werde. 190 ULRICH THALER 2 Drei Grundannahmen: Indirektheit des Zugangs, Einheitlichkeit der Megara und Malereien als Richtungsanzeiger 1.) Obwohl, wie schon früh erkannt 2 , die zentripetale Bewegung hin zur Megaron-Raumfolge mit dem Thronsaal von grundlegender Bedeutung war, die sich deutlich in der architektonischen Gestaltung des Zugangsweges widerspiegelt, ist diese Route doch keinesfalls geradlinig geführt. So liegt z. B. zwar in den bekannten peloponnesischen Palästen, Mykene, Tiryns und Pylos, das zum Megaronhof führende Propylon dem Megaron gegenüber, ist jedoch stets seitlich zur Achse des Megarons versetzt3 . Im Falle des Palastes von Tiryns, in dem Joseph Maran das Produkt eines in vergleichsweise kurzer Zeit umgesetzten Gesamtentwurfes sieht 4 , scheint sogar, wie er unter Bezug auf Johnsons Untersuchung frühneuzeitlicher englischer Burgen5 feststellt, auf Richtungswechsel an liminalen Punkten besonderer Wert gelegt zu sein6, so dass letztlich der Weg vom Burgtor zum Thronraum im Uhrzeigersinn laufend fast eine Spirale beschreibt. Auf die Verbindung von liminalen Punkten bzw. allgemeiner von Stationen entlang des Zugangswegs durch eine konsequent gestaltete Blickführung wird noch einzugehen sein. 2.) Bei allen Unterschieden in der konkreten Plangestaltung liegen den bekannten mykenischen Palastanlagen, worunter angesichts unseres unvermeidlich lückenhaften Kenntnisstandes zu Theben zunächst wiederum die genannten drei peloponnesischen Paläste verstanden sein sollen, offenbar gemeinsame Gestaltungsideen zugrunde. Das wohl wirkungsstärkste dieser Konzepte findet seinen Ausdruck in der Megaron-Raumfolge (Abb. 2). Diese war zwar unterschiedlich durch Seiteneingänge mit dem Rest der Palaststruktur verbunden – in Mykene durch eine Tür in der offenen Vorhalle, in Tiryns durch eine Tür im inneren Vorraum und in Pylos wohl durch zwei Türen ebenfalls im inneren Vorraum –, weist jedoch an allen drei Orten dieselbe Gliederung in Vorhalle, Vorraum und Thronsaal auf, hinzu kommen nur geringfügig variierende Abmessungen und vor allem eine offenbar kanonische Ausstattung des Thronsaales mit einem Rundherd zwischen vier Säulen in der Mitte und einem Thronplatz auf der vom Eingang aus rechten Seite. Der Thronplatz ist natürlich in Mykene durch das Abrutschen des entsprechenden Teils der Anlage nicht erhalten, dass seine Rekonstruktion unbestritten ist, mag aber die Eingängigkeit des Konzeptes – zumindest für Archäologen – belegen. Die vielleicht 2 z. B. Rodenwaldt (1919, 92), der mit spürbarer Begeisterung notiert, »[w]ie […] in Tiryns der Eintretende mit genialer Ausnutzung des ansteigenden Terrains von einem Vorhof zum anderen, von einem Propylon zum anderen geführt wird, bis sich zuletzt die mächtige Fassade des Megarons in eindrucksvoller Symmetrie mit den f lankierenden Säulenhallen in der Achse des Hofes erhebt, wie alles auf diese Schlußwirkung berechnet ist, wie einer Richtung, einem Ziel alles andere sich unterordnet«. 3 Maran 2006, 82 einschl. Anm. 62. 4 Maran 2004, 283; vgl. Küpper 1996, 111. 5 Johnson 2002, 73–85, bes. 83. 6 Maran 2006, 83; vgl. Anm. 21. GOING ROUND IN CIRCLES 191 Abb. 2 | Grundrisse der Palastmegara (von links nach rechts) von Mykene, Tiryns (großes Megaron) und Pylos (M. 1 : 500). aufschlussreichsten Vergleichsfälle bieten derzeit der im letzten Jahrzehnt ausgegrabene Herren- oder Herrschersitz von Dimini und das kleine Tirynther Palastmegaron, die über eine Vereinfachung des bestehenden Konzeptes andeuten, welche Elemente am ehesten als verzichtbar galten7. Diese Einheitlichkeit in der Gestaltung von Megaron-Raumfolge und Thronraum ist im Folgenden in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Zum einen gibt sie Anlass zu der Vermutung, dass mit der streng kanonisierten Form auch streng kanonisierte Nutzungsformen verbunden waren, was z. B. eine Hauptbewegungsrichtung innerhalb des Thronraumes plausibel erscheinen lässt. Zum anderen und in Zusammenhang damit macht sie die Übertragung von Beobachtungen, die an einem der Palastorte aufgrund der spezifischen Befundlage möglich sind, auf die anderen Palastorte wahrscheinlicher als in vielen anderen Fällen: Wenn Analogieschlüsse grundsätzlich die Gefahr mit sich bringen, durch Verallgemeinerungen das jeweils Besondere und Andersartige aus dem Blick zu verlieren, bleiben sie dort ungefährlich, wo keine oder nur geringe Normabweichungen zu erwarten sind. Dies ist u. a. auch in Hinsicht auf die dritte hier der Diskussion zugrunde gelegte Annahme von Bedeutung. 3.) Auf das Megaron bzw. den Thronsaal hin orientierte Menschen- und insbesondere Prozessionsdarstellungen können für die zeitgenössischen Benutzer der Palastarchitektur, d. h. in diesem Falle besonders für die Besucher des Palastes, als Wegweiser auf 7 Damit würden sich beide auch als Ausgangspunkt für eine Diskussion anbieten, die versucht, die zu Recht oft beklagte Unschärfe im Gebrauch des Megaronbegriffes nicht durch dessen Aufgabe zu beseitigen (Darcque 1990; Jung 2000), sondern durch eine sorgfältige Definition, die sich an einem frühgeschichtlichen Verständnis des Bautypus orientiert; freilich verdeutlicht schon der Umstand, dass in Tiryns die Räume XXI und XXII in mancher Hinsicht wiederum als verkürzte Replik des kleinen Megarons erscheinen, die Schwierigkeiten einer solchen Diskussion. 192 ULRICH THALER Abb. 3 | Rekonstruktion der Prozessionsszene im Vorraum 5 des Palastmegarons von Pylos nach Lucinda McCallum (M. 1 : 30). dem Weg zum Thron bzw. zum inthronisierten Herrscher gedient haben oder können zumindest allgemeiner als Indiz für einen regelmäßigen Fluss des Besucherverkehrs in die entsprechende Richtung verstanden werden. Das klassische Beispiel für diese These bietet die ehemals im inneren Vorraum 5 des pylischen Megarons angebrachte, Wandmalereifragmente und Fragmentkomplexe 5 H 5 bis 15 H 5 sowie 18 C 5 umfassende Prozessionsdarstellung (Abb. 3)8. In Anlehnung an Mark Camerons Deutung knossischer Wandmalereien9 hat insbesondere Lucinda McCallum in ihrer eingehenden Studie der Megaron-Fresken eine Deutung als »sign-post« vertreten und in direkter Entsprechung auch für eine menschliche Darstellung in der äußeren Halle 1 des Propylons vorgeschlagen10, also an einer weiteren wichtigen Station auf dem Weg zum Thron, einem liminalen Punkt im Sinne Marans. Zur Begrifflichkeit ist hierbei anzumerken, dass der Terminus »sign-post« insofern nicht problemlos ist, als er eine unzweifelhaft normative Funktion impliziert und dadurch die Möglichkeit ausblendet, dass die Fresken tatsächliche Prozessionen und deren Bewegungsrichtung unter Umständen schlicht kommemorierten; eine Funktion als Zeichengeber ist durchaus wahrscheinlich, aber nicht Voraussetzung für eine archäologische Analyse der Bewegungsrichtung. Überzeugend ist hingegen McCallums weiterführende Annahme einer Verbindung des Prozessionsfreskos in Vorhalle 5 mit der im Thronraum 6 rekonstruierten Bankettszene mit Leierspieler als Elemente einer narrativen Folge, wobei sie konkret an eine Handlungsabfolge im Rahmen eines religiösen Festes denkt 11 . 8 Lang 1969, 64–68. 109. 192 Taf. 119; McCallum 1987, 195–197 Taf. 8 a–c. 9 Cameron 1970, 165. 10 McCallum 1987, 70–71. 119. 121–122. 11 McCallum 1987, 108. Im Detail ist McCallums Auffassung dahingehend zu korrigieren, dass in den Malereien im Thronraum nach neueren Erkenntnissen kein Bulle zu identifizieren ist (Stocker – Davis 2004, 190), womit der von McCallum vermeintlich identifizierte Bulle als inhaltlich mit der unstrittigen Bullendarstellung im Vorraum verbundenes Element zwangsläufig ausfällt; insgesamt bleibt ihre Deutung jedoch schlüssig. GOING ROUND IN CIRCLES 193 Dass einer ähnlichen Funktion als normativer und/oder kommemorativer Richtungsanzeiger im Falle der nicht in situ am ursprünglichen Anbringungsort aufgefundenen großen Tirynther Frauenprozession einige Wahrscheinlichkeit zuzubilligen ist, hat zuletzt Maran überzeugend dargelegt 12 . Weniger plausibel erscheint eine entsprechende Deutung bei der ebenfalls großformatigen Frauenprozession aus dem sog. Haus des Kadmos in Theben 13: Zwar bleibt durch die bestehende Unklarheit hinsichtlich des Gesamtplans der Anlage und der Position eines mutmaßlich vorhandenen Megarons jedwede Aussage notwendigerweise eine vorläufige, aber der Umstand, dass Raum Ν als Fundort der Freskenreste auf zwei Seiten von Korridoren und auf der dritten wohl von einer Außenmauer begrenzt wurde, lässt diesen Raum kaum als Durchgangsraum auf dem Weg zur zentralen Raumfolge des thebanischen Palastes erscheinen. 3 Der Fragmentkomplex 45 H 6 als Denkanstoß Von diesen drei Annahmen – Indirektheit des Zugangsweges zum Thron, Einheitlichkeit von Megaronplan und -nutzung sowie Richtungsweiserfunktion der Darstellung von Prozessionen zumindest in Pylos – dürfen die beiden letztgenannten zumindest im Kern als weithin akzeptierte Forschungsmeinung gelten, während die hier zuerst diskutierte, in die Forschungsdiskussion aber zuletzt in der umrissenen Form eingeführte Auffassung sich meines Erachtens rasch als solche etablieren dürfte. So ist es bemerkenswert, dass trotz ihrer unstrittigen Natur diese drei Punkte bereits eine hinlängliche Ausgangsbasis bieten, um in der Betrachtung einer aufgrund ihrer schlechten Erhaltung bislang wenig beachteten Wandmalereiszene, dem Fragmentkomplex 45 H 6 aus dem Thronsaal von Pylos14 , zu einer neuen und unerwarteten Perspektive auf die Frage nach Handlungsformen und Bewegung in den mykenischen Thronsälen zu gelangen, die anschließend durch weitere kontextuelle Beobachtungen zu bestätigen sein wird. Neben Resten weißer Gewänder mit farbigen Diagonalstreifen überliefert der in seinen größten Maßen nur 13,5 cm hohe und 23,5 cm breite, stark beschädigte Fragmentkomplex zwei rot angegebene Unterarme, nach Mabel Lang die dem Betrachter zugewandten und demnach rechten Unterarme zweier nach rechts schreitender Männer15 . Das wenige, 12 Maran im Druck. 13 Reusch 1956, bes. 3–5 einschl. Abb. 1. 14 Auf eine Abbildung von 45 H 6 verzichte ich mit Bedauern, letztlich aber aus zwingendem Grund: Die bei Lang (1969, Taf. 29) reproduzierte Darstellung ist aufgrund des sehr schlechten Zustandes des Stücks kaum informativ. Eine zusätzliche Reinigungs- und Restaurierungsarbeiten umfassende Neubearbeitung der Megaronfresken ist derzeit im Gange und hat im Laufe dreier Aufarbeitungskampagnen bereits gute Fortschritte erbracht, wird aber voraussichtlich erst nach vergleichbaren Arbeiten zu den Malereien aus Raum 64 publiziert werden (pers. Mitt. Sharon Stocker, 02.07.2010; vgl. Anm. 22); neue Photographien der Malereien aus Thronraum 6 und somit auch von 45 H 6 sind deshalb derzeit noch nicht verfügbar. 15 Lang 1969, 81. 195. 194 ULRICH THALER was von den Gewändern erkennbar ist, scheint am ehesten einen Vergleich mit den kurzärmeligen, aber knöchellangen Gewändern zu erlauben, die in der Prozessionsdarstellung in Vorhalle 5 offenbar ranghöhere Teilnehmer kennzeichnen 16. Zudem spricht für eine Verbindung mit dieser Szene die zu rekonstruierende Größe der Figuren in 45 H 6: Lang gibt diese als »about the same height as the larger figures in the Vestibule Procession« an17, McCallum sieht hiervon leicht abweichend, vielleicht auch nur in der Formulierung, die Figuren in 45 H 6 als »slightly shorter than the largest robed figures from the Vestibule 5 procession«18; angesichts der zwischen 27 und 40 cm variierenden Höhe der Figuren in der Prozessionsszene in Raum 5 darf damit eine Höhe innerhalb der dort vertretenen Schwankungsbreite als sicher und eine eher an deren oberen Ende liegende als sehr wahrscheinlich gelten. Eine Überlappung zweier Figuren, wie sie 45 H 6 nahezulegen scheint, ist zwar untypisch für die Vorraumszene, tritt aber zumindest einmal im Fragment 6c H 5 auf19. Insgesamt erscheint es somit plausibel, in 45 H 6 eine in nur geringen Resten erhaltene Darstellung zu sehen, die inhaltlich mit der bekannten Prozessionsszene aus Vorraum 5 eng zusammenhängt und diese, sofern der Auffindungs- dem ehemaligen Anbringungsort von 45 H 6 entspricht, innerhalb des Thronsaales 6 aufgreift oder fortsetzt. Folglich ist der Anbringungsort der durch 45 H 6 vertretenen Darstellung von direktem Interesse für die Frage nach der Bewegungsrichtung innerhalb des Megarons. In Hinsicht auf letztere ging McCallum plausibel davon aus, dass »the location and orientation of the festival scenes [d. h. Prozessions- und Bankettdarstellung in Raum 5 bzw. 6] were consistent with circulation patterns in the megaron«, wobei sie ebenso schlüssig als Beispiel anfügte, dass »the Vestibule procession moved left, in the direction of the entrance to Room 6«. Die hieran wiederum anschließende Vermutung, dass »once inside Room 6, one would probably have turned right, toward the (NE) throne wall on which the sacrifice and banquet scenes were painted«20, steht hingegen in direktem Widerspruch zu dem, was der von Lang und McCallum übereinstimmend vorausgesetzte Anbringungsort von 45 H 6 aus Sicht des Eintretenden links der Tür an der Südostwand des Thronsaales nahelegt 21: Ausgehend von McCallums eigener Prämisse und entgegen ihrer Schlussfolgerung – und vielleicht unserer Intuition – lassen der genannte Anbringungsort von 45 H 6 und die Orientierung der dargestellten Figuren nach rechts und somit von der Thronraumtür und damit auch der Thronwand weg nur den Schluss zu, dass sich Besucher beim Eintritt in den Thronsaal nach links und somit nicht direkt zum Thron wandten. 16 17 18 19 20 21 McCallum 1987, 113–117. Lang 1969, 81. McCallum 1987, 103. Lang 1969, 65. McCallum 1987, 123–124 Zur vermeintlichen »sacrifice scene« vgl. Anm. 11. Lang 1969, 195; McCallum 1987, 103. GOING ROUND IN CIRCLES 195 Wenn wir diese Bewegung in Gedanken fortsetzen, ergibt sich natürlich eine Kreisbewegung im Uhrzeigersinn um den Herd herum, womit die zentrale und im Folgenden näher auszuführende These dieses Aufsatzes erreicht ist. Zunächst sind allerdings noch zwei qualifizierende Anmerkungen zu 45 H 6 vonnöten: Zum einen ist zu bedenken, dass der Fragmentkomplex nicht an der Wand, sondern verstürzt vor dieser gefunden wurde. Verschiedentlich wird in der Publikation der pylischen Fresken bei anderen Funden die Möglichkeit eines Versturzes vom Nachbarraum her diskutiert – und dass eine Szene mit Figuren, die denen der nach links gewandten Prozessionsszene, die sich in Vorraum 5 rechts der Tür zum Thronsaal fand, in ihrer Größe entsprechen und nach rechts bewegt dargestellt sind, in diesem Sinne im südwestlichen, also links der Tür zu Raum 6 gelegenen Abschnitt der Wand von Raum 5 einen sinnvollen Platz fände, steht außer Frage. Weder findet sich aber dieser Verdacht, dass also die Figuren von 45 H 6 gerade auf der Rückseite der Wand angebracht waren, auf der sie hier vorausgesetzt werden, in irgendeiner Weise bei Lang oder auch McCallum angedeutet, noch bietet eine der beiden aus ihrem eingehenden Studium des Materials heraus auch nur ein indirektes Indiz hierfür22 . Zum anderen ist einschränkend zu bedenken, dass im Gegensatz zum Prozessionsfresko im Vorraum 5 und einer eventuell vergleichbaren Darstellung in der äußeren Halle des Propylons 1 die durch 45 H 6 repräsentierte Szene beim Betreten des Thronraumes nicht direkt im Blickfeld des Besuchers lag, sondern von diesem höchstens peripher wahrgenommen werden konnte. Zwar bereitet dies bei einer Ansprache als »sign-post« Schwierigkeiten, wie bereits erläutert scheint diese Bezeichnung aber in sich bereits problematisch, da sie eine mögliche kommemorative Funktion der Wandmalereien, die für eine Interpretation der Bewegungsrichtung ebenso von Interesse ist wie die implizierte normative Funktion und mit der angenommenen relativen Positionierung von 45 H 6 und Besuchern voll und ganz vereinbar ist, von vornherein ausblendet. Beweiskraft ist demnach dem Fragmentkomplex 45 H 6 in der ohnehin einem tatsächlichen Beweis kaum zugänglichen Frage der Bewegungsrichtung im Thronsaal nicht zuzusprechen. Er soll hier aber auch nicht mehr bieten als ein Indiz und zugleich den Anstoss geben zu weiteren Überlegungen, die hoffentlich in Verbindung mit diesem ersten Indiz ebenso wie aus sich selbst die vorgestellte These einer Bewegung im Uhrzeigersinn zumindest plausibel machen. Diese Überlegungen betreffen das Layout und die weitere Dekoration der Megara sowie unsere Vorstellungen von der mykenischen Herrscherideologie. 22 In einem online zugänglichen Vorbericht zu neuen Arbeiten im Magazin des Museums in Chora (vgl. Anm. 14) deutet Brecoulaki (2005) die Möglichkeit einer Verlagerung von 45 H 6 aus dem Vorraum 5 an; da sie hierfür aber keine Gründe angibt, die über Ähnlichkeiten zwischen 45 H 6 und den Malereien in Vorraum 5 hinausgehen, besteht derzeit, d. h. bis eine schlüssige Begründung für die Annahme einer Verlagerung publiziert wird, kein Anlass, am bisherigen Publikationsstand zu zweifeln. Dennoch ist es angemessen, gerade in diesem Kontext zu betonen, dass 45 H 6 zwar den Anstoß für die hier vorgestellten Überlegungen darstellt, nicht jedoch den Schlüsselbeleg der vorgestellten These, die sich auf eine Mehrzahl kontextueller Betrachtungen stützt (s. u.). 