Bild – Raum – Handlung
Topoi
Berlin Studies of the Ancient World
Edited by
Excellence Cluster Topoi
Volume 11
De Gruyter
Bild – Raum – Handlung
Perspektiven der Archäologie
Herausgegeben von
Ortwin Dally
Susanne Moraw
Hauke Ziemssen
De Gruyter
ISBN 978-3-11-026633-7
e-ISBN 978-3-11-026634-4
ISSN 2191-5806
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o Gedruckt auf säurefreiem Papier
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IV
Inhaltsverzeichnis
ORTWIN DALLY, SUSANNE MORAW, HAUKE ZIEMSSEN
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
TONIO HÖLSCHER
Bilderwelt, Lebensordnung und die Rolle des Betrachters
im antiken Griechenland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
Bild und Naturraum
K ARSTEN L AMBERS
Von Bildern zu Bühnen: Die Geoglyphen von Palpa und
Nasca (Süd-Peru) in ihrem räumlichen und sozialen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
THIERRY AUBRY, LUÍS LUÍS
Umwelt und sozialer Kontext der paläolithischen Freilandkunst
im Côa-Tal (Portugal) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
Bilder im städtischen Raum
ALESSANDRA GILIBERT
Archäologie der Menschenmenge. Platzanlagen, Bildwerke
und Fest im syro-hethitischen Stadtgefüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
HAUKE ZIEMSSEN
Der Herrscher im Tempel. Bild und Inszenierung
im kaiserzeitlichen Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
Bilder als Elemente von Innenräumen
UTE GÜNKEL-MASCHEK
In die Augen, in den Sinn. Wandbilder als konstitutive Elemente
von (Handlungs-)Räumen in der minoischen ›Neupalastzeit‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
INHALTS VER ZEICHNIS
V
ULRICH THALER
Going Round in Circles. Anmerkungen zur Bewegungsrichtung
in mykenischen Palastmegara . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
ORTWIN DALLY
Bild – Raum – Handlung. Die Faustinathermen in Milet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
Bilder als Elemente ritueller Handlungen
KLAUS SCHMIDT
Die megalithischen Kreisanlagen des steinzeitlichen Göbekli Tepe . . . . . . . . . . . . . 243
VI
INHALTS VER ZEICHNIS
Ortwin Dally, Susanne Moraw, Hauke Ziemssen
Einleitung
Von der ›Macht‹, die Bildwerke innehaben, ist in der Archäologie und der Kunstgeschichte seit langem die Rede1. Die modernen Medien haben seit der 2. Hälfte des 20. Jhs. die
Grundlage für eine Renaissance des Bild-Begriffes gelegt, wobei vor allem der Einsatz von
Bildern durch oder für die Politik den kritischen Blick der Forschung schärfte2 . Auch die
Politik selbst ist sich der Wirkung, die Bilder ausüben können, zunehmend bewusst. So
wurde das Bild des im April 2011 getöteten Terroristen Bin Laden durch die US-Regierung
gezielt zurückgehalten, was ex negativo die diesem Bild zugemessene Macht belegte. Am
vorläufigen Ende des »Weltkriegs der Bilder«, den die Ereignisse des 11. September 2001 ausgelöst hatten, stand damit zugleich ein zwar besonnener Akt, in dem sich letzten Endes aber
doch der Anspruch der überlegenen Supermacht inszenierte3. Denn die Medien erhielten
einen höchst bezeichnenden Ersatz für das Bild des Toten: eine sofort weithin verbreitete
Photographie, die den amerikanischen Präsidenten und seine engsten Berater ihrerseits als
Zuschauer der aus der Ferne übertragenen Live-Bilder der Tötung zeigten – ein Bild also,
in dem sich das eigentliche, zurückgehaltene Bild und die mit ihm verbundene Beweiskraft spiegelten, ohne dessen vermeintlich negative Wirkmächtigkeit freizusetzen (Abb. 1).
Die Diskussion über solche gegenwärtigen Bilder prägt zunehmend auch die historischen
Bildwissenschaften, als die sich die Archäologie und die Kunstwissenschaft inzwischen verstehen. Sie suchen nach Möglichkeiten der kulturgeschichtlichen Einordnung: Wie charakterisiert sich und in welcher Weise entstand die Wirkungsmacht vergangener Bilder?
Die Kluft zu den Erkenntnismöglichkeiten bei der Erforschung zeitgenössischer Bilder mit ihrer Suggestionskraft, aber auch ihrer Verbreitung im Internet und Fernsehen
in Sekundenbruchteilen um die ganze Welt ist dabei für Studien zu antiken oder gar
prähistorischen Bildwerken gewaltig. Dennoch ist es notwendig, die genannten Fragen
auch für vergangene Kontexte systematisch anzugehen, da auch sie erhebliches Potential
für eine bildwissenschaftliche Analyse bieten. Der vorliegende Band wagt eine solche Annäherung. Die hier vereinten Beiträge zu Bild, Raum und Handlung gehen auf die gleichnamige Tagung des Exzellenzclusters Topoi im Oktober 2009 zurück. Die Kooperation
zwischen den zwei Cluster-Forschergruppen »Images« (C-II) und »Acts« (C-III) ermöglichte die Einladung von Forscherinnen und Forschern verschiedener archäologischer
1
Vgl. den Titel von Freedbergs Studie »The Power of Images« (Freedberg 1989). In der Klassischen Archäologie ist die »Macht der Bilder« spätestens mit Paul Zankers Buch »Augustus und die Macht der Bilder« (Zanker 1987) zum Schlagwort geworden; vgl. auch Giuliani 2003, 13, mit leichter Kritik an diesem Ausdruck.
2
Vgl. Sauerländer 2004.
3
Vgl. zum »Bilderkrieg« nach ›9/11‹ Bredekamp 2010, 224–230.
EINLEITUNG
1
Abb. 1 | US-Präsident Barack
Obama und Vizepräsident
Joe Biden beobachten gemeinsam mit weiteren Mitgliedern
aus Militär und Regierung die
Aktion gegen Osama bin Laden
am 1. Mai 2011.
Disziplinen und eine übergreifende Diskussion, bei der die drei Schlagworte des Titels
als heuristische Schlüsselbegriffe dienten. Mit ihnen werden Statuen, Wandmalereien,
Münzbilder, Felsreliefs und Geoglyphen als Bestandteile ihres architektonischen oder
naturräumlichen Kontextes erschlossen. Prähistorische, Vorderasiatische und Klassische
Archäologie und ebenso die Geoarchäologie bemühen sich darum, Bilder in einen Bezug
zu Handlungsformen der jeweiligen Gesellschaften zu setzen und damit zugleich ihre
kulturspezifischen Eigenheiten zumindest ansatzweise zu beleuchten. Vom Neolithikum
über die minoisch-mykenische Epoche bis in die römische Kaiserzeit und von Südamerika bis nach Syrien und in die Südosttürkei reichen die Beispiele.
1 Bild und Handlung
Bilder sind Bestandteile von Handlungszusammenhängen. Erst unter dem Blickwinkel
der Einbindung in Handlungskontexte lässt sich die Wirksamkeit eines Bildes definieren.
Damit nähert man sich auch einer Analyse jener Faktoren, die ein Bild überhaupt von einer
textlich oder mündlich übergebenen Mitteilung unterscheiden. Dieser Ansatz erweitert
die Prämissen der Ikonologie, wie sie maßgeblich von Erwin Panofsky formuliert wurden.
Als zentrale Methode der Kunstgeschichte zielt die Ikonologie auf die Erforschung der
symbolischen Bedeutungen und des einstigen Sinnes von Bildern und fügt die formal-stilistische Analyse damit in das ikonographische und zugleich das weitere geistige Umfeld
ihrer Zeit ein 4 . Panofsky beschränkte seine Ikonologie jedoch historisch und gattungsmäßig weitgehend auf die Behandlung der Allegorien der Renaissance, die sich in Rückbezug
4
Panofsky 1939, 3–32. Übergreifend zur »ikonographisch-ikonologischen Methode«: Eberlein 2003; Bachmann-Medick 2007, 337.
2
ORT WIN DALLY, SUSANNE MOR AW, HAUKE ZIEMSSEN
auf Texte deuten ließen5 . Entsprechend gliederte der sog. linguistic turn der 60er und 70er
Jahre Bilder in ein sprachlich geordnetes und wiedergegebenes Bezugssystem ein; auch in
der Klassischen Archäologie werden diese seitdem allgemein als Träger von Wertvorstellungen oder unmittelbar von politischen Aussagen interpretiert6. Doch Bilder sind nicht
nur Zeichenträger mit verschlüsselten Inhalten, die der Forscher lesbar zu machen hat.
Vor allem in jüngeren kunstgeschichtlichen Arbeiten wird darauf hingewiesen, dass die
Wirkungsweise von Bildern noch mit einem anderen Instrumentarium als demjenigen
einer auf intellektuelle, sprachlich gefasste Zusammenhänge gerichteten Wissenschaft erfasst werden müsse7. So entwarf Hans Belting eine »Bild-Anthropologie«, die den Verbindungen zwischen dem »Bild im Kopf und dem Bild an der Wand« nachgeht 8. Mit Belting
lässt sich formulieren, dass es bei Bildern nicht vorrangig um das »›Was‹ im Sinne von
Inhalt oder Thema« geht, sondern vielmehr das »›Wie‹ […] die genuine Mitteilung, […] die
echte Sprachform des Bildes« ist9. Der neben Belting von weiteren amerikanischen und
deutschen Kunsthistorikern seit den frühen 90er Jahren formulierte iconic turn bezieht
neben jenen Disziplinen, die sich selbst als Bildwissenschaften verstehen, wie der Kunstgeschichte oder der Archäologie, auch andere Wissenschaften ein: die Wahrnehmungsphysiologie, die Naturwissenschaften mit ihren bildgebenden Verfahren oder die Philosophie10. Von ethnologischer Seite hat Alfred Gell in seinem posthum 1998 erschienenen
Werk »Art and Agency. An Anthropological Theory« einen umfassenden theoretischen
Entwurf zum Verständnis von Kunst geliefert, die er als »a system of action« ansieht,
»intended to change the world rather than encode symbolic propositions about it«11 . Dieser
Gegenentwurf zu einem Verständnis von Kunst als »Sprache«, ausgestattet mit »symbolischer Bedeutung«, hat auch Widerhall in kunstgeschichtlichen und archäologischen Disziplinen gefunden 12 . Ziel der heute in zahlreichen Kongressen, Forschungsprogrammen
5
Belting 2001, 15.
6
Hölscher 1995, bes. 14. 38–39; Hölscher 2000, 147–148. 151–153.
7
Vgl. Boehm 1994, wo er unter der Überschrift »Die Wiederkehr der Bilder« den »iconic turn« einleitete
und zugleich (ebd. 29–36) die spezifische Qualität von Bildern mit dem Begriff der »ikonischen Differenz«
bezeichnet. Zur Debatte der letzten Jahre vgl. zusammenfassend Bredekamp 2004, 15–17 und Boehm 2004, 35:
»Wer den Text hinter dem Bild aber allzu stark betont, landet unweigerlich bei einer Dominanz der Sprache,
die das Bild – im wörtlichen Sinne – in seinen Möglichkeiten »übersieht«. Für die Klassische Archäologie:
Hölscher 2000, 151. Wiesing 1998, 101 hebt hervor, dass die »Unersetzbarkeit des Bildes […] weniger semiotischer, als vielmehr phänomenologischer Natur [ist]. Man muß sich vor Augen halten: Wenn der Mensch keine
Bilder hätte, würde er zweifelsohne weniger wissen und würde einen großen Verlust an Informationen erleiden. Doch prinzipiell stünden ihm noch andere Zeichensysteme zur Mitteilung und Auf bewahrung von Informationen zur Verfügung; in semiotischer Hinsicht ist das Bild kein unersetzbares Phänomen. Was allerdings
für immer verloren wäre, wenn der Mensch keine Bilder mehr hätte, das wäre die Sichtbarkeit des Abwesenden.«
8
Belting 2001, bes. 11–55 (Zitat: 54). 57–86.
9
Belting 2001, 12.
10
Kunstgeschichte: Mitchell 1994 (mit dem Begriff des »pictorial turn«: ebd. 11–34) und Boehm 1994; Wahrnehmungsphysiologie: Singer 2004; Naturwissenschaften: Heckl 2004. Vgl. Bachmann-Medick 2007, 329–380.
11
Gell 1998, 6.
12
Vgl. insbesondere die Beiträge in Osborne – Tanner 2007.
EINLEITUNG
3
und Internetforen diskutierten bildwissenschaftlichen Ansätze ist die Untersuchung
von Macht und Möglichkeiten, die Bildern gerade im Unterschied zu sprachlichen Ausdrucksformen zukommen13 . Im Exzellenzcluster Topoi nähern sich die beiden Forschergruppen zu »Bildern« und zu »Handlungen« diesen Fragen aus unterschiedlichen Perspektiven. Ausgangspunkt der Forschergruppe »Bilder«/»Images« ist die Frage, wie (rituelle)
Räume in den Kulturen des Vorderen Orients, Griechenlands und Roms zwei- und dreidimensional dargestellt werden konnten. Die Forschergruppe »Handlungen«/»Acts« wiederum stellt die Untersuchung von Sakrallandschaften in das Zentrum ihrer Forschungen. Dabei geht es um die Rekonstruktion komplexer Handlungsräume in der Archäologie
und Ethnologie und um die Handlungen und Bewegungen der Protagonisten des Ritualgeschehens in solchen Räumen. Auch hier spielen Bilder eine besondere Rolle: Die Gegenwart von Bildern beeinflusste rituelle Räume sowohl in ihrer konnotativen Wahrnehmung als auch in ihrer praktischen Nutzung; sie ist zugleich aber auch selbst Ergebnis
kollektiver Entscheidungen und fixiert allgemein anerkannte Sichtweisen auf Bilder in
Form räumlicher Anordnungen 14 . Mit diesen Ansätzen rückt der Handlungszusammenhang von Bildwerken, der ihre Wirkungsformen und ihre Wirkungskraft bestimmt, in
den Mittelpunkt der Forschung. Unterstützt wird diese Annäherung durch die gegenwärtig allgemeine Aufmerksamkeit der Kulturwissenschaften für performative Aspekte 15, die
schon seit längerem in der ethnologischen Forschung vorbereitet worden ist 16.
13
Von den unzähligen Publikationen der letzten Jahre seien hier nur einige erwähnt: Boehm 1994; SachsHombach – Rehkämper 1998; Burda – Maar 2004. Von Bedeutung sind u.a. der Schweizer NFS Bildkritik
(www.eikones.ch) oder die interdisziplinäre Arbeitsgruppe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften »Die Welt als Bild« (http://www.bbaw.de/bbaw/Forschung/Forschungsprojekte/Weltbilder/de/).
14
Vgl. zu den Forschungen dieser beiden Gruppen des Exzellenzclusters Topoi die Beiträge in der elektronischen Zeitschrift eTopoi: Bonatz – Fabricius 2011 und Dally et al. 2011.
15
»Während sich die Textkategorie eher auf die Sedimentation von Bedeutungen richtet, geht es hier um die
Frage, durch welche Handlungsvollzüge (kulturelle) Bedeutungen erzeugt werden.« (Bachmann-Medick 2007,
110). Zur Definition des Performanz-Begriffes und zu seiner Verwendung in der gegenwärtigen Forschungsdiskussion vgl. Martschukat – Patzold 2003; Bachmann-Medick 2007, 104–143. Zur Kunstgeschichte: vgl. u. a. die
Auseinandersetzung mit der Architektur der Kathedrale von St. Denis in Beiträgen der Kongresse von Rom
(»Kunst und Liturgie im Mittelalter«, 1997: Speer 1999) und Lausanne-Fribourg (»Art, Céremonial et Liturgie au
Moyen Age«, 2000: Jacobsen 2002). »[…] Fragen der liturgischen Einrichtung von Kirchen und deren Wandel im
Laufe der Jahrhunderte haben in der kunsthistorischen Forschung bisher erst wenig Beachtung gefunden. Im
Gegenteil, der Blick auf den Raum und die ›reine‹ Architektur als ästhetisches Erlebnis war der kunsthistorischen
Forschung zweckdienlich. […] Die ›lichte Weite‹ des Raumes und die ›luftige Höhe‹, die man hier vorfand, wurden zu Determinanten unserer üblichen Vorstellung von gotischer Architektur, welche das tatsächliche einstige
Geschehen innerhalb dieses Raumes, seine Einrichtung und deren Gliederung weitgehend unbeachtet ließ.«
(Jacobsen 2002, 191–192). Altertumswissenschaften: vgl. u. a. Wallace-Hadrill 1988 zu den Bezügen zwischen der
architektonischen Gliederung römischer Häuser und ihrer gesellschaftlichen Nutzung: »Connections need to be
made between the archaeological and literary evidence […] at the more difficult level of exposing the rhythms of
social life that underlie and are implicit in the physical remains.« (48); außerdem Muth 1998, 49–50; Muth 1999,
bes. 199–209. Zum performativen Aspekt von Herrschaft im augusteischen Rom: Sumi 2005.
16
Für Turner 1986 ist Pilgern ein performativer Prozess, der durch Bewegungen im Raum, rituelle Handlungen, visuelle und auditive Eindrücke sowie sinnliche Wahrnehmungen bestimmt ist.– Vgl. zur Archäologie:
Juwig et al. 2006.
4
ORT WIN DALLY, SUSANNE MOR AW, HAUKE ZIEMSSEN
Für die Bildwissenschaften hat Horst Bredekamp vor kurzem eine methodisch umfassende »Theorie des Bildakts« vorgelegt. Analog zur »Sprechakttheorie« analysiert er,
»welche Kraft das Bild dazu befähigt, bei Betrachtung oder Berührung aus der Latenz
in die Außenwirkung des Fühlens, Denkens und Handelns zu springen«17. Als fruchtbar erweist sich in Hinblick auf den vorliegenden Band insbesondere seine Kategorie des
»schematischen Bildakts«18. Bredekamp fasst unter dieser Kategorie die verlebendigten
Bilder zusammen, insbesondere die tableaux vivants und ihre Vorläufer seit dem Mittelalter sowie die Automaten – »Bilder, die darin musterhafte Wirkungen erzielen, daß sie auf
unmittelbare Weise lebendig werden oder Lebendigkeit simulieren«19. Diese allzu enge
Definition soll hier auf jene Darstellungen von Handlungsabläufen erweitert werden, die
sich realen Handlungen bildhaft unmittelbar anschließen und die Distanz zwischen Bild
und Realität somit bewusst minimieren. Die Statuenikonographie in einzelnen Ambienten kaiserzeitlicher Thermen scheint neben ideellen Mustern auch Handlungsvorgaben
für die Benutzer der jeweiligen Räume übermittelt zu haben (vgl. den Beitrag von Dally).
Stärker noch zeigt sich die schematische Inszenierung in Bildern zeremonieller Akte, wie
sie in den vorderasiatischen, den minoischen und mykenischen und auch den griechischrömischen Kulturen immer wieder auftreten. In unterschiedlicher Brechung stehen sie
in einem formal-ikonographischen Bezug zu realen Handlungsformen. Dies können vor
allem die Beiträge von Gilibert, Günkel-Maschek, Hölscher, Thaler und Ziemssen aufzeigen, die sich mit Darstellungen zeremoniellen Inhalts an solchen Orten beschäftigen,
an denen selbst Zeremonien abgehalten wurden. Die Realität von religiösen Umzügen
oder von Akten der Herrscherehrung, ihrerseits hochgradig inszeniert, fand in den Bildern eine dauerhafte Form. Die symbolische Dimension solcher Darstellungen soll dabei
nicht ignoriert und das Bild einer Zeremonie nicht als deren photographische Wiedergabe
missverstanden werden20. Doch unabhängig von diesen notwendigen Differenzierungen
auf der ikonographischen Ebene wurde die Wahrnehmung solcher ›Handlungsbilder‹ wesentlich in jenen Momenten aktiviert, wenn die ihnen zugrundeliegenden realen Handlungen tatsächlich in unmittelbarer Nähe stattfanden. Eine über solche Wiedergaben sogar noch hinausgehende Eingliederung des Bildwerks in den zeremoniellen Ablauf – im
Sinne ›steinerner Teilnehmer‹ – könnte der Befund am Göbekli Tepe suggerieren (Beitrag
von Schmidt). Vollends als eine Form des tableau vivant stellt sich schließlich die Rekonstruktion von Zeremonien in minoischen und mykenischen Palästen dar, in denen der
Herrscher zum lebenden Teil einer Bildkomposition geworden zu sein scheint (Beiträge von Günkel-Maschek und Thaler)21 . Die Untersuchung derartiger Wechselwirkungen
17
Bredekamp 2010, 52.
18
Bredekamp 2010, 103–169.
19
Bredekamp 2010, 104.
20 Vgl. Hölscher 1980 zur symbolischen Bedeutung der »realistischen« Darstellungen römischer Kunst.
21
Diese »Überlagerung von Bild- und Betrachterraum« beschreibt auch Bredekamp im Zusammenhang
der tableaux vivants (Bredekamp 2010, 119).
EINLEITUNG
5
erfordert in jedem Fall detaillierte Beobachtungen zur Ausgestaltung von Räumen, Bildern und Übergängen zwischen Räumen insbesondere dann, wenn kaum oder keine
Schriftquellen vorliegen22 .
2 Bild und Raum
Die Bedeutung von Bildern gerade als Elementen von Zeremonien und damit von ortsübergreifenden Handlungen verdeutlicht, dass die Verwendung des Handlungsbegriffs in
der Archäologie auch eine Reflexion des archäologischen Raumbegriffes umfassen muss.
Prozessionen schaffen zusammengehörige, wenn auch zeitlich flüchtige Zeremonialräume, die weit über die architektonischen Grenzen von Plätzen und einzelnen Straßenzügen
hinausgreifen können und die durch die formalen Charakteristika von Bildwerken und ihrer Präsentation wesentlich beeinflusst werden23 . Solche »Zeremonialräume« sind dabei
jedoch nur der eklatante Beleg für die Notwendigkeit eines relationalen Verständnisses
von Raum. Der ›Raum‹ von Bildwerken lässt sich nicht auf die Vorstellung eines ›Behälterraums‹ beschränken, der die Bilder selbst und die mit ihnen verbundenen Handlungen
passiv aufnimmt 24 . Bilder sind gerade durch ihre räumliche Präsenz grundsätzlich von
der zeitlich-narrativ sich entfaltenden Sprache unterschieden25 . Als anthropologisch relevante Einheiten (Belting) wandeln sie ihre Bedeutung und Funktion je nach ihrem Bezug
zu den Menschen, die sie erblicken26. Die von einer Statue, einem Wandbild oder einer
Felszeichnung beeinflussten Handlungen sind insofern stets über räumliche Relationen
22 Thaler 2010.
23
Dabei können Bildnisse auch selbst mobiler Bestandteil von Festzügen sein und so in ihrer Bewegung
einen Zeremonialraum schaffen. Historisch gut dokumentierte Beispiele dafür bieten etwa die Umzüge von
Götterbildern in ägyptischen Kultfesten (Assmann 1991), die im römischen Triumphzug transportierten Ereignisbilder oder die mittelalterliche August-Prozession in Rom mit dem Christusbild nach Santa Maria Maggiore
(Belting 1990, 348–368).
24 Der neu entstandene Forschungszweig der »Raumsoziologie« bietet zahlreiche Ansätze dafür, materielle
Eigenschaften von Räumen in ihren Verf lechtungen mit gesellschaftlichen Strukturen zu begreifen. Zum
Perspektivwechsel der Forschung (»spatial turn«) vgl. Bachmann-Medick 2007, 284–328. Grundlegend sind
die Arbeiten von Pierre Bourdieu und (für die deutsche Soziologie) Martina Löw. Vgl. u. a. Bourdieu 1991, 26
zu den Strukturgleichheiten zwischen »sozialem Raum« und »physischem Raum«; der soziale Raum weise
»die Tendenz auf, sich mehr oder weniger strikt im physischen Raum in Form einer bestimmten distributionellen Anordnung von Akteuren und Eigenschaften niederzuschlagen«. Löw 2001, bes. 158–172 verzichtet vollständig auf die Vorstellung eines »physischen Raums«; Raum sei nicht absolut, sondern relational zu verstehen
und konstituiere sich erst durch die gegenseitigen Bezüge von örtlich bestimmbaren Objekten und Personen.
Löw interpretiert Räume sowohl in ihrer Dimension als »Ordnung« für Handeln und damit als Wiedergabe
gesellschaftlicher Strukturen als auch, im selben Moment, im Sinne einer An-Ordnung, die durch Handeln
erst entsteht. – Vgl. auch Jöchner 2008.
25
Belting 2001, 25–26; Hölscher 2000, 148.
26 Belting 2001, 57–65 behandelt diese anthropologische Abhängigkeit unter der Überschrift »Der Ort der
Bilder«.
6
ORT WIN DALLY, SUSANNE MOR AW, HAUKE ZIEMSSEN
Abb. 2 | Die Statue des ehemaligen Bundeskanzlers
Willy Brandt im Berliner WillyBrandt-Haus, geschaffen durch
den Bildhauer Rainer Fetting.
zu begreifen, die zwischen Bildwerk und Menschen vermitteln27. Diesem relationalen
Ansatz steht ein in vielen archäologischen Studien bis heute vorherrschendes absolutes
Raumverständnis gegenüber, das räumliche Angaben nur im Sinne eines architektonisch
bestimmten, zumeist städtischen oder häuslichen Ortes (Straße, Platz, Zimmer) in die
Bildanalyse einbezieht. Zwar sind auch auf dieser Basis aussagekräftige Ergebnisse möglich, indem etwa für römische Bildwerke die Scheidung zwischen der öffentlichen Statuenehrung einerseits und derjenigen im privaten Landhaus andererseits mit den ideellen
Aktionsbereichen des negotium und otium verknüpft werden kann28. Dennoch stehen diese Ansätze in der Gefahr, das Bildwerk aus seiner konkreten Wechselwirkung mit dem
materiellen und sozialen Umfeld zu isolieren. Bei den zeitgenössischen elektronischen
Bildern wird diese Problematik unmittelbar ersichtlich, wenn man ihre weltweite Verbreitung in Rechnung stellt, die sich mit einem absoluten Raumbegriff nicht mehr erfassen
lässt und metaphorische Konstruktionen wie den cyberspace erfordert 29. Doch auch für
scheinbar statische Bildwerke gilt, dass ihr Raum sich nicht als passives Raumgehäuse
verstehen lässt. Ein Beispiel der Gegenwart kann dies verdeutlichen. In der nach dem ehemaligen Bundeskanzler Willy Brandt benannten Parteizentrale der SPD in der Berliner
Wilhelmstraße steht eine Statue Brandts, die der Künstler Rainer Fetting entworfen hat
(Abb. 2). Die Figur ist das bekannteste Objekt in diesem Bauwerk, oftmals photographiert,
27 Paul Zanker hat dies bündig auf den Begriff des »Bild-Raums« gebracht (Zanker 2000, 206).
28 Zanker 2000, 207–214. Die Scheidung zwischen privat und öffentlich, otium und negotium, muss dabei
allerdings ihrerseits stets f lexibel gehandhabt werden und neben den Unterschieden zum modernen Verständnis der Begriffe auch f ließende räumliche Übergänge in Rechnung stellen, wie sie etwa Wallace-Hadrill für die
römische domus herausgearbeitet hat (Wallace-Hadrill 1988; vgl. auch Zanker 2000, 207).
29 Belting 2001, 61–65.
EINLEITUNG
7
Zielpunkt von Besuchergruppen und Gegenstand kunstgeschichtlicher Aufsätze. In einer
Publikation wird die Figur als ein Kunstwerk vorgestellt, das den Charakter des Politikers
nach außen trage und in dem »jeder Betrachter andere Wesenszüge Willy Brandts entdecken« könne30. Doch gerade dieser gewissermaßen statische, bildimmanente Aspekt wird
vom Fernseh- und Zeitungspublikum wohl kaum wahrgenommen. In bewegten und stillen Bildern wurde die Statue vielmehr zum Protagonisten und Kommentator politischer
Aktion: so etwa nach der Niederlage der SPD am Wahlabend des 27. September 2009
als mahnender Alter im Hintergrund, der über die Katastrophe seiner Nachfahren wacht
(Abb. 3)31 . Die Inszenierungen dienen stets der Legitimation durch einen verehrten Übervater; ähnlich verbindet sich Angela Merkel des Öfteren mit Konrad Adenauer. Das Bild
selbst bindet politische Absichten und gesellschaftliche Vorstellungen, Werte und Haltungsideale. All diese Bildinhalte werden aber erst aktiviert durch die Einbeziehung der
Statue auf der Medienbühne. Die Gestik des Politikerbildes scheint die Gestik der Nachfahren bereits vorwegzunehmen; die Pressekonferenz selbst definiert gemeinsam mit der
Statue einen Raum politischer Kommunikation. Bleibender Beleg für diese Verknüpfung
sind die Scheinwerfer, die das Bildwerk auch ohne Menschenmenge zum sichtbaren Zentrum eines – von Zeit zu Zeit aktivierten – Aktionsraums machen. Und erst die medial
vermittelte Handlung macht auch jene formalen Aspekte verständlich, die man mit den
traditionellen Fragestellungen der Kunstgeschichte analysieren würde: die Aufstellung
der Statue im Fluchtpunkt des Foyers und ihre Wiedergabe in rednerischer Aktion.
Die Gegenwart von Bildern verändert Räume somit in ihrer konnotativen Wahrnehmung und genauso in ihrer praktischen Nutzung, wirkt also auf gesellschaftliches Handeln ein. Zugleich ist die Art und Weise der Positionierung eines Bildwerkes auch Ergebnis kollektiver Entscheidungen und fixiert allgemein anerkannte Sichtweisen in Form
räumlicher Bezüge. Indem Bilder etwas darstellen, das sie selbst nicht sind, erheben sie
in heutigen wie in vergangenen Kulturen stellvertretenden Anspruch und erzeugen eine
Spannung zwischen dem Abbild und der umgebenden Realität32 . In Räumen wird diese Spannung aktualisiert und einer Analyse zugänglich, die auch die Handlungsweisen
einer Gesellschaft im Umgang mit Bildern erfasst. Wie die Statue Willy Brandts lassen
sich auch andere Bildwerke nicht ohne die mit ihnen verbundenen, bei der Aufstellung
30 Ronte 1996; Linnekugel 1999.
31
Vgl. dazu die Bemerkungen von Dieter Bartetzko (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.09.2009): »Das
massive Bronzegebilde überragte die beiden Redner nicht nur, es schien sich dank der unvermeidlichen Untersicht aus verschiedenen Perspektiven mal drohend, mal schützend, aber immer übermächtig über sie zu neigen. Das für jedermann sichtbare stumme Wechselspiel von Kunst und Leben dürfte mitgewirkt haben, dass
die Assoziation von der ›Betonmiene‹ des SPD-Vorsitzenden Müntefering die Runde machte.«
32
Vgl. zu diesem Charakter von Bildern Boehm 2004, 32: »Die Macht, die Bildern innewohnen kann, liegt
offenbar auch in ihrer Fähigkeit, Zugänge zu etwas zu öffnen, was tot oder was anderswo ist […]«; vgl. auch
Wiesing 1998, 98. 101: »Nur durch Bilder ist dem Menschen die Möglichkeit gegeben, etwas nicht real Anwesendes sehen zu können. Es gibt keinen anderen Gegenstand, der diese Leistung erbringen könnte, ohne selbst
ein Bild zu sein.«
8
ORT WIN DALLY, SUSANNE MOR AW, HAUKE ZIEMSSEN
Abb. 3 | Der damalige SPDKanzlerkandidat Frank-Walter
Steinmeier und der damalige SPD-Vorsitzende Franz
Müntefering bei der Pressekonferenz in der SPD-Zentrale im
Willy-Brandt-Haus am Abend
der Bundestagswahl am 27. September 2009.
intendierten oder erst nachträglich entwickelten Handlungsabläufe erklären. Für den vorliegenden Band und die in ihm untersuchten archäologischen Kontexte ergeben sich daraus mehrere Leitfragen. In welchem Verhältnis stehen Bilder zum umgebenden Raum?
Welche Handlungen wurden im betreffenden Raum vollführt? Welche Auswirkungen
hatte die Präsenz der Bilder auf die Art und Weise des Vollzugs dieser Handlungen? Und
inwieweit ist die Art und Weise der Gestaltung der Bilder und des Raumes eine Folge der
dort vollzogenen Handlungen?
3 Bild – Raum – Handlung: Die Beiträge des Bandes
Die Analyse von Bildwerken als konstituierenden Elementen von Räumen und als Bestandteilen von Handlungskontexten hat sich in den letzten Jahren national wie international in
einer Vielzahl an Projekten und theoretischen Arbeiten der archäologischen Disziplinen
niedergeschlagen. Die Berliner Tagung führte eine Reihe dieser Vorhaben zusammen33
und verfolgte dabei das Ziel, das methodische Feld von »Bild – Raum – Handlung« für
ausgewählte Epochen im Sinne eines Querschnittes durch die archäologischen Disziplinen exemplarisch zu behandeln. Die vier Kapitel sind daher nicht von geographischen
33
Zahlreiche Autoren wären zu ergänzen. Beispielhaft seien für die Klassische Archäologie genannt: Paul
Zankers grundlegender Beitrag »Bild-Räume und Betrachter im kaiserzeitlichen Rom« (Zanker 2000); Susanne Muth mit ihren Arbeiten zu Mosaiken in den Innenräumen römischer Villen und domus (Muth 1998, 49–
50; Muth 1999, bes. 199–209); Jane Fejfer mit ihrer Studie zu »Roman Portraits in Context« (Fejfer 2008); für
die Vorderasiatische Archäologie: vgl. die Beiträge in Cheng – Feldman 2007, die einen Überblick über den
gegenwärtigen Stand von Methodik und Themen der Bildwissenschaften in diesem Bereich insbesondere in
den USA geben; einschlägige Beiträge verschiedener archäologischer und kunstwissenschaftlicher Disziplinen aus dem angelsächsischen Bereich sind in Osborne – Tanner 2007 vereint.
EINLEITUNG
9
oder chronologischen Kriterien bestimmt. Gliederungsprinzip der Beiträge ist vielmehr
der räumliche Bezug, in dem sich die diskutierten Bilder befanden und sich die rekonstruierten Handlungen abspielten: Naturraum (1), städtischer Raum (2), Innenraum (3)
sowie rituell definierter Raum (4).
Im einleitenden Beitrag des Klassischen Archäologen Tonio Hölscher mit dem Titel
»Bilderwelt, Lebensordnung und die Rolle des Betrachters im antiken Griechenland«
geht der Autor der Frage nach, welche Rolle Bildwerke im gesellschaftlichen Leben der
griechischen Antike spielten. Bildwerke dienten sozialen und kulturellen Bedürfnissen
in bestimmten Situationen; ihre Aufstellung in verschiedenen Lebensräumen stand in
enger Beziehung zu deren Funktionen und wurde von Normen, Gebräuchen, Regeln und
Gesetzen bestimmt. Die Rolle von Bildwerken bestand darin, Personen und Vorgängen,
die in Zeit und Raum weit entfernt waren, eine dauerhafte Präsenz zu geben. Der Umgang der Menschen mit den Bildwerken vollzog sich nicht in einem ›musealen Habitus‹
der interpretierenden Betrachtung in exklusiven Räumen der ›Kunst‹ oder ›Kultur‹, sondern bestand in einem partizipierenden ›Leben mit Bildern‹. Im Kontext des sozialen
Lebens fanden Bildwerke, neben anderen Elementen, Personen und Vorgängen der Lebenswelt, teils größere teils geringere Aufmerksamkeit, je nach ihrer Bedeutung in der
betreffenden Situation. Besondere Beachtung erfordert das Phänomen, dass antike, vor
allem griechische Bildwerke zwar oft deutlich auf Sichtbarkeit hin aufgestellt wurden,
vielfach aber auch erstaunlich wenig Rücksicht auf den Betrachter nehmen. Nach dem
hier begründeten Konzept konstituieren Bilder, zusammen mit anderen Elementen der
Lebenskultur, eine geordnete Welt (»kosmos«), in der der Mensch seine Orientierung
schafft und findet, die aber unabhängig von optimaler Sichtbarkeit eine gewisse Autonomie besitzt.
Das Kapitel zu Bild und Naturraum legt den Schwerpunkt auf die Wirkungsweisen
von Bildwerken in landschaftlichen Zusammenhängen, die architektonisch nicht oder
nur in geringem Maße gestaltet sind. Ausgehend von den Fragen der Sichtbarkeit, Symbolik und praktischen Nutzung werden rituelle Bedeutungen der Bilder gesichert und
ihre Einbindung in zeremonielle Akte bestimmt. Der Geoarchäologe und Altamerikanist
Karsten Lambers beschäftigt sich in seinem Beitrag mit den Geoglyphen von Palpa und
Nasca (Südperu) in deren räumlichen und sozialen Kontext. In einer ersten Phase, der
Paracas-Zeit, wurden Geoglyphen bevorzugt in Hanglage angelegt und ihr Motivrepertoire (vor allem anthropomorphe Wesen) von anderen Medien übernommen. Diese Bilder
müssen im Zusammenhang mit in einer gewissen Distanz ausgeführten, nicht näher
bestimmbaren Handlungen gestanden haben. In der darauffolgenden Nasca-Zeit gingen
die Menschen dazu über, auf den wüstenartigen Fußflächen zwischen den Flusstälern
riesige Geoglyphen in Form von Linien oder anderen geometrischen Mustern anzulegen.
Diese Geoglyphen dienten nunmehr als Bühne für zahlreiche rituelle Handlungen (fassbar etwa anhand von Opferdepots). Diese Riten standen vermutlich in Verbindung mit
der zunehmenden Aridisierung und der Bitte um Wasser und Fruchtbarkeit. Von Bedeu-
10
ORT WIN DALLY, SUSANNE MOR AW, HAUKE ZIEMSSEN
tung war hier nicht mehr so sehr das Bild, die Geoglyphe, sondern die darauf vollzogene
Handlung, in deren Rahmen nun andere Medien die Rolle des Bildträgers einnahmen.
Die prähistorischen Archäologen Thierry Aubry und Luís Luís setzen sich mit den paläolithischen Felsbildern im Côa-Tal auseinander. Entgegen der landläufigen Meinung war
im europäischen Paläolithikum nicht die künstlerische Verzierung von Höhlen die Regel,
sondern die Gestaltung von Bildwerken unter freiem Himmel. Im Gebiet des portugiesischen Côa und seiner Nebenflüsse fanden sich zahlreiche paläolithische Felsbilder, die
vor allem pferde-, rinder-, ziegen- und hirschartige Tiere zeigen. In der ältesten Phase
waren die Bilder auf wenige Anbringungsorte beschränkt und auf größtmögliche Sichtbarkeit angelegt. Sie dienten der Markierung und Monumentalisierung eines Territoriums. Möglicherweise wurde der solcherart hervorgehobene Raum zur (potentiell stets
problematischen) Interaktion verschiedener Gruppen der weiteren Umgebung genutzt.
In einer späteren Phase werden kleinere, aus mehreren Tieren bestehende Szenen bevorzugt, die nur aus der Nähe erkennbar sind. Hier beschränkt sich der markierte Raum auf
die nächste Umgebung des dekorierten Felsens. Es ist anzunehmen, dass auch die mit
diesem Ort verbundenen Handlungen anderer Art waren.
Das Kapitel zu Bildern im städtischen Raum versammelt zwei Beiträge, in denen die
Funktionsweisen von Bildern im zeremoniellen Handeln von Städten des Altertums im
Mittelpunkt stehen. Die Vorderasiatische Altertumskundlerin Alessandra Gilibert untersucht Platzanlagen und ihren Skulpturenschmuck im syro-hethitischen Raum (um 900
v. Chr.). Sie vertritt die Auffassung, dass die Herrscherdynastien der frühen Eisenzeit zeremonielle Platzanlagen im Herzen ihrer Hauptstädte als Bühnen für Rituale ausgestalteten, die große Mengen an Zuschauern einbezogen. Der aufwendige Skulpturenschmuck
der Plätze war auf die hier stattfindenden Ereignisse bezogen und wurde unmittelbar in
diese einbezogen. Die Bilder zeigen an, dass die auf dem Platz vollzogenen Rituale ihren
Mittelpunkt im Kult der königlichen Dynastie, deren Macht und deren Legitimität hatten.
In einigen Fällen deuten sie auch darauf hin, dass Teile dieser Zeremonien einen weniger
formalen oder sogar karnevalesken Charakter gehabt haben könnten. Die Errichtung von
Monumenten trug in großem Maße zur spezifischen Atmosphäre des syro-hethitischen
Platzes bei und diente sowohl der Erinnerung an die rituellen Ereignisse wie auch als
deren eindrucksvoller szenischer Hintergrund. Der Klassische Archäologe Hauke Ziemssen behandelt das Rom des beginnenden 4. Jhs. n. Chr. Ausgehend von einem Münzbild
des Maxentius, das den Kaiser in Interaktion mit der als leibhaftig anwesend dargestellten Göttin Roma in deren Tempel zeigt, diskutiert er kaiserliche Strategien der Selbstinszenierung als gottgleiche Person. Auch wenn die dargestellte Globusübergabe durch
Roma an den Kaiser keine reale Handlung abbildet, referiert sie doch auf zeremonielle Handlungsformen und verortet diese in einem konkreten architektonischen Kontext.
Der Tempelbau wurde von Maxentius restauriert und diente gemeinsam mit einer gegenüber errichteten kaiserlichen Empfangshalle (der Maxentiusbasilika) als Bühne eines
elaborierten städtisch-höfischen Zeremoniells. Das Münzbild greift diese Handlungen
EINLEITUNG
11
auf, entfaltet seine ideologische Aussagekraft aber, entsprechend der Natur des Mediums,
ohne am Ort der Zeremonien selbst präsent zu sein. Die damit konstruierten räumlichen
Bezüge erinnern somit an moderne Phänomene des cyberspace.
Im folgenden Kapitel zu Bildern als Elementen von Innenräumen werden Befundsituationen der minoischen, mykenischen und klassischen Archäologie behandelt. Im Mittelpunkt der Beiträge steht die Frage, inwieweit Bilder auch in eng definierten Baukomplexen Räume schaffen und deren Identität, Bestimmung und Funktion definieren. Die
Klassische Archäologin Ute Günkel-Maschek analysiert das Zusammenspiel von Wandbildern und (Handlungs-)Räumen in der minoischen ›Neupalastzeit‹ und ›Endpalastzeit‹. Figürlich bemalte Wände fanden sich hauptsächlich in Gebäuden des ›palatialen
Architekturstils‹. Im Falle des Palastes von Knossos lassen sich mindestens drei Typen
von Räumen mit jeweils spezifischer Bemalung unterscheiden: Eingangsräume wurden
mit einem heranstürmenden Stier dekoriert; Durchgangsräume mit Prozessionen; der
Thronraum mit antithetischen Greifen, welche sowohl eine Art Erscheinungstür als auch
den Thron rahmten. Die Bilder fungierten also entweder als ein Emblem, welches beim
Betreten des Palastes symbolisch auf die Machtinhaber verwies, oder gaben in idealisierter Form Handlungen wieder, die sich realiter in dem betreffenden Raum abspielten, so
im Fall der Durchgangsräume, oder verliehen der dort vollzogenen Handlung eine ergänzende Bedeutungsebene, wie im Fall der Greifen im Thronsaal: Greifen rahmen in
der minoischen Bilderwelt in der Regel eine Göttin. Die den Thronsaal betretende und
sich auf dem Thron niederlassende Person sollte demnach vermutlich als Epiphanie der
Göttin inszeniert werden. Der ur- und frühgeschichtliche Archäologe Ulrich Thaler kann
zeigen, dass auch die Inszenierung des mykenischen wanax mittels einer ausgefeilten
und normierten Choreographie geschah. Sowohl die architektonische Gestaltung als auch
zahlreiche Elemente der malerischen Ausschmückung der Megara von Mykene, Pylos
und Tiryns stützen die These, dass ein Besucher nach Betreten des Thronraumes nicht
den kürzesten Weg zum Herrscher nahm, sondern im Uhrzeigersinn um den Zentralherd und so erst einmal zur dem Thron entgegengesetzten Seite schritt. Nur von dort
entfaltete das ephemere Bild des thronenden, zumindest in Pylos von Greifen und Löwen
gerahmten, jenseits des von Säulen umstandenen Herdes platzierten wanax seine volle
Wirkung. Nur ausgewählte Besucher durften nach diesem Anblick mutmaßlich noch weiter um den Herd Richtung Herrscher schreiten, eventuell sogar bis direkt an den Thron.
Der Klassische Archäologe Ortwin Dally behandelt die Ausstattung der kaiserzeitlichen
Faustinathermen von Milet, die seit wenigen Jahren von der Antikensammlung Berlin
und dem Deutschen Archäologischen Institut neu untersucht wird. Die seither erfolgte
Erforschung und Darstellung der verschiedenen Phasen des Baus und seiner Ausstattung mit Inschriften, Skulpturen und Graffiti zwischen dem 2. und 7. Jh. n. Chr. erlauben Beobachtungen zum Zusammenhang von Skulpturenausstattung und umgebendem Raum sowie zum Bewegungsablauf der Besucher und den von diesen vollzogenen
Handlungen. Die Abfolge der von den Badegästen aufgesuchten Räume in der Thermen-
12
ORT WIN DALLY, SUSANNE MOR AW, HAUKE ZIEMSSEN
anlage, die dem sogenannten Ringtypus zuzurechnen ist, war von den Erbauern zum Teil
vorgegeben. In frühbyzantinischer Zeit unterlag sie ebenso gewissen Veränderungen wie
die Ausstattung der Räume.
In einem abschließenden Kapitel zu Bildwerken als Elementen ritueller Handlungen behandelt der Prähistorische Archäologe Klaus Schmidt die am Übergang zum Neolithikum
errichteten megalithischen Kreisanlagen auf dem Göbekli Tepe. Die Ausgrabungen der
letzten Jahre haben als wesentliches Element eine große Anzahl T-förmiger, monolithischer Pfeiler zum Vorschein gebracht, die aufgrund der manchmal in Flachrelief dargestellten Arme und Hände als hochstilisierte, anthropomorphe steinerne Wesenheiten
gedeutet werden können. Diese teilweise über 5 m großen Pfeilerwesen umschließen
und definieren den Raum. Im Innern dieses Raumes fanden rituelle Handlungen statt,
bei denen nach Ausweis der Befunde Flüssigkeiten eine große Rolle spielten. Eine genaue Definition der Beziehung zwischen den Pfeilerwesen (samt den auf ihnen gelegentlich abgebildeten Tieren) und den hier vollzogenen Handlungen scheint derzeit nicht
möglich. Doch könnten die Anlagen des Göbekli Tepe – ebenso wie die vieler anderer
Kulturen – letztlich im Kontext von Begräbnisriten und im Dienste der kulturellen Überwindung des Todes gestanden haben.
Der vorliegende Band profitiert in hohem Maße von den Diskussionen der dreitägigen
Konferenz »Bild – Raum – Handlung«, und die Herausgeber danken allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern sowie den mit der Organisation betrauten Personen. Unser Dank
geht ebenso an die anonymen Gutachter des Bandes für ihre hilfreichen Hinweise sowie
an Nadine Riedl für die Organisation des peer review und an Dorothee Fillies für die
kompetente redaktionelle Betreuung. Konferenz und Publikation wurden erst durch die
Förderung im Rahmen des Exzellenzclusters 264 Topoi ermöglicht. Auch dafür unseren
herzlichen Dank.
Die Epochen- und Disziplinen-übergreifende Auseinandersetzung mit bildlichen,
baulichen und textlichen Quellen bietet, so hoffen wir, ›Perspektiven der Archäologie‹ als
einen Ansatz für künftige Forschungen.
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Abbildungsnachweis
Abb. 1: offizielle Photographie, Weißes Haus, Pete Souza; Abb. 2: Photographie
H. Ziemssen; Abb. 3: dpa, Oliver Berg.
18
ORT WIN DALLY, SUSANNE MOR AW, HAUKE ZIEMSSEN
Tonio Hölscher
Bilderwelt, Lebensordnung und die Rolle des Betrachters
im antiken Griechenland
This article addresses the question what role sculptures played in the social life of ancient Greece. Sculptures
met social and cultural needs in specific situations; a close relationship existed between their functions and their
installation in diverse living spaces in accordance with various norms, usages, rules and laws. The role of sculptures consisted in lending a permanent presence to events and personages that were far removed temporally and
spatially. Human interaction with sculptures took place not in a »museal habitus« of interpretive contemplation
exclusively within the confines of »art« or »culture;« rather, it consisted in a participatory »life with images.« In
a social context, sculptures enjoyed, along with other environmental elements, personages and events, a greater
or lesser degree of attention depending on their significance in a given situation. Of particular interest is the
noteworthy fact that although ancient, especially Greek, sculptures were often set up in clearly visible locations,
they could also be installed with surprisingly little consideration for the viewer. Sculptures constituted, along
with other cultural elements, an ordered world (kosmos) in which mankind established and found its bearings,
but a world which, independent of the rules of optimal visibility, possessed a certain degree of autonomy.
1 Räume von Bildwerken in der Antike und heute
Der römische Architekt und Architekturtheoretiker Vitruv mokiert sich über die Bewohner von Alabanda, einer Provinzstadt im südwestlichen Kleinasien: Sie hätten auf der
Agora Standbilder von Diskuswerfern, Läufern und Ballspielern, in ihren Sportstätten
dagegen Statuen von Rechtsanwälten stehen 1 . Die Maßstäbe, von denen er dabei ausgeht,
werden im 4. Jh. v. Chr. von dem athenischen Staatsmann Lykurg bestätigt, der voller
Stolz sagt, auf der Agora seiner Stadt seien ausschließlich Standbilder von Feldherren und
den Tyrannenmördern, nicht aber von Athleten zu sehen 2 . Es gab also Standards, die definierten, welche Art von Bildwerken für welche Orte und Lebensräume angemessen war.
Dabei müssen wir uns freilich hüten, Vitruvs Maßstäbe absolut zu setzen. Denn natürlich hatten die Leute von Alabanda ebenfalls ihre Gründe für ihre abweichende Praxis: Sie
folgten nur anderen Maßstäben. Während in Athen und Rom die Agora bzw. das Forum
bewusst als ein politischer Raum konzipiert wurde, schloss die Stadt Alabanda die athletischen Traditionen Griechenlands in die Gestaltung ihres öffentlichen Zentrums ein.
Die Griechen und Römer lebten, vielleicht mehr als alle anderen Kulturen der Weltgeschichte, mit Bildwerken. Alle Bildwerke hatten ihren Ort in sozialen Räumen. Die Räume
Eine erste Version dieses Textes habe ich im Juli 2007 als Herbert Lutz Gedächtnis Vorlesung an der
Universität München, eine überarbeitete Version im Januar 2008 als Abschiedsvorlesung an der Universität
Heidelberg vorgetragen. In weiterem Zusammenhang wird dies Thema wieder aufgenommen in meinem
Buch »Visual Power in Ancient Greece and Rome«, Sather Lectures 94, 2007 (in Vorbereitung).
1
Vitruv 7, 5, 6 (Tadel aus dem Mund des Mathematikers Lycinus).
2
Lykurg. Leocrates 51.
BILDERWELT, LEBENSORDNUNG UND DIE ROLLE DES BE TR ACHTERS
19
waren dafür maßgebend, welche Bildwerke in ihnen aufgestellt wurden, und umgekehrt
prägten die Bildwerke den Charakter der Räume. Räume und Bildwerke definierten sich
wechselseitig.
Für den Historiker der antiken Kunst bedeutet diese Situation eine Herausforderung ersten Ranges. Denn sie steht im diametralen Gegensatz zu den Bedingungen und
Institutionen des neuzeitlichen Konzepts von ›Kunst‹. In unserer eigenen Vorstellung
ist ein Bildwerk eine Schöpfung der ›Kunst‹, durch die ein ›Künstler‹ einer subjektiven
Vorstellung visuelle Form gibt. ›Freie‹ Kreativität und Subjektivität sind Grundelemente
dieses Konzepts des ›Künstlers‹. Sein Werk drückt durch seine kreativen Formen einen
subjektiven ›Sinn‹ aus, und die Betrachter sind aufgefordert, sich diesen ›Sinn‹ des Werkes durch einen Akt des subjektiven Verstehens anzueignen.
Die spezifischen Räume dieses Konzepts der ›Kunst‹ sind das Museum und das
Buch. Das Museum ist eine Institution, die Kunstwerke und Betrachter in einem autonomen ästhetischen Raum vereinigt. Dort ist das Werk aus seinen ursprünglichen Kontexten und Funktionen herausgelöst und mit anderen Werken in neue ästhetische und historische Kontexte eingeordnet. Ähnlich ist der Betrachter aus dem Kontext seiner sozialen
Welt herausgelöst und in eine Sphäre der ›Kunst‹ versetzt. Dies ist ein Raum der reinen
intensiven Betrachtung, entweder der intuitiven Wahrnehmung oder der intellektuellen
Analyse. Das heißt: Das Museum ist ein Raum einer Haltung, die man als ›musealen
Habitus‹ bezeichnen kann.
Das Buch mit seinen Räumen der Produktion und Rezeption, Schreibtisch und Bibliothek, ist ein Laboratorium, in dem Autoren und Leser die Werke der Kunst nach wissenschaftlichen Kategorien wahrzunehmen und zu interpretieren suchen. Auch hier werden
die Kunstwerke in neue Kontexte eingeführt: Sie werden zu Beispielen für die Geschichte
der Stile, für die Ordnung der Ikonographie, für die Grammatik der Bildsprache gemacht.
Aus heutiger Sicht besitzen diese Kategorien ein großes Potential an historischer Erklärung; sie scheinen uns so evident, dass wir Kunstwerke kaum mehr anders zu sehen
vermögen. Wir müssen uns aber klar machen, dass dies moderne Konstrukte sind, die
wenig damit zu tun haben, warum die Bildwerke in der Antike geschaffen und aufgestellt
und wie sie wahrgenommen wurden. Kein antikes Bildwerk wurde geschaffen, um ein
Schritt in der Stilgeschichte, ein Beispiel einer Ikonographie oder ein Element der Bildsprache zu sein.
Das heißt: Ein angemessener Zugang zu den Werken der antiken Kunst muss zunächst vor allem zum Ziel haben, die Aufstellung und die Funktionen der Bildwerke an
den Orten herauszufinden, für die sie bestimmt waren. Darüber hinaus aber stellt sich die
Aufgabe, die Praxis und die sozialen Lebensformen zu rekonstruieren, die die Wahrnehmung von Bildwerken und den Umgang mit ihnen bestimmten3 .
3
Pionierarbeit in dieser Richtung: Stemmer 1995. Grundsätzlich wichtig: Gell 1998. Dazu Osborne –
Tanner 2007.
20
TONIO HÖL SCHER
2 Die Praxis der Aufstellung von Bildwerken
Im antiken Griechenland hatten alle Bildwerke, in Skulptur, Malerei und anderen Medien,
klar bestimmte Funktionen: als Kultbilder in den Tempeln, Votivgaben in den Heiligtümern, Bildnisse der Toten auf den Gräbern, politische Denkmäler und Ehrenstatuen auf
öffentlichen Plätzen, Ausstattung privater Wohnsitze, Geräte und Gefäße für Ritual und
Lebensvollzug und so fort. Für all diese Bereiche aber gab es bestimmte Praktiken, Regeln
und Normen, die die Herstellung, den Gebrauch und die Wahrnehmung der Bildwerke
prägten 4 . Zwei Beispiele sollen diese Praxis und ihre Folgen erläutern: die Standbilder von
siegreichen Athleten und die Bildnisstatuen von Staatsmännern.
2.1 Athletenstatuen
Die ersten berühmten Personen, die in Griechenland mit öffentlichen Bildnisstatuen geehrt wurden, waren Sieger in den gesamtgriechischen Spielen. Für ihren Ruhm gab es
zwei Bühnen: zum einen die großen Heiligtümer, in denen sie den Sieg errungen hatten,
vor allem Olympia, zum anderen ihre Heimatstädte5 .
In den Heiligtümern entwickelte sich die Errichtung von Athletenstatuen im Rahmen des religiösen Weihgeschenks: als Gabe an die Gottheit zum Dank für den Sieg. Dabei kamen zwei Tendenzen zur Geltung, die umso mehr divergierten, je höher die Ansprüche der Sieger auf öffentliches Prestige waren: Zum einen ging es um den Dank an
die Gottheit, zum anderen um Ruhm für den Sieger selbst. Es ist bekannt, dass athletische Siege in den großen gesamtgriechischen Wettkämpfen außerordentliche gesellschaftliche Anerkennung eintrugen, weit über den Bereich der Athletik hinaus6. In diesem Sinn ist die Sitte der Aufstellung von Siegerstatuen zu verstehen: Standbilder von Siegern waren die beste Möglichkeit, diesen Ruhm über den Augenblick des Sieges hinaus
zu verewigen.
Umso schärfer aber waren die Kontrollen, die dabei ausgeübt wurden: für die Zulassung zu den Wettkämpfen, die Einhaltung der Regeln, die Bestimmung der Sieger – und
besonders für die Errichtung von Standbildern. In Olympia untersagten die offiziellen
Beamten des Kults, die Hellanodiken, jede Form von überzogener Darstellung, sei es im
Format, sei es in eklatanter Ähnlichkeit; sie waren weit strenger bei der Zustimmung zu
Standbildern im Heiligtum als bei der Zulassung von Athleten zu den Kämpfen. Unter
4
Versuch einer Geschichte der griechischen Bildkunst im Rahmen ihrer sozialen Orte und Situationen:
T. Hölscher 2007.
5
Allgemein zu griechischen Athletenstatuen: Rausa 1994; Smith 2007; Scott 2010, 153. 159–162. 189–190.
196–201. 209–210. 213–217.
6
Mann 2001.
BILDERWELT, LEBENSORDNUNG UND DIE ROLLE DES BE TR ACHTERS
21
diesen Voraussetzungen entwickelte sich in Olympia und sicher auch an anderen Orten
eine vielfältige Praxis, die von der Spannung zwischen Dank an die Gottheit und Rühmung der Sieger geprägt ist7:
– Ein siegreicher Athlet konnte unmittelbar nach dem Sieg ein Standbild von sich aufstellen. Das war zunächst ein Akt der Dankbarkeit an die Gottheit. Wenn er mehr
als einmal einen Sieg errungen hatte und jedes Mal eine Statue errichtete, trat der
Aspekt der Selbstrühmung schon mehr in den Vordergrund8.
– Der Ruhm des Sieges war aber nicht nur eine persönliche Sache: Oft wurden Standbilder von athletischen Siegern von ihren Verwandten errichtet. Das konnte sowohl
unmittelbar nach dem Sieg als auch in späterer Zeit, insbesondere durch den Sohn,
geschehen. Daraus wird deutlich, welche Bedeutung athletische Siege für das Prestige der Familie hatten. Berühmte ›Dynastien‹ von athletischen Siegern stellten ihre
Bildnisse nebeneinander auf und bildeten damit große Familiengalerien9.
– Schließlich konnte sogar die Gemeinschaft der Polis einem Sieger eine Statue in einem gesamtgriechischen Heiligtum errichten. Das geschah z. T. lange nach seinem
Tod: So stellte Sparta im mittleren 5. Jh. in Olympia ein Standbild des Chionis auf,
der zwei Jahrhunderte früher dreimal hintereinander gesiegt hatte, zur selben Zeit
als dieselbe Stadt dies Heiligtum auch sonst zur Bühne ihrer politischen Ansprüche
machte10.
In Olympia lässt sich auch ungefähr die Aufstellung der Athletenstatuen erkennen 11 . Sie
wurden vor allem entlang den Wegen der großen Rituale im Heiligtum errichtet: an dem
Weg der großen Prozession vom Eingang im Süden zu dem großen Altar und an den Wegstrecken um den Tempel des Zeus, an dessen Rückseite der heilige Ölbaum stand, von
dem die Zweige für die Siegerkränze geschnitten wurden. Die Standbilder der früheren
Sieger nahmen also an den gemeinsamen Auftritten der Festgemeinschaft teil, als ideale
Zuschauer und zugleich als leuchtende Exempel für die lebenden Teilnehmer.
Daneben konnte die Form der Siegerstatue von den Siegern selbst in ihrer eigenen
Stadt eingesetzt werden, um ihre politische Stellung zu stärken. In Athen mobilisierte
sich offenbar die konservative Faktion um die Mitte des 5. Jhs. gegen Perikles, indem
sie ihren athletischen Ruhm auf der Akropolis durch aufsehenerregende Standbilder in
7
Zum Folgenden s. besonders: Amandry 1957; ferner Gross 1969. – Zu den Hellanodiken: Lukian.
Imagines 11.
8
Weihung unmittelbar nach dem Sieg: Amandry 1957, 63–64, nach mehrfachen Siegen: 64–66.
9
Aufstellung durch Verwandte, gewöhnlich den Sohn: Amandry 1957, 64–67. – In späterer Zeit: Amandry
1957. – Zusammenstellung zu ›Galerien‹: am berühmtesten die Gruppe der Diagoriden von Rhodos: Paus.
6, 5, 1 – 6, 7, 1. Amandry 1957, 67.
10
Paus. 6, 13, 2. Datierung um die Mitte des 5. Jh. durch den ausführenden Bildhauer Myron. Weitere Fälle:
Amandry 1957, 67.
11
s. dazu Herrmann 1988.
22
TONIO HÖL SCHER
Erinnerung brachte: Besonders spektakulär war ein gewisser Pronapes, der sich als Ankläger gegen Themistokles hervorgetan hatte und der seinen vornehmen Anspruch mit
einem Denkmal kundtat, das ihn auf der Quadriga darstellte, und damit seine Siege im
Wagenrennen feierte12 .
Die Praxis der Errichtung von Standbildern für siegreiche Athleten war also vielfältig, sie war gesteuert von klar erkennbaren religiösen Motiven und politischen Zielen.
2.2 Öffentliche Ehrenstatuen
Der nächste Schritt, mit dem herausragenden Bürgern öffentliches Ansehen und gesellschaftliches Prestige verliehen wurde, war die Errichtung öffentlicher Ehrenbildnisse. Diese
Praxis entwickelte sich im 5. Jh. v. Chr. und erhielt in Athen im 4. Jh. eine relativ standardisierte Form. Ehrenstatuen garantierten den dargestellten Personen Präsenz und Gedächtnis im öffentlichen Raum. In den hoch kompetitiven Gesellschaften der griechischen Stadtstaaten waren solche Auszeichnungen wirksame Mittel zur Ausbildung von Macht. Aus
diesem Grund waren Ehrenstatuen Gegenstände von heißen politischen Debatten: Erst in
der Volksversammlung, wo die Entscheidungen über die Errichtung gefällt wurden; später
in öffentlichen Diskursen und politischen Diskussionen, in denen aus unterschiedlichsten politischen Positionen Urteile geäußert und Kommentare abgegeben wurden. Diese
Diskurse waren der Grund dafür, dass die Praxis der Errichtung von öffentlichen Ehrenstatuen immer mehr in kollektiv akzeptierten Formen geregelt wurde: Die Gefahr von Konflikten wurde durch Regulierung und Ausrichtung an Präzedenzfällen eingeschränkt 13 .
Die entscheidenden Fragen, um die es in solchen Debatten ging, waren: Wer sollte
mit einem öffentlichen Ehrenbildnis ausgezeichnet werden? Wer sollte die Ehrung durch
eine Bildnisstatue vornehmen? Wann war der angemessene Zeitpunkt für eine solche
Ehrung, zu Lebzeiten oder erst nach dem Tod? Wo sollte ein Ehrenbildnis errichtet werden? Aus welchen Gründen, d. h. für welche Leistungen und Verdienste war eine öffentliche Ehrenstatue gerechtfertigt? Und schließlich: Wie und in welchen Formen sollten die
Bildnisse die Ehrung zum Ausdruck bringen14?
12
Zu den Athletenstatuen auf der Akropolis von Athen s. Raubitschek 1939, 155–160; Raubitschek 1949, 464;
Keesling 2003, 170–175. Pronapes: Krumeich 1997, 113–114. Weitere Athletenstatuen dieser Zeit von Staatsmännern
der aristokratischen Faktion, Kallias Didymiou: Krumeich 1997, 89–91; Kallias Hipponikou: Krumeich 1997,
91–93. Zu der hier vertretenen politischen Deutung s. Raubitschek 1939, 164. Die Tendenz von Krumeich, bei
diesen Bildwerken eine rein religiöse Motivation zu erkennen und politische Ziele weitgehend auszuschließen
(zusammenfassend Krumeich 1997, 214–215), scheint mir nicht zutreffend zu sein; dazu an anderem Ort.
13
Gründliche Untersuchung der Zeugnisse bei Krumeich 1997, passim. Zur Praxis in Athen s. bereits
Thompson – Wycherley 1972, 155–160. Dazu Tanner 1992; Krumeich 1997, 207–212; Dillon 2006, 101–106;
Tanner 2006, 97–140.
14
Dazu besonders die Schriftquellen, in Ausschnitten gesammelt bei Wycherley 1957, 207–217. Wichtig ist
dabei immer der weitere Kontext in den literarischen Werken.
BILDERWELT, LEBENSORDNUNG UND DIE ROLLE DES BE TR ACHTERS
23
Die Entstehung öffentlicher Ehrenstatuen in Griechenland kann mit zwei Beispielen beschrieben werden, die den Anfangs- und einen ersten Endpunkt bezeichnen. Um
540 v. Chr. weihte ein gewisser Aiakes, Sohn des Brychon, auf Samos ein überlebensgroßes Marmorbildnis von sich selbst, auf einem Thron sitzend, der Göttin Hera, wohl in
ihrem städtischen Heiligtum. Mit einiger Wahrscheinlichkeit kann er als Vater des Tyrannen Polykrates identifiziert werden, jedenfalls muss er einer der führenden Männer von
Samos gewesen sein 15 . Ein Bildnis von sich selbst einer Gottheit zu weihen, war damals
eine geläufige religiöse Praxis; nur der Typus einer thronenden Gestalt und das große Format bezeugen Aiakes’ außergewöhnliche politische Ambitionen 16. – Im Jahr 394 v. Chr.
wurde der athenische Feldherr und Staatsmann Konon von der Volksversammlung seiner
Stadt mit einer Reihe hoher Auszeichnungen geehrt. Die größte dieser Ehren war eine
Bildnisstatue auf der Agora. Ein bekannter Kopftypus eines Strategen mit Helm wurde
gelegentlich als Konon gedeutet; die Gründe dafür sind nicht ausreichend, aber ungefähr
in dieser Weise kann man sich den Kopf des Standbildes vorstellen. Der Körper könnte
nackt gewesen sein, wie bei der Bronzestatuette eines Strategen, die wohl ein großformatiges Original dieser Zeit wiedergibt. Wie dem auch sei, hier war es die institutionelle
Autorität des athenischen Staates, der diese öffentlich-politische Anerkennung im Namen
der gesamten Gemeinschaft der Bürger verlieh 17.
Zwischen diesen beiden Polen wurde die Verherrlichung politischer Leistung und
Macht immer deutlicher vorangetrieben. Ein entscheidender Schritt war die Statuengruppe der Tyrannenmörder Aristogeiton und Harmodios. Sie war von der Gemeinschaft der
Bürger errichtet worden, im politischen Zentrum von Athen, frei von jeder religiösen
Funktion; dort diente sie einzig der Rühmung einer politischen Tat, die der Gründungsmythos der athenischen Demokratie werden sollte. In diesem Sinn standen die Statuen der
Tyrannenmörder als Vorbild am Rand der Stätte der demokratischen Volksversammlung,
die ihr politisches Grundziel in der Abwehr einer neuen Tyrannis sah. Bei den politischen
15
Freyer-Schauenburg 1974, 139–146 Nr. 67.
16
Zur Praxis der Selbstweihung s. die wichtige Studie von Himmelmann 2001. Himmelmann sieht hierin
eine entscheidende, religiöse Wurzel der griechischen Porträtstatue, nicht zuletzt auch der realistischen Darstellungsweise mit individueller Physiognomie. Dagegen sehe ich den entscheidenden Schritt in Richtung auf
eine politische Bedeutung gerade im Abgehen von dieser Praxis in Form der Statuensetzung durch die politische Gemeinschaft. Die Entwicklung individueller Bildnisformen vollzieht sich nicht Schritt für Schritt parallel zu dieser Politisierung, sondern steht in einer signifikanten Spannung zu ihr. Aber im Wesentlichen dienen
diese Formen meines Erachtens der Darstellung – und Anerkennung! – einzigartiger Rollen im öffentlichen
Leben. Das kann hier nicht genauer ausgeführt werden.
17
Bildnis des Konon: Krumeich 1997, 207–208. – Strategen-Typus ›Pastoret‹: Pandermalis 1969, 46–55.
Wegen der Zahl der römischen Kopien offenbar ein in späterer Zeit berühmter Mann. Eine Alternative innerhalb des Zeitraums, der nach dem Stil möglich scheint, wäre Alkibiades; bei ihm möchte man allerdings mehr
jugendliches Charisma erwarten. – Bronzestatuette Hartford: Bielefeld 1962. – Anders Himmelmann 1990,
86–101, der für die Darstellung der Strategen Kleidung annimmt (und die Statuette Hartfort für ein klassizistisches Bild des Ares hält).
24
TONIO HÖL SCHER
Entscheidungen sollte jeder Bürger ein potentieller Tyrannenmörder werden. Wenn man
sich vor Augen hält, dass durchaus noch eine große Gruppe von einflussreichen Anhängern der Tyrannen in Athen lebte, so war die Besetzung der Agora durch ein Denkmal der
Attentäter ein Akt von höchster Brisanz: Es war eine symbolische Vertreibung der Gegner
aus dem politischen Zentrum der Stadt. Die Tyrannenmörder waren das erste eigentlich
›politische Denkmal‹ Griechenlands18.
Die Entstehung des politischen Denkmals ist das eindeutigste Symptom für das,
was Christian Meier die »Entstehung des Politischen« genannt hat 19. Mit dem politischen
Denkmal wird der öffentliche Raum der Agora in einer neuen Weise als ›politischer
Raum‹ definiert.
Die Personen, die mit öffentlichen Ehrenstatuen ausgezeichnet wurden, waren zunächst ausschließlich erfolgreiche Feldherren, wie Konon, der Athen durch einen Seesieg
von der Vorherrschaft Spartas befreit hatte. Spätere Ausweitungen der Ehre waren heftig
umstritten: So wurden einflussreiche politische Redner wie Aischines oder Demosthenes
erst postum mit öffentlichen Bildnisstatuen geehrt 20. Schließlich wurden auch auswärtige Wohltäter des Staates einbezogen: Zuerst der zyprische König Euagoras, weil er Konon
gegen Sparta unterstützt hatte; später drei Könige vom Bosporos, Pairisades, Satyros und
Gorgippos, weil sie Athen mit Kornlieferungen unterstützt hatten 21 .
Dabei gab es eine Hierarchie der Orte. Mehrfach wurde beschlossen, die Wahl des
Standortes den Stiftern oder dem Geehrten zu überlassen. Dabei werden sie eine möglichst wirkungsvolle Aufstellung gewählt haben; in späteren Inschriften heißt es oft, Standbilder für besonders prominente Männer sollten »an dem sichtbarsten Ort« errichtet werden22 . Eine zusätzliche Auszeichnung lag in der Aufstellung in Verbindung mit anderen
berühmten Monumenten. So wurden die Standbilder des Konon und des Euagoras vor der
Halle des Zeus Eleutherios errichtet, des Gottes der Freiheit, der Athen vor den Persern
und anderen Unterdrückern gerettet hatte: ein angemessener Platz für die Männer, die
Athens Unabhängigkeit von Sparta erkämpft hatten. Dass der Feldherr Timotheos dann
neben seinem Vater Konon aufgestellt wurde, ist ein frühes Beispiel für die sukzessive
Entstehung von ›Familiengalerien‹. Ähnlich wurde eine Bildnisstatue des Kallias, der die
berühmte ›Friedens‹-Abmachung mit den Persern ausgehandelt hatte, lange nach seinem
Tod neben dem Altar und dem Standbild der Friedensgöttin Eirene aufgestellt 23 . Und so
fort.
18
Brunnsåker 1971; Fehr 1984; Taylor 1992; F. Hölscher 2010.
19
Meier 1980.
20 Aischines: Richter 1965, II 212–215; Zanker 1995, 51–54. – Demosthenes: Richter 1965, II 215–223; Zanker
1995, 85–89.
2
21
Euagoras: s. o. Anm. 17 zu Konon. – Herrscher vom Bosporos: Deinarch. Demosthenes 43. IG II 653,
40–42. Wycherley 1957, n. 700. 711.
22 Wahl des Standortes: Wycherley 1957, Nr. 278; vgl. 701. 704. – Epiphanestatos topos: Bielfeldt 2012.
23
Konon: s. o. Anm. 17. – Timotheos: Aischin.Ctes. 243. Cornelius Nepos, Timotheus 2, 3. – Kallias: Paus.
1, 8, 2. Dazu Simon 1988, 63–64; Krumeich 1997, 93.
BILDERWELT, LEBENSORDNUNG UND DIE ROLLE DES BE TR ACHTERS
25
Sogar mit Gesetzen griff man ein. Es war verboten, Ehrenstatuen neben den Tyrannenmördern aufzustellen, weil keine andere Person mit diesen Gründerheroen des Staates auf eine Stufe gestellt werden sollte. Nur zwei Ausnahmen wurden gemacht, eben um
diesen Vergleich doch zu suggerieren, für die makedonischen Herrscher Antigonos und
Demetrios Poliorketes nach der Befreiung Athens von der makedonischen Vorherrschaft,
dann für Brutus und Cassius nach dem Mord an Julius Caesar. Diese Taten wurden als
Befreiung von Tyrannis gedeutet, vergleichbar der Tat der Tyrannenmörder24 .
Schließlich wurde eine sehr konkrete Unterscheidung bei der Finanzierung gemacht. Bei prominenten Männern übernahm selbstverständlich der Staat die Kosten für
die Ehrenstatue. Bei weniger bedeutenden Personen aber konnte es auch vorkommen,
dass die Volksversammlung nur die Erlaubnis für eine Ehrenstatue aussprach, die der
Geehrte dann selbst bezahlen sollte25 .
Dies waren die Anfänge einer differenzierten Praxis der Errichtung öffentlicher
Ehrenstatuen, die dann in den folgenden Jahrhunderten bis in die römische Kaiserzeit
weiter entwickelt und gepflegt wurde.
Wenn man diese Bildnisstatuen zusammen sah, so ergaben sie eine historische
Physiognomie des athenischen Staates, mit seinen Gründerheroen, seinen führenden
Staatsmännern und seinen auswärtigen Wohltätern.
Die Bildnisse siegreicher Athleten und ruhmreicher Staatsmänner bezeugen ein umfassendes Phänomen der griechischen Bildkultur. Bildwerke verschiedenster Art stellten
›Bilder-Welten‹ dar, die die Lebensräume der menschlichen Gesellschaften mit Sinn erfüllten. Das gilt nicht nur für die politischen Räume der Agora, sondern auch für die sakralen
Räume der Heiligtümer, für die Gedenk-Räume der Nekropolen und für die privaten Räume des Wohnens. Darum noch ein Beispiel aus einem großen griechischen Heiligtum.
2.3 Schatzhaus von ›Sikyon‹
Im Apollon-Heiligtum von Delphi wurde eine Serie von Reliefs aus archaischer Zeit gefunden, die als Serie von Metopen ein Schatzhaus geschmückt haben müssen, d. h. einen
kleinen Bau, der ein wertvolles Weihgeschenk einer Stadt barg; die Zuweisung an die
Stadt Sikyon ist nicht sicher, aber wahrscheinlich. Auf diesen Reliefs sind Mythen dargestellt, die für die betreffende Stadt offenbar paradigmatische Bedeutung hatten26.
Zwei dieser Mythen stellen große kollektive Unternehmen dar, wie sie auch in der
Lebenswelt der archaischen Zeit hoch geschätzt waren. Ein Bild eines Ebers stammt aus
einer Schilderung der Jagd auf den Eber von Kalydon, zu der sich mythische Helden aus
24 Verbot: Thompson – Wycherley 1972, 159. – Antigonos und Demetrios: Diod. 20, 46, 2. – Brutus und
Cassius: Cass.Dio 47, 20, 4.
2
25
Asandros (Makedone, Reiterstatue): IG II 450, b 7–12.
26 Knell 1990, 18–23; T. Hölscher 2009, 58–61.
26
TONIO HÖL SCHER
vielen Städten vereinigt hatten. Gleichzeitige Vasenbilder können die ursprüngliche Komposition veranschaulichen. Dieser Mythos konnte als Vorbild für die gegenwärtigen Gesellschaften dienen, so wie etwa verschiedene Städte sich im sog. Heiligen Krieg zum
Schutz von Delphi gegen die Stadt Phokis zusammengeschlossen hatten. Da Jagd und
Krieg in archaischer Zeit als eng verwandte Bereiche männlicher Bewährung angesehen
wurden, konnte die kalydonische Jagd zum mythischen Muster gemeinsamer Kriegszüge
werden. Dabei wird in den gleichförmigen Bewegungen der Jäger ein Ethos der koordinierten Aktionen, des Zusammenhalts und der Gleichheit vor Augen gestellt, das grundlegend für die archaischen Gesellschaften war.
Eine andere Metope schilderte die Fahrt des Schiffes Argo mit vielen Helden zum
fernen Kolchis, wo sie das goldene Vlies rauben sollten. In diesem Mythos sind die Seefahrten kühner Adeliger in ferne Länder präfiguriert, bei denen sich Handel, Piraterie
und Landgewinnung zu einem Ideal expansiver Kühnheit verbanden. Auch hier war der
Gemeinschaftsgeist der mythischen Helden aus allen Teilen Griechenlands ein Vorbild
für die kollektive Solidarität gegenwärtiger Seefahrer.
Weitere Metopen rühmten mythische Muster persönlichen Heldenmuts. Die Dioskuren Kastor und Polydeukes stehlen gemeinsam mit den Brüdern Idas und Lynkeus eine
große Herde von Rindern. Auch hierin wird eine Tugend gepriesen, die in der Gegenwart
der archaischen Zeit hoch im Kurs stand: Gewaltsamer Rinderraub war damals noch eine
übliche Praxis, vor allem in den Grenzzonen zwischen den Stadtstaaten, wo immer wieder
Konflikte zwischen reichen Herdenbesitzern sich zu Kriegen zwischen größeren politischen
Gemeinschaften entwickelten. Der Raub von Rindern galt als Beweis von männlichem Mut,
für den große Helden das Vorbild abgaben: Achill war der berühmteste individuelle Rinderräuber, die Brüderpaare auf den delphischen Reliefs tun dasselbe in koordinierter Solidarität.
Selbst der wilde Mythos von Zeus, der sich der schönen Königstochter Europa in Gestalt eines Stieres nähert, sie abschleppt und liebt, spricht ein zentrales Thema der archaischen Gesellschaft an: die Hochzeit und das Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Das
Grundkonzept der Hochzeit, das in diesem Mythos präfiguriert war, war der Raub der Braut
durch den Bräutigam. Solche frühen rituellen Praktiken stehen hinter dem Mythos des
Helden Peleus, der die Meeresgöttin Thetis im Ringkampf bändigt, so wie in der Lebenswelt die ›wilden‹ Züge junger Mädchen für ihre Rolle als Herrin des Hauses und Mutter der
Kinder ›gezähmt‹ werden sollten. Im Mythos der Europa wird ein anderer Aspekt gezeigt: die
Einwilligung einer schönen jungen Frau, sich von dem Stier davontragen zu lassen, der die
höchste Virilität verkörpert und dabei Zeus, den mächtigsten aller Bräutigame, einschließt.
Der Bildschmuck dieses Schatzhauses ist weit mehr als eine Sammlung von ›interessanten‹ Mythen, er ist ein ganzer Kosmos von Grundkonzepten der archaischen Gesellschaften. Dieser Kosmos diente als ideeller Rahmen für das große verlorene Weihgeschenk an den Gott, für den der Bau errichtet worden war. Die Stadt, die das Schatzhaus
stiftete, hat dafür keine spezifischen Mythen aus der eigenen Vergangenheit gewählt,
sondern sich als Vertreterin und Protagonistin von mythischen Leitbildern präsentiert,
BILDERWELT, LEBENSORDNUNG UND DIE ROLLE DES BE TR ACHTERS
27
die allgemeine Geltung besaßen. In diesem Sinn aber hat das Schatzhaus im Heiligtum
von Delphi eine präzise Funktion: Es bewirkt die Präsenz der Stadt mit ihren zentralen
Leitvorstellungen vor der gesamtgriechischen Öffentlichkeit in diesem Heiligtum, gewissermaßen als Verstetigung der vornehmen Gesandtschaften, die die Bürgerschaft bei den
großen Festen repräsentierten.
In diesem Sinn sind alle figürlichen Weihgeschenke, in großen wie in kleinen Formaten, in den Heiligtümern zu verstehen. Sie alle sind Teil eines vielfältigen Zusammenspiels von Bildwerken, die die verschiedensten Stifter errichteten und die mehr und mehr
zu einer komplexen Bilderwelt zusammenwuchsen. Das Spektrum der Möglichkeiten ist
weit und es änderte sich von Epoche zu Epoche. Zur selben Zeit, als das Schatzhaus von
›Sikyon‹ gebaut wurde, stellte die Stadt Argos in Delphi Standbilder ihrer Helden Kleobis
und Biton auf, die ein leuchtendes Exempel der Sohnesliebe dargestellt hatten: Hier präsentierte sich eine Stadt mit ihren eigenen Vertretern als Muster für ganz Griechenland.
Die Stadt Naxos dagegen errichtete eine hohe Säule mit einer Sphinx, die als unheimliches Wesen der wilden Natur dies Heiligtum als Ort der göttlichen Ordnung bewachte 27.
Individueller Ruhm, allgemeine Leitbilder und göttlich-mythische Machtwesen ergaben
einen ständig sich wandelnden und erweiternden religiösen Raum, in dem die lebenden
Menschen die Rituale ihrer Lebensordnung vollzogen.
Dies ist ein Grundphänomen der antiken Bildkunst. Alle Bildwerke im antiken Griechenland und Rom, die Kultstatuen in den Tempeln, die Weihgeschenke in den Heiligtümern, die Bilder auf den Gräbern und so fort, erfüllten klar bestimmbare Funktionen,
an bestimmten Orten und in bestimmten Situationen des sozialen Lebens. Überall gab es
Gebräuche und Normen, Regeln und Vorschriften, die die Praxis der Aufstellung und den
Umgang mit den Bildwerken bestimmten.
3 Die Rolle von Bildwerken im gesellschaftlichen Leben
Wie konnten die Bildwerke diese Funktion im gemeinschaftlichen Leben erfüllen? Der
eigentliche Sinn eines Bildwerks in der Antike war: ›präsent‹ zu machen. Ein Bild hat die
Kraft, Personen und Gegenstände aus der Distanz des Raumes und der Zeit in die Welt
der lebenden Menschen zu versetzen 28.
Diese Kraft, etwas unmittelbar vor Augen zu führen, ist die wichtigste Leistung
von Bildern gegenüber den in anderer Hinsicht überlegenen Texten. Dass sie nicht nur
für die Antike gilt, kann ein Vorgang aus unserer eigenen Zeit belegen. Vor einigen Jahren fiel die Prinzessin Caroline von Monaco vom Pferd und erregte damit eine Flut von
27 Kleobis und Biton: Rolley 1994, 168–170; Bol 2002, 143–145 Abb. 212 a–d (D. Kreikenbom). – Sphinx der
Naxier: Amandry 1953, 1–32; Bol 2002, 169 Abb. 244 a–c (D. Kreikenbom).
28 Zum Folgenden s. allgemein: Niemeyer 1996; Steiner 2001.
28
TONIO HÖL SCHER
Medienberichten. Daraufhin verklagte sie mehrere Zeitschriften wegen »Verletzung ihrer äußeren Privatsphäre«. Da der Fall internationale Dimensionen annahm, ging er in
verschiedenen Ländern bis in die höchsten Gerichtshöfe. In Deutschland entschied man
eindeutig: Caroline sei eine Person von öffentlichem Interesse, daher sei die Berichterstattung zulässig. Differenzierter urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte:
Geschriebene Reports seien zuzulassen, aber Photographien bedürften der Zustimmung
der betroffenen Person. Offenbar waren die Richter der Meinung, dass Bilder ein höheres
Potential der Vergegenwärtigung und damit auch der Verletzung besäßen als Texte29 .
In der Antike wurden die Götter, die in weiter Ferne lebten, durch Bildwerke in den
Tempeln und in den Lebensräumen der Menschen ›präsent‹ gemacht. Mythische Heroen
und verstorbene Vorfahren wurden über die Distanz der Zeit in die Welt der Gegenwart
versetzt. Zeitgenössische Personen von öffentlicher Bedeutung wurden in den städtischen
Zentren in Bildnisstatuen vor Augen gestellt, wo sie in corpore nicht immer gegenwärtig
sein konnten. Die Bildwerke stellten eine ideale Gemeinschaft von Göttern und Heroen,
verstorbenen und lebenden Menschen dar, innerhalb derer die gegenwärtige Gesellschaft
ihre kulturelle und ethische Orientierung definieren und ihre Lebenspraxis ausrichten
konnte.
Diese Kraft der Bilder, ›Präsenz‹ zu schaffen, beruht auf ihrer erstaunlichen Lebendigkeit. Mit Bildwerken ging man um wie mit lebendigen Wesen. Das gilt zunächst für
die Bilder von Göttern, über die nur wenige bekannte Züge in Erinnerung zu rufen sind.
Die Kultbilder aus den Tempeln wurden z. T. in Prozessionen herumgetragen, in Flüssen
und an der Meeresküste rituell gewaschen, mit Duftölen gesalbt, mit Kleidern angetan
und mit Schmuck ausgestattet, als wären sie die Gottheit selbst. Von Götterbildern wurde berichtet, dass sie die Köpfe bewegt, Tränen geweint oder Blut geschwitzt und damit
Zustimmung oder Abweisung in bestimmten Situationen kund getan hätten. Solche
Praktiken und Vorstellungen sind nicht auf eine urtümliche Frühzeit beschränkt, sondern blieben bis in späte Zeiten lebendig. Die Epheser schickten ein Bild ihrer Göttin
Artemis als Gesandte nach Rom zum Kaiser Caracalla, um ihm eine Bitte vorzutragen.
Die bekannte Geschichte von einem jungen Mann, der sich in das Bild der Aphrodite von
Praxiteles verliebte und sich nachts mit ihr in ihrem Tempel einschließen ließ, ist nur
eines von vielen Beispielen eines weit verbreiteten Topos30.
Der mythische Prototyp dieser Vorstellungen ist der Ur-Bildhauer Daidalos, dessen
Bildwerke angeblich gefesselt werden mussten, damit sie nicht davonliefen. Umgekehrt,
und noch erstaunlicher, ist eine Stelle bei Euripides, wo die Troianerkönigin Hekabe Agamemnon um Gnade anfleht und sich wünscht, in ihren Armen, Händen, Haaren und
dem Gang ihrer Füße, eine Stimme zu haben, »durch die Kunst des Daidalos oder eines
29 Stürner 2005.
30 Allgemein: Scheer 2000, 44–148; Bettinetti 2001; Steiner 2001; F. Hölscher 2004; F. Hölscher 2005;
Chaniotis in Vorbereitung. – Artemis von Ephesos als Gesandte zu Caracalla: SEG XXXI 955. – Aphrodite von
Knidos: Ps-Lukian, Amores 11–16. Dazu allgemein Olmos 1992.
BILDERWELT, LEBENSORDNUNG UND DIE ROLLE DES BE TR ACHTERS
29
Gottes«, dass sie alle zusammen weinend seine Knie umfassten und ihm mit vielfältigen
Worten ihre Klage vortrügen. Während also die Bildwerke des Daidalos voll wunderbaren
Lebens sind, wird hier sogar umgekehrt die Lebendigkeit einer wirklichen Person mit der
Ähnlichkeit zu einem Bildwerk des Künstlers beschworen31 .
Ähnlich ›lebend‹ sind Bildwerke von menschlichen Wesen. Noch aus dem 5. Jh.
v. Chr. wird berichtet, der berühmte Athlet Theagenes von Thasos habe einen persönlichen Feind gehabt, der sich nach seinem Tod an ihm rächte, indem er seine öffentliche
Bildnisstatue auf der Agora täglich auspeitschte – bis das Bildwerk zurückschlug, auf ihn
fiel und ihn tötete. Die Söhne des Opfers erhoben Anklage gegen das Bildwerk wegen
Mordes, sie bekamen Recht und die Thasier warfen das Standbild zur Strafe ins Meer.
Bald danach wurden sie von einer Hungersnot heimgesucht, woraufhin sie das Orakel in
Delphi befragten und die Antwort erhielten, sie sollten alle Exilierten in die Stadt zurückholen. Das taten sie, doch die Hungersnot wiederholte sich. Auf eine neue Anfrage kam
aus Delphi die Antwort, sie hätten Theagenes vergessen. Daraufhin fischten sie dessen
Standbild aus dem Meer und stellten es wieder auf. Sie verehrten Theagenes’ Bild über
Jahrhunderte und der Held dankte ihnen mit wirkungsvollen Heilwundern. Das ständige
Hin und Her zwischen Wirklichkeit und Bildwerk bezeugt eindrucksvoll, dass die Person
und ihr Bild austauschbar waren32 .
Im Jahr 480 v. Chr. verurteilten die Athener Hipparch, den Sohn des Charmos, einen
alten entschiedenen Gefolgsmann der inzwischen vertriebenen Tyrannen, in Abwesenheit zum Tod. Da sie seiner nicht habhaft werden konnten, vollzogen sie die Strafe, indem
sie sein bronzenes Bildnis auf der Akropolis einschmolzen. Aus der Bronze fertigten sie
eine Stele an, auf der sie alle politischen Verräter aufschrieben und auf der Akropolis bekannt machten33 . Das Bild war getötet worden, aber das Material schloss immer noch die
Identität der Person ein und wurde darum mit den Namen derer gebrandmarkt, die seine
politische Position vertraten. Sogar tote Gegenstände konnten in dieser Weise behandelt
werden: Der archaische Gesetzgeber Drakon soll nicht nur Mörder aus Athen verbannt
haben, sondern sogar Gegenstände, mit denen eine Person getötet worden war, aus dem
Land verwiesen haben34 .
Es kam vor, dass Bilder von Menschen hergestellt wurden, um Interaktion mit ihnen
möglich zu machen. Als der Spartanerkönig Leonidas bei den Thermopylen fiel, konnte
sein Leichnam nicht nach Sparta transportiert werden; darum fertigte man ein eidolon
von ihm an, um mit ihm die Rituale des Begräbnisses zu vollziehen35 . Zwei Jahrzehnte
später verurteilten die Spartaner ihren Regenten Pausanias, den Feldherrn der Schlacht
31
Daidalos: Morris 1992, 215–237; Eur.Hec 836–840.
32
Paus. 6, 11, 2–9. Standort des Bildwerks auf der Agora von Thasos: Grandjean – Salviat 2000, 76–76 (mit
Lit.). Allgemein wichtig zu dem ganzen Fragenkomplex: Niemeyer 1996.
33
Lykurg. Leokrates 117–119. Krumeich 1997, 63–64.
34 Aischin.Ctes. 244; Paus. 1, 28, 11.
35
Hdt. 6, 58. Niemeyer 1996, 36.
30
TONIO HÖL SCHER
bei Plataiai, wegen Verrats zum Tod. Er floh in das Heiligtum der Athena, wo er im Schutz
der Gottheit nicht verhaftet werden konnte; worauf seine Mitbürger ihn Hungers sterben
ließen. Als daraufhin eine Seuche ausbrach, befahl das Orakel von Delphi den Spartanern, sie sollten zum Ersatz für den einen Menschen zwei Standbilder von ihm errichten.
Bezeichnenderweise wird der Begriff soma gebraucht, der sowohl den Körper des Toten
als auch das plastische Bildwerk bezeichnen kann36.
Ähnliche Vorstellungen waren in Kyrene in Geltung, wo ein Gesetz vorschrieb, wie
man sich verhalten sollte, wenn man einen Flüchtling aufnehmen wollte, der aus einer anderen Stadt verbannt worden war. Um Frieden mit den Initiatoren der Verbannungen zu
machen, sollte man Bildnisse von ihnen aus Holz oder Ton anfertigen, diese Bildnisse in
das eigene Haus laden und sie mit Speise und Trank bewirten37. Weniger urtümlich, aber
besonders rührend ist die Anekdote von einem athenischen Söldner, der beim Aufbruch
in den Krieg sein Vermögen in die Hände der Ehrenstatue des Demosthenes auf der Agora legte – und es bei der Rückkehr unberührt vorfand. Es kommt nicht darauf an, ob die
Geschichte wahr ist oder nicht: Jedenfalls wurde die bekannte Integrität des Demosthenes
ohne Zögern auf sein Standbild übertragen und damit eine wirkungsvolle Schutzkraft für
reales Geld geschaffen38.
In diesem Sinn bewirken Bildwerke für solche Personen eine machtvolle physische
›Präsenz‹, die tatsächlich in Raum und Zeit weit entfernt waren, denen aber eine ›konzeptuelle Präsenz‹ gegeben werden sollte.
Diese ›lebenden‹ Bildwerke waren bei allen Gelegenheiten und Situationen des öffentlichen Lebens gegenwärtig. In Olympia säumten die Standbilder früherer athletischer
Sieger als ›Betrachter‹ und zugleich Vorbilder die Wege der Prozessionen und anderer
Rituale. In Epidauros war der Platz des Altars vor dem Tempel von Standbildern gesäumt,
deren Fundamente und Postamente sich erhalten haben. Damit wurde ein sakraler Raum
abgegrenzt, in dem die Festgemeinde an dem Opfer teilnahm; diese Teilnehmer wurden
wiederum umgeben von den Bildnissen berühmter Personen der Vergangenheit und Gegenwart, die dort eine ideale Gemeinschaft von Zuschauern bildeten. Noch eindrucksvoller ist die Situation an der Agora von Priene: Sie wurde an der Nordseite von der Prozessionsstraße durchquert; diese Straße wurde auf der einen Seite von einer treppenartigen
Tribüne gesäumt, auf der anderen Seite von einer freien Zone, wo die Zuschauer der Prozessionen sich postieren konnten; und hinter ihnen erhob sich die Reihe der Ehrenstatuen
bekannter Bürger, die im Bild an den Ritualen teilnahmen. Immer war da eine dichte
Reihe von Bildern ›großer Männer‹, von Vorfahren und Vorbildern, die die lebenden Menschen beobachteten und ihnen ihre Leitbilder aufdrängten39 .
36 Thuk. 1, 134, 4; Paus. 3, 17, 7–9. Krumeich 1997, 156–159.
37
SEG IX 72. Niemeyer 1996, 38–39.
38 Plut.Dem. 30, 5 – 31, 2; s. o. Anm. 20.
39 Olympia: T. Hölscher 2002. Epidauros: Gruben 2001 Abb. 115. Allgemein ausgezeichnete Untersuchung
zu Priene s. Bielfeldt 2012.
BILDERWELT, LEBENSORDNUNG UND DIE ROLLE DES BE TR ACHTERS
31
Mit ›konzeptueller Präsenz‹ ist gemeint, dass die Bildwerke nicht magische Evozierungen der dargestellten Wesen sind. Im Gegenteil, die Schriftquellen heben sehr ausdrücklich den künstlichen Charakter dieser ›lebenden‹ Bildwerke hervor, sie betonen die
Materialien, Gold oder Stein, und bezeugen die Urheberschaft berühmter Bildhauer. Es
waren geschaffene Bilder mit den Komponenten des Materials und des Stils: Gerade darin – hier liegt die eigentliche Aufgabe der kunstgeschichtlichen Analyse – kommt die
konzeptuelle ›soziale‹ Bedeutung dieser Gestalten zum Ausdruck. Allerdings war dies
eine Bedeutung mitten im Leben: Die Funktion der Bildwerke, den dargestellten Personen und Gegenständen eine konkrete visuelle und materielle Präsenz zu geben, sollte
dazu führen, dass die gegenwärtige Gesellschaft mit ihnen in konkreten Handlungen
und Ritualen umgehen konnte. In diesem Sinn wurden Ehrenstatuen auf öffentlichen
Plätzen an Festtagen bekränzt und auf diese Weise in die Festgemeinschaft integriert.
Die Standbilder der Tyrannenmörder auf der Athener Agora wurden in öffentlichen Debatten als ideale Muster konkreten politischen Verhaltens aufgerufen. Wie geläufig das
Bildwerk als Vorbild für das reale Verhalten war, zeigt eine höchst wirkungsvolle Szene
in Aristophanes’ Komödie »Lysistrate«, in der die Frauen die Macht im Staat ergreifen
wollen: Dort tritt der Anführer der Männer, die die öffentliche Ordnung gegen die rabiaten Frauen verteidigen wollen, mit dem erheiternden Versprechen auf, sich kämpfend
neben Aristogeiton zu stellen und sogar dessen Kampfhaltung einzunehmen. Die Kehrseite der Vorbildlichkeit zeigt sich in einer Anklage-Rede des Lykurgos, der seinen Gegner
Lysikles dafür beschimpft, dass er es wage, in persona auf der Agora aufzutreten, obwohl
er in seiner Stadt eine Erinnerung von Schande und Ehrlosigkeit hinterlassen habe: Das
ist sicher vor dem Hintergrund all der Ehrenstatuen zu sehen, die die Agora zu einem
Platz politischer Tugenden machten; zu diesen Bildnisstatuen stand der lebende Lysikles
in eklatantem Widerspruch 40.
In diesem Sinn wurden Götter und mythische Heroen, Herrscher, Staatsmänner
und Athleten, Dichter und Philosophen in den Räumen des Lebens ›konzeptuell präsent‹
gemacht. Die Toten und die Lebenden, die Abwesenden und die Gegenwärtigen bildeten
eine konzeptuelle Gemeinschaft.
Wenn man zusammenfassend versucht, diesen Umgang mit den Bildwerken soziologisch zu gliedern, dann lässt sich das nach drei Grundkategorien tun: Raum, Zeit und
Handlung.
– Sozialer Raum. Bildwerke dienten zur Ausstattung der wichtigsten Orte und Räume des sozialen Lebens: Heiligtümer, öffentliche Plätze und Gebäude, Wohnsitze,
Gräber. Allgemein gab es dabei keine festgelegten Zuordnungen zwischen Räumen
und Bildern, sondern ein dynamisches Wechselverhältnis. Wie der Fall von Alabanda
40 Bekränzung von Bildwerken an Festtagen: SEG VIII 529; XVIII 953, Z. 63. 71–72; XLVIII 742 B 7 (für die
Hinweise danke ich A. Chaniotis). – Tyrannenmörder als Beispiel: F. Hölscher 2010. – Aristoph.Lys. 631–634. –
Schande auf der Agora: Lykurg. Lysikles, Fr. XII 1.
32
TONIO HÖL SCHER
–
–
zeigt, kam es durchaus zu Varianten in der Ausstattung von öffentlichen Plätzen:
Die Agora war ein Rahmen für Bildwerke von ›öffentlicher‹ Bedeutung, aber sie legte
nicht ein bestimmtes Repertoire fest. Bildwerke konnten der Agora einen spezifisch
politischen, aber auch einen allgemeiner ›öffentlichen‹ Charakter unter Einschluss
der agonalen Feste geben. Die Leute von Alabanda, die von Vitruv wegen ihrer ›abwegigen‹ Praxis getadelt werden, hatten in Wirklichkeit ihre eigenen Parameter. Dasselbe gilt für alle anderen Räume des sozialen Lebens. Exemplarische Untersuchungen
haben für römische Wohnhäuser die dichte Interferenz zwischen der Funktion der
Räume und ihrer Ausstattung mit Mosaiken und Wandbildern aufgezeigt: Räume
und Bilder bedingten sich – und interpretierten sich wechselseitig 41 .
Soziale Zeit. Bildwerke waren auf soziale Situationen bezogen. So unterschieden sich
etwa die Diskurse über die Perserkriege stark, je nach spezifischen Anlässen. An
der Athener Agora war die Schlacht von Marathon um 460 v. Chr. in einem Gemälde in der Stoa Poikile, der ›Bunten Halle‹, dargestellt, in dem die Protagonisten die
Qualitäten der militärischen Führung, der tollkühnen Einsatzbereitschaft und des
Selbstopfers für den Staat zur Schau stellten: Im öffentlichen Zentrum waren die
heldenhaften und patriotischen Aspekte des Sieges gefragt. Kurz zuvor war auf der
Bühne des Dionysos-Theaters Aischylos’ Drama »Die Perser« aufgeführt worden, in
dem der griechische Sieg einen Diskurs über Hybris und Untergang auslöst: Die
Tragödie war ein Ort der komplexen Reflexion auf fundamentale ethische Kategorien menschlichen Handelns. Und zur selben Zeit konnten die Teilnehmer eines
Symposions über das Bild auf einer Weinkanne lachen: Hier ist die Demütigung der
Perser in einen obszönen homosexuellen Missbrauch eines Orientalen umgesetzt,
der den Namen Eurymedon trägt, den Ort der letzten siegreichen Schlacht gegen ein
persisches Heer42 . Bildwerke waren stark bedingt von den sozialen Situationen, für
die sie gemacht waren und in denen sie benutzt wurden, und sie trugen ihrerseits
wirkungsvoll zu dem mentalen Klima dieser Situationen bei.
Soziale Handlungen. Bildwerke waren Faktoren menschlicher Handlungen. Einerseits
waren sie Objekte von Handlungen: in religiösen Ritualen oder politischen Debatten.
Andererseits konnten sie selbst in die Angelegenheiten der Menschen eingreifen.
Bildwerke sprechen durch ihre Inschriften die Betrachter an, etwa Grabstatuen, die
Trauer oder Bewunderung für die Verstorbenen einfordern: »Bleib stehen und trauere beim Grab des schönen Kleoitas, wie schön er war und doch sterben musste«. In
der römischen Kaiserzeit waren Bildwerke des regierenden Kaisers im ganzen Reich
41
In diesem Sinn grundlegende, theoretisch fundierte Untersuchungen zur Ausstattung von Privathäusern mit Mosaiken und Wandbildern: Muth 1998; Lorenz 2008.
42 Gemälde der Schlacht von Marathon: T. Hölscher 1974, 50–84; De Angelis 1996. – Aischyl.Pers.: Grethlein 2010, 74–104. – Perser-Kanne Hamburg: Schauenburg 1975; Wannagat 2001; Miller 2010.
BILDERWELT, LEBENSORDNUNG UND DIE ROLLE DES BE TR ACHTERS
33
in den Räumen des politischen Lebens, der Verwaltungsgeschäfte und der Rechtsprechung gegenwärtig; hier diente die ›Präsenz‹ des Herrschers dazu, den Handlungen
der Administration und der Jurisdiktion kaiserliche Autorität zu verschaffen 43 .
4 Der Status des Bildes und das Leben mit Bildern
Welcher Status kommt unter diesen Umständen dem Bildwerk und welche Rolle dem ›Betrachter‹ zu? Die Funktion von Bildwerken, deren Herstellung und Wahrnehmung sowie
der Umgang mit ihnen, hatten ihre Orte in konkreten Situationen des sozialen Lebens.
Dieser Umstand prägt die gesamte Haltung und Einstellung zu den Bildwerken in der
vormodernen Zeit.
Der neuzeitliche ›museale Habitus‹ ist von der Autonomie einer ästhetischen Sphäre geprägt: Das Museum als autonomer ästhetischer Raum, ausgegrenzt aus allen anderen sozialen Kontexten; das Werk der ›Kunst‹ als autonomes ästhetisches Produkt,
herausgelöst aus allen anderen Funktionen; der ›Künstler‹ als autonomer Schöpfer und
der Besucher als autonomer Betrachter, beide losgelöst aus allen sozialen Bindungen und
Verpflichtungen. Die ästhetischen Handlungen, die mit dieser Vorstellung von ›Kunst‹
verbunden sind, werden durch ein hohes Maß an kommunikativer Intensität geprägt:
Der ›Künstler‹, der mit höchster kreativer Kraft ein Werk seiner subjektiven Vorstellung
schafft; das Werk, das eine intensive Botschaft übermittelt; und der Betrachter, der das
Werk mit eben so starker Intensität wahrnimmt und interpretiert und es dabei seinem
eigenen kulturellen und mentalen Horizont einfügt. Der theoretische Rahmen, der dieser
Situation entspricht, ist ein semiotisches Konzept der intensiven Kommunikation zwischen ›Sender‹ und ›Empfänger‹, Autor und Publikum.
Es ist offensichtlich, wie grundverschieden die Situation im antiken Griechenland und
Rom war. Und dieser Unterschied betrifft nicht nur die Funktionen der Bildwerke, sondern
das ganze Feld der Produktion und Rezeption von Bildkunst und dazu die Begriffe, mit
denen wir uns den antiken Bildwerken zu nähern versuchen. ›Museum‹ und ›Betrachter‹,
›Kreativität‹ der ›Schöpfung‹ wie der ›Interpretation‹, selbst ›Kunst‹ und ›Künstler‹: All
das gab es in der Antike nicht – zumindest nicht in dem Sinn, den wir damit verbinden.
Der ontologische Status des Bildwerkes war in der Antike nicht: eine intensive Botschaft von einem intensiven ›Sender‹ an einen intensiven ›Empfänger‹ zu übermitteln,
sondern: ›da‹ zu sein, ›präsent‹ zu sein im Kontext des sozialen Lebens.
Dem entsprechend war die Grundhaltung gegenüber Bildwerken nicht: sie mit exklusiver Intensität zu betrachten und zu interpretieren, sondern: mit den Bildwerken zu
leben und an ihrer Sphäre teilzuhaben.
43
Grabepigramm des Kleoitas: Peek 1955, Nr. 1223; Jeffery 1962, 197 n. 67. – Präsenz der römischen Kaiser
in ihren Statuen: Pekáry 1985, 43.
34
TONIO HÖL SCHER
Damit soll gewiss nicht das grundsätzliche kommunikative Modell einer Konstellation von Sendern und Empfängern kultureller Zeichen geleugnet und auch nicht die Bedeutung der Rezeption von Bildwerken durch Individuen oder soziale Gruppen gemindert
werden. Worum es geht, ist: dem ›Hersteller‹ und dem ›Wahrnehmer‹ der Bildwerke eine
andere Rolle zuzuweisen – und damit auch dem Bildwerk selbst als Träger von Bedeutung
einen anderen Status zuzuerkennen. Der ›Hersteller‹ von Bildwerken ist kein ›Schöpfer‹
einer Vorstellung, die ihren Sinn in sich selbst trägt und nach eigenen formalen Gesetzen entwickelt. Ebenso ist der ›Wahrnehmer‹ nicht ein intensiver Betrachter im Sinn des
›musealen Habitus‹. Auch der beliebte Begriff des »flüchtigen Betrachters«, der nur eben
einmal unaufmerksam hinschaut, geht an der Sache vorbei, denn der Begriff »Betrachtung« reduziert den Umgang mit dem Bildwerk auf die reine Perzeption, und der Begriff
der »Flüchtigkeit« suggeriert ein Defizit gegenüber dem Postulat einer adäquat intensiven
Betrachtung.
Worum es geht, ist: ›Partizipation‹ an einer gemeinsamen kulturellen ›Welt‹, im
umfassenden Sinn, in dem man mit bedeutungsvollen Wesen der Lebenswelt zusammenlebt. Diese Welt umfasst mehr als den Kreis der Lebenden, die in der vorgegebenen
Kontingenz des Lebens anwesend sind, zu ihr gehören auch die Götter und die Heroen
der ›mythischen‹ Vorzeit, die verstorbenen Vorfahren der jüngeren Vergangenheit und
die nicht präsenten bedeutungsvollen Gestalten der Gegenwart mit ihren exemplarischen
Eigenschaften und Leistungen. Die Bildhauer, Maler und anderen Handwerker geben
diesen Gestalten konkrete bildhafte Präsenz im Leben der Gesellschaft. »Partizipation«
bedeutet Teilhabe an gesellschaftlichen Situationen, in denen Bildwerke – neben anderen
Elementen – eine mehr oder minder bedeutungsvolle Rolle spielten: bei religiösen Festen, Volksversammlungen, juristischen Angelegenheiten und Handelsgeschäften auf der
Agora, Begräbnisritualen, Hochzeitszeremonien, privaten Ess- und Trinkgelagen und so
fort. Hier fand ›Leben mit Bildwerken‹ statt – das heißt: mit den dargestellten Gestalten
und Vorgängen in ihrer ›konzeptuellen Präsenz‹.
Der Umgang mit den Bildwerken wurde in solchen Situationen zum Teil in rituellen Formen geregelt. Kult-Statuen wurden mit angemessenen Riten geweiht, verehrt
und gepflegt, Weihgeschenke wurden nach traditionellen Sitten aufgestellt, erhalten und
entsorgt, Ehrenstatuen wurden nach strikten Gebräuchen und sogar bindenden Gesetzen
beschlossen und errichtet. Diese Regulierungen sind grundlegend für ein richtiges Verständnis der Bildwerke als Elemente des sozialen Lebens.
Normalerweise aber müssen Bildwerke bei diesem Umgang in derselben Weise wahrgenommen worden sein wie andere Elemente der sozialen Räume und Situationen. In der
Regel waren die Menschen ja mit anderen Dingen beschäftigt: mit den Entscheidungen
in den Volksversammlungen, den Rechtsfällen der Gerichtshöfe, den Handelsgeschäften,
den Ritualen des Götterkults und der Totenverehrung und so fort. Dabei konkurrierten
die Bilder mit anderen Personen und Gegenständen um Aufmerksamkeit. Die lebenden
Menschen konnten ihnen starke, aber auch nur schwache Beachtung schenken.
BILDERWELT, LEBENSORDNUNG UND DIE ROLLE DES BE TR ACHTERS
35
Auf der einen Seite konnten die Bildwerke stärksten Eindruck und höchste Bewunderung erregen. Das Standbild des Theagenes ist für die Bürger von Thasos über lange Zeit
zum kollektiven Schicksal geworden; der Anführer der Männer in Aristophanes’ »Lysistrate« nimmt das Bild des Aristogeiton als exemplarisches Verhaltensmuster in den eigenen
Körper auf: Beides sind Zeugnisse für höchst intensives Sehen. Und noch Jahrhunderte
später wünscht sich Asinius Pollio, dass die Besucher seines Wohnsitzes die dort aufgestellten Bildwerke »vehementer« anschauen 44 . Bei diesem intensiven Sehen spielten auch
die formalen, stilistischen Aspekte der Bildwerke eine große Rolle: Sie waren es ja, die der
›Präsenz‹ der Gestalten und Vorgänge ihre Evidenz und Wirkung gaben. Hier liegt die
Wurzel für ästhetische Diskurse, Reflexionen und Theorien zur antiken Bildkunst, die
seit der klassischen Zeit Griechenlands bis in die römische Kaiserzeit zu einer gewissen
Komplexität geführt wurden. Allerdings blieben diese theoretischen Diskurse in der Regel – explizit oder implizit – den Themen und Funktionen der Bildwerke untergeordnet:
Der Stil war nicht ein autonomer Ausdruck einer individuellen schöpferischen Kreativität,
sondern in der formalen Gestaltung wurden die Qualitäten und Aspekte zum Ausdruck
gebracht, um derentwillen die Bildgegenstände, d. h. die dargestellten Gestalten und Vorgänge, ›Bedeutung‹ im Lebenskontext der Gesellschaft erhalten sollten. Museen im modernen Sinn, als Räume einer reinen Betrachtung von ›Kunst‹, gab es nicht.
Auf der anderen Seite aber muss die Wahrnehmung von Bildwerken oft sehr viel
weniger intensiv gewesen sein: Die Menschen konnten sie einfach als Gegebenheit hinnehmen, sie tolerieren, sie nur gelegentlich bemerken oder sie auch völlig ignorieren.
Kurzum: Sie müssen sich zu den Bildwerken wie zu anderen Personen und Gegenständen des Lebens verhalten haben. Partizipation findet in Akten von mehr oder minder starker Aufmerksamkeit statt. Die Aufmerksamkeit wird von den Situationen und Diskursen
der Gesellschaft und ihrer Individuen gesteuert. Dabei konnten sie den Gestalten und
Vorgängen der Bilder größere oder kleinere Bedeutung beimessen. Nur selten allerdings
werden die Menschen in der Antike die Bildwerke in unserem Sinn intensiv, d. h. ›um
ihrer selbst willen studiert‹ und interpretiert haben.
4.1 Dichte Bedeutung und schlechte Sichtbarkeit
Dies alles hat auch Folgen für die Sichtbarkeit der Bildwerke, die von einer eigentümlichen Ambivalenz geprägt ist. Die Standbilder von Athleten und Staatsmännern waren in
den öffentlichen Räumen so aufgestellt, dass sie gut sichtbar waren für alle, die sie sehen
wollten und sollten: Hier führte die kompetitive Situation des Strebens nach öffentlichem
Ansehen zu einer Aufstellung in den Brennpunkten des Lebens. Auch die Standbilder
der Götter und Heroen, ebenso wie die Vielzahl der Votivbilder in den Heiligtümern und
44
36
Plin.nat. 36, 33. Vgl. Cic.Att. 1, 9, (5.)2 (für die Hinweise danke ich A. Bravi).
TONIO HÖL SCHER
nicht zuletzt die Statuen und Reliefs der Verstorbenen auf den Gräbern, wurden wegen
ihrer exemplarischen Bedeutung nahsichtig für die Lebenden positioniert. Das ›Leben
mit‹ diesen Bildwerken war ›auf Augenhöhe‹ möglich.
Daneben aber gab es viele Bildwerke, die erstaunlich wenig Rücksicht auf Sichtbarkeit nahmen. Das ist für unser Verständnis von ›Kunst‹ als visueller Botschaft irritierend
und die Forschung ist diesem Phänomen darum auch gewöhnlich ausgewichen. Ein Verständnis dessen, was Bildkunst in Griechenland war, ist jedoch nur möglich, wenn wir
uns diesem Phänomen stellen 45 .
Das Schatzhaus von ›Sikyon‹, das vermutlich auf allen Seiten mit Metopen geschmückt war, kann in Delphi bestenfalls von drei Seiten sichtbar gewesen sein. Das
Schatzhaus von Siphnos jedenfalls war an dem Prozessionsweg so positioniert, dass man
es zunächst von der Rückseite sah, dann die eine Längsseite passierte, sich schließlich
zur Frontseite umwenden musste – und die abgewandte Längsseite überhaupt nicht sehen
konnte. Dasselbe gilt sogar für das politisch anspruchsvolle Schatzhaus von Athen. Die
›Bild-Programme‹ solcher Bauwerke stellten zwar eine komplexe Konstellation von Themen dar – diese konnten aber nur reduziert wahrgenommen werden.
Dies Paradox zeigt sich in aller Klarheit an dem größten und komplexesten Ensemble
der griechischen Bildkunst, dem Parthenon 46. Wer sich dem Bau näherte, blickte wahrscheinlich zuerst auf die großen Giebelkompositionen, die Athena als Herrin des Tempels
in den Vordergrund stellten: im Osten ihre Geburt im Kreis der Götter, im Westen ihren
Sieg über Poseidon im Wettstreit um die Herrschaft über Athen. Um diese Beziehung der
beiden Themen zueinander zu realisieren, muss man sich zunächst von einer Fassade
zur anderen bewegen. Schwieriger wird es schon bei den Metopen, die sich um alle vier
Seiten ziehen und einen kohärenten Zyklus von Mythen schildern: Die Götter im Kampf
gegen die Giganten, die heroischen Lapithen gegen die Kentauren, die Athener gegen die
Amazonen und die griechischen Helden gegen Troia. Sie ergänzen einander gegenseitig zu einer hochbedeutsamen Sequenz von archetypischen Kämpfen griechischer Götter und Heroen gegen Feinde der griechischen Kultur. Dieser Zyklus erschließt sich nur
beim völligen Umkreisen des Baues. Mit noch größeren Schwierigkeiten war der Fries
zu betrachten, der sich innerhalb des Säulenkranzes um die Cella zog. Er schilderte mit
vielen Details die große Prozession der athenischen Bürgerschaft zum Fest der Athena.
Wer das verfolgen wollte, musste noch einmal neu ansetzen, musste an der Ecke im Südwesten anfangen, den Tempel zunächst im Westen und Norden bis zum Ziel des Zuges
im Zentrum der Ostseite umschreiten, dann vom selben Ausgangspunkt noch einmal
die Südseite passieren bis zur Ostseite, um zu begreifen, dass die Prozession den Bau auf
beiden Seiten in zwei parallelen Zughälften umschritt. Es ist schwer denkbar, dass viele
Besucher der Akropolis diese Folge von komplexen Bewegungen vollzogen haben.
45
46
Zum Folgenden s. T. Hölscher 2009, 54–57.
Zum Folgenden s. T. Hölscher 2009, 54–57. Unabhängig in ähnlichem Sinn: Marconi 2009.
BILDERWELT, LEBENSORDNUNG UND DIE ROLLE DES BE TR ACHTERS
37
Der Fries war zudem nur in großer Höhe und im Halbdunkel des Umgangs zu betrachten, in den, anders als in der heutigen Ruine, kein Licht von oben fiel. Wer das Friesband in seiner Längserstreckung verfolgen wollte, musste in den Säulenumgang eintreten, wo aber der äußerst steile Sichtwinkel jede genauere Betrachtung verhinderte. Ein
flacherer Ansichtswinkel ergab sich von außen, doch hier wurde die Folge der Prozession
in kurzen Abständen von den Säulen unterbrochen. Sicher nicht erkennbar waren die vielen signifikanten Details. So ist die Kavalkade der verwirrend gestaffelten Reiter in zehn
Gruppen gegliedert, die offenbar die zehn attischen Phylen darstellen; doch die subtilen
Charakterisierungen durch Einzelheiten der Kleidung und Ausrüstung können unter den
genannten Sichtbedingungen nicht unterscheidbar gewesen sein.
Überhaupt war der bildliche Schmuck griechischer Architektur außerordentlich Betrachter-unfreundlich. Das gilt insbesondere für die zentralen Bauten griechischer Städte:
die Tempel. Hier waren Bildwerke entweder in den monotonen Reihen der Metopen oder
in den endlosen schmalen Friesen oder schließlich in den flachen Dreiecken der Giebel
angebracht. All diese Bildformate sind denkbar schlecht geeignet, um wichtige Bildthemen wirkungsvoll einem Betrachter vor Augen zu führen. Darüber hinaus sind die Bilder
in großer Höhe angebracht, was einen Blick aus weiter Entfernung und/oder aus steilem
Winkel bedingt.