196 ULRICH THALER 4 Die Evidenz der baulichen Gestalt der Palastmegara Hinsichtlich des Layouts ist eine einfache Schreibtischübung geeignet, zunächst die Gegenannahme einer direkten Bewegung von der Thronsaaltür zum Thronplatz kritisch zu beleuchten. Verbindet man auf einem Plan des Tirynther Megarons die Mittelpunkte der Türschwelle des Thronraumes 7 und des durch ein Podest markierten Thronplatzes durch eine gerade Linie, schneidet diese die südöstliche Säule, d. h. die Sichtlinie wird von dieser Säule unterbrochen. Zwar darf man in Analogie zu Pylos, wo die entsprechende Sichtlinie zwischen Schwelle und dem hier weniger weit in den Raum hineinragenden Thronplatz nicht gestört wird, wohl davon ausgehen, dass der Thron auf dem Podest kaum mittig, sondern von der Mitte aus zur Wand hin versetzt stand. Dennoch verbleibt die entsprechende Säule in beiden Fällen als Sichthindernis nahe der Mitte des Blickfeldes, wodurch unter Umständen eine volle Sichtbarkeit des Besuchers für den Thronenden, als den ich in der Folge der Einfachheit halber den wanax voraussetzen werde23, erst gegeben wäre, wenn beide sich schon fast in unmittelbarer Nähe zueinander befinden. Um zudem dem Herrscher en face gegenüberzutreten, verbliebe dem Besucher zwischen Herd und Thronpodest nur ein geringer Raum, in Pylos wenig mehr als zwei, in Tiryns kaum mehr als ein Meter; eine solch fast schon intime Nähe zum wanax dürfte selbst unter denjenigen, die überhaupt ins Megaron vorgelassen wurden, nur einem kleinen Kreis gestattet gewesen sein24 . Dagegen bietet der nach einer Viertelumkreisung des Herdes im Uhrzeigersinn erreichte Punkt gegenüber dem Thron einerseits eine ungestörte Sichtbeziehung zum Thron, für die die Säulen keine Hindernisse, sondern eine Rahmung darstellen, und andererseits, durch die Nutzung der Breite des Megarons, eine eher angemessene Distanz für ein Respekt bezeugendes Grüßen des Herrschers und das förmliche Eintreten in die Interaktion mit diesem25 . Der Umstand, dass der Besucher schon vor dem Erreichen dieses Punktes durch die Säulen hindurch und vielleicht aus den Augenwinkeln einen Blick auf den wanax erhaschen 23 Die vorgestellten Überlegungen werden durch diese Annahme nicht berührt und bleiben in gleicher Weise gültig, wenn z. B. die Königin oder eine Inkarnation der potinija auf dem Thron vermutet wird (Rehak 1995, bes. 97. 117). 24 Vgl. Halls (1966, 107–122 Taf. 3–12) Unterscheidung von »intimate«, »personal«, »social« und »public distance«. Nach Halls Terminologie wäre die Distanz zwischen dem Herrscher und dem Besucher jenseits des Herdes als »public distance – close phase« einzuordnen, während ein zwischen Herd und Thron stehender Besucher sich dem Herrscher bis in den Nahbereich der »social distance« oder sogar schon in den Fernbereich der »personal distance« genähert hätte. Zu beachten bleibt indes Halls (1966, 121) Betonung des jeweils kulturell spezifischen Umgangs mit solchen Zonen, wodurch nach westlichem Verständnis ›öffentliche‹ Kontakte in anderen Kulturen durchaus als ›persönlich‹ verstanden und mithin in ›persönlicher‹ Distanz verhandelt werden können; dieser Vorbehalt wird aber seinerseits durch die Erkenntnis relativiert, dass in der mykenischen Palastarchitektur vielfach und sehr bewusst Mittel der Distanzierung eingesetzt wurden. 25 Eine erste Respektsbezeugung bereits auf der Schwelle, d. h. beim Eintritt in den Thronsaal, erscheint durchaus denkbar, ein dort entbrachter Gruß als Beginn eines wie auch immer gearteten Austausches hingegen kaum. GOING ROUND IN CIRCLES 197 Abb. 4 | Rekonstruktion des Blicks aus dem kleinen Propylon auf das große Megaron im Palast von Tiryns, frühere Fassung der bei Müller (1930, Taf. 42) publizierten Ansicht. konnte, mag hierbei durchaus als Fortsetzung der Blickführung auf dem Weg zum Megaron gelten, die zumindest in Tiryns sehr sorgfältig gestaltet war und dem Besucher regelmäßig einen Blick auf die nächste Station auf dem Weg zum Thronsaal, aber nicht oder nur selten darüber hinaus erlaubte26: von außen auf Rampe und Burgtor, vom Burgtor auf das Haupttor – und nur, wenn dies offen war, auf das Tor beim äußeren Vorhof –, vom Haupttor zu letztgenanntem Tor27, von dort auf das große Propylon, das seinerseits wieder subtil in Richtung des kleinen Propylons verkippt war, vom kleinen Propylon auf das Megaron (Abb. 4), dessen Fassadengestaltung die Propyla bereits angedeutet hatten. 26 Vgl. Maran 2006, 83. Hier ergibt sich auch der eine Gegensatz, der in Ergänzung zu Marans zuvor erwähntem erhellenden Vergleich mit der Darstellung Johnsons zu vermerken ist: Während in den von Johnson diskutierten englischen Anlagen die indirekte Wegeführung auch dem Zweck dient, viele Ansichten des Baues zu präsentieren, also auf Sichtbarkeit ausgelegt ist, scheint die indirekte Wegeführung in Tiryns mit der Blickführung auf die nächste Station, aber eben nicht darüber hinaus, eher auf ein Verbergen und allmähliches Enthüllen ausgerichtet zu sein. 27 Zur Frage, ob das Tor am äußeren Vorhof im letzten Bauzustand des Palastes noch Bestand hatte, vgl. Müller 1930, 26. 193. Wenngleich ein Torverschluss nicht belegbar ist, scheint eine gliedernde Funktion eines fortbestehenden Torbaues plausibel zu sein. 198 ULRICH THALER Dies lässt sich fortsetzen mit dem Blick in den Thronsaal, aber noch nicht auf den Thronenden, aus Vorhalle und Vorraum des Megarons und dann eben vielleicht einem ersten flüchtigen Blick auf den Herrscher, bevor der Besucher in eine volle visuelle Kopräsenz mit dem wanax eintrat, der wiederum für bestimmte Besucher eine engere räumliche Kopräsenz gefolgt sein mag. 5 Die Evidenz der Ausschmückung der Palastmegara Was sich solchermaßen in der festen Grundgestalt von Mauern und Stützen als diachron stabilen fixen Elemente andeutet, findet weitere Bestätigung, über die Evidenz des Fragmentkomplexes 45 H 6 hinaus, in den Wand- und Bodenmalereien von Pylos und Tiryns, die als diachron nicht stabile fixe Elemente eine detailliertere Definition des architektonischen Handlungsrahmens erlauben28. Nur am Rande sei hierbei erwähnt, dass im Thronsaal von Pylos einige wenige Felder innerhalb des Quadratrasters der Fußbodenbemalung neben ihrer malerischen Ausschmückung auch Ritzungen aufweisen, in denen bereits die Ausgräber mögliche Standortmarkierungen für Teilnehmer am Hofritual sahen29, und dass mit F1 und G1 zwei dieser Felder gerade dem Thron gegenüber in dem Bereich liegen, den ein Besucher im Megaron nach einer Viertelumkreisung des Herdes erreicht hätte; leider können aber nicht alle Felder mit Ritzungen, zu denen die Grabungspublikation zudem nur wenige Detailinformationen bietet, in vergleichbarer Weise schlüssig erklärt werden. So ist nach unserem derzeitigen Wissensstand die allgemeinere Erkenntnis wesentlicher, dass die Bedeutung der Querachse des Thronraumes als Blickachse eindrücklich durch die Orientierung der figürlichen Elemente des Bodenmalereien bestätigt wird, in Pylos des einzelnen Oktopus vor dem Thron30, in Tiryns der Oktopoden und Delphinpaare, die zumindest im äußeren, in Wandnähe gelegenen Teil des Megaronbodens, wahrscheinlich aber im gesamten Thronraum jedes zweites Quadratfeld zieren (Abb. 5)31 . Während für erstere der Vergleich mit Vasenbildern klar auf eine korrekte Orientierung 28 Vgl. Thaler 2006 für die Unterscheidung und analytische Bedeutung dieser Kategorien. 29 Blegen – Rawson 1966, 85. 30 Blegen – Rawson 1966, 84. 31 Hackl 1912, 223 Taf. 19. Hirsch (1980, 456) verweist darauf, dass in Abweichung von der konservativen Rekonstruktion durch Hackl eine durchgehende Einteilung des Megaronbodens und insbesondere von dessen um den Herd gelegenen mittleren Bereich auch für Tiryns plausibel ist; bereits Rodenwaldt hatte nach Ansicht des Megaronbodens von Mykene vermerkt, dass auch in Tiryns »bei der Rekonstruktion des Planes die Quadrierung überall bis unmittelbar an den Herdrand fortgesetzt [hätte] werden müssen. Bei dem Entwurf dieses Planes war darauf verzichtet worden, weil man nicht wußte, welche künstlerische Lösung das Zusammenstoßen des Rechteckmusters mit dem Kreis gefunden habe. Jetzt zeigt es sich, daß es zu griechisch empfunden war, eine solche Lösung überhaupt zu erwarten« (Rodenwaldt 1919, 89–90). Abbildung 5 ist gegenüber der Darstellung bei Hackl entsprechend ergänzt. GOING ROUND IN CIRCLES 199 aus Sicht des Thronenden verweist, ließe sich im Falle der Tirynther Delphine unter Umständen die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass diese – eher unseren Sehgewohnheiten entsprechend und wie die Oktopoden mit dem Kopf nach oben orientiert – eine gerade entgegengesetzte Orientierung aufweisen32 . Ebenso ließe sich erwägen oder zumindest spekulieren, dass die eigentümliche Rasterabweichung im pylischen Megaronboden südöstlich des Herdes der Blicklenkung gedient haben könnte, in diesem Falle der Lenkung der bereits angesprochenen flüchtigen Seitenblicke vor Erreichen der Position dem Thron gegenüber33; es dürfte allerdings kaum möglich sein, ein zwingendes Argument ins Feld zu führen, diese Annahme anderen Erklärungen, z. B. der Vermutung von ›Pfusch am Bau‹, vorzuziehen34 . So ist es unabhängig von den beiden letztgenannten Überlegungen vor allem bedeutsam, die allgemeine, in zwei Richtungen wirksame Blickachse und weniger eine konkrete Blickrichtung hervorzuheben. Diese Achse liegt quer zur Laufrichtung des in das Megaron Eintretenden35 . Und eben in der durch diese Achse vorgegebenen Blickrichtung kommt auch die auf den Sitz des Herrschers bzw. den sitzenden Herrscher bezogene Freskenkomposition am besten zur Geltung, die für die Thronwand des Megarons in Pylos belegt ist. Neben den Resten der Bankettszene mit Leierspieler, die nicht unmittelbar auf den Thronplatz bezogen ist, bildet bekanntlich ein Greif-Löwe-Paar das zweite Hauptelement der Verzierung dieser Wand, das durch aus Sicht des Betrachters links des Thrones in Versturzlage gefundene Fragmente belegt ist. Die bereits von den Ausgräbern vorgeschlagene antithetische Ergänzung dieses heraldischen Motivs durch ein weiteres Greif-Löwe-Paar rechts 32 Hackl geht indes explizit von einer einheitlichen Orientierung von Oktopoden und »nach unten tauchenden Delphinen« aus (Hackl 1912, 224. Vgl. 226. 230: »ins Wasser tauchende Delphine«) und auch Hirsch (1977, 38) teilt diese Auffassung, für die auch die Orientierung des Schuppenmusters in den nicht figürlich verzierten Feldern spricht (vgl. allerdings hierzu Hackls [1912, 228] Verweis auf Rodenwaldt [1912, 80 Anm. 1] und das von Hirsch [1980, 457] angeführte Vergleichsbeispiel in Pylos [Lang 1969, Taf. 98 d]). Eine nicht einheitliche Orientierung von Feldern findet sich bei nicht figürlicher Verzierung z. B. im Megaronhof von Mykene (Hirsch 1977, 29–30, vgl. 31 hinsichtlich unterschiedlicher Orientierung in benachbarten Raumeinheiten) und darf bei figürlicher Verzierung in Pylos für die Räume 49 und 50 vorausgesetzt werden (Blegen – Rawson 1966, 212. 214 Abb. 163). 33 Zumindest im kleinen Megaron in Tiryns könnten die von Südwesten nach Nordosten verlaufenden Diagonalen roter und gelber Felder in ähnlicher Weise den Blick des Eintretenden zum Thronplatz gelenkt haben (Hackl 1912, Taf. 20; klarer: Hirsch 1977, Taf. 11 Abb. 23). Da diese Diagonalen jedoch ein Resultat der auch an anderen Stellen regelmäßig bei einer Verschiebung um ein Feld von Reihe zu Reihe wiederholten Farbabfolge blau-rot-blau-geld (Hirsch 1977, 45) sind, ist hierin nicht zwingend eine intentionelle Blicklenkung zu sehen. 34 Hirsch (1977, 47; Hirsch 1980, 457) verweist auf die relative Häufigkeit zumeist allerdings weniger auffälliger Unregelmäßigkeiten in Feldrastern, unter denen ein älterer Boden des Megarons in Mykene ein weiteres markantes Beispiel geben dürfte (Hirsch 1977, 31); gleichzeitig erteilt sie der These, die Abweichung resultiere aus der Schwierigkeit, im Bereich der Säulen eine Richtschnur zu spannen (Blegen – Rawson 1966, 83) eine berechtigte Absage (Hirsch 1977, 34). 35 In Abweichung hiervon ist das Schuppenmuster im kleinen Megaron auf den Eintretenden ausgerichtet (Anmerkung von Rodenwaldt in: Hackl. 1912, 222 Anm. 1). 200 ULRICH THALER Abb. 5 | Thronraum 7 des großen Megarons im Palast von Tiryns, a: Rekonstruktion eines Fußbodenfeldes mit Darstellung eines Oktopus; b: Rekonstruktion eines Fußbodenfeldes mit Darstellung eines Delphinpaares; c: Rekonstruktion der Fußbodenmalereien. des Thrones wurde zumeist akzeptiert36, verschiedentlich aber auch kritisch hinterfragt37. Diese Diskussion soll an dieser Stelle nicht vertieft werden und wird in Ermangelung von dem entsprechenden Wandabschnitt zuweisbaren Fragmenten von Löwen-, Greifen- oder sonstigen Darstellungen kaum abschließend zu behandeln sein; wenn ich im Folgenden eine antithetische Komposition annehme, dann nur in dem Verständnis, dass die vorgetragene Argumentation von dieser nicht abhängt. Wesentlicher ist für meine Überlegungen der enge Bezug von Malerei und Thronendem, den John Bennet besonders anschaulich herausgestellt hat: 36 37 Blegen 1956, 95 Taf. 40 Abb. 2; Blegen – Rawson 1966, 79; Immerwahr 1990, 136; Rehak 1995, 109. Reusch 1958, 339; McCallum 1987, 97–101. GOING ROUND IN CIRCLES 201 The fact that the wanax is apparently not actually depicted on the megaron wall is interesting and suggests that the composition only ›worked‹ when he was physically present on the seat, his authority enhanced by the ›focalising‹ griffins and felines to either side of the seat. The composition was only complete when a ›live‹ performance was enacted.38 Der Standpunkt, von dem diese Komposition und Interaktion sich dem Betrachter vollständig erschließen, ist offenkundig die gegenüberliegende Raumseite (Abb. 6). Wie bereits ausgeführt bilden für den vom Eingang aus im Uhrzeigersinn dort angelangten Besucher die Säulen nicht länger Sichthindernisse, sondern sogar eine Rahmung des Blickes auf den Thron; genau dies gilt aber nicht nur für den Thron selbst, sondern in gleicher Weise auch für die auf ihn bezogene Freskenkomposition: Von der Mitte der Südwestwand ist zwischen der nördlichen und westlichen Säule ein beiderseits der Blickachse ca. 3,3 m breiter Abschnitt der Thronwand zu sehen, der sich bei einem Standpunkt auf halber Strecke zwischen Südwestwand und Herd auf ca. 3,7 m erweitert39 . Die Greif-Löwe-Paare fallen demgegenüber in einen Bereich, der je nach Rekonstruktion mit ca. 2,6 m bis 3,2 m rechts und links der Thronmitte anzusetzen ist 40. In die Bildkomposition wird also neben Wandmalerei und dem menschlichen Handelnden auch ein architektonischer Rahmen integriert, den in diesem Falle die Säule und auch der zwischen ihnen liegende, ebenfalls malerisch verzierte große Rundherd bilden. Ein Hitzeflimmern über letzterem mag der Figur des wanax noch eine zusätzliche Wirkung verliehen haben. Ein letzter malerischer Befund, der in dieser Diskussion Erwähnung verdient, stammt wiederum aus Tiryns: Es sind dies die von Rudolf Hackl beim Thronpodest festgestellten und in plausibler Anlehnung an die Fußbodenmalerei aus dem kleinen Megaron um das Podest umlaufend ergänzten Zierbänder41, durch die der sichtbar aus seiner Umgebung herausgehobene Thronplatz erheblich vergrößert wird. Insbesondere – und gerade diesbezüglich ist der Parallelbefund aus dem Hauptraum des kleinen Megarons eindeutig – wird durch diese Vergrößerung die Lücke zwischen Thronplatz und Herd fast vollständig geschlossen, so dass nicht nur die Verbindung beider architektonisch betont wird, sondern auch zwischen ihnen für den hypothetischen Besucher, der McCallums 38 Bennet 2001, 34. Auch für Bennets Erläuterung gilt, dass sie im Kern, hinsichtlich des engen Bezugs von Malerei und menschlichem Akteur, nicht von der Annahme einer antithetischen Komposition abhängt – gleichwohl wirkt sie im Kontext dieser Annahme, wie sein Verweis auf die »›focalising‹ griffins and felines« verdeutlicht, besonders überzeugend. 39 Die Werte wurden auf dem bei Nelson (2001, 275 Abb. 15) abgebildeten Steinplan gemessen, wobei der dort falsch angegebene Maßstab nach dem Gesamtsteinplan des Hauptgebäudes (Nelson 2001, 274 Abb. 14) korrigiert wurde. 40 Der kleinere Wert orientiert sich an McCallums (1987, 198 Taf. 9), der größere an Youngers (1995, Taf. 76) Rekonstruktion, wobei bei letzterer der Maßstab um den Faktor 10 berichtigt und die beiden äußeren Tiere der hier als Löwe-Greif-Löwe-Dreiergruppen rekonstruierten Tierdarstellung nicht berücksichtigt wurden; selbst unter deren Einbeziehung ergibt sich nur ein Raumbedarf von ca. 3,7 m beidseitig der Mittelachse. In de Jongs Zeichnung bei Lang (1969, Taf. 125) ist leider weder der Thronplatz noch ein Maßstab angegeben. 41 Hackl 1912, 223–224 Taf. 19. 20. 202 ULRICH THALER Abb. 6 | a: Querschnitt und Grundriss des mittleren Bereiches des Thronraums 6 des Palastmegarons von Pylos mit Angabe des maximalen binokularen Blickfeldes (horizontal ±30°, vertikal +30°/-45°) eines dem Thron gegenüber auf halber Strecke zwischen Rundherd und Südwestwand positionierten Betrachters, Augenhöhe ca. 1,65 m (M. 1 : 250); b: Rekonstruktion der Ansicht des Thronplatzes im Palastmegaron von Pylos anhand des in »a« angegebenen Blickfeldes. Annahme folgend von der Tür direkt zum Thron schreitet, überhaupt kein Platz verbleibt, vor dem Thron Aufstellung zu nehmen. Denn obwohl eine rein ornamentale Funktion der Zierbänder in Ermangelung direkter Zeugnisse nicht vollständig auszuschließen ist, erscheint doch die Annahme unausweichlich, dass mit dieser deutlichen Markierung ein Bereich angegeben wurde, zu dem als engstem persönlichen Raum des thronenden Herrschers auch Besucher des Megarons kaum unterschiedslos, wenn überhaupt, Zugang erhielten. Im kleinen Megaron ist die westliche Begrenzung des Thronplatzes sogar nach Norden, anscheinend auch nach Süden und damit mutmaßlich über die ganze Länge des Raumes fortgesetzt, wodurch der gesamte Ostteil des Raumes mit dem Thronplatz gegenüber dem größeren Westteil abgesetzt wird 42 . Dass diese Unterteilung, für die im großen Megaron keine Hinweise vorliegen, bedeutsam und nicht nur Mittel etwa zu dem Zweck 42 Hackl 1912, 222 Taf. 20. GOING ROUND IN CIRCLES 203 ist, eine Unregelmäßigkeit im Feldraster auszugleichen, deutet der Umstand an, dass sie ihrerseits offenbar Ursache einer Unregelmäßigkeit ist, nämlich der geringeren Breite der Felder im östlichen Raumteil 43 . Auch diese Beobachtungen verweisen wieder in großer Nachdrücklichkeit auf die dem Thron gegenüberliegende Seite des Saales als den Punkt, von dem aus ins Megaron vorgelassene Besucher mit dem wanax in Interaktion traten. 6 Ideologische Komponenten eines ›Gesamtkunstwerkes‹ Dies führt uns zurück zum Blick von dort auf den Thron, wobei über architektonische Rahmung und Wandmalereischmuck hinaus noch die ideologischen Konnotationen des dargebotenen Bildes anzusprechen sind. Verschiedentlich ist die Säule als symbolisch aufgeladenes Element der mykenischen Architektur diskutiert worden. Beispielsweise wurde die Lesung der Säule im Löwentorrelief als Chiffre für den Palast als Ganzen vorgeschlagen 44 – freilich ein Deutungsvorschlag unter mehreren 45, der an dieser Stelle indes dadurch an Attraktivität gewinnt, dass das Relief mit seinen antithetisch die Säule flankierenden mutmaßlichen Löwen eine höchst seltene monumental ausgeführte Parallele zum vermuteten antithetischen Kompositionsschema der pylischen Thronfresken bildet. Obgleich dies angesichts des Abrutschens der Thronwand im mykenischen Megaron rein spekulativ bleiben muss, ist es interessant, auf die Möglichkeit eines bildlichen Bezugs zwischen Stationen auf dem Weg zum Thron und der direkten Umgebung des Thrones zu verweisen, insbesondere, wenn die Position des Herrschers im Bildschema durch eine auf ein charakteristisches Bauelement des Thronsaales verweisende Architekturchiffre besetzt werden kann 46. Noch bedeutsamer und in ihrer Interpretation wohl weniger strittig ist die visuelle Einbeziehung des großen Rundherdes im zentralen Vordergrund des Blickfeldes. James C. Wright hat zu Recht darauf verwiesen, dass angesichts der zentralen Position und unverkennbaren Monumentalisierung des Rundherdes im Thronsaal es angemessen 43 Hirsch 1977, 37. Nach Hackls (1912, Taf. 20) Rekonstruktionszeichnung schließt diese Trennlinie näherungsweise an der rechten Türwange mit der Türangel ab, während die von ihr zusammen mit den vier östlichen senkrechten Felderreihen eingenommene Breite nahezu derjenigen von vier der westlichen Reihen entspricht. 44 Erstmals von: Adler 1865, Sp. 9–10; in der Folge ähnliche Argumentation u. a. bei: Mylonas 1957, 28; Åström – Blomé 1965, 188–189; Wright 1994, 58. Eine gute Zusammenfassung der Forschungsdiskussion bieten Åström – Blomé (1965, 160–176. 187). 45 Für die Säule als anikonisches Kultbild Stellungnahmen u. a. bei: Evans 1901, 156–158; Wace et al. 1921– 1923, 16. 46 Querbezüge zwischen verschiedenen Stationen auf dem Weg zum Thronraum lassen sich am besten in Tiryns im Gebrauch von Konglomerat (Küpper 1996, 273 Abb. 220, 2; Maran 2006, 90 Taf. 12) und in der Fassadengestaltung der Propyla und des großen Megarons (Dörpfeld 1886, 241; Siedentopf in: Jantzen 1975, 29; Küpper 1996, 111–112) verfolgen. 204 ULRICH THALER erscheint, nicht einfach, wie Klaus Kilian vorgeschlagen hatte, von einer mykenischen wanax-Ideologie zu sprechen 47, sondern von einer Herd-wanax-Ideologie48. Unabhängig davon, wie man sich diesen Begriff konkret mit Leben gefüllt vorstellt – eine Anlehnung an den späteren oikos-Begriff liegt nahe, setzt aber eine Diskussion der Herdstellen in nichtpalatialen Kontexten voraus49 –, ist die unmittelbare Erfahrbarkeit der engen Beziehung zwischen dem thronenden Herrscher und dem zentralen ›Staatsherd‹ im Blick durch das Megaron offenkundig von Bedeutung für die Wirkung des Konzeptes im zeitgenössischen Kontext. So erscheint wiederum zum einen der von McCallum vermutete Gang von der Thronsaaltür nach rechts, der zwischen Herd und Thron führt, in hohem Maße unplausibel und zum anderen das von Bennet angedeutete Bild dahingehend ergänzt, dass nicht nur Wandmalerei, menschliche(r) Handelnde(r) und, wie zuvor angemerkt, architektonische Rahmung, sondern auch die symbolischen Konnotationen der architektonischen Elemente in gleichem Maße wie diejenigen der Wandbilder zu einem ›Gesamtkunstwerk‹ arrangiert waren. 7 Der Kreis schließt sich (für wenige) Mit den bisherigen Ausführungen dürften die Annahme einer Bewegung von der Thronraumtür nach links und die Bedeutung der dem Thron gegenüberliegenden Raumseite für Besucher hinlänglich begründet sein; zu behandeln bleibt die Fortsetzung des Weges zum Thron im Sinne der zuvor postulierten Bewegung im Uhrzeigersinn um den Zentralherd. Hierzu ist zunächst anzumerken, dass keinesfalls davon auszugehen ist, dass jedem in den Thronsaal vorgelassenen Besucher ein weiteres Vordringen in Richtung des Thrones und Herrschers gestattet war; es sei in diesem Kontext beispielhaft an die Verlängerung der malerischen Thronplatzbegrenzung über die gesamte Ostseite des kleinen Tirynther Megarons erinnert. Die allgemeine Bedeutung abgestufter Zugangsrechte für das Verständnis der mykenischen Palastarchitektur ist in der jüngeren Vergangenheit mit zunehmender Klarheit herausgearbeitet worden: Wright hat die Architektur der Paläste als »a series of concentric rings of symbols that increasingly focus attention on the […] megaron with its monumental hearth and royal throne«50 beschrieben und im selben Zusammenhang z. B. für den Tirynther Palasthof Zugangsbeschränkungen vermutet51; Lisa Bendall hat anhand der Trinkgefäße aus Pylos sehr anschaulich dargestellt, wie eine Abstufung von Zugangsrechten bei festlichen Anlässen zum Tragen kam und selbst über bewegliche Funde verfolgt werden kann, obgleich ihre Studie hinsichtlich der 47 48 49 50 51 Kilian 1988. Wright 1994, 56–59. Tournavitou 1999. Wright 1994, 51. Wright 1994, 60. GOING ROUND IN CIRCLES 205 Materialgrundlage nicht unbestritten geblieben ist52; ich selbst habe unter Bezug auf transägäische architektonische Parallelen und unter Heranziehung hethitischer Textquellen darauf verwiesen, wie Abstufungen von Zugangsrechten sich in konkreten Handlungen ausdrücken konnten und nicht nur festliche Anlässe, sondern auch das alltägliche Handeln prägten53 . Vor diesem Hintergrund erscheint die Annahme nur folgerichtig, dass auch der Bereich gegenüber dem Thron für einen Teil und vielleicht den größeren Teil derer, die Eintritt in den Thronsaal erlangten, den Schluss- bzw. Umkehrpunkt ihres Weges darstellte. Dass damit schon aus raumtheoretischer Sicht, aufgrund der positiven Korrelation zwischen der Öffentlichkeit des Kontextes und der Redundanz architektonischer Hinweisgeber54 , eine geringere archäologische Sichtbarkeit der fortgeführten Bewegung zum Thron hin zu erwarten steht und sich die Befundlage auch in der Praxis als weniger eindeutig erweist als die zuvor hinsichtlich der Orientierung von der Thronsaaltür nach links dargestellte Situation, soll jedoch nicht davon abhalten, eine Diskussion von Aspekten der weiteren Weggestaltung zu versuchen. In Pylos sind zwei mögliche Wegestationen bei der fortgesetzten Annäherung an den Thron zu fassen: der bei der westlichen Säule gefundene dreifüßige Opfertisch und die direkt nordwestlich des Thronplatzes befindliche sog. Libationseinrichtung55 . Obschon es leicht fiele, konkrete Handlungsabläufe unter Einbeziehung beider Elemente vorzuschlagen, muss einschränkend aber direkt angemerkt werden, dass beim Opfertisch als nicht-fixem, also mobilem Element Auffindungs- und Nutzungsort(e) nicht identisch sein müssen, wobei die Auffindung von Miniaturkylikes in situ auf dem Opfertisch deutlich hierfür spricht; selbst bei einer Nutzung in der Fundposition bleibt aber eine Einordnung in den Kontext der Huldigung des wanax von der dem Thron gegenüberliegenden Seite des Herdes denkbar. Bei der Libationseinrichtung, die aus zwei vor der Nordostwand gelegenen, durch ein schmale Rinne verbundenen runden Vertiefungen im Stuckboden besteht, handelt es sich hingegen um ein fixes Element, das bislang hauptsächlich mit dem Herrscher und durch ihn ausgebrachte Trankopfer in Beziehung gesetzt wurde. Die symmetrische Gestalt der Installation verdeutlicht jedoch, dass ein Ausgießen eines Trankopfers, womöglich sogar für den wanax selbst56, durch einen seitlich an den Thron tretenden Besucher oder auch ein gemeinsames Darbringen einer Libation durch Thronenden und Besucher ebenso in Erwägung gezogen werden kann. Nicht unproblematisch ist aufgrund der insbesondere durch den Tirynther Megaronboden verdeutlichten starken Hervorhebung des erweiterten Thronplatzes aus seiner Umgebung die Frage nach dem letzten Standpunkt der in die Nähe des Herrschers vorgelassenen Besucher. Durften diese nicht direkt vor den Thron – und damit in den Bereich 52 53 54 55 56 206 Bendall 2004, 112–124; Kritik insbesondere bei Hruby 2006, 109 Anm. 40. Thaler 2007, 304–305. Hall 1966, 96; Rapoport 1982, 84. 117. 145. 149–152; Sanders 1984, 93. 439–440. 545. Blegen – Rawson 1966, 88. Vgl. Säf lund 1980, 241. ULRICH THALER der malerischen Thronplatzmarkierung – treten und mussten folglich nach einer letzten Station seitlich des Thrones aus einer Sackgasse umkehren und den zum Thron hin genommenen Weg zurückverfolgen? Bestand hier eine weitere Abstufung von Zugangsrechten? Antworten bleiben hier wohl spekulativ. Am wahrscheinlichsten ist meines Erachtens, dass nur ein kleiner und sehr exklusiver Kreis von Besuchern überhaupt auf die Thronwandseite der Megaronhaupträume vorgelassen wurde und dass diese dann auch in die unmittelbare Umgebung des wanax eintreten durfte – ob diese nun, wie in Tiryns, malerisch klar herausgehoben oder, wie mutmaßlich in Pylos, nur durch die Präsenz des Herrschers selbst definiert war –, die sie danach in Richtung der Thronsaaltür wieder verließen. 8 Ausblick: Weiterführende Überlegungen und ein Perspektivwechsel Unabhängig von der Beantwortung dieser letzten Fragen scheint die grundsätzliche Akzeptanz einer Bewegung im Uhrzeigersinn um den Zentralherd herum oder zumindest einer entsprechenden primären Orientierung des Besucherverkehrs in den Haupträumen der mykenischen Palastmegara unausweichlich. Diese Erkenntnis ist sowohl per se von Interesse als auch hinsichtlich neuer Perspektiven, die sie eröffnet und von denen hier nur zwei kurz angedeutet werden sollen. Zum einen stellt sich die Frage, ob die Kreisbewegung, die in einem architektonischen Kontext, der eine strenge Kontrolle sozialer Normen erwarten lässt, an dem symbolisch ebenso wie räumlich zentralen Rundherd orientiert ist, über ihre Rolle in der wahrnehmungsmäßigen Erschließung dieses baulichen Kontextes für den Besucher hinaus nicht selbst symbolisch aufgeladen ist und z. B. eine kosmologische Bedeutung transportiert. Obschon in einem nichtstaatlichen Kontext verankert, liefert etwa das seinerseits u. a. durch ethnographische Schilderungen inspirierte sun-wise model, das zur Erklärung der Struktur eisenzeitlicher britischer Rundhäuser vorgeschlagen wurde57, ein gutes illustratives Beispiel der Art von Phänomenen, an die sich hier denken lässt. Konkrete Vorschläge dürften jedoch in Anbetracht der für die mykenische Kultur verfügbaren Quellen schwer zu untermauern sein. Zum anderen liegt die Vermutung nahe, dass mit der Bewegungsrichtung im Thronsaal auch die Leserichtung der dort angebrachten Wandmalereien zusammenfällt, in ähnlicher Weise wie dies im assyrischen Kontext Barbara N. Porter für die Thronsaalreliefs im Nordwestpalast von Kalhu dargestellt hat58. Angesichts der Anlehnung an die ˘ Wahrnehmung des sich in der Architektur bewegenden Besuchers dürfte diese Annahme letztlich plausibler sein als die von mir an anderer Stelle für das Megaron von Pylos angedachte, eher – wenn auch nicht ausschließlich – aus der Vogelperspektive der Grund57 58 Fitzpatrick 1994. Porter 2003, 182–188. GOING ROUND IN CIRCLES 207 rissbetrachtung schlüssige Möglichkeit einer Lesung im Sinne einer binären Opposition zweier in innerer und äußerer Hälfte des Thronsaales repräsentierter Konzepte59. Eine Überlagerung und Komplementarität dieser beiden und unter Umständen noch anderer Leseweisen ist natürlich denkbar. Gemeinsam ist beiden Lesevorschlägen in jedem Falle leider die Schwierigkeit, sie trotz der lückenhaften oder gänzlich fehlenden Überlieferung der Wandmalereien in den Palastmegara in Pylos und Tiryns als Grundlage einer konkreten, detaillierten Lesung heranzuziehen. Umso erfreulicher ist die Übereinstimmung, die sich mit der von Gerhart Rodenwaldt bereits vor langer Zeit vorgestellten Interpretation der Thronraumfresken von Mykene ergibt. Rodenwaldt erschließt nach Motivik und Fundlage der erhaltenen Fragmente eine Darstellung, die von der Tür aus über den nördlichen Teil der Westwand und die Nordwand hinweg »von links nach rechts abzulesen ist«60 und in einer »fortschreitende[n] Handlung […] die Rüstung der Wagen im Lager, die Fahrt zum Kampf und die Kampfszenen selbst«61 als aufeinander folgende Episoden einer Schlacht schildert. Obwohl die Fortsetzung des Frieses durch den Absturz der Ost- und Südwand des Megarons in die Chavos-Schlucht verloren ist und Rodenwaldt letztlich nur die Lagerszene links der Tür und die Schlachtdarstellung, die Streitwagen und Fußsoldaten umfasst und wohl um eine große Architekturzeichnung in der Mitte der Osthälfte der Nordwand angeordnet war, klar belegen und verorten kann62, während für die »Fahrt zum Kampf« klare Indizien fehlen, ist die Identifikation der Leserichtung überzeugend und somit die Parallele zur hier vorgestellten Argumentation augenscheinlich63 . Während sich trotz dieser Parallele in den beiden zuletzt angesprochenen Punkten insgesamt zwar Perspektiven, aber noch keine eingehenderen Interpretationen erschließen, sei zum Schluss ein Perspektivwechsel versucht, der ein letztes Indiz zur Stützung der Hauptthese dieses Aufsatzes liefern mag und zurück an einen der Ausgangspunkte der obigen Überlegungen führt, genauer gesagt zu der in den Wandmalereien, wie Fragmentkomplex 45 H 6, reflektierten Bedeutung von Prozessionen innerhalb des mykenischen Hofzeremoniells. Nachdem zuvor hauptsächlich das sich dem Besucher darbietende Bild des Thronraums behandelt wurde, ist zur Perspektive des thronenden Herrschers anzumerken, dass eine Reihe von Gabenträgern, die sich hypothetisch von der Tür des Thronsaals direkt auf seinen Sitz zu bewegten, für den wanax zwar zeitlich als Folge, aber nicht visuell als Prozession erfahrbar wäre. Eine durch das ›Fenster‹ zwischen den Säulen auf der Gegenseite des Saales schreitende Gabenträgerreihe wäre hingegen als Prozession im Wortsinne ›ersichtlich‹ – und böte ein Bild, das direkt der Darstellung der Wandmalereien entspräche. 59 Thaler 2006, 102. 60 Rodenwaldt 1921, 44. 61 Rodenwaldt 1921, 59. 62 Rodenwaldt 1911, 245–247; Rodenwaldt 1921, 24–45, bes. 29. 43. 44. 63 Hierfür ist u. a. bedeutend, dass die Lagerszene nicht nur, wie von Immerwahr (1990, 123) verkürzend wiedergegeben, allgemein der Westwand, sondern, wie Rodenwaldt (1921, 29. 44) an zwei Stellen betont, im Speziellen dem links der Tür gelegenen Nordabschnitt der Westwand zuzuweisen ist. 208 ULRICH THALER Bibliographie Adler 1865 F. Adler, Das Relief am Löwenthor zu Mykenae, AZ 23, 1865, Sp. 1–13. Åström – Blomé 1965 P. Åström – B. Blomé, A Reconstruction of the Lion Relief at Mycenae, OpAth 5, 1965, 159–191. Bendall 2004 L. Bendall, Fit For a King? 