Keine Frage also, dass all die vielen bedeutungsvollen Details kaum wahrzunehmen
waren, vor allem während der religiösen Rituale, die die Aufmerksamkeit weitgehend anderweitig beansprucht haben müssten.
Hier wird ein Grundzug griechischer Bildkunst deutlich, den man auch sonst immer wieder antrifft. Viele Bildwerke der griechischen Kunst nehmen erstaunlich wenig
Rücksicht auf den Betrachter. Die schönsten griechischen Vasen wurden den Toten in die
Gräber mitgegeben, wo sie niemand mehr zu sehen bekam. Wertvolle Gemmen mit eingeschnittenen Bildern wurden in Ringen am Finger getragen, wo sie sich, bei ständiger
Bewegung der Hand und in ihrem Miniaturformat, keinem normalen Blick darboten.
Und noch das größte politische Denkmal Roms, die Traianssäule, entfaltet ihren vielszenigen Bildbericht der Kriege Traians gegen die Daker in einer Höhe und in einer steilen Ansicht, in der kein menschliches Auge die höchst komplexen politischen Aussagen
wahrnehmen konnte. An die gotischen Kathedralen mit ihrem Bildschmuck in großer
Höhe muss nur ›im Vorbeigehen‹ erinnert werden.
Was sagt dies Paradox über die Bildwerke aus? Und was über die Formen, mit diesen
Bildwerken zu leben? Auch hier ist das Konzept des ›Lebens mit Bildern‹ hilfreich.
Der griechische Begriff für architektonischen Bildschmuck war »kosmos«. Dieser
Begriff bezeichnet Schmuck, zugleich aber auch die richtige, angemessene, sinnvolle
Ordnung, die die Bild- und Bauwerke miteinander ergeben 47. Man kann von hier aus
47
38
Marconi 2004.
TONIO HÖL SCHER
die Brücke zu den lateinischen Begriffen »ornamentum« und »decor« schlagen, die die
Grundlage einer fruchtbaren, weit mehr als ästhetischen Theorie bilden. Das kann hier
nur knapp skizziert werden.
Das Schatzhaus von ›Sikyon‹ wie der Parthenon tragen reichen Bildschmuck und
sind zugleich reiche, geordnete Bilderwelten. Dasselbe gilt auch für die Ausstattung von
Lebensräumen mit Bildern: Auf der Agora bildeten die Standbilder von Staatsmännern,
mythischen Heroen und Göttern eine ideale Ordnung des Gemeinwesens; in den Heiligtümern schlossen sich die geweihten Bildwerke zu einem Sinngeflecht religiöser Vorstellungen zusammen; in den Nekropolen stellten Bilder die soziale Welt der Verstorbenen in
den Rahmen von Leben und Tod. Überall entstanden bildhafte Konzepte eines Kosmos,
die zugleich ›Schmuck‹ und ›Ordnung‹ sind.
Diese Ordnungen aber hatten zu einem gewissen Grad ihr eigenes Leben, unabhängig
von den Menschen, die in ihnen lebten. Die Götter, mythischen Heroen und berühmten
Menschen, die in den Bildwerken gegenwärtig gehalten wurden, entfalteten ihre primäre
Wirkung zunächst durch ihre reine Präsenz.
Weil die Gestalten der Bildkunst so unmittelbar präsent waren, besaßen sie eine gewisse Autonomie gegenüber dem Betrachter. Sie ›sind da‹ und stellen eine ›Bilder-Welt‹
dar, auch wenn die lebenden Menschen sie nur eingeschränkt oder gar nicht sehen konnten bzw. sie nur eingeschränkt wahrnahmen oder gar ignorierten. Die Menschen waren
nicht ständig mit dem intensiven Betrachten, Verstehen und Interpretieren der Bildwerke
beschäftigt. Sie ›lebten‹ mit den Bildern.
Die Bildwerke waren mehr als zielgerichtete Botschaften von bestimmten Autoren/
Sendern an bestimmte Empfänger. Sie bildeten Welten von sinnvollen Bildern, in denen
die Menschen ihr Leben einrichten und von denen sie ihre Maßstäbe des Lebens ableiten
konnten. Der Kosmos der antiken Bildwerke ist mehr als ihre Wirkung auf den Betrachter: Er ist die Ordnung des Lebens selbst.
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TONIO HÖL SCHER
Bild und Naturraum
Karsten Lambers
Von Bildern zu Bühnen: Die Geoglyphen von Palpa und Nasca (Süd-Peru)
in ihrem räumlichen und sozialen Kontext
This paper deals with geoglyphs from Palpa and Nasca (Southern Peru) in a spatial and social context. In one
of the first phases, the Paracas Period, geoglyphs were predominately situated on slopes, and their repertoire of
motifs (mainly anthropomorphic beings) was taken from other media. These depictions must have been constructed in connection with activities that took place at a certain distance and that cannot be fully ascertained.
In the subsequent Nasca Period the populace went on to construct enormous geoglyphs in the form of lines
or other geometric patterns on the desert-like plains between river valleys. These geoglyphs henceforth came
to serve as stages for numerous ritual activities (as shown by offering deposits). These rites were presumably
connected with the increasing aridisation of the climate and with prayers for water and fertility. The important
thing here was no longer so much the picture, the geoglyph, but rather the activities performed upon them,
activities in which other media now came to assume the role of image bearer.
1 Einführung
Die Geoglyphen zwischen Palpa und Nasca an der Südküste Perus, auch als ›NascaLinien‹ bekannt, sind ein in Art und Umfang einzigartiges Beispiel prähistorischer Landschaftsgestaltung. Mehr als 500 km2 der Steinwüste des Nasca-Beckens am Fuße der
Anden (Abb. 1) wurden zwischen ca. 350 v. Chr. und 700 n. Chr. durch die damaligen
Bewohner der Region mit Bodenzeichnungen überzogen und damit nach ihren kulturellen Konzepten und Bedürfnissen großflächig und dauerhaft umgestaltet. Die verwendete Technik der Steinumlagerung war dabei denkbar einfach; die Lage in der Wüste, wo
natürliche Erosion und sonstige menschliche Nutzung nur eine geringe Rolle spielen,
trug zur weitgehenden Erhaltung dieser Bodendenkmäler bei. Über Funktion und Bedeutung der Geoglyphen sind uns keinerlei Informationen überliefert. Aus vorspanischer
Zeit existieren für ganz Südamerika keine Schriftquellen; zudem wurde die Geoglyphentradition bereits viele Jahrhunderte bevor spanische und einheimische Chronisten nach
der Conquista (ab 1532 n. Chr.) kulturelle und religiöse Eigenheiten des Andenraumes
beschrieben aufgegeben.
Somit konnte nach der Wiederentdeckung der Geoglyphen durch Wissenschaftler
in den 1920er Jahren zunächst allein ihre Gestalt Anhaltspunkte zu ersten Interpretationen liefern. Dazu trug der damals aufkommende Flugverkehr entscheidend bei. Erst
aus der Vogelperspektive wurden Ausmaß und Bedeutung des Geoglyphen-Phänomens
erkannt und so bestimmte die Sicht von oben, die einen Überblick über die Geoglyphen
erlaubte, viele Deutungsversuche1 . Aus der Vogelperspektive erscheinen die großflächig
1
Horkheimer 1947; Kosok – Reiche 1947.
VON BILDERN ZU BÜHNEN: DIE GEOGLYPHEN VON PALPA UND NA SC A
47
über den Wüstenboden ausgebreiteten Geoglyphen wie auf eine Wandtafel gemalt. Es ist
daher nicht verwunderlich, dass die Geoglyphen häufig als Bilder aufgefasst und gedeutet
werden. Dies liegt besonders bei einigen figürlichen Geoglyphen nahe, die in der Tat
leicht als Abbildungen von Tieren zu erkennen sind. Dazu zählen so bekannte Figuren
wie Kondor, Hund, Spinne, Kolibri, Affe, Eidechse und Pelikan, die meisten davon auf
den Pampas von Nasca zwischen Río Ingenio und Río Nasca 2 . Diese figürlichen Darstellungen prägen auch heute noch das Bild der Geoglyphen in der Öffentlichkeit, da sie das
wichtigste Ziel der täglichen touristischen Flüge über die Pampas von Nasca sind.
Eine simple Interpretation der Geoglyphen als Abbildung natürlicher Objekte greift
jedoch deutlich zu kurz. Das wird schon allein dadurch klar, dass die figürlichen Geoglyphen trotz ihres hohen Bekanntheitsgrades nur einen Bruchteil des Corpus ausmachen.
In diesem Corpus dominieren stattdessen geometrische Geoglyphen, die aus Linien und
Flächen in verschiedenen Größen und Formen gebildet werden. Diese Bodenzeichnungen können nicht einfach als Bilder angesprochen werden, da sich ihre Formensprache
stark von der vorspanischen Ikonographie der Region unterscheidet, die von Keramik und
Textilien bestens bekannt ist. Zudem entspricht die Vogelperspektive nicht der Perspektive der Erbauer und Nutzer, die die Geoglyphen am Boden konzipierten, anlegten und
erlebten. Zwar sind alle Geoglyphen am Boden als solche erkennbar, doch können viele
von ihnen, seien es figürliche Darstellungen oder geometrische Kombinationen, nicht
gänzlich überblickt und daher auch nicht wie Bilder betrachtet werden.
Nachdem ab den 1940er Jahren die Geoglyphen sukzessiv auch am Boden kartiert
und untersucht wurden, rückten die zahlreichen Linien, Trapeze und anderen geometrischen Geoglyphen und damit auch ein anderer Deutungsansatz in den Mittelpunkt der
Diskussion3 . Die Geoglyphen wurden nun als ein gigantischer astronomischer Kalender
verstanden 4 . Man nahm an, dass Linien und Trapeze auf Punkte am Horizont wiesen, an
denen zu kalendarisch bedeutsamen Daten die Sonne oder andere Himmelskörper aufbzw. untergingen oder ihren Zenit durchschritten. Diese astronomische Hypothese hatte
den Vorzug, dass sie von der Bodenperspektive ausging und – in der Rolle des Betrachters –
auch die Erbauer und Nutzer der Geoglyphen einbezog. Der damalige Kenntnisstand über
die Kulturgeschichte der Nasca-Region blieb jedoch weitgehend unberücksichtigt. Verschiedene Untersuchungen in den folgenden Jahrzehnten ergaben dann auch, dass die
Orientierung der großen Mehrheit der geometrischen Geoglyphen nicht mit astronomischen Konstellationen erklärt werden kann5 .
Aus der Sicht jüngerer Ansätze der Landschaftsarchäologie6 weisen bisherige Deutungsversuche das Manko auf, dass sie die soziale Dimension der Anlage und Nutzung
2
3
4
5
6
48
Aveni 1990; Aveni 2000; Clados 2006.
Reiche 1949.
Reiche 1993.
Aveni 1990
Knapp – Ashmore 1999; Gramsch 2003; David – Thomas 2008.
K ARS TEN L AMBERS
der Geoglyphen vernachlässigen. Zum einen sind die damaligen Bewohner der Region
als handelnde Akteure stärker in den Blick zu nehmen. Sowohl der erhebliche Arbeitsaufwand, der zur Anlage der Geoglyphen notwendig war, als auch die konkret umgesetzten Formen und Merkmale der Geoglyphen mussten kulturell eingebettet und sozial
legitimiert sein. Die auf den Geoglyphen anzunehmenden Aktivitäten, die sich nicht auf
reine Beobachtung beschränkt haben dürften, sind zu rekonstruieren und auf ihre soziale
und kulturelle Rolle hin zu untersuchen. In der Tat fanden schon die frühen Erforscher
der Geoglyphen zahlreiche Hinweise auf solche Aktivitäten, ohne sie jedoch stärker in
ihre Interpretationen einzubeziehen7. Zum anderen definieren Akteure auch soziale Räume, Aktivitäten auch Handlungsräume in der Wüste8. Es ist also von einem erweiterten
Raumkonzept auszugehen, das nicht nur durch natürliche, sondern auch durch soziale
und kulturelle Parameter definiert wird. In diesem Sinne gibt das Thema »Bild – Raum –
Handlung« der Berliner Topoi-Tagung einen geeigneten Rahmen für eine zeitgemäße
Interpretation der Geoglyphen vor.
Eine gute Grundlage, um solchen Fragen nachzugehen, boten die zwischen 1997 und
2004 vom Archäologischen Projekt Nasca-Palpa durchgeführten archäologischen Untersuchungen der Geoglyphen von Palpa im nördlichen Teil des Nasca-Beckens9. Im Folgenden werden zunächst das Nasca-Becken selbst, sodann die frühen biomorphen Geoglyphen der Paracas-Zeit und schließlich die geometrischen Geoglyphen der Nasca-Zeit
in der Umgebung von Palpa vorgestellt und in ihrem räumlichen und sozialen Kontext
interpretiert. Die zugrundeliegenden archäologischen Daten wurden bereits an anderer
Stelle vorgelegt 10.
2 Das Nasca-Becken
Das Nasca-Becken in Süd-Peru (Abb. 1) befindet sich in einem nur ca. 50–70 km breiten Wüstenstreifen zwischen der Pazifikküste im Südwesten und der Andenkordillere
im Nordosten. Obwohl in der Nähe des Meeres gelegen, ist es von diesem durch eine
7
Ausnahme: Horkheimer 1947.
8
Vgl. Llobera 1996.
9
Das Archäologische Projekt Nasca-Palpa wurde 1997 initiiert und mit verschiedenen Schwerpunkten bis
heute fortgeführt. Es wird geleitet von Markus Reindel (Bonn) und Johny Isla (Lima). Beteiligt sind u. a. das
DAI, die ETH Zürich, die Universität Heidelberg und weitere Institutionen (s. den Überblick in Reindel – Wagner 2009, auf deren Band auch die im Text genannten Datierungen beruhen). Die Finanzierung erfolgte zunächst durch die SLSA, Zürich, sodann durch das BMBF, Bonn; weitere Beiträge zu den hier beschriebenen
Arbeiten kamen vom DAI, der ETH und der Universität Zürich. Für die enge und fruchtbare Zusammenarbeit
bei der Erforschung der Geoglyphen von Palpa danke ich den Projektleitern Markus Reindel und Johny Isla,
den Betreuern meiner Dissertation, Philippe Della Casa und Armin Grün, sowie meinen Kollegen Martin
Sauerbier, Sabine Beutner, Juan Carlos De La Torre, Alfredo Bautista und Alejandra Figueroa.
10 Lambers 2006; Reindel et al. 2006.
VON BILDERN ZU BÜHNEN: DIE GEOGLYPHEN VON PALPA UND NA SC A
49
niedrige Küstenkordillere getrennt und befindet sich mit 300–600 m deutlich über dem
Meeresspiegel, so dass es sich eigentlich nicht um eine Küstengegend handelt. Wie in
fast ganz Peru und in weiten Teilen Nordchiles herrschen im schmalen Landstreifen zwischen Küste und Anden extrem aride Bedingungen. Saisonale Regenfälle in den Anden
speisen jedoch eine Reihe von Flüssen, die die Wüste durchschneiden und in den Pazifik
entwässern. In der Nasca-Region fließen diese vor der Küstenkordillere zunächst im Río
Grande zusammen, bevor dieser Fluss als einziger das Meer erreicht. So ergibt sich eine
an der peruanischen Küste einzigartige Beckensituation.
Dieses Becken wurde bis vor ca. 45.000 Jahren mit unterschiedlich groben Sedimenten angefüllt, die von der Andenwestabdachung aberodierten und am Andenfuß
flache Fußflächen und Schwemmkegel ausbildeten11 . In diese mächtigen Ablagerungen
schnitten sich in der Folgezeit die Flüsse ein, so dass die heutigen Flusstäler deutlich
unter dem Niveau der Fußflächen liegen. Auf diese Weise entstand am Andenfuß die charakteristische Landschaft aus wüstenhaften, annähernd flachen Fußflächen (pampas), die
von Trockentälern (quebradas) und fruchtbaren Flussoasen unterbrochen werden.
Die Flusstäler mit ihren saisonal Wasser führenden Flüssen und fruchtbaren Böden
stellten schon immer die Lebensgrundlage für die ansässige Bevölkerung dar und tun
dies bis heute. In der Paracas-Zeit (800–200 v. Chr.) und der Nasca-Zeit (120 v. Chr. – 620
n. Chr.), um die es im Folgenden geht, wurde jedoch durch die Anlage von Geoglyphen
auch die Wüste in die kulturelle Domäne der Gesellschaft einbezogen. Die Geoglyphen
konnten leicht angelegt werden, da sich an der Oberfläche der Ablagerungen, die die Beckenfüllung bildeten, durch Ausblasen des Feinsedimentes ein dichtes Wüstenpflaster
aus rotbraun oxidierten Steinen auf einer Schicht helleren und lockereren Sedimentes
gebildet hatte12 . Zur Anlage von Bodenzeichnungen mussten lediglich die dunklen Steine
aufgesammelt und an anderer Stelle deponiert werden, um einen starken Kontrast zwischen dem originalen Wüstenpflaster und dem exponierten helleren Sediment zu erzielen. Wo das freigelegte Sediment nicht durch häufige Begehung stark kompaktiert war,
wurde es zwar durch Winderosion nach und nach beeinträchtigt, so dass die Stärke der
Erosionsspuren einen ersten Hinweis auf das relative Alter der Geoglyphen geben kann.
Aber insgesamt blieben die Geoglyphen bemerkenswert gut erhalten, da trotz diverser
Klimaschwankungen die Kernzone der Geoglyhen seit der Nasca-Zeit weitgehend frei von
Niederschlägen blieb13 . Ihre größte Bedrohung stellt heute neben den sehr seltenen Regenfällen die Nutzung des Geländes durch den Menschen dar.
Des Weiteren ist der Naturraum des Nasca-Beckens von Elementen in der Umgebung
geprägt, die für sein Verständnis wichtig sind 14 . Der Horizont wird durch die das Becken
11
12
13
14
50
Mächtle 2007.
Eitel et al. 2005.
Eitel – Mächtle 2009.
Mächtle 2007.
K ARS TEN L AMBERS
Abb. 1 | Das Nasca-Becken in
Süd-Peru zwischen Pazifik und
Anden.
bildenden Hügel und Berge in allen Himmelsrichtungen definiert, vor allem durch die
massive, die Pampas überragende Andenkordillere im Nordosten. Aus dieser erreichen
die so wichtigen Flüsse das Becken; sie bieten zudem schon in kurzer Entfernung die Täler hinauf deutlich feuchtere Bedingungen und damit ergänzende Ressourcen. Das Meer
im Südwesten ist zwar nicht sichtbar, bestimmt aber mit dem vorherrschenden Wind aus
dieser Richtung, der oft Wolken, manchmal auch Sandstürme mit sich bringt, dennoch
den Charakter des Naturraumes mit. Auch das Meer bietet in erreichbarer Nähe Ressourcen, die in den Flusstälern des Nasca-Beckens sonst nicht vorhanden wären.
Jüngste Forschungen in Palpa ergaben erste Hinweise auf menschliche Präsenz im
Archaikum (ab 3500 v. Chr.) sowie eine permanente Besiedlung spätestens seit der Initialperiode (ab 1500 v. Chr.)15 . Ein starkes Bevölkerungswachstum und eine erste kulturelle
Blüte erfolgte zur Zeit des Frühen Horizontes, als die Paracas-Kultur (800–200 v. Chr.)
in einem weitläufigen kulturellen Austausch mit anderen Regionen des Andenraumes
stand. Nach einer Übergangsphase, der sog. Nasca-Initialzeit (120 v. Chr. – 90 n. Chr.),
setzte sich diese Blüte in der Frühen Zwischenperiode mit der Nasca-Kultur (90–620
n. Chr.) fort, die sich durch einige technologische Innovationen auszeichnete und deren
15
Reindel 2009; Isla 2012.
VON BILDERN ZU BÜHNEN: DIE GEOGLYPHEN VON PALPA UND NA SC A
51
polychrome Keramik zu den Höhepunkten der Handwerkskunst im vorspanischen Andenraum zählt. Gegen Ende der Nasca-Zeit führte jedoch die fortschreitende Aridisierung
zu einer Verlagerung der Bevölkerungsschwerpunkte vom Andenfuß in Richtung Osten,
d. h. die Täler aufwärts. Aus dem Mittleren Horizont (620–1000 n. Chr.) sind daher zumindest aus der Region Palpa nur wenige Spuren menschlicher Aktiväten erhalten. Auf
diese teilweise Entvölkerung folgte erst in der Späten Zwischenperiode ab ca. 1150 n. Chr.
aus den Anden heraus eine Neubesiedlung mit einer weiteren kulturellen Blüte, bevor die
Nasca-Region im 15 Jh. zunächst ins Inka-Imperium und dann im 16. Jh. in das spanische
Kolonialreich eingegliedert wurde.
3 Die Geoglyphen
Die Geoglyphen der Paracas- und Nasca-Zeit in der Umgebung der heutigen Stadt Palpa
im nördlichen Teil des Nasca-Beckens wurden zwischen 1997 und 2004 näher untersucht. Palpa liegt in einer weiten Schwemmebene, die von zwei Zuflüssen des Río Grande
gebildet wird. Während im Westen eine Hügelkette die Grenze des Beckens markiert, ist
Palpa im Norden, Osten und Süden von Fußflächen umgeben. Diese nehmen zwar nicht
Ausmaße an wie die ca. 40 km südlich gelegenen, besser bekannten Pampas von Nasca,
bieten jedoch besonders südlich von Palpa viel Raum für die Anlage von Geoglyphen, der
auch ausgiebig genutzt wurde. In dieser Umgebung wurden auf einer Fläche von 89 km 2
auf der Grundlage von speziell dafür angefertigten Luftbildern mehr als 1500 Geoglyphen
photogrammetrisch kartiert. Ein großer Teil der kartierten Geoglyphen wurde sodann im
Gelände begangen, beschrieben und archäologisch untersucht. Die Feldarbeiten umfassten die Dokumentation von Spuren menschlicher Aktivitäten und Oberflächenfunden 16,
Magnetfeldmessungen auf ausgewählten Geoglyphen 17 sowie kleinräumige Ausgrabungen von Steinplattformen auf und neben einigen Geoglyphen 18. Damit liegt nun erstmals
für ein Teilgebiet des Nasca-Beckens eine flächendeckende Kartierung und Dokumentation der Geoglyphen vor. Die Auswertungsarbeiten umfassten die Erstellung einer Typochronologie der Geoglyphen, die Interpretation von Funden und Befunden im Hinblick
auf die Rekonstruktion menschlicher Aktivitäten, eine virtuelle 3-D-Modellierung der
Geoglyphen und des Geländes, GIS-gestützte räumliche Analysen und schließlich eine
kulturgeschichtliche Einordnung und Interpretation 19.
Die Geoglyphen von Palpa sind einerseits Teil desselben kulturellen Phänomens wie
die bekannteren Geoglyphen auf den Pampas von Nasca weiter südlich 20. Das grund16
17
18
19
20
52
Lambers 2006.
Gorka et al. 2007.
Reindel et al. 2006.
Lambers 2006.
Aveni 1990; Reiche 1993.
K ARS TEN L AMBERS
legende Repertoire an Formen und Typen, die Konstruktionstechniken, die assoziierten
Funde und Befunde und damit auch der chronologische Rahmen sind hier wie dort weitgehend gleich. Die Geoglyphen von Palpa weisen jedoch einige lokale Besonderheiten auf.
So finden sich hier nur wenige der eingangs erwähnten bekannten Tierfiguren, wie sie
vor allem am Nordrand der Pampas von Nasca vorkommen. Dies ermöglichte eine Fokussierung der Untersuchungen auf die viel häufigeren geometrischen Geoglyphen. Wie erst
im Laufe der Untersuchungen klar wurde, sind allerdings in Palpa anthropomorphe Figuren, die überwiegend aus frühen Phasen stammen, in größerer Zahl vertreten. Durch die
größere zeitliche Tiefe konnten Ursprung und Entwicklungsgeschichte der Geoglyphen
in Palpa besonders gut nachvollzogen werden.
3.1 Biomorphe Geoglyphen der Paracas-Zeit
Während der überwiegende Teil der Geoglyphen in Palpa zur Nasca-Zeit angelegt wurde
(120 v. Chr. – 620 n. Chr.), sind in den Trockentälern zwischen den Fußflächen auch zahlreiche Geoglyphen aus der Paracas-Zeit erhalten (800–200 v. Chr.)21 . Die Bedeutung dieser
Befundgattung wurde erst im Laufe der Projektarbeiten erkannt, weil die frühen Bodenzeichnungen oftmals in einem schlechten Erhaltungszustand sind. Dies hängt nicht nur
mit ihrem höheren Alter, sondern auch mit einer weiteren Eigenschaft zusammen, die für
diese Befunde typisch und ein wesentlicher Schlüssel zu ihrem Verständnis ist. So finden
sich praktisch alle frühen Geoglyphen in Hanglage (Abb. 2), wo sie stärker als anderswo
der natürlichen Erosion ausgesetzt sind – dies im Gegensatz zu späteren Geoglyphen,
die zumeist auf den ebenen Fußflächen angelegt wurden. Die Hanglage korrespondiert
auch mit einer geringeren Größe der frühen biomorphen Geoglyphen, die zwischen 5 und
30 m beträgt, im Gegensatz zu teils mehreren Kilometer langen Linien und Trapezen auf
den Fußflächen.
Der essentielle Unterschied zu späteren Geoglyphen besteht jedoch in den Motiven.
Dargestellt sind – neben einigen Tieren (Vögel, Katzen, Fische) und rituellen Gegenständen (tumi, ein Zeremonialmesser) – anthropomorphe Wesen, teils in Frontalansicht, teils
in Seitenansicht, wobei das Gesicht immer dem Betrachter zugewandt ist (Abb. 2). Es
handelt sich um mit nur wenigen geräumten Linien und Steinanhäufungen ausgeführte
Figuren, die häufig einen auffälligen Kopfputz tragen, manchmal Gegenstände in den
Händen halten, gelegentlich jedoch auch nur als Kopf ausgeführt sind. Vergleichbare,
oft bis in Details übereinstimmende Figuren sind von Textilien der Paracas-Kultur bekannt, die als Teil von Mumienbündeln an Bestattungsplätzen in der trockenen Küstenwüste erhalten blieben22 . Dargestellt sind darauf teils Menschen, teils Mischwesen mit
21
22
Isla – Reindel 2007.
Chamorro 2009.
VON BILDERN ZU BÜHNEN: DIE GEOGLYPHEN VON PALPA UND NA SC A
53
menschlichen, tierlichen und übernatürlichen Zügen, die aufgrund ihrer Merkmale und
Paraphernalia als Ahnen, Priester oder Schamanen oder auch als übernatürliche Kräfte
oder Gottheiten gedeutet werden23 . Bei einer Figur mit auffällig betonten Augen handelt
es sich um das sog. Augenwesen (Ser Oculado bzw. Oculate Being), das als wichtigste Figur im Pantheon der Paracas-Kultur gedeutet wird 24 und als Vorläufer des zur Nasca-Zeit
in der Ikonographie häufig vertretenen ›Anthropomorphen Mythischen Wesens‹ gilt (Ser
Mítico Antropomorfo bzw. Anthropomorphic Mythical Being oder »AMB«)25 . Diese Motive
wie auch der Grabkontext der Textilien deuten auf einen im weitesten Sinne kultischen
Zusammenhang hin.
Vergleichbare Motive finden sich zudem auf Paracas-Keramik sowie in einfacherer
Form auf Felsbildern der Paracas-Zeit 26. Letztere Parallele ist deshalb wichtig, weil sie auf
den wahrscheinlichen Ursprung der frühen Geoglyphen hinweist. Die Paracas-Petroglyphen finden sich im Gelände auf einzelnen Felsblöcken oder Felswänden fast immer in
Hanglage. Diese topographische Situation entspricht derjenigen der frühen Geoglyphen.
Vermutlich entstand die Geoglyphen-Tradition also aus einer Übertragung bekannter Motive, die bereits auf Textilien, Keramik und auch Felsen ausgeführt wurden, auf die steinige Oberfläche des Wüstenbodens. Es ist naheliegend anzunehmen, dass die Kontexte, aus
denen diese Motive ursprünglich stammten, auch zur Interpretation der frühen Geoglyphen beitragen können. Zwar handelt es sich um sehr verschiedene Kontexte: im Falle der
Textilien um aufwendige, festen Mustern folgende Bestattungszeremonien 27, im Falle der
von Fux 28 besprochenen Petroglyphen um Aktivitäten an Rast- und Handelsplätzen entlang von Fernhandelswegen. Diesen Kontexten ist jedoch gemeinsam, dass die Bilder an
bestimmten Orten in Relation zu spezifischen, in der Gruppe durchgeführten Handlungen standen und ihnen in diesem Rahmen offensichtlich eine visuelle Bedeutung zukam.
Es bestand also jeweils ein Zusammenhang zwischen Bild, Raum und Handlung.
Dies dürfte auch für die frühen Geoglyphen gelten. Ihre Lage im Gelände erlaubte es,
sie aus einer gewissen Distanz, z. B. von einer Fußfläche, vom gegenüberliegenden Hang
oder auch vom Boden des Trockentales aus, ganz zu überblicken und damit das Motiv
zu betrachten (Abb. 2). Es handelte sich also tatsächlich um Bilder, die zur Betrachtung
dienten – dies im Gegensatz zu den oben angesprochenen Tierfiguren der Nasca-Zeit, die
erst mit heutigen technischen Mitteln zur Gänze betrachtet werden können. Die Parallelen zu ähnlichen anthropomorphen Motiven auf Textilien und Felswänden deuten darauf
hin, dass diese Bilder im Zusammenhang mit bestimmten Handlungen ihre Bedeutung
erlangten – Handlungen, die aus Gründen der Bildwahrnehmung vermutlich in einiger
23
24
25
26
27
28
54
Makowski 2000; Silverman – Proulx 2002; Proulx 2006.
Isla – Reindel 2007.
Makowski 2000; Proulx 2006.
Fux et al. 2009.
Chamorro 2009.
Fux et al. 2009.
K ARS TEN L AMBERS
Abb. 2 | Restaurierte anthro-pomorphe Geoglyphen der ParacasZeit im Río Grande-Tal bei Llipata südwestlich
von Palpa, Ansicht vom Trockental im Süden aus.
Distanz stattfanden. Somit würde eine Geoglyphe nicht selbst als Ort für Handlungen gedient, sondern im umliegenden Gelände eine potentielle Aktivitätszone aufgespannt haben.
Bestätigung findet diese Hypothese in der Tatsache, dass direkt bei und auf den frühen
anthropomorphen Geoglyphen kaum Spuren von Aktivitäten festgestellt werden konnten – dies in deutlichem Gegensatz zu den späteren geometrischen Geoglyphen auf den
Fußflächen, auf denen eine Vielfalt von Funden und Befunden auf häufige Aktivitäten hindeuten (s. u.). Vergleichbare Konstellationen zwischen Geoglyphen und Aktivitätszonen
finden sich auch bei den späteren Geoglyphen der nordchilenischen Atacama-Wüste29 .
Wie die hier postulierten Handlungen aussahen, zu denen die frühen Geoglyphen
in visueller Beziehung standen, ist archäologisch schwer zu fassen. Dies liegt nicht nur
daran, dass jeweils größere Zonen dafür in Frage kamen, die Handlungen also an verschiedenen Orten, von denen aus eine visuelle Verbindung zu den Geoglyphen bestand,
stattfinden konnten; sondern auch – vor allem – daran, dass die gesamte Umgebung der
frühen Geoglyphen zur Nasca-Zeit intensiv und großflächig genutzt und umgestaltet wurde (s. u.), folglich viele Spuren dieser Aktivitäten bereits damals zerstört worden sein dürf29
Lambers im Druck.
VON BILDERN ZU BÜHNEN: DIE GEOGLYPHEN VON PALPA UND NA SC A
55
ten. Dennoch hat sich südlich von Palpa ein Befund erhalten, der möglicherweise Ausdruck solcher Aktivitäten ist. Auf der Pampa von San Ignacio fanden sich in einer flachen
Senke zahlreiche Keramikdeponierungen der Paracas-Zeit. Dabei handelt es sich zumeist
um zerbrochene Einzelgefäße der Keramik-Phase Ocucaje 8 (ca. 370–200 v. Chr.), die auf
einer Fläche von ca. 50 × 50 m2 auf dem Wüstenboden deponiert wurden. Aufgrund ihrer
Form könnten die Gefäße Speisen und Getränke enthalten haben, jedoch waren davon
keine Spuren erhalten. Der zunächst nicht ersichtliche Kontext könnte durch anthropomorphe Paracas-Geoglyphen an einem flachen Hang in geringer Entfernung hergestellt
worden sein. Zwar sind diese von der flachen Senke aus nicht direkt sichtbar. Doch die
gesamte Umgebung beider Befunde, Keramikdeponierungen und anthropomorphe Geoglyphen, wurde zur Nasca-Zeit in einen der größten Komplexe geometrischer Geoglyphen
des gesamten Nasca-Beckens umgestaltet. Wie die Fußfläche zur Paracas-Zeit aussah,
ist daher kaum zu rekonstruieren. Es scheint zumindest denkbar, dass noch weitere frühe Geoglyphen und auch Keramikdeponierungszonen existierten, die heute nicht mehr
erhalten sind. Somit sind diese Keramikdeponierungen zwar kein Beleg, aber ein Indiz
für die vermuteten Handlungen, die in einem visuellen Zusammenhang zu den frühen
anthropomorphen Geoglyphen standen.
Während die frühen anthropomorphen Geoglyphen Teil eines ikonographischen
Komplexes waren, der auf verschiedenen Medien verwirklicht wurde (Textilien, Keramik,
Felsen, Wüstenboden), entwickelte sich aus der Dynamik der Bild-Raum-HandlungsBeziehungen bald ein eigenständiges Phänomen. Dazu trug nicht nur bei, dass Bodenzeichnungen durch Verlagerung der Steine des Wüstenpflasters sehr einfach anzulegen
waren, was bald zur Anlage größerer Geoglyphen und zu Experimenten mit neuen Formen
führte. Entscheidend dürfte vielmehr gewesen sein, dass die Bevölkerung bereits in der
Paracas-Zeit regelmäßig in die Wüste hinausging und an verschiedenen Stellen Handlungen vollzog, bei denen die Geoglyphen eine visuelle Rolle spielten. So wurde der wirtschaftlich bis auf geringe Jagdaktivitäten nicht nutzbare Wüstenraum immer stärker in
die kulturelle Domäne der Gesellschaft, deren Lebensgrundlage ansonsten die Täler bildeten, einbezogen, was den Weg für weitere Aktivitäten in der Nasca-Zeit bereitete.
3.2 Geometrische Geoglyphen der Nasca-Zeit
In Palpa konnte anhand relativ- und absolutchronologischer Daten nachvollzogen werden,
dass auf die frühen biomorphen Geoglyphen an den Hängen bald erste gerade Linien
folgten, zunächst ebenfalls an den Hängen und dann erstmals auch auf den darüber liegenden Fußflächen. Diese neue Entwicklung entfaltete sich vollends in der Übergangszeit
zur Nasca-Periode (120 v. Chr. – 90 n. Chr.) und mündete in der Frühen Nasca-Zeit (90–
325 n. Chr.) schließlich in eine große formale Vielfalt an figürlichen und geometrischen
Bodenzeichnungen, die nun in erster Linie auf den Fußflächen angelegt wurden und
56
K ARS TEN L AMBERS
Abb. 3 | Typische Kombination von geometrischen Geoglyphen der Nasca-Zeit auf der Fußfläche oberhalb von
Llipata südwestlich von Palpa.
dort Handlungsräume definierten. Spätestens ab dieser Phase waren die Geoglyphen zu
einem eigenständigen, von anderen Medien unabhängigen Kulturphänomen geworden,
das sich durch eine hohe Dynamik auszeichnete, einen erheblichen Teil der gesellschaftlichen Arbeitsleistung absorbierte, soziale Handlungen und Beziehungen definierte und
zu einem Grundpfeiler dessen wurde, was Helaine Silverman treffend als »Nascaness«
bezeichnet hat30.
Zwar umfasst der sehr vielfältige Komplex von Geoglyphen der frühen Nasca-Zeit
in Palpa auch wenige figürliche Geoglyphen, die den bekannten Figuren der Pampas von
Nasca ähneln, doch soll es im Folgenden um die geometrischen Geoglyphen gehen, die
die große Mehrheit der Geoglyphen bilden. Dabei handelt es sich um Linien – gerade,
zickzackförmige, mäandrierende, spiralförmige u. a. – und geräumte Flächen – trapezförmige, rechteckige und unregelmäßige – sowie Kombinationen von beiden (Abb. 3).
30
La Silverman 2002, 122.
VON BILDERN ZU BÜHNEN: DIE GEOGLYPHEN VON PALPA UND NA SC A
57
Die Länge der Trapeze reicht von mehreren Metern bis zu knapp 2 km, die Breite der
Linien von einer Handbreit bis zu einigen Metern. Das heute sichtbare Endergebnis von
mehreren Jahrhunderten der Anlage und Nutzung von Geoglyphen auf den weitläufigen
Fußflächen rund um Palpa besteht neben einer Vielzahl einzelner Geoglyphen aus verschiedenen großen Komplexen von zahlreichen sich überlagernden und schneidenden
Linien und Flächen (Abb. 3). Auf diesen Geoglyphenkomplexen sind vielfältige Spuren
menschlicher Aktivitäten erhalten, die sich auf oder bei den Geoglyphen abspielten31 –
dies in deutlichem Gegensatz zu den oben beschriebenen frühen anthropomorphen
Geoglyphen, bei denen die entsprechenden Aktivitäten vermutlich in einiger Entfernung
stattfanden.
Die erste Art von Handlung, die rekonstruiert werden konnte, war die Anlage der
Bodenzeichnungen. Dies mag trivial erscheinen, doch wurde auch die Bedeutung dieses
Befundes erst im Laufe der Untersuchungen klar. Bisher wurde in der Literatur überwiegend der Nutzung der Geoglyphen Bedeutung beigemessen, während ihre Anlage allenfalls unter technischen Gesichtspunkten von Interesse zu sein schien. Die Befundlage
in Palpa deutet jedoch auf eine erhebliche soziale Bedeutung dieses Arbeitsschrittes hin.
Diese ergibt sich aus einer über lange Zeiträume fortwährenden Anlage neuer bzw. Umgestaltung vorhandener Geoglyphen, die schließlich zu den heute sichtbaren komplexen
Konzentrationen führte. Zahlreiche Überlagerungen sowie unvollendete Geoglyphen erlauben es, diesen Prozess im Detail zu studieren32 . Teils wurden bei der Anlage neuer
oder der Erweiterung bestehender Geoglyphen vorhandene Geoglyphen respektiert oder
in das neue Design integriert, teils wurden sie aber auch überlagert und damit obsolet.
Linen wurden häufig in Trapeze umgestaltet, Trapeze seitlich erweitert, manche Flächen
mehrfach geräumt. Diese Arbeiten wurden in unterschiedlicher Intensität anscheinend
über längere Zeiträume hinweg durchgeführt; einige Arbeiten blieben auch unvollendet.
Beides stand einer zwischenzeitlichen Nutzung jedoch nicht im Wege, wie Nutzungsspuren auf unvollendeten oder in Umgestaltung befindlichen Geoglyphen deutlich zeigen.
Es ging also offensichtlich nicht darum, z. B. ein Trapez einmalig in möglichst effizienter
Weise anzulegen, um es dann über lange Zeiträume auf welche Weise auch immer zu
nutzen. Vielmehr kam der Anlage selbst bereits eine große Bedeutung als sozialer Akt zu.
Die Details des Arbeitsprozesses deuten darauf hin, dass in größeren Gruppen gearbeitet wurde, vermutlich angeleitet von Spezialisten. Über die Zusammensetzung dieser
Gruppen wissen wir nichts. Aufgrund des Umfanges sowie der Häufigkeit und Dauer der
Anlage- und Umgestaltungsaktivitäten ist es jedoch wahrscheinlich, dass zeitweilig große
Bevölkerungsteile beteiligt waren. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass die
Nasca-Kultur mit wenigen Ausnahmen kaum monumentale Architektur kannte, wie sie in
der zeitgleichen Moche-Kultur an der Nordküste Perus so spektakuläre Gestalt annahm.
31
32
58
Lambers 2006; Reindel et al. 2006.
Lambers 2006.
K ARS TEN L AMBERS
Abb. 4 | Ausgegrabene Steinplattformen am nordöstlichen Ende des zentralen Trapezes des in Abb. 3 wiedergegebenen Geoglyphenkomplexes auf der Fußfläche oberhalb von Llipata südwestlich von Palpa.
Im Nasca-Becken wurde eine vergleichbare Arbeitsleistung stattdessen in die Anlage oder
Umgestaltung der Geoglyphen investiert33 . Dies deutet auf jährlich wiederkehrende, vermutlich vom Zyklus der landwirtschaftlichen Tätigkeiten abhängige Bauarbeiten hin, was
auch die häufigen Umgestaltungen erklären würde.
Was sodann gemeinhin unter der Nutzung der Geoglyphen verstanden wird, umfasste nach der Befundlage in Palpa eine Bandbreite verschiedener Tätigkeiten. Am klarsten
nachweisen ließen sich34:
– die häufig wiederkehrende Begehung von Linien, in geringerem Maße auch von großen Trapezen, vor allem entlang deren Rändern,
– die Deponierung von Keramikgefäßen, die Speisen oder Getränke enthalten haben
könnten, auf oder neben den Rändern von Linien und Trapezen, wobei viele Gefäße
offensichtlich intentionell zerschmettert wurden,
– der Bau von Steinplattformen auf Trapezen (Abb. 4) oft lange nach deren ursprünglicher Anlage, teils verbunden mit der Errichtung hoher Holzpfosten, die eventuell zu
Orientierungszwecken oder zur Aufhängung von Gegenständen dienten,
33
34
Isbell 1978.
Lambers 2006; Reindel et al. 2006.
VON BILDERN ZU BÜHNEN: DIE GEOGLYPHEN VON PALPA UND NA SC A
59
–
die Deponierung von Keramikgefäßen, Textilien, Feldfrüchten, Muscheln und Krebsen
auf den Steinplattformen, offenbar in rituellem Kontext.
Daneben ist auf den gesamten Fußflächen ein lockerer Fundschleier aus Keramikscherben, aber auch Textilresten, Steinwerkzeugen etc. festzustellen, der weitere menschliche
Präsenz und Aktivität anzeigt. Diese fällt, nach den datierbaren Keramikscherben zu urteilen, chronologisch überwiegend ebenfalls mit der Nutzung der Geoglyphen zusammen
und dürfte daher mit ihnen zu tun gehabt haben. Einzige Ausnahme sind Funde aus der
Späten Zwischenperiode (ca. 1150–1550 n. Chr.) im Umfeld größerer Ansiedlungen am
Andenfuß, die im Zuge einer Wiederbesiedlung der Palpa-Region von Osten her auf den
Fußflächen und teils direkt auf den Geoglyphen von einer Bevölkerung angelegt wurden,
die die Geoglyphentradition offenbar nicht mehr kannte oder ihr jedenfalls keinen Wert
mehr beimaß.
Aus der Nasca-Zeit werden menschliche Aktivitäten am klarsten direkt auf den Geoglyphen fassbar: auf Linien, entlang den Rändern von Trapezen, rund um Steinplattformen auf
Trapezen. Die Geoglyphen definierten auf den weiten Hochflächen also Handlungsräume
und gaben den dort stattfindenden Tätigkeiten durch ihre Form Orientierung und Ziel,
beispielsweise indem eine Linie einen abzuschreitenden Weg vorgab (Abb. 5) oder ein
Trapez zu einer Plattform an seinem Ende hinführte. Gleichzeitig entstanden die Geoglyphen selbst durch andere Handlungen – die Anlage und Umgestaltung von Geoglyphen –,
was die intensive Wechselwirkung zwischen Raum und Handlung anzeigt. Bild- und
Bedeutungsträger waren in diesem Kontext jedoch nicht mehr, wie noch zur ParacasZeit, die Geoglyphen selbst, sondern die Gegenstände, die auf ihnen deponiert wurden,
vor allem Keramikgefäße. Die außerordentlich reich verzierten polychromen Keramikgefäße der Nasca-Zeit weisen eine vielfältige Ikonographie auf, die die Lebenswelt der
Nasca-Gesellschaft samt ihren natürlichen, sozialen und metaphysischen Elementen eindrucksvoll illustriert35 . Interessanterweise sind darauf jedoch – mit wenigen unsicheren
Ausnahmen36 – nirgends Geoglyphen abgebildet, zumindest nicht in einer für uns heute
erschließbaren Form. Stattdessen sind Handlungen und Kontexte abgebildet, die möglicherweise auf Geoglyphen stattgefunden haben, so z. B. auf Steinplattformen abgestellte
Keramikgefäße oder Holzpfosten mit daran befestigten Bannern und Trophäenköpfen,
des Weiteren Schamanen und mythische Wesen, die in kultischen Ritualen eine Rolle gespielt haben dürften und deren Gewänder und Schmuck wiederum die Rolle von Bildträgern einnahmen37. Dies bestätigt die Hypothese, dass die geometrischen Geoglyphen zur
Nasca-Zeit nicht mehr selbst als Bildträger dienten, sondern den räumlichen Rahmen für
Handlungen definierten, die dann wiederum auf anderen Medien abgebildet wurden.
35
36
37
60
Silverman – Proulx 2002; Proulx 2006.
Clados 2006.
Silverman – Proulx 2002.
K ARS TEN L AMBERS
Abb. 5 | Nachgestellte Prozession auf einer Spirale des in Abb. 3 gezeigten Fundortes oberhalb von Llipata
südwestlich von Palpa.
Über Inhalt, Verständnis und Bedeutung dieser Handlungen lassen sich nur recht
allgemeine Hinweise aus dem archäologischen Befund ablesen. Zum einen haben die
Gegenstände, die auf den Steinplattformen deponiert wurden, alle im weitesten Sinne
einen Zusammenhang mit Wasser 38: die Feldfrüchte, deren Ernte vom Bewässerungsfeldbau abhing, die Flusskrebse, die aus den nur zur Regenzeit in den Bergen Wasser
führenden Flüssen stammten, und nicht zuletzt die Spondylusmuscheln. Deren Wanderungsbewegungen entlang der Küste in Abhängigkeit von El-Niño-Ereignissen, welche die Verbreitung von Regenfällen an Land beeinflussen, waren im gesamten Andenraum bekannt und ließen Spondylusmuscheln zu einem wichtigen Kultgegenstand
werden. Die Deponierung von Objekten, die thematisch Bezüge zu Wasser, Regen und
Fruchtbarkeit erkennen lassen, auf Steinplattformen auf Trapezen dürfte im Zusammenhang mit der zunehmenden Aridisierung der Nasca-Region zur Nasca-Zeit39 stehen, die
zumindest im Raum Palpa am Übergang zum Mittleren Horizont (700–800 n. Chr.) zu
einer weitgehenden Abwanderung der Bevölkerung gen Osten führte und die Aufgabe
der Geoglyphentradition nach sich zog. Dazu passt, dass mehrere der Steinplattformen,
38
39
Reindel et al. 2006.
Eitel et al. 2005.
VON BILDERN ZU BÜHNEN: DIE GEOGLYPHEN VON PALPA UND NA SC A
61
auf denen sich die genannten Objekte fanden, deutlich nach der Anlage der Geoglyphen,
auf denen sie stehen, errichtet wurden, also in einer späten Phase, als die Aridisierung
zunehmend die Lebensgrundlage der Bevölkerung beeinträchtigte.
Zum anderen dürften die Handlungen, die auf den Geoglyphen vollzogen wurden,
abgesehen von ihrem vordergründigen Inhalt auch eine erhebliche soziale Bedeutung
gehabt haben. Aus der großen Zahl der weit über die Wüstenlandschaft verstreuten Geoglyphen stechen mehrere große Komplexe heraus, die über viele Jahrhunderte genutzt
und immer wieder umgestaltet wurden. Ein Vergleich der räumlichen Entwicklung dieser Komplexe mit der Entwicklung der Siedlungsmuster während der Nasca-Zeit zeigt,
dass kein direkter Zusammenhang zwischen Geoglyphenkomplexen und bestimmten
Siedlungen bestand 40. Dies bedeutet, dass bestimmte Geoglyphenkomplexe nicht einfach
bestimmten Siedlungen zugeordnet waren. Vielmehr war das Siedlungsmuster viel volatiler als das Verbreitungsmuster der Geoglyphen. In den Tälern lösten zahlreiche Kleinsiedlungen, die oft nur über wenige Generationen genutzt wurden, einander ab und folgten
dabei der lokalen Wasserverfügbarkeit, was im Laufe der Zeit zu deutlichen Verlagerungen
der Siedlungsschwerpunkte führte. Die großen Geoglyphenkomplexe auf den Fußflächen
waren dagegen ortsfest; sie bestanden über Jahrhunderte und wurden auch dann weiter
genutzt, wenn die nächstgelegenen Siedlungen aufgegeben wurden. Die Menschen, die
auf den Geoglyphenkomplexen zusammentrafen, um dort neue Geoglyphen anzulegen
oder rituelle Handlungen zu vollziehen, kamen also aus verschiedenen Siedlungen, die
zudem im Laufe der Zeit verlagert wurden. Somit handelte es sich um soziale Gruppen,
die auf einer gesellschaftlichen Ebene oberhalb der Siedlungen organisiert waren und
auch bei Veränderungen im Siedlungsmuster Bestand hatten.
In diesem Zusammenhang erscheint es interessant, dass ein wichtiges Kriterium für
die Auswahl eines Geländes zur Anlage neuer Geoglyphen seine gute Einsehbarkeit war,
wie GIS-basierte Sichtbarkeitsstudien zeigten 41 . Wie oben dargelegt, ging es dabei nicht
um die Sichtbarkeit der Geoglyphen selbst, die ja nur den Rahmen für darauf zu vollziehende Handlungen definierten. Vielmehr war der Punkt wesentlich, dass diese Handlungen und die daran beteiligten Personen gesehen werden konnten – vom umliegenden
Gelände, von anderen Geoglyphenkomplexen und selbst von den Siedlungen im Tal
aus. Offensichtlich hatten diese Handlungen und Rituale einen öffentlichen Charakter,
weshalb man die Geoglyphen auch als ›Bühnen‹ mit darauf agierenden Akteuren verstehen kann. Da gleichzeitig mehrere große Komplexe in Benutzung standen, die, wie
oben dargelegt, mit größeren sozialen Gruppen oberhalb der Ebene einzelner Siedlungen
assoziiert gewesen sein dürften, könnten diese von allen sichtbaren Handlungen einen
kompetitiven Charakter gehabt haben, indem die verschiedenen sozialen Gruppen ihre
Stellung in der Nasca-Gesellschaft verhandelten und definierten. Dazu passt die Beob40
41
62
Lambers 2006.
Lambers – Sauerbier 2009.
K ARS TEN L AMBERS
achtung, dass sich das Geoglyphenrepertoire ab der mittleren Nasca-Zeit auf immer weniger standartisierte Typen (vor allem Trapeze und Linien) reduzierte, gleichzeitig jedoch
immer größere Geoglyphen angelegt wurden. Dies könnte damit erklärt werden, dass
bei der Anlage neuer Geoglyphen um gesellschaftliche Akzeptanz gerungen wurde, was
die Hypothese vom kompetitiven Charakter unterstützt. Grundsätzlich sind Fragen zur
Sozialstruktur der Nasca-Gesellschaft und ihres Wandels im Laufe der Zeit aufgrund der
Befunde von den Geoglyphen allein jedoch kaum zu beantworten. Unzweifelhaft ist allerdings, dass die Aktivitäten, die mit den Geoglyphen im Zusammenhang standen, eine
erhebliche soziale Bedeutung für die Nasca-Gesellschaft hatten.
4 Von Bildern zu Bühnen
Obwohl keine Überlieferungen zur konkreten Bedeutung und Funktion der Paracas- und
Nasca-zeitlichen Geoglyphen existieren, lassen sich aus ihrem archäologischen Kontext
weitreichende Schlüsse ziehen. Simple und eher plakative Bildansprachen, wie sie lange
Zeit üblich waren und noch heute oft den Anforderungen des Tourismus geschuldet sind,
greifen für die Erklärung des Geoglyphenphänomens zu kurz. Aus dem komplexen Wechselspiel zwischen Geoglyphen, Naturraum und menschlichen Aktivitäten ergeben sich
jedoch umfassende Implikationen für die soziale und kulturelle Rolle der Geoglyphen.
Die ersten Geoglyphen der Paracas-Zeit waren Teil eines ikonographischen Komplexes, der sich über verschiedene Medien erstreckte: Keramik, Textilien, Felsen, Wüstenboden. Es handelte sich um biomorphe Abbildungen mit teils übernatürlichen Zügen. Ihr
jeweiliger Kontext auf verschiedenen Medien weist darauf hin, dass es sich tatsächlich
um Bilder handelte, die aus einer gewissen Distanz betrachtet und gedeutet wurden. Ihre
visuelle Bedeutung erlangten sie wahrscheinlich im Rahmen verschiedener Handlungen,
die ihre Betrachter in ihrem Blickfeld ausführten. Die Geoglyphen der Paracas-Zeit definierten also Handlungsräume in der Wüste.
Aus den Anfängen einer medienübergreifenden Ikonographie entwickelte sich am
Übergang zur Nasca-Zeit ein eigenständiges Phänomen, in dem die Geoglyphen sich von
Bildern zu ›Bühnen‹ wandelten. Die assoziierten Handlungen fanden nun nicht mehr
bei, sondern auf den Geoglyphen statt; die Handlungsräume wurden nun nicht mehr
visuell aufgespannt, sondern physisch markiert. Die Geoglyphen büßten dabei ihre bildliche Bedeutung ein; vielmehr waren es nun die Handlungen, die auf den Geoglyphen
stattfanden, und die daran beteiligten Akteure, die gesehen werden sollten und die wahrscheinlich auch dargestellt wurden, z. B. auf Keramikgefäßen und Textilien. Aus den Bildern waren also Bühnen für Handlungen geworden, denen eine wichtige rituelle und
soziale Bedeutung zukam.
Die Geoglyphen von Palpa und Nasca sind damit ein Beispiel dafür, wie Menschen
ihre Umwelt mittels ihrer Handlungen sozial und kulturell durchdringen und gestalten.
VON BILDERN ZU BÜHNEN: DIE GEOGLYPHEN VON PALPA UND NA SC A
63
Obwohl der Naturraum in der Wüste am Fuße der Anden an sich bereits spektakulär ist,
tritt er in seiner Bedeutung hinter dem von Menschen definierten sozialen Raum und
seiner physischen Manifestation, den Geoglyphen, zurück. Im Sinne der Definition von
Knapp und Ashmore42 handelt es sich sowohl um eine »constructed« als auch um eine
»conceptualized« Landschaft, in der sich kulturelle Konzepte mittels physischer Modifikationen in der Landschaft manifestierten und Orte schufen, die mit bestimmten Handlungen und Bedeutungen assoziiert wurden.
Wenn heutige Besucher der Region die Geoglyphen aus der Luft betrachten, nehmen
sie nicht nur eine ahistorische Perspektive ein, sondern müssen auch auf zentrale Elemente zum Verständnis der Geoglyphen verzichten: die Menschen, die sich zur Paracasund Nasca-Zeit auf und bei den Geoglyphen versammelten, sowie die kulturell und sozial
eingebetteten Handlungen, die sie dort durchführten. Nur unter Berücksichtigung dieses Kontextes erschließen sich Funktion und Bedeutung der Geoglyphen von Palpa und
Nasca.
42
64
Knapp – Ashmore 1999, 10–11.
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Abbildungsnachweis
Abb. 1: Karte H. P. Wittersheim; Abb. 2: Photographie J. Isla; Abb. 3: Karte K. Lambers,
Orthophoto IGP, ETH Zürich; Abb. 4: Photographie J. Isla; Abb. 5: Photographie
M. Reindel.
68
K ARS TEN L AMBERS
Thierry Aubry, Luís Luís
Umwelt und sozialer Kontext der paläolithischen Freilandkunst
im Côa-Tal (Portugal)*
Upper Palaeolithic authorship of open-air rock art is a fairly recent discovery. After Altamira and cave art, the
discovery of Côa Valley rock art and its archaeological context was pivotal in the process by which this new reality achieved scientific recognition. Although stylistically similar and representing the same general species
(mostly horses, aurochs, ibex and deer), these images were inscribed in rock panels distributed within the same
territories exploited by their forager authors. Interpretation of why certain surfaces were chosen and what function these images served must be based on the study of the geological nature of the engraved panels, dating of
the engravings and their subsequent evolution. Once these factors have been evaluated, it will be possible to
interpret the distribution of the Côa Valley’s two most important phases (pre-Magdalenian and Lateglacial) and
consider their visibility and possible spatial relations. Our final goal will be to try to understand this rock art in
its social contexts.
Im Jahre 1981 wurde eine in Mazouco, im Nordosten Portugals, entdeckte Gravierung,
die ein Pferd darstellt (Abb. 1), mit den Bildern verglichen, die man seit mehr als einem
Jahrhundert auf Wänden von Höhlen und Abris sowie auf beweglichen Gegenständen zu
entdecken gewohnt war1 . Implizit wurde damit erstmals angenommen, dass Gravierungen paläolithischen Alters sich auch auf unmittelbar einer Beeinträchtigung durch die
Verwitterung ausgesetzten Felsen erhalten können. Diese Entdeckung und ihre zeitliche
Einordnung ebneten den Weg für weitere Funde (Abb. 1) in Spanien2 und an der östlichen
Grenze des französischen Teils der Pyrenäen3 .
15 Jahre später führte der Konflikt um den von der Elektrizitätsgesellschaft EDP
(Energias de Portugal) geplanten Bau eines Staudammes und die deshalb drohende Überflutung von Felsbildstationen des unteren Côa-Tales4 zur Entdeckung weiterer Fundplätze
in Portugal – im Tal des Sabor, des Ocreza5 und des Zêzere6 –, in Spanien – in Molino
Manzanez7 – sowie, fast ein Jahrhundert nach bekanntwerden der Höhlenkunst, zur Anerkennung der Existenz einer paläolithischen Freilandkunst, und zwar sowohl durch die
Prähistoriker als auch durch einen geringen Teil des breiten Publikums.
Diese Bilder befinden sich auf ebenen, senkrechten oder seltener nahezu waagerechten Oberflächen im Bereich der Aufschlüsse metamorpher Gesteine alter Gebirgsstöcke,
*
Übersetzung aus dem Französischen von Renate Heckendorf.
1
Jorge et al. 1981.
2
Balbín Behrmann et al. 1991; Balbín Behrmann – Alcolea González 2002; Ripoll López – Municio González 1992.
3
Sacchi et al. 1988; Bahn 1985.
4
Rebanda 1995; Baptista 1999; Baptista – Gomes 1995; Zilhão 1997.
5
Baptista 2001a.
6
Baptista 2004.
7
Collado 2009.