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Sulze, reproduziert mit Genehmigung des Tiryns-Projektes des DAI; Abb. 5 a: nach Rodenwaldt 1912, Taf. 21, 4; Abb. 5 b: nach Rodenwaldt 1912, Taf. 21, 3; Abb. 5 c: nach Rodenwaldt 1912, Taf. 19; Abb. 6 a: nach Blegen – Rawson 1966, Taf. 418; Abb. 6 b: Zeichnung U. Thaler. 214 ULRICH THALER Ortwin Dally Bild – Raum – Handlung. Die Faustinathermen in Milet This paper discusses the furnishings of the imperial-era Faustina Thermae in Miletus, which in recent years have been the subject of an ongoing reexamination by the Antikensammlung Berlin and the Deutsches Archäologisches Institut. The studies and depictions conducted thus far of the building’s various construction phases and its decoration with inscriptions, sculptures and graffiti between the 2nd and 7th century A.D. have permitted some observations on the connection between sculptural decoration and the surrounding space, as well as on how the visitors moved through the space and what acts they performed. The sequence of spaces visited by the bathers in the Thermae facility, one of the so-called »ring type,« was to a certain extent predetermined by the builders. In the early Byzantine period this sequence underwent changes every bit as significant as those undergone by the interior furnishings. Bilder spielen in der Klassischen Archäologie von Anbeginn an eine zentrale Rolle, nicht nur als Medium der Darstellung, sondern auch als Objekte der Forschung. Im Vordergrund des Interesses stand lange Zeit das Paradigma von Original und Kopie 1 . Seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts rückten neue Fragen in den Vordergrund des Interesses: Die Kontexte von Bildwerken wurden bedeutsam für die Frage nach deren politischer Aussage und ihrer konkreten Funktion. Visuelle Gesamtkomplexe, ihre komplizierte, sich wandelnde Ästhetik, ihre Wahrnehmung und ihre Rolle in der Gestaltung des antiken Lebensraumes sind aber bislang noch immer wenig analysiert, geschweige denn systematisch erforscht: als umfassende Bilder, nicht als (figürliche) Bilder im Kontext. Neue Impulse hat die Debatte durch raumbezogene Forschungsansätze in der Kunstgeschichte und der Archäologie erfahren2. Unter Weiterentwicklung von erstmalig um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entwickelten Ansätzen haben sich solche als besonders weiterführend erwiesen, die Raum nicht als eine physische Hülle oder einen Container begreifen, sondern als das Resultat eines Wechselspiels zwischen gebautem Raum in Form von festen Grenzen und der Rezeption durch Menschen. Dadurch werden Räume zum Resultat sozialer Interaktion3 . Das bedeutet, dass die Erfahrung von Räumen durch die Umgebung geprägt wird, aber auch dass solche Räume erst durch soziale und kulturelle Handlungen hervorgebracht werden. Römische Thermen, die – meistens im Zentrum der Städte des Imperium Romanum gelegen – als sehr repräsentative und aufwendige Bauten gelten dürfen, eignen sich für eine so verstandene Raumbetrachtung, weil nicht nur aufgrund der archäologischen Für wertvolle Hinweise bin ich Martin Maischberger und Peter I. Schneider (beide Berlin) sehr zu Dank verpf lichtet. 1 Junker – Stähli – Kunze 2008; Bartsch – Becker – Bredekamp – Schreiter 2010. 2 Eine Übersicht bietet Pfisterer 2003, 295–296 (s. v. Raum). 3 Jöchner 2008, 11. BILD – R AUM – HANDLUNG. DIE FAUS TINATHERMEN IN MILE T 215 Befunde, sondern auch aufgrund der epigraphischen und literarischen Überlieferung sowohl Informationen zur Ausgestaltung von Räumen und einer bestimmten Abfolge von Räumen während des Badevorganges als auch zu Handlungen, die in den durchweg vom Kaiser und/oder vermögenden Bürgern der Städte gestifteten Bauten vorliegen. Sie sind aber bislang kaum unter einer raumbezogenen Fragestellung im oben genannten Sinne untersucht worden, in der Forschung ging es bislang primär um Fragen der Wasserversorgung, der physischen Raumgestaltung und Raumtypologie4 . Antike Schriftquellen legen aber durchaus nahe, dass Räume in römischen Thermen schon in der Antike als Handlungsräume verstanden worden sind, sie lassen darüber hinaus erkennen, wie Räume von Betrachtern wahrgenommen worden sind. Ein prägnantes Beispiel ist die Schrift Ἱππίας ἢ Βαλανεῖον des Lukianos von Samosata. Der Autor schildert einen Rundgang durch ein fiktives römisches Bad: Zunächst ein Torbau mit breiten Treppen, eher schräg als steil, zur Bequemlichkeit der Hinaufgehenden. Ist man dann in diesen eingetreten, so empfängt einen ein sehr großer gemeinsamer Saal, der den Dienern und Sklaven einen bequemen Aufenthalt gewährt und der zur Linken der der Schlemmerei geweihten Räume liegt; auch diese passen sehr wohl zu einem Bade. Nette und sehr helle Innenzimmer. Daran schließt an diese ein Saal an, der zwar für ein Bad eigentlich überflüssig ist, hingegen notwendig zur gastlichen Aufnahme der Wohlhabenderen. Nach diesem kommen beiderseits ausreichende Garderoben für die sich Entkleidenden and dazwischen ein sehr hoher und strahlend heller Saal, der drei Becken mit kaltem Wasser enthält, mit lakonischem Marmor geziert ist und weiße Marmorstatuen von altertümlicher Art birgt, Hygieia und einen Asklepios. Treten wir ein, so nimmt uns ein gelinde geheizter Saal auf, aus dem uns eine keineswegs unangenehme Wärme entgegenkommt, sehr groß, beiderseits abgerundet und hinter diesem zur rechten ein sehr freundliches Gemach, das bequeme Gelegenheit bietet, sich zu salben, und das beiderseits mit phyrgischem Marmor verzierte Eingänge hat. Darauf folgt ein Saal, der von allen der schönste ist, auch er bis oben an die Decke von phrygischem Marmor schimmernd; sehr behaglich darin herumzustehen und zu sitzen und ohne Schaden (nach dem Bade) zu verweilen, und sehr geeignet, sich darin massieren zu lassen. Daran schließt der geheizte, mit numidischem Marmor ausgelegte Durchgangsraum. Der innere Saal endlich ist prächtig, von reichem Licht durchflutet und bunt wie Purpur gefärbt. Wenn Du gebadet hast, brauchst Du nicht durch dieselben Räume wieder zurückzugehen, sondern kannst schnell durch den mäßig warmen Saal wieder zum Kaltbad kommen. Auch in diesen Räumen allen herrscht klares Licht und heller Tag; ferner ist überall die Höhe angemessen, und die breite steht im richtigen Verhältnis zur Länge, und so entfaltet sich überall Anmut und Schönheit. Denn, wie der treffliche 4 Brödner 1983; Manderscheid 1988; Nielsen 1990; Lenoir 1991; Yegül 1992; Weber 1996; Manderscheid 2004; Fagan 1999; von Hesberg 2005, 169–182. 216 ORT WIN DALLY Pindar sagt: ›Wenn man ein Werk beginnt, so muß man ihm ein strahlendes Angesicht geben.‹ Das dürfte hauptsächlich durch die Lichtfülle und Lichtöffnungen erreicht sein. Denn klug, wie er ist, hat Hippias den Saal der kalten Bäder nach Norden vorspringen lassen, doch so, dass er auch am südlichen Himmel seinen Anteil hat; die Säle hingegen, die vieler Wärme bedürfen, hat er dem Südost-, Süd- und Westwind ausgesetzt. Was soll ich Dir nun noch die Ringplätze schildern und die zum allgemeinen Brauch dienenden Einrichtungen der Kleiderbewahrer, die zur Bequemlichkeit und Verhütung von Schädigungen durch eine schnellen, kurzen Weg mit dem Bad verbinden sind? Das ist das Werk, das der bewundernswerte Hippias uns vor Augen gestellt hat. Er vereinigt alle Vorzüge eines Bades: Die Zweckmäßigkeit, die Bequemlichkeit, die Helligkeit, die Symmetrie, die Anpassung ans Gelände, die Möglichkeit, es sicher (vor Dieben) zu benutzen; und dazu hat es noch andere Einrichtungen, mit denen der Baumeister es umsichtig ausgestattet hat: so mit zwei abseits liegenden Abortanlagen und mit zahlreichen Ausgängen; ferner hat es zwei Stundenweiser, nämlich eine Wasseruhr mit Schlagwerk und eine Sonnenuhr.5 Der Text lässt erkennen, dass es Räume mit unterschiedlichen Funktionen gab, die dem Sport, der Entspannung und dem Baden galten, dabei auch verschiedenartig ausgestattet waren und sich durch abweichende Temperaturgrade, Wasserangebot und Lichteinfall unterschieden. Der Eindruck der Räume wurde aber auch von Statuen wie denen des Asklepios und der Hygieia bestimmt. Der Text verdeutlicht schließlich, dass die Thermen von Lukian in Bewegung erfahren wurden und dass sich der Raumeindruck einer bestimmten sozialen Praxis des Erholens und des Badens verdankte. Der Versuch, Thermen als einen ›relationalen‹ Raum zu begreifen, bildete den Ausgangspunkt für ein seit 2006 laufendes Forschungsprojekt, das die Antikensammlung der Staatlichen Museen zu Berlin (Prof. Dr. Andreas Scholl, Dr. Martin Maischberger) und das Deutsche Archäologische Institut (Prof. Dr. Ortwin Dally, Dr.-Ing. Peter I. Schneider) verfolgen6. Im Zentrum des Projekts steht die Frage, wie sich der ca. 3500 m 2 umfassende Komplex der Faustinathermen in Milet als visueller und räumlicher Gesamtkomplex von seiner Erbauung an bis in die Spätantike entwickelt hat (Abb. 2. 3). Die Forschungen erlauben erste Beobachtungen zum Zusammenhang von Skulpturenausstattung und umgebendem Raum, aber auch zum Bewegungsablauf der Besucher. Die Abfolge der von den Badegästen aufgesuchten Räume war teilweise vorgegeben, wurde allerdings in der frühbyzantinischen Zeit ebenso wie die Ausstattung der Räume im Vergleich zur Situation in der Kaiserzeit verändert. Auf dieser Phase wird der Schwerpunkt der Ausführungen liegen. 5 Lukian., Hippias 4–8 (dt. Übers. nach Brödner 1983, 94–96).– Vgl. dazu auch Schneider 1999, 57–69. 6 Zu den bisher erzielten Forschungsergebnissen vgl. Maischberger 2007a, 33–35; Maischberger 2007b, 237–251; Schneider 2008, 68–69; ZeitRäume, passim; Schneider im Druck; Dally – Maischberger – Schneider – Scholl 2011. – Vgl. jetzt auch Bol et al. 2011, 81–88. BILD – R AUM – HANDLUNG. DIE FAUS TINATHERMEN IN MILE T 217 Unter der Leitung von Theodor Wiegand war die Anlage zwischen 1905 und 1913 freigelegt worden, publiziert wurde sie von Fritz Krischen7. Die Anlage verkörpert einen spezifischen architektonischen Typus, der sich im Osten des Römischen Reiches großer Beliebtheit erfreute. Zunächst waren Gymnasien im griechischsprachigen Osten der Ort, an dem sich ein wesentlicher Teil des öffentlichen Lebens der griechischen Städte abspielte, da hier junge Männer der jeweiligen Städte ausgebildet wurden. In ihnen wurden die Werte vermittelt, die sie schließlich zu vollwertigen Bürgern machen sollten. In der Kaiserzeit wurden die Gymnasien mit Thermen kombiniert8. In Milet wurde das erste Thermengymnasion, die sog. Capitothermen, in der Zeit des Kaisers Claudius errichtet, eine weitere Anlage entstand in einem Wohnquartier am Löwenhafen am Humeitepe. Bereits in das 2. Jh. n. Chr. ist die Umwandlung des hellenistischen Gymnasions unmittelbar westlich des Stadions in eine Thermenanlage zu datieren. Die Faustinathermen als die vierte und aufwendigste Thermenanlage in Milet zeigen die Bedeutung, die diesen Badekomplexen als Brennpunkten öffentlichen Lebens in Milet zukam9. Vorausgeschickt sei, dass die angeschnittenen Fragen nicht ganz einfach zu beantworten sind. Das hängt mit mehreren Gründen zusammen: Als Wiegands Mitarbeiter den Komplex freilegten, waren sie mit meterhohen Verschüttungen konfrontiert, die sie in vergleichsweise kurzer Zeit beseitigen ließen, ohne dass deren Inhalt akkurat dokumentiert oder überhaupt aufgehoben worden wäre. Auch die im Archiv der Antikensammlung SMB im Original aufbewahrten Grabungstagebücher Wiegands enthalten keine detaillierteren Informationen. Dadurch werden auch heute noch chronologische Beobachtungen erschwert. Im Zuge der seit 2006 laufenden Arbeiten wurden ferner Funddepots freigelegt, die von den Erstausgräbern angelegt, aber nicht dokumentiert worden waren und anschließend in Vergessenheit gerieten 10. Bei der Reinigung der Thermenräume während der seit 2006 laufenden Arbeiten tauchten sie wieder auf, die Funde können dabei in den meisten, aber nicht in allen Fällen mit Sicherheit dem jeweiligen Raum zugewiesen werden, in welchem sie angetroffen wurden 11 . Dadurch werden Aussagen zur monumen7 Milet I 9. – Vgl. auch Wiegand 1901, 903–913; Wiegand 1906, 249–265; Wiegand 1908; Wiegand 1911. 8 Vgl. von Hesberg 2005, 180. 9 von Hesberg 2005, 180 Abb. 50 a; ZeitRäume, 46–49 Abb. 6–10 (I. Blum); Bol et al. 2011, 79–81. – Eine weitere Thermenanlage ist kürzlich von Philipp Niewöhner (DAI Abteilung Istanbul) 2009–2010 südlich der Moschee freigelegt worden. Sie datiert in ihrem Ursprung auch in die Kaiserzeit. 10 Die Depots wurden vor allem in der östlichen Kammer 7 des ›Ambulacrum‹ (Raum 1), vor den Längswänden des Warmbaderaums 7, in den Bogennischen des großen Caldarium (Raum 9) und an mehreren Stellen in Nebenraum 18 entdeckt. 11 Man kann mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass so gut wie alle klein- bis mittelformatigen marmornen Dekorationselemente und die Mehrheit der größeren Architekturglieder zu den Thermen gehören. Ausnahmen sind wenige Architekturglieder in der Palaestra (weil diese dem Theater am nächsten liegt), die sicher nicht hierhergehören. Bei einigen anderen Architekturgliedern in den südlichen Räumen ist mittlerweile eine Zugehörigkeit auch wahrscheinlicher geworden. – Weniger gut gesichert ist hingegen die Zugehörigkeit zu den jeweiligen Thermenräumen: Hier ist es sehr gut möglich, dass die Altgrabung Sammeldepots angelegt hat, die für Funde aus mehreren Räume dienten. 218 ORT WIN DALLY talen Ausstattung der Badeanlage erschwert. Schließlich zeigen die Skulpturen Spuren von Überarbeitungen, Manipulationen und ›Restaurierungen‹, die zum Teil in eine relativchronologische Reihenfolge gebracht, jedoch nicht absolutchronologisch datiert werden können. Beispielsweise war der Löwe im Frigidarium 4 offenbar schon in archaischer Zeit existent, wie bereits Volker Michael Strocka bemerkt hat. Das Vorderteil des Löwen wurde in der Kaiserzeit an zeitgenössische Vorstellungen angepasst und in einem dritten Schritt durchbohrt, um Platz für eine Wasserleitung zu schaffen 12 . Dennoch lassen der vergleichsweise gute Erhaltungszustand der Ruine und die Grabungen viele Beobachtungen zu: Die Thermen liegen zwischen Theater und Stadion am östlichen Rand der sog. Theaterbucht und weichen signifikant von der Orientierung des orthogonalen Schemas, nach dem die Stadt angelegt war, ab. Die Gründe hierfür konnten ansatzweise im Zuge der laufenden Arbeiten ermittelt werden: Mit Hilfe einer geophysikalischen Prospektion und eines Grabungsschnittes im Bereich des sog. Ambulacrums (Wandelhalle) konnten unterhalb eines bauzeitlichen Kanalsystems Reste eines Steinfußbodens aus schwarzen und weißen Kieseln, der vor dem 1. Jh. n. Chr. entstanden sein dürfte, dokumentiert werden; letztere überlagerten wiederum ältere Kulturschichten bis zum 4. Jh. v. Chr.13 . Da die Orientierung des Steinfußbodens derjenigen der Thermen entspricht, ist hier unter Umständen eine Vorgängerbebauung in derselben Orientierung zu fassen. Nicht auszuschließen ist, dass auch energetische Gesichtspunkte und/oder die Lage des Hafenbeckens bei der Anlage der Thermen eine wesentliche Rolle spielten. Die Badeanlage wird um die Mitte des 2. Jhs. n. Chr. erbaut worden sein. Hierfür sprechen die Ergebnisse der seit 2006 vorgenommenen Sondagen 14 ebenso wie der Name »Bad der Faustina«, der über zwei Inschriften aus den Thermen (s. u.)15 und eine weitere aus Didyma überliefert ist, wonach ein Bürger aus Milet namens Menandros die Faustina-Thermen durch einen Raum auf seine Kosten hatte ergänzen lassen16. Die Badeanlage dürfte mindestens bis zum 6. Jh. n. Chr. genutzt worden sein, wie das Ergebnis der jüngst angelegten Schnitte gezeigt hat 17. Für eine Nutzungszeit von mindestens vier Jahrhunderten 12 Strocka 1977, 495–498 Nr. 7 Abb. 17–20. – s. auch u. Anm. 54. 13 Die geophysikalischen Untersuchungen und Bohrungen wurden 2008/2009 durchgeführt von der Universität Kiel (Harald Stümpel), der Universität Marburg (Helmut Brückner) und der Universität Tübingen (Alexander Herda). 14 Insbesondere Sondage 6/2009, die in der sog. Wandelhalle angelegt wurde und Fundmaterial des 1.–2. Jhs. n. Chr. erbrachte. Demnach dürfte der Marmorfußboden der Halle in das 2. Jh. n. Chr. zu gehören. 15 Es handelt sich um ein Epigramm auf den Asiarchen Makarios, das sich auf einem Marmorblock im Durchgang zwischen ›Ambulacrum› und Musensaal befindet, sowie eine Säule mit einem Epigramm auf Tatianos aus dem ›Ambulacrum‹ (möglicherweise 60er Jahre des 4. Jhs. n. Chr.). 16 Wiegand 1958, Nr. 84; Busch 1999, 154. 