UMWELT UND SOZIALER KONTE X T PAL ÄOLITHISCHER FREIL ANDKUNS T, CÔA -TAL
69
Abb. 1 | Lagebestimmungskarte der unterschiedlichen Typen jungpaläolithischer Zeichnungen.
die das Gerüst der Iberischen Halbinsel und der Pyrenäen-Kette bilden (Abb. 1). Sie sind
in klimatischen Umgebungen erhalten, in denen die Verwitterung der Aufschlüsse unter
dem Einfluss des Klimawandels des letzten glazialen Maximums und des Spätglazials
auf den ersten Blick weniger stark als die periglazialen Prozesse nördlich der Pyrenäen8
ausgeprägt war.
Die Freilandkunst ist gedanklichen Prozessen geschuldet, die sich – durch die symbolische Aneignung des Territoriums durch das Bild und dessen Fortbestand – von dem
in den Tiefen der Höhlen hinterlassenen graphischen Ausdruck unterscheiden9. Während die Höhlenarchitektur von grundlegender Bedeutung für die Interpretation der darin erhaltenen Bilder ist, erlangen im Fall der Freilandkunst Merkmale wie die Sichtbarkeit und die Beziehung zur Umwelt eine andere Bedeutung und werfen neue Fragen
auf. 15 Jahre nach der Entdeckung der Gravierungen des Côa-Tales möchten wir eine von
8
9
70
Zilhão 1997.
Otte 2002.
THIERRY AUBRY, LUÍS LUÍS
Abb. 2a | Lagebestimmung
der Freilandfundstellen von
Felsbildern und Besiedlungsspuren im Côa-Tal.
Abb. 2b | Topographische
Position der Freilandfundstellen im Verhältnis zum
Wasserlauf.
71
uns entwickelte Methodik vorstellen, mit der eine Deutung der Bilder und der sonstigen
Überreste, die innerhalb der von ihren Urhebern in mehreren Phasen des Paläolithikums
aufgesuchten Territorien erhalten sind, möglich ist.
1 Die Kunst des Côa-Tales
Bei den als »Kunst des Côa-Tales« bezeichneten Hinterlassenschaften handelt es sich um
ca. 30 Fels-Konzentrationen, die Petroglyphen oder seltener mit mineralischen Pigmenten ausgeführte Zeichnungen tragen und sich auf die letzten 17 Kilometer des Côa-Flusses
und der unmittelbar oberhalb und unterhalb seiner Einmündung in den Douro gelegenen
Nebenflüsse verteilen (Abb. 2)10. Im Jahre 1998 wurde dieses Ensemble, dessen erste Bestandteile im Jahre 1991 – im Zusammenhang mit dem heute aufgegebenen Staudammprojekt – entdeckt wurden, in die Weltkulturerbeliste der Unesco aufgenommen. Als Ergebnis
der seither durchgeführten Begehungen konnte eine Liste mit etwa 1000 Bildfeldern erstellt
werden, die Petroglyphen aus allen Perioden tragen, wobei 330 dieser Felsoberflächen Motive aufweisen, die nach stilistischen Kriterien dem Paläolithikum zuzuordnen sind11.
Die Bilder wurden im Verlauf eines über 20.000 Jahre andauernden Zyklus, der im
Jungpaläolithikum begann und sich dann bis in das 20. Jahrhundert hinein fortsetzte,
an den Felswänden angebracht. Die ältesten Darstellungen zeigen bestimmte, von ihren
Urhebern gejagte Tiere (Pferde, Auerochsen, Steinböcke, Hirsche, Pyrenäen-Gämsen etc.;
Abb. 4). Gegen Ende des Paläolithikums kommen menschliche Darstellungen und Zeichen zu den Tierbildern hinzu 12 . Die eisenzeitlichen Petroglyphen zeigen mythologische
Szenen sowie Kriegs- und Jagdszenen (Krieger, Waffen, Pferde, Rothirsche, Hunde) 13 . Die
jüngsten, häufig datierten Zeichnungen bilden religiöse Gegenstände oder alltägliche,
von ihren Urhebern – den Müllern, die das Tal in den 1950er Jahren aufgegeben haben –
beobachtete Begebenheiten ab 14 .
Im Lauf der Zeit ist ein Wandel der Techniken, die die ›Verewigung‹ der Bilder ermöglicht haben, zu beobachten (Abb. 3). Grundsätzlich ging es darum, auf einer ebenen und,
in Abhängigkeit von der Expositionsdauer, braunen oder dunkelgrauen Oberflächen aus
Schiefer- oder Grauwacke einen Kontrast zu erzeugen. Der Strich besteht zumeist aus feinen während des Paläolithikums mit Steinwerkzeugen und von der Eisenzeit an mit Metallgerätschaften erzeugten Ritzlinien. In anderen Fällen entstanden durch wiederholte Punzund Ritzvorgänge, gelegentlich auch durch Abschaben [Anm. d. Übers.: bzw. Abschleifen]
der Felsoberfläche, tief eingeschnittene Linien mit U- oder V-förmigem Querschnitt.
10
11
12
13
14
72
Zilhão 1997; Baptista 2001b; Baptista – García Diez 2002; Baptista et al. 2006; Baptista – Reis 2008.
Baptista – Reis 2008.
Baptista 1999; Baptista 2009.
Luís 2009.
García Diez – Luís 2003.
THIERRY AUBRY, LUÍS LUÍS
Abb. 3 | Im Côa-Tal verwendete Techniken
zur Ausführung von Gravierungen.
Abb. 4 | Während der verschiedenen Phasen
des künstlerischen Zyklus in der Kunst des
Côa-Tales dargestellte Motive.
Die an den paläolithischen Fundorten der Region durchgeführten Ausgrabungen
erbrachten in einer um 28.500 BP datierten Schicht der Fundstelle Olga Grande 4 15 die
Entdeckung von Grobspitzen, deren Enden Schäden aufweisen, die einer Verwendung
zur Erzeugung von Punzungen und Rillen entsprechen 16. Obwohl die Ausgrabungen der
jungpaläolithischen Fundplätze der Region zahlreiche Fragmente mineralischer Pigmente aus unterschiedlichen regionalen Quellen zu Tage gefördert haben 17, war hinsichtlich
der gravierten Felsbildlinien nur in denen der Fundstelle Faia stellenweise die Erhaltung
mineralischer Pigmente nachweisbar.
15
16
17
Valladas et al. 2001; Aubry 2009.
Plisson 2009.
García Diez et al. 2009.
UMWELT UND SOZIALER KONTE X T PAL ÄOLITHISCHER FREIL ANDKUNS T, CÔA -TAL
73
1.1 Aus welcher Zeit stammen die im Côa-Tal erhaltenen paläolithischen Petroglyphen?
Bereits zum Zeitpunkt der Entdeckung der Côa-Gravierungen waren sich die Prähistoriker darüber einig, dass ein Teil der Felsbilder in keiner Weise den Zeichen oder den
schematisierten anthropomorphen und zoomorphen Motiven der Bauern und Hirten des
Neolithikums oder der jüngeren Perioden ähnelt, sondern den durch paläolithische Jäger
in Höhlen und Abris hinterlassenen, gemalten und in Stein geschlagenen Tierdarstellungen entspricht.
Die EDP (Energias de Portugal) versuchte unter Berufung auf einige abweichende
Stimmen, die Geltung des stilistischen Vergleiches [Anm. d. Übers.: grundsätzlich] in
Frage zu stellen. Anhand von Kleinstbruchstücken des organischen Materials, das in den
Felsbildlinien einiger Darstellungen an den Fundorten Penascosa, Piscos und Canada do
Inferno erhalten war, wurde mit Hilfe der Radiokarbonmethode eine Altersbestimmung
vorgenommen. Die Ergebnisse liegen nach Alan Watchman18 zwischen 2000 und 7000,
nach Ron Dorn19 zwischen 2120 und 5480 Jahre vor heute. Gleichwohl reichen die durch
Dorn vorgenommenen Datierungen von Kleinstbruchstücken organischen Materials, das
sich auf den an die Gravierungen angrenzenden Oberflächen erhalten hat, im Fall einer
Probe vom Fundort Penascosa etwa 29.990 Jahre zurück. Unter den beiden zitierten Autoren ist die Bedeutung der Ergebnisse der Datierungen und deren Verwendbarkeit zur
Bestimmung der zeitlichen Abfolge der Herstellung bzw. Auffrischung der Gravierungen
strittig. Auf der Grundlage einer vergleichenden Betrachtung der an Kleinstbruchstücken
organischen Materials (sowohl aus den Felsbildlinien als auch von angrenzenden Oberflächen) vorgenommenen Datierungen schließt Dorn20 – ebenso wie João Zilhão21 es bereits
auf der Basis theoretischer Überlegungen erklärt hatte –, dass die Verwitterungsrinde der
Felsen nicht als geschlossenes System anzusehen ist und folglich, aufgrund der Besiedlung durch Mikroorganismen, seit dem Zeitpunkt der Erstexposition die Felsoberfläche
einer fortwährenden Verunreinigung ausgesetzt gewesen war. Deshalb ist nicht davon
auszugehen, dass die Datierungsergebnisse den Herstellungszeitpunkt der Felsbildlinien
angeben.
In Anbetracht der Tatsache, dass sich die Gravierungen mittels der Radiokarbonmethode nicht datieren lassen, wurde schnell klar, dass eine Bestimmung ihres archäologischen Kontextes notwendig war. Aus den an rund 15 jungpaläolithischen Stationen – von
denen zehn sondiert oder ausgegraben werden konnten – erhaltenen Abfolgen ist seither
der genaue Rahmen der Besiedlung der Region ersichtlich 22 . Die seit Beginn der Forschungen auf der Grundlage typologischer und technologischer Erwägungen vorgebrach18
19
20
21
22
74
Watchman 1995; Watchman 1996.
Dorn 1997.
Dorn 1997.
Zilhão 1995.
Aubry 2001; Aubry – Sampaio 2008; Aubry 2009.
THIERRY AUBRY, LUÍS LUÍS
Abb. 5 | Rekonstruktion der den Felsen Nr. 1 des Fundortes Fariseu umgebenden Felsaufschlüsse und Überlagerung der Darstellungen durch datierte Schichten, die jungpaläolithische Besiedlungsreste enthielten.
ten Thesen über die menschliche Besiedlung des Côa-Tales während mehrerer Phasen
des Jungpaläolithikums23 konnten durch Thermolumineszenzdaten bestätigt werden 24 ,
so dass sich auch die von Bednarik 25 vorgebrachte Argumentation hinsichtlich eines fehlenden Kontextes widerlegen ließ.
Im Jahre 1999 konnte am Fundort Fariseu das paläolithische Alter der Gravierungen
nachgewiesen werden. Dort bedeckten Schichten mit jungpaläolithischen Besiedlungs23
24
25
Zilhão 1995; Zilhão 1997; Aubry 1998; Aubry 2001.
Mercier et al. 2001; Valladas et al. 2001; Mercier et al. 2006.
Bednarik 1995.
UMWELT UND SOZIALER KONTE X T PAL ÄOLITHISCHER FREIL ANDKUNS T, CÔA -TAL
75
resten eine Wand, die mit stilistisch dieser Periode zugehörigen Motiven verziert war.
Der Fundplatz lieferte eine stratigraphische Abfolge mit Überresten mehrerer jungpaläolithischer Besiedlungsphasen. Die Stratigraphie befand sich im direkten Kontakt mit einer
Felswand, die 94 Tierdarstellungen trägt (Abb. 5). Diese durch Punzung, tiefe Schlifflinien
[Anm. d. Übers.: im Originaltext ist von »Rillen« die Rede] oder seltener Ritzung erzeugten
Bilder zeigen Pferde, Hirsche, Rinder und Ziegenartige (Abb. 4. 5)26. Am Ausgangspunkt
der ausgegrabenen Sequenz fand sich ein von der bearbeiteten Felswand herabgefallenes
Bruchstück. Der archäologische Befund – d. h. zum einen die die bearbeitete Felswand
bedeckende stratigraphische Abfolge und zum anderen die Überlagerungssequenz der
Felsbilder – zeigt, dass von Anfang an – d. h. nach der verfügbaren OSL-Datierung seit
mindestens 18.400 ± 1600 BP, was einer Radiokarbondatierung von 14.500/15.000 Jahren
entspricht 27 – die gesamte verfügbare Felsoberfläche genutzt wurde.
Diesem Befund nach zu urteilen gehen die Bilder des Côa-Tales, die mehrere übereinstimmende formale Merkmale aufweisen – Profildarstellung von Tieren durch die Verknüpfung gerader, geometrischer, durch tiefe Punzung und/oder Schlifflinien [Anm. d.
Übers.: im Originaltext ist von »Rillen« die Rede] 28 erzeugter Linien, wobei keine Einzelheiten des Körpers und die vorderen und hinteren Gliedmaßen jeweils nur einfach und
ohne das Extremitätenende abgebildet sind – zeitlich dem Datum von 18.400 BP voraus
und sind älter als die Magdalénien-Kultur. Eine im Jahre 2007 im Mittelpunkt des Fundortes durchgeführte Sondierungsgrabung führte zur Entdeckung älterer Besiedlungsspuren, die – aufgrund der Datierungsergebnisse von Holzkohleproben, die ein Alter von
19.020 ± 80 BP (GrA 40167) ergaben – dem Solutréen und – aufgrund der Merkmale der
lithischen Industrie – dem Gravettien zuzuordnen sind. Dieser Befund deutet darauf hin,
dass die Ausarbeitung der gepunzten und geschabten [Anm. d. Übers.: im Originaltext ist
von »Rillen« die Rede] Felsbildsequenz des Felsens Nr. 1 älter als oder zeitgleich mit dem
›Oberen Solutréen‹ ist, dass im Übrigen an mehreren Fundstellen der Region nachgewiesen werden konnte29 .
1.2 Chronologische Abfolge auf der Grundlage von Überresten der Kleinkunst
Während die Ausgrabungen am Fundort Fariseu einen Mindestzeitansatz für die frühe
Kunstphase des Paläolithikums im Côa-Tal ergaben, führten die archäologischen Ausgrabungen an anderen Fundplätzen zur Entdeckung graphischer Zeugnisse auf beweglichem steinernen Trägermaterial, anhand derer sich die stilchronologische Abfolge näher
bestimmen lässt (Abb. 6). Die Fundstelle Quinta da Barca Sul erbrachte einen schiefernen
26
27
28
29
76
Aubry – Baptista 2000; Aubry – García Diez 2000; Baptista 2009.
Aubry – Sampaio 2008; Aubry 2009.
Guy 2010.
Zilhão 2003; Aubry 2009.
THIERRY AUBRY, LUÍS LUÍS
Abb. 6 | Chronologischer
Rahmen der Zeichnungen auf
beweglichen steinernen Bildträgern aus den paläolithischen
Fundorten des Côa-Tales.
Kieselstein, der auf beiden Seiten Bündel paralleler Ritzlinien trägt und somit definitionsgemäß den ›Azilien-Kieseln‹ zuzurechnen ist30. Diese stilistische Einordnung wird durch
das in der stratigraphischen Einheit Nr. 3, aus der dieses Objekt stammt, gefundene lithische Material und die TL-Datierung dreier erhitzter Quartz-Kiesel (11.600 ± 1.200, 11.900
± 1.100 und 12.700 ± 100 BP) aus diesem Befund gestützt.
Zu den ersten beiden Exemplaren, die im Rahmen der im Jahre 1999 am Fels Nr. 1
des Fundortes Fariseu durchgeführten Sondierungsgrabung in der Schicht Nr. 4 gefunden wurden31, sind mehr als 80 Stücke hinzugekommen. Unter diesen im Jahre 2004 bei
geologischen und geophysikalischen Sondierungen sowie in den Jahren 2005 und 2007
30
31
Couraud 1985; D’Errico 1994.
García Diez – Aubry 2002.
UMWELT UND SOZIALER KONTE X T PAL ÄOLITHISCHER FREIL ANDKUNS T, CÔA -TAL
77
bei Ausgrabungen entdeckten Objekten weisen rund 50 zweifellos anthropogene Ritzungen auf32 . Zwei Exemplare mit anthropogenen Zeichnungen stammen aus einem Bereich,
in dem sich die stratigraphischen Einheiten Nr. 7 und Nr. 8 nicht voneinander unterscheiden lassen. Obgleich sie unvollständig sind, zeigt jedes dieser Stücke ein unter stilistischen Gesichtspunkten charakteristisches Motiv. Alle übrigen gravierten Schieferstücke
stammen aus der stratigraphischen Einheit Nr. 4. Aufgrund der TL-Datierungen (11.000
± 1.000, 10.800 ± 1.700 und 11.800 ± 900) sowie der Datierung der Knochen (10.510 ± 40
et 9.830 ± 130 BP), die dem organischen Material der Schicht Nr. 4 zugehören, ist die Ausarbeitung dieser zoomorphen Motive in die Kaltphase der älteren Dryaszeit einzuordnen
und somit zeitgleich mit der Besiedlungsphase an der Basis der Schicht Nr. 3 vom Fundplatz Quinta da Barca Sul. Bezüglich morphologischer und stilistischer Aspekte unterscheiden sich die an den zoomorphen Figuren aus der Schicht Nr. 4 erkennbaren Darstellungskonventionen nicht von denen, die schon bei den ersten Fundobjekten beobachtet
wurden33 . Die von Fernando Barbosa und André Santos vorgelegten Beschreibungen und
systematischen Aufnahmen zeigen, dass zur Erzeugung der einzelnen Linien, die man in
Parallelsequenzen anordnete oder zu figurativen bzw. zoomorphen Darstellungen zusammenfügte, feine Ritzungen als Technik angewandt wurden. Unter den zoomorphen Abbildungen dominieren Hirsche, Ziegenartige oder Gämsen. In einem Fall handelt es sich
möglicherweise um eine anthropomorphe Figur oder um die Darstellung eines nachtaktiven Raubvogels in Vorderansicht. Die Wiedergabe des Körpers der zoomorphen Figuren
gründet sich auf dieselben geometrischen Konstruktionsprinzipien, die bereits an den im
Jahre 1999 entdeckten Objekten aufgefallen waren, wobei an den jeweils zwei oder vier
abgebildeten Gliedmaßen das Extremitätenende nicht dargestellt ist (Abb. 6).
Der Vergleich der Kleinkunstfunde aus der Schicht 4 vom Fundort Fariseu mit den
Zeichnungen an den Felswänden des unteren Côa-Tales und der Einmündung in den
Douro zeigt große stilistische Übereinstimmungen34 . Auf dieser Grundlage lassen sich
zahlreiche durch Mehrfachritzungen erzeugte Bilder von Hirschen und Ziegenartigen
in diese Endphase des Pleistozäns einordnen (Abb. 7). Weil genau diese Technik auch auf
einem Fundstück aus der Schicht Nr. 7/8 verwendet wurde, kann allerdings nicht ausgeschlossen werden, dass diese stilistische Tradition in einer dem Magdalénien vorausgehenden Phase begonnen hat.
Im stratigraphischen Zusammenhang mit den Objekten, die gegenständliche Motive aufweisen, wurde auch ein Quarzit-Kiesel gefunden, der auf beiden Seiten die Reste
mineralischer, in parallelen Streifen angeordneter Pigmente trägt35 . Dieses Motiv ist Bestandteil der Bildervielfalt der ›Azilien-Kiesel‹36.
32
33
34
35
36
78
Aubry 2009.
García Diez – Aubry 2002.
Baptista 2008.
Aubry 2009.
D’Errico 1994; Couraud 1985.
THIERRY AUBRY, LUÍS LUÍS
Abb. 7 | Stilkonventionen der älteren und jüngeren Phasen des Jungpaläolithikums.
UMWELT UND SOZIALER KONTE X T PAL ÄOLITHISCHER FREIL ANDKUNS T, CÔA -TAL
79
2 Interpretation der paläolithischen Petroglyphen
2.1 Was stellen die paläolithischen Petroglyphen dar?
Die Tierdarstellungen überwiegen bei weitem – wie es auch im restlichen in den Höhlen
und Abris des Côa-Tales erhaltenen Bilderkorpus und während der verschiedenen Kunstphasen der Fall ist – und im Bestiarium dominieren die Pferde, die großen Rinder (im
vorliegenden Fall der Auerochse) und in geringerem Maße die Gämsen. Gleichwohl zeigt
der Vergleich zwischen den beiden anerkannten Hauptphasen (d. h. einerseits die durch
die Bilder auf dem Felsen Nr. 1 von Fariseu verkörperte vor-magdalénienzeitliche Kunst
und andererseits das Ende des Spätglazials), dass die Hirsche gegen Ende der Sequenz an
Bedeutung gewinnen – wie es auch durch die Untersuchung der Reste der Jagdfauna aus
den gleichzeitigen Besiedlungsphasen der Höhlen und Abris hinsichtlich der relativen
Häufigkeit dieser Art bezeugt ist37.
In der älteren Phase handelt es sich im Wesentlichen um Tierdarstellungen im Vollprofil oder im verzerrten Profil, deren vollständige Gliedmaßenpaare ohne Hufe und mittels derselben Konturlinie abgebildet sind. Emmanuel Guy hat, wie oben beschrieben,
mehrere konventionelle Formmerkmale bestimmt (geometrische Kontur, einfache Abbildung der Gliedmaßen ohne das Ende der Extremitäten, fehlende Darstellung von Einzelheiten des Körpers), die er als Argument für die Existenz einer künstlerischen Schule betrachtet, diese Schule sei durch gemeinsame Mythogramme gekennzeichnet38. Zumeist
überlagern sich die Darstellungen aus dieser Zeit traubenartig39 und bilden auf diese
Weise einen Verbund, der einer geplanten Ordnung unterworfen ist und dessen Linien
bis zu einem Viertel der bearbeiteten Oberfläche bedecken 40.
Die Darstellung der Tierbewegungen geschieht durch segmentale Belebtheit. Diese
Belebtheit kann sowohl durch die Abbildung der Momentaufnahme einer Bewegung –
wie es von einem Großteil der paläolithischen Höhlenkunst bekannt ist 41 – als auch (vor
allem) durch die Aufgliederung der Körpersegmente des Tieres bzw. durch die Darstellung einer Figur mit mehreren Beinen und/oder Köpfen erzeugt werden 42 . Dieses Verfahren, das in der paläolithischen Kunst seltener vorkommt, ist auch in der Höhlenkunst
belegt 43 .
In Verbindung mit Tierfiguren, die nach stilistischen Kriterien dem ›Mittleren‹
oder ›Oberen‹ Magdalénien zuzuordnen sind, treten auch karikaturhafte menschliche
37
38
39
40
41
42
43
80
Zilhão 1997.
Guy 2010.
Schefer 1999.
Guy 2010.
Leroi-Gourhan 1992.
Luís 2008.
Azéma 1992.
THIERRY AUBRY, LUÍS LUÍS
Darstellungen auf. In der jüngsten Phase des Jungpaläolithikums erscheinen geometrische Zeichen und Szenen, in denen mehrere Tiere derselben Art miteinander verknüpft
sind.
2.2 Von welchen natürlichen und menschlichen Faktoren hängt die Verteilung
der Petroglyphen im Côa-Tal ab?
Obgleich die Verbreitungskarte der Felsen mit Petroglyphen das Ergebnis systematischer
Begehungen ist, muss das Gesamtbild relativiert werden. Es ist weder möglich denjenigen Teil des Côa-Tales zu begehen, der sich derzeit im Einzugsbereich des Stauwerkes
von Pocinho befindet, noch einen großen Teil des Douro-Beckens, dessen portugiesischer
Bereich durch mehrere Staudämme in Mitleidenschaft gezogen ist. Ein weiterer unsere
Erkenntnismöglichkeiten begrenzender Faktor ist die Verwendung von Bruchstücken der
Felsritzungen tragenden Aufschlüsse zur Errichtung von Stützmauern für die landwirtschaftlichen Terrassenkulturen 44 . Es handelt sich dabei um für das Douro-Tal kennzeichnende Anlagen, die seit dem Beginn des 17. Jhs. belegt sind.
Unter Berücksichtigung dieser beiden Faktoren wird gleichwohl deutlich, dass die
Bildfelder – ungeachtet ihrer Zeitstellung – keine gleichmäßige Verteilung aufweisen.
Vielmehr sind sie auf den letzten acht Kilometern des Tales zusammengedrängt, und
zwar genau in dem Bereich, in dem der Wasserlauf die Schiefer der Pinhão-Formation
verlässt und in die des Rio Pinhão eintritt. Der Fundort Faia, der von den größeren Bildfeldkonzentrationen relativ isoliert ist, besteht aus zwei Granit-Aufschlüssen, die durch
eine kleine Auskragung geschützt sind. In Anbetracht der räumlichen Übereinstimmung
mit der Grenze zwischen zwei geologischen Formationen haben wir die Vermutung geäußert, dass in Abhängigkeit von den Auswirkungen klimatischer Faktoren sowie von der
Höhenlage, der Temperatur und der mineralischen Zusammensetzung ein unterschiedlicher Erhaltungsgrad der natürlichen Felsoberflächen vorliegt 45 .
Bei den paläolithischen Motiven auf den 330 veröffentlichten Bildfeldern handelt es
sich mehrheitlich um Ritzungen, die – auf der Grundlage eines morphologischen und
stilistischen Vergleiches mit den Kleinkunst-Stücken aus der stratigraphischen Einheit
Nr. 4 vom Fundort Fariseu – der jüngeren Dryaszeit zugerechnet werden können 46. Diese Bilder befinden sich auf Felsoberflächen, die sich auf alle Hänge verteilen, wobei die
größte Dichte im Bereich des Zusammenflusses von Côa und Douro zu verzeichnen ist
und kürzlich mehrere neue Bildfelder im Gipfelbereich des bei Vila Nova de Foz Côa
gelegenen Plateaus entdeckt worden sind 47. Demgegenüber drängen sich die gepunzten
44
45
46
47
Baptista – Reis 2008.
Aubry et al. 2002.
Baptista 2009; Aubry – Sampaio 2008.
Baptista – Reis 2008.
UMWELT UND SOZIALER KONTE X T PAL ÄOLITHISCHER FREIL ANDKUNS T, CÔA -TAL
81
Petroglyphen der älteren Stilphase48 – trotz der systematisch durchgeführten Begehungen – in der unteren Zone zusammen, dabei beschränkt sich ihre Verbreitung im Wesentlichen auf den Bereich der letzten acht Kilometer und die unteren 70 Meter oberhalb der
Niedrigwasserlinie.
In einem kürzlich veröffentlichten und durch eine bereits vor einigen Jahren vorgelegte Arbeit 49 angeregten Aufsatz50 wurde die Vermutung geäußert, dass die Häufung der
südlichen und östlichen Expositionsrichtung bei den Bildfeldern, die paläolithische Motive
tragen, durch eine anthropogene, zum Zeitpunkt ihrer Herstellung getroffene Wahl bedingt sei (Abb. 2). Die allgemeine Nordwest-Südost Ausrichtung des felsigen Untergrundes entspricht jedoch vollkommen derjenigen, die aus den Übersichten der regionalen
tektonischen Verwerfungen hervorgeht, die sich wiederum aus den Auswirkungen der
Kompressionsspannung in der jüngsten Phase der variszischen Orogenese ableiten lassen51.
Die räumliche Verteilung der der Eisenzeit zuzurechnenden Petroglyphen deckt sich
im Übrigen mit derjenigen der aus dem Endpaläolithikum datierenden Darstellungen
(Abb. 2). In unterschiedlichen Hanglagen sind mehrfach Überlagerungen von stilistisch
dem Spätglazial zuschreibbaren Darstellungen durch eisenzeitliche Motive festzustellen52 . Daran zeigt sich, dass die Felsoberflächen zumindest seit dem Ende des Pleistozäns
stabil sind. Da die beiden Phasen künstlerischer Darstellung mit ganz verschiedenen Gesellschaften verknüpft sind, ist nur schwer vorstellbar, dass einerseits Jäger und Sammler
und andererseits hierarchischen Regeln unterworfene Erzeuger dieselben Bildfelder ausgewählt haben, um darauf sehr unterschiedliche Motive abzubilden.
Vielmehr verhält es sich so, dass die Mehrzahl der der älteren Phase zugehörigen Bildfelder, die sich auf die beiden den Fundorten von Quinta da Barca und Penascosa gegenüberliegenden Hänge verteilen, keine durch jüngere Bilder überlagerten paläolithischen
Motive aufweisen (Abb. 9). Diese sind zwar auch an den Fundplätzen vorhanden, befinden
sich jedoch auf anderen Bildfeldern53. Eine Studie zum Erhaltungsprozess hat gezeigt, dass
die Erhaltung der metallisch-siliziösen Patina – bei der es sich um einen der wichtigsten
Faktoren für den Schutz der gravierten Felsoberflächen handelt – mit zunehmender Entfernung von der Niedrigwasserlinie des Côa-Flusses schnell abnimmt54 . Die Unterschiede
hinsichtlich der räumlichen Verbreitung der Petroglyphen aus den beiden wichtigsten paläolithischen Kunstphasen – die sich durch einen stilistischen Vergleich anhand der am
Fundort Fariseu objektiv gesicherten Daten zeitlich einordnen lassen – sind sowohl durch
die Auswahl bestimmter Felsbildträger55 als auch durch Unterschiede bei den Erhaltungs48
49
50
51
52
53
54
55
82
Baptista et al. 2008a; Baptista 2008b.
Baptista – García Diez 2002.
Fernandes 2010.
Ribeiro 2001.
Zilhão 1997; Baptista – Reis 2008.
Baptista – Santos 2010.
Chauvière et al. 2009.
Baptista – Santos 2010.
THIERRY AUBRY, LUÍS LUÍS
bedingungen der Gravierungen der älteren Phase (insbesondere unter dem Einfluss von
Temperaturschwankungen während mehrerer Kaltphasen des Spätglazials, die durch dem
Felsen Nr. 1 von Fariseu gegenüberliegende Ablagerungen belegt sind)56 zu erklären.
Diese verschiedenartigen Feststellungen implizieren, dass die Expositionsrichtung der
Bildfelder durch die Ausrichtung des Netzes der tektonischen Frakturen (die entlang der
Nordost/Südwest-Achse konzentriert sind) vorgegeben ist. Im Übrigen gehen die Unterschiede im Erhaltungszustand der Gravierungen auf klimatische Faktoren zurück wie auch auf die
Verwitterungswirkung, die seit dem Spätglazial durch die Besiedlung mit Flechten und Moosen ausgelöst ist und besonders die nach Nordwesten exponierten Felsoberflächen betrifft57.
Es ist hervorzuheben, dass allein der Felsen Nr. 1 von Fariseu insgesamt 94 von 397
der älteren Phase zuzuordnenden Darstellungen trägt58 und dass das Potential dieses
Fundortes, der noch mindestens einen weiteren reich bebilderten Felsen aufweist, nicht
ausgeschöpft ist. Diese Feststellung und die Tatsache, dass die beiden Felsen, die die meisten Bildüberlagerungen aufweisen, nahe am Rand der Aufschüttungsebene liegen (Fels
Nr. 1 von Quinta da Barca und Fels Nr. 1 von Fariseu), geben uns Anlass zu der Vermutung,
dass die Überlieferung der Petroglyphen der älteren Phase in direktem Zusammenhang
mit der Existenz einer Abdeckung des Talgrundes durch eine Aufschüttungsebene steht.
Die Entdeckung des Felsens Nr. 1 von Fariseu zeigt, dass folglich noch zahlreiche Felsbildträger unter den Anschwemmungen zu entdecken sein werden59.
2.3 Von wo aus sind die Bilder sichtbar und in welcher Weise stehen sie
zueinander in Beziehung?
Die Sichtbarkeit ist nach den für die paläolithischen Bilder des Côa-Tales vorliegenden
funktionalen Deutungen ein bedeutender Faktor60. Gleichwohl weisen die Positionsmerkmale der Gravierungen mit Bezug auf ihre natürliche Umgebung in den beiden
zeichnerischen Hauptphasen des Paläolithikums deutliche Unterschiede auf.
In der älteren Phase treten die Bildfelder hauptsächlich im Randbereich der Aufschüttungsebene des Côa-Flusses auf, so dass mehrfach auf ihre Beziehung zum Wasserlauf
bzw. seine jahreszeitlich bedingten Schwankungen hingewiesen wurde61 . In den ergiebigsten Bereichen sind die Bildfelder häufig wie auf einem Podest angeordnet. Diese Gliederung ergibt sich aus dem Zusammenspiel der Ausrichtung der Schieferlagen des Muttergesteins und der parallelen Brüche, die das Muttergestein durchziehen (Abb. 5). Diese
56
57
58
59
60
61
Aubry et al. 2010.
Aubry et al. 2012.
Baptista et al. 2008a; Baptista et al. 2008b.
Aubry et al. 2010.
Baptista – García Diez 2002.
Schefer 1999.
UMWELT UND SOZIALER KONTE X T PAL ÄOLITHISCHER FREIL ANDKUNS T, CÔA -TAL
83
Häufungen [Anm. d. Übers.: von Bildfeldern] befinden sich am Rand der Hanglagen62 in
den Bereichen, in denen das Tal breiter wird und sich derzeit Anschwemmungen ablagern. Isolierte Felsen mit einer geringeren Zahl von Bildern stehen in höheren Hanglagen
oder entlang der zeitweiligen Zuflüsse des Côa-Flusses. Die Anhäufungen nebeneinander
gesetzter Bilder auf ein und demselben Bildträger wurden dahingehend gedeutet, dass
eine Monumentalisierung des natürlichen Raumes beabsichtigt gewesen sein könnte63 .
Innerhalb dieser absichtlichen Störung durch die Überlagerung von Bildern – die
jeweils vereinfachte taxonomische Merkmale aufweisen und unmittelbar lesbar sind –
wird von einigen Autoren64 für die dieser Phase der Fundorte Quinta da Barca, Penascosa,
Fariseu und Canada do Inferno zugeschriebenen Bilder die Existenz struktureller Muster
angenommen, bei denen die dargestellten Arten, die Größe und Ausrichtung der Figuren
sowie der Abstand zwischen den Felsen eine Rolle spielten. Die jeweiligen Anteile der auf
den einzelnen Bildfeldern dargestellten Tierarten hätten darüber hinaus unterschiedliche
Bereiche innerhalb dieser Felsbildfundorte definiert (hauptsächlich Hirsch, hauptsächlich Aurochse, usw.). Durch die Orientierung der jeweiligen Figurenmehrheit auf einem
Bildfeld schließlich sei auch eine Laufrichtung im Rahmen eines die verschiedenen Bildfelder miteinander verbindenden Parcours definiert worden.
Die Bilder aus der Endphase des Paläolithikums sind demgegenüber von geringerer
Größe, sie weisen nur selten Überlagerungen auf und sind in den Fällen, in denen mehrere Tiere derselben Art miteinander verknüpft sind, szenisch angeordnet. Sie befinden sich
auf Bildfeldern, die sich über die gesamten Hanglagen verteilen. Im Hinblick auf die Bildfelder, die Darstellungen dieser Periode aufweisen, wurde die Vermutung geäußert, dass
sie zwar nach wie vor dieselbe Funktion hatten, ihre sequentielle Visualisierung jedoch
die Anwesenheit eines über ihr Vorhandensein informierten ›Führers‹ erfordert hätte,
was mehrere Erkenntnisebenen implizieren würde65 .
Um diese Beobachtungen zur Sichtbarkeit der Darstellungen in den beiden wichtigsten
zeichnerischen Phasen genauer zu bestimmen, wurde nach Techniken untergliedert der den
Bildern zugeschriebene Sichtbarkeitsabstand in messbare Größen umgesetzt. Aufgrund der
Untersuchungsergebnisse schlagen wir eine Deutung der paläolithischen Darstellungen vor.
Es wurde eine Versuchsreihe mit der Zielsetzung durchgeführt, die Sichtbarkeit der
Linien auf einem – nach der Farbskala der Bodenfarben von André Cailleux66 – dunkelbraunen Bilduntergrund (Farbton R-69) zu bewerten. Die mit Hilfe von zwei Personen –
die sich auf ebenem Untergrund schrittweise von der Felswand entfernten – erarbeiteten
Ergebnisse erlauben eine Quantifizierung der maximalen Entfernung, bei der übereinstimmend breite Linien in drei unterschiedlichen Farbtönen noch erkennbar sind (Abb. 8).
62
63
64
65
66
84
Baptista – García Diez 2002.
Zilhão 1998.
Baptista et al. 2006; Baptista et al. 2008a; Baptista et al. 2008b; Baptista – Santos 2010.
Baptista – Santos 2010.
Cailleux 1979.
THIERRY AUBRY, LUÍS LUÍS
Abb. 8 | Experimentelles Bezugssystem zur Bewertung der Sichtbarkeit
anhand von Farbe und verwendeter Technik.
UMWELT UND SOZIALER KONTE X T PAL ÄOLITHISCHER FREIL ANDKUNS T, CÔA -TAL
85
Abb. 9 | Sichtbarkeit der Darstellungen der
älteren Phase an
den Fundorten
Quinta da Barca
und Penscosa
(M. 1 : 7500).
86
THIERRY AUBRY, LUÍS LUÍS
Abb. 10 | Sichtbarkeit der vom Ende
des Jungpaläolithikums datierenden
Darstellungen auf Felsen der Fundorte
Vale de José Esteves, Vermelhosa und
Penascosa.
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Tab. 1 | Sichtbarkeit zwischen den Bildfeldern von Quinta da Barca. Die Abfolge zwischen den Bildfeldern
folgt der von Baptista et al. 2008b vorgeschlagenen Anordnung. Die Werte entsprechen: nicht sichtbar (0),
Sichtbarkeit des Aufschlusses außerhalb des Lesbarkeitsbereiches der Linien von 150 m (1), Sichtbarkeit des
Aufschlusses innerhalb des Lesbarkeitsbereiches der Linien (2), Sichtbarkeit der Bildfeldoberfläche außerhalb
des Lesbarkeitsbereiches der Linien (3) und Sichtbarkeit der Bildfeldoberfläche und der Linien innerhalb des
Lesbarkeitsbereiches (4).
Bezüglich der Oberflächen, die die im Tal am häufigsten vertretenen Farbtöne aufweisen, war festzustellen, dass die gepunzte Linie, die darauf einen weißen Kontrast bildet,
über die größte räumliche Distanz hinweg sichtbar ist. In einem zweiten Schritt wurden
unter Einsatz mehrerer im Paläolithikum verwendeter Techniken Felsbildlinien erzeugt
und die maximale Sichtbarkeitsentfernung quantifiziert. Schließlich wurde ein Versuch
durchgeführt, bei dem die Beobachter sich schrittweise den in den verschiedenen Techniken als Zahlen ausgeführten Darstellungen näherten.
Es ist nun möglich, bezüglich der in den unterschiedlichen Techniken ausgeführten
frischen Linien, die den größten Kontrast gegenüber dem Untergrund aufweisen, einen
Grenzwert für die Sichtbarkeit der gravierten Darstellungen anzugeben. Wir haben diesen Ansatz auf Bildfelder der beiden Kunstphasen des Jungpaläolithikums angewendet:
Dies betraf an den Fundorten Penascosa/Quinta da Barca die ältere Phase (Abb. 9) und
auf einem Felsen von Vale de José Esteves, Vermelhosa und Penascosa das Ende des Jungpaläolithikums (Abb. 10)
Die im Rahmen der Versuchsreihen gewonnenen Daten wurden unter Nutzung der
Sichtbarkeitsanalyse in einem geographischen Informationssystem auf die während des
88
THIERRY AUBRY, LUÍS LUÍS
Tab. 2 | Sichtbarkeit der Bildfelder von Penascosa in Quinta da Barca (s. Tab. 1 für weitere Einzelheiten).
Tab. 3 | Sichtbarkeit zwischen den Bildfeldern von
Penascosa (s. Tab. 1 für weitere Einzelheiten).
Tab. 4 | Sichtbarkeit der Bildfelder von Quinta da
Barca in Penascosa (s. Tab. 1 für weitere Einzelheiten).
Paläolithikums gearbeiteten Bildfelder angewendet67. Die verschiedenen Bildfelder und
die Darstellungen der älteren Phase an den Fundorten Penascosa und Quinta da Barca
wurden insgesamt auf die Sichtbarkeit der Linien, der Oberflächen und des Aufschlusses
hin betrachtet. Darüber hinaus wurde die durch die bevorzugte Ausrichtung der Klüfte
(NNO/SSW in Penascosa und Quinta da Barca, NO/SW an den übrigen Fundorten) vorgegebene Ausrichtung der Bildfelder einbezogen (Tab. 1–4). Im Hinblick auf die Vermutung, dass sie ein und demselben Parcours zugehören, zeigen die Ergebnisse, dass sich
die vorgeschlagenen Strecken nicht vollständig durch die Ortung der entlegenen Darstellungen erklären lassen68. In zahlreichen Fällen sind sie, aufgrund der Entfernung und
der Topographie des dazwischen liegenden Geländes, nicht erkennbar.
67
68
Wheatley – Gillings 2002.
Baptista et al. 2008b; Baptista – Santos 2010.
UMWELT UND SOZIALER KONTE X T PAL ÄOLITHISCHER FREIL ANDKUNS T, CÔA -TAL
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Unter der Voraussetzung, dass eine stilistische Homogenität einem übereinstimmenden symbolischen Code entspricht, lassen sich mit Rücksicht auf die örtliche Topographie
anhand der räumlichen Analyse alternativ diejenigen Plätze bestimmen, von denen aus die
größte Zahl von Bildfeldern lesbar ist. Der Punkt A befindet sich [Anm. d. Übers.: mit Bezug auf den Parcours] auf halbem Wege von der Aufschüttungsebene entfernt (Abb. 9). Von
dort aus sind die Linien auf allen Bildfeldern des Fundortes sichtbar – mit Ausnahme des
Felsens Nr. 11, der in einer Entfernung von 253 Metern flussabwärts liegt. Darüber hinaus
ist von dort aus der größte Teil der Gravierungen sichtbar, die sich am Hangfuß des Fundplatzes Quinta da Barca befinden. Der Punkt B liegt auf einer durch eine Aufschüttungsterrasse gebildeten Plattform. Von dort aus sind die Bildfelder im oberen Hangbereich des
Fundortes Quinta da Barca sowie die am Rand der Aufschüttungsebene von Penascosa
befindlichen Bildfelder sichtbar, wobei jedoch die gravierten Linien nicht erkennbar sind.
Auf die an das Ende des Jungpaläolithikums datierte jüngere zeichnerische Phase bezogen ist vor dem Hintergrund der Versuchsergebnisse festzustellen, dass sich – im Unterschied zu den gepunzten Gravierungen der älteren Phase – die Sichtbarkeit ihrer Bilder
auf den Raum der kleinen Plattformen beschränkt, die direkt an den Bildfeldern liegen
(Abb. 10). Von keinem Punkt aus sind die Darstellungen von mehr als zwei verschiedenen
Bildfeldern lesbar (Vale do José Esteves 16, Vermelhosa 1, Penascosa 10).
3 Übertragung der aus Côa bekannten Gegebenheiten auf einen größeren Maßstab
Trotz fehlender systematischer Begehungen im größten Teil Portugals und Spaniens und
der Schwierigkeiten, die mit der Auffindung patinierter, fein eingeritzter Gravierungen
verbunden sind, zeigt die verfügbare Verbreitungskarte69, dass die im unteren Côa-Tal
vorhandene Dichte künstlerischer Zeugnisse des Paläolithikums und der Eisenzeit entlang der nahe gelegenen Nebenflüsse des Douro, die noch nicht durch Staudammbauten
(Ribeira de Aguiar, Àgueda) in Mitleidenschaft gezogen worden sind, keine Entsprechung
hat. Im oberen Bereich dieses Einzugsgebietes und desjenigen weiterer Nebenflüsse des
Douro dürfte jedoch während des letzten glazialen Maximums ein ähnliches durch Regen und Schnee gekennzeichnetes Niederschlagsregime vorgeherrscht haben, wie wir es
für das Côa-Tal rekonstruiert haben. Bei letzterem ist dies eine mögliche Erklärung für
dessen Besiedlung während des Jungpaläolithikums70. Am Fundort Siega Verda können
nur einige wenige Darstellungen unter stilistischen Gesichtspunkten mit den Bildern
der älteren Phase des Côa-Tales gleichgesetzt werden71 . Die in einem aus dem jüngeren
69
70
71
90
Baptista 2009; Reis mündliche Mitteilung.
Aubry et al. 2002.
Guy 2010.
THIERRY AUBRY, LUÍS LUÍS
Abb. 11 | Herkunft der während des Jungpaläolithikums an den Fundstellen des Côa-Tales verwendeten Silexstücke und mögliche Deutungsmodelle.
Holozän datierenden, alluvialen sedimentären Zusammenhang erhaltenen Felsbilder72
könnten ein Gegenstück zu den in Penascosa und Quinta da Barca entdeckten Petroglyphen darstellen. Sie könnten darüber hinaus als Hinweis auf die Existenz weiterer, unter
Sedimenten verborgener Fundplätze im flussabwärts gelegenen Teil des Einzugsgebietes
zu werten sein.
Hinsichtlich der für das Coâ-Tal charakteristischen Ausdehnung und großen Dichte
der Felsbildfundplätze sind mehrere, auch einander ergänzende Erklärungen möglich.
Eine erste Vermutung besagt, dass die Überlieferung der Gravierung das Ergebnis des
Zusammenspiels natürlicher Faktoren sei, die mit der Art des geologischen Untergrundes,
der Tektonik und den während des Pleistozäns und des Holozäns herrschenden klimatischen Bedingungen zusammenhängen würden und bessere Erhaltungsbedingungen als
anderswo geboten hätten. Auch ist vorstellbar, dass sich – abgesehen von den besonderen
Erhaltungsbedingungen – die Dichte der erhaltenen Gravierungen aus einer im Vergleich
zu den angrenzenden Regionen intensiveren Besiedlung des Tales aufgrund besonderer
Merkmale und Ressourcen ergibt. Wobei dies sowohl für die Jäger- und Sammlergesellschaften als auch für die Bauern und Viehzüchter gilt.
Die Untersuchung der Herkunft der an den Fundorten des Côa-Tales – einer Region,
in der dieser Rohstoff nicht natürlich vorkommt – zurückgelassenen Silexstücke liefert
weitere Informationen, die das Bild der Verbreitung der paläolithischen Felsbilder und der
sonstigen Fundstellen abrunden. Auf dieser Grundlage ist nicht nur eine Bewertung der
72
Alcolea González – Balbín Behrmann 2006.
UMWELT UND SOZIALER KONTE X T PAL ÄOLITHISCHER FREIL ANDKUNS T, CÔA -TAL
91
Größe der genutzten Territorien möglich, sondern es können auch mehrere Hypothesen
bezüglich des zugrundeliegenden sozialen Netzwerkes entwickelt werden, die zur Erklärung derartiger Bewegungen beitragen73 (Abb. 11). Als Ergebnis dieser Untersuchung ist
festzuhalten, dass Silex aus zwei einander entgegengesetzt liegenden Regionen verwendet wurde – das Material stammte zum einen aus der im Osten gelegenen Meseta und
zum anderen aus Quellen, die sich im Südwesten, im Sedimentgestein Zentralportugals
befanden. Dabei ist hervorzuheben, dass Geographen das Côa-Tal als natürliche Grenze
zwischen dem Zentralplateau der Meseta und den westlichen Gebirgen ansehen74 .
Eine Vermutung zur Frage der Versorgung mit Silex aus weit entfernten Regionen
besagt, dass Menschengruppen, die regelmäßig die biotischen und lithischen Ressourcen
der beiden geographischen Regionen nutzten, sich im Rahmen ihrer saisonalen Wanderungen ebenso regelmäßig an den Fundorten des Côa-Tales getroffen haben könnten
(Abb. 11). Demnach könnte das im Grenzbereich zweier geographischer Regionen gelegene
Côa-Tal ein bevorzugter Ort des wirtschaftlichen und kulturellen Austausches gewesen
sein – dies wäre eine Erklärung für die Notwendigkeit, graphische Symbole mit starkem
Identitätswert herzustellen75 .
3.1 Was bedeuten die Freilandzeichnungen der Iberischen Halbinsel?
Die Daten, die dank der Umsetzung eines systematischen Forschungsprojektes über die
Freilandkunst des Côa-Tales und ihren Kontext gesammelt werden konnten, ermöglichen ein verbessertes Verständnis der Prozesse, die im Laufe der Zeit die Erhaltung der
Petroglyphen bedingt haben und auch eine bessere Einschätzung der Repräsentativität
der überlieferten Bilder. In Anbetracht der für die Iberische Halbinsel inzwischen klarer
bestimmten Bedingungen und in Folge der Entdeckung pleistozäner Gravierungen im
Nilbecken76 ist für die Zukunft mit einem exponentiellen Anwachsen der Entdeckung
pleistozäner Freilandkunst zu rechnen.
Es ist nun möglich, den quantitativen Unterschied zwischen dem Bestand der Darstellungen im Freiland und dem der in Höhlen und Abris erhaltenen Gravierungen und
Malereien zu relativieren, der zum Zeitpunkt der Entdeckung der ersten Anzeichen für
die Existenz einer paläolithischen Freilandkunst hervorgehoben worden war77. Es bleibt
jedoch weiterhin zu klären, ob das Fehlen zeichnerischer Äußerungen auf den unter freiem Himmel gelegenen Aufschlüssen der Karstregionen, in denen auch Bilderhöhlen vorkommen, das Ergebnis einer kulturell bedingten Auswahl oder die Folge zerstörender
73
74
75
76
77
92
Aubry 2009; Aubry et al. 2002; Aubry – Igreja 2009; Aubry – Mangado 2006.
Ribeiro 1971.
Aubry – Mangado 2006; Luís – García Diez 2008.
Huyge et al. 2007.
Lorblanchet 1995.
THIERRY AUBRY, LUÍS LUÍS
Verwitterungswirkungen ist, die auf den durch die Frostverwitterung stärker in Mitleidenschaft gezogenen Kalkfelsen nördlich der Pyrenäen ausgeprägter sind.
Im Hinblick auf die ältere Kunstphase im Côa-Tal deuten die verwendeten Techniken,
der breite lineare Strich, die morphologische und stilistische Vereinfachung sowie die topographische Positionierung, darauf hin, dass – wie es sich auch durch unsere Raumanalyse
der Fundorte Quinta da Barca und Penascosa bestätigt hat – ein klarer Wille vorhanden war,
die Bilder auf möglichst breitem Raum den Blicken auszusetzen. Die kleineren und topographisch anders positionierten Ritzzeichnungen aus der Endphase des Jungpaläolithikums sind demgegenüber – trotz der Verwendung von Mehrfachlinien – deutlich schlechter sichtbar. Dieser Gegensatz ist Ausdruck unterschiedlicher Symbolgehalte, Funktionen, Umstände und Lesarten. Während die Kunst der älteren Phase eine Verknüpfung
der Bilder im Maßstab der in ein Denkmal verwandelten Landschaft voraussetzt, scheint
diejenige der jüngeren Phase auf den Maßstab des Felsens beschränkt zu sein.
Die Sichtbarkeitsanalyse zeigt, dass das Bestehen organisierter Parcours zwischen
den Bildfeldern der älteren Phase78 auch – da sie untereinander nicht sichtbar sind – das
Vorhandensein bestimmter durch die Darstellungen gelieferter Botschaften zur Orientierung sowie die Existenz eines Mittlers oder eines kollektiven Gedächtnisses bezüglich
ihrer Standorte impliziert. Der Einwand, dass Darstellungen aus dazwischenliegenden
Positionen eventuell nicht überliefert sind, lässt sich nicht ausräumen. Deshalb vertreten wir die alternative Vermutung, dass Bildfeldgruppen als szenographische Elemente
gedient haben könnten, die Punkte umgeben haben, an denen Ereignisse von großer sozialer Bedeutung stattfanden. In diesem Sinne hat die Kulisse keine dekorative Funktion,
sondern schafft einen Raum und nimmt an den darin ausgeführten Handlungen teil.
Die Vermutung einer Verbindung zwischen paläolithischer Kunst und sozialem
Zusammenhalt ist nicht neu79. Mit Bezug auf die Fundstellen des Gravettien und des
Solutréen ist auf regionaler Ebene das systematische Vorhandensein von aus 150 km Entfernung stammenden Silexstücken, nämlich aus in der Meseta und im lusitanischen
Sedimentbecken gelegenen Rohstoffquellen, ein zusätzliches Argument sowohl für das
Vorhandensein eines regelmäßigen Austausches zwischen den verschiedenen Menschengruppen dieser beiden Regionen als auch für diese erklärende Hypothese [Anm. d. Redaktion: die Verbindung der Bilder mit Funktionen im sozialen Gefüge] selbst80.
Die sozialen Praktiken heutiger Jäger- und Sammler-Gruppen – wie etwa der Einwohner der Andamanen-Inseln (Indischer Ozean) – können uns über den möglichen Zusammenhang der sozialen Verwendung dieser Kunst Auskunft geben. Zur Vermeidung
territorialer Konflikte oder der Blutsverwandtschaft versammeln sich – in Regionen mit
hohem demographischen Druck – Gruppen in angrenzenden oder umstrittenen Gebieten,
78
79
80
Baptista et al. 2008b; Baptista – Santos 2010.
Conkey 1980.
Aubry – Mangado 2006.
UMWELT UND SOZIALER KONTE X T PAL ÄOLITHISCHER FREIL ANDKUNS T, CÔA -TAL
93
Fariseu (c4) – 10.800/11.800 BP
Abb. 12 | Unterschiede hinsichtlich der Versorgung mit Silex
und siliziumhaltigem Gestein
zwischen Besiedlungsschichten
des Endmagdalénien (Fariseu,
Schicht 4) und des Gravettien
(Olga Grande 4, Schicht 3).
Olga Grande (c3) – 27.200/31.00 BP
um dort wirtschaftlichen Aktivitäten nachzugehen, gemeinsam zu essen, Geschenke
auszutauschen, zu singen und zu tanzen oder gar Ehepartner auszutauschen und Kinder
zu adoptieren81 . Das Côa-Tal betreffend lässt sich die in einer geomorphologischen Grenzregion befindliche Kunst der älteren Phase unter einem derartigen Blickwinkel deuten.
In der Endphase des Jungpaläolithikums ist dagegen zu beobachten, dass die Bildfelder auf den geneigten Hängen verstreut und folglich in geringerem Umfang sichtbar
sind. Ein Bruch wird auch durch die Untersuchung der Silexversorgung bestätigt, die
eine Verringerung der Bedeutung der im Inneren der Iberischen Halbinsel gelegenen
Rohstoffquellen anzeigt (Abb. 12). Dieser Wandel könnte eine Änderung der Bedeutung
des Côa-Tales als Versammlungsort für Gruppen, die Territorien im Bereich der Küste
und der Meseta nutzten, widerspiegeln82 . Abgesehen von der Verbreitung innerhalb der
Territorien ist ein weiterer grundlegender Unterschied [Anm. d. Übers.: gegenüber der
81
82
94
Kelly 2005.
Aubry – Mangado 2006.
THIERRY AUBRY, LUÍS LUÍS
älteren Kunstphase] zu berücksichtigen: Das Auftreten von Kleinkunst in großer Menge –
wie es in Fariseu belegt ist – zu einer Zeit, in der ein Teil der Gravierungen der älteren
Phase, die den Fundort umgeben, noch sichtbar war. Diese neue Form der Zeichnung auf
teilweise verbrannten und absichtlich zerstörten, anscheinend zwischen den Überresten
des täglichen Lebens zurückgelassenen Schiefertafeln scheint Bestandteil einer neuen
Symbolik und sozialen Funktion zu sein.
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Abbildungsnachweis
Abb. 1–12: T. Aubry – L. Luís; Tab. 1–4: T. Aubry – L. Luís.
UMWELT UND SOZIALER KONTE X T PAL ÄOLITHISCHER FREIL ANDKUNS T, CÔA -TAL
103
Bilder im städtischen Raum
Alessandra Gilibert
Archäologie der Menschenmenge
Platzanlagen, Bildwerke und Fest im syro-hethitischen Stadtgefüge
This paper investigates ceremonial plazas and monumental imagery in the Syro-Hittite city-states around 900
BC. It argues that the ruling dynasties of the early Iron Age designed ceremonial plazas at the heart of their
capital cities as theatrical arenas for rituals involving crowds of spectators. The lavish sculptural decoration of
the plazas related to events taking place on site and was directly involved in these events. The images indicate
that the rituals at the plaza focused on the cult of the royal dynasty, its power and its legitimacy. In some cases,
they also suggest that part of the ceremonies may have had a less formal, even carnevalesque spirit. The set-up
of monuments contributed greatly to the specific atmosphere of the Syro-Hittite plaza and served as both a commemorative device and an impressive scenic backdrop for the rituals.
Öffentliche Versammlungen von Menschen gehören zum Alltag jeder urbanen Gesellschaft. Oft erleben einzelne Individuen solche Ereignisse als sinnstiftende Momente der
Selbstentgrenzung und der Konstruktion einer kollektiven Identität1. Für die Institutionen
der Macht haben großangelegte Menschenansammlungen jedoch immer ein Janusgesicht.
Sind sie spontan, beinhalten sie einen antagonistischen, bedrohlichen Charakter und jederzeit können sie »subversive Dämonen«2 entfesseln. Finden sie aber unter kontrollierten
Umständen statt, haben sie ein enormes Potential für die Machtlegitimierung. Muammar alGaddafi beschreibt die Ambivalenz der Masse für viele Machtinhaber treffend, wenn er formuliert: »Ich liebe die Massen wie meinen Vater, und ich fürchte sie, wie ich ihn fürchte. […]
Diese Massen… Selbst wenn sie klatschen, habe ich das Gefühl, dass sie mit dem Hammer
schlagen«3. Um das politische Potential der Menschenmenge zu kontrollieren und zu kanalisieren, unterstützen Machtinstitutionen bestehende Massenrituale oder sie führen neue
ein, die ihren Zwecken dienen4. Die Inszenierung von ritualisierten Massenereignissen ist
ein komplexes Unterfangen, das auch im Bereich der Stadtplanung durchdachte Lösungen erfordert. Als ideale Raumkonfiguration für Menschenansammlungen wurden durch
die Jahrtausende hindurch von Tikal bis Prag, von Rom bis Peking zentrale Platzanlagen
errichtet. Plätze reflektieren die politische Ambivalenz von Massenveranstaltungen: Wer
eine Platzanlage schafft, schafft gleichzeitig einen politisch gefährlichen Ort, wo Menschen
sich auch spontan und antagonistisch versammeln können, um Macht neu zu verhandeln5.
Um die Unberechenbarkeit der Zweckentfremdung zu minimieren, entstehen Platzanlagen
1
2
3
4
5
Köpping – Rao 2008.
Giesen 2006, 359.
Al-Gaddafi 2004, 59.
Kertzer 1991.
Jöchner – Nova 2010, 11; Wu Hung 1991.
ARCHÄOLOGIE DER MENSCHENMENGE
107
meist in strategisch durchdachten Raumgefügen, in Zusammenhang mit Steuerungs- und
Regelungssystemen des Verkehrs, wie Kontrollschleusen oder Zugangstrichtern. Wenn die
Platzanlage ausdrücklich als Festplatz konzipiert ist, wird vor allem ihre choreographische
Dimension bedacht: Tore, Blickachsen, Podeste, Kolonnaden, Fassadenschmuck, Inschriften und monumentale Bilder funktionieren als »Raummaschine«6, um die Wirkung von
Zeremonien und Ritualen am Platz zu steigern. Die Macht der monumentalen Bilder ist
hier von besonderer Bedeutung. Durch die Aufstellung permanenter Bilder und Inschriften
wird am Platz ein Metadiskurs über den Raum und seine Nutzung eröffnet. Bilder und Texte nehmen Bezug auf die Handlungen, für die der Platz eingerichtet wurde, und versuchen,
die Art und Weise der Wahrnehmung dieses Ortes einzugrenzen und zu strukturieren.
Als architektonischer Körper7 und fühlbarer Raum8 zugleich bieten der Platz und seine Bilder den Besuchern ein mächtiges immersive environment. Insbesondere der Festplatz
gewinnt eine herausragende Bedeutung als »gestalteter Außenraum«, der im Zentrum
der Stadt Raum für öffentliche Ritualhandlungen schafft, diese ›aktiviert‹ und zugleich
symbolisch veranschaulicht9.
Von diesen Überlegungen ausgehend, versucht dieser Beitrag, das Phänomen »Menschenmenge« durch die Analyse ihrer architektonischen Korrelate archäologisch zu untersuchen. Im Zentrum der Untersuchung steht die Topologie des urbanen Platzes in
den syro-hethitischen Stadtstaaten um 1000 v. Chr. Die Existenz von Stadtplätzen im alten Vorderen Orient ist selten wahrgenommen worden 10. Dies ist zu einem großen Teil
einem orientalistischen Blick der Forschung auf die islamische Stadt geschuldet 11: Man
lässt die labyrinthische Bebauungsdichte der islamischen Stadt zu einem dystopischen
Phantasiegebilde, abstrahiert von Raum und Zeit, mutieren, das zum ewigen Modell der
altorientalischen Stadttopographie erkoren wird – ein undurchdringbares Konglomerat,
in dem einzig die geschlossenen Höfe von Palast und Tempel freie Fläche bieten. Der archäologische Befund und die schriftlichen Quellen widersprechen jedoch diesem Bild 12 .
Im Folgenden wird am Beispiel der syro-hethitischen Stadtstaaten (Abb. 1) gezeigt, dass
Plätze im Alten Orient existierten, dass sie in der Stadttopographie fest verankert waren
und dass sie als öffentliche Räume für große Menschenansammlungen eine politische
Dimension besaßen.
6
Hillier 1999.
7
Jöchner 2010, 56.
8
Glabau 2010, 20.
9
Jöchner – Nova 2010, 12.
10
Für zwei rezente Ausnahmen s. Buccellati 2010 und Laneri 2011.
11
Bonine 1979; Mazower 2002; Raymond 1994.
12
So erzählt zum Beispiel eine babylonische Novelle von einem kranken Mann, der in der Stadt Nippur
nach dem Weg zum Arzt fragt: »Geh durch das große Tor«, erklärt ihm ein Freund, »es kommt zuerst eine
Straße, dann eine Allee, und schließlich ein Platz« (Forster 1995, 363).
108
ALESSANDR A GILIBERT
Abb. 1 | Die wichtigsten syro-hethitischen Zentren um 900 v. Chr.
1 Städtebau, Stadtplanung und zentrale Platzanlage im früheisenzeitlichen
Syro-Anatolien
Nach dem Ende des hethitischen Großreiches um 1200 v. Chr. bildeten sich im heutigen
syrisch-türkischen Grenzgebiet einige unabhängige Fürstentümer heraus. Diese »rump
states«13 pflegten zunächst weiterhin die hethitischen Traditionen. Große politische Bedeutung erhielt insbesondere die Stadt Karkemisch am Euphrat, die schon im hethitischen Großreich Sitz eines Vizekönigtums gewesen war. Dort überdauerte die Dynastie
der hethitischen Vizekönige den Zerfall des Reiches: Der König Kuzi-Tešub, Urururenkel
eines hethitischen Großkönigs, berief sich noch im 12. Jh. auf seine Abstammung und stilisierte sich bewusst als der rechtmäßige Erbe des Großreiches14 . Im Laufe der folgenden
zwei Jahrhunderte wuchs die Anzahl der unabhängigen Fürstentümer und gleichzeitig
sanken zunehmend die Territorialansprüche der mächtigsten unter ihnen. Gegen Ende
des 10. Jhs. v. Chr. war keines der existierenden Fürstentümer länger in der Lage, Territorialansprüche zu formulieren. Infolgedessen etablierte sich in der Region ein Netz aus
13
14
Harrison 2009a, bes. Fig. 1.
Hawkins 1988; Hawkins 1995.
ARCHÄOLOGIE DER MENSCHENMENGE
109
Abb. 2 | Der Stadtplan von Karkemisch, Ende 10./Anfang 9. Jh. v. Chr. (M. 1 : 12 000).
miteinander konkurrierenden »peer polities«15 mit stadtstaatlicher Identität (Abb. 1). Die
Region war zu diesem Zeitpunkt geprägt von politischen Umwälzungen und dynastischen
Unruhen. In Karkemisch und anderen traditionsreichen Stadtstaaten kämpften alteingesessene dynastische Linien um die Macht. Anderswo etablierten sich neue aufsteigende
Eliten, die nicht selten ihre eigenen Städte gründeten. In vielen Bereichen kann man die
bewusste Konstruktion neuer Traditionen aus Legitimationsgründen beobachten. Mit
der politischen Neudefinition fiel ein ökonomischer Aufschwung zusammen, und beide
Faktoren schlugen sich in der Neugestaltung vieler Städte nieder. Einer der wichtigsten
15
Das Begriff »peer polities« wird hier nach C. Renfrew als »autonomous socio-political units (i.e., selfgoverning and in that sense politically independent) which are situated beside or close to each other within a
single geographical region« verstanden (Renfrew 1986, 1).
110
ALESSANDR A GILIBERT
Abb. 3 | Der Stadtplan von
Zincirli, Ende 10./Anfang 9. Jh.
v. Chr. (M. 1 : 10 000).
Aspekte dieser stadtplanerischen Welle war der Ausbau großer Platzanlagen im Zentrum
der Stadt. Diese Platzanlagen blieben Jahrhunderte bestehen und wurden immer wieder
wie ein architektonisches Palimpsest erweitert, verändert und umgestaltet. Im Folgenden
wird jedoch ihre diachrone Entwicklung ausgeklammert. Die Platzanlagen werden vielmehr in ihrem Anfangszustand am Ende des 10./Anfang des 9. Jhs. analysiert.
In dieser Phase der syro-anatolischen Eisenzeit entstanden Platzanlagen, die in der
Stadttopologie als umbilicus urbis funktionierten. Die damalige Stadtstruktur – das zeigen
die großflächigen Untersuchungen in Karkemisch, Zincirli, Tell Tayinat und Tell Halaf –
folgte grundsätzlich einem konzentrischen Stadtmodell mit Befestigungsanlagen und
ummauertem Zentrum (Abb. 2–5)16. Die Platzanlagen befanden sich unmittelbar hinter
dem Haupteingangstor zum ummauerten Zentrum. Von dort aus öffneten weitere monumentale Tore den Zugang zu anderen, teilweise ineinander verschachtelten Sektoren
des Zentrums, vor allem zum Palastbezirk. In der Tat ist die Teilung des Zentrums in
Platz- und Palastbereich ein wichtiges Merkmal der syro-hethitischen Stadt 17. Demnach
16
Ein ähnliches Stadtmodell zeichnet sich ebenfalls in der topographischen Aufnahme von Tell Ahmar
(Roobaert – Bunnens 1999) und Ain Dara (Stone – Zimanski 1999) ab.
17
Pucci 2008a, 126. 172. Für die besonders klare Zweiteilung in Tell Halaf vgl. auch Orthmann 2002, 28–
30. Der architektonische Befund in Hama lässt eine ähnliche Trennung zwischen zeremoniellem Zentrum
und Wohnpalastbereich erkennen. Das Haupttor zur Zitadelle (ursprünglich vermutlich das Bâtiment III und
ARCHÄOLOGIE DER MENSCHENMENGE
111
Abb. 4 | Der Stadtplan von Tell
Tayinat, Ende 10./Anfang 9. Jh.
v. Chr. (M. 1 : 10 000).
bildete die Platzanlage den Mittelpunkt des Stadtzentrums, während die Palastanlagen
mit Wirtschafts- und Wohnräumen an dessen Rand angelegt und, mit Ausnahme von
Zincirli, durch Nebentore direkt von der Außenstadt erreichbar waren.
In Zincirli, Karkemisch, Tell Halaf und Hama ermöglichen die Befunde einen Eindruck von der Größe der jeweiligen Platzanlagen (Abb. 3. 6–8). Berechnet anhand der ausgegrabenen Fläche, misst die Mindestgröße der Platzanlage in Karkemisch 2600 m 2 , in
Hama 3600 m2 , in Zincirli 2400 m2 und 3500 m2 in Tell Halaf 18. In Zincirli, Tell Halaf
und wahrscheinlich auch in Tell Tayinat verdoppelte man die freie Fläche, indem man
hinter einem Mitteltor einen zweiten, ähnlichen Platz baute. Der zweite Platz lag hinter
später das Bâtiment I) führte dort zunächst zu einem zentralen Platz. Von diesem Platz aus war über ein
weiteres Tor (vermutlich das Bâtiment IV) der hintere Bereich der Zitadelle zu erreichen, wo Teile eines Wohnpalastes (Bâtiment V) ausgegraben worden sind: Fugmann 1958.
2
18
Oppenheim schätzt die Gesamtgröße der Fläche auf 6475m (Oppenheim 1950, 97).
112
ALESSANDR A GILIBERT
Khab ur
N
M
100
0
50
300 metres
M Platzanlagen mit „Tempel-Palast“
N Wohnpalastanlage
200
Abb. 5 | Der Stadtplan von Tell Halaf, um 900 v. Chr. (M. 1 : 10 000).
einer Trennmauer auf einer höheren Geländestufe und war vom ersten Platz aus nicht
einsehbar, so dass von einem Unter- und einem Oberplatz gesprochen werden kann 19.
Eine ähnliche Platzanlage vom Ende des 10. bzw. Anfang des 9. Jhs. v. Chr. wurde in Malatya angeschnitten und Platzanlagen sind ebenso im urbanen Gefüge von Tell
Ahmar und Arslan Tash zu vermuten20. Zusammenfassend lässt sich bemerken, dass
im Zentrum liegende innerstädtische Platzanlagen eines des wichtigsten Kennzeichen,
wenn nicht das Organisationsprinzip schlechthin der syro-hethitischen Stadtmorphologie waren.
19
Auch in Karkemisch ist die Existenz eines Oberplatzes auf der sog. Acropolis zumindest möglich: nach
Woolley ist das Geländegefälle der ›Acropolis‹ durch die Existenz von »two separate buildings with an open
space between them« (Woolley 1952, 205) zu erklären. Vgl. hierzu auch Woolley 1921, 40.
20 Für die »grande cour d’honneur« gleich hinter dem sog. Löwentor in Malatya, s. Delaporte 1940, 14
Pl. XI. XIII. Für die Topographie von Tell Ahmar und Arslan Tash s. Roobaert – Bunnens 1999 und ThureauDangin et al. 1931, Plan 1.
ARCHÄOLOGIE DER MENSCHENMENGE
113
2 Die zeremonielle Funktion der Platzanlagen und die Rolle monumentaler Bilder
Die syro-hethitischen Plätze waren weder Verkehrs- noch Marktplätze, sondern wurden
als Freiflächen zeremonieller und feierlicher Art angelegt 21 . Eindeutiger Hinweis darauf
ist zunächst ihr urbanistischer Kontext. Die Plätze bildeten den Kulminationspunkt von
geradlinig angelegten Hauptwegen, die die wichtigsten Stadttore mit dem ummauerten
Zentrum verbanden22 . Die Tore, durch die man von der Außenstadt in das Zentrum gelangte, waren zudem keine Verteidigungsanlagen, sondern besaßen einen symbolischrituellen Charakter, wie kultische Installationen und umfangreiche Reliefzyklen verdeutlichen23 . An sie grenzten zudem in Hama, Tell Halaf und Malatya breite Pfeilerhallen, in
denen Installationen und Inventar eine Nutzung als festliche Banketträume nahelegen 24 .
Die Tore zum Platz sowie die Tore, die vom Platz aus weiter ins Innere des Zentrums führten, funktionierten somit als Stationen einer Rituallandschaft und ließen zugleich jene
räumliche Geschlossenheit entstehen, in der der Platzforscher Camillo Sitte die Hauptbedingung für die raumbildende Wirkung des klassischen zeremoniellen Platzes sieht 25 .
Betrat ein Besucher eine der zentralen syro-hethitischen Platzanlagen, wurden seine
Wahrnehmung und sein ›Raumgefühl‹ allerdings in hohem Maße durch ein auffälliges
Bauwerk bestimmt, das als einziges den jeweiligen Platz überragte. In Karkemisch war es
der Tempel des Wettergottes, der sich turmartig hinter einem kulissenhaften Temenos in
der Mitte des Platzes erhob (Abb. 6, 5). In Zincirli war es das Hilani I, welches sich über
21
Der zentrale Platz von Karkemisch könnte jedoch auch eine Funktion als Drehscheibe im Fußgängerverkehr zwischen dem Euphrat und dem östlichen Hinterland gehabt haben. Hier ref lektiert die forma urbis von
Karkemisch, anders als etwa die Neugründungen von Zincirli, Tell Halaf und Tell Tayinat, noch stark eine über
ein Jahrtausend gewachsene Stadtstruktur. In diesem Zusammenhang wäre es auch interessant zu untersuchen, ob die Struktur, die Woolley »Mill Tower« nennt, doch kein weiteres Stadttor gewesen sein könnte. Im
Übrigen unterscheidet sich Karkemisch von dem syro-hethitischen Stadtmodell auch insofern, als die Lage der
Palastbezirke diffuser ist. So befindet sich der Hauptpalastbezirk auf der ›Acropolis‹, ein ummauerter Palastbezirk in der Gegend des Hilani. Auf der ›Acropolis‹ kann man jedoch die typisch syro-hethitische Zweiteilung
mit dem ummauerten Palastbezirk im Südosten und einem möglicherweise ebenfalls ummauerten Tempelbezirk im Nordwesten (dem sog. Temple of Kubaba) erahnen (Woolley 1952, 205–226). Der ›Temple of Kubaba‹
erinnert in Lage und Grundriss an die großen Tempel in Aleppo und Ain Dara. Aufgrund der nur spärlichen
Ausgrabungstätigkeiten in diesem Bereich kann man jedoch wenig über die innere Aufteilung der ›Acropolis‹
am Anfang der Eisenzeit sagen. Offen bleiben muss vorerst insbesondere, ob sich um den Tempel herum ein
Platz befand oder nicht. Vgl. hierzu auch Anm. 19.
22 Oppenheim 1950, 25; Mazzoni 2006, 231; Pucci 2008a, 171–172.
23
Mazzoni 1997.
24 Für die Salle C im Torgebäude (Bâtiment I) von Hama s. Fugmann 1958, 166–168. Das Bâtiment I wurde
vermutlich in der 2. Hälfte des 9. Jhs. gebaut. Als Tor diente früher wohl das Bâtiment III, das später zum
Verwaltungsgebäude umgestaltet wurde. Auch im Bâtiment III war eine Pfeilerhalle vorgesehen, die Salle D.
Für die Halle, die östlich des sog. Skorpionentores von Tell Halaf angebaut wurde s. von Oppenheim 1950, 89.
95–96. In Malatya ist 2008 eine vergleichbare Pfeilerhalle direkt hinter dem Tor zur Zitadelle ausgegraben
worden: vgl. Liverani 2009, der jedoch eine Interpretation als Raum für die Wächter bevorzugt (hierzu s. Liverani 2011 und Liverani im Druck), und Manuelli 2010.
25
Jöchner 2010, 52–56.
114
ALESSANDR A GILIBERT
Abb. 6 | Die zentrale Platzanlage von Karkemisch (M. 1 : 1500).
dem Platz erhob, vermutlich umgeben von einem ähnlichen Temenos wie in Karkemisch
(Abb. 3)26. In Tell Halaf wurde der Raum durch den sog. Tempel-Palast dominiert, der
mittig zwischen Ober- und Unterplatz errichtet worden war (Abb. 7, 1). In Tell Tayinat
übernahm das Building XIII diese Rolle (Abb. 4) und in Hama schließlich erstreckte sich
die gewaltige Baumasse des Bâtiment II entlang der gesamten südwestlichen Front des
Platzes (Abb. 8, 2). Diese zentralen, weithin sichtbaren Gebäude markierten einerseits die
Verortung des Platzes im Stadtgefüge auch über die Stadtgrenzen hinaus. Andererseits
verlieh der Platz selbst den zentralen Gebäuden Raumwirkung, so dass man durchaus von
einer Symbiose zwischen Platz und Zentralgebäude sprechen kann. Was kann man nun
über Natur und Funktion der Zentralgebäude sagen?
In Karkemisch ist die Identifikation des Zentralgebäudes mit dem Tempel des Wettergottes durch zwei Laibungstorinschriften des Königs Katuwas (frühes 9. Jh. v. Chr.)
26 Für die Datierung des Hilani I von Zincirli in die früheste Eisenzeit s. Pucci 2008a, 25–27. Dagegen
Lehmann 1994, gefolgt von Mazzoni 2006 und zuletzt Vallorani 2010.
ARCHÄOLOGIE DER MENSCHENMENGE
115
Oberplatz
Q
N
M
Unterplatz
O
P
5
0
20
10
100 m
40
30
j
„Tempel-Palast“ mit
vorgelegener Terrasse
k
„Skorpionentor“
l
Südtor der Burg
m
n
50
Abb. 7 | Der Westbezirk bzw. das zeremoniellen Zentrum der Burg von Tell Halaf (M. 1 : 1500).
gesichert 27. In den anderen Fällen ist die funktionale Einordnung schwieriger. Von dem
Hilani I in Zincirli und dem Building XIII in Tell Tayinat hat man nur die Fundamente
bergen können28. Es wurde jeweils der Grundriss eines mehrstöckigen Baus mit säulengetragener Vorhalle und großen, langgestreckten Hallen im Erdgeschoss rekonstruiert. Hierbei handelt es sich um für Nordsyrien typische architektonische Grundformen,
die sich sowohl bei Palästen als auch bei Tempeln und Toren finden. Gebäude, die diese
Merkmale aufweisen, werden in der Literatur mit der assyrischen Bezeichnung bit hilani
27 KARKAMIŠ A2+3, Hawkins 2000, 108–112. Zum Tempel des Wettergottes von Karkemisch s. auch Gilibert 2011a.
28 Luschan 1898, 136–137.
116
ALESSANDR A GILIBERT
Abb. 8 | Die zentrale Platzanlage von Hama (M. 1 : 1500).
angesprochen29 . Im Fall des Hilani I und des Building XIII legen das Fehlen von Wirtschafts- und Lagerräumen, die prominente Lage des Gebäudes an höchster Stelle der Siedlungshügel und die Existenz eines Wohnpalastbereichs an anderer Stelle im Zentrum
eine Primärfunktion im kultisch-repräsentativen Bereich nahe30. Ähnliches gilt für den
sog. Tempel-Palast in Tell Halaf, wobei die von dem Ausgräber bevorzugte ambivalente
29 Novák 2004; Mazzoni 2006, 232–234; Monamy 2010, 458.
30 Pucci 2008a, 76. 160–161. Zur besonderen Stellung des Hilani I in der Stadtentwicklung von Zincirli
äußerte sich schon der Ausgräber: »Die Lage unmittelbar an der alten Burgmauer und auf der Höhe innerhalb
des inneren Rings, sowie die festungsartigen Mauerdimensionen lassen vermuthen, dass das ganze Befestigungssystem geradezu für diesen Bau angelegt worden sei« (von Luschan 1898, 138–139). In der Tat erinnern
Lage und Größe des Hilani I an den Tempel in Ain Dara, der vermutlich am Ende der hethitischen Großreichszeit erbaut wurde und der in der frühen Eisenzeit weiterhin benutzt wurde (hierzu s. Kohlmeyer 2008). Eine
Reihe von Sphingenprotomen der Spätbronzezeit zeigt, dass gegen 1200 v. Chr in Zincirli ein ähnliches Gebäude wie in Ain Dara geplant war (Gilibert 2011b). Sollte sich die umstrittene Datierung des Hilani I in der allerersten Bauphase von Zincirli bestätigen, so wäre zu überlegen, ob die spätbronzezeitlichen Sphingenprotomen
nicht möglicherweise für das Hilani I bestimmt waren.
ARCHÄOLOGIE DER MENSCHENMENGE
117
Bezeichnung des Gebäudes dessen unklare Funktionszuweisung widerspiegelt31 . Lage
und Grundriss des Gebäudes lassen auf eine offizielle Funktion schließen32 . Am Bau
angebrachte Inschriften bezeichnen die Anlage mit zwei offenbar gleichzeitig verwendeten und einander dabei nicht widersprechenden Funktionsbezeichnungen als »Palast des
[Königs] Kapara« (É.GAL-lim lKa-pa-ra) und als »Palast des Wettergottes« (É.GAL dU)33 .
Vor dem monumentalen Eingang lagen eine weite Terrasse mit einem zentralen Podest
aus bunten Ziegeln (der ›Altar‹) und, westlich davon, eine größere Opfergrube (Abb. 9).
Die Terrasse wurde von drei monumentalen Karyatiden am Haupteingang des Gebäudes
›bewacht‹ (Abb. 10). Üblicherweise als »Göttertriade« bezeichnet, repräsentieren sie jedoch möglicherweise drei vergötterte Ahnen der königlichen Dynastie (auf diese Deutung
wird weiter unten noch einmal eingegangen). Weitere Reliefs kultischen Inhalts rahmten
die Hauptfassade des Gebäudes. Bildwerke und Installationen deuten also darauf hin,
dass der ›Tempel-Palast‹ religiösen Zwecken diente oder zumindest in die religiöse Praxis
einbezogen war. Nur im Bâtiment II von Hama wurden ausgedehnte Speicherräume freigelegt34 . Aber auch in diesem Fall war der Eingang mit Löwenstatuen monumental gestaltet und in der Vorhalle befanden sich ein flaches Basaltbecken und eine Basaltschale, die
rituellen Zwecken gedient haben dürften. Vor dem Gebäude erstreckte sich eine weite Terrasse, die über eine 4 m breite Außentreppe erreichbar war35 . Obwohl die Terrasse bei der
Ausgrabung schlecht erhalten war, konnte eine an zentraler Stelle der Steinpflasterung
eingelassene Basaltschale freigelegt werden, die vermutlich ebenfalls rituellen Zwecken
diente36. Darüber hinaus befanden sich unmittelbar vor der Terrasse ein monolitisches
Kultbecken und zwei Basaltthrone für Sitzstatuen37.
31
»Die Bauanlage […] erhielt die Benennung ›Tempel-Palast‹ wegen ihrer einem Hilani ähnlichen monumentalen Gliederung in Verbindung mit reicher Ausstattung durch sakrales Bildwerk« (von Oppenheim 1950, 23).
32
»Die mächtige Vor- und Mittelhalle, die gestreckten umgangartigen Langräume an Ost-, Süd- und Westseite, der großartig gegliederte unverschließbare Haupteingang an der Außenseite und der zweite bildwerkgeschmückte Durchlaß zwischen Vor- und Mittelhalle, die freie Lage der Eingangsschauseite des Gebäudes an
offener Terrasse, die breite Zugängigkeit durch die von einem besonderen, gleichfalls bildwerkgeschmückten
Tor ausgehende und vor einer Freitreppe endende Rampenstraße zeigen, daß der Tempel-Palast öffentlichen
Zwecken diente. Er steht mit seiner Gliederung in vollkommenem Gegensatz zum Wohnpalast im Nordosten
[…]« (von Oppenheim 1950, 24). Vgl. hierzu auch Pucci 2008a, 107. 121 und Cholidis – Martin 2010, 70.
33
Meissner 1933.
34 Fugmann 1958, 226–227; De Maigret 1979, 34–40. Das Fehlen von Wirtschaftsräumen für die Weiterverarbeitung der Nahrungsmittel suggeriert, dass die Speicherräume des Bâtiment II der Lagerung von
Nahrungsvorräten für Redistributionszwecke dienten.
35
In den Ausgrabungsberichten wird auf das Vorhandensein der Treppe nicht hingewiesen. Im Plan sind
jedoch die Fundamente der einzelnen Stufen klar zu erkennen: vgl. Fugmann 1958, Fig. 265.
36 Fugmann 1958, 214–215.
37
Fugmann 1958, 195–200. In einer zweiten Bauphase wurde zwischen der Terrasse und dem kultischen
Becken eine schmale architektonische Struktur hinzugefügt. Die Ausgräber deuten sie als kleinen Tempel in
antis (Fugmann 1958, 200–205), was in der Literatur unwidersprochen geblieben ist (für eine indirekte Kritik
an der Deutung s. Matthiae 1992, der die Struktur nicht unter den bekannten syro-hethitischen Tempeln auflistet). Wegen der geringen Dicke der vorhandenen Mauerreste und der gemessenen Höhenunterschiede erscheint jedoch eine Interpretation als Terrassenerweiterung mit eigener Treppe wahrscheinlicher. Die Lage
118
ALESSANDR A GILIBERT
Abb. 9 | Rekonstruktion der Terrasse vor dem
›Tempel-Palast‹ von Tell Halaf.
Abb. 10 | Rekonstruktion der Hauptfassade des
›Tempel-Palastes‹ von Tell Halaf.
Die Architektur der syro-hethitischen Platzanlagen und ihrer Gebäude zeichnet sich
somit durch eindeutig zeremonielle und kultische Merkmale aus38. Dennoch verraten die
architektonischen Strukturen relativ wenig über die genaue Natur der Handlungen, für
die die Platzanlagen geplant wurden. Hier hilft die Analyse der Skulpturen und Inschriften weiter, die in reicher Zahl zur Ausstattung der Plätze gehörten39 . Insbesondere zeigt
und vor allem einige Graffiti mit kurzen Weihungen im Bereich der Außentreppe bestätigen jedenfalls den
Eindruck der Ausgräber, dass die Struktur in den Kult einbezogen war. Zum kleinen Tempel bzw. der Terrassenerweiterung gehörte zudem eine Balustrade aus Basalt, die Vergleiche im Wettergott-Tempel von Aleppo
und im Tempel von Ain Dara findet (die Basaltfragmente sind im Ausgrabungsbericht mit falscher Orientierung veröffentlicht: Fugmann 1958, Fig. 257).
38 Im 8. Jh. v. Chr. wird der kultische Charakter der Plätze nochmals durch die Errichtung von AntenTempeln entlang der die Plätze einfassenden Mauern verstärkt: s. hierzu die Situation in Tell Tayinat (wo jedoch eventuell schon früher ein Tempel existierte: Harrison 2009b und Harrison 2010) und möglicherweise
auch in Karkemisch (Mazzoni 2006, 236).
39 Stadtmorphologisch gelten die Außenwände der Gebäude entlang der Platzanlagen samt deren monumentaler Gestaltung mit Bildwerken als ›Platzwände‹ und sollten zusammen mit der Platzf läche als Einheit
betrachtet werden. Zum syro-hethitischen Raumbegriff als »un ensemble qui conjuge dans une même unité
spatio-visuelle la structuration binaire des espaces vides extérieurs pour la circulation et des volumes solides
des bâtiments officiels« s. Mazzoni 2006, 231.
ARCHÄOLOGIE DER MENSCHENMENGE
119
Abb. 11 | Ahnenstatue am Oberplatz von Zincirli. Basalt.
Höhe mit Sockel ca. 3,25 m.
Abb. 12 | Die Statue des Atrisuhis am ›King’s Gate‹ von
Karkemisch. Basalt. Höhe mit Sockel ca. 2,60 m; Breite
ca. 1,50 m. Die Statue befindet sich heute im Archäologischen Museum, Ankara; der Kopf des rechten Löwen
befindet sich im British Museum, London; die sonstigen
Reste des Sockels sind verschollen.
eine Reihe überlebensgroßer Statuen von verstorbenen königlichen Ahnen, dass ein wichtiger Aspekt der Ritualhandlungen vor Ort die Ahnenverehrung betraf 40. Mit weit geöffneten Augen und mit den Insignien der Macht in ihren Händen stehen oder sitzen die
verstorbenen Könige auf Tierpodesten oder Steinthronen an zentralen Punkten der Platzanlagen. In Karkemisch thronte neben dem sog. King’s Gate die Statue von Atrisuhis,
dessen Name in »Seele des [verstorbenen Königs] Suhis« zu lösen ist (Abb. 6, 2; Abb. 12)41 .
Die Statue von (vermutlich) König Katuwas42 stand hingegen am ›Processional Way‹
(Abb. 6, 4). Eine ähnliche Statue fand man am Eingang zum Palastbezirk in Zincirli
(Abb. 11)43; dort übersah die Statue den Oberplatz. In Tell Tayinat wurden nahe bei dem Tor,
das vom unteren Platz zum oberen Platz führte, im Bereich des Unterplatzes beschriftete
40 Bonatz 2000.
41
Hawkins 2000, 100–101.
42 Die Inschrift KARKAMIŠ A1a (§28) zitiert eine Statue des König Katuwas, die vermutlich mit der erwähnten Statue identifiziert werden kann (Hawkins 2000, 89).
43
Luschan 1911, 363–367; Bonatz 2000, 154; Gilibert 2011a, 76–79.
120
ALESSANDR A GILIBERT
Abb. 13 | Verstorbener Herrscher mit Keule,
Ähre und Traube; ihm gegenüber weibliche
Sphinx mit Löwenprotom auf der Brust. Östlicher Eckorthostat am inneren Vorhof des Tores
zur Zitadelle von Zincirli. Anfang 9. Jh. v. Chr.
Basalt. Höhe 0,95 m, Breite 0,84 m, Tiefe
0,72 m. Berlin, Vorderasiat. Museum (VA 2657).
Abb. 14 | Dynastisches Totenmahl mit verstorbenem Paar (sitzend) und Nachkommen (stehend). Darstellung
auf drei Orthostaten am äußeren Vorhof des Tores zur Zitadelle von Zincirli. Anfang 9. Jh. v. Chr. Basalt.
Länge gesamt 2,67 m, Höhe 1,15–1,19 m.
Reste eines Basaltthrons sowie Bruchstücke einer männlichen Ahnenstatue ergraben 44 .
Weiterhin verdeutlichen die zwei Basaltthrone mit Einlasszapfen, die neben dem Kultbecken in Hama standen, dass die königlichen Ahnenstatuen auch im zentralen Bereich
einer Platzanlage aufgestellt wurden. Dass die Statuen kultischen Zwecken dienten, steht
außer Zweifel. In mehreren Fällen waren Libations- und Opfervorrichtungen direkt vor
den Statuen errichtet worden 45 . Monumentale Inschriften auf den Skulpturen oder in
der unmittelbar benachbarten Architektur legten das regelmäßige Opfer an die Statuen fest 46. Weitere Darstellungen, die zur Ikonographie des Ahnenkultes gehören, waren
an prominenter Stelle der schon erwähnten figürlichen Orthostatenzyklen vertreten, mit
denen Torbauten und Außenfassaden der Plätze verkleidet waren (Abb. 13–15). Beispiels-
44 Gelb 1939, 39.
45
Ussishkin 1975.
46 Hawkins 2000, 87–91 (KARKAMIŠ A1a); 100–101 (KARKAMIŠ A4d). Vgl. auch Hawkins 2000, 269–
270 (MARAS 5) und Bonatz 2000, 65–75.
ARCHÄOLOGIE DER MENSCHENMENGE
121
weise wurde im ›Long Wall of Sculpture‹ von Karkemisch das Totenbild von BONUS-tis,
Gemahlin von König Suhis II. (Ende 10. Jh. v. Chr.), zwischen eine Militärparade und
einen Götterzug eingebettet (Abb. 15). Das Bild eines verstorbenen Herrschers gegenüber
einer Sphinx (Abb. 13) sowie die Darstellung eines Totenmahles (Abb. 14) lassen sich am
äußeren Burgtor von Zincirli belegen 47.
In Tell Halaf stand die Platzanlage in direktem Zusammenhang mit einer regelrechten sepulkralen Landschaft 48. Östlich angrenzend an das südliche Burgtor konnten
mehrere oberirdische Gruftanlagen mit Brandbestattungen ergraben werden (Abb. 7, 4).
In den Gruftanlagen gab es Vorrichtungen für Opfergaben, Libationen und Waschungen.
Außerhalb des Komplexes befand sich ein Vorplatz mit Bänken, Sickergruben und Feuermulden, die öffentliche Ritualhandlungen unter freiem Himmel belegen 49. Zwei weitere
Grüfte mit Erdbestattungen und erlesenen Beigaben befanden sich in der Mitte des oberen Platzes (Abb. 7, 5). Oppenheim notiert: »Es waren Königsgrüfte, Ruhestätten für jene
hohen Herren, die all das, was ringsum ragte, erbaut hatten«50. Die südliche, ältere Gruft
lag zum Zeitpunkt der Untersuchung des Platzes durch Oppenheim unsichtbar unter der
Begehungsfläche des Platzes51 . Die nördliche, jüngere Gruft, deren Lage sich bewusst an
der älteren Gruft orientierte, befand sich dagegen freistehend auf dem Platz. Beide Grüfte
waren anlässlich von Bestattungen durch »Schlupfpforten« (so Oppenheim) zugänglich
gewesen, die jedoch ansonsten zugemauert blieben. Anders als bei den Grüften, die gleich
außerhalb des Unterplatzes errichtet worden waren, existierten bei den Grüften auf dem
Oberplatz keine Vorrichtungen für Ritualhandlungen. Mit Oppenheim lässt sich vermuten, dass auf der Terrasse des ›Tempel-Palastes‹ Handlungen zur Ahnenverehrung ausgeführt wurden, worauf auch das skulpturale Programm der Hauptfassade des ›TempelPalastes‹ hindeuten könnte52 . Ob die drei Karyatiden am Eingang des ›Tempel-Palastes‹
ebenfalls eine Bedeutung hinsichtlich der Ahnenverehrung hatten, bleibt unklar. Wie
oben schon erwähnt, werden sie üblicherweise als Göttertriade gedeutet. Ihre Ikonographie fügt sich jedoch ohne Widersprüche in die Ikonographie der königlichen Ahnen, die
zu dieser Zeit nicht selten – man denke an die genannten Beispiele aus Karkemisch und
47 Gilibert 2011b.
48 Vgl. hierzu auch das Kistengrab neben dem Hilani I in Zincirli (Luschan 1898, 139–141; Pucci 2008a, 26),
außerdem ein mögliches Grab am ›Herald‘s Wall‹ in Karkemisch (Gilibert 2007).
49 Oppenheim 1950, 171–178.
50 Oppenheim 1950, 100.
51
Ob die südlichere Gruft älter als der ›Tempel-Palast‹ ist oder nicht, bleibt unklar: Cholidis – Martin 2010,
343.
52
Vgl. Oppenheim: »Die Terrasse schließt die Baulichkeiten von Tempel-Palast, Nordbau und Königsgruft
zur Gruppe des Nordwestbezirks der Burg zusammen und war in diesem als Schauplatz der Repräsentation,
der Götterverehrung und des Totenkults vom Getriebe des übrigen Burggebietes abgesondert und auch von
keiner seiner Anlagen einzusehen« (Oppenheim 1950, 97). Für den funerären Unterton der Orthostaten der
Fassade vgl. Gilibert 2011b; s. auch das Relief A 3, 171 mit dem Bildnis eines toten Herrschers, das an prominenter Stelle vor dem ›Skorpionentor‹ angebracht wurde.
122
ALESSANDR A GILIBERT
Zincirli – mit göttlichen Attributen und auf Tierbasen dargestellt sind53 . Die Standardinschrift, die auf den Statuen und auf den Sphingen der Fassade angebracht war, beginnt
so: »Palast des Kapara, des Sohnes des Hadianu. Was mein Vater und mein Großvater,
die Säulen, nicht getan haben, habe ich getan…«54 . Die Syntax des Satzes ist merkwürdig
und lässt die Frage offen, ob »die Säulen« das meint, was Vater und Großvater nicht geschafft hatten oder ob man »die Säulen« als Apposition zu Vater und Großvater verstehen
sollte (»Was mein Vater und mein Großvater, die [hier als] Säulen [dargestellt sind], nicht
getan haben…«). Am Hals der zentralen männlichen Statue ist jedoch eine abweichende
Fassung der Inschrift angebracht, die gleich am Anfang im typischen Stil der funerären
Inschriften die Identität des dargestellten Mannes eindeutig zu klären scheint: »Ich bin
Kapara, der Sohn des Hadianu: Was mein Vater und mein Großvater, die Säulen, nicht
getan haben, habe ich getan«55 .
Die kultisch-zeremonielle Funktion des syro-hethitischen Platzes erschöpfte sich jedoch nicht in der Verehrung der königlichen Ahnen. Kommemorative Orthostatenzyklen
erinnern an Paraden und Prozessionen zu unterschiedlichen Anlässen und zeigen, dass
der Platz ebenfalls als Raum für Umzüge und Festspiele genutzt wurde. Das Bildprogramm des zentralen Platzes in Karkemisch ist in dieser Hinsicht eindeutig. Dort ließ
Suhis II. am Ende des 10. Jhs. entlang der Außenmauer des Tempels des Wettergottes
den oben bereits erwähnten ›Long Wall of Sculpture‹ errichten, ein über 30 m langes
Orthostatenband an einer freistehenden Temenosmauer, welches Szenen eines Militärtriumphs darstellte (Abb. 15). Der monumentale Zyklus teilte sich in vier Abschnitte. Der
erste Abschnitt, von dem nur zwei Orthostaten erhalten sind, stellte Szenen von Wagenjagdspielen dar56. Der zweite Abschnitt gab eine Prozession von Kriegern wieder, die nackte Gefangene führen oder abgeschnittene Häupter von Gefangenen emporhalten. Der
dritte Abschnitt bestand aus einer Kavalkade mit Kriegswagen, die über ebenfalls nackte,
53
Einschlägige Vergleiche bieten auch die Stele von Darende und die Stele von Ispekçir, vgl. hierzu die
Anmerkungen in Bonatz 2000, 105–106. 137–138, der jedoch den Vergleich mit Tell Halaf nicht zieht. Trotzdem
scheint das Fazit von Bonatz in dieser Hinsicht zutreffend zu sein: »Der Herrscher erscheint in diesem Zusammenhang weniger als tatsächlicher Gott, sondern als einer, dem die göttliche Teilhabe sicher ist […] Kurze Zeit
später [als die Stelen von Darende und Ispekçir: also Ende 10./frühes 9. Jh. v. Chr.] entsteht das statuarische
Herrscherbildnis auf Tierbasis, das nun […] selbst Gegenstand der kultischen Verehrung, auch in Form der
Libation, ist« (Bonatz 2000, 138).
54 Meissner 1933, 72–77. Die Lesung NA 4 tim-me (»die Steinsäulen«) statt DINGIR-lim (»die Vergöttlichten«) folgt Postgate 1983/84.
55
Meissner 1933, 77–79. Die Praxis, für sich noch zu Lebzeiten eine Statue für den späteren Ahnenkult
errichten zu lassen, ist auch sonst bekannt, wie die oben zitierten Inschriften von Katuwas aus Karkemisch
belegen. Die hier vorgeschlagene Interpretation der Säulen lässt jedoch eine Abweichung zwischen Bild und
Schrift ungelöst: Die Inschriften benennen Kapara, Kaparas Vater und Kaparas Großvater, die drei Säulen
stellen jedoch zwei Männer und eine Frau dar.
56 Woolley 1952, 200 Pl. B 60 a. b. Ich danke N. May, die mich darauf aufmerksam machte, dass die bei
Woolley abgebildeten Orthostaten zum ›Long Wall of Sculpture‹ gehören, und die mir ihre bislang unpublizierte Arbeit »Royal Triumph as an Aspect of the Neo-Assyrian Decorative Program« zur Verfügung stellte.
ARCHÄOLOGIE DER MENSCHENMENGE
123
Abb. 15 | Zusammenfassung der Abschnitte zwei bis vier des ›Long Wall of Sculpture‹ von Karkemisch.
verwundete Feinde laufen. Schließlich kulminierte die Gesamtdarstellung in einer vom
Wettergott angeführten Götterprozession, an deren Ende, unmittelbar hinter einer frontal
dargestellten Göttin der Unterwelt, die verstorbene Gemahlin des Königs abgebildet war.
Eine monumentale Inschrift zwischen erstem und zweitem Abschnitt des Orthostatenzyklus erinnert daran, wie Suhis II. die abgeschnittenen Hände und Köpfe von abtrünnigen Vasallen als ›Trophäen‹ dem Wettergott übergab57. Die Inschrift lässt sich unter
Umständen als ein Beleg für die Historizität des dargestellten Militärumzugs lesen58. Die
›Long Wall of Sculpture‹ beherrschte als Temenosmauer den Platz. Die Reliefs nahmen
den Großteil seiner Fläche ein und wirkten somit wie ein dauerhaftes Schaubild, das sich
geschickt in die dreidimensionale Gestaltung des Platzes einfügte. Dieses ›Diorama‹ vermochte die Blicke der Besucher des Platzes einzufangen und sie auf die monumentale
Treppe neben dem Tempel des Wettergottes zu lenken. Dort befand sich nicht nur der
Aufgang zur königlichen Zitadelle, sondern auch eine Bühne mit Opfervorrichtungen,
die im hinteren Bereich einen schmalen, direkten Zugang zum Tempel besaß. Diese Opferinstallationen waren direkt vor den Reliefs angebracht und dienten offenkundig der
Einbettung des Orthostatenzyklus in Ritualhandlungen59.
Im frühen 9. Jh. v. Chr. ließ König Katuwas, der Sohn von Suhis II., in Sichtweite
zum ›Long Wall of Sculpture‹ ein Pendant zum väterlichen Bildprogramm errichten, den
›Processional Way‹. Hier bewegen sich eine Prozession von Kriegern zu Fuß und eine Prozession von Gabenbringern beider Geschlechter auf eine Treppe zu, die zu einem zweiten,
57
KARKAMIŠ A1a ll 7–15.
58
Relevant sind hierfür die Einkerbungen in der Torschwelle des ›King’s Gate‹ und der Radabweiser an der
Ecke des ›Long Wall of Sculpture‹, die eine gelegentliche Nutzung des Platzes durch Wagen nahelegen (Woolley
1952, 143. 167).
59 Gilibert 2011a.
124
ALESSANDR A GILIBERT
von Katuwas ausgebauten Palastbezirk führt60. Wie sein Vater Suhis II. ließ Katuwas den
›Processional Way‹ anlässlich eines militärischen Sieges anlegen. So berichtet Katuwas in
zwei monumentalen Inschriften, dass er einen gewissen Ninuwas, der sich des Thrones
von Karkemisch bemächtigt hatte, mitsamt dessen Anhängern aus der Stadt verbannt
hatte, seinen Sieg mit einer Prozession zu Ehren der Götter feierte und anschließend im
Zuge umfangreicher Umbauten am Platz die Orthostaten des ›Processional Way‹ aufstellen ließ61 .
Orthostatenzyklen derselben Zeit mit einer ähnlichen oder gar identischen Thematik lassen sich auch in Tell Ahmar, Zincirli, Tell Halaf und Tell Tayinat nachweisen62 .
Aufgrund dessen kann angenommen werden, dass die großen Platzanlagen in syro-hethitischen Städten regelmäßig für Prozessionen und Triumphzüge genutzt wurden. Die
Monumentalinschriften Katuwas belegen zudem, dass Ahnenstatuen auch im Zusammenhang von Militärparaden errichtet wurden63 . Zusammenfassend lässt sich somit bemerken, dass die syro-hethitischen Platzanlagen im Allgemeinen sowohl für die Verehrung der königlichen Ahnen als auch für Militär- und Götterprozessionen genutzt wurden.
Es lässt sich folglich von diesen Plätzen auch als »Außenräumen« sprechen, in denen die
regierende Dynastie drei wichtige Säulen ihrer Herrschaft in rituellen und zeremoniellen Akten permanent re-inszenierte: Legitimität durch Rückbindung an die vergöttlichten
Ahnen, Anbindung an die Gottheiten durch kultisches Handeln sowie Legitimierung der
Macht durch die Inszenierung militärischer Stärke und Einheit.
60 Pucci 2008b.
61
Hawkins 2000, KARKAMIŠ A11a; KARKAMIŠ A11 b–c.
62 Zusammenfassend Orthmann 1971, 398–401.
63 Als weiterer Beleg für den Zusammenhang zwischen Militärtriumph und Errichtung von Ahnenbildnissen sei hier nochmals auf das Bild von BONUS-tis im ›Long Wall of Sculpture‹ verwiesen.
ARCHÄOLOGIE DER MENSCHENMENGE
125
Abb. 16 | Rekonstruktion der Südfassade des ›Tempel-Palstes‹ von Tell Halaf.
Dort, wo ein Ober- und ein Unterplatz eingerichtet wurden, lässt sich dabei eine
bewusste funktionale Zweiteilung der Platzanlagen beobachten. Der Oberplatz diente als
bevorzugter Ort der oben besprochenen rituellen und zeremoniellen ›Inszenierungen‹
der Dynastie, worauf die Orthostatenzyklen und die Kultinstallationen hinweisen. Demgegenüber wurde der Unterplatz unspezifischer genutzt. Am besten nachweisen lässt
sich die funktionale Zweiteilung anhand der Platzanlage in Tell Halaf. So wurden auf
dem Unterplatz von Tell Halaf keine Kultinstallationen ausgegraben, jedoch eine Art Sitzbank entlang der Rückseite des ›Tempel-Palastes‹ (Abb. 16)64 . Über der Bank waren fast
200 kleinere, weniger sorgfältig, aber um so ›freier‹ bearbeitete Steinplatten mit einer erstaunlich breiten Palette an Motiven angebracht, die sog. kleinen Orthostaten65 . Eine größere Anzahl zeigt Varianten von Jagdszenen66, andere präsentieren Szenen aus Mythen67
64 Oppenheim 1950, 85.
65 Die Aufstellungsordnung der ›kleinen Orthostaten‹ in der Form, in der sie ausgegraben wurden, gibt
nicht deren ursprüngliche Aufstellungsordnung wieder, sondern ist das Resultat von späteren Renovierungen
und Umbauten. Martin und Cholidis (2010, 141–146) argumentieren überzeugend dahingehend, dass die ›kleinen Orthostaten‹ trotzdem von Anfang an für den ›Tempel-Palast‹ – also für die Dekoration des Unterplatzes –
geschaffen wurden.
66 Dass auch in Zweitverwendung versucht wurde, einen Orthostaten-übergreifenden inhaltlichen Zusammenhang zu bewahren bzw. neu zu konstruieren, sieht man eindeutig an Martin – Cholidis 2010, Abb. V, 124.
67 Martin – Cholidis 2010, 175–176.
126
ALESSANDR A GILIBERT
oder stellen Mut und Geschicklichkeit bei der Ernte bzw. bei der Arbeit zur Schau68.
Besonders bemerkenswert sind die Darstellungen außergewöhnlicher Tierparodien mit
karnevalesken Zügen69. Vorausgesetzt, dass die Ikonographien der ›kleinen Orthostaten‹
einen Bezug zu möglichen Handlungen auf dem Unterplatz gehabt haben, ließe sich
überlegen, ob dieser Platz für Volksfeste im weitesten Sinn genutzt wurde. In jedem Fall
ist festzustellen, dass am Unterplatz keine Hierarchisierung des Raumes durch die Art
der Bebauung und der Raumgliederung vorgenommen wurde – letzteres ist charakteristisch für den Oberplatz. Vielmehr erlaubte die ungegliederte Raumfläche des Unterplatzes vielfältige Handlungen, Begegnungen und Sichtbezüge auf gleicher Ebene.
3 Eine Choreographie für Massenspektakel
Bis heute hat die Forschung angenommen, dass der Zugang zum ummauerten Zentrum
der syro-hethitischen Stadtstaaten ausschließlich der Elite gestattet war70. In diesem Beitrag
wird hingegen dahingehend argumentiert, dass die Feste und Rituale, die auf den Plätzen
stattfanden, keineswegs nur den Eliten vorbehaltene Zeremonien waren, sondern als Spektakel für die gesamte Stadtbevölkerung inszeniert wurden. Dafür sprechen vor allem drei
Aspekte: erstens das räumliche Fassungsvermögen der Plätze, zweitens die Anwesenheit
von Installationen, die nur ab einer gewissen Zuschaueranzahl Sinn ergeben, und drittens
die Anbringungsweise der Bildwerke, die bewusst auf deren maximale Sichtbarkeit abzielte.
Das Fassungsvermögen der Plätze kann man anhand ihrer ergrabenen Mindestgröße
berechnen. Die Platzanlage in Karkemisch wurde vergleichsweise großflächig ausgegraben und wird daher im Folgenden stellvertretend für weitere Zentren herangezogen. Hier
hat der Platz eine Mindestgröße von 3000 m2 . Um abzuschätzen, wie viele Menschen sich
bei einem Fest maximal auf dem Platz aufhalten konnten, benötigt man einen Koeffizienten von Menschen pro Quadratmeter. Die ethnographische und soziologische Literatur
registriert für festliche Anlässe unterschiedliche, teilweise erstaunlich hohe Koeffizienten71 . Das gegenwärtig in Deutschland gängige ›Maurer-Schema‹ zur Risikobewertung
bei Großveranstaltungen berechnet als maximale Besucherzahl für die Gewährleistung
der Personensicherheit einen Koeffizienten von vier Menschen pro Quadratmeter72 . Diese
Schwelle wird jedoch regelmäßig überschritten. Ab acht Menschen pro Quadratmeter,
wie es in Mekka heute regelmäßig der Fall ist, wird es lebensgefährlich73 . Obwohl ältere
68 Martin – Cholidis 2010, 167.
69 Martin – Cholidis 2010, 177.
70 So die Meinung zuletzt von Denel 2007.
71
Allgemein vgl. Hines 2000 und für drei einschlägige, wenn auch rhapsodisch gesammelte Fallstudien
s. Barnouw 1954; Vahed 2002, 84; Wiley 2005.
72 Peter – Maurer 2005.
73
Hines 2000, 149.
ARCHÄOLOGIE DER MENSCHENMENGE
127
Abb. 17 | Visualisierung von 2,5 Individuen pro Quadratmeter.
Aufzeichnungen und antike Darstellungen zeigen, dass ähnliche Menschendichten nicht
nur in modernen Zeiten zusammenkommen konnten, werden im Folgenden für Karkemisch die niedrigsten Berechnungen zugrunde gelegt. Als Koeffizient werden also nicht
mehr als 2,5 Individuen pro Quadratmeter festgelegt, um genügend Freiraum für unterschiedliche Gruppierungen und Umzüge zu erlauben (Abb. 17). Übertragen auf 3000 m2
ergibt die Kalkulation 7500 Individuen. Vergleicht man dieses Fassungsvermögen mit
einer Stadtfläche von geschätzten 90 Hektar, so wird deutlich, dass die Platzanlage von
Karkemisch zumindest theoretisch einen signifikanten Teil der gesamten Stadtbevölkerung fassen konnte. Denn bei einer hypothetischen Bevölkerungsdichte von ca. 200 Individuen pro Hektar74 kommt man auf eine geschätzte Einwohnerzahl von ungefähr
18 000 Menschen. Für Zincirli wird eine geschätzte Stadtfläche von 37 Hektar, für Tell
Halaf von 55 Hektar angesetzt. Die Platzanlagen in Zincirli und in Tell Halaf sind allerdings mit der von Karkemisch durchaus vergleichbar. Es lässt sich also überlegen, ob in
Zincirli respektive in Tell Halaf die gesamte Bevölkerung an Kulthandlungen, Paraden
oder Festen, die auf den dortigen Plätzen stattfanden, teilgenommen hat.
Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch eine Anzahl an Installationen sowie architektonischer Lösungen, die Sinn nur beim Postulieren einer dichten Zuschauermenge ergeben. Darunter fallen die trichterförmigen Einfriedungsmauern der Platzanlage in Karkemisch und die Schranken am Eingang des jüngeren Südtores zum Unterplatz
in Tell Halaf75, die wahrscheinlich der Kontrolle beträchtlicher Menschenmassen gedient
haben. Andere architektonische Elemente wie monumentale Treppen, Bühnen und Ter74
75
128
Finkelstein 1992; Zorn 1994.
Oppenheim 1950, 133.
ALESSANDR A GILIBERT
rassen entfalteten durch ein subtiles Spiel von Höhenunterschieden, Lichteinfällen und
Sichtlinien eine choreographische Kraft, die Großinszenierungen geradezu voraussetzt76.
Die große Terrasse vor dem Eingang des ›Tempel-Palastes‹ von Tell Halaf ragte 2 m über
dem Platz auf und auf der Terrasse selbst erhob sich noch ein mindestens 1,35 m hohes
Postament77. In Hama lag die Terrasse des Bâtiment II ca. 1,5 m über dem Platz. Mehrere
bühnenartige Podeste in unmittelbarem Bezug zu Opferplätzen kann man auch in Karkemisch identifizieren78. Diese Bühnen waren vor Toren errichtet, die zu klar abgesonderten Räumen führten. Nur von diesen Räumen aus waren die Bühnen direkt erreichbar, obwohl sie von unten stets gut sichtbar blieben. Monumentale Treppen betonten den
Charakter der Bühnen als ›Platz im Platz‹. Ihre deutliche Abgrenzung von der Umgebung
isolierte die Ritualhandlungen, machte sie gleichzeitig jedoch für alle sichtbar. So konnten die Bühnen und ihr ›backstage‹ im Rahmen von Großveranstaltungen ähnlich wie im
modernen Theater eine raumbildende Kraft79 generieren: »The stage becomes a place of
absolute scrutiny, although it may change its nature, constantly alluding to other times,
other places: it may play with notions of hiding and revealing, screening and disclosing,
seeing or half-seeing.« 80
Auch die Anbringung der Monumentalbilder folgte einer ähnlichen theatralischen,
an ein Publikum gerichteten Strategie. In Karkemisch wurden die Orthostaten der ›Long
Wall of Scultpure‹ auf einem Sockel über Kopfhöhe angebracht, so dass sie stets sichtbar
blieben. In Tell Halaf standen die Bilder am Oberplatz ebenfalls auf erhöhtem Niveau
und waren so platziert, dass die Zuschauer sie zwar im Einzelnen betrachten, aber nicht
in Interaktion mit ihnen treten konnten. Ganz anders war die Strategie der Bildaufstellung am Unterplatz. Zwar war dort die Sichtbarkeit der Bilder durch die Anbringung auf
Sitzhöhe gemindert, der haptische Kontakt und direkte Umgang mit ihnen waren jedoch
für das Publikum möglich. Diese Tatsache korreliert mit dem deutlich informelleren Stil
und Inhalt der Bilder. Generell kann der Inhalt der Bilder in manchen Fällen einiges über
den vorausgesetzten Zuschauer verraten. So erkennt man in den Reliefzyklen mit Prozessionsdarstellungen in Karkemisch den Versuch, Unterschiede in Status und Geschlecht
zugunsten einer integrativen Strategie zu vermindern: Anders als in späteren Zeiten sind
hier die Prozessionsteilnehmer durch Attribute wenig differenziert, die Kompositionen
sind einfach und wiederholen sich, auch die Kopfhöhen sind auffällig gleich. Hier wird
ein Bild der Stadt inszeniert, das mit der Betonung der gemeinsamen Zugehörigkeit ein
breites Publikum anzusprechen versucht81 .
76
77
78
79
80
81
Die »construction scénographique de l’espace« diskutiert in Mazzoni 2006, 235.
Oppenheim 1950, 71–78.
Vgl. hierzu auch die bühnenartigen Strukturen in und um die Tempel von Aleppo und Ain Dara.
Wangsgaard Jürgensen 2010.
Pearson – Shanks 2001, 23.
Gilibert 2011a, 121.
ARCHÄOLOGIE DER MENSCHENMENGE
129
4 Schluss
Am Ende des 10. Jhs. erlebten die syro-hethitischen Stadtstaaten eine Zeit des politischen
und ökonomischen Umbruchs. Die Stadtfürsten versuchten die Gunst der Bevölkerung
zu gewinnen und den Namen der Dynastie an die Stadtidentität zu binden. Dafür entwickelten sie Volks- und Staatsfeste, die sie auf eigens dafür gestalteten Platzanlagen im
Zentrum der Stadt inszenierten. Die Platzanlagen dienten einerseits dazu, die Masse der
Zuschauer zu kontrollieren, andererseits funktionierten sie als theatralische Räume, die
die emotionale Wirkkraft der Handlungen erhöhten. Übergroße Ahnenstatuen und ausgedehnte, vielschichtige Bildprogramme halfen, den rituellen Handlungen Dauerhaftigkeit und Unveränderlichkeit zu gewähren.
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Abb. 1: Karte A. Gilibert; Abb. 2–8. 13. 14: Zeichnung A. Gilibert; Abb. 9: nach
Oppenheim 1950, Abb. 6; Abb. 10: Sal. Oppenheim Hausarchiv, Nachlass Max von
Oppenheim; Abb. 11: nach Luschan 1911, Abb. 265; Abb. 12: nach Woolley 1961, Abb. 53;
Abb. 15: nach Hawkins 1972, Abb. 4a; Abb. 16: nach Oppenheim 1950, Abb. 8; Abb. 17:
Graphik A. Gilibert.
136
ALESSANDR A GILIBERT
Hauke Ziemssen
Der Herrscher im Tempel
Bild und Inszenierung im kaiserzeitlichen Rom
This paper deals with the Rome of the 4th century A.D., beginning with a coin bearing the image of Maxentius
that depicts the emperor interacting with a personification of the Goddess Roma in her temple. It examines
imperial strategies for self-depiction as a divine personage. Even if the depiction of the globe being passed from
Roma to the emperor does not represent an actual event, it nevertheless refers to ceremonial acts situated in a
specific architectonic context. The temple was restored by Maxentius and served, together with an imperial
entrance hall (the Basilica of Maxentius) erected across from it, as a stage for an elaborate municipal and imperial ceremony. The coin image addresses these events, but, true to the nature of the medium, it exercises its
ideological expressiveness without actually being present at the site of the ceremony. Construed in this way, the
spatial references thus recall the modern phenomenon of cyberspace.
1 Einführung
Die Bezüge zwischen Bildwerken und Handlungen sind in allen Kulturen und zu allen
Zeiten vielfältig. Statuen oder Reliefs können Handlungsabläufe beeinflussen, indem sie
den Teilnehmern Hinweise oder sogar Anweisungen für das Verhalten übermitteln. Sie
können auch selbst Handlungen darstellen und diese damit zeitlich fixieren und überhöhen. Der vorliegende Tagungsband bietet mit den Befunden in Knossos und in den
mykenischen Palästen ebenso wie auf den syro-hethitischen Platzanlagen Beispiele dafür,
wie solche Handlungswiedergaben ihrerseits dynamischer Bestandteil von Zeremonien
werden können. Auch die klassische Antike kennt derartig eingebundene Bildwerke –
man denke an den Parthenonfries, der die Prozession der Panathenäen darstellte und sie
zugleich räumlich begleitete, oder an die Friese des Titusbogens in Rom mit ihrer Wiedergabe eines Triumphzuges, wie er durch eben diesen Bogen in ähnlicher Form immer
wieder geführt wurde. Der folgende Beitrag widmet sich einem nur scheinbar weniger
offensichtlichen Fall der Verknüpfung von Handlung im Bild und in der Realität, zeitlich
angesiedelt in der späten römischen Kaiserzeit. In den Jahren zwischen 307 bis 312 n. Chr.
prägten die italischen Münzstätten mehrere Serien von folles mit dem Rückseitenbild
des Venus- und Romatempels und der Umschrift CONSERVATOR VRBIS SVAE – Retter
Der vorliegende Text basiert auf den Studien des Verfassers für die 2006 an der Universität Hamburg abgeschlossene Dissertation »Das Rom des Maxentius«, die zurzeit in Druckvorbereitung ist. Für eine vertiefende
Behandlung der hier angesprochenen Fragen sei auf diese Arbeit verwiesen. Vgl. auch Ziemssen 2007; Ziemssen
2010b; Ziemssen 2012.