17 Aufschlussreich war insbesondere Sondage 7/2009 in Raum 6 mit Funden, die sicher bis in das 6. Jh. n. Chr. reichen. Dies wird vor allem durch die spätesten Objekte im Abwasserkanal unter dem Boden vor der Nordwand des Saales nahegelegt. Das Spektrum der Fundmünzen aus allen Sondagen reicht ebenfalls bis in die Mitte des 6. Jhs. n. Chr., mit deutlichen Schwerpunkten im 4. und 5. Jh. (laut vorläufiger Bestimmung der rund 80 Münzen durch Joachim Gorecki, ehem. Universität Frankfurt a. M., im August 2010). BILD – R AUM – HANDLUNG. DIE FAUS TINATHERMEN IN MILE T 219 spricht auch der epigraphische Befund in dem ›Ambulacrum‹ (s. u.). Damit stehen die Faustinathermen nicht allein. Auch andernorts konnte in Kleinasien eine vergleichbar lange Nutzungsdauer von Thermen beobachtet werden 18. Der Rundgang lässt sich relativ gut rekonstruieren (Abb. 1). Die Besucher betraten das Areal der Thermen über die Palästra. Diese quadratische Platzanlage, gesäumt von Säulenhallen korinthischer Ordnung mit Kompositkapitellen, diente zur sportlichen Ertüchtigung. Sie ist, soweit angesichts der nicht komplett erfolgten Freilegung zu beurteilen, möglicherweise erst gegen Ende des 2. Jhs. n. Chr. errichtet worden 19. Östlich grenzte ein langgestreckter Raum, der – beiderseits gesäumt von je 13 kleineren Räumen – als ›Ambulacrum‹ diente20. Die Halle, die über drei Eingänge von der Palaestra aus betreten werden konnte, war ein bevorzugter Standort für Ehrenstatuen und Inschriften, die verdiente Bürger der Stadt rühmten. Den Durchgang zwischen ›Ambulacrum‹ und ›Musensaal‹ zierte eine aus vier Epigrammen bestehende monumentale Inschrift über zweien der Marmorblöcke des östlichen Gewändes. Danach hatte Makarios, der sich erfolgreich im Kampf gegen die Goten 262/263 n. Chr. engagiert hatte, Restaurierungsmaßnahmen in den Bädern in Angriff genommen, die dann von Tatianos, praeses Cariae (?), möglicherweise in den 60er Jahren des 4. Jhs. n. Chr. vollendet wurden 21 . Derselbe Tatianos wurde für seine Verdienste um die Thermen durch ein zusätzliches Säulenmonument im ›Ambulacrum‹ geehrt 22 . In zwei weiteren Inschriften, die die Gewändeblöcke zwischen dem ›Ambulacrum‹ und dem südlich angrenzenden Raum 6 zierten, wurde schließlich ein Redner des 4.–5. Jhs. n. Chr., Hesychios, für weitere Reparaturmaßnahmen an den Wasserinstallationen gerühmt 23 . Wie Tatianos erhielt auch Hesychios ein Statuenpostament im ›Ambulacrum‹ mit einer dritten Inschrift, die seine Verdienste um die Badeanlage hervorhob24 . Im Zusammenhang damit könnten etwa Rohrleitungen stehen, die im Zuge nachträglicher Umbaumaßnahmen der Wasserbecken in den Kaltbaderäumen 4, 5 und 6 sowie in den Nischen des Ambulacrums neu verlegt worden sind (s. u.). Die Halle dürfte freilich nicht erst in der frühbyzantinischen Zeit für Statuenaufstellungen genutzt worden sein. Darauf deuten verschiedene kaiserzeitliche Statuenbasen mit der Aufschrift »Agathe Tyche« hin, die in ›Ambulacrum‹ und ›Musensaal‹ geborgen 18 z. B. Südthermen von Perge (1. – Ende 7. Jh. n. Chr.): Atik 1995, 210. – Vediusgymansium in Ephesos (Mitte 2. – 8. Jh. n. Chr.): Steskal 2008, 309–312. 19 ZeitRäume, 130–131 (M. Maischberger). 20 ZeitRäume, 125–126 (P. I. Schneider). – Zum Raumtypus, der auch gelegentlich als »Basilica Thermarum« bezeichnet wird und den Raum zwischen Palaestra und dem Badetrakt markiert, vgl. Yegül 1992, 414–416 Appendix D; Schneider 1999, 57; Steskal – La Torre 2008, 298–299; Yegül 2010, 63. 76. 142. 146. 246. 21 Milet VI 1, n. 339 mit Anhang; Busch 1999, 154–169. 22 Milet VI 1, n. 340 mit Anhang; Busch 1999, 169–182. 23 Milet VI 1, n. 341-342 mit Anhang; Busch 1999, 181. 24 Milet VI 1, n. 343 mit Anhang; Busch 1999, 182–185; Bol 105 Kat. VI.19 (P. Herrmann – R. Bol). 220 ORT WIN DALLY Abb. 1 | Plan der Faustinathermen in Milet unter Angabe des Fundortes der Skulpturen, des beweglichen Mobiliars sowie der Suchschnitte und Sondagen (M. 1 : 500). BILD – R AUM – HANDLUNG. DIE FAUS TINATHERMEN IN MILE T 221 222 ORT WIN DALLY Abb. 2 | Plan der Faustinathermen in Milet unter Angabe der möglichen Bewegungsrichtungen, Mitte 2. Jh. n. Chr. (M. 1 : 750). BILD – R AUM – HANDLUNG. DIE FAUS TINATHERMEN IN MILE T 223 Abb. 3 | Plan der Faustinathermen in Milet unter Angabe der möglichen Bewegungsrichtungen in der letzten Nutzungsphase, 5.–6. Jh. n. Chr. (M. 1 : 750). wurden25, und die Inschrift zu einer Statue des Iunius Quintianus an der Südseite des ›Ambulacrum‹26. Die Halle war mit weiteren Statuen geschmückt, hier fanden sich u. a. eine Statue des Asklepios mit Telesphoros27, der Hygieia28 und eines jugendlichen Athleten mit Herkulesherme29. Sie zeigen Spuren von Überarbeitungen und Manipulationen: Dem jugendlichen Athleten wurde das Geschlecht sorgfältig abgetrennt. Verwitterungsspuren auf der Standplatte zeigen, dass die Statue sehr lange gestanden haben muss, auch noch zu einem Zeitpunkt, als das Dach des Gebäudetrakts bereits teilweise eingestürzt bzw. nicht mehr funktionstüchtig war30. Das ›Ambulacrum‹ war der einzige Raum, in dem neben Überresten von Malereien31 auch Graffiti unterschiedlicher Größe, Machart und Positionierung dokumentiert werden konnten. Zu nennen sind ein Kopf mit einer severischen Frauenfrisur auf der Schwelle zum südlich angrenzenden Raum 6, das Profil einer ionischen Basis auf dem östlichen Gewände des Durchgangs zum ›Musensaal‹ und eine abstrakte Figur in der Kammer 13 West. Der Befund ist insofern auffällig, als Graffiti ein Indikator für die Zahl von Besuchern von Räumen und deren Verweildauer sind32 . Darüber hinaus sind sie möglicherweise gerade im Thermenbereich vor allem in solchen Räumen belegt, die nicht der Feuchtigkeit ausgesetzt und in denen die Besucher noch bekleidet waren. Dort dürften die Besucher im Gegensatz zum eigentlichen Badetrakt noch über entsprechende Werkzeuge wie Gewandspangen verfügt haben33 . Weitere Funde, die auf eine längere Verweildauer und auch die Einnahme von Speisen hindeuten, traten allerdings nicht auf34 . 25 Wandelhalle: Milet VI 3, n. 1207.– Musensaal: Milet VI 3, n. 1211. Weitere, in den Inschriftenpublikationen nicht aufgeführte Inschriften dieses Typus wurden im Verlauf unserer Arbeiten in der Wandelhalle entdeckt. 26 Milet VI 1, n. 344 mit Anhang; Manderscheid 1981, 95–96 Nr. 223; Bol et al. 2011, 104–105 Kat. VI.18 (W. Günther – R. Bol). 27 Istanbul, Arch. Mus. Inv. 1995. – Milet I 9, 97–98 Taf. 25; Manderscheid 1981, 93 Nr. 208 Taf. 30; Bol et al. 2011, 96–99 Kat. VI.15 Taf. 39 d. e – 41 (F. Fless). 28 Izmir, Arch. Mus. Inv. 1168. – Milet I 9, 98–99 Taf. 26; Manderscheid 1981, 93 Nr. 209 Taf. 30; Bol et al. 2011, 100–102 Kat. VI.16 Taf. 42–43 (C. Schneider). 29 Istanbul, Arch. Mus. Inv. 1998. – Milet I 9, 99–100 Taf. 27; Manderscheid 1981, 96 Nr. 225 Taf. 32; Bol et al. 2011, Kat. VI.17 Taf. 44. 45 (N. Meissner). 30 Diese Interpretation ist die wahrscheinlichste. Das Wasser könnte auch von woanders hergekommen sein – aber es gibt für sonstige ›Wasservorkommen‹ im Ambulacrum keine Hinweise. 31 Es handelt sich um die großformatige, noch in Ritzung erhaltene Figur eines Jägers (?) auf dem Türgewände. 32 Langner 2001, 100. 33 Vgl. dazu Langner 2011, 116 mit der Beobachtung, dass in pompejanischen Thermen Graffitizeichnungen vor allem in Apodyterien und Palaestren zu beobachten sind. 34 In der nördlichen Hälfte der Sondage 6/2009 vor den Kammern 5 und 6 Ost der Wandelhalle wurden Schnecken, Miesmuscheln, Jakobsmuscheln, Austern, Purpurschnecken und Shell gefunden, die allerdings vermutlich Teil einer Fundamentierungsschicht waren. – Vgl. aber etwa die Funde in Raum 5 der Südthermen von Perge: Viele Unguentarien und Lampen deuten darauf hin, dass der Raum als Apodyterium genutzt wurde, in Raum 8 zeigen u. a. Schalen und Schüsseln an, dass es ich um einen Speise- und Ruhesaal handelte (Atik 1995, 210). 224 ORT WIN DALLY Nach Norden hin findet die Wandelhalle ihren Abschluss in einem Bogendurchgang, der zu einem großen, quadratischen Raum mit einer zentralen Apsis, dem ›Musensaal‹, führt35 . Die seitlichen Wände und auch die Apsis waren mit Nischen versehen, die zur Aufnahme von Statuen bestimmt waren. In die Apsis wurde sekundär ein Podium oder eine Bühne eingebaut, die über die beiden den halbrunden Raumabschluss rahmenden Kammern zu betreten war (Abb. 2). Für die Erbauung des Pulpitums ergibt sich ein Terminus post quem durch den bärtigen Kopf eines Mannes, der als Spolie in dem Podium verbaut war. Um 300 n. Chr. dürfte dieser Kopf aus einem älteren Kopf umgearbeitet und mit seiner gepickten Frisur dem Zeitgeschmack angepasst worden sein36. Es könnte sich um eine Ehrenstatue gehandelt haben, die in der Spätantike umgearbeitet wurde. Die Erstausgräber fanden 1906 in dem Raum eine Reihe von weiteren Skulpturen: eine Statuengruppe des Apoll und der Musen, die in den Apsiden des Raumes standen37, einen Torso der Aphrodite im Typus Louvre-Neapel38, den Torso einer Askeliposstatue39, zwei weibliche Köpfe40 und eine Panzerstatue im Durchgang zur Palaestra 41 . Vermutlich handelt es sich bei der Panzerstatue um das Bildnis eines Kaisers, da der zugehörige gezapfte Einsatzkopf jedoch nicht erhalten ist, bleibt unklar, welcher Kaiser dargestellt war42 . Die Statue des Apoll ist nachträglich manipuliert worden, sie lässt ein abgemeißeltes Geschlecht erkennen. Die Plinthen der Musenstatuen sind ebenso wie ihre Gewänder verkürzt, einige Statuen weisen infolge von Marmorbrüchen Anstückungen auf, die mit Hilfe von Dübeln befestigt worden sind. Noch unklar ist, wann diese Arbeiten vorgenommen wurden. Die Nischen sind sehr eng angelegt und waren möglicherweise nicht von vorneherein zur Aufnahme der Musengruppe bestimmt 43 . Überreste von Marmorprofilen, die sich in der Unterfütterung der Nischenauskleidung gefunden haben, könnten als Hinweis auf eine spätere Umgestaltung des Musenraumes interpretiert werden. 35 ZeitRäume, 126–131 (P. I. Schneider). 36 Berlin, Antikensammlung SMB Inv. Sk 1759. – Blümel 1933, 48 R 115 Taf. 69; Manderscheid 1981, 96 Nr. 224; Schneider 1999, 13; ZeitRäume, 203 Nr. 22 (S. Agelidis); Bol et al. 2011 Kat. VI.10 Taf. 35 (G. Breitner). 37 Istanbul, Arch. Mus. Inv. 1993. 1994. 1999. 2001. 2002. 2007. 2000. – Manderscheid 1981, 94–95 Nr. 214–220 Taf. 31; Schneider 1999, 8–11; Bol et al. 2011, 88–89 Kat. VI.1–VI.7 Abb. 40–42 Taf. 32 avg (R. Bol). 38 Istanbul, Arch. Mus. Inv. 2003. – Manderscheid 1981, 95 Nr. 222 Taf. 32; Schneider 1999, 12; Bol et al. 2011, 89–91 Kat. VI.8 Taf. 33 (S. Frede). 39 Izmir, Arch. Mus. Inv. 1167. – Milet I 9, 114 Anm. 1; Manderscheid 1981, 96 Nr. 226; Schneider 1999, 7 Anm. 22; 50 Anm. 186 Taf. 67 Nr. 11; Bol et al. 2011, 94–95 Kat. VI.11 Taf. 36. 38 (R. Bol). 40 Istanbul, Arch. Mus. Inv. 2326. – Manderscheid 1981, 94 Nr. 211 Taf. 30; Schneider 1999, 12–13; Bol et al. 2011, 95–96 Kat. VI.12 Taf. 38 (R. Bol). – Istanbul, Arch. Mus. Inv. 2327. – Manderscheid 1981, 96 Nr. 227 Taf. 32; Schneider 1999, 13; Bol et al. 2011, 96 Kat. VI.13 Taf. 39 a (R. Bol). 41 Berlin, Antikensammlung SMB Inv. Sk 1799. – Milet I 9, 110–101 Nr. 4 Abb. 116; Manderscheid 1981, 95 Nr. 221 Taf. 31; Schneider 1999, 12. 24. 29. 43. 50–51. 67–68; ZeitRäume, 201 Nr. 21 (S. Agelidis); Bol et al. 2011, 91–93 Kat. VI.9 Taf. 34 (G. Breitner). 42 Manderscheid 1981, 37 und Schneider 1999, 67–68 gehen von Marc Aurel aus, der zusammen mit Faustina Minor dargestellt gewesen sein soll. 43 Vgl. hierzu auch Schneider 1999, 50–54, der von einer Zweitaufstellung ausgeht. BILD – R AUM – HANDLUNG. DIE FAUS TINATHERMEN IN MILE T 225 Betrachtet man beide Räume – ›Ambulacrum‹ und ›Musensaal‹ – im Zusammenhang, bleibt festzuhalten, dass beide zwar durch eine Türschwelle getrennt und somit als eigenständige Räume zu sehen sind, gleichwohl aber ein enger Zusammenhang erkennbar ist: Beide Räume liegen in einer Flucht, während alle anderen Räume des eigentlichen Badetraktes eher kreisförmig angeordnet sind. Diese enge Verbindung der beiden Räume wurde auch optisch zum Ausdruck gebracht durch einen monumentalen Bogendurchgang zwischen ›Ambulacrum‹ und ›Musensaal‹ mit zwei erst in den 1970er/1980er Jahren zerstörten Gorgoneia auf beiden Seiten des Abschluss-Keilsteins, die die Achse betonten 44 . Wenn der Besucher sich im ›Ambulacrum‹ nach Süden wendete, gelangte er in einen breiten, rechteckigen Raum, dessen Wände durch sieben Strebepfeiler gegliedert waren. Beim Betreten fand sich der Besucher in der nordwestlichen Ecke dieses Raumes 6 wieder45 . Wenn er ihn durchmessen wollte, musste er einen Richtungswechsel vollziehen und sich nach Osten wenden. Die Ostseite des Raumes war visuell und gestalterisch als Hauptansichtsseite besonders durch ein Wasserbassin hervorgehoben, das der Wand vorgelagert war. In dem Becken in der Mittelachse des Raumes war auf einem Postament die Statuengruppe des Weingottes Dionysos mit einem ihn begleitenden Satyrn aufgestellt, die um 160/170 n. Chr. gefertigt worden sein dürfte 46. Auch hier war das Geschlecht wie bei der Statue des Apoll im ›Musensaal‹ und der Statue des Athleten im ›Ambulacrum‹ sorgfältig abgetrennt worden. Sinterspuren auf dem Rücken und der Bodenplatte beider Statuen erklären sich dadurch, dass eine Steigleitung im Rücken der Gruppe Wasser spendete, das dann an den Statuen hinab in das Becken zurückfloss. Die jüngst erfolgten Bauuntersuchungen haben deutlich gemacht, dass Becken, Wasserleitungen und die Aufstellung der Statuengruppe nicht der Erstausstattung des Raumes zugerechnet werden können, sondern erst in einer weiteren Phase erfolgt sein dürften. Der Raum war mit Sicherheit noch nicht Bestandteil des eigentlichen Badetraktes. Er ist weder Teil des kreisrunden Baderundganges noch verfügte er über entsprechende Badeanlagen und -becken bzw. Hypokausten. Für die zunächst von F. Krischen geäußerte Vermutung, es könne sich um das Tepidarium gehandelt haben, spricht deshalb wenig. Wahrscheinlicher wirkt die Annahme Carsten Schneiders, dass hier der Umkleideraum der Anlage lag. Um in den eigentlichen Badetrakt zu gelangen, musste der Besucher Raum 6 von West nach Ost durchschreiten, um sich dann in einem abermaligen Richtungswechsel nach Süden durch eine deutlich markierte Tür in Raum 7 zu begeben 47. Hier erst betrat 44 Milet I 9, 59 Abb. 76 Taf. 17; Schneider 1999, 67 Anm. 306; Bol et al. 2011, 96 Kat. VI.14 Taf. 39 b. c (R. Bol). 45 ZeitRäume, 131–134 (P. I. Schneider). 46 Berlin, Antikensammlung SMB Inv. Sk 1797. – Manderscheid 1981, 93–94 Nr. 210 Taf. 30; Scholl – Maischberger 2007, 197–198 Nr. 117; ZeitRäume, 199 Nr. 20 (S. Agelidis); Bol et al. 2011, 105–108 Kat. VI.20 Taf. 46. 47 (R. Bol). 47 ZeitRäume, 138–139 (P. I. Schneider). 226 ORT WIN DALLY der Besucher den eigentlichen Warmbadetrakt, erkennbar an Hypokausten und einer Tubulatur. Nicht nur aufgrund des Fensters und des damit verbundenen Wärmeverlustes, sondern auch aufgrund des fehlenden Praefurniums an der südlichen Außenseite des Raumes ist aber gleichwohl die These von F. Krischen, dass es sich um das Sudatorium der Thermen gehandelt habe48, nicht zu halten. Statuen wurden in dem Raum nicht gefunden, festzuhalten bleibt allerdings, dass die in nordsüdlicher Richtung verlaufende Längsachse des Raumes sowohl durch die Tür zu Raum 6 als auch durch ein monumentales Fenster in der Südseite des Raumes akzentuiert wurde. Festzuhalten bleibt ferner, dass auf dieses Fenster hin die Bewegung der Besucher ausgerichtet war, bevor sie sich in einem weiteren Richtungswechsel nach Osten wendeten, um den angrenzenden Raum 8 zu betreten. Auch er ist durch Hypokausten und Tubuli als Warmbaderaum charakterisiert. Beleuchtet wurde der Raum durch ein weiteres Fenster an der Südseite, das ebenso wie das Fenster in Raum 7 dem Besucher den Blick nach draußen eröffnete. Die Hauptansichtsseite des Raumes war jedoch die Ostseite, die durch eine Apsis markiert wurde. Diese Apsis hat in Raum 8 kein Pendant, in der Nische stand als einziges in Raum 8 gefundenes Standbild eine weitere Statue einer halb bekleideten Aphrodite mit Hüftmantel 49. Auch sie zeigt Spuren beständigen Wasserflusses. Da der Raum aber keine Wasserleitungen enthielt50, ist die Statue möglicherweise sekundär dorthin gebracht worden oder war nach einem teilweisen Einsturz des Daches Witterungseinflüssen schutzlos ausgesetzt. Sowohl die Apsis als auch die Statue der Aphrodite lenkten nicht nur den Blick des Besuchers auf sich, sondern animierten ihn zugleich, den Raum der Länge nach zu durchmessen. Um diesen Raum zu verlassen, musste der Besucher wiederum einen Richtungswechsel vollziehen und sich nach Norden wenden, er betrat dann durch einen großen Bogendurchgang ein monumentales Caldarium (Raum 9), dessen Wände und Boden mittels Hypokausten und Tubuli erwärmt wurden. Es handelt sich um den größten und aufwendigsten Raum der Badeanlage überhaupt, der an seinen Längsseiten je zwei rechteckige Nischen aufwies, die ihrerseits je eine halbrunde Nische rahmten; diese waren zur Aufnahme von Wasserbecken bestimmt51 . Aufgrund der Fenster oberhalb der Seitenund Ecknischen musste der Raum besonders hell gewesen sein. Leicht verschoben zum Bogendurchgang, aber genau auf die Mitte (?) des Raumes 9 ausgerichtet lag im Norden eine monumentale Apsis, in der ein weiteres, von F. Krischen dokumentiertes Wasserbecken stand. Apsis und Wasserbecken lenkten den Blick und die Bewegungsrichtung 48 Ergebnis der Sondage 10a/2010. 49 Istanbul, Arch. Mus. Inv. 2004. – Milet I 9, 121–122 Nr. 16 Taf. 36 links; Bol et al. 2011, 108–109 Kat. VI.21 Taf. 48. 49 (R. Bol). 