DER HERRSCHER IM TEMPEL
137
a
b
Abb. 1 | Follis, Aquileia,
307–310 n. Chr., max. Dm
26 mm a) Avers: Kaiser
Maxentius, Umschrift IMP
C MAXENTIVS P F AVG,
b) Revers: Tempel der Venus
und Roma mit Kultbild der
Roma und Umschrift
CONSERV – VRB SVAE
(RIC VI Maxentius 121a).
seiner Stadt (Abb. 1)1 . Auf den ersten Blick wirken diese Münzen im Rahmen der kaiserzeitlichen Prägung durchaus konventionell: Die Vorderseite gibt das Profil des zu dieser
Zeit in Italien und der Provinz Africa regierenden Kaisers Maxentius wieder, während die
Darstellung des Tempels auf der Rückseite, einer lang etablierten Ikonographie folgend,
die Architektur schematisch beschreibt und in einem stark verbreiterten Mittelinterkolumnium das frontal thronende Kultbild der Göttin Roma mit dem Globus in der rechten
Hand zeigt. Die Prägetradition dieser Darstellung von Tempel und Kultbild reicht in die
severische Zeit zurück 2 . Bis in das spätere 3. Jh. hinein, vereinzelt auch noch in anderen
Reichsteilen während der Herrschaft des Maxentius, wurde dieses Motiv durchgehend
von der Münzlegende Roma(e) aeterna(e) begleitet und so eindeutig auf den Tempel der
Göttinnen Venus felix und Roma aeterna nahe dem Forum Romanum bezogen3 . Auf den
Prägungen des Maxentius belegt noch die Statue der Gottheit selbst diese Identität. Der
Tempel wird in schriftlichen Quellen nun allerdings zumeist als templum urbis bezeichnet
und die Göttin Venus findet keine Erwähnung mehr4 .
Es sind zwei Aspekte, die die erneute Aufnahme dieses Münzmotivs im beginnenden 4. Jh. bemerkenswert machen und in das Zentrum einiger Überlegungen zu den Bezügen zwischen Handlungsformen und bildlichen Darstellungen in der späten Kaiserzeit
treten lassen. Ungewöhnlich ist zunächst die Münzlegende conservator urbis suae, bei der
es sich weder um eine be- noch umschreibende Ergänzung des Bildes zu handeln scheint.
1
Grundlage für die Analyse der maxentianischen Münzprägung ist der von C. H. V. Sutherland verfasste
Band VI der Roman Imperial Coinage (RIC). Die Münzprägungen mit der Darstellung des Tempels und der Legende conservator urbis suae: RIC VI 271–277 (Ticinum); 305–309 (Aquileia); 338–347 (Roma); 393–397 (Ostia). In
Karthago werden Münzen mit der Legende conservator Karthaginis suae geprägt: RIC VI 417–435 (Carthago).
2
Einen Überblick über die Prägungen bietet Küthmann 1973, 34–38.
3
In großem Umfang war diese Kombination unter Probus (276–282 n. Chr.) geprägt worden (RIC V 2, 37–
38 Nr. 182–197; 62 Nr. 408–412; 96–97 737–741), außerdem unter Carausius und Allectus (286–297 n. Chr.:
RIC V 2, 497 Nr. 389; 512 Nr. 578; 516 Nr. 613; 562 Nr. 40; 568 Nr. 113). Für Konstantin und Maximian erschien die
alte Kombination noch im Jahr 307 n. Chr. (RIC VI 130 Nr. 99 (Konstantin). 100 (Maximian)), und für den afrikanischen Usurpator Alexander im Jahr 309/10 n. Chr. (RIC VI 434–435 Nr. 70. 75).
4
Zur spätantiken Geschichte des Tempels und der Namensgebung: Hausmann 2001, 193–194.
138
HAUKE ZIEMSSEN
Abb. 2 | Follis, Aquileia,
307–309 n. Chr., max. Dm
28 mm, Revers: Variante der
Darstellung in Abb. 1 b mit
Maxentius im Interkolumnium des Tempels, Umschrift
CONSERV – VRB SVAE
(RIC VI Maxentius 113).
Offen deskriptiv war die frühere Legende Romae aeternae gewesen. Aber auch die unter
Philippus Arabs zur Zeit der römischen Tausendjahrfeier im Jahr 248 n. Chr. zusammen
mit dem Tempel verwendete Legende saeculum novum (neues Zeitalter) spielte noch in
konnotativem Sinn auf die mit dem Bauwerk verbundene Ideologie des Neuanfangs und
der aeternitas an5 . Beim Ausdruck conservator urbis suae dagegen fehlt jeder offensichtliche Bezug. Es handelt sich dabei auch nicht, wie in der Forschung lange angenommen,
um eine nüchterne Selbstbezeichnung des Maxentius als »Bewahrer« Roms und Erneuerer des Tempelbaues, der während seiner Herrschaft einem Feuer zum Opfer gefallen
war6. Eine semantische Analyse kann zeigen, dass mit der substantivischen Titulatur
conservator vielmehr ein Reflex zeitgenössischer Akklamationen in der Münzprägung
vorliegt, ähnlich wie mit dem Ausdruck expectate veni auf Münzen des Carausius oder
dem bekannten redditor lucis aeternae auf dem Medaillon des Constantius Chlorus7.
Ein neuer, expressiver und eng mit den Huldigungen der spätantiken Panegyrici verwandter Zug erfasste mit solchen Legenden seit dem späten 3. Jh. das zuvor wenig panegyrische Medium8. Der Begriff conservator verweist dabei unmittelbar auf zeremonielle
Handlungen wie den adventus, bei dem ein Herrscher in der von ihm betretenen Stadt
als »Retter« (servator, conservator, σωτήρ) begrüßt und wie ein Heiland empfangen wurde9. Doch nicht nur mit dieser Legende lassen sich auf den maxentianischen Münzen
5
Gagé 1936, 170. 173–174; Körner 2002, 248–259.
6
Chronograph des Jahres 354 n. Chr. s. Maxentius imp. ann. VI: Hoc imp. templum Romae arsit et fabricatum
est. Die Deutung des Maxentius als eines rückwärtsgewandten Anhängers der römischen Traditionen – eines
»Bewahrers« – beherrscht die Forschung bis heute: vgl. insbesondere Cullhed 1994, 45.
7
Constantius Chlorus: Lehnen 1997, 80; Kolb 2001, 191–193; Carausius: Casey 1977, 222–223; Shiel 1977, 195;
Casey 1994, 58. Zur Verbindung dieser Legenden mit der ›Gefühlswelt‹ der Panegyrici vgl. MacCormack 1981,
29–31; Lehnen 1997, 81.
8
Zum adventus in der Zeit der Tetrarchie MacCormack 1981, 17–33; zur Übernahme von adventus-Akklamationen in die Münzprägung vgl. auch Lehnen 1997, 170.
9
Vgl. zu Verwendung und Deutung des Begriffes conservator seit der späten Republik Alföldi 1971; allgemein
zu Akklamationen im Zusammenhang der adventus-Zeremonie Lehnen 1997, 169–170; zu bildlichen Darstellungen des adventus Hölscher 1967, 50–59; MacCormack 1981, 29–31.
DER HERRSCHER IM TEMPEL
139
Momente repräsentativ überhöhter Handlung greifen. Der zweite ungewöhnliche Aspekt
der Prägungen ist eine Bildvariante, die insbesondere von den Münzstätten Aquileia und
Ticinum geprägt wurde (Abb. 2). In ihr tritt Maxentius selbst in das Bild und in den Tempel ein. Mit einem Fuß noch auf der Zugangsstufe, mit dem anderen aber fest auftretend
bereits im Interkolumnium steht er der thronenden Göttin im Inneren des Tempels direkt
gegenüber und greift mit der ausgestreckten Rechten nach ihrem Globus10. Erstmals in
seiner über 100jährigen Geschichte wird das Bildmotiv des Tempels mit seiner frontalen
Kultfigur damit variiert und regelrecht dynamisiert. Roma ist hier nicht mehr Kultbild,
sondern interagierende Gottheit. An die Seite des Tempelinneren und ins Profil gerückt
streckt sie den Globus dem Kaiser entgegen. Das auf römischen Münzen geläufige Bildmotiv »Tempel mit Kultfigur« wird zur Szene einer Handlung zwischen zwei Beteiligten.
Dabei sind die räumlichen Angaben gerade in ihrer Schematik eindringlich, trennt doch
die bildlich wiedergegebene Architektur in ein von der Kultfigur beherrschtes ›Innen‹
und in die Außenwelt als den Bereich, aus dem der Kaiser kommt. Erst in dieser Variante
der Tempeldarstellung wird auch die Legende mit der Anrufung des Kaisers unmittelbar
verständlich. Die Bildvariation und die Legende verweisen gleichermaßen auf repräsentative Handlungen, auf Akklamationen, Einzugszeremonien und die Übertragung von
Herrschaftslegitimation. Ungewöhnlich ist dabei ihre Verknüpfung und Ausdruckskraft,
die mit den Darstellungskonventionen für den Venus- und Romatempel auf Münzen
ebenso brechen wie mit den Gewohnheiten kaiserzeitlicher Ikonographie insgesamt: Im
kaiserzeitlichen Bildbestand ist die Wiedergabe eines lebenden, handelnden Herrschers
im Inneren eines Tempelbaues fast einmalig – wir werden dieses verblüffende Motiv weiter unten noch genauer untersuchen.
Die Bilder hatten ihren Platz in einem komplexen Bezugsrahmen von Politik, Architektur und Zeremoniell, der in seinen Grundzügen knapp skizziert sei 11 . Im Jahr 306
n. Chr. hatte Maxentius in Rom mit Unterstützung der Prätorianertruppen den Kaisertitel okkupiert. Er war zwar Sohn des Kaisers Maximian, hatte aber im tetrarchischen
System keinen Herrscherposten erlangt. Nach seiner Usurpation und bis zur Niederlage
gegen Konstantin im Jahr 312 n. Chr. stand Maxentius daher in einem wechselhaften
Verhältnis zur Tetrarchie, bestimmt durch die erfolgreiche Abwehr von Angriffen in den
Anfangsjahren, durch die zunächst gewährte und dann wieder entzogene Unterstützung
seines Vaters sowie durch Bündnisse mit einzelnen Tetrarchen. Von Rom aus beherrschte er Italien mit den großen Inseln und, unterbrochen durch einen Aufstand, auch die
Provinz Africa. Im dezentralisierten Reich war Maxentius der seit langer Zeit erste und
zugleich der letzte Kaiser, der ohne Unterbrechung in der alten Hauptstadt residierte.
10
Eine der entsprechenden follis-Serien aus Aquileia ist laut RIC häufig belegt: RIC VI, 325 Nr. 113; das gleiche
Motiv auf Nr. 114, allerdings im RIC mit »R« belegt. Zwei weitere Serien aus derselben Münzstätte sind bislang
nur in Einzelexemplaren bekannt: Jelocnik 1973, 193–194 Nr. 92. 92a. Jeweils eine Serie aus Ticinum (RIC VI 296
Nr. 110) und Rom (RIC VI 378 Nr. 213) liegt in geringer Menge vor.
11
Zur Herrschaft des Maxentius vgl. Cullhed 1994 und zuletzt Ziemssen 2007, 12–34. 36–51.
140
HAUKE ZIEMSSEN
Noch einmal wurden hier nun die Mechanismen des Prinzipats mit dessen zeremoniell
codierten Austausch zwischen dem Herrscher und den Gruppierungen der römischen
Bevölkerung aktiviert. Dabei hatten sich die Voraussetzungen dieses alten »Akzeptanzsystems« (Flaig) seit der Soldatenkaiserzeit des 3. Jhs. und den Reformen der Tetrarchie
verändert. Herrschaft wurde zu Beginn des 4. Jhs. unmittelbar göttlich begründet und
entzog sich tendenziell der sozialen Kommunikation 12 . Das galt für die Herrscher der
ersten und zweiten Tetrarchie nicht weniger als für deren Söhne Konstantin und Maxentius. Im Rom der Jahre zwischen 306 und 312 n. Chr. müssen daher die aus dem Prinzipat überkommenen Bindungsformen einerseits und die Repräsentation des Maxentius
als eines entrückten Monarchen andererseits unmittelbar aufeinandergestoßen sein. Die
Konsequenzen dieser außergewöhnlichen historischen Situation sind an den Großbauten
jener Jahre abzulesen 13 . Sie entstanden in unmittelbarer Verbindung mit den kaiserlichen
Palästen auf dem Palatin, sowohl im Süden als auch im Norden des Hügels. Im Süden
näherte eine mit hohen Substruktionen bewältigte Erweiterung des Palastbereiches die
Residenz dem Circus Maximus an, der zentralen ›Begegnungsstätte‹ zwischen Herrscher
und Bevölkerung. Zugleich verwandelten die Maxentiusbasilika und der Wiederaufbau
des im Brand zerstörten Tempels der Venus und Roma (s. u. Abschnitt 5) das Gebiet nördlich des Palatin, das unmittelbar an den Haupteingangsbereich des Palastes angegliedert
war. Die Basilika ist eine erweiterte Variante der zahlreichen zeitgenössischen Apsidensäle und konnte in ihrer monumentalen Gliederung breite Teile der Bevölkerung vor dem
in der Apsis thronenden Herrscher aufnehmen. Der städtebauliche Bezug des Neubaus
auf den gegenüberliegenden Tempel legt auch den Gedanken an Herrscherzeremonien in
diesem Dreieck zwischen Palast, Aula und Tempel nahe, die das traditionelle Spektrum
von Kaiserauftritten in Rom erweiterten und einen direkten Bezug zu den Göttinnen
Venus und Roma herstellten: Auszüge des Kaisers aus dem Palast zum öffentlich zelebrierten Opfer vor den Fronten des Tempels, der Einzug in die Basilika, der Zug in das
benachbarte Amphitheater oder den Circus Maximus.
2 Handlungen im Bild: Globusübergabe und Opfer in der Darstellung der Münzen
Diese im Architekturbefund erkennbare Intensivierung des städtischen Zeremoniells
spiegelt sich – dies soll im Folgenden gezeigt werden – in den Bildern der zeitgenössischen Münzen wider. Eine methodisch grundlegende Bemerkung sei vorausgeschickt.
Bilder und städtischer Raum sind mit den Handlungsformen einer Zeit stets eng verflochten. Dies gilt zunächst im generellen Sinne Bourdieus’; mit seinem Habitus-Begriff postuliert dieser die »allgemeine Disposition« einer Epoche, deren Äußerungsformen sich
12
13
Martin 1984; Flaig 1992, 174–207.
Vgl. Ziemssen 2007, 52–122; Ziemssen 2010b; Ziemssen 2012.
DER HERRSCHER IM TEMPEL
141
auf allen Ebenen gesellschaftlicher Realität erkennen lassen14 . Im Rom des beginnenden
4. Jhs. unterschied sich dieser gesellschaftliche Habitus wesentlich von jenem der ersten
kaiserzeitlichen Jahrhunderte. Die mit plebs urbana, Senat und Soldaten ausgehandelte
Akzeptanz des Maxentius in Rom beruhte auf dem skizzierten, im 3. Jh. gewandelten
Herrscherbild und entwickelte sich vor dem Hintergrund einer zum seltenen Ereignis gewordenen kaiserlichen Präsenz in der Hauptstadt. Dieses neue Verständnis von Herrschaft
kam in Zeremonien, Bauwerken und Bildern gleichermaßen zum Ausdruck. Zugleich
können Bilder auch als unmittelbare Verweise auf spezifische, insbesondere zeremonielle
Handlungen funktionieren. Vor dem Hintergrund dieser zweifachen Verknüpfung zwischen Bildern und der Gesellschaft, in der sie entstehen, werden die Abhängigkeiten von
Raum, Handlung und bildlicher Darstellung im Folgenden analysiert. Die ereignishafte
Szene der Globusübergabe und die akklamative Legende sprechen, das lässt sich bereits
andeuten, für einen direkten Bezug des Bildes zum Kultgeschehen des templum urbis.
Die Frage, in welcher Art und Weise dieser Realitätsbezug auf den Münzbildern
funktioniert, führt mitten in die Diskussion zum Verhältnis von »Symbolik« und »Wirklichkeit« der römischen Repräsentationskunst 15 . Es gibt keinen Zweifel, dass die Szene
der Globusübergabe nicht im Sinne eines photographischen Realismus zu verstehen
ist. Eine Globusübergabe durch einen Gott besaß im kaiserzeitlichen Zeremoniell keine unmittelbare Entsprechung. Ihre bildliche Formulierung wiederum ist durch Konventionen der Gattung und durch ideelle Konnotationen bestimmt. Vor allem seit der
2. Hälfte des 3. Jhs. zeigen zahlreiche Münzen die Globusübergabe durch eine Gottheit
an den Kaiser16. Das Bildschema referiert auf die göttliche Unterstützung eines Herrschers und auf die Vorstellung des princeps a diis electus, die schließlich besonders im
3. Jh. und mit der Tetrarchie weite Verbreitung erfuhr. Die göttliche Wirkungsmacht erstreckte sich, folgt man vor allem den Aussagen der Panegyriker, unmittelbar auf das
menschliche und herrscherliche Handeln17. Bilder der Globusübergabe auf Münzen sind
dabei entsprechend ihrem Symbolcharakter in den meisten Fällen ohne einen räumlichen
Kontext angegeben. Auch ein seltenes maxentianisches Goldmedaillon zeigt die Szene
der Globusübergabe zwischen Roma und dem Kaiser in einer zur Bronzeprägung fast
identischen Positionierung und Gewandung, jedoch ohne die Architektur des Tempels18.
Die follis-Darstellungen könnten insofern zunächst als eine fast spielerische Innovation
der römischen Münzpräger erscheinen, in der die beiden bekannten ikonographischen
Formeln »Tempelbau« und »Globusübergabe« in einem einzigen Bild verschmelzen.
14
Vgl. die Definition von »Habitus« bei Bourdieu 1974, 144 als den »Ausdruck dieser allgemeinen Disposition
[…], welche die Einzelmuster erzeugt, die sich dann in den verschiedenen Bereichen des Denkens und Handelns
verwenden lassen«.
15
Vgl. Hölscher 1980.
16
Fears 1977, 279–299.
17
Martin 1984; Kolb 2001, 35–37.
18
RIC VI 373 Nr. 173; vgl. Carson 1980, 70 n. 110.
142
HAUKE ZIEMSSEN
Abb. 3 | Sesterz, Rom, geprägt
unter Kaiser Caligula (37–41
n. Chr.), max. Dm 35 mm,
Revers: Darstellung des kaiserlichen Opfers mit Opferdienern
und Stier am Altar vor hexastylem Tempel des divus Augustus
(RIC I Caligula 44).
Doch dieser Eindruck trügt; um ein bloßes künstlerisches Experiment handelte es sich
hier mit Sicherheit nicht. Dem römischen Betrachter war geläufig, dass in einem Münzbild wie auch in anderen staatlichen Bildwerken die Wiedergabe von Realität und deren
symbolische Überhöhung zusammenfielen 19. Semantisch vergleichbar aufgebaut sind
etwa Werke der Staatskunst wie das Triumphrelief des Titusbogens, in dessen realistisch
dargestelltem Zug wie selbstverständlich auch Gottheiten auftreten. Näher noch stehen
der »Globusübergabe im Tempel« die aus Münzprägung und Reliefkunst bekannten
Darstellungen kaiserlicher Opfer vor einem im Bild präzise identifizierbaren Tempelbau
Tempelbau, etwa dem Münzbild des Caligula mit dem Opfer vor dem Tempel des divus
Augustus (Abb. 3)20. Die vergleichbare Kombination von Tempelbau, handelndem Kaiser
und Gottheit auf den maxentianischen Münzbildern konnte einen Betrachter durchaus
an solche Opferszenen erinnern. Zwar sind auf den Opferdarstellungen die TempelKulisse und die vor ihr dargestellte Handlung gleichermaßen ›real‹, doch ist auch diese
Wirklichkeit bereits inszeniert. Die Bilder geben ein Ritual wieder, das in der römischen
Kaiserzeit durch die Platzierung des Altars in der Mittelachse des Tempels selbst »zum
plakativen Bild der politischen Frömmigkeit, der pietas« wurde21 . Eine Münzprägung
des Alexander Severus zeigt nach diesem Bildschema den Kaiser beim Opfer vor dem
durch die Legende ROMAE AETERNAE als das templum urbis identifizierten Heiligtum22 .
Das Thema dieser Darstellung ist eine Zeremonie zu Ehren der Roma und der Venus und
damit der aeternitas Roms, wobei die Figur des Kaisers mit der von ihr verkörperten Tugend der pietas in den Mittelpunkt der Aussage rückt23. Ähnlich sind Münzdarstellungen
19
Hölscher 1980.
20 Einen Überblick über Münzdarstellungen von Opfern vor Tempeln (mit zahlreichen Beispielen) bietet Scott
Ryberg 1955, 186–189.
21
Hölscher 2006, 191–192.
22 Scott Ryberg 1955, 187–188 Abb. 115 a (mit dem Hinweis auf die Betonung der Kultstatue durch die Bildkomposition); Toynbee 1986, 103 Taf. 44, 4.
23
Nach einer überzeugenden Hypothese Paul Zankers gilt diese Deutung auch für all jene Tempeldarstellungen, in denen nur die Kultstatue im Inneren sichtbar ist. Die Wiedergabe des Götterbildes verweise demnach
DER HERRSCHER IM TEMPEL
143
Abb. 4 | Aureus des Septimius Severus,
Rom,207 n. Chr., max. Dm 21 mm, Revers:
Thronende Göttin Roma, Umschrift: RESTITVTOR VRBIS (RIC IVa Septimius Severus
288; Hill 1964, 35 Nr. 975–977).
severischer Zeit zu deuten, die zwar nicht den Tempelbau einschließen, den maxentianischen Prägungen aber in anderer Hinsicht stark ähneln. Unter Septimius Severus erschienen mehrere Serien mit der Legende RESTITVTOR VRBIS, die zumeist den Kaiser
beim Opfer zeigten24 . Auf den ersten Serien wurde er allein vor einem Dreifuß wiedergegeben, in späteren Serien trat die thronende Figur der Roma auf der anderen Seite des
Dreifußes auf. Schließlich erschien die Göttin in den spätesten Serien allein und ohne
Dreifuß, aber weiterhin unter der alten, auf den Kaiser bezogenen restitutor urbis-Legende
(Abb. 4). Die im Opfer zum Ausdruck kommende pietas gegenüber den Göttern trägt
mit dem Verweis auf den Kaiser als Wiederhersteller (restitutor) der Stadt eine besondere
Konnotation, die eng mit dem Begriff des conservator verwandt ist. Das substantivierte
Verb bezeichnet auch hier den Kaiser als handelnden, Schutz und Fürsorge für Rom gewährenden Herrscher. Die restitutio urbis verwies einerseits auf Baumaßnahmen in Rom,
andererseits aber auch auf die in diesen Aktivitäten zum Ausdruck kommende Erneuerung des Staates und die segensreiche Wirkung der severischen Dynastie für das Reich.
Im Opfer vor Roma und in dessen Darstellung auf den Münzen verbinden sich diese Gedanken mit dem Konzept der pietas vor der Göttin der Stadt. Auch das reale Handeln und
seine bildliche Wiedergabe sind insofern stets symbolisch überhöht.
stets auf den Anlass, bei dem es einem größeren Publikum auch real sichtbar wurde, also auf die kultische Zeremonie (Zanker 1997).
24 Zur Chronologie dieser Prägungen: Hill 1964. Zum Kontext vgl. Desnier 1993, 612–615; Daguet-Gagey
2004.
144
HAUKE ZIEMSSEN
3 Handlungsformen: Der Kaiser im Kult
Zurück zu den Prägungen des Maxentius. Sie ähneln den beschriebenen Darstellungen
des herrscherlichen Opfers in ihrer Kombination von Kultbau und Kaiserfigur, unterscheiden sich aber auch in mehreren wesentlichen Aspekten von ihnen. Im Mittelpunkt
der Szenen mit der Globusübergabe im Tempel steht nicht das Opfer, nicht die Idee religiöser pietas, sondern laut der Legende jene einer Auszeichnung des Herrschers als »Retter«
seiner Stadt. Die conservatio urbis durch Maxentius ist Voraussetzung für die Verleihung
der Herrschaft durch Roma, die hier somit auch die urbs conservata, die gerettete Stadt, repräsentiert. Während Prägungen wie jene des restitutor urbis Septimius Severus über die
Opferdarstellung auf die menschliche Handlungssphäre des Kaisers verweisen, stellen
die Münzen des Maxentius damit einen göttlichen, der Realität eines für alle Bürger sichtbaren Zeremoniells gerade enthobenen Handlungszusammenhang her. Fundamental unterschiedlich ist daher auch die Positionierung des Kaisers im Bild. In den Opferdarstellungen wie jener des Alexander Severus steht er stets vor dem Tempel am Altar, während
das Tempelinnere als Ort der Kultfigur aufgefasst wird. Damit ist eine kultisch wichtige
Trennung repräsentiert, die sich im Moment des Zeremoniells ebenso klar vor den Augen
der Zuschauer manifestierte. Das Handlungsbild des Maxentius missachtet diese Dichotomie und nähert den Kaiser in seiner aktiven Schrittstellung unmittelbar der Gottheit
an. Die Darstellung eines lebenden, handelnden Kaisers im Tempel ist in der Bildkunst
außergewöhnlich und wird auf den zeitgenössischen Betrachter entsprechend drastisch
gewirkt haben. Im Vergleich mit den Opferdarstellungen stellt sich hier rasch die Frage:
War der Kaiser auch in der Realität im Inneren des Tempels gegenwärtig, und wenn ja,
in welchem zeremoniellen Rahmen? Durchsucht man die Münz- und Reliefkunst der
Kaiserzeit nach Wiedergaben von Kaisern in Tempeln, lassen sich tatsächlich fast ausschließlich Bilder von Kultstatuen eines Herrschers in Tempeln des provinzialen Kaiserkultes anführen, die sich mit der maxentianischen Handlungsszene nicht direkt vergleichen lassen – auch wenn sie die symbolische Bedeutung unterstreichen, die der Darstellung eines Kaisers im Inneren eines Tempels zukommen musste25. Es gibt allerdings eine
Ausnahme, die für das Verständnis des maxentianischen Bildes aufschlussreich sein kann
und auf der ebenfalls ein lebender Kaiser im Inneren eines Tempels bei der Interaktion
25
Tempel mit kaiserlicher Kultfigur: BMCRE Cilicia 117 n. 9; 118 n. 10; Price – Trell 1977, 276 n. 640 (Cilicia
unter Maximinus Thrax); BMCRE Phrygia 307 n. 185 (munizipaler Kaiserkulttempel unter Domitian); BMCRE
Pontus 105 n. 9–11. 108 n. 32; vgl. Hänlein-Schäfer 1985, 83–84 (Tempel der Roma und des Augustus in Nicomedia, manchmal mit der Figur des Kaisers allein, zuweilen auch mit bekränzender Roma); BMCRE Mysia 137
n. 236; 139 n. 242–245; 140 n. 253–256; 141 n. 257; 142 n. 267; 166 n. 360–363 (Roma-Augustus-Tempel in Pergamon); BMCRE I 196 n. 228; II 94 n. 449; 352 n. 254*; III 12 n. 79; III 146 n. 711; Hänlein-Schäfer 1985, 81–82
(kleinasiatischer Provinzialtempel der Roma und des Augustus mit Augustusfigur und bekränzender Roma);
BMCRE Mysia 142 n. 262–266; Radt 1999, 209–212 (Avers mit Wiedergabe des kleinasiatischen Provinzialtempels, Revers zeigt das Traianeum mit Statuen des Zeus und Trajans).
DER HERRSCHER IM TEMPEL
145
Abb. 5 | Billontetradrachme des
Hadrian, Alexandria, 132/33,
Revers: Tempel mit Hadrian
und Serapis im Interkolumnium (Milne 1933, n. 1380 pl. 4).
mit der Gottheit erscheint: Auf den Rückseiten hadrianischer Bronze-Münzserien aus
Alexandria, die möglicherweise aus Anlass des kaiserlichen Besuchs in der Stadt im Jahr
132 entstanden, sind stets Hadrian und Serapis im Interkolumnium eines distylen Tempels dargestellt 26. Für uns besonders aufschlussreich ist eine in das Jahr 132/133 n. Chr.
datierende Serie, in deren Bild der links stehende, in der Linken ein Szepter haltende Serapis dem ihm rechts gegenüber dargestellten Hadrian den Globus überreicht (Abb. 5)27.
Noch ein weiteres Exemplar zeigt den Gott bei der Übergabe eines Objektes an den Kaiser, in diesem Fall eines Kranzes mit Taenia28. Auf allen anderen Münzen dieser Serien
erhebt Serapis den rechten Arm in Richtung auf den gegenüberstehenden Kaiser. Der
Kaiser ist dabei in fast gleichbleibender Weise dargestellt. Er hält in seiner Linken zumeist
ein Szepter und legt seine Rechte stets auf eine halb hohe, rechteckige und von einem
Giebel bedeckte Stele, die zwischen den beiden Figuren aufgestellt ist und in ihrem Feld
den Namen Hadrians im Akkusativ trägt 29. Bei dem Tempel handelt es sich mit großer
Wahrscheinlichkeit um den aus der Zeit Ptolemaios’ III. (246–221 v. Chr.) stammenden
Serapistempel auf dem Gelände des alexandrinischen Serapeions, dessen Grundmauern bei Ausgrabungen identifiziert werden konnten30. Der Bau wurde unter Trajan und
Hadrian mehrfach auf alexandrinischen Münzen geprägt, stets aber nur mit dem Gott
und dem als Inschriftenstele zu deutenden Gegenstand31 . Auf diesen Bildern legt Sera26 Vogt 1924, 69–70; BMCRE Alexandria 101–102 n. 874–876; Tran tam Tinh 1983, 188–189 (Kat. IVB 42).
27 Aus der Sammlung Dattari (n. 1946). Vgl. Milne 1933, n. 1380 pl. 4; Tran tam Tinh 1983, 188 (Kat. IVB 42 c).
28 Tran Tam Tinh 1983, 133 (Kat. IC 31).
29 Zusammenfassend und mit älterer Literatur: Tran tam Tinh 1996, 223.
30 McKenzie – Gibson – Reyes 2004, 85–90.
31
Die Stele erscheint auch auf den früheren Darstellungen des Tempels (unter Trajan wie auch vor und nach
der hier behandelten Serie unter Hadrian), auf denen der Kaiser noch fehlt, und trägt dort eine nur durch Punkte
angedeutete Schrift, s. Tran tam Tinh 1983, 126–133 (Kat. IC 12–30); Handler 1971, 65–67. Vgl. Vogt 1924, 69–70. Unwahrscheinlich ist die gelegentlich vorgenommene Deutung der Stele als Naos und damit als Hinweis auf eine
Baumaßnahme Hadrians im Serapeum (u. a. Beaujeu 1955, 230–231, offensichtlich auch Tran Tam Tinh 1996, 223).
146
HAUKE ZIEMSSEN
pis selbst seine Hand auf den Giebel und besetzt die Stele somit für sich32 . Nur auf den
hier behandelten Münzen Hadrians ist die Stele durch die Angabe des Kaisernamens
im Akkusativ eindeutig als Widmung an Hadrian gekennzeichnet und deutet damit auf
eine Ehrung des Kaisers im Tempel des Serapis hin33 . Dass Hadrian im Bild auch selbst
innerhalb des Tempels dargestellt ist und ihm die Stele durch den Gestus der Handauflegung in der gleichen Form zugeschrieben wird wie auf den früheren Münzbildern
dem Serapis, lässt an eine Aufnahme des Kaisers in den Tempel denken. Auch der grüßende Gestus des Gottes deutet dies an34 . Auszugehen ist zumindest von einer Statuenweihung, entsprechend den zahlreichen Widmungen an Hadrian, die für das athenische
Olympieion überliefert sind35 . Wie in Athen muss dies auch in Alexandria nicht zwangsläufig bedeuten, dass der Kaiser als Synnaos Theos (σύνναος θεός) des Serapis verehrt wurde36, wie dort aber ist anzunehmen, dass er im Tempel und dem umgebenden Kultbezirk
in statuarisch prominenter Form vertreten war. Mit einiger Wahrscheinlichkeit bezogen
sich die Serapis-Prägungen mit Hadrian im Tempel auf solche nicht mehr rekonstruierbaren Ehrenbeschlüsse für den Kaiser37. Entsprechend lässt sich auch die gelegentlich dargestellte Übergabe von Kranz oder Globus durch Serapis verstehen. Sie interpretiert den
Bezug des Gottes zum Kaiser als göttliche Auszeichnung und Verleihung von Herrschaftsrecht und Sieghaftigkeit, analog zu der römischen Tradition, höchste Götter als σωτήρες
bzw. conservatores der Herrscher anzusehen und ihnen auch die Garantie der Herrschaft
zuzuschreiben38. Zwei hadrianische Bauinschriften von Serapistempeln an anderen Stellen Ägyptens bringen genau diese Aspekte zum Ausdruck, indem sie die entsprechenden
Bauten ὑπὲρ σωτηρίας καὶ αἰωνίου νίκης des Hadrian und seines Hauses widmen und erst
dann den Namen des Gottes nennen (Zeus Helios, der große Serapis)39 .
32
Vogt 1924, 70 vermutet zu Recht eine auf Serapis bezogene Inschrift und denkt an die Verkündung eines
von Serapis vollbrachten Wunders oder einer Weihung an den Gott.
33
Vgl. zur Form griechischer Ehreninschriften Guarducci 1974, 89–102. Handler 1971, 67–68 bemüht sich
um eine genauere Erklärung der Szene, indem sie diese als Hinweis auf einen administrativen Akt Hadrians
deutet. Die Stele würde demnach die öffentlichen Archive Alexandrias versinnbildlichen, die ihren Platz stets im
Serapistempel unter dem Schutz des Gottes gehabt hatten und erst unter Hadrian in die von ihm neugeschaffene
Bibliothek verlegt, also gewissermaßen unter seinen Schutz gestellt wurden. Abgesehen von der für eine Münzdarstellung wohl etwas zu komplexen politischen Rekonstruktion berücksichtigt diese Deutung nicht, dass die
Darstellung des Kaisers im Tempel auf einer Münze außergewöhnlich ist und sich kaum befriedigend mit dem
(gemutmaßten) Standort der Archivtafeln erklären lässt.
34
Beaujeu 1955, 230–231 deutet diesen Gestus als Zeichen für die Aufnahme Hadrians durch Serapis als
σύνναος θεός.
35
Benjamin 1963, vgl. dort bes. 73–74 (Stele für Hadrian, nicht im Hadrianeum, geweiht durch zwei Phylen);
Guarducci 1974, 92–93; Willers 1990, 48–62.
36 Vogt 1924 vermutet, die Stele verkünde die Aufnahme des Hadrian in den Tempel als σύνναος θεός. Hornbostel 1973, 382 deutet die seines Erachtens ebenbürtige Darstellung von Gott und Kaiser umstandslos als Beleg
für eine solche Stellung Hadrians.
37
Tran tam Tinh 1996, 222.
38 Serapis galt wie Zeus-Jupiter als allumfassende Gottheit und wurde in der hadrianischen Religionspolitik
in gleicher Weise mit dem Kaiser verbunden wie Zeus (Beaujeu 1955, 232–236; Tran tam Tinh 1996, 222–223).
39 Bernand 1977, 59 n. 21 (Architrav mit der Inschrift eines Tempels des Zeus Sol, des großen Serapis, gefun-
DER HERRSCHER IM TEMPEL
147
Die hadrianischen Prägungen bieten somit selbst eine Erklärung für ihre ungewöhnliche Darstellung des Herrschers im Tempel. Kaiser und Gottheit sind hier Bestandteile
einer Handlungsszene, die zwar nicht bildrealistisch ist, symbolisch aber dennoch unmittelbar mit einer materiellen Ehrung des Herrschers im Tempel verknüpft ist. Wie das
Opfer auf den zuvor genannten Münzdarstellungen bezieht sich auch die Globusübergabe
auf den hadrianischen Münzen auf eine spezifische Position des Kaisers im Tempel, doch
rückt anstelle der pietas seine passive Teilhabe am Kult in den Mittelpunkt, konnotiert
mit den Vorstellungen der Herrschaftslegitimation und der Sieghaftigkeit. So weit nun
diese Darstellung zeitlich und geographisch auch von jener des Maxentius im Tempel
der Roma entfernt ist, verbindet beide doch ein vergleichbarer politischer Kontext 40. Die
alexandrinische Münzprägung des Jahres 132/133 n. Chr. stand noch unter dem Eindruck
des erst kurz zuvor abgeschlossenen, mehrmonatigen Aufenthalts Hadrians in der Stadt
(130/131 n. Chr.). Der in eigener Person gegenwärtige Herrscher muss Gegenstand intensiver panegyrischer Bekundungen der Bevölkerung geworden sein; auf Münzen wurde
sein adventus umfangreich gefeiert. Die Präsenz Hadrians könnte somit auch die entsprechenden Beschlüsse zu seiner Aufnahme in das zentrale Heiligtum des Serapis ausgelöst
haben. Im Rom des beginnenden 4. Jh. ergab sich mit der erneuerten Präsenz eines Herrschers eine ähnliche Situation. Die Stadt feierte ihren seit Jahrzehnten ersten dauerhaft
anwesenden Kaiser als conservator urbis. Damit verbanden sich ohne Zweifel panegyrische
Huldigungen, wie wir sie für zeitgenössische Herrscher kennen, ebenso wie die in der gesamten Kaiserzeit üblichen Ehrenbeschlüsse des Senats. Eine Aufnahme des Maxentius
in den Venus- und Romatempel ist in diesem Zusammenhang äußerst wahrscheinlich.
4 Ideologische Bilder: Maxentius und die aeternitas
Diese Verbindung zwischen Göttin und Kaiser lässt sich noch näher bestimmen. Das
oben bereits erwähnte maxentianische Medaillon mit der isolierten Szene der Globusübergabe trägt die einzigartige Legende ROMAE AETERNAE AVCTRICI AVG N (Abb. 6)41 .
Dieser Begriff auctor (F. auctrix) – der Urheber, Begründer einer Sache – hatte im Verhältnis eines Gottes zu einem Menschen eine sehr spezifische Bedeutung. Roma Auctrix
Augusti bezeichnete die Göttin nicht nur als Urheberin der Herrschaft (auctrix imperii).
Der auctor eines Menschen war auch sein Schöpfer in einem genealogischen Sinne, sein
den in Gebel Dokhan, datiert auf 117–119 n. Chr.); 98 n. 42 (Architrav mit der Widmung eines Tempels des Zeus
Sol, des großen Serapis und verbundener Gottheiten, gefunden in Gebel Fatireh (in situ), datiert auf den 23. April
118 n. Chr.). Vgl. auch Bernand 1984, 77–78 Kat. 16. 17.
40 Es lässt sich nicht völlig ausschließen, dass hier ein direkter Einfluss der alexandrinischen Münzprägung
auf die stadtrömische vorliegt; doch spricht angesichts des zeitlichen Abstands wenig für eine solche Hypothese.
41
RIC VI 373 Nr. 173; vgl. Carson 1980, 70 n. 110.
148
HAUKE ZIEMSSEN
Abb. 6 | Goldmedaillon des
Maxentius, Rom, 307–312 n.
Chr., max. Dm. 40 mm, Revers:
Roma übergibt den Globus an
Maxentius, Umschrift: ROMAE
AETERNAE AVCTRICI AVG N
(RIC VI Maxentius 173).
Ahnherr42 . Dieses Verständnis eines Gottes ist für die Zeit der Tetrarchie gut bekannt; die
Götter – Jupiter und Hercules – galten nicht nur als Beschützer der Kaiser und Garanten
ihrer Herrschaft, sie waren darüber hinaus auch die Begründer der beiden kaiserlichen
Familienzweige der Iovii und der Herculii 43 . Die göttliche Filiation der beiden Augusti
war Grundlage des tetrarchischen Herrschaftssystems und im Panegyricus auf Maximian von 291 n. Chr. wird Jupiter auch als der auctor deus des Diocletian angesprochen,
als der »Schöpfergott« und göttliche Vorvater des Kaisers44 . Roma und Maxentius waren
somit über einen komplexen und für die Zeit der Tetrarchie spezifischen ideologischen
Diskurs miteinander verbunden. Roma rückt in der Medaillonprägung als Schöpferin
von Person und Status des Maxentius an die Stelle der tetrarchischen Schutzgötter. Es ist
anzunehmen, dass diese Rolle der dea Roma in der Kommunikation zwischen den neuen
Herrschern und den stadtrömischen Gruppierungen sowie in den Huldigungsadressen
der Festredner entstand und ihr kein systematischer Entwurf zugrundelag, wie es ihn
offenbar für die Tetrarchie gab. Damit wurde die im hadrianischen Tempel kultisch eng
definierte Roma aeterna zu einer Herrschaftsstifterin, die dem Maxentius nicht wie Jupiter oder Herkules den Tetrarchen in abstraktem Wesen gegenüberstand 45; Maxentius
wurde stattdessen unmittelbar – und exklusiv – mit dem örtlich klar definierten Kult
der Roma im templum urbis assoziiert. Die Bronzeprägungen mit dem Bild des Tempels
referieren auf diesen Bezug des Kaisers zum Kultbau im Stadtzentrum und wenden sich
daher auch mit der Legende conservator urbis suae nicht ohne Grund immer an den Kaiser, auch wenn nur der Tempel mit der Kultfigur der Göttin, nicht der Kaiser dargestellt
ist. Ähnlich wie die Münzen des Hadrian für den Tempel in Alexandria scheinen somit
42 TLL 4,2, 1204 Z. 58–59 s. v. auctor.
43
Kolb 2001, 35–37.
44 Pan. XI (3) , 3, 4.
45 Jupiter, Herkules oder Mars verwiesen in Szenen der Globusübergabe nie auf einen spezifischen Kult, besaßen somit keine dem Kaiser physisch zugängliche Ausdrucksform und waren auch durch die häufige Legende
CONSERVATOR AVGVSTI nur in der ihm gegenüber ausgeübten Schutzfunktion gekennzeichnet.
DER HERRSCHER IM TEMPEL
149
auch die maxentianischen Prägungen eine Aufnahme des Kaisers in das templum urbis
zu spiegeln, sei sie über die Weihung von Statuen oder im Zusammenhang des Neubaus
über eine entsprechende Widmungsinschrift erfolgt. Für eine solche Rolle des Kaisers
im Kultbau spricht auch eines der wenigen Zeugnisse der Geschichtsschreibung zu den
Ereignissen jener Jahre. Aurelius Victor berichtet über die Tage nach der Niederlage des
Maxentius, dass der Senat dem Sieger Konstantin das templum urbis, ebenso wie die Maxentiusbasilika, »geweiht« habe (Caes. 40, 6: sacraverunt), ihm den Bau also zusprach, wie
es gewöhnlich für einen Gott geschieht. Mit großer Wahrscheinlichkeit wiederholte das
Gremium damit nur einen Akt, den es bereits gegenüber dem ursprünglichen Bauherren
Maxentius vollzogen hatte und der jeweils als Inschrift an prominenter Stelle verkündet
worden sein muss.
Mit diesen Bezügen steht das maxentianische Bild der Globusübergabe im Kontext
einer Zeit, die den direkten Einfluss der Götter auf das irdische Geschehen und auf die
Handlungen der Herrscher annahm. Nicht mehr die pietas, die einem menschlichen
Handlungsrahmen entstammt, sondern die Nähe zur göttlichen Natur war nun legitimationsstiftend 46. Die zeitgenössische Panegyrik bietet dafür eine aufschlussreiche Parallele mit der berühmten Schilderung der Apollo-Vision des Konstantin 47. Der Panegyriker
baut nach der niedergeschlagenen Rebellion des Maximian ein neues, politisch von der
Tetrarchie abgewandtes Herrscherbild Konstantins auf. Gegen Ende der Rede beschreibt
er den Abstecher Konstantins zu einem Heiligtum – zu identifizieren vermutlich mit
einem auch archäologisch nachgewiesenen Tempel des Apollo in den Vogesen. In diesem
templum toto orbe pulcherrimum sieht der Kaiser – so beschreibt es der Redner, gemildert durch ein respektvolles credo – Apollinem tuum comitante Victoria coronas tibi laureas
offerentem. Die Passage ist viel diskutiert und kann hier nicht in all ihren möglichen Bezügen beleuchtet werden. Für unseren Zusammenhang wichtig ist die Tatsache, dass die
Annäherung von Kaiser und Gott auch hier als Handlung in einem Heiligtum verortet
wird. Die Sprache der Münzen und der Panegyrici beweisen hier ihre enge Verwandtschaft, sowohl im sprachlichen Ausdruck, der die außergewöhnliche Natur dieser Nähe
emphatisch hervorhebt (Apollo tuus/urbs sua), als auch in der Bildsymbolik. Die von Apollo
und Victoria dargereichten Kränze sind als Zeichen für die Dauer eines Lebens oder einer
Herrschaft von Münzdarstellungen her bekannt und die Schilderung erinnert insofern
auch nicht zufällig an die Übergabe des Globus durch Roma an Maxentius. In beiden
Fällen ist die Nähe zum Gott auch die Basis für das Herrschaftsrecht des Kaisers. Wenige
Zeilen später spricht der Panegyriker von der Weltherrschaft des Apollo/Konstantin 48.
Konstantins Apollo ist ebenso wenig vom tetrarchischen Herrscherbild zu trennen wie
die Roma des Maxentius: Stets betont die zeitgenössische Feier eine intime, exklusive
46 Martin 1984.
47 Pan. VI 21, 3–7. Vgl. zu dieser Schilderung Rodgers 1980, 259–278 sowie den Kommentar der Passage bei
Nixon – Rodgers 1994, 248–251.
48 Pan. VI 21, 5.
150
HAUKE ZIEMSSEN
Abb. 7 | Tempel der Venus und
Roma, westliche Cella des unter
Maxentius restaurierten Bauwerks nach der neuzeitlichen
Restaurierung der 30er Jahre
des 20. Jh.
Nähe von Herrscher und Gottheit, die in der Verwandtschaftsbeziehung der Tetrarchen
und ihrer Schutzgötter vorgebildet ist. Die Hinwendung zu den spezifischen Gottheiten
Apollo und Roma, die in den Medien des Panegyricus und der Münzen sehr bewusst herausgestellt wurde, zeigt dabei aber zugleich die politische Abwendung vom System der
Tetrarchie. In den Krisenjahren der Tetrarchie nach 305 waren solche religiösen Bezeugungen immer auch öffentlich verbreitete Akte, auf die neben den Herrschern selbst auch
die Erwartungen der mit ihnen verbundenen Gruppen Einfluss nahmen. Die Panegyriker
und die Münzprägestätten brachten Vorstellungen zum Ausdruck, die der Herrscher und
seine Untertanen übereinstimmend teilen konnten 49.
5 Handlungen im städtischen Raum: Maxentius in Rom
Zurück zur Stadt Rom. Die Münzprägungen mit der Globusübergabe durch Roma an
Maxentius müssen auch hier Teil eines breiten, für uns allerdings vollständig verlorenen panegyrischen Diskurses gewesen sein. Sie sind zugleich – hierin vergleichbar den
Münzdarstellungen mit einem kaiserlichen Opfer – räumlich präzise lokalisiert. Die Darstellung des Tempels der Venus und Roma verweist auf das reale Bauwerk, einen der größten Tempelbauten Roms, der noch dazu durch die zeitgleichen, aufwendigen Wiederherstellungsmaßnahmen den Zeitgenossen äußerst präsent sein musste (Abb. 7). Die Rolle
der Roma gegenüber dem Kaiser ist insofern nicht allein im Sinne eines ideologischen
49 Zum Bezug zwischen der Apollo-Vision, der Hinwendung zum Christentum und der politischen Situation
des Jahres 310 n. Chr. vgl. zuletzt Barceló 2007.
DER HERRSCHER IM TEMPEL
151
Konzeptes zu verstehen, vielmehr bildete sie sich in unmittelbarem Zusammenhang
mit der Erneuerung des Bauwerkes selbst heraus. Derartige Verbindungen zwischen der
Konzeptionierung einer Herrschaft und ihrer architektonischen Formulierung lassen
sich in Rom vielfach nachweisen. Zwei besonders aufschlussreiche Beispiele bieten Ereignisse aus den Herrschaftszeiten Cäsars und Caligulas. In einer bei Sueton für das
Jahr 44 v. Chr. beschriebenen Szene versammelt Cäsar, zu jener Zeit dictator perpetuus
des römischen Staates, den Senat auf dem forum Iulium50. Die Platzanlage war erst kurz
zuvor aus eigenen Mitteln und zur Feier der eigenen Person und Familie fertiggestellt worden. Cäsar empfängt den Senat dort zur allgemeinen Empörung sitzend, pro aede Veneris
Genetricis, vor dem Tempel der Venus Genetrix, wie Sueton ausdrücklich anmerkt. Dieser
Ort ist vermutlich mit dem Podium des Tempels der Venus Genetrix zu identifizieren,
in dem Venus als Ahnherrin des julischen Geschlechts verehrt wurde51 . Vor dem in der
Apsis des Tempels aufgestellten Bildnis der Venus und im Blickfeld der auf dem Platz versammelten Senatorenschaft hatte Cäsars Sitzenbleiben eine besondere Bedeutung. Cäsar
inszenierte sich hier selbst als Kultbild. Er präsentierte sich zwar nicht ausdrücklich als
Gott, spielte aber durch die bewusste Respektlosigkeit vor dem Senat höchst ambivalent
mit den Ausdrucksmöglichkeiten römischer Repräsentation und den Näherungsstufen
zwischen menschlicher und göttlicher Sphäre. Diese Inszenierung findet ihre Bühne und
ihr Äquivalent in der Architektur des Platzes. Lässt sich Cäsars Empfang des Senats als
ein Spiel mit Deutungen und Formen zeremoniellen Ausdrucks interpretieren, so ist eine
für den Kaiser Caligula etwa 80 Jahre später überlieferte Szene weitaus weniger ambivalent. Über ihn berichten Sueton und Cassius Dio, dass er den Tempel der beiden Dioskuren, Castor und Pollux, auf dem Forum Romanum durch eine Brücke mit dem Palatin
verband und ihn so zum Eingangsbereich des Kaiserpalastes umbaute. Er selbst soll zwischen den Statuen der Götter sitzend Hof gehalten haben52 . Das war eine Steigerung der
Götternähe Cäsars. Der Kaiser rückte ganz unmittelbar neben die Götterstatuen, wurde
selbst zu einem lebenden Bildnis und verwandelte dabei das Forum Romanum in den
Vorhof seines Domizils.
Beide Szenen belegen den Zusammenhang zwischen architektonischen Veränderungen und Handlungsformen und verweisen dabei insbesondere auf die Bedeutung, die
in der römischen Kaiserzeit der baulich umgesetzten Nähe von Kaisern und Göttern zukam. Bereits eingangs wurde erwähnt, dass die Architektur des Maxentius repräsentative
und zeremonielle Bedürfnisse dieser Herrschaft widerspiegelt. Für den Wiederaufbau
des Venus- und Romatempels soll dies nun abschließend noch einmal genauer betrachtet
werden. Die beiden Cellae des Venus- und Romatempels wichen in ihrer Neugestaltung
unter Maxentius in bezeichnender Weise von der früheren hadrianischen Architektur
50
51
52
152
Suet.Iul. 78, 1.
Vgl. Gros 1976, 134; Hölscher 2006, 193–194.
Suet.Cal. 22; Cass.Dio 59, 28, 5.
HAUKE ZIEMSSEN
ab53 . An die Stelle der relativ schlichten älteren Cellae traten nun aufwendig mit seitlichen
Statuennischen, Tonnengewölbe und Apsis geschmückte Prunksäle. Treppenanlagen
scheinen die Apsispodien mit dem Fußbodenniveau der Cella verbunden zu haben und
außergewöhnliche, illusionistisch gestaltete Apsiskalotten berücksichtigten unmittelbar
die Blicke von Besuchern. Im neuen Venus- und Romatempel entstand unter Maxentius
somit ein Mittelpunkt kaiserlicher Legitimation, wie er bis dahin nur in den Tempeln der
Kaiserforen existiert hatte. Die Cellae orientierten sich an der Innenraumarchitektur anderer römischer Apsidentempel, wobei vor allem die Tempel des Cäsar- und des Augustusforums Vorbilder gewesen zu sein scheinen. Die in der Tempelarchitektur keineswegs
häufig auftretende Form des Apsidentempels bezog ihre Bedeutung aus der klar strukturierten Trennung in Saal und Kultnische und damit in eine Menge von Personen auf der
einen Seite und ein herausgehobenes Objekt auf der anderen54 . Die Tempel der beiden
ersten Kaiserforen hatten diese Raumform erstmals erprobt und standen dabei im Kontext der architektonischen Formensprache und ihrer ideellen Implikationen zu Beginn
der Prinzipatszeit. Schon Pierre Gros hat diese Zusammenhänge hervorgehoben und mit
der urbanistischen Gestaltung der Platzanlagen verknüpft55 . Am Cäsarforum rückte das
Götterbild an das Ende einer städtebaulichen Achse, die vom Platz über den Pronaos bis
in die Cella hinein auf den Willen eines einzigen Bauherren zurückging. Venus war hier
als Venus Genetrix für das julische Geschlecht okkupiert und ihre hierarchische Hervorhebung im Tempel unterstrich Cäsars Anspruch auf die führende Rolle im Staat56. Auch
Cäsar war in Gestalt einer Panzerstatue schon zu Lebzeiten auf dem Platz präsent57 und
ante Veneris Genetricis aedem war auch eine Statue seines Pferdes aufgestellt, die später
wohl ebenfalls das Bildnis des verstorbenen Diktators trug58. Die Szene des Senatsempfangs durch den Diktator vor diesem Tempel illustriert insofern die architektonisch bereits vorgegebene Hierarchisierung der Platzanlage59. Das augusteische Platzprogramm
des Augustusforums erweiterte und monumentalisierte diese Ansätze. Stärker noch als
am Cäsarforum kulminiert in der Apsis des Mars-Ultor-Tempels ein dynastisches, ganz
auf die Person des Bauherren ausgerichtetes und seine göttliche Abstammung thematisierendes Bildprogramm60. Wie auf dem Cäsarforum fanden auch hier Gerichtsver-
53
Ziemssen 2007, 74–82.
54 Gros 1976, 136–137.
55
Viele Tempelinnenräume wurden unter Augustus zu kostbar ausgestatteten, architektonisch vielfältigen
Repräsentationssälen neu- oder umgestaltet. In der Nachfolge von Selbstdarstellungsformen der späten Republik
erhielt die Repräsentation des einzelnen im Tempel seit Cäsar feste architektonische Form und die übergreifende
Intention, den Kaiser durch seine Präsenz im Tempel in eine intime Nähe zu den Göttern zu rücken (Gros 1976,
155–169; Gros 1996, 154–159).
56 Zu Entstehung, Bedeutung und Nutzung des Forum Iulium vgl. Anderson 1984, 39–63.
57
Plin.nat. 34, 18.
58 Plin.nat. 8, 44, 155; Anderson 1984, 48.
59 Vgl. Gros 1976, 134.
60 Zanker 1972; Anderson 1984, 65–100.
DER HERRSCHER IM TEMPEL
153
handlungen unter Vorsitz des Kaisers statt, siegreiche Generäle weihten die Abzeichen
ihres Triumphes dem Mars Ultor, Statthalter zogen von hier aus in ihre Provinzen, Triumphatoren sollten auf dem Platz eine Bronzestatue erhalten, auch der Senat versammelte
sich im Tempel und beschloss hier über Kriege und die Verleihung von Triumphen. Die
Architektur mit dem Fluchtpunkt der Apsis bildete den Rahmen all dieser Zeremonien
und ermöglichte die Übermittlung der Rolle des Princeps als dem einzigen Triumphator,
Kriegsherrn und Lenker des Staates an das teilnehmende Volk61 .
Da sich die architektonische Gestaltung der maxentianischen Cellae an diese alten
Tempelvorgänger anlehnte, sollten auch die Ursachen dafür nicht nur im Wunsch nach
der Wahl einer besonderen Aufwandsform gesehen werden62 . Anzunehmen sind vielmehr
ähnliche Nutzungsformen vor einem, wie wir sehen konnten, mit der frühen Kaiserzeit
durchaus vergleichbaren ideologischen Hintergrund. Auch im templum urbis bot die Architektur nun den Rahmen für eine Inszenierung der Kultfiguren, von denen zumindest
Roma in ähnlichem Nahverhältnis zum Kaiser stand wie einst Venus Genetrix zu Cäsar.
Im hadrianischen Vorgängerbau waren solche Bezüge noch nicht vorhanden, daher hatten sie auch keine Umsetzung in der Architektur gefunden. Konkrete Funktionen im
Herrscherzeremoniell wie für den Tempel des Mars Ultor oder Handlungsszenen wie
jene vor dem Venus-Genetrix-Tempel sind für den Bau des Maxentius zwar nicht überliefert und denkbar ist angesichts der kurzen Regierungszeit des Herrschers auch, dass der
Bau erst nach dessen Tod fertiggestellt wurde. Doch sind durchaus plausible Annahmen
über die beabsichtigten Nutzungen möglich. Wie im Tempel des Mars Ultor könnten auch
im Venus- und Romatempel Senatssitzungen abgehalten worden sein, wofür sich angesichts der speziellen Rolle der Roma für Maxentius deren Cella besonders anbot63 . Der
Kaiser selbst könnte – wie einst Cäsar – vor dem Tempel Versammlungen von Senat oder
Volk präsidiert und sich dabei vor der in der Apsis thronenden Göttin als Herr des Staates
inszeniert haben. Auf der Plattform außerhalb des Baues, aber auch im Tempelinneren
ist die Aufstellung von Statuen des Maxentius und seiner Familienangehörigen anzunehmen, die im Zusammenhang mit solchen Staatsakten ähnliche Wirkung entfaltet hätten
wie die Bildwerke der Kaiserforen. Tatsächlich könnte sich auch ein Überrest einer solchen Statuenaufstellung erhalten haben: Fundamentierungen vor den Apsispodien lassen
sich möglicherweise wie im Mars-Ultor-Tempel zu einer Treppenanlage ergänzen, auf der
Weihungen aufgestellt werden konnten. In der Westapsis hätte der dem Podium hier noch
61
Cass.Dio 55, 10, 2–5; Suet.Aug. 29, 1–2; Anderson 1984, 88–97.
62 Brandenburg 1992, 30. Ähnlich spricht zuletzt Oenbrink 2006, 181–184 vor allem von der »Pracht« der
Räume und ihrer »zeittypischen Wandgliederung«.
63 Da wohl nur selten alle der in tetrarchischer Zeit ca. 600 Senatoren gleichzeitig in Rom waren, spricht auch
der begrenzte Platz in jeweils einer der Cellae nicht zwingend gegen eine solche Annahme. Eine unsichere
Angabe in der Historia Augusta nennt für die Zeit des Alexander Severus eine vorgeschriebene Mindestzahl von
70 anwesenden Senatoren: SHA Alex. 16; vgl. zur realen Anwesenheit von Senatoren im spätantiken Rom
Löhken 1982, 104–105. Zusammenfassend zu Tempeln als Sitzungsorten des Senats Hölscher 2006, 193.
154
HAUKE ZIEMSSEN
Abb. 8 | Maxentiusbasilika und
Venus- und Romatempel im
Modell des Museo della Civiltà
Romana, Rom.
zusätzlich aufgesetzte Sockel sogar eine Anordnung der Statuen zugelassen, wie sie auf
den Münzdarstellungen erscheint: Roma auf einem erhöhten Podest thronend, Maxentius
etwas tiefer stehend64.
Bestandteil einer räumlichen Inszenierung war der Venus- und Romatempel aber
auch in einem städtebaulichen Maßstab. Zwar bildete er nicht wie die Tempel der Kaiserforen den Abschluss einer geschlossenen Platzanlage, doch war die nach Westen
ausgerichtete Cella ein Kulminationspunkte des Straßensystems zwischen Kaiserpalast
und Forum Romanum, das die Herrscher seit dem 1. Jh. für die großen Umzüge des
adventus, der profectio, der Leichenzüge zum Forum und der Auszüge zu den Spielen nutzten (Abb. 8)65 . Dieses städtische Umfeld verwandelte sich unter Maxentius durch die Errichtung der Basilika. Unmittelbar gegenüber dem Tempel entstand mit diesem Neubau
ein gewaltiger Empfangssaal des Kaisers, dessen Eingang sich demonstrativ nach Osten
öffnete und dessen Apsis der westlichen Apsis des Venus- und Romatempels zugewandt
war. In diesem neu angelegten städteplanerischen Bezugssystem sind nun auch Zeremonien zu erwarten, die das alte Spektrum kaiserlicher Umzüge ergänzten. Der Herrscher
muss vom Palatin aus in die Basilika eingezogen sein, kann aber eine solche Prozession
auch mit dem Opfer vor dem erneuerten Tempelbau verbunden haben. Die Bauten des
Maxentius sind die Bühnen, auf denen der Herrscher als Schützling der Göttin Roma von
den Untertanen gefeiert wurde.
In unmittelbarer Nähe des Venus- und Romatempels wurde vor wenigen Jahren auch
eine der erstaunlichsten archäologischen Entdeckungen der letzten Zeit in Rom gemacht,
die der Herrschaftsrepräsentation unter Maxentius einen entscheidenden Aspekt hinzu64
65
Vgl. dazu meine in Druckvorbereitung befindliche Dissertationsschrift.
Ziemssen 2010a.
DER HERRSCHER IM TEMPEL
155
Abb. 9 | Die Szepter aus dem
Fund am Nordhang des
Palatin, von links nach rechts:
konisches Szepter mit Globus
aus Chalzedon; kleines Szepter
mit Globus aus grünem Glas;
Szepter mit zwei Globen aus
vergoldetem Glas.
fügen kann66. In einem Raum an der südlichen Seite der zum Titusbogen ansteigenden
Straße, der zu einem größeren Baukomplex unklarer Funktion gehörte, wurde das in
der Antike angelegte Versteck einer Reihe zeremoniell genutzter Gegenstände gefunden
(Abb. 9): ein Kurzszepter mit Glasglobus, Reste eines längeren Szepters mit je einem
Glasglobus an jeder Seite, ein weiterer einem dritten Szepter zugehöriger Globus sowie
die Reste von Paradelanzen und Standarten, alles in Seidentuch gewickelt und bewusst
vergraben. Es sind, daran kann kein Zweifel bestehen, kaiserliche Insignien. Die Ausgräber haben den Zeitpunkt des Versteckens auf Basis der Stratigraphie zwischen den
Beginn des 3. und den Beginn des 4. Jhs. datiert. Eine Reihe historischer Erwägungen,
ergänzt um die Art und Weise der Deponierung, führt sie schließlich zur weitergehenden
und überzeugenden Hypothese, es habe sich um die Herrschaftszeichen des Maxentius gehandelt, die im Zusammenhang des Kampfes gegen Konstantin vor dem Sieger in
Sicherheit gebracht werden sollten67. Doch auch ohne diese Datierung zu akzeptieren,
bezeugt der Fund in eindrucksvoller Weise die Realität von Gegenständen, die im Bild zunächst als bloße Symbole erscheinen mögen, und die Existenz zeremonieller Handlungen
im Umfeld des Palatin.
6 Schlussbemerkungen: Bild, Raum und Handlung im maxentianischen Rom
Die Darstellungen der maxentianischen Münzen mit ihrem eigentümlichen Wechsel
zwischen Realität und Symbolik bildeten den Ausgangspunkt der Untersuchung. Sie lassen sich, wie wir sehen konnten, als Ausdruck dauerhafter, göttlich fundierter Herrschaft
deuten und standen damit sowohl inhaltlich als auch formal in enger Entsprechung zum
Vorgehen der lateinischen Panegyriker, die reales Geschehen beschrieben, es aber zugleich auch ideologisch bewerteten. Der vorliegende Aufsatz legte den Fokus auf die Wir66
67
156
Panella et al. 2008; Panella 2011.
Panella et al. 2008, 716–718.
HAUKE ZIEMSSEN
kungsweise der Bilder und auf deren reziproken Bezug zu den Handlungsformen ihrer
Zeit. Dabei ist der Unterschied dieser Darstellungen zu allen anderen im Band »Bild –
Raum – Handlung« analysierten Bild-Kontexten deutlich und ergibt sich aus der Natur
des Mediums selbst. Die Münzbilder begleiteten das Geschehen im Rom des Maxentius
nicht in derselben Art und Weise wie dies die Fresken im Palast von Knossos oder auf den
Platzanlagen von Karkemish im Fall ihrer jeweiligen Zeremonien taten; sie standen den
Teilnehmern der zeremoniellen Handlungen eben nicht am Ort des Geschehens selbst –
und nur dort – als örtlich fixierte Monumente vor Augen. Gleichwohl lautet die Prämisse
unseres Bandes, dass räumliche Zusammenhänge stets das Ergebnis von Konstruktionen
der beteiligten Personen sind. In diesem Sinne eröffneten die follis-Prägungen ein Wechselspiel mit den realen Vorgängen in Rom. Die Betrachter verbanden beim Blick auf die
Münze die ikonographischen Angaben mit dem Wissen, das sie aus eigener Anschauung
oder aus Berichten vom Umfeld des Tempels der Venus und Roma hatten; umgekehrt
rief der Anblick der Tempel-Baustelle und der dort stattfindenden Zeremonien bei den
Zeitgenossen zwangsläufig das symbolisch verdichtete Abbild dieses Ortes auf den Münzen wach. Die maxentianischen Münzen stellen uns damit einem medialen Phänomen
gegenüber, das der gesamten antiken Münzprägung eigen ist und diese eng mit der uns
so vertrauten Bilderwelt des cyberspace verwandt sein lässt. Gerade die in der Bronzeprägung massenhaft verbreiteten Motive gewannen eine Wirksamkeit, die weder über den
Ort der Darstellung noch über den der Betrachtung hinreichend zu erfassen ist. Der Begriff »Handlung« wird dabei zu einem heuristischen Schlüsselbegriff, denn es ist gerade das im Münzbild dargestellte Handlungsgeschehen, das in seiner klaren räumlichen
Bestimmung auf eine zeremonielle Realität verwies. Erst über diesen eindeutigen Bezug wurde das Bild wirksam und entfaltete seine Aussagekraft. Eine isolierte, ideologiegeschichtliche Deutung der Bilder greift daher zu kurz. Wenn auch die Literatur in Gestalt
der Panegyrici ihre Herrschaftssymbolik in ähnlicher Weise zu konkretisieren versuchte – wir konnten dies am Beispiel von Konstantins Besuch im Apollon-Tempel sehen –,
waren doch die Bilder der Münzen von einzigartiger Wirksamkeit. Nur in ihnen wurden
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Abbildungsnachweis
Abb. 1: Kent/Overbeck/Stüler/Hirmer, Die römische Münze, Nr. 619, Taf. 35; Abb. 2:
Photographie H. Ziemssen, Münzarchiv Eisenlohr; Abb. 3: Image courtesy of Classical
Numismatic Group; Abb. 4: Image courtesy of Roma Numismatics Ltd., Auction 3, lot
nr. 503; Abb. 5: nach Milne 1933 Taf. 4 Nr. 1380; Abb. 6: Numismatische Bilddatenbank
Eichstätt; Abb. 7. 8: Photographie H. Ziemssen; Abb. 9: Szepter mit Globus aus
Chalzedon Photographie L. Mandato und G. Cargnel, Negativ SSBAR 551157; Szepter
mit Globus aus grünem Glas Photographie M. Necci; Szepter mit zwei Globen aus
vergoldetem Glas Photographie L. Mandato und G. Cargnel, Negativ SSBAR 551159.
DER HERRSCHER IM TEMPEL
163
Bilder als Elemente von Innenräumen
Ute Günkel-Maschek
In die Augen, in den Sinn. Wandbilder als konstitutive Elemente von
(Handlungs-)Räumen in der minoischen ›Neupalastzeit‹
This paper analyses the interaction between wall paintings, places and spaces (of activity) in the Minoan Neopalatial and Final Palatial Period on the theoretical basis of a »Pictorial-Space« concept. In the case of the palace
at Knossos there are at least three types of spaces, each distinguished by a specific type of painting: entryways
were frequently decorated with a bull motif, passageways with processions, and in the ›throne room‹ both the
throne and a door in the rearward wall were f lanked by griffins which provided a backdrop for the throne and
created the impression of a kind of ›door of epiphany.‹ The paintings therefore functioned either as an emblem
that made symbolic reference to the ruler for those entering the palace, or, as in the case of the passageway, they
presented idealized depictions of activities that were actually performed in the space in question, or, as in the
case of the throne-room griffins, they lent a complementary layer of meaning to events that took place onsite,
presenting the person who entered the ›throne room‹ and sat on the throne as the epiphany of a divinity.
Die Bildwerke der kretisch-bronzezeitlichen Kultur geben ein faszinierendes, wenngleich
in seinem fragmentarischen Erhaltungszustand oft frustrierendes Zeugnis von der Verwendung visueller Medien, mittels derer Inhalte und Bedeutungen in bestimmten Kontexten präsentiert und kommuniziert wurden. Zur Bebilderung der minoischen Lebenswelt griff man auf ein breites Spektrum an materiellen Bildträgern, Themen und Motiven
zurück, die je nach Anlass, Kontext und beabsichtigter Wirkung zum Einsatz gebracht
wurden. Das Wandbild, die monumentalste Form minoischer Bildwerke, gehörte zu den
eindrucksvollsten Mitteln, um architektonische Räume zu dekorieren und ihnen repräsentative oder symbolische Konnotationen zu verleihen. Durch Wandbilder wurden indes
nicht nur einzelne Bereiche oder ganze Räume gegenüber undekorierten Bereichen und
Räumen hervorgehoben. Vielmehr wurden Wandbilder in Hinblick auf ihre Wahrnehmung durch im architektonischen Raum agierende Personen gewählt, komponiert und
platziert, somit dienten sie der visuellen Inszenierung und inhaltlichen Prägung architektonisch eingefasster Handlungsräume1 . In diesem Sinne können sie neben architektonischen Strukturen und Kleinfunden als eine weitere materielle Quelle für die Erschließung von Raumfunktionen und -nutzungen herangezogen werden sowie, mehr noch, für
die visuelle Akzentuierung jener Funktionen und Nutzungen durch Blick lenkende und
Inhalt vermittelnde Gestaltungselemente.
Minoische Wandbilder stammen überwiegend aus architektonischen Kontexten, die
durch »palatiale«2 Elemente geprägt sind, d. h. aus den so genannten Palästen selbst sowie
1
Cameron 1970, 163–166; Cameron 1978, 580; Blakolmer 1995, 463–464; Blakolmer 2000, 397. s. ferner
Palyvou 1987, 195.
2
Ich folge hierin Blakolmer 1995, 467 Anm. 28: »Der Terminus ›palatial‹ bezeichnet hier eine innovative
Architekturform und nicht die Funktion eines Gebäudes«.
IN DIE AUGEN, IN DEN SINN
167
aus den Stadthäusern in Knossos und den über die Insel verteilten ›Villen‹, die im Besitz
einer herrschenden bzw. elitären Gesellschaftsschicht gewesen sein dürften. Neben dem
gemeinsamen architektonischen ›Vokabular‹ legen die nicht nur in den Wandbildern, sondern auch bei zahlreichen weiteren Bildwerken verwendete Motivik und Symbolik nahe,
dass sowohl das Geschehen in den ›Villen‹ und Stadthäusern als auch jenes in den ›Palästen‹ mit ähnlichen Ideen und Anschauungen verknüpft war. Während in den ›Villen‹ und
Stadthäusern jedoch oftmals nur einzelne Räume farblichen Raumdekor erhielten, waren
es im Palast von Knossos Eingangsbereiche, Durchgangsräume und ›Aufenthaltsräume‹,
an deren Wänden die mit dem Geschehen im Palast und dem Herrschaftsanspruch der
Elite assoziierten Ideen und Vorstellungen durch Bilder präsentiert und kommuniziert
wurden3 . Zur Annäherung an jenes Phänomen der durch Wandbilder geprägten (Handlungs-)Räume soll in diesem Beitrag nach einer Skizzierung der theoretischen und methodischen Überlegungen in drei Erklärungshypothesen vorgestellt werden, auf welche
Weise die Wandbilder in ausgewählten Bereichen des endpalastzeitlichen Palastes von
Knossos (Spätminoisch [SM] II – IIIA1, ca. 1490–1370 v. Chr.)4 in Hinblick auf das dortige
Handlungsgeschehen gewirkt haben könnten.
1 Bild-Raum und Handeln – Theoretische und methodische Überlegungen
Der Raum als konstitutive Dimension von Lebenswelten ist in den letzten Jahrzehnten
verstärkt in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses gerückt. Vor allem in
den Sozialwissenschaften wird Raum dabei nicht mehr nur als Rahmenbedingung des
menschlichen Handelns zur Kenntnis genommen. Dem konstruktivistischen Raumbegriff Martina Löws zufolge wird Raum in Handlungs- und Platzierungsprozessen sowie in
der synthetisierenden Wahrnehmung von platzierten Lebewesen und Objekten durch das
Individuum konstituiert5 . Raum ist demzufolge kein in erster Linie materielles Gebilde
mehr, sondern lässt sich als relationale (An-)Ordnung von sozialen Gütern und Menschen
an Orten begreifen. Durch die temporäre oder dauernde Platzierung von Gestaltungselementen werden räumliche Arrangements an Orten fixiert. Die materielle Gestaltung von
Orten ist dabei bestimmend für deren soziale Wirkung und beeinflusst aufgrund von kollektiv attribuierten Bedeutungen und Wertigkeiten das Raum konstituierende Handeln
und Verhalten6.
3
Zu Wandmalereiprogrammen in minoischen Palästen siehe vor allem Hägg 1985; Cameron 1987; Marinatos 1996.
4
Momigliano 2007, 7 Taf. 0, 2. Zu dieser Phase unter Betonung deren nicht-mykenischen Charakters
s. Niemeier 1983.
5
Löw 2001, 152–230.
6
Löw 2001, 198; Schroer 2006, 176–178.
168
UTE GÜNKEL-MA SCHEK
Raum impliziert in diesem Sinne also zweierlei: Zum einen besteht er als ›Handlungsraum‹ in den relationalen (An-)Ordnungen, die in Handeln und Wahrnehmung
zwischen Lebewesen und Objekten hergestellt werden. Die Platzierung der Lebewesen
und Objekte sowie durch deren Aussehen und Materialität evozierte symbolische Konnotationen prägen das physisch-räumliche Erscheinungsbild und beeinflussen den Prozess
der Raumkonstitution sowie das Handeln und Verhalten jedes einzelnen. Zum anderen
lässt sich Raum als kollektive Sichtweise relationaler Gefüge begreifen, welche als in sozialen Prozessen angeeignete Vorstellungen räumlicher Arrangements vorhanden sind und
an den dafür vorgesehenen Orten im Handeln reproduziert werden. Die materielle und
symbolische Gestaltung von Orten ist darauf angelegt, an mit den Gestaltungselementen verknüpfte Vorstellungen zu appellieren und ein bestimmtes Handeln und Verhalten
zu bewirken. Wenn im Folgenden also von »(Handlungs-)Räumen« die Rede ist, so soll
damit jene duale Qualität des Raums hervorgehoben werden, die die gegenseitige Abhängigkeit von gestalteten Orten und menschlichem Handeln bedingt.
Das Potential eines solchen Raumbegriffs für die Archäologie besteht darin, architektonische Räume nicht mehr nur als kontextdeterminierende Einheiten zu begreifen,
sondern als Orte, die durch die gezielte Herstellung materieller Strukturen und die Aufladung mit konnotativen Wertigkeiten als Orte ganz bestimmten sozialen Handelns inszeniert wurden. Nicht nur die hierfür genutzten Instrumentarien zeichnen sich bis zu
einem gewissen Grad in archäologischen Befunden ab. Auch die Art der Handlung und
damit zusammenhängende Bewegungsmuster und Blickrichtungen lassen sich ansatzweise rekonstruieren. Durch die Form und Materialität der architektonischen Elemente,
die Einrichtung mit fixen oder mobilen Objekten sowie durch weitere Gebrauchsgegenstände erhielten die Räume funktionale und symbolische Bedeutungen, die das Handeln
und Verhalten der Menschen prägten.
Eine wesentliche Sinnkomponente erhielten Orte durch die Anbringung, Aufstellung oder Verwendung von Bildwerken. (Handlungs-)Räume, die durch die Präsenz
oder Verwendung von Bildwerken geprägt sind, sollen im Folgenden als »Bild-Räume«
beschrieben werden7. In Bild-Räumen werden nicht nur durch bildliche Darstellungen
Bedeutungsinhalte vergegenwärtigt und kommuniziert, die für oder im Bezug auf das
Handlungsgeschehen relevant waren. In Bild-Räumen gehen auch die artifiziell präsenten Lebewesen und Objekte sowie die durch ihre Relationen zum Ausdruck gebrachten
Inhalte in die Raumkonstitution ein und werden zu festen Bestandteilen der an jenen
Orten lokalisierten (Handlungs-)Räume. Auf der Grundlage des Bild-Raum-Konzepts soll
daher untersucht werden, in welchen räumlichen Kontexten Bilder verwendet wurden
und welche Themen und Motive wie und in welchen Handlungskontexten vergegenwär-
7
Zur Verwendung des Begriffs »Bild-Raum« s. auch Zanker 2000.
IN DIE AUGEN, IN DEN SINN
169
tigt wurden. Ziel ist es, der Verwendung von Bildern als Sinn konstituierenden Bestandteilen von (Handlungs-)Räumen näherzukommen.
Jedes Bildwerk kann auf diese Weise als Bestandteil von (Handlungs-)Räumen betrachtet und analysiert werden8. Die Gattung der Wandbilder, um die es hier geht, stellt in
Hinblick auf die minoische Kultur das monumentalste Mittel der visuellen Kommunikation von Bedeutungen dar. Der Inhalt der Wandbilder sowie ihre Platzierung innerhalb des
architekturräumlichen Gefüges dienten dazu, Bedeutungsgehalte an bestimmten Orten,
für bestimmte Personen und in Hinblick auf bestimmte Handlungen zu vergegenwärtigen. Im Unterschied zu mobilen Bildwerken, deren Fundumstände nur in Einzelfällen
Schlüsse auf ihre einstige Nutzung zulassen oder deren Verwendung oftmals nicht an
heute noch feststellbare Kontexte gebunden war, bieten in situ gefundene Wandbilder trotz
ihres meist fragmentarischen Erhaltungszustandes die Möglichkeit, bestimmte Themen
und Motive in eindeutigen Bezug zu architektonisch gestalteten Orten und dort lokalisierbare, wenn auch nicht eindeutig fassbare Handlungen zu setzen. Je nach Funktion und
Nutzung variierten die bildlichen Darstellungen und verliehen dem architektonischen
Raum eine jeweils angemessene thematische oder symbolische Konnotation. Wandbilder
bieten in dieser Hinsicht eine seltene Möglichkeit, sich – freilich vorbehaltlich chronologischer oder fundkontextbezogener Unsicherheiten – von archäologischer Seite der Konstruktion und Sinnstruktur einer materiellen, mit Bedeutung aufgeladenen Umwelt zu
nähern. Auch wenn es bislang kaum möglich ist, die mit den bildlichen Darstellungen
zum Ausdruck gebrachten Inhalte nachzuvollziehen, so sind doch die Bildobjekte, die
dargestellten Menschen und Gegenstände in ihrem Zusammenhang als solche erkennbar
und können als Mittel der Thematisierung und Kommunikation entsprechender Ideen
am jeweiligen Ort begriffen werden.
Für eine Annäherung an minoische Bild-Räume sind daher neben den materiellräumlichen Gegebenheiten formale Aspekte und Themen des bildlichen Wanddekors einzubeziehen, die in Abhängigkeit von der architektonischen Struktur und der beabsichtigten Wirkweise der Bildthemen gewählt und angebracht wurden. Flächiger, großformatiger
Wanddekor, einzelne Wandpaneele, auf Augenhöhe verlaufende horizontale Bildstreifen
oder szenenreiche Miniaturdarstellungen im Wandbereich oberhalb der Türstürze dien-
8
Neben den Wandbildern lassen sich als prägende Elemente von Bild-Räumen auch dreidimensionale
Bildwerke nennen, wie in Naturheiligtümern aufgestellte Terrakotten und Bronzefigurinen sowie in rituellen
Akten zum Einsatz gebrachte Rhyta in Form von Tierköpfen, oder zweidimensionale Darstellungen auf in
performativen, rituellen oder administrativen Akten zur Geltung kommenden, funktionalen Bildträgern, wie
Siegelringe oder Gefäße mit Reliefdekor. Durch ihre bildliche Darstellung vergegenwärtigen beispielsweise
Figurinen mit charakteristischen Gesten den dieser Haltung entsprechenden oder den mit dieser Handlung
implizierten Sinn an dem Ort, wo jener Relevanz besaß. Tierkopfrhyta, die vermutlich bei Libationen zum
Einsatz kamen, bringen jene Riten in Zusammenhang mit den Ideen, die mit den jeweiligen Tiermotiven assoziiert waren.
170
UTE GÜNKEL-MA SCHEK
ten sowohl wahrnehmungstechnisch als auch hinsichtlich der darstellbaren Bildinhalte
unterschiedlichen Zwecken. Die bildliche Darstellung selbst ist häufig nur in fragmentarischen Ausschnitten erhalten und kann, wenn überhaupt, lediglich in Hinblick auf das
Oberthema bestimmt werden, welches zur konnotativen Charakterisierung des (Handlungs-)Raums gewählt wurde. Vergleiche mit den erhaltenen Fragmenten in ähnlichen
architektur- und handlungsräumlichen Kontexten sowie ikonographisch-vergleichende
Analysen mit verwandten Darstellungen in anderen Bildgattungen können hilfreich sein,
um Aspekte des Darstellungsinhalts oder zumindest des größeren Sinnzusammenhangs
des ursprünglichen Wandbildes konkreter zu benennen. Als Nebeneffekt schließlich lassen sich Bildobjekte, die auch auf anderen Bildträgern vorkommen, mit dem Geschehen
an existierenden Orten in Zusammenhang bringen.
Die Verschränkung von räumlichem Arrangement, bildlicher Darstellung und rekonstruiertem Handeln ermöglicht es also, Aspekte von Bild-Räumen zu fassen, wie es
sie am jeweiligen Ort zumindest temporär gegeben haben könnte. Angesichts der Tatsache, dass keine erhellenden Texte zum Geschehen in den Räumlichkeiten der Paläste und
anderer Gebäude zur Verfügung stehen, gewinnt dieser Ansatz umso mehr an Relevanz.
Mit Bild-Räumen lassen sich demnach ganz besondere, wenn auch bedauerlicherweise
ganz besonders rare Einblicke in die kulturell und materiell konstruierte Lebenswelt der
bronzezeitlichen Kreter gewinnen.
Im Folgenden soll nun in der gebotenen Kürze das Bild-Raum-Konzept in seiner
methodischen Praxis anhand dreier Arten von Bild-Räumen exemplifiziert werden, die
im endpalastzeitlichen Palast von Knossos existierten (Abb. 1): der am Westhof gelegene Südwesteingang als Eingangsraum, der daran anschließende ›Prozessionskorridor‹
als Beispiel für Durchgangsräume und schließlich der im Herzen des Palastes gelegene
Thronraum als ›Aufenthaltsraum‹, als Ort des temporären Aufenthalts und Handelns.
Die Wandbilder dieser drei Bereiche waren zum Zeitpunkt der Ausgrabungen zumindest
in Resten in situ an den Wänden erhalten. Ihre Einordnung in einen architektonischen
Kontext kann demnach als gesichert gelten. Hinsichtlich der Datierungen ist anzumerken, dass in keinem Fall eine eindeutige Festlegung des Zeitpunkts ihrer Anbringung
gegeben ist, jedoch alle drei Beispiele bis zum Ende des Palastes an den Wänden blieben und somit zumindest einige Jahrzehnte lang gleichzeitig als prägende Elemente von
Handlungsräumen bestanden haben müssen.
IN DIE AUGEN, IN DEN SINN
171
Abb. 1 | Grundriss der westlichen Gebäudehälfte des Palastes von Knossos (M. 1 : 1000).
172
UTE GÜNKEL-MA SCHEK
Abb. 2 | Südwesteingang und Beginn des ›Prozessionskorridors‹. Versuch einer Re-Platzierung der erhaltenen
Wandmalereireste im architektonischen Kontext, Blick nach Süden.
2 Bild-Räume im endpalastzeitlichen Knossos: drei Fallbeispiele
2.1 Der Südwesteingang in den Palast von Knossos
Eingangsräume sind grundsätzlich Übergangsbereiche von einem Bereich in einen anderen, von einem Draußen in ein Drinnen oder umgekehrt. In ihrer Gestaltung spiegeln
sich die soziale, funktionale und symbolische Bedeutung eines Gebäudes und dessen Verantwortlicher wider. Der Südwesteingang des Palastes von Knossos war vermutlich einer
der Haupteingänge in der endpalastzeitlichen Nutzungsphase. Er stellte die Schnittstelle
zwischen dem Westhof und dem ›Prozessionskorridor‹ dar, der von dort in das Innere des
Palastes, möglicherweise bis zum Zentralhof, führte (Abb. 1. 2).
Den Eingangsbereich erreichte man über einen der erhöhten Platten- oder ›Prozessionswege‹, die von der im Westen gelegenen Stadt zum Westhof führten und sich
dort mehrmals verzweigten, um in verschiedene Bereiche und Eingänge des Palastareals zu münden. Der zum Eingang führende Plattenweg verlief entlang der Westfassade des Palastes, vorbei an zwei Altären und traf vor der im Süden des Westhofs
gelegenen Eingangsportikus rechtwinklig auf einen von Westen nach Osten verlaufenden Plattenweg. Letzterer gehörte bereits zu einer früheren Eingangssituation
und bildete nun gleichzeitig eine Art Schwelle zwischen Westhof und Eingangsportikus. Jenseits dieses quer gelagerten Plattenweges setzte sich der Weg fort, um nach
etwa drei Metern erneut auf einen quer gelagerten Plattenweg zu treffen, der eine zu
rekonstruierende Tür in der Westwand der Eingangsportikus mit einem weiter östlich entlang der Palastfassade verlaufenden Plattenweg verband. Auf dessen Fortset-
IN DIE AUGEN, IN DEN SINN
173
zung nach Süden gelangte man durch eine Tür in den ›Prozessionskorridor‹. Parallel
zu letztgenanntem Plattenweg führte ein weiterer Weg in den von Arthur Evans als »Reception Area« bezeichneten, im Westen an den Prozessionskorridor angrenzenden Raum9.
Die Bodenflächen zwischen den Plattenwegen waren gepflastert und rot verputzt 10.
Die Wände der Eingangsportikus waren mit Malereien versehen, von denen sich ringsum
eine Steinplatten imitierende, ursprünglich ca. 40 cm hohe Zierleiste erhalten hat. Darüber war zumindest an der Ostwand der Eingangsportikus ein Stier dargestellt, wie sich
am in situ dokumentierten Rest der Darstellung eines Vorderbeins erkennen lässt 11 . Der
etwa in Lebensgröße wiedergegebene Stier war aus dem Palast heraus und in Richtung
des Westhofs orientiert. Aufgrund des fragmentarischen Erhaltungszustandes muss offenbleiben, ob es sich allein um einen nach außen stürmenden Stier oder, wie von Evans
vermutet, um eine der typischen Stiersprungszenen handelte 12 .
Welche Funktion die Darstellung des Stieres oder Stiersprungs in dem Eingangsbereich ausgeübt haben könnte, wurde bereits mehrfach diskutiert. Nannò Marinatos zufolge
hatte der Stier in Eingangsräumen keine Wächterfunktion. Er war vielmehr das stärkste
Tier, die gewaltigste Kraft der Natur, die das bronzezeitliche Kreta kannte, und hätte in den
Eingangsräumen somit in erster Linie als ein Emblem der Macht fungiert 13 . Nach Birgitta
und Erik Hallager waren Stier und Stiersprung Motive, welche sich auch aufgrund ihres
Vorkommens in anderen Bildmedien eng mit dem Palast von Knossos bzw. mit den darin
agierenden Personen verknüpfen ließen. Der Stier in den Eingangsräumen hätte daher vor
allem dazu gedient, die »Macht des Herrschers zu symbolisieren«14 . Marika Zeimbekis hingegen stellte derartige Deutungen angesichts des sonstigen Fehlens von Herrscherikonographie in Frage. Sie wies darauf hin, dass in Knossos durch einige der Wandbilder eine Art
dauernder ›Vergegenwärtigung‹ des obersten Amtsinhabers suggeriert würde 15 . Die Platzierung von Stierbildern in den Eingangsbereichen wäre daher vielmehr als ein »kosmologisches Statement« zu verstehen und hätte, wie in Ägypten und Mesopotamien, die von
den Machtinhabern ausgeübte Kontrolle zerstörerischer Kräfte zum Ausdruck gebracht 16.
Wie sich anhand unterschiedlicher Bildgattungen erschließen lässt, reicht die Tradition der Stierthematik in der minoischen Kultur bis an die Anfänge der Besiedlung Kretas zurück17. Bereits aus der Vorpalastzeit sind Darstellungen von Stieren sowie von Stierfang und
damit der Überwindung dieses mächtigen Tieres durch vorzugsweise männliche Mitglieder
9
Evans 1928, 673 Abb. 427.
10
Evans 1928, 670.
11
Evans 1928, 675 Abb. 428; Boulotis 1987, 148 Abb. 3.
12
Evans 1928, 677 Abb. 429. Zu den Resten weiterer Stiermotive in Eingangsbereichen s. Blakolmer 2001,
32; Hallager – Hallager 1995, 547–548; Marinatos 1989, 26; Marinatos 1996, 150–151; Shaw 1995, 97–98 Abb. 8.
13
Marinatos 1996, 151.
14
Hallager – Hallager 1995, 549.
15
Zeimbekis 2006, 33.
16
Zeimbekis 2006, 33.
17
Zeimbekis 2006, 28–37.
174
UTE GÜNKEL-MA SCHEK
der Gesellschaft bekannt 18. Zeimbekis zufolge organisierte und formalisierte die knossische Elite Rituale der Unterwerfung und Beherrschung des Stiers, welche bereits lange vor der Etablierung der Palastgesellschaft existiert hatten 19. In seiner ›akrobatischen‹
Form wurde das Überwinden des Stieres nun möglicherweise von den jungen Männern
der knossischen Oberschicht praktiziert, die dadurch, so Marinatos, ihre Fähigkeit, das
mächtigste Tier Kretas zu beherrschen und zu kontrollieren, zum Ausdruck brachten20.
Die Motive des Stieres und vor allem des Stiersprungs, die nicht nur symbolisch auf tief
in der minoischen Kultur verankerte Ideen und Rituale verwiesen, sondern spätestens
seit der Neupalastzeit auch von der knossischen Palastelite zur Demonstration ihrer Skills
für sich beansprucht wurden, stellten somit wohl die eindrucksvollsten Bilder dar, um
den Palastbesucher mit den Ideen und Vorstellungen zu konfrontieren, die das Palastgeschehen und insbesondere dessen Verantwortliche charakterisierten.
Das Muster von erhöhten Plattenwegen, welches sich deutlich vom umgebenden roten
Verputz abzeichnet, erlaubt in diesem Zusammenhang weitere Überlegungen hinsichtlich des Bewegungsmusters, welchem der vielleicht in einer Prozession durch den Eingangsbereich Schreitende gefolgt sein könnte. Auf dem Weg, der über den Westhof führte, erblickte man zunächst die zentrale Säule, im weiteren die oberhalb des Steinimitats
ursprünglich vermutlich ebenfalls mit einem Wandbild dekorierte Portikusrückwand sowie den Eingang in die Reception Area. Man überquerte den ersten, in West-Ost-Richtung
kreuzenden Plattenweg und umrundete dann auf der Fortsetzung die zentral platzierte
Säule, indem man auf dem nächsten quer gelagerten Plattenweg rechtwinklig nach links
umbog. Erst auf diesem Plattenweg bot sich das Stier[sprung]motiv an der Wand in seiner
vollen Ausdehnung dar. Die lebensgroße Darstellung des Stieres sowie eventuell zugehöriger Stierspringer, auf die man sich nun auf einer Strecke von knapp sieben Metern zu
bewegte, dürfte ein imposantes Moment geschaffen haben, in dem sich dem Eintretenden
die Bedeutung des Palastes bzw. der darin herrschenden Elite, die den Stiersprung als ihr
Emblem zeigte, offenbarte. Kurz vor der Wand bog man auf dem nächsten Plattenweg
rechtwinklig nach rechts ab, um an dem eindrucksvollen Bild entlang zur eigentlichen
Eingangstür in den ›Prozessionskorridor‹ zu schreiten.
Der so beschriebene Pfad stellt eine der Möglichkeiten dar, unter Einhaltung des von
den Plattenwegen vorgegebenen Bewegungsschemas vom Westhof zur Eingangstür in den
›Prozessionskorridor‹ zu gelangen21. Die Annäherung an das Palastinnere wäre demzufolge von mehrmaligen Richtungswechseln begleitet gewesen, die möglicherweise die hintereinander erfolgende Wahrnehmung unterschiedlicher visueller Eindrücke und somit die
18
s. auch Sikla 2003, 377–379. 383 Taf. 3. Auch Übergangsriten in den Erwachsenenstatus werden in diesem Zusammenhang oftmals genannt, s. Panagiotopoulos 2006a, 126 Anm. 5 mit Literaturangaben.
19
Zeimbekis 2006, 34.
20 Marinatos 1994, 93.
21
Eine Alternative wäre das Umbiegen nach links bereits auf dem ersten quer gelagerten, von Westen kommenden Plattenweg, der in einer früheren Phase des Palastes die direkte Verbindung zwischen Westhof und
IN DIE AUGEN, IN DEN SINN
175
stückweise Erfahrung des Eintretens in das Gebäude zum Ziel hatten. In diesem Sinne
erweist sich der Eingangsbereich in den Palast von Knossos als ein Bild-Raum, der in
seiner Anlage auf die ›richtige‹ räumliche Annäherung und sukzessive Sinnkonstruktion
abzielte. Er war geprägt von einem der urtümlichsten Motive der kretischen Kultur und
dafür konzipiert, dem Herannahenden eindrucksvoll die Bedeutung der Palastinhaber zu
vermitteln und diesen auf das vor ihm liegende Geschehen einzustimmen. Erst nachdem
er selbst den Stier im Vorbeigehen ›überwunden‹ hatte, betrat er durch eine Doppeltür
den langen, dunklen ›Prozessionskorridor‹.
2.2 Der ›Prozessionskorridor‹ im Palast von Knossos
Im ›Prozessionskorridor‹ setzte sich der erhöhte, weiße Plattenweg zwischen rot verputzten Bodenflächen fort (Abb. 1–3). Der 3,3 m breite Gang führte zunächst nach Süden, bog Evans zufolge nach etwa 24 m nach links bzw. nach Osten um, führte im Geschoss über den South Terrace Basements etwa 48 m lang in östliche Richtung, bog dann
noch einmal nach links bzw. Norden um und mündete schließlich nach weiteren 22 m in
den Zentralhof22 . Der ›Prozessionskorridor‹ bildete damit einen Abschnitt der wichtigen
Verbindungsroute zwischen der Stadt, dem Westhof als Schnittstelle zwischen Stadt und
Palast sowie dem Zentralhof als Zielort des Wegesystems23 .
Die lang gestreckte architektonische Form des Korridors sowie die Fortsetzung des
zentral verlaufenden, erhöhten Plattenwegs legen nahe, dass es sich hier in erster Linie
um einen Durchgangsraum handelte. Die Anlage des Weges innerhalb der Gebäudestruktur macht zudem deutlich, dass diese einer künstlichen Verlängerung der Verbindung
zwischen dem Westhof und dem Zentralhof diente24 . Möglicherweise sollte hiermit eine
Intensivierung der Erfahrung des Eintritts in den Palast oder des Übergangs von dem
einer größeren Gruppe von Menschen zugänglichen Westhof in den exklusiveren Bereich
des Zentralhofs erreicht werden. Der Akt des Durchschreitens des Korridors spiegelte sich
auch in den Bildern an den Wänden wider.
Von den Darstellungen auf beiden Seiten des Korridors haben sich die Füße sowie
in Einzelfällen die Körper der Figuren erhalten. Orientierung, Gewänder sowie die konZentralhof darstellte. Da jedoch, wie in Evans 1928, 662 Abb. 423 zu sehen, die Plinthe der späteren Westfassade den Plattenweg teilweise überlagert, ist m. E. davon auszugehen, dass dieser in der besprochenen Nutzungsphase des Eingangsbereichs nicht mehr den primär genutzten Eingangsweg darstellte. Ausgeschlossen
werden kann dies freilich nicht, da der entlang der dekorierten Wand verlaufende Plattenweg von jenem älteren
Weg abzweigend bis in den ›Prozessionskorridor‹ hineinführte.
22 Vgl. Evans 1935, Plan C.
23
Panagiotopoulos 2006b, 35–36 mit weiterer Literatur.
24 Zu den Umbaumaßnahmen, im Zuge derer die ursprünglich direkte Verbindung zwischen Westhof und
Zentralhof zugebaut und der gleich verlaufende Vorgänger des ›Prozessionskorridors‹ angelegt wurde, s. Evans
1928, 660–670.
176
UTE GÜNKEL-MA SCHEK
Abb. 3 | ›Prozessionskorridor‹, Fragmente der Darstellung an der Ostwand.
ventionelle rotbraune und weiße Farbgebung der Hautpartien zeigen, dass es sich um
mehrere Gruppen annähernd lebensgroßer, männlicher und weiblicher Figuren handelte, die – entsprechend der Anlage des Korridors – vom Westhof in das Gebäudeinnere
schritten25 (vgl. Abb. 3). Lediglich eine Gruppe von vier männlichen Personen, von denen
mindestens eine, wie Christos Boulotis nahe legte26, mit einem ›Fellrock‹ bekleidet ist,
war in die Gegenrichtung gewandt. Diese Gruppe steht zudem, dies wurde bisher in der
Forschung vernachlässigt, hinter einer kleinen Stufe, und damit auf höherem Niveau als
die vom Eingang herannahenden Prozessierenden. Wie andernorts ausführlich zu zeigen
sein wird, dürfte es sich bei dieser Gruppe um Vertreter des Palastpersonals handeln 27.
Aufgrund ihrer Platzierung innerhalb der Bildkomposition lassen sie sich als bereits im
Palast anwesend und den Hereinkommenden entgegen gewandt begreifen. Zu ihren Aufgaben gehörte es vielleicht, herbeigebrachte Gaben wie beispielsweise ein ebenfalls von
Boulotis identifiziertes Textil28 in Empfang zu nehmen.
Der in Form dreier durch Wellenbänder voneinander getrennter Farbflächen gestaltete Hintergrund des Prozessionsgeschehens könnte, wie bereits von Wolfgang Schiering
vermutet, eine in Malerei übersetzte Gipssteinvertäfelung darstellen29. In einer früheren
Ausstattungsphase des Korridors existierte tatsächlich eine Gipssteinvertäfelung in diesem Bereich30, die im Zuge der Verbreiterung und anschließenden Innenraumgestaltung
des Korridors nun in Malerei umgesetzt wurde. Sie legt nahe, dass diese bereits in der
früheren Nutzungsphase vorhandene Form der Wandgestaltung auch im letzten ›Prozessionskorridor‹ als angemessener Innenraumdekor gewählt und imitiert wurde. Durch die
auf den früheren Innenraumdekor rekurrierende Hintergrundgestaltung wurde folglich
auch der spätere, bildlich vergegenwärtigte Prozessionszug in einen ähnlich konzipierten
Durchgangsraum eingebettet.
25
Zu den spärlichen Fragmenten der Figurengruppen auf der gegenüberliegenden Westwand s. Boulotis
1987, 150 Abb. 5; Cameron 1987, 323 Abb. 4. 6.
26 Boulotis 1987, 147.
27 Eine ausführliche Darlegung der Neudeutung des ›Prozessionsfreskos‹ befindet sich in Vorbereitung
durch die Verf.; s. außerdem Günkel-Maschek 2011, 132–134; Günkel-Maschek im Druck.
28 Boulotis 1987, 150. 154 Abb. 8.
29 Schiering 1960, 26–33. s. im Unterschied dazu die Deutung des Wellenbanddekors als Anspielung auf
landschaftliche Konturen bei Evans 1928, 728; Blakolmer 2010, 97.
30 Evans 1928, 668 Abb. 425.
IN DIE AUGEN, IN DEN SINN
177
Die Übereinstimmung zwischen den Darstellungen an den Wänden und dem durch
die architektonische Form und signifikante Bodengestaltung suggerierten Handlungsgeschehen im Korridor legen nahe, dass an den Wänden das zu bestimmten Zeiten tatsächlich hier stattfindende Geschehen reflektiert und verstetigt wurde. Die Lebensgröße
der Figuren trug ihren Teil dazu bei, um in dem lang gestreckten und vermutlich recht
dunkleKorridor die Hereintretenden in das Prozessionsgeschehen zu involvieren. Letzteres vermittelte ihnen vielleicht zusätzlich ein Gefühl des kollektiven Handelns, welches
einen häufig begegnenden Aspekt minoischen Ritualgeschehens darstellte. Die mehrheitlich eingehaltene Bewegungsrichtung der Figurengruppen in das Gebäudeinnere verlieh
dem Raum dabei einen starken richtungsweisenden Charakter31, der den Bewegungsfluss
hin zum Zielort potenzierte. Gleichzeitig hielten die Darstellungen fest, aus welchen durch
Gewänder und Gedrängtheit der Figuren differenzierten Gruppen sich der Menschenzug
zusammensetzte und welche Gaben von wem in den Palast gebracht wurden. Nicht zuletzt
veranschaulichten sie, wie die Figuren, die als Mitglieder des Palastpersonals gedeutet werden können (s. o.), im Rahmen des Prozessionsgeschehens die einzelnen Gruppen sowie
ihre Gaben in Empfang nahmen32 . Die Darstellungen im ›Prozessionskorridor‹ lassen sich
somit als eine Verstetigung des Ritualgeschehens begreifen, in dem sich die soziale Gliederung der palastnahen Elite sowie die Bedeutung des Palastes selbst als Menschen und Gaben empfangender Instanz manifestierte. Die künstliche Verlängerung des Verbindungswegs zwischen Westhof und Zentralhof, auf dem wohl zu bestimmten Anlässen ähnliche
Prozessionen in den Palast zogen, diente auf diese Weise nicht nur der Prolongierung und
Intensivierung des Aktes des Einzugs in den Palast, sondern zugleich der visuellen Kommunikation von Sachverhalten, die das Geschehen und die Ordnung im Palast konstituierten.
2.3 Der Thronraum im Palast von Knossos
In Hinblick auf seine Langlebigkeit, die erhaltene Ausstattung sowie die bildliche Wandgestaltung stellte der Thronraum vermutlich einen der wichtigsten Orte des Geschehens
im Palast von Knossos dar (Abb. 1. 4). Vom Zentralhof, dessen Westfassade Eingänge in
diverse Raumkomplexe bot, gelangte man zunächst durch eine viertürige pier-and-door
partition und über zwei, später vier33 Stufen nach unten in den Vorraum des Thronraums.
Entlang der Wände zu beiden Seiten waren niedrige Steinbänke aufgestellt. Die Wandmalereien oberhalb dieser Bänke zeigten zunächst eine Leiste aus Steinimitat, über der sich,
31
s. dazu auch Cameron 1970, 165; Hägg 1985, 210–211.
32
Das von Evans im südlichen Bereich des Palastes geborgene und zum ›Prozessionskorridor‹ gehörende
Fragment eines weiteren ›Fellrock‹-Trägers, welches von Christos Boulotis (1987, 149 Abb. 4 a; 4 b) vorgelegt
und ergänzt wurde, deutet auf die Beteiligung weiterer ›Fellrock‹-Träger am Prozessionsgeschehen hin.
33
Erst mit der zweiten Erhöhung des Zentralhofniveaus in SM IIIA1 wurden die oberen zwei Stufen angelegt, vgl. Mirié 1979, 56–57 Taf. 10; Niemeier 1986, 68. 93.
178
UTE GÜNKEL-MA SCHEK
zumindest auf der links gelegenen Südwand, ein Stier erhob, der auf den Eintretenden zu
schritt34 . Hinter einer weiteren, zweifachen Türöffnung35 lag schließlich der Thronraum
selbst.
Hier befanden sich ein ›Lustralbecken‹ zur Linken und im südlichen Bereich eine
Tür in der dem Vorraum gegenüberliegenden Westwand, der steinerne Thron an der
Nordwand zur Rechten sowie weitere niedrige Bänke, die an Nord- und Westwand wie
auch an der Einfassungsmauer des ›Lustralbeckens‹ entlang verliefen. Die Tür in der
Westwand führte zunächst in einen von Evans als »Inneres Heiligtum« bezeichneten
Raum mit Podest gegenüber der Tür und von dort in die nördlich gelegene Raumfolge der
Service Section. Über eine weitere Tür hinter dem Lustralbecken in der Südwestecke des
Thronraums gelangte man in südlich angrenzende Magazinräume.
Wie im Vorraum war auch im Thronraum der Boden gepflastert, wobei hier zusätzlich eine rot bemalte Verputzschicht aufgetragen worden war36. Rot war auch die dominante Farbe an den Wänden. So waren die Wände des ›Lustralbeckens‹ bis auf eine
Zierleiste im oberen Wandbereich vollständig rot bemalt. Auf der Nord- und Westwand
des Thronraums bestand die Hintergrundgestaltung aus vier horizontalen, alternierend
roten und elfenbeinfarbenen Flächen mit Wellenkontur, vor denen vereinzelt platzierte
Papyrus-Schilfpflanzen sowie Palmen zu beiden Seiten des Throns eine idealisierte Flusslandschaft suggerierten37. In dieser Landschaft befanden sich die lagernden Greifen, die
sowohl den Thron als auch die Tür in der Westwand flankierten. Nach unten zu den
Bänken hin schloss die Wandmalerei mit einer Leiste aus Steinimitat ab. Stilisierte bikonkave Basen bzw. Friese aus aneinander grenzenden, konvexen Elementen waren an den
Wänden zwischen Bänken und Thron platziert. Nach oben hin, in der Fläche oberhalb des
Hauptbildfeldes der Wände schlossen schließlich noch zwei, lediglich durch Zierleisten
getrennte Register rot bemalter Flächen an. Das insgesamt von der Farbe Rot dominierte
Erscheinungsbild des Thronraums, welches Parallelen in neupalastzeitlichen Kulträumen wie dem ›Lustralbecken‹ im Palast von Kato Zakros findet38, dürfte dem Raum eine
sinnlich wie symbolisch bedeutsame Atmosphäre verliehen haben, die den angemessenen Rahmen für das Geschehen im Umkreis des Throns darstellte.
Bereits Wolf-Dietrich Niemeier fasste die konstitutiven Elemente Thron und Throninhaber sowie Palmen, Greifen und ornamental-symbolische Friese zu beiden Seiten zu einem
34 Evans 1935, 893 Abb. 872. Wieder ist nur ein Huf, diesmal ein Hinterhuf, erhalten, weswegen nicht ausgeschlossen werden kann, dass es sich auch in diesem Fall um eine Stiersprungszene handelte. Die Position
des Fußes legt jedoch nahe, dass der Stier nicht im stürmischen Lauf dargestellt war, wie dies für Stiersprungszenen typisch ist.
35
Vgl. Niemeier 1986, 93–94, wonach in der vierten und letzten Nutzungsphase des Thronraums, die Niemeier der mykenischen Okkupation zuordnet, der zentrale Pfeiler entfernt wurde, um ein Megaron zu erschaffen.
36 Evans 1935, 902–903 Abb. 877.
37
Niemeier 1986, 88; Evans 1935, 908. 910.
38 Platon 1971, 183.
IN DIE AUGEN, IN DEN SINN
179
Abb. 4a | Thronraum, Blick vom Vorraum aus.
»Gottheit-Ideogramm« zusammen39 . Ihm zufolge trugen die gemalten Elemente dazu
bei, die Göttlichkeit der thronenden Person zu unterstreichen bzw. visuell zu veranschaulichen. In ähnlicher Weise fungierten die Greifen zu beiden Seiten der Tür in der Westwand, die eine Person flankierten, welche durch diese Tür in den Thronraum trat.
Die zu beiden Seiten des Throns und der Tür in der Westwand platzierten Greifen
(Abb. 4 a. b), die sich einerseits in der artifiziellen Flusslandschaft befinden, andererseits
explizit auf architektonische Elemente im tatsächlichen Thronraum Bezug nehmen, stellen eine Verknüpfung zwischen der künstlich geschaffenen Umgebung und dem realen,
architektonisch gefassten Raum bzw. einzelnen darin an bestimmten Stellen agierenden
Personen her und suggerieren den übernatürlichen Landschaftsraum als Rahmen und
virtuellen Ort des im Thronraum stattfindenden Handlungsgeschehens. Eine aus dem
›Inneren Heiligtum‹ in den Thronraum tretende Person wurde vom Vorraum aus als frontal und von Greifen flankiert wahrgenommen, ein bild-räumliches Arrangement, welches
bereits mehrmals mit Siegeldarstellungen in Zusammenhang gebracht wurde, in denen
Greifen zu beiden Seiten einer weiblichen Figur auf erhöhten Grundlinien stehen. Dieses
Motiv könnte die an den Wänden oberhalb der Bänke platzierten Greifen zu beiden Seiten
der Tür in der Westwand reflektieren 40. Sollte es sich bei dieser Gruppe von Siegelbildern
tatsächlich um Anspielungen auf den knossischen Thronraum handeln, so ließen sich
39
40
180
Niemeier 1986, 84–88. Vgl. auch Evans 1935, 919–920.
Evans 1935, 169; Reusch 1958, 356; Niemeier 1986, 75; Blakolmer 2010, 95.
UTE GÜNKEL-MA SCHEK
Abb. 4b | Thronraum, Frontaler Blick auf den Thron.
diese Darstellungen also möglicherweise auf die zwischen den Greifen ›erscheinende‹
Person in der Westtür beziehen 41 . Bild und Moment der ›Erscheinung‹ einer von Greifen
flankierten weiblichen Person entsprachen demnach möglicherweise einem in der religiösen Vorstellung verankerten Ensemble, das im Thronraum durch die artifizielle Hinzugesellung der Greifen an den Wänden in seiner Vollständigkeit realisiert wurde.
Ähnliche Überlegungen lassen sich für das bildräumliche Thronensemble aufstellen. Die Platzierung des Throns an der Nordwand und damit an der vom Vorraum aus
gesehen rechten Seite stellt ein sehr eigentümliches räumliches Arrangement dar, aus
dem sich jedoch, unter Einbeziehung der bildlichen Wandgestaltung zu beiden Seiten des
Throns, eine spezifische Abfolge des ›Sehens‹ der thronenden Person rekonstruieren lässt.
Näherte man sich vom Zentralhof kommend durch den Vorraum, so wurde der oder die
Thronende zunächst im Profil wahrgenommen (Abb. 4 a). Erst wenn man vor dem Thron
stand und sich frontal dem Throninhaber zuwandte, konnte das Thronarrangement einschließlich der bildlich vergegenwärtigten Greifen, Palmen und bikonkaven Basen zu beiden Seiten des Throns vollständig wahrgenommen werden (Abb. 4 b). Die Platzierung des
Throns an der rechten Wand einschließlich der Platzierung der Wandbilder diente daher
möglicherweise der Inszenierung eines ganz bestimmten Erscheinungsbildes bzw. eines
ganz bestimmten Ablaufs der sukzessiven Wahrnehmung der thronenden Person. Das
41
Reusch 1958, bes. 354–357; Niemeier 1986, 74–77 bes. 77.
IN DIE AUGEN, IN DEN SINN
181
›Lustralbecken‹ als weitere Installation im Thronraum könnte in diesem Zusammenhang
als Standort für den frontalen Blick auf die Person auf dem Thron gedient haben – falls es
nicht ausschließlich letzterer vorbehalten war42 .
Wie die in der westlichen Tür ›erscheinende‹ Person, so könnte auch das vom Vorraum aus wahrgenommene, räumliche Arrangement der thronenden Person in Siegelbildkompositionen reflektiert worden sein. In mehreren Abdrücken ist auf stets im rechten Bildfeld platzierten Sitzen oder als Sitz dienenden architektonischen Strukturen eine
thronende weibliche Figur dargestellt 43 . Ihr nähern sich Figuren von links, deren Handlungen Zuwendungen an bzw. Interaktionen mit der verehrten Gottheit wiedergeben.
Greifen fehlen in diesen Darstellungen – sie wären auch in Realität kaum neben der im
Profil wahrgenommenen, thronenden Person zu sehen gewesen.
Das architekturräumliche Arrangement einschließlich der bildlich vergegenwärtigten Elemente legt folglich nahe, dass je nach Anlass des Geschehens und je nach Grad des
Vordringens des Betrachters in Vorraum oder Thronraum das Erscheinungsbild der im
Thronraum lokalisierten und von Greifen begleiteten Person variierte. Die Siegelbilder geben möglicherweise eine Vorstellung davon, wie jene Sichtweisen in Bildform festgehalten wurden und welche Ideen oder Aktionen darüber hinaus mit der jeweiligen Erscheinungsform der Person assoziiert wurden. Sind sie außerdem tatsächlich, wie mehrfach
vermutet wurde, auf das Geschehen im Thronraum von Knossos zu beziehen, so offenbart sich einmal mehr die Bedeutung, die diesem (Handlungs-)Raum in der minoischen
Bild- und Lebenswelt beigemessen wurde.
Gerade diese Bedeutung war wohl auch der Grund, weshalb der Thronraum während
der Jahrhunderte seines Bestehens immer wieder an neue Verhältnisse angepasst wurde.
So wurde in der späten Neupalastzeit das ›Lustralbecken‹ zugeschüttet: Dies bedeutete
das Ende der ursprünglich darin durchgeführten Rituale. Mit dem Ende der Endpalastzeit
wurde die Tür, die von der im Norden gelegenen Service Section in das ›Innere Heiligtum‹
führte, blockiert 44 , so dass auch ein ›Erscheinen‹ durch diese Tür nicht mehr in der bisherigen Form durchgeführt werden konnte. Was jedoch bis zum Ende des Palastes zumindest dem Erscheinungsbild nach unverändert blieb, war das bild-räumliche Arrangement
des Throns. Mit der Aufgabe oder Veränderung einiger Praktiken im Thronraum könnte
sich auch die Funktion des Throninhabers gewandelt haben. Was der Hintergrund dieser
Veränderungen war, und wer in den Jahrzehnten der Endpalastzeit bis zur mykenischen
Übernahme um 1375 v. Chr. 45 auf dem Thron saß, darüber lassen sich nur Vermutungen anstellen. In der mykenischen Zeit schließlich dürfte man den Thronraum aufgrund
42 Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Person, die in der Westtür ›erschien‹ und auf dem Thron
Platz nahm, auch das ›Lustralbecken‹ nutzte. Möglicherweise geschah die rituelle Nutzung von Thron, Westtür und ›Lustralbecken‹ in Abhängigkeit von bestimmten Zeitpunkten im Jahr, vgl. Goodison 2004, 342–346.
43
z. B. CMS II.7, 8; II.8, 268; V, 199; I, 101; XI, 30.
44 Niemeier 1986, 93.
45
Nach Niemeier 1986, 93–94. Vgl. auch Momigliano 2007, 7 Taf. 0, 2.
182
UTE GÜNKEL-MA SCHEK
seiner zentralen Position als Sitz für den neuen Herrscher gewählt haben 46. Nach Niemeier sprechen bauliche Veränderungen in dieser Zeit dafür, dass der Raumkomplex aus
Vorraum und Thronraum nun in ein Megaron abgeändert wurde. Der neue Repräsentativraum sollte bald das Vorbild der Megara der mykenischen Paläste bilden, die sowohl
die seitliche Platzierung des Throns als auch die Bildkomposition für dessen Rahmung
übernahmen 47. Die Langlebigkeit des Thronarrangements – trotz der Transformationen
des mit ihm assoziierten Handlungsraums – deutet darauf hin, dass die Begleitung durch
Greifen zu jeder Zeit geeignet erschien, die herausragende Bedeutung und übernatürliche Macht der im Herzen des Palastes thronenden Person eindrucksvoll zu vergegenwärtigen.
3 Zusammenfassung
Das Konzept des Bild-Raums, in dem die Rolle von Bildwerken als prägenden Elementen
von (Handlungs-)Räumen hervorgehoben wird, eröffnet neue Perspektiven auf den Einsatz von Bildern in der minoischen Kultur. Am Beispiel der Wandbilder wurde dargelegt,
wie diese als Bestandteile ihrer räumlichen Kontexte begriffen werden können, wobei
jene räumlichen Kontexte nicht nur materiell-architektonische Strukturen bezeichnen,
sondern auch das mit ihnen in Zusammenhang stehende Handeln einbeziehen. In diesem Sinne wurden die (Handlungs-)Räume aufgrund ihrer Lage und Form in Eingangsbereiche, Durchgangsräume und ›Aufenthaltsräume‹ differenziert. Die Wandbilder
wiesen dementsprechend unterschiedliche Motive und Kompositionen auf, die in Hinblick auf Wahrnehmung und Handeln angebracht waren. Sie veranschaulichten die
mit den Funktionen der einzelnen Bereiche assoziierten Ideen und Vorstellungen und
verliehen so jedem (Handlungs-)Raum eine angemessene thematische oder symbolische
Konnotation.