50 Möglicherweise enthielt der Raum ein (heute nicht mehr erhaltenes) Wasserbecken, das eigentlich in einem Warmbaderaum zu erwarten wäre. 51 F. Krischen erwähnt Wassernischen in den südlichen Ecknischen und der nordöstlichen Ecknische. In der Grabungskampagne 2010 wurde ein weiteres Wasserbecken in der Südost-Ecke des Raumes entdeckt (Säuberung 27/2010). BILD – R AUM – HANDLUNG. DIE FAUS TINATHERMEN IN MILE T 227 des Besuchers in Richtung Norden. Die im Osten angrenzenden Nebenräume 10–15 und die im Norden angrenzenden Nebenräume 16–18 können hier außer Betracht bleiben, da sie der Versorgung der Thermenanlage mit warmem Wasser dienten und von regulären Besuchern der Badeanlage nicht betreten worden sein dürften. Um vom Warmbade- in den Kaltbadetrakt zu gelangen, mussten sich letztere nach Westen in einen Zwischenraum (5a) begeben, der die nordwestliche der vier rechteckigen Nischen in den Ecken des Caldariums 9 einnahm. Dieser Raum war vermutlich in einer späteren Bauphase durch eine Wand vom Caldarium abgetrennt worden und konnte durch zwei Türen betreten werden, von denen die nördlich zu einem späteren, noch nicht näher zu bestimmenden Zeitpunkt vermauert wurde. Diese Baumaßnahme ging mit einer Unterteilung des Zwischenraums durch eine Schrankenplatte einher. Von dort steuerte der Besucher auf einen weiteren Zwischenraum (5) zu, der auch als Verteilerraum bezeichnet werden kann, da er darüber hinaus Zugänge zum angenommenen Umkleideraum (6) im Süden und dem unbeheizten Frigidarium (4) im Norden bot. Von Osten durch den Zwischenraum 5a kommend musste der Blick des Betrachters zunächst auf eine breite Apsis im Westen des Raumes fallen, der ein quergelagertes Wasserbecken aus Marmor vorgelagert war. In dieser Nische war eine unbekleidete Statue der Aphrodite im Typus der kapitolinischen Venus postiert52 , die wie die Statuen in der ›Musenhalle‹ und dem ›Ambulacrum‹ manipuliert worden war. In einem ersten Schritt waren ihr die Scham und beide Brüste sorgfältig abgemeißelt worden, bevor ihr in einem zweiten Schritt der Kopf und die Arme abgeschlagen worden waren. Das Wasserbecken kann nicht zur Erstausstattung des Raumes gehört haben: Der gesamte Raum war mit einem Marmorboden ausgelegt, von dem sich spärliche Reste entlang der Wände erhalten haben. Er lag auf einem noch gut erhaltenen Estrich auf, der an verschiedenen Stellen Abdrücke von Rahmenprofilen und Kreuzeszeichen erkennen lässt, die sich auf der Rückseite wiederverwendeter Platten des Marmorfußbodens befunden haben müssen. Die Platten des Fußbodens sind demnach frühestens im späten 4. Jh. n. Chr. wiederverwendet worden und gehörten ursprünglich zu einem anderen Gebäude, einem Privathaus oder einer Kirche. Da die Wasserzuleitung zu dem Wasserbecken erst nach der Verlegung des Marmorfußbodens in diesen eingeschlagen wurde, dürfte das Becken noch später anzusetzen sein. Nicht zur ursprünglichen, sondern zu einer späteren Ausstattungsphase des Verteilerraumes 5a zählt ferner ein Wasserbecken aus Spolien in der Südostecke des Raumes, dessen Estrichboden ebenfalls Negativ-Abdrücke von Kreuzeszeichen erkennen lässt. Damit dürfte das Becken, in dessen Sockel weitere Kreuzeszeichen, Buchstaben und Lorbeerzweige eingraviert waren, gleichzeitig mit dem Marmorfußboden oder noch später angelegt worden sein. Visuell besonders akzentuiert war schließlich der Blick in das nördlich angrenzende Frigidarium 4. Die Durchgangstür zu dem Kaltbaderaum wurde von zwei Nischen 52 Istanbul, Arch. Mus. Inv. 1997. – Milet I 9, 122–123 Nr. 17 Taf. 36 rechts; Manderscheid 1981, 94 Nr. 212 Taf. 30; Bol et al. 2011, 113–116 Kat. VI.24 Abb. 40 Taf. 53 (A. Ahle). 228 ORT WIN DALLY gerahmt, die möglicherweise nicht zur Erstausstattung des Raumes gehört haben, sondern sekundär in die Wand eingefügt wurden und vermutlich zur Aufnahme von Statuen bestimmt waren, deren Aussehen und Typus nicht mehr zu erschließen ist53 . Bevor der erwähnte Marmorfußboden in den Raum eingebracht wurde, wurden die Nischen wieder zugemauert. Möglicherweise wurden die Statuen, die in den beiden Nischen standen, andernorts in den Thermen aufgestellt. Der Blick des Betrachters fiel dann, wenn er das Frigidarium 4 von Raum 5 her kommend betrat, auf eine gelagerte Flussgottheit, aus deren Gefäß sich Wasser in das Kaltwasserbecken ergoss54 . Der Flussgott kann nicht ursprünglich an dieser Stelle platziert gewesen sein, nicht auzuschließen ist aber, dass er dennoch zu originären Ausstattung des Raumes (vor einer anderen Wand?) gehörte. Das Wasser, das sich in das Becken ergoss, kam aus einem nördlich gelegenen weiteren Raum (3), der ursprünglich Teil des Kaltwasserblockes war, dann aber in ein Reservoir umfunktioniert wurde. Als man das Arrangement in dieser Form vornahm, wurde eine vorher zu Raum 3 existierende Verbindung zugemauert und mit Marmor vertäfelt. Außerdem wurde, um die Funktion des Raumes 3 als Wasserspeicher zu ermöglichen, eine ursprünglich existierende Verbindung zum ›Ambulacrum‹ ebenfalls zugemauert. Zwei weitere Durchgänge an der Westseite des Frigidariums 4 zum ›Ambulacrum‹ blieben hingegen über die gesamte Nutzungsphase der Thermenanlage bestehen. Der an der Ostseite des Raumes postierte Löwe, aus dessen Maul sich Wasser in das Becken ergoss55, dürfte ebenfalls erst zu einem späteren Zeitpunkt an diese Stelle gelangt sein. Der beschriebene Rundgang vermittelt die eine Abfolge von Stationen innerhalb der Badeanlage, wie sie sich in der hohen Kaiserzeit nach der Erbauung dargestellt haben müssen (Abb. 2). Die Thermen sind jedoch im Laufe ihrer Geschichte mehrfach umgebaut worden. Diese Veränderungen betrafen auch die Ausstattung der Thermen (Abb. 3). Im ›Musensaal‹ wurde erst im 3. Jh. n. Chr. ein Podium eingezogen56. Eine ursprünglich existente Verbindung zwischen Palaestra und ›Musensaal‹ wurde zu einem unbekannten Zeitpunkt ebenso wie die nördliche Tür zwischen Palaestra und ›Ambulacrum‹ in Kammer West 12 verschlossen. Raum 3 wurde in ein Wasserreservoir umfunktioniert, in den Räu- 53 Angesichts der kruden Ausführung an vielen Stellen würde es aber auch nicht verwundern, wenn diese vorgesetzte Nischenschale im Zuge der Errichtung in einem zweiten Schritt ausgeführt worden wäre. 54 Milet, Arch. Mus. Inv. 2136. – Milet I 9, 123–124 Abb. 120; Manderscheid 1981, 93 Nr. 207 Taf. 30; Bol et al. 2011, 109–110 Kat. VI.22 Abb. 40. 44 Taf. 50. 51 (R. Bol). Von der heute im örtlichen Museum auf bewahrten Originalstatue wurde eine Beton-Kopie in den Thermen aufgestellt. Das Gesicht der Statue war bei Auffindung noch intakt und wurde gegen Ende des Ersten Weltkrieges zerstört. – Möglicherweise ist auch die Gruppe eines weiteren Flussgottes mit Nymphe (Istanbul, Arch. Mus. Inv. 1038. – Milet I 9, 124–125 Nr. 19 Abb. 122; Bol et al. 2011, 116–118 Kat. VI.25 Taf. 54 [U. Bolender]) von den Faustinathermen zu ihrem Fundort auf dem türkischen Friedhof verschleppt worden. 55 Milet, Arch. Mus. Inv. 2137. – Milet I 9, 64. 93. 124 Abb. 86–87; Strocka 1977; Manderscheid 1981, 96 Nr. 228; Bol et al. 2011, 110–113 Kat. VI.23 Abb. 44. 45 Taf. 52 (S. Felicia Meynersen). Auch von dieser Statue wurde eine Beton-Kopie in den Thermen aufgestellt. 56 Vgl. hierzu auch die Baubeschreibung von Schneider 1999, 47–49. – s. auch o. Anm. 12. BILD – R AUM – HANDLUNG. DIE FAUS TINATHERMEN IN MILE T 229 men 4, 5 und 6 wurden sekundär Wasserleitungen eingezogen und – damit verbunden – Statuen neu aufgestellt. Raum 7 konnte nach dem Einbau eines zusätzlichen Wasserbeckens in seiner nördlichen Hälfte nicht mehr von Raum 6 betreten werden. Damit war ein Rundgang in der beschriebenen Form nicht mehr möglich. In der letzten Nutzungsphase muss sich der Betrieb auf die Wandelhalle, die Räume 5, 5a, 6 und 7 konzentriert haben. Indiz hierfür sind Sitzbänke aus dem nahegelegenen Stadion, die, nachdem letzteres aufgelassen oder zumindest teilweise aufgegeben worden worden war, in die genannten Räume verbracht und neu aufgestellt wurden. Bemerkenswerterweise sind dies auch durchweg Räume, in denen Statuen gefunden wurden. Letztere weisen ebenfalls Überarbeitungen aus der frühbyzantinischen Zeit auf. Den Statuen des Apoll (›Musensaal‹), des Athleten (›Ambulacrum‹), des Dionysos und des Satyrn (Raum 6) wurde jeweils das Geschlecht abgenommen, der Aphroditestatue aus Raum 5a wurden Scham und Brüste entfernt57. Auch wenn im archäologischen Befund die Ausstattung der Thermen in ihrer letzten Nutzungsphase und nicht zur Zeit der Erbauung fassbar bleibt, müssen die einzelnen Räume schon nach der Erbauung der Thermen unterschiedlich charakterisiert gewesen sein. Zu diesem unterschiedlichen Gepräge der Räume trugen in den Augen des Betrachters verschiedene Faktoren bei: Zunächst musste er während seines Baderundganges permanente Richtungswechsel vollziehen, um in einen angrenzenden Raum zu gelangen. Die beiden einzigen hiervon ausgenommenen Räume sind das ›Ambulacrum‹ und der ›Musensaal‹, die sich zwar in ihrer Ausstattung unterschieden, aber in einer Linie liegen und von daher zum Wandeln, Hin- und Herschreiten einladen. Den Räumen wurde schließlich auch ein unterschiedliches Gepräge durch ihre Ausstattung verliehen. Die Warmbaderäume des Badetraktes verfügten über Vorrichtungen zum Beheizen, die in dem ›Musensaal‹, dem ›Ambulacrum‹ und Raum 6 fehlten, die Warmbaderäume 7 und 8 lagen darüber hinaus an der (wärmeren) Südseite der Thermen. Durch eine höhere Temperatur wurde somit dem Besucher signalisiert, dass er sich hier im Warmbadetrakt aufhielt. Eine besondere Bedeutung dürfte auch das Wasser gehabt haben. Es fehlte vermutlich in dem ›Ambulacrum‹ und dem ›Musensaal‹58. In den Räumen 5 und 6 hat das Wasser die Statuen nach dem Aufbau der Steigleitungen vermutlich eher sanft umspült und in den Becken des Caldariums 9 und des Verteilerraumes 5 vermutlich gestanden oder sanft geplätschert, während das Frigidarium auf den Besucher schon dadurch anders gewirkt haben dürfte, weil das Wasser aus dem Flussgott und der Statue eines Löwens laut plätschernd in das Becken geflossen sein wird. Möglicherweise 57 Vgl. zu diesen Manipulationen, die in Milet nicht nur an Skulpturen aus den Faustinathermen, sondern auch an solchen aus dem Theater und dem Nymphäum beobachtet werden können, jetzt ZeitRäume, 143–153 (O. Dally – A. Scholl); Bol et al. 2011, 11–12. 87. 58 Es ist aber nicht ganz ausgeschlossen, dass in den Kammern des ›Ambulacrums‹ (möglicherweise sekundär eingebrachte) Wasserspiele für Kühlung sorgten. Dafür gibt es einen, wenn auch noch etwas unklaren Befund aus einer 2008 vorgenommenen Schürfung in Kammer Ost 4. 230 ORT WIN DALLY war auch die durch die Nutzer verursachte Geräuschkulisse unterschiedlich59. Sportliche Aktivitäten wurden in der Palaestra vollzogen, für Vorträge bot sich der ›Musensaal‹ an, Konversation konnte sehr gut im ›Musensaal‹ und im ›Ambulacrum‹ betrieben werden. Der einzige Raum mit einem Becken, in das man auch hineinspringen konnte, war das Frigidarium 4. Das Gepräge der Räume wurde schließlich in den Augen der Betrachter auch wesentlich durch die Ausstattung mit Statuen, die im mittleren 2. Jh. n. Chr. entstanden sein dürften bzw. – im Falle des Löwen aus dem Frigidarium 4 – zeitgemäß umgearbeitet worden sind60. Es können unterschiedliche Sinnebenen erschlossen werden, die einen differenzierten Bezug zur Funktion der Räume und damit auch der handelnden Personen erkennen lassen61 . Sämtliche Räume, in denen Statuen geborgen wurden, unterscheiden sich zunächst hinsichtlich der verwendeten Statuentypen und -ensembles: Apoll und die Musen, ein Asklepios, weibliche Statuen, eine Kaiserstatue (?) und Ehrenstatuen im ›Musensaal‹, Ehrenstatuen, die Statue eines Athleten, des Asklepios und der Hygieia im ›Ambulacrum‹, die Gruppe des Weingottes Dionysos mit einem Satyrn in Raum 6, eine halb bekleidete Aphrodite in Raum 8, eine gänzlich unbekleidete Aphrodite in Raum 5 sowie der Flussgott und eine Löwenstatue im Frigidarium 4. Keiner der erhaltenen Statuentypen ist mehrfach nachgewiesen mit einer Ausnahme: Zwar sind Statuen, die den im ›Ambulacrum‹ und ›Musensaal‹ gefundenen Statuenbasen zugewiesen werden könnten, nicht mehr erhalten, die Fußspuren lassen jedoch die Annahme zu, dass hier eine relativ begrenzte Zahl von Ehrenstatuentypen zur Aufstellung gelangt ist. Zu beobachten ist zunächst ein genereller Unterschied hinsichtlich der Ausstattung zwischen ›Musensaal‹/›Ambulacrum‹ auf der einen und Raum 6 (Umkleideraum?) sowie dem Badetrakt auf der anderen Seite. Während sich in letzterem ausschließlich halbnackte oder nackte Idealplastik befand, dürften auf den erhaltene Basen im Musensaal und der Wandelhalle auch bekleidete Ehrenstatuen gestanden haben, das gilt auch für die Panzerstatue des Kaisers (?). Dieser Befund ist zum einen aufschlussreich, da ›Ambulacrum‹ und ›Musensaal‹ vermutlich die Räume waren, in denen sich das Publikum bekleidet aufhielt, wandelte und Speisen einnahm. Statuenstiftungen und Inschriften, aber auch die in diesen Medien zum Ausdruck gebrachten bürgerlichen Werte konnten hier am ehesten betrachtet werden. Zum anderen weil die generelle Aufteilung der Statuen mit kaum bzw. unbekleideten Statuen im Umkleideraum (?) 6 und eigentlichen Badetrakt aussagekräftig ist: Das Thema des Badens, das ja nur teilweise bekleidet bzw. unbekleidet erfolgte, wurde auch optisch zum Ausdruck gebracht. Darüber hinaus wurde auch die fortschreitende 59 Vgl. hierzu auch Sen.epist. 56, 1–2, der schildert, wie er, als er über einem Bad wohnte, aufgrund der vielfältigen Lärmbelästigung zu leiden hatte. 60 Zur Statuenausstattung römischer Thermen vgl. Manderscheid 1981, passim; Brödner 1983a, 132–133; Manderscheid 1988, 37–38; von Hesberg 2005, 180; Manderscheid 2004, 23–24; Schollmeyer 2005, 110–111. 61 Vgl. jetzt auch Bol et al. 2011, 87. BILD – R AUM – HANDLUNG. DIE FAUS TINATHERMEN IN MILE T 231 Entkleidung und damit zugleich – implizit – die Abfolge des Badeprozesses visuell vor allem durch die Statuen der Aphrodite, die generell auf Anmut und Schönheit als Resultat der Körperpflege und des Badens verwiesen, versinnbildlicht. Die im ›Musensaal‹ und ›Ambulacrum‹ gefundenen Köpfe von weiblichen Statuen haben die jeweiligen Göttinen (?) bekleidet oder unbekleidet gezeigt – das ist nicht mehr sicher zu entscheiden. Auffällig ist aber, dass die Göttin oder Faustina Minor (?) im Typus der Aphrodite Fréjus bekleidet dargestellt war. Im Badetrakt fanden sich hingegen keine bekleideten Statuen der Aphrodite mehr. Die in Raum 8 gefundene Statue zeigte die Göttin halbentblößt – nur der Unterkörper war von einem Mantel umhüllt. Die Statue der Aphrodite in Raum 5 zeigte die Göttin schließlich vollkommen unbekleidet. Gleichzeitig wurde dem Besucher durch optische Signale in Form von Nischen, in denen die Statuen des Badetraktes standen, und Fenstern die Richtung seines Rundganges nahegelegt. Bezeichnend ist, dass – sieht man wiederum von dem ›Ambulacrum‹ und dem ›Musensaal‹ ab – Raum 6 und die Räume des Badetraktes eine Hauptansichtsseite hatten, die besonders hervorgehoben war und die den Blick der Besucher, also auch die Richtung seines Ganges lenken sollte. Damit wird ein enger Zusammenhang zwischen physischem Raum und Handlung evident. Darüber hinaus lassen sich Detailbeobachtungen machen: Die Palaestra ist nicht komplett freigelegt worden, insofern sind Aussagen zur Ausstattung des Platzes nicht mit Bestimmtheit zu treffen. Gleichwohl ist auffällig, dass in dem freigelegten Teil, auch wenn sich dieser lediglich auf die östliche Säulenhalle bezieht, keine Statuen gefunden worden sind. Dieser Befund deckt sich mit dem vergleichbarer Anlagen, da der Platz für sportliche Aktivitäten freigehalten werden musste. Musen und die Statue des Apoll unterstreichen die Rolle der Thermen und speziell des ›Musensaales‹ als Ausbildungsstätte und kulturellem Brennpunkt öffentlichen Lebens. Somit ergibt sich ein unmittelbarer Bezug zwischen der im 3. Jh. n. Chr. eingebauten Bühne und den Statuen, die möglicherweise erst zu diesem Zeitpunkt im ›Musensaal‹ aufgestellt wurden. Für die von C. Schneider geäußerte These, dass die weiblichen Statuen im Gefolge des Apoll nicht als Musen, sondern als Nymphen verstanden worden sind62 , spricht meines Erachtens wenig. Der Musensaal verfügte ebenso wenig wie das benachbarte ›Ambulacrum‹ über Wasser, und der von ihm als Beleg angeführte Vers aus der Stifterinschrift des Makarios (s. o.), wonach dieser die Nymphen wieder habe herstellen lassen, ist nichts anderes als in eine für die frühbyzantinische Zeit charakteristische Schilderung der Fertigstellung und der Inbetriebnahme der Thermen als Ganze, in dem vor allem die Wasserversorgung hergestellt wurde63 . Dafür spricht auch die Formulierung, dass sich die Nymphen mit dem 62 Schneider 1999, 52 Anm. 202; 200; Bol et al. 2011, 89–91 Nr. VI.8 Taf. 33 (S. Frede). – Schneider 1999, 54–69 vertritt ferner die (m. E. eher unwahrscheinliche) Ansicht, dass es sich zunächst um einen Kaisersaal gehandelt haben müsse. – Vgl. dagegen jetzt generell Burrell 2006, 437–469. Der geophysikalische Plan von Milet (ZeitRäume, Abb. S. 10–11) lässt auch nicht den Schluss zu, dass ein derartiger Raum an den nicht ergrabenen Teil der Palaestra angrenzte. 63 Vgl. AG 9, 184; Stat. Silv. 1, 5, 23 ff.; CIL V 3106; Busch 1999, 161. 177. 305–306. 232 ORT WIN DALLY Feuer vermischt hätten: ein poetischer Ausdruck für das Beheizen des Bades64 . Sollte die Statuengruppe des Apoll und der Musen bereits im 2. Jh. v. Chr. in dem Raum gestanden haben, in dem sie gefunden wurden, könnte es sich bei diesem Raum auch um das in einer milesischen Orakelanfrage an den Apoll von Didyma aus dem späten 2. Jh. n. Chr. erwähnte Museion in Milet handeln65 . Die Positionierung der frühbyzantinischen Inschriften des Makarios und des Hesychios auf den Türstürzen, die das ›Ambulacrum‹ rahmten, dürfte aufgrund ihrer gelehrten Sprache mit altertümlichen homerischen Formeln speziell diesen Aspekt des ›Ambulacrums‹ und des angrenzenden ›Musensaales‹ besonders hervorgehoben und die Räume zugleich von dem eigentlichen Badetrakt abgehoben haben66. Die Athletenstatue verweist auf einen wesentlichen Teil der Ausbildung in den Gymnasien und Thermengymnasien, der in der sportlichen Ertüchtigung bestand. Die Statue stand im ›Ambulacrum‹, das direkt an die Palaestra angebunden war, wo die sportlichen Übungen vollzogen wurden. Darüber hinaus verwies sie ebenso wie die Statuen des Asklepios und der Hygieia, die sehr häufig in Thermen zu finden sind, auf die Vorstellung, dass das Baden dazu diente, den Körper zu reinigen und gesund zu halten67. Derartige Statuen gehörten nach einer offenbar weit verbreitete Vorstellung auch zu einer angemessenen Ausstattung von Thermenanlagen68. Die Ehrenstatuen und die zugehörigen Inschriften verdeutlichten schließlich in besonderem Maße bürgerliche Werte und Tugenden, zu denen die Jugend in den Thermenkomplexen erzogen wurde69. Hierzu gehörte auch ganz wesentlich ihr Einsatz für die Gemeinschaft, der sich insbesondere in der Stiftung aufwendiger Denkmäler und Bauten wie der Thermen bemerkbar machte70. Dass sie in diesem Engagement es den Kaisern gleichtaten, unterstrichen die Inschriften des Makarios und die vermutliche Statue eines Kaisers im ›Musensaal‹. Die Gruppe des Dionysos und des ihn begleitenden Satyren verweist in einem allgemeineren Sinne auf die Thermen als Orte des Vergnügens, der Unterhaltung und des Luxus, gerade in Milet aber muss auch eine enge Verbindung zwischen der Gottheit und dem Element Wasser gesehen worden sein, wie der Fund von mehreren Satyrn im hochkaiserzeitlichen 64 Vgl. AL 202 (Felix); Busch 1999, 161. 65 Milet, Inschriften-Inv. 1881. – Ehrhardt – Günther 2002, 48–53 Nr. 1 Abb. 1. 2, bes. 52–53; Bol et al. 2011, 82. – Voraussetzung wäre aber, dass die Gruppe tatsächlich schon zur Erstausstattung der Thermen gehörte. Dieser Punkt ist angesichts der Bearbeitungs- und Überarbeitungsspuren der Skulpturen in Verhältnis zu den Maßen der Nischen umstritten. Während Bol (Bol et al. 2011, 81–83 mit Anm. 530; 89 mit Anm. 584) davon ausgeht, dass lediglich die Rückseiten nur summarisch ausgearbeitet worden sind und die Statuen von vorneherein zur Aufstellung im Musensaal auserkoren waren, haben sich Schneider und ihm folgend Ehrhardt – Günther 2002, 52– 54 für eine Aufstellung der Gruppe erst im 4. Jh. n. Chr. ausgesprochen. Zu der Diskussion vgl. auch Zeiträume, 126. 129 (P. I. Schneider) und Anm. 42. 66 Vgl. dazu auch Busch 1999, 155. 159. 67 Manderscheid 1981, 31; Schollmeyer 2005, 111. 68 Vgl. Vitr. 7, 5, 6. – Die Passage (vgl. dazu jetzt Marvin 2oo8, 234–235) ist generell aufschlussreich in Hinsicht auf die Prinzipien der Aufstellung von Skulpturen auf öffentlichen Plätzen. 69 Yegül 1992, 422; von Hesberg 2005, 180. 70 Zum Euergetismus im kaiserzeitlichen Kleinasien vgl. Halfmann 2001. BILD – R AUM – HANDLUNG. DIE FAUS TINATHERMEN IN MILE T 233 Nymphäum an der Agora von Milet zeigt71 . Die Bedeutung des Wassers für die Thermen wurde schließlich in besonderer Art und Weise durch die Flussgottheit im Frigidarium, verbunden mit einem Gestus des Ruhens in Form des über den Kopf geführten rechten Armes, visuell zum Ausdruck gebracht, unterstrichen durch den sprudelnden Bogen, der sich in das Becken ergoss. Zu überlegen wäre, ob nicht durch die Kombination mit dem Löwen auch die Vorstellung eines bestimmten Flusses (des Mäander?) oder eine Anspielung auf das Wappen von Milet evoziert werden sollte 72 . Bemerkenswert ist, dass sich in der Anlage nicht nur bestimmte Sinnebenen erschließen lassen, die in einem Zusammenhang mit der unterschiedlichen Funktion der verschiedenen Räume der Thermen gestanden haben, sondern auch optische und architektonische Signale, durch die die Bewegung und damit das Handeln von Personen teilweise greifbar werden. Der Raum der Thermen mus auch noch in der frühbyzantinischen Zeit von großer Bedeutung gewesen sein. Anders sind die Manipulationen (Entfernung von Genitalien, Scham und Brüsten) an vielen der Statuen nicht zu erklären, die die Annahme nahe legen, dass der Zusammenhang von Bildern, physischem Raum und Handeln auch dann noch gegeben war, als das Christentum verstärkt Bedeutung erlangt hatte. Mit diesem Befund stehen die Faustinathermen in Milet nicht vereinzelt dar: In zahlreichen weiteren Städten Kleinasiens kann ein Gebrauch von Bädern bis in die frühbyzantinische Zeit hinein beobachtet werden. Statuen gehörten unvermindert zum Inventar. Sie wurden einerseits ebenso wie in Milet unter dem wachsenden Einfluss des Christentums zum Schutz vor Dämonen, sofern sie nackt waren, häufig ihrer Genitalien beraubt73, stehen aber andererseits auch für die Fortdauer von Traditionen und Raumempfinden. 71 ZeitRäume, 97–107 (M. Maischberger); Bol et al. 2011, 25–68. 72 Vgl. zu der Diskussion jetzt Bol et al. 2011, 86 mit Anm. 571; 109 zu Kat. VI.22 (R. Bol). 73 Vgl. jetzt Hannestad 2001. – Aphrodisias: Smith 2007, 203–235. – Ephesos: Auinger – Rathmayr 2007, 237–269; Auinger 2011, 67–79. – Zum Problem der Nacktheit vgl. die Überlegungen von Susanne Moraw: Moraw 2008, 113–139. 234 ORT WIN DALLY Bibliographie AG H. Beckby (Hg.), Anthologia Graeca. Griechisch-Deutsch. 4 Bände, 2(München 1965– 1968). AL Anthologia latina sive poesis latinae supplemetum. Pars prior: Carmina in codicibus scripta, recognovit A. Riese, 2 Bände, 2(Leipzig 1984–1986). Band 1, Libri Salmasani aliorumque carmina in der Neubarbeitung von D. R. Shackleton Bailey (Stuttgart 1982). Atik 1995 N. Atik, Die Keramik aus den Südthermen von Perge, IstMitt Beih. 40 (Tübingen 1995). Auinger – Rathmayr 2007 J. Auinger – E. Rathmayr, Zur spätantiken Statuenausstattung der Thermen und Nymphäen in Ephesos, in: F. A. Bauer – C. Witschel (Hgg.), Statuen in der Spätantike (Wiesbaden 2007) 237–269. Auinger 2011 J. 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DIE FAUS TINATHERMEN IN MILE T 239 Bilder als Elemente ritueller Handlungen Klaus Schmidt Die megalithischen Kreisanlagen des steinzeitlichen Göbekli Tepe This article deals with the round structures built on Göbekli Tepe (present-day southeastern Turkey) during the transition from the Epipalaeolithic to the Neolithic period. An important result of the excavations carried out in recent years has been the discovery of a large number of T-shaped, monolithic pillars, which, due to the occasional presence of highly stylized arms and hands depicted in bas-relief, have been positively identified as anthropomorphic stone beings. These pillar-like beings, some over five meters tall, encircle and define this space. Within the space, ritual acts were performed, acts in which liquids have been shown to have played a major role. At the moment, it seems that no precise definition can be given of the relation between the pillar-like beings (including the animals occasionally depicted on them) and the acts that were performed here. But the structures on Göbekli Tepe – like those of many other cultures – may well have been erected in the context of burial rites and in the service of a culture that seeks to triumph over death. Weltweit lebten die Menschen der Altsteinzeit als Wildbeuter, denn die nahrungsproduzierende Lebensweise und die hierfür notwendigen Grundlagen, darunter am wichtigsten: Kulturpflanzen und Haustiere, waren ihnen noch unbekannt. Es war ›die große Zeit der Eiszeitjäger‹, die mit viel Know-how den Herausforderungen der im Pleistozän oft lebensfeindlichen Umwelt trotzten. Mit der ›Eiszeitkunst‹ hinterließen sie uns beeindruckende Zeugnisse einer vielfältigen spirituellen Welt. Naturheilige Plätze, spezielle landschaftliche Formationen, Felsschutzdächer, Höhlen oder auch nur besondere Bäume markierten die Orte, die für die Durchführung sakraler Handlungen genutzt wurden. Auch in der Nacheiszeit, im Holozän, verharren die Menschen in den meisten Teilen der Welt zunächst auf der wildbeuterischen Stufe. In der ›Alten Welt‹ wird diese Phase als Mittlere Steinzeit, als Mesolithikum, bezeichnet. Es folgt die Jüngere Steinzeit, das Neolithikum, dessen wichtigste Neuerung die Nahrungsproduktion darstellt, also eine Änderung der Subsistenzstrategien mit dem Wechsel vom nomadisierenden Wildbeutertum hin zum sesshaften und bäuerlichen Leben. Das Auftreten der neolithischen Lebensweisen erfolgt allerdings in verschiedenen Teilen der Erde zu verschiedenen Zeiten und teilweise unabhängig voneinander. Für den Fortgang der Geschichte in der ›Alten Welt‹ ist der fruchtbare Halbmond Vorderasiens ausschlaggebend. Hier findet in der Zeit um 9000 v. Chr. weltweit gesehen das erste Mal dieser Übergang statt, der die elementaren Grundvoraussetzungen für die späteren urbanen Zivilisationen der Antike bereitet. Die Kernzone der Neolithisierung liegt hierbei im Herzen des fruchtbaren Halbmonds zwischen den Oberläufen von Euphrat und Tigris. Es handelt sich um eine Landschaft, in der die Verbreitungsgebiete der Wildformen all der Pflanzen und Tiere, die im 9. Jt. v. Chr. domestiziert wurden, eine gemeinsame Schnittmenge finden, denn die Domestikation einer Spezies ist natürlich nur in der Heimat der jeweiligen Wildform denkbar. Hier in Obermesopotamien begannen am Ende des 10. Jts. v. Chr. die Menschen mit der Domestikation von Pflanzen und Tieren das sog. neolithische Paket zu schnüren, dessen Besitz DIE MEGALITHISCHEN KREISANL AGEN DES S TEINZEITLICHEN GÖBEKLI TEPE 243 der neuen bäuerlichen, nahrungsproduzierenden Lebensweise zum schnellen Siegeszug und zur Ausbreitung über ganz Europa und Mittelasien hinweg verhelfen sollte. In dieser Kernzone der Entstehung nahrungsproduzierender Lebensformen liegt ein Platz, der unmittelbar nach dem Ende der Eiszeit in der 1. Hälfte des 10. Jts. v. Chr. mit einer spektakulären Befundlage auf den Plan tritt. Es handelt sich um den seit 1995 vom Deutschen Archäologischen Institut erforschten Göbekli Tepe 1 . Hier beschränkt sich die Schöpferkraft des Menschen nicht mehr auf den Auftritt auf einer von der Natur bereiteten Bühne. Erstmals in seiner Geschichte setzt sich der Mensch als Baumeister monumentaler Anlagen in Szene und das Verlangen nach einem ›sakralen Raum‹ wird zu einem gewaltigen Gebilde aus unterschiedlichsten und oft monumentalen Bauteilen aufgetürmt. Errichtet wurden mehrere in ihrer Konzeption weitgehend gleiche Anlagen, die von einem immer wiederkehrenden Element beherrscht werden: den T-förmigen, aus Kalkstein gefertigten, monolithischen Pfeilern, die kreis- oder ovalförmig um zwei besonders große Pfeiler im Zentrum der Anlage aufgestellt wurden (Abb. 1). Der Begriff »Pfeiler« wird hierbei im Sinn der heiligen Pfeiler Altägyptens benutzt, deren bekannteste Vertreter die Obelisken bilden. Diese Pfeiler mussten bekanntermaßen niemals die Last eines darüber aufgetürmten Gebälks und eines Daches tragen, sie ragten völlig unbeschwert und frei in den Himmel. Ob dies auch für die T-Pfeiler des Göbekli Tepe zutrifft, ist allerdings weiterhin noch nicht sicher: Die Frage, ob wir es mit offenen, hypäthralen oder mit überdachten, die T-Pfeiler möglicherweise als Stützen benutzenden Anlagen zu tun haben, ist noch nicht abschließend geklärt. Sie kann aber aus Platzgründen in dem vorliegenden Aufsatz auch nicht weiter vertieft werden. Bei der Behandlung des Themas »Bild – Raum – Handlung« soll im Fall des Göbekli Tepe und der sakralen Anlagen des frühholozänen Obermesopotamiens insgesamt die Frage der Überdachung – ob überhaupt und wenn ja, in welcher Gestalt – ausgeklammert sein. Die Steinkreise des Göbekli Tepe ragen nicht nur durch ihre Monumentalität, nicht nur durch die Vielfalt ihrer künstlerischen Ausstattung mit großformatigen Skulpturen und Reliefs aus den bisher bekannten ›heiligen Stätten der Steinzeit‹ hervor, sie scheinen vielmehr eine Schüsselfunktion im Transformationsgeschehen vom Wildbeuter zum Bauern zu besitzen. Denn die Steinkreise bezeugen mehr als nur die Fähigkeit zur Mobilisierung großer Menschengruppen, ohne deren Arbeitskraft die tonnenschweren Pfeiler nicht hätten hergestellt, transportiert und aufgerichtet werden können. Oft finden sich auf den T-Pfeilern des Göbekli Tepe in Flachrelief dargestellt Tiere, die einzeln oder in verschiedener Kombination vorkommen können, so z. B. Schlangen und Skorpione, Füchse und Wildschweine, Gazellen und Wildesel. Daneben gibt es aber auch abstrakte Symbole. Diese können bisher nicht gedeutet werden, sie illustrieren aber 1 244 Schmidt 1995; Schmidt 2009; Schmidt 2010. KL AUS SCHMIDT Abb. 1 | Göbekli Tepe, das Hauptgrabungsgelände am Südhang mit den monumentalen Anlagen A bis D im Frühjahr 2010 von Norden aus gesehen. DIE MEGALITHISCHEN KREISANL AGEN DES S TEINZEITLICHEN GÖBEKLI TEPE 245 zusammen mit den Tieren offenbar mythische Geschehen, die auf den Pfeilern abgebildet sind und mit diesen Tieren wahrscheinlich in Verbindung stehen. Der Inhalt dieser steinzeitlichen Mythen wird für uns nie mehr als in vagen Umrissen zu erschließen sein und wir können nur vermuten, dass auch hier wie in den durch mündliche oder schriftliche Überlieferung bekannten Mythen der Welt wichtige, letztlich kosmogonische Fragen im Mittelpunkt des Geschehens stehen, wobei wir aber durchaus auch manch pikareske Erzählmotive erwarten können. Auch wenn uns beim Versuch, anhand der überlieferten Bilder die steinzeitlichen Mythen gleichsam wiederzubeleben, enge und nicht ablegbare Fesseln angelegt sind, so können wir doch die Bedeutung der T-Form der Pfeiler glücklicherweise mit großer Sicherheit festmachen. Aufgrund der am Pfeilerschaft manchmal in Relief ausgeführten Arme und Hände sind die Pfeiler als zwar stark stilisierte, dennoch menschengestaltige Figuren zu verstehen. Der T-Kopf bildet den Kopf in Profilansicht, der Pfeilerschaft den Körper. Zwei auf der Bauchseite befindliche, in Flachrelief angegebene Bänder, können als Bekleidungsbestandteil in der Art einer Stola verstanden werden. Da sich die Stola wesentlich öfter als Arme und Hände beobachten lässt, kann man auch für die Pfeiler, bei denen die Darstellung von Armen und Händen fehlt, von einer Bauch- bzw einer Rückenseite sprechen. Deshalb ist festzustellen, dass alle Pfeiler des Kreises auf die Zentralpfeiler hin ausgerichtet sind. Es gilt demzufolge festzuhalten, dass es sich bei den Pfeilern also weniger um architektonische Bauelemente handelt als um Statuen – zwar hochstilisierte Statuen in einer geradezu paläokubistisch zu nennenden Stilrichtung, die erst im frühen 20. Jahrhundert unserer Zeit wieder aufgegriffen wird (ohne dabei zur T-förmigen Stilisierung des menschlichen Körpers zu finden) – und dass es sich bei den Pfeileranlagen weniger um Bauwerke handelt als um Steinkreise. Im Unterschied zu den großen Steinkreisen des atlantischen Europas verbinden allerdings Mauern die im Kreis stehenden Pfeiler, so dass das Innen und Außen deutlich voneinander geschieden werden. Völlig frei stehend aufgestellt sind nur die beiden Zentralpfeiler, die den Raum dominieren. Dass es hier um einen sakralen Raum geht, kann dabei kaum bezweifelt werden. Bemerkenswert ist die Gesichtslosigkeit der Pfeilerwesen. Nie sind Augen oder andere Züge des menschlichen Gesichts dargestellt, immer verbleibt die ›Gesichtsfläche‹ ohne anatomische Details. Allerdings ist sie nicht immer völlig leer. Bei mehreren Pfeilern finden sich Tierreliefs auf der Vorderseite der T-Köpfe, in einem Fall auch ein abstraktes H-förmiges Symbol. In jeden Fall sollte das durchgängige Fehlen anatomischer, das Gesicht wiedergebender Details auf den T-Köpfen als ein Merkmal verstanden werden, das zusammen mit der Monumentalität der teilweise über 5 m großen steinernen Wesen eines anzeigt: Sie sind riesig und entrückt, sie verkörpern Mächte, die ganz offensichtlich einer anderen Welt entstammen, sie gehören einer höheren Sphäre als der diesseitigen an. Die Frage, ob es sich um Götter handelt oder um Ahnen, um Geister oder Dämonen, kann natürlich nicht ohne