Im Südwesteingang wurden die auf den ›Prozessionswegen‹ herannahenden Personen mit dem Motiv des Stiers oder Stiersprungs konfrontiert, welches die damit verknüpften und tief in der minoischen Kultur verankerten Vorstellungen als für den Palast
von Knossos repräsentative Thematik vor Augen führte. Im anschließenden ›Prozessionskorridor‹ fand sich der Hereinkommende in einer Masse von Menschen wieder, die sich
wie er durch den langen Gang dem Zentralhof näherten. Dem Prozessionsgeschehen entgegen gewandt dargestellte Mitglieder des Palastpersonals hielten dabei möglicherweise
fest, wer in letzter Instanz als Empfänger der realen und gemalten Menschengruppen
und Gaben hervortrat. Im Thronraum schließlich, dem langlebigsten Bild-Raum des minoischen Kreta, traf man auf eine von Greifen begleitete Person, deren herausragende
46
47
Pelon 1983, 255; Niemeier 1986, 93–95.
Vgl. dazu auch den Beitrag von Ulrich Thaler in diesem Band.
IN DIE AUGEN, IN DEN SINN
183
Stellung in Palast und Gesellschaft mittels des bedeutungsvollen und sich je nach dem
Standort des Betrachters unterschiedlich darstellenden Thronarrangements effektvoll zum
Ausdruck gebracht wurde.
Die Wandbilder im Palast von Knossos können damit als ein wesentliches Instrument erkannt werden, mittels dessen das in bestimmten Räumlichkeiten stattfindende
Geschehen genau die Sinnkontexte erhielt, welche in der minoischen Vorstellungswelt
mit den beteiligten Personen und vollzogenen Handlungen assoziiert wurden. Sie bedienten sich dabei eines motivischen Vokabulars, welches auch sonst in der reich bebilderten
Lebenswelt der palastnahen Elite allgegenwärtig war. So, wie sie appliziert auf Gebrauchsobjekten oder in plastischer Form in der Siegelpraxis, der Kultpraxis und anderen Aktivitäten relevante Ideen und Vorstellungen vergegenwärtigten, waren die Bilder auch als
prägende Elemente bestimmter architekturräumlicher Kontexte und der Handlungen, für
die letztere angelegt waren, unentbehrlich. Mit den unterschiedlichen Formen von durch
Wanddekor charakterisierten Bild-Räumen lassen sich folglich Aspekte der Konstitution
von Sinngebilden erfassen, in denen die Verknüpfungen zwischen Ideen und Praktiken
an konkreten Orten zu Tage treten. Als symbolisch konnotierte Orte bestanden die bebilderten Eingänge, Durchgangsbereiche und ›Aufenthaltsräume‹ nicht zuletzt auch über
das aktuelle Handlungsgeschehen hinaus, so dass hier dauerhaft die Ideen und Vorstellungen präsent waren, die in ihrer einstigen Gesamtheit die Bedeutung und Funktion des
minoischen Zentrums ausmachten.
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Abbildungsnachweis
Abb. 1: Anfertigung U. Günkel-Maschek nach Hood – Taylor 1981, Plan; Abb. 2:
Anfertigung U. Günkel-Maschek nach Evans 1928, 672–679 Abb. 427–429; 719–
724 Abb. 450; Abb. 3: Umzeichnung U. Günkel-Maschek nach Evans 1928, Beil. XXV–
XXVII; Abb. 4: Anfertigung U. Günkel-Maschek nach Evans 1935, 905–921 Abb. 882.
884. 885. 890. 895 Taf. XXXII. XXXIII; Hood – Taylor 1981, Plan; Cameron 1987,
323 Abb. 7.
188
UTE GÜNKEL-MA SCHEK
Ulrich Thaler
Going Round in Circles
Anmerkungen zur Bewegungsrichtung in mykenischen Palastmegara
The round hearth is a central element of Mycenaean throne rooms, not merely in spatial terms, but equally with
regard to iconographic concepts and to acts – to movement in particular – in the palatial megara. On the basis
of three premises – 1) the non-axiality of centripetal movement in Mycenaean palaces, 2) the strongly normative
form of the megaron, which suggests strong norms governing acts performed in it, and 3) the role of wallpaintings, particularly processional scenes, as what have been termed »sign-posts« – numerous elements of
both the painted decoration and the architectural layout of the megara at Mycenae, Pylos and Tiryns can be
understood as evidence for a primary sense of movement along a clockwise, circular route around the hearth,
from the throne room’s door to the throne itself. In particular, the paintings to the left and right of the Pylian
throne, the hearth and the columns surrounding it are all integrated in a coherent and meaningful composition
when viewed from a position opposite the throne across the hearth, possibly the closest many – even among
those admitted to the megaron – ever got to the enthroned ruler.
1 Vorbemerkung zur Alltagserfahrung und zu Prinzipien der Raumnutzung
An American’s devotion to McDonald’s rests in part on uniformities associated with
almost all McDonald’s: setting, architecture, food, ambiance, acts, and utterances. The
golden arches, for example, serve as a familiar and almost universal landmark […] [T]he
restaurants rely on their arches, dull brown brick, plate-glass sides, and mansard roofs
to create a setting as familiar as home. […] In this familiar setting, we do not have to consider the experience. We know what we will see, say, eat, and pay.1
Obschon Conrad P. Kottaks sozialanthropologische Ausführungen zur weltweit wohl bekanntesten Fast-Food-Kette insofern im Detail überholt scheinen, als der Erfolg besagter
Kette längst ein globales statt ein spezifisch amerikanisches Phänomen darstellt, sind sie
Mein besonderer Dank gilt neben den Organisatoren und Teilnehmern der Konferenz »Bild – Raum –
Handlung« zunächst den Mitgliedern des Forschungsfeldes 4 »Orte der Herrschaft« im Cluster 3 »Politische
Räume« des DAI, meinem Doktorvater Joseph Maran sowie den – akademischen wie nicht akademischen – Teilnehmern von Führungen in Tiryns für produktive Diskussionen der hier vorgestellten Ideen sowohl in abstracto
als auch in situ. Ebenso bin ich für die konstruktiven kritischen Stellungnahmen als Diskutanten im Rahmen
eines Aigeiros-Vortrags am DAI Athen Walter Gauß und Constance von Rüden dankbar, wobei letzterer ebenso
wie Federica Gonzato zudem mein Dank für formlosere Diskussionen gilt, in denen verschiedene der hier formulierten Ideen ihren Anfang nahmen. Maria Kostoula erzeugte aus mehreren mäßigen Kopien eine publikationswürdige Abbildungsvorlage und Joseph Maran gestattete als Leiter des Tiryns-Projektes den Abdruck einer bislang unpublizierten Rekonstruktionszeichnung. Beiden danke ich ebenso für ihre graphische Hilfestellung wie
allen, die mir zuliebe im Laufe der letzten beiden Jahre mit einer Kamera in der Hand in den Sanitärbereich des
Flughafens Stansted vorstießen: Ann Brysbaert, Jari Pakkanen, Julietta Steinhauer und eine mir namentlich leider nicht bekannte hen-party-Teilnehmerin, auf die am Ziel ihres Fluges sicher attraktivere Motive warteten.
1
Kottak 1978, 77.
GOING ROUND IN CIRCLES
189
Abb. 1 | a: Flughafen Stansted,
21. Jh. n. Chr., Schattenrissfigur als Wegweiser zu Damentoiletten; b: Palast von Tiryns,
13. Jh. v. Chr., Wandmalerei
einer Gabenträgerin aus der
›großen Frauenprozession‹.
a
b
im Kern ausgesprochen aufschlussreich und illustrieren in großer Klarheit einen Punkt,
der für die folgenden Überlegungen zu den Palastmegara der späten Bronzezeit auf dem
griechischen Festland von wesentlicher Bedeutung ist: Mit der starken Kanonisierung eines Typus öffentlich genutzter Bauten verbindet sich nicht selten eine vergleichbar starke
Kanonisierung und Reglementierung – auch der Begriff »Ritualisierung« scheint keinesfalls fehl am Platze – der in diesen Bauten vollzogenen sozialen Akte.
Tatsächlich bietet auch für andere in archäologischen Interpretationen angeführte
Prinzipien der Nutzung und Gestaltung von Räumen unsere Alltagserfahrung eindrückliche Illustrationen. So kann z. B. der aufmerksame Reisende im Flughafen Stansted
Wandmalereien entdecken, die in ganz ähnlicher Weise eine Wegweiserfunktion erfüllen, wie dies für Prozessionsdarstellungen der ägäischen Bronzezeit in vielen Fällen angenommen wird (Abb. 1) – das Ziel, auf das die Stansteder Wandbilder hinweisen, ist zwar als
Sanitärbereich ein vergleichsweise prosaisches, zweifelsohne aber eines, dem ein breites
öffentliches Interesse gilt. Ich möchte die Bedeutung heutiger Alltagserfahrung für unser
Verständnis der Vergangenheit indes weder überbetonen noch den Leser des Vergnügens
berauben, selbst weitere illustrative Parallelen in unserer Lebenswelt zu identifizieren.
Entsprechend seien zunächst, bevor ich zur Kernthese dieses Aufsatzes vorstoße – der
Annahme einer im technischen Sinne ›rechtsdrehenden‹ Bewegung um den Rundherd
als kanonischer Route innerhalb der mykenischen Palastmegara –, drei Grundannahmen
in neutralerer Form festgehalten, die ich anschließend als gegeben behandeln werde.
190
ULRICH THALER
2 Drei Grundannahmen: Indirektheit des Zugangs, Einheitlichkeit der Megara
und Malereien als Richtungsanzeiger
1.) Obwohl, wie schon früh erkannt 2 , die zentripetale Bewegung hin zur Megaron-Raumfolge mit dem Thronsaal von grundlegender Bedeutung war, die sich deutlich in der architektonischen Gestaltung des Zugangsweges widerspiegelt, ist diese Route doch keinesfalls geradlinig geführt. So liegt z. B. zwar in den bekannten peloponnesischen Palästen,
Mykene, Tiryns und Pylos, das zum Megaronhof führende Propylon dem Megaron gegenüber, ist jedoch stets seitlich zur Achse des Megarons versetzt3 . Im Falle des Palastes
von Tiryns, in dem Joseph Maran das Produkt eines in vergleichsweise kurzer Zeit umgesetzten Gesamtentwurfes sieht 4 , scheint sogar, wie er unter Bezug auf Johnsons Untersuchung frühneuzeitlicher englischer Burgen5 feststellt, auf Richtungswechsel an liminalen Punkten besonderer Wert gelegt zu sein6, so dass letztlich der Weg vom Burgtor zum
Thronraum im Uhrzeigersinn laufend fast eine Spirale beschreibt. Auf die Verbindung
von liminalen Punkten bzw. allgemeiner von Stationen entlang des Zugangswegs durch
eine konsequent gestaltete Blickführung wird noch einzugehen sein.
2.) Bei allen Unterschieden in der konkreten Plangestaltung liegen den bekannten
mykenischen Palastanlagen, worunter angesichts unseres unvermeidlich lückenhaften
Kenntnisstandes zu Theben zunächst wiederum die genannten drei peloponnesischen
Paläste verstanden sein sollen, offenbar gemeinsame Gestaltungsideen zugrunde. Das
wohl wirkungsstärkste dieser Konzepte findet seinen Ausdruck in der Megaron-Raumfolge (Abb. 2). Diese war zwar unterschiedlich durch Seiteneingänge mit dem Rest der
Palaststruktur verbunden – in Mykene durch eine Tür in der offenen Vorhalle, in Tiryns
durch eine Tür im inneren Vorraum und in Pylos wohl durch zwei Türen ebenfalls im
inneren Vorraum –, weist jedoch an allen drei Orten dieselbe Gliederung in Vorhalle, Vorraum und Thronsaal auf, hinzu kommen nur geringfügig variierende Abmessungen und
vor allem eine offenbar kanonische Ausstattung des Thronsaales mit einem Rundherd
zwischen vier Säulen in der Mitte und einem Thronplatz auf der vom Eingang aus rechten
Seite. Der Thronplatz ist natürlich in Mykene durch das Abrutschen des entsprechenden Teils der Anlage nicht erhalten, dass seine Rekonstruktion unbestritten ist, mag aber
die Eingängigkeit des Konzeptes – zumindest für Archäologen – belegen. Die vielleicht
2
z. B. Rodenwaldt (1919, 92), der mit spürbarer Begeisterung notiert, »[w]ie […] in Tiryns der Eintretende
mit genialer Ausnutzung des ansteigenden Terrains von einem Vorhof zum anderen, von einem Propylon zum
anderen geführt wird, bis sich zuletzt die mächtige Fassade des Megarons in eindrucksvoller Symmetrie mit
den f lankierenden Säulenhallen in der Achse des Hofes erhebt, wie alles auf diese Schlußwirkung berechnet
ist, wie einer Richtung, einem Ziel alles andere sich unterordnet«.
3
Maran 2006, 82 einschl. Anm. 62.
4
Maran 2004, 283; vgl. Küpper 1996, 111.
5
Johnson 2002, 73–85, bes. 83.
6
Maran 2006, 83; vgl. Anm. 21.
GOING ROUND IN CIRCLES
191
Abb. 2 | Grundrisse der Palastmegara (von links nach rechts) von Mykene, Tiryns (großes Megaron)
und Pylos (M. 1 : 500).
aufschlussreichsten Vergleichsfälle bieten derzeit der im letzten Jahrzehnt ausgegrabene
Herren- oder Herrschersitz von Dimini und das kleine Tirynther Palastmegaron, die über
eine Vereinfachung des bestehenden Konzeptes andeuten, welche Elemente am ehesten
als verzichtbar galten7.
Diese Einheitlichkeit in der Gestaltung von Megaron-Raumfolge und Thronraum ist
im Folgenden in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Zum einen gibt sie Anlass zu der
Vermutung, dass mit der streng kanonisierten Form auch streng kanonisierte Nutzungsformen verbunden waren, was z. B. eine Hauptbewegungsrichtung innerhalb des Thronraumes plausibel erscheinen lässt. Zum anderen und in Zusammenhang damit macht sie
die Übertragung von Beobachtungen, die an einem der Palastorte aufgrund der spezifischen Befundlage möglich sind, auf die anderen Palastorte wahrscheinlicher als in vielen
anderen Fällen: Wenn Analogieschlüsse grundsätzlich die Gefahr mit sich bringen, durch
Verallgemeinerungen das jeweils Besondere und Andersartige aus dem Blick zu verlieren,
bleiben sie dort ungefährlich, wo keine oder nur geringe Normabweichungen zu erwarten
sind. Dies ist u. a. auch in Hinsicht auf die dritte hier der Diskussion zugrunde gelegte
Annahme von Bedeutung.
3.) Auf das Megaron bzw. den Thronsaal hin orientierte Menschen- und insbesondere
Prozessionsdarstellungen können für die zeitgenössischen Benutzer der Palastarchitektur, d. h. in diesem Falle besonders für die Besucher des Palastes, als Wegweiser auf
7
Damit würden sich beide auch als Ausgangspunkt für eine Diskussion anbieten, die versucht, die zu Recht oft
beklagte Unschärfe im Gebrauch des Megaronbegriffes nicht durch dessen Aufgabe zu beseitigen (Darcque 1990;
Jung 2000), sondern durch eine sorgfältige Definition, die sich an einem frühgeschichtlichen Verständnis des Bautypus orientiert; freilich verdeutlicht schon der Umstand, dass in Tiryns die Räume XXI und XXII in mancher Hinsicht wiederum als verkürzte Replik des kleinen Megarons erscheinen, die Schwierigkeiten einer solchen Diskussion.
192
ULRICH THALER
Abb. 3 | Rekonstruktion der Prozessionsszene im Vorraum 5 des Palastmegarons von Pylos nach Lucinda
McCallum (M. 1 : 30).
dem Weg zum Thron bzw. zum inthronisierten Herrscher gedient haben oder können
zumindest allgemeiner als Indiz für einen regelmäßigen Fluss des Besucherverkehrs in
die entsprechende Richtung verstanden werden. Das klassische Beispiel für diese These
bietet die ehemals im inneren Vorraum 5 des pylischen Megarons angebrachte, Wandmalereifragmente und Fragmentkomplexe 5 H 5 bis 15 H 5 sowie 18 C 5 umfassende Prozessionsdarstellung (Abb. 3)8. In Anlehnung an Mark Camerons Deutung knossischer
Wandmalereien9 hat insbesondere Lucinda McCallum in ihrer eingehenden Studie der
Megaron-Fresken eine Deutung als »sign-post« vertreten und in direkter Entsprechung
auch für eine menschliche Darstellung in der äußeren Halle 1 des Propylons vorgeschlagen10, also an einer weiteren wichtigen Station auf dem Weg zum Thron, einem liminalen
Punkt im Sinne Marans. Zur Begrifflichkeit ist hierbei anzumerken, dass der Terminus
»sign-post« insofern nicht problemlos ist, als er eine unzweifelhaft normative Funktion
impliziert und dadurch die Möglichkeit ausblendet, dass die Fresken tatsächliche Prozessionen und deren Bewegungsrichtung unter Umständen schlicht kommemorierten;
eine Funktion als Zeichengeber ist durchaus wahrscheinlich, aber nicht Voraussetzung
für eine archäologische Analyse der Bewegungsrichtung. Überzeugend ist hingegen McCallums weiterführende Annahme einer Verbindung des Prozessionsfreskos in Vorhalle
5 mit der im Thronraum 6 rekonstruierten Bankettszene mit Leierspieler als Elemente
einer narrativen Folge, wobei sie konkret an eine Handlungsabfolge im Rahmen eines
religiösen Festes denkt 11 .
8
Lang 1969, 64–68. 109. 192 Taf. 119; McCallum 1987, 195–197 Taf. 8 a–c.
9
Cameron 1970, 165.
10
McCallum 1987, 70–71. 119. 121–122.
11
McCallum 1987, 108. Im Detail ist McCallums Auffassung dahingehend zu korrigieren, dass in den Malereien im Thronraum nach neueren Erkenntnissen kein Bulle zu identifizieren ist (Stocker – Davis 2004,
190), womit der von McCallum vermeintlich identifizierte Bulle als inhaltlich mit der unstrittigen Bullendarstellung im Vorraum verbundenes Element zwangsläufig ausfällt; insgesamt bleibt ihre Deutung jedoch
schlüssig.
GOING ROUND IN CIRCLES
193
Dass einer ähnlichen Funktion als normativer und/oder kommemorativer Richtungsanzeiger im Falle der nicht in situ am ursprünglichen Anbringungsort aufgefundenen großen Tirynther Frauenprozession einige Wahrscheinlichkeit zuzubilligen ist,
hat zuletzt Maran überzeugend dargelegt 12 . Weniger plausibel erscheint eine entsprechende Deutung bei der ebenfalls großformatigen Frauenprozession aus dem sog. Haus
des Kadmos in Theben 13: Zwar bleibt durch die bestehende Unklarheit hinsichtlich des
Gesamtplans der Anlage und der Position eines mutmaßlich vorhandenen Megarons
jedwede Aussage notwendigerweise eine vorläufige, aber der Umstand, dass Raum Ν als
Fundort der Freskenreste auf zwei Seiten von Korridoren und auf der dritten wohl von
einer Außenmauer begrenzt wurde, lässt diesen Raum kaum als Durchgangsraum auf
dem Weg zur zentralen Raumfolge des thebanischen Palastes erscheinen.
3 Der Fragmentkomplex 45 H 6 als Denkanstoß
Von diesen drei Annahmen – Indirektheit des Zugangsweges zum Thron, Einheitlichkeit
von Megaronplan und -nutzung sowie Richtungsweiserfunktion der Darstellung von Prozessionen zumindest in Pylos – dürfen die beiden letztgenannten zumindest im Kern als
weithin akzeptierte Forschungsmeinung gelten, während die hier zuerst diskutierte, in
die Forschungsdiskussion aber zuletzt in der umrissenen Form eingeführte Auffassung
sich meines Erachtens rasch als solche etablieren dürfte. So ist es bemerkenswert, dass
trotz ihrer unstrittigen Natur diese drei Punkte bereits eine hinlängliche Ausgangsbasis
bieten, um in der Betrachtung einer aufgrund ihrer schlechten Erhaltung bislang wenig
beachteten Wandmalereiszene, dem Fragmentkomplex 45 H 6 aus dem Thronsaal von
Pylos14 , zu einer neuen und unerwarteten Perspektive auf die Frage nach Handlungsformen und Bewegung in den mykenischen Thronsälen zu gelangen, die anschließend
durch weitere kontextuelle Beobachtungen zu bestätigen sein wird.
Neben Resten weißer Gewänder mit farbigen Diagonalstreifen überliefert der in seinen größten Maßen nur 13,5 cm hohe und 23,5 cm breite, stark beschädigte Fragmentkomplex zwei rot angegebene Unterarme, nach Mabel Lang die dem Betrachter zugewandten
und demnach rechten Unterarme zweier nach rechts schreitender Männer15 . Das wenige,
12
Maran im Druck.
13
Reusch 1956, bes. 3–5 einschl. Abb. 1.
14
Auf eine Abbildung von 45 H 6 verzichte ich mit Bedauern, letztlich aber aus zwingendem Grund: Die
bei Lang (1969, Taf. 29) reproduzierte Darstellung ist aufgrund des sehr schlechten Zustandes des Stücks
kaum informativ. Eine zusätzliche Reinigungs- und Restaurierungsarbeiten umfassende Neubearbeitung der
Megaronfresken ist derzeit im Gange und hat im Laufe dreier Aufarbeitungskampagnen bereits gute Fortschritte erbracht, wird aber voraussichtlich erst nach vergleichbaren Arbeiten zu den Malereien aus Raum 64
publiziert werden (pers. Mitt. Sharon Stocker, 02.07.2010; vgl. Anm. 22); neue Photographien der Malereien
aus Thronraum 6 und somit auch von 45 H 6 sind deshalb derzeit noch nicht verfügbar.
15
Lang 1969, 81. 195.
194
ULRICH THALER
was von den Gewändern erkennbar ist, scheint am ehesten einen Vergleich mit den kurzärmeligen, aber knöchellangen Gewändern zu erlauben, die in der Prozessionsdarstellung in Vorhalle 5 offenbar ranghöhere Teilnehmer kennzeichnen 16. Zudem spricht für
eine Verbindung mit dieser Szene die zu rekonstruierende Größe der Figuren in 45 H 6:
Lang gibt diese als »about the same height as the larger figures in the Vestibule Procession« an17, McCallum sieht hiervon leicht abweichend, vielleicht auch nur in der Formulierung, die Figuren in 45 H 6 als »slightly shorter than the largest robed figures from
the Vestibule 5 procession«18; angesichts der zwischen 27 und 40 cm variierenden Höhe
der Figuren in der Prozessionsszene in Raum 5 darf damit eine Höhe innerhalb der dort
vertretenen Schwankungsbreite als sicher und eine eher an deren oberen Ende liegende
als sehr wahrscheinlich gelten. Eine Überlappung zweier Figuren, wie sie 45 H 6 nahezulegen scheint, ist zwar untypisch für die Vorraumszene, tritt aber zumindest einmal
im Fragment 6c H 5 auf19. Insgesamt erscheint es somit plausibel, in 45 H 6 eine in nur
geringen Resten erhaltene Darstellung zu sehen, die inhaltlich mit der bekannten Prozessionsszene aus Vorraum 5 eng zusammenhängt und diese, sofern der Auffindungs- dem
ehemaligen Anbringungsort von 45 H 6 entspricht, innerhalb des Thronsaales 6 aufgreift
oder fortsetzt.
Folglich ist der Anbringungsort der durch 45 H 6 vertretenen Darstellung von direktem Interesse für die Frage nach der Bewegungsrichtung innerhalb des Megarons. In
Hinsicht auf letztere ging McCallum plausibel davon aus, dass »the location and orientation of the festival scenes [d. h. Prozessions- und Bankettdarstellung in Raum 5 bzw. 6]
were consistent with circulation patterns in the megaron«, wobei sie ebenso schlüssig
als Beispiel anfügte, dass »the Vestibule procession moved left, in the direction of the
entrance to Room 6«. Die hieran wiederum anschließende Vermutung, dass »once inside
Room 6, one would probably have turned right, toward the (NE) throne wall on which the
sacrifice and banquet scenes were painted«20, steht hingegen in direktem Widerspruch zu
dem, was der von Lang und McCallum übereinstimmend vorausgesetzte Anbringungsort von 45 H 6 aus Sicht des Eintretenden links der Tür an der Südostwand des Thronsaales nahelegt 21: Ausgehend von McCallums eigener Prämisse und entgegen ihrer
Schlussfolgerung – und vielleicht unserer Intuition – lassen der genannte Anbringungsort von 45 H 6 und die Orientierung der dargestellten Figuren nach rechts und somit von
der Thronraumtür und damit auch der Thronwand weg nur den Schluss zu, dass sich
Besucher beim Eintritt in den Thronsaal nach links und somit nicht direkt zum Thron
wandten.
16
17
18
19
20
21
McCallum 1987, 113–117.
Lang 1969, 81.
McCallum 1987, 103.
Lang 1969, 65.
McCallum 1987, 123–124 Zur vermeintlichen »sacrifice scene« vgl. Anm. 11.
Lang 1969, 195; McCallum 1987, 103.
GOING ROUND IN CIRCLES
195
Wenn wir diese Bewegung in Gedanken fortsetzen, ergibt sich natürlich eine Kreisbewegung im Uhrzeigersinn um den Herd herum, womit die zentrale und im Folgenden
näher auszuführende These dieses Aufsatzes erreicht ist. Zunächst sind allerdings noch
zwei qualifizierende Anmerkungen zu 45 H 6 vonnöten: Zum einen ist zu bedenken, dass
der Fragmentkomplex nicht an der Wand, sondern verstürzt vor dieser gefunden wurde.
Verschiedentlich wird in der Publikation der pylischen Fresken bei anderen Funden die
Möglichkeit eines Versturzes vom Nachbarraum her diskutiert – und dass eine Szene mit
Figuren, die denen der nach links gewandten Prozessionsszene, die sich in Vorraum 5
rechts der Tür zum Thronsaal fand, in ihrer Größe entsprechen und nach rechts bewegt
dargestellt sind, in diesem Sinne im südwestlichen, also links der Tür zu Raum 6 gelegenen Abschnitt der Wand von Raum 5 einen sinnvollen Platz fände, steht außer Frage. Weder findet sich aber dieser Verdacht, dass also die Figuren von 45 H 6 gerade auf der Rückseite der Wand angebracht waren, auf der sie hier vorausgesetzt werden, in irgendeiner
Weise bei Lang oder auch McCallum angedeutet, noch bietet eine der beiden aus ihrem
eingehenden Studium des Materials heraus auch nur ein indirektes Indiz hierfür22 . Zum
anderen ist einschränkend zu bedenken, dass im Gegensatz zum Prozessionsfresko im
Vorraum 5 und einer eventuell vergleichbaren Darstellung in der äußeren Halle des Propylons 1 die durch 45 H 6 repräsentierte Szene beim Betreten des Thronraumes nicht direkt
im Blickfeld des Besuchers lag, sondern von diesem höchstens peripher wahrgenommen
werden konnte. Zwar bereitet dies bei einer Ansprache als »sign-post« Schwierigkeiten,
wie bereits erläutert scheint diese Bezeichnung aber in sich bereits problematisch, da sie
eine mögliche kommemorative Funktion der Wandmalereien, die für eine Interpretation
der Bewegungsrichtung ebenso von Interesse ist wie die implizierte normative Funktion
und mit der angenommenen relativen Positionierung von 45 H 6 und Besuchern voll und
ganz vereinbar ist, von vornherein ausblendet.
Beweiskraft ist demnach dem Fragmentkomplex 45 H 6 in der ohnehin einem tatsächlichen Beweis kaum zugänglichen Frage der Bewegungsrichtung im Thronsaal nicht
zuzusprechen. Er soll hier aber auch nicht mehr bieten als ein Indiz und zugleich den Anstoss geben zu weiteren Überlegungen, die hoffentlich in Verbindung mit diesem ersten
Indiz ebenso wie aus sich selbst die vorgestellte These einer Bewegung im Uhrzeigersinn
zumindest plausibel machen. Diese Überlegungen betreffen das Layout und die weitere
Dekoration der Megara sowie unsere Vorstellungen von der mykenischen Herrscherideologie.
22 In einem online zugänglichen Vorbericht zu neuen Arbeiten im Magazin des Museums in Chora (vgl.
Anm. 14) deutet Brecoulaki (2005) die Möglichkeit einer Verlagerung von 45 H 6 aus dem Vorraum 5 an; da sie
hierfür aber keine Gründe angibt, die über Ähnlichkeiten zwischen 45 H 6 und den Malereien in Vorraum 5
hinausgehen, besteht derzeit, d. h. bis eine schlüssige Begründung für die Annahme einer Verlagerung publiziert wird, kein Anlass, am bisherigen Publikationsstand zu zweifeln. Dennoch ist es angemessen, gerade in
diesem Kontext zu betonen, dass 45 H 6 zwar den Anstoß für die hier vorgestellten Überlegungen darstellt,
nicht jedoch den Schlüsselbeleg der vorgestellten These, die sich auf eine Mehrzahl kontextueller Betrachtungen stützt (s. u.).
196
ULRICH THALER
4 Die Evidenz der baulichen Gestalt der Palastmegara
Hinsichtlich des Layouts ist eine einfache Schreibtischübung geeignet, zunächst die Gegenannahme einer direkten Bewegung von der Thronsaaltür zum Thronplatz kritisch
zu beleuchten. Verbindet man auf einem Plan des Tirynther Megarons die Mittelpunkte
der Türschwelle des Thronraumes 7 und des durch ein Podest markierten Thronplatzes
durch eine gerade Linie, schneidet diese die südöstliche Säule, d. h. die Sichtlinie wird von
dieser Säule unterbrochen. Zwar darf man in Analogie zu Pylos, wo die entsprechende
Sichtlinie zwischen Schwelle und dem hier weniger weit in den Raum hineinragenden
Thronplatz nicht gestört wird, wohl davon ausgehen, dass der Thron auf dem Podest kaum
mittig, sondern von der Mitte aus zur Wand hin versetzt stand. Dennoch verbleibt die
entsprechende Säule in beiden Fällen als Sichthindernis nahe der Mitte des Blickfeldes,
wodurch unter Umständen eine volle Sichtbarkeit des Besuchers für den Thronenden, als
den ich in der Folge der Einfachheit halber den wanax voraussetzen werde23, erst gegeben
wäre, wenn beide sich schon fast in unmittelbarer Nähe zueinander befinden. Um zudem
dem Herrscher en face gegenüberzutreten, verbliebe dem Besucher zwischen Herd und
Thronpodest nur ein geringer Raum, in Pylos wenig mehr als zwei, in Tiryns kaum mehr
als ein Meter; eine solch fast schon intime Nähe zum wanax dürfte selbst unter denjenigen, die überhaupt ins Megaron vorgelassen wurden, nur einem kleinen Kreis gestattet
gewesen sein24 . Dagegen bietet der nach einer Viertelumkreisung des Herdes im Uhrzeigersinn erreichte Punkt gegenüber dem Thron einerseits eine ungestörte Sichtbeziehung
zum Thron, für die die Säulen keine Hindernisse, sondern eine Rahmung darstellen, und
andererseits, durch die Nutzung der Breite des Megarons, eine eher angemessene Distanz
für ein Respekt bezeugendes Grüßen des Herrschers und das förmliche Eintreten in die
Interaktion mit diesem25 .
Der Umstand, dass der Besucher schon vor dem Erreichen dieses Punktes durch die
Säulen hindurch und vielleicht aus den Augenwinkeln einen Blick auf den wanax erhaschen
23
Die vorgestellten Überlegungen werden durch diese Annahme nicht berührt und bleiben in gleicher
Weise gültig, wenn z. B. die Königin oder eine Inkarnation der potinija auf dem Thron vermutet wird (Rehak
1995, bes. 97. 117).
24 Vgl. Halls (1966, 107–122 Taf. 3–12) Unterscheidung von »intimate«, »personal«, »social« und »public
distance«. Nach Halls Terminologie wäre die Distanz zwischen dem Herrscher und dem Besucher jenseits des
Herdes als »public distance – close phase« einzuordnen, während ein zwischen Herd und Thron stehender
Besucher sich dem Herrscher bis in den Nahbereich der »social distance« oder sogar schon in den Fernbereich
der »personal distance« genähert hätte. Zu beachten bleibt indes Halls (1966, 121) Betonung des jeweils kulturell spezifischen Umgangs mit solchen Zonen, wodurch nach westlichem Verständnis ›öffentliche‹ Kontakte
in anderen Kulturen durchaus als ›persönlich‹ verstanden und mithin in ›persönlicher‹ Distanz verhandelt
werden können; dieser Vorbehalt wird aber seinerseits durch die Erkenntnis relativiert, dass in der mykenischen Palastarchitektur vielfach und sehr bewusst Mittel der Distanzierung eingesetzt wurden.
25
Eine erste Respektsbezeugung bereits auf der Schwelle, d. h. beim Eintritt in den Thronsaal, erscheint
durchaus denkbar, ein dort entbrachter Gruß als Beginn eines wie auch immer gearteten Austausches hingegen kaum.
GOING ROUND IN CIRCLES
197
Abb. 4 | Rekonstruktion des Blicks aus dem kleinen Propylon auf das große Megaron im Palast von Tiryns,
frühere Fassung der bei Müller (1930, Taf. 42) publizierten Ansicht.
konnte, mag hierbei durchaus als Fortsetzung der Blickführung auf dem Weg zum Megaron gelten, die zumindest in Tiryns sehr sorgfältig gestaltet war und dem Besucher
regelmäßig einen Blick auf die nächste Station auf dem Weg zum Thronsaal, aber nicht
oder nur selten darüber hinaus erlaubte26: von außen auf Rampe und Burgtor, vom Burgtor auf das Haupttor – und nur, wenn dies offen war, auf das Tor beim äußeren Vorhof –,
vom Haupttor zu letztgenanntem Tor27, von dort auf das große Propylon, das seinerseits
wieder subtil in Richtung des kleinen Propylons verkippt war, vom kleinen Propylon auf
das Megaron (Abb. 4), dessen Fassadengestaltung die Propyla bereits angedeutet hatten.
26 Vgl. Maran 2006, 83. Hier ergibt sich auch der eine Gegensatz, der in Ergänzung zu Marans zuvor erwähntem erhellenden Vergleich mit der Darstellung Johnsons zu vermerken ist: Während in den von Johnson
diskutierten englischen Anlagen die indirekte Wegeführung auch dem Zweck dient, viele Ansichten des Baues
zu präsentieren, also auf Sichtbarkeit ausgelegt ist, scheint die indirekte Wegeführung in Tiryns mit der Blickführung auf die nächste Station, aber eben nicht darüber hinaus, eher auf ein Verbergen und allmähliches
Enthüllen ausgerichtet zu sein.
27 Zur Frage, ob das Tor am äußeren Vorhof im letzten Bauzustand des Palastes noch Bestand hatte, vgl.
Müller 1930, 26. 193. Wenngleich ein Torverschluss nicht belegbar ist, scheint eine gliedernde Funktion eines
fortbestehenden Torbaues plausibel zu sein.
198
ULRICH THALER
Dies lässt sich fortsetzen mit dem Blick in den Thronsaal, aber noch nicht auf den Thronenden, aus Vorhalle und Vorraum des Megarons und dann eben vielleicht einem ersten
flüchtigen Blick auf den Herrscher, bevor der Besucher in eine volle visuelle Kopräsenz
mit dem wanax eintrat, der wiederum für bestimmte Besucher eine engere räumliche
Kopräsenz gefolgt sein mag.
5 Die Evidenz der Ausschmückung der Palastmegara
Was sich solchermaßen in der festen Grundgestalt von Mauern und Stützen als diachron
stabilen fixen Elemente andeutet, findet weitere Bestätigung, über die Evidenz des Fragmentkomplexes 45 H 6 hinaus, in den Wand- und Bodenmalereien von Pylos und Tiryns,
die als diachron nicht stabile fixe Elemente eine detailliertere Definition des architektonischen Handlungsrahmens erlauben28. Nur am Rande sei hierbei erwähnt, dass im Thronsaal von Pylos einige wenige Felder innerhalb des Quadratrasters der Fußbodenbemalung
neben ihrer malerischen Ausschmückung auch Ritzungen aufweisen, in denen bereits
die Ausgräber mögliche Standortmarkierungen für Teilnehmer am Hofritual sahen29,
und dass mit F1 und G1 zwei dieser Felder gerade dem Thron gegenüber in dem Bereich
liegen, den ein Besucher im Megaron nach einer Viertelumkreisung des Herdes erreicht
hätte; leider können aber nicht alle Felder mit Ritzungen, zu denen die Grabungspublikation zudem nur wenige Detailinformationen bietet, in vergleichbarer Weise schlüssig
erklärt werden.
So ist nach unserem derzeitigen Wissensstand die allgemeinere Erkenntnis wesentlicher, dass die Bedeutung der Querachse des Thronraumes als Blickachse eindrücklich
durch die Orientierung der figürlichen Elemente des Bodenmalereien bestätigt wird, in
Pylos des einzelnen Oktopus vor dem Thron30, in Tiryns der Oktopoden und Delphinpaare, die zumindest im äußeren, in Wandnähe gelegenen Teil des Megaronbodens,
wahrscheinlich aber im gesamten Thronraum jedes zweites Quadratfeld zieren (Abb. 5)31 .
Während für erstere der Vergleich mit Vasenbildern klar auf eine korrekte Orientierung
28 Vgl. Thaler 2006 für die Unterscheidung und analytische Bedeutung dieser Kategorien.
29 Blegen – Rawson 1966, 85.
30 Blegen – Rawson 1966, 84.
31
Hackl 1912, 223 Taf. 19. Hirsch (1980, 456) verweist darauf, dass in Abweichung von der konservativen
Rekonstruktion durch Hackl eine durchgehende Einteilung des Megaronbodens und insbesondere von dessen
um den Herd gelegenen mittleren Bereich auch für Tiryns plausibel ist; bereits Rodenwaldt hatte nach Ansicht
des Megaronbodens von Mykene vermerkt, dass auch in Tiryns »bei der Rekonstruktion des Planes die Quadrierung überall bis unmittelbar an den Herdrand fortgesetzt [hätte] werden müssen. Bei dem Entwurf dieses
Planes war darauf verzichtet worden, weil man nicht wußte, welche künstlerische Lösung das Zusammenstoßen des Rechteckmusters mit dem Kreis gefunden habe. Jetzt zeigt es sich, daß es zu griechisch empfunden
war, eine solche Lösung überhaupt zu erwarten« (Rodenwaldt 1919, 89–90). Abbildung 5 ist gegenüber der
Darstellung bei Hackl entsprechend ergänzt.
GOING ROUND IN CIRCLES
199
aus Sicht des Thronenden verweist, ließe sich im Falle der Tirynther Delphine unter Umständen die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass diese – eher unseren Sehgewohnheiten
entsprechend und wie die Oktopoden mit dem Kopf nach oben orientiert – eine gerade
entgegengesetzte Orientierung aufweisen32 . Ebenso ließe sich erwägen oder zumindest
spekulieren, dass die eigentümliche Rasterabweichung im pylischen Megaronboden südöstlich des Herdes der Blicklenkung gedient haben könnte, in diesem Falle der Lenkung
der bereits angesprochenen flüchtigen Seitenblicke vor Erreichen der Position dem Thron
gegenüber33; es dürfte allerdings kaum möglich sein, ein zwingendes Argument ins Feld
zu führen, diese Annahme anderen Erklärungen, z. B. der Vermutung von ›Pfusch am
Bau‹, vorzuziehen34 . So ist es unabhängig von den beiden letztgenannten Überlegungen
vor allem bedeutsam, die allgemeine, in zwei Richtungen wirksame Blickachse und weniger eine konkrete Blickrichtung hervorzuheben. Diese Achse liegt quer zur Laufrichtung
des in das Megaron Eintretenden35 .
Und eben in der durch diese Achse vorgegebenen Blickrichtung kommt auch die
auf den Sitz des Herrschers bzw. den sitzenden Herrscher bezogene Freskenkomposition
am besten zur Geltung, die für die Thronwand des Megarons in Pylos belegt ist. Neben
den Resten der Bankettszene mit Leierspieler, die nicht unmittelbar auf den Thronplatz
bezogen ist, bildet bekanntlich ein Greif-Löwe-Paar das zweite Hauptelement der Verzierung dieser Wand, das durch aus Sicht des Betrachters links des Thrones in Versturzlage
gefundene Fragmente belegt ist. Die bereits von den Ausgräbern vorgeschlagene antithetische Ergänzung dieses heraldischen Motivs durch ein weiteres Greif-Löwe-Paar rechts
32
Hackl geht indes explizit von einer einheitlichen Orientierung von Oktopoden und »nach unten tauchenden Delphinen« aus (Hackl 1912, 224. Vgl. 226. 230: »ins Wasser tauchende Delphine«) und auch Hirsch (1977,
38) teilt diese Auffassung, für die auch die Orientierung des Schuppenmusters in den nicht figürlich verzierten Feldern spricht (vgl. allerdings hierzu Hackls [1912, 228] Verweis auf Rodenwaldt [1912, 80 Anm. 1] und das
von Hirsch [1980, 457] angeführte Vergleichsbeispiel in Pylos [Lang 1969, Taf. 98 d]). Eine nicht einheitliche
Orientierung von Feldern findet sich bei nicht figürlicher Verzierung z. B. im Megaronhof von Mykene (Hirsch
1977, 29–30, vgl. 31 hinsichtlich unterschiedlicher Orientierung in benachbarten Raumeinheiten) und darf bei
figürlicher Verzierung in Pylos für die Räume 49 und 50 vorausgesetzt werden (Blegen – Rawson 1966, 212.
214 Abb. 163).
33
Zumindest im kleinen Megaron in Tiryns könnten die von Südwesten nach Nordosten verlaufenden
Diagonalen roter und gelber Felder in ähnlicher Weise den Blick des Eintretenden zum Thronplatz gelenkt
haben (Hackl 1912, Taf. 20; klarer: Hirsch 1977, Taf. 11 Abb. 23). Da diese Diagonalen jedoch ein Resultat der
auch an anderen Stellen regelmäßig bei einer Verschiebung um ein Feld von Reihe zu Reihe wiederholten
Farbabfolge blau-rot-blau-geld (Hirsch 1977, 45) sind, ist hierin nicht zwingend eine intentionelle Blicklenkung
zu sehen.
34 Hirsch (1977, 47; Hirsch 1980, 457) verweist auf die relative Häufigkeit zumeist allerdings weniger auffälliger Unregelmäßigkeiten in Feldrastern, unter denen ein älterer Boden des Megarons in Mykene ein weiteres
markantes Beispiel geben dürfte (Hirsch 1977, 31); gleichzeitig erteilt sie der These, die Abweichung resultiere
aus der Schwierigkeit, im Bereich der Säulen eine Richtschnur zu spannen (Blegen – Rawson 1966, 83) eine
berechtigte Absage (Hirsch 1977, 34).
35
In Abweichung hiervon ist das Schuppenmuster im kleinen Megaron auf den Eintretenden ausgerichtet
(Anmerkung von Rodenwaldt in: Hackl. 1912, 222 Anm. 1).
200
ULRICH THALER
Abb. 5 | Thronraum 7 des großen Megarons im Palast von Tiryns, a: Rekonstruktion eines Fußbodenfeldes mit
Darstellung eines Oktopus; b: Rekonstruktion eines Fußbodenfeldes mit Darstellung eines Delphinpaares;
c: Rekonstruktion der Fußbodenmalereien.
des Thrones wurde zumeist akzeptiert36, verschiedentlich aber auch kritisch hinterfragt37.
Diese Diskussion soll an dieser Stelle nicht vertieft werden und wird in Ermangelung von
dem entsprechenden Wandabschnitt zuweisbaren Fragmenten von Löwen-, Greifen- oder
sonstigen Darstellungen kaum abschließend zu behandeln sein; wenn ich im Folgenden
eine antithetische Komposition annehme, dann nur in dem Verständnis, dass die vorgetragene Argumentation von dieser nicht abhängt. Wesentlicher ist für meine Überlegungen
der enge Bezug von Malerei und Thronendem, den John Bennet besonders anschaulich
herausgestellt hat:
36
37
Blegen 1956, 95 Taf. 40 Abb. 2; Blegen – Rawson 1966, 79; Immerwahr 1990, 136; Rehak 1995, 109.
Reusch 1958, 339; McCallum 1987, 97–101.
GOING ROUND IN CIRCLES
201
The fact that the wanax is apparently not actually depicted on the megaron wall is interesting and suggests that the composition only ›worked‹ when he was physically present
on the seat, his authority enhanced by the ›focalising‹ griffins and felines to either side of
the seat. The composition was only complete when a ›live‹ performance was enacted.38
Der Standpunkt, von dem diese Komposition und Interaktion sich dem Betrachter vollständig erschließen, ist offenkundig die gegenüberliegende Raumseite (Abb. 6). Wie bereits
ausgeführt bilden für den vom Eingang aus im Uhrzeigersinn dort angelangten Besucher
die Säulen nicht länger Sichthindernisse, sondern sogar eine Rahmung des Blickes auf
den Thron; genau dies gilt aber nicht nur für den Thron selbst, sondern in gleicher Weise
auch für die auf ihn bezogene Freskenkomposition: Von der Mitte der Südwestwand ist
zwischen der nördlichen und westlichen Säule ein beiderseits der Blickachse ca. 3,3 m
breiter Abschnitt der Thronwand zu sehen, der sich bei einem Standpunkt auf halber
Strecke zwischen Südwestwand und Herd auf ca. 3,7 m erweitert39 . Die Greif-Löwe-Paare
fallen demgegenüber in einen Bereich, der je nach Rekonstruktion mit ca. 2,6 m bis 3,2 m
rechts und links der Thronmitte anzusetzen ist 40. In die Bildkomposition wird also neben
Wandmalerei und dem menschlichen Handelnden auch ein architektonischer Rahmen
integriert, den in diesem Falle die Säule und auch der zwischen ihnen liegende, ebenfalls
malerisch verzierte große Rundherd bilden. Ein Hitzeflimmern über letzterem mag der
Figur des wanax noch eine zusätzliche Wirkung verliehen haben.
Ein letzter malerischer Befund, der in dieser Diskussion Erwähnung verdient,
stammt wiederum aus Tiryns: Es sind dies die von Rudolf Hackl beim Thronpodest festgestellten und in plausibler Anlehnung an die Fußbodenmalerei aus dem kleinen Megaron um das Podest umlaufend ergänzten Zierbänder41, durch die der sichtbar aus seiner
Umgebung herausgehobene Thronplatz erheblich vergrößert wird. Insbesondere – und
gerade diesbezüglich ist der Parallelbefund aus dem Hauptraum des kleinen Megarons
eindeutig – wird durch diese Vergrößerung die Lücke zwischen Thronplatz und Herd fast
vollständig geschlossen, so dass nicht nur die Verbindung beider architektonisch betont
wird, sondern auch zwischen ihnen für den hypothetischen Besucher, der McCallums
38 Bennet 2001, 34. Auch für Bennets Erläuterung gilt, dass sie im Kern, hinsichtlich des engen Bezugs von
Malerei und menschlichem Akteur, nicht von der Annahme einer antithetischen Komposition abhängt –
gleichwohl wirkt sie im Kontext dieser Annahme, wie sein Verweis auf die »›focalising‹ griffins and felines«
verdeutlicht, besonders überzeugend.
39 Die Werte wurden auf dem bei Nelson (2001, 275 Abb. 15) abgebildeten Steinplan gemessen, wobei der
dort falsch angegebene Maßstab nach dem Gesamtsteinplan des Hauptgebäudes (Nelson 2001, 274 Abb. 14)
korrigiert wurde.
40 Der kleinere Wert orientiert sich an McCallums (1987, 198 Taf. 9), der größere an Youngers (1995, Taf. 76)
Rekonstruktion, wobei bei letzterer der Maßstab um den Faktor 10 berichtigt und die beiden äußeren Tiere der
hier als Löwe-Greif-Löwe-Dreiergruppen rekonstruierten Tierdarstellung nicht berücksichtigt wurden; selbst
unter deren Einbeziehung ergibt sich nur ein Raumbedarf von ca. 3,7 m beidseitig der Mittelachse. In de Jongs
Zeichnung bei Lang (1969, Taf. 125) ist leider weder der Thronplatz noch ein Maßstab angegeben.
41
Hackl 1912, 223–224 Taf. 19. 20.
202
ULRICH THALER
Abb. 6 | a: Querschnitt und Grundriss des mittleren Bereiches des Thronraums 6 des Palastmegarons von Pylos mit Angabe des maximalen binokularen Blickfeldes (horizontal ±30°, vertikal +30°/-45°) eines dem Thron
gegenüber auf halber Strecke zwischen Rundherd und Südwestwand positionierten Betrachters, Augenhöhe
ca. 1,65 m (M. 1 : 250); b: Rekonstruktion der Ansicht des Thronplatzes im Palastmegaron von Pylos anhand
des in »a« angegebenen Blickfeldes.
Annahme folgend von der Tür direkt zum Thron schreitet, überhaupt kein Platz verbleibt,
vor dem Thron Aufstellung zu nehmen. Denn obwohl eine rein ornamentale Funktion
der Zierbänder in Ermangelung direkter Zeugnisse nicht vollständig auszuschließen ist,
erscheint doch die Annahme unausweichlich, dass mit dieser deutlichen Markierung ein
Bereich angegeben wurde, zu dem als engstem persönlichen Raum des thronenden Herrschers auch Besucher des Megarons kaum unterschiedslos, wenn überhaupt, Zugang erhielten. Im kleinen Megaron ist die westliche Begrenzung des Thronplatzes sogar nach
Norden, anscheinend auch nach Süden und damit mutmaßlich über die ganze Länge des
Raumes fortgesetzt, wodurch der gesamte Ostteil des Raumes mit dem Thronplatz gegenüber dem größeren Westteil abgesetzt wird 42 . Dass diese Unterteilung, für die im großen
Megaron keine Hinweise vorliegen, bedeutsam und nicht nur Mittel etwa zu dem Zweck
42
Hackl 1912, 222 Taf. 20.
GOING ROUND IN CIRCLES
203
ist, eine Unregelmäßigkeit im Feldraster auszugleichen, deutet der Umstand an, dass
sie ihrerseits offenbar Ursache einer Unregelmäßigkeit ist, nämlich der geringeren Breite der Felder im östlichen Raumteil 43 . Auch diese Beobachtungen verweisen wieder in
großer Nachdrücklichkeit auf die dem Thron gegenüberliegende Seite des Saales als den
Punkt, von dem aus ins Megaron vorgelassene Besucher mit dem wanax in Interaktion
traten.
6 Ideologische Komponenten eines ›Gesamtkunstwerkes‹
Dies führt uns zurück zum Blick von dort auf den Thron, wobei über architektonische
Rahmung und Wandmalereischmuck hinaus noch die ideologischen Konnotationen des
dargebotenen Bildes anzusprechen sind. Verschiedentlich ist die Säule als symbolisch
aufgeladenes Element der mykenischen Architektur diskutiert worden. Beispielsweise
wurde die Lesung der Säule im Löwentorrelief als Chiffre für den Palast als Ganzen vorgeschlagen 44 – freilich ein Deutungsvorschlag unter mehreren 45, der an dieser Stelle indes
dadurch an Attraktivität gewinnt, dass das Relief mit seinen antithetisch die Säule flankierenden mutmaßlichen Löwen eine höchst seltene monumental ausgeführte Parallele
zum vermuteten antithetischen Kompositionsschema der pylischen Thronfresken bildet.
Obgleich dies angesichts des Abrutschens der Thronwand im mykenischen Megaron rein
spekulativ bleiben muss, ist es interessant, auf die Möglichkeit eines bildlichen Bezugs
zwischen Stationen auf dem Weg zum Thron und der direkten Umgebung des Thrones
zu verweisen, insbesondere, wenn die Position des Herrschers im Bildschema durch eine
auf ein charakteristisches Bauelement des Thronsaales verweisende Architekturchiffre
besetzt werden kann 46.
Noch bedeutsamer und in ihrer Interpretation wohl weniger strittig ist die visuelle
Einbeziehung des großen Rundherdes im zentralen Vordergrund des Blickfeldes. James
C. Wright hat zu Recht darauf verwiesen, dass angesichts der zentralen Position und
unverkennbaren Monumentalisierung des Rundherdes im Thronsaal es angemessen
43
Hirsch 1977, 37. Nach Hackls (1912, Taf. 20) Rekonstruktionszeichnung schließt diese Trennlinie
näherungsweise an der rechten Türwange mit der Türangel ab, während die von ihr zusammen mit den vier
östlichen senkrechten Felderreihen eingenommene Breite nahezu derjenigen von vier der westlichen Reihen
entspricht.
44 Erstmals von: Adler 1865, Sp. 9–10; in der Folge ähnliche Argumentation u. a. bei: Mylonas 1957, 28;
Åström – Blomé 1965, 188–189; Wright 1994, 58. Eine gute Zusammenfassung der Forschungsdiskussion bieten Åström – Blomé (1965, 160–176. 187).
45
Für die Säule als anikonisches Kultbild Stellungnahmen u. a. bei: Evans 1901, 156–158; Wace et al. 1921–
1923, 16.
46 Querbezüge zwischen verschiedenen Stationen auf dem Weg zum Thronraum lassen sich am besten in
Tiryns im Gebrauch von Konglomerat (Küpper 1996, 273 Abb. 220, 2; Maran 2006, 90 Taf. 12) und in der
Fassadengestaltung der Propyla und des großen Megarons (Dörpfeld 1886, 241; Siedentopf in: Jantzen 1975, 29;
Küpper 1996, 111–112) verfolgen.
204
ULRICH THALER
erscheint, nicht einfach, wie Klaus Kilian vorgeschlagen hatte, von einer mykenischen
wanax-Ideologie zu sprechen 47, sondern von einer Herd-wanax-Ideologie48. Unabhängig
davon, wie man sich diesen Begriff konkret mit Leben gefüllt vorstellt – eine Anlehnung
an den späteren oikos-Begriff liegt nahe, setzt aber eine Diskussion der Herdstellen in
nichtpalatialen Kontexten voraus49 –, ist die unmittelbare Erfahrbarkeit der engen Beziehung zwischen dem thronenden Herrscher und dem zentralen ›Staatsherd‹ im Blick
durch das Megaron offenkundig von Bedeutung für die Wirkung des Konzeptes im zeitgenössischen Kontext. So erscheint wiederum zum einen der von McCallum vermutete
Gang von der Thronsaaltür nach rechts, der zwischen Herd und Thron führt, in hohem
Maße unplausibel und zum anderen das von Bennet angedeutete Bild dahingehend ergänzt, dass nicht nur Wandmalerei, menschliche(r) Handelnde(r) und, wie zuvor angemerkt, architektonische Rahmung, sondern auch die symbolischen Konnotationen der
architektonischen Elemente in gleichem Maße wie diejenigen der Wandbilder zu einem
›Gesamtkunstwerk‹ arrangiert waren.
7 Der Kreis schließt sich (für wenige)
Mit den bisherigen Ausführungen dürften die Annahme einer Bewegung von der Thronraumtür nach links und die Bedeutung der dem Thron gegenüberliegenden Raumseite
für Besucher hinlänglich begründet sein; zu behandeln bleibt die Fortsetzung des Weges
zum Thron im Sinne der zuvor postulierten Bewegung im Uhrzeigersinn um den Zentralherd. Hierzu ist zunächst anzumerken, dass keinesfalls davon auszugehen ist, dass
jedem in den Thronsaal vorgelassenen Besucher ein weiteres Vordringen in Richtung
des Thrones und Herrschers gestattet war; es sei in diesem Kontext beispielhaft an die
Verlängerung der malerischen Thronplatzbegrenzung über die gesamte Ostseite des kleinen Tirynther Megarons erinnert. Die allgemeine Bedeutung abgestufter Zugangsrechte
für das Verständnis der mykenischen Palastarchitektur ist in der jüngeren Vergangenheit mit zunehmender Klarheit herausgearbeitet worden: Wright hat die Architektur der
Paläste als »a series of concentric rings of symbols that increasingly focus attention on
the […] megaron with its monumental hearth and royal throne«50 beschrieben und im
selben Zusammenhang z. B. für den Tirynther Palasthof Zugangsbeschränkungen vermutet51; Lisa Bendall hat anhand der Trinkgefäße aus Pylos sehr anschaulich dargestellt,
wie eine Abstufung von Zugangsrechten bei festlichen Anlässen zum Tragen kam und
selbst über bewegliche Funde verfolgt werden kann, obgleich ihre Studie hinsichtlich der
47
48
49
50
51
Kilian 1988.
Wright 1994, 56–59.
Tournavitou 1999.
Wright 1994, 51.
Wright 1994, 60.
GOING ROUND IN CIRCLES
205
Materialgrundlage nicht unbestritten geblieben ist52; ich selbst habe unter Bezug auf transägäische architektonische Parallelen und unter Heranziehung hethitischer Textquellen
darauf verwiesen, wie Abstufungen von Zugangsrechten sich in konkreten Handlungen
ausdrücken konnten und nicht nur festliche Anlässe, sondern auch das alltägliche Handeln prägten53 . Vor diesem Hintergrund erscheint die Annahme nur folgerichtig, dass
auch der Bereich gegenüber dem Thron für einen Teil und vielleicht den größeren Teil
derer, die Eintritt in den Thronsaal erlangten, den Schluss- bzw. Umkehrpunkt ihres Weges darstellte. Dass damit schon aus raumtheoretischer Sicht, aufgrund der positiven Korrelation zwischen der Öffentlichkeit des Kontextes und der Redundanz architektonischer
Hinweisgeber54 , eine geringere archäologische Sichtbarkeit der fortgeführten Bewegung
zum Thron hin zu erwarten steht und sich die Befundlage auch in der Praxis als weniger
eindeutig erweist als die zuvor hinsichtlich der Orientierung von der Thronsaaltür nach
links dargestellte Situation, soll jedoch nicht davon abhalten, eine Diskussion von Aspekten der weiteren Weggestaltung zu versuchen.
In Pylos sind zwei mögliche Wegestationen bei der fortgesetzten Annäherung an den
Thron zu fassen: der bei der westlichen Säule gefundene dreifüßige Opfertisch und die
direkt nordwestlich des Thronplatzes befindliche sog. Libationseinrichtung55 . Obschon
es leicht fiele, konkrete Handlungsabläufe unter Einbeziehung beider Elemente vorzuschlagen, muss einschränkend aber direkt angemerkt werden, dass beim Opfertisch als
nicht-fixem, also mobilem Element Auffindungs- und Nutzungsort(e) nicht identisch sein
müssen, wobei die Auffindung von Miniaturkylikes in situ auf dem Opfertisch deutlich
hierfür spricht; selbst bei einer Nutzung in der Fundposition bleibt aber eine Einordnung
in den Kontext der Huldigung des wanax von der dem Thron gegenüberliegenden Seite des Herdes denkbar. Bei der Libationseinrichtung, die aus zwei vor der Nordostwand
gelegenen, durch ein schmale Rinne verbundenen runden Vertiefungen im Stuckboden
besteht, handelt es sich hingegen um ein fixes Element, das bislang hauptsächlich mit
dem Herrscher und durch ihn ausgebrachte Trankopfer in Beziehung gesetzt wurde.
Die symmetrische Gestalt der Installation