Weiteres beantwortet werden und im vorliegenden Zusammenhang wird sie auch nicht weiter thematisiert. Denn wir müssen uns in der Frage, wen die T-Pfeiler 246 KL AUS SCHMIDT verkörpern, nicht verbindlich entscheiden, wenn wir der Grundaussage zustimmen: Es handelt sich in jeden Fall um sehr wichtige Wesen, die sich dort im Kreis versammeln. Zu den beiden ersten Elementen der Thematik »Bild – Raum – Handlung« können wir daher mit – vielleicht überraschender – Klarheit wichtige Beobachtungen festhalten. Der sakrale Raum des frühholozänen Obermesopotamiens wird von einer (mehr oder weniger) kreisförmigen Versammlung hochstilisierter menschengestaltiger, ganz offenbar einer jenseitigen Welt zugehöriger Wesen gebildet, die in streng kubischer Form in Stein gehauen mit teilweise über 5 m Höhe die ersten Monumentalstatuen der Menschheit darstellen. Mit Mauern verbunden bilden sie den sakralen Raum und grenzen das Außen vom Innen deutlich ab. Das sakrale Geschehen findet nicht umrahmt von einem Bauwerk statt, die Versammlung selbst formiert sich zum architektonischen Gebilde. Die Bildwelt der Kreisanlage lässt sich hierbei in drei Ebenen gliedern: zuerst die der anthropomorphen T-Pfeiler selbst, die das Geschehen fraglos dominieren, dann die auf den Pfeilern angebrachten Tierreliefs, die mythologische Geschehen zu illustrieren scheinen, und als dritte Ebene die der ›kleinen Zeichen‹, die neben Tiermotiven auch abstrakte Symbole beinhalten2 . Alle drei Ebenen kodieren einen kulturellen Text, der für den steinzeitlichen Menschen lesbar war und der den architektonischen Strukturen und dem so geschaffenen sakralen Raum in großer Intensität aufgeprägt ist. Auch zum dritten Teil des Themas, dem Aspekt der »Handlung«, lässt sich Einiges beitragen, und dies gleich auf zwei Ebenen. Zunächst sind im Inneren der Kreise rituelle Handlungen der steinzeitlichen Menschen zu erkennen. Was da genau stattfand und welche Zwecke damit verfolgt wurden, ist im Dunkel der schriftlosen Vergangenheit natürlich allenfalls noch zu erahnen, doch fand ›etwas‹ statt, denn es gibt Installationen und Befunde, die dies deutlich anzeigen. Bei diesen Handlungen scheinen Flüssigkeiten eine wichtige Rolle zu spielen, da sich mehrfach Steingefäße vor und zwischen den Zentralpfeilern beobachten ließen. In Anlage B befindet sich unmittelbar westlich vor dem östlichen Zentralpfeiler in den Terrazzoboden eingelassen eine flache Kalkschale, in die ein kleiner, in den Rand der Schale eingesenkter Kanal führt (Abb. 2). Ganz offenbar konnte so eine Flüssigkeit in die Schale geleitet werden. Ähnliche Schalen mit Zuleitungskanal im Schalenrand sind am Göbekli Tepe aus sekundärem Kontext mehrfach belegt. Sie erhielten angesichts des Befundes in Anlage B im Grabungsjargon den Begriff »Opferschalen«. Das Fassungsvolumen der Schalen liegt dabei allerdings deutlich unter einem Liter, so dass es sich nicht um große Mengen vergossener Flüssigkeiten gehandelt haben kann. In der ovalen Anlage C wurde im Fußboden keine derartige ›Opferschale‹ angetroffen. Den Fußboden bildet hier der gewachsene Fels, der sorgfältig geglättet und offenbar um mindestens 30 cm abgearbeitet wurde, da im Zentrum des Ovals zwei entsprechend 2 Morenz – Schmidt 2009. DIE MEGALITHISCHEN KREISANL AGEN DES S TEINZEITLICHEN GÖBEKLI TEPE 247 hohe, trapezförmige Podeste zur Aufstellung der Zentralpfeiler von der Absenkung ausgespart blieben. Auf der westlichen Fläche des östlichen Podests befinden sich zwei kreisförmige schalenartige Einsenkungen. Ihnen könnte die Funktion der sog. Opferschale von Anlage B zukommen. Zusätzlich fanden sich auf dem Podest zwei in der Mitte durchlochte Steinteller und ein napfförmiges Steingefäß, dazu noch die Skulptur eines deutlich unterlebensgroßen Keilers (Abb. 3). Die hier durchgeführten Rituale beinhalteten offenbar recht umfangreiche, detailreiche Geschehen. Die Bedeutung des Raums vor und zwischen den Zentralpfeilern im Hinblick auf rituelle Geschehen setzt sich in Anlage F fort. Die Zentralpfeiler sind hier im Unterschied zu den Anlagen A bis E nicht nach Südsüdost, sondern nach Südwest hin orientiert. Vor dem südöstlichen Zentralpfeiler treffen wir auf ein zwar zerbrochenes, ursprünglich aber voluminöses Gefäß. In den Anlage A und D ist der Bereich zwischen den Zentralpfeilern noch nicht bis zum Fußboden ausgegraben – es sollte keine Überraschung sein, wenn auch hier weitere Gefäße angetroffen werden. Die Verwendung von Flüssigkeiten im Rahmen der in den Kreisanlagen vollführten Rituale erklärt möglicherweise auch das offenkundige Bestreben, die Anlagen mit wasserfesten Fußböden auszustatten. In den Anlagen C bis E ist es der sorgsam geglättete gewachsene Fels, bei Anlage B, F und G ein betonartiger, ebenfalls wasserfester Terrazzoboden (in Anlage A wurde der Fußboden noch nicht freigelegt). Die Annahme, dass die Terrazzoböden Felsböden nachzuahmen versuchen, ist dabei sehr naheliegend. Doch ist mit diesen Beobachtungen das Spektrum der in den Anlagen vollführten Rituale bei weitem noch nicht durchmessen und es werden noch viele andere Dinge von Bedeutung gewesen sein. Eine zweite »Handlungs«-Ebene eröffnen die T-Pfeiler selbst. Auch wenn nicht viele mit der in Flachrelief ausgeführten Darstellung von Armen und Händen versehen sind, so kann kein Zweifel daran bestehen, dass die anthropomorphe Gestalt für alle T-Pfeiler gilt und dass der Gestus der V-förmig auf den Bauch gelegten, sich gegenüberstehenden und sich nicht berührenden Hände von allen T-Pfeiler eingenommen wird. Gestische Kommunikation gehört zu den wichtigen Themen der Kognitionsforschung. Leider ist der V-förmige Handgestus der T-Pfeiler noch wenig erforscht, ein Sachverhalt, der um so bedauerlicher ist, als ihm beim Verständnis der Kreisanlagen des Göbekli Tepe eine Schlüsselfunktion zukommt. Die Handdarstellung für sich genommen ist ein vieldeutiges Zeichen. Das Spektrum der Deutungsmöglichkeiten reicht von der Gottes- zur Beterhand, von der Abwehr- zur Grußhand und im anderen Deutungsextrem zur abgeschlagenen Hand des Feindes als Siegeszeichen3. Eine grundsätzlich polyseme Form erlaubt es dem fernen Betrachter nicht, sich auf eine ganz konkrete Deutung festzulegen. Die Vieldeutigkeit des Handzeichens wird allerdings in Fall der T-Pfeiler in ihrer Spannweite erheblich reduziert. Denn es erscheint die Hand ja nicht als Bildzeichen, sondern als Bild, anatomisch eingebunden in die kubische Körperlichkeit der Pfeilerwesen. Ohne 3 248 Vgl. z. B. Jursch 1952; Wollenik 1982. KL AUS SCHMIDT Abb. 2 | Der östliche Zentralpfeiler der Anlage B mit einer in den Terrazzoboden eingelassenen Kalkschale. Abb. 3 | Anlage C, auf dem östlichen Felspodest zwei in der Mitte durchlochte Steinteller und ein napfförmiges Steingefäß, dazu noch die Skulptur eines deutlich unterlebensgroßen Keilers. Frage bemerkenswert ist, dass alle Pfeiler offenbar die gleiche Geste zeigen, denn wir können, wie schon angeführt, recht sicher sein, dass auch die Pfeiler ohne Arm- und Handdarstellungen letztlich den gleichen Gestus einnahmen, einen Gestus, der so selbstverständlich war, dass auf seine bildliche Umsetzung eben auch verzichtet werden konnte. Ist mit diesem Gestus Meditation, ist Gebetshaltung gemeint? Die Welt des Buddhismus z. B. kennt eine Vielzahl von Handgesten 4 , doch fehlt der Gestus der V-förmig sich gegenübergestellten Hände. Auf dem Bauch übereinander gelegte Hände sind in der Malerei des Mittelalters oft bei Frauendarstellungen zu beobachten. Dies wird als Ausdruck weiblicher Schamhaftigkeit verstanden. Aber die Hände der T-Pfeiler sind nicht ruhend übereinander gelegt, sondern stehen sich gegenüber, und es erscheint als sehr wahrscheinlich, dass dieser Unterschied nicht im darstellerischen Unvermögen der 4 Vgl. Seitz 2006. DIE MEGALITHISCHEN KREISANL AGEN DES S TEINZEITLICHEN GÖBEKLI TEPE 249 steinzeitlichen Künstler begründet liegt. Die auffällig positionierten Hände scheinen neben der Stola das einzige darstellungsrelevante Merkmal der T-Pfeiler zu sein (Abb. 4). Durch die Armhaltung könnte man nun annehmen, dass die Hände zur Geschlechtsregion hingeführt werden. Zeigen die Hände etwa auf den Phallus- bzw. die Vagina, auch wenn kein Geschlechtsteil abgebildet ist? Bei der Suche nach Vergleichen zur V-förmigen Handhaltung der T-Pfeiler erinnern wir uns schnell der Monumentalstatuen der Osterinsel, die in ganz ähnlicher Weise in Flachrelief dargestellte und am Körper anliegende, nach vorn gebeugte Arme und auf den Bauch gelegte und sich gegenüberstehende, aber nicht berührende Hände besitzen5 . Doch auch im Fall der Osterinselstatuen, über die wir in vielen Aspekten, so z. B. hinsichtlich ihrer Herstellung und ihres Transports von den Steinbrüchen zu den Aufstellungsorten hin, gut unterrichtet sind, ist wenig über die Bedeutung des an sich auffälligen HandGestus bekannt. So ist nicht völlig klar, ob die Hände ruhen oder ob sie etwas halten, etwas präsentieren, denn aus den vorhandenen Abbildungen wird oft nicht ersichtlich, ob es sich bei bestimmten Objekten, die sich oft zwischen den Händen beobachten lassen, nur um die Knoten eines Hüfttuches handelt oder ob auch das männliche Glied abgebildet ist – und ob sich dieses im eregierten Zustand befindet. So ist sich selbst Heide-Margaret Esen-Baur, die über die Statuen gearbeitet hat, hier offenbar nicht vollkommen sicher und und sie findet zu den Worten: »Zwischen den Händen ist der Knoten des Lendenschurzes, gelegentlich das männliche Glied in Hochrelief gearbeitet […] Vom Gesamteindruck her dürfte es sich bei den Kollossalfiguren um phallische Bildnisse handeln«6. Wenig beachtet wurde auch der Sachverhalt, dass die ›klassischen‹ Monumentalstatuen der Osterinsel knapp unterhalb der Hände gleichsam abgeschnitten, Unterkörper und die Beine nicht dargestellt wurden. Die Unterseite der Statuen ist völlig gerade gebildet, so dass angesichts der großen planen Fläche eine stabile Aufstellung ohne Verankerung möglich war. Auch die steinzeitlichen T-Pfeiler besitzen keine Beine. Sie enden zwar nicht unmittelbar unterhalb der Hände, doch zeigen die Proportionen von Kopf, Oberkörper, Bauch (hier ruhen die Hände) und Schaftunterteil unzweideutig, dass auch hier der untere Körperabschnitt mit den Beinen allenfalls rudimentär und stark verkürzt dargestellt wurde. Der Erkenntniswert der aufgezeigten phänomenologischen Gemeinsamkeiten der Monumentalplastik beider geographisch und zeitlich entfernter Regionen muss vorläufig leider unbestimmt bleiben. Das Beispiel »Osterinsel« wurde deshalb hier ausgebreitet, um aufzuzeigen, dass selbst im Fall der durch ethnographische Daten gut erschlossenen Osterinsel und ihrer Monumentalstatuen der Hand-Gestus der sich gegenübergestellten, sich aber nicht berührenden Hände noch nicht abschließend erforscht zu sein scheint. So verwundert es nicht weiter, dass wir auch bei den steinzeitlichen Vergleichsstücken, die diesen Hand-Gestus aufweisen, über dessen Bedeutung vorläufig keine völlige 5 6 250 Heyerdal 1975; Bothmer-Plates et al. 1989. Esen-Baur 1989, 92 und 93. KL AUS SCHMIDT Abb. 4 | Der östliche Zentralpfeiler der Anlage D mit Armen, Händen, Gürtel und Lendenschurz, Höhe mit Felspodest 5,5 m. Gewissheit erlangen können. Bei der ältesten bekannten vollständig erhaltenen und lebensgroßen menschlichen Plastik, der Urfa-Statue, ist angesichts der hier nicht eindeutigen Erhaltung der in Flachrelief gezeichneten Details nicht völlig klar, ob die Hände das männliche Glied ergreifen, ob sie den Phallus präsentieren7. Doch bei der Kilisik-Statue mit zwei übereinander gereihten Individuen – ins Bild gesetzt sind jedenfalls deren Armpaare – präsentiert das obere der dargestellten Wesen offenbar den Phallus8. Auch beim kürzlich entdeckten sog. Totempfahl vom Göbekli Tepe begegnen wir dieser Arm- und 7 8 Bucak – Schmidt 2003. Hauptmann 2000. DIE MEGALITHISCHEN KREISANL AGEN DES S TEINZEITLICHEN GÖBEKLI TEPE 251 Handhaltung9. Unter einem Raubtier befindet sich eine Person, deren Kopf von den Pranken des Raubtieres gehalten wird. Die Hände der Person sind auf den Bauch gelegt, ganz offenbar ohne etwas zu halten und ohne sich zu berühren. Auch die zweite Person, die unterhalb der ersten dargestellt ist, zeigt diese Arm- und Handhaltung. Zwischen den Händen befindet sich hier aber ein (vergleichsweise großes) Objekt. Es bleibt leider unklar, wie dieses zu deuten ist. Es könnte einen Kopf darstellen, so dass es sich um eine Geburtsszene handeln würde. Es könnte sich aber auch um die Darstellung des Skrotums handeln und eine Bruchstelle am oberen Rand des Objektes die Ansatzstelle des abgebrochenen Phallus anzeigen, den bei dieser Deutungsvariante die Hände ergreifen würden. Das Phallus-Präsentieren kann wie das weibliche Äquivalent, das Schamweisen, als apotropäische Geste verstanden werden 10. Die meisten der von Irenäus Eibl-Eibesfeld und Christa Sütterlin beschriebenen Darstellungen dieser Art wirken stark aggressiv auf den Betrachter. Erika Qasim verweist auf das weitverbreitete Vorhandensein dieses Gestus bei neolithischen Figurinen der Alten Welt 11 . Sie führt u. a. eine weibliche Darstellung aus der Hamangia-Kultur an, die die gleiche Arm- und Handhaltung wie die T-Pfeiler aufweist. Bemerkenswert, dass diese Figurine ohne Kopf und Gesicht, nur mit einem aus den Schultern erwachsenden langezogenen konischen Zapfen angefertigt wurde. Das Schamweisen ist bei diesen Figurinen mit auffallend großen Brüsten kombiniert, so dass Qasim hier in überzeugender Weise eine Verdopplung des Abwehrgestus, ein Verbindung von Brust- und Schamweisen sieht. Ist es die apotropäische Haltung des Phallus- bzw. des Schamweisens, die trotz der Reduzierung des Gestus auf die Hände, trotz der Nichtdarstellung des Genitals den T-Pfeilern zukommt? Ist mit diesem Gestus die Bedeutung der T-Pfeiler gefunden und gehören die Kreisanlagen zu den Strategien zur Bewältigung von Angst, verkörpern die T-Pfeiler in Stein konservierte apotropäische Gesten? Der Gedanke, dass auch die T-Pfeiler diesen Gestus einnehmen, ohne dass das Genital dargestellt wäre, kann nach der vollständigen Freilegung der beiden Zentralpfeiler der Anlage D ausgeschlossen werden. Hier fanden sich neben Armen, Händen und Stola noch weitere Details, die zunächst den Statuencharakter der Pfeiler unterstreichen und deutlich machen, wie sehr »Pfeiler« als Hilfsbegriff zu verstehen ist. Beide Pfeiler tragen einen Gürtel, an dem auf der Bauchseite ein Tierfell als Lendenschurz befestigt ist (Abb. 4). Auch wenn dieser die Genitalregion verdeckt und nicht unmittelbar erkennen lässt, welchem Geschlecht die Pfeilerwesen zugehören, so können wir nach unseren bisherigen ikonographischen Kenntnissen recht sicher sein, dass als Gürtelträger nur Männer in Frage kommen. Da die Hände sich aber über dem Gürtel und dem Lendenschurz befinden, ist mit Sicherheit auszuschließen, dass die Pfeilerwesen als phallische Bildnisse konzipiert waren. 9 10 11 252 Köksal-Schmidt – Schmidt 2010. Eibl-Eibesfeld – Sütterlin 1992. Qasim 2009. KL AUS SCHMIDT Somit lässt sich abschließend feststellen, dass die Frage nach dem Verhältnis von Bild zu umgebendem Raum klar beantwortet werden kann. Die T-Pfeiler und die darauf angebrachten Bilder definieren den Raum, sie selbst formieren sich zum architektonischen Gebilde. Welche Handlungen allerdings in diesem Raum vollführt wurden, welche Auswirkungen die Präsenz der Bilder auf die Art und Weise des Vollzugs der Handlungen hatte ist noch ungeklärt ebenso wie die Frage, inwieweit die Art und Weise der Gestaltung der Bilder und des Raumes eine Folge der dort vollzogenen Handlungen war. Der archäologische Interpret steht vor dem Problem, eine vor 12.000 Jahren kodierte Botschaft dekodieren zu wollen, eine Botschaft, die zudem nicht an ihn adressiert war. Bei der Deutungsarbeit stützen wir uns auf die Annahme, dass die Zeichen bewusst zur Kodierung einer Botschaft geschaffen wurden. Wir können deshalb zuversichtlich sein, dass bei der Fortführung der Ausgrabungen und der zu erwartenden zahlreichen Neufunde in dieser Frage bald bedeutende Schritte hin zu befriedigenden Antworten möglich sein werden – und letztlich steht zu erwarten, dass auch die monumentalen Anlagen des Göbekli Tepe wie die vieler anderer Kulturen im Dienste der kulturellen Überwindung des Todes standen. Bibliographie Bothmer-Plates et al. 1989 A. Graf von Bothmer-Plates – H.-M. Esen-Baur – D. Sauer, 1500 Jahre Kultur der Osterinsel. Schätze aus dem Land des Hotu Matua. Ausstellungskatalog Frankfurt a. M. (Mainz 1989). Bucak – Schmidt 2003 E. Bucak – K. Schmidt, Dünyanın en eski heykeli, Atlas 127, ekim 2003, 36–40. Eibl-Eibesfeld – Sütterlin 1992 I. Eibl-Eibesfeld – C. Sütterlin, Im Banne der Angst. Zur Natur- und Kunstgeschichte menschlicher Abwehrsymbolik (München 1992). Esen-Baur 1989 H.-M. Esen-Baur, Megalithische Steinplastiken und monumentale Architektur, in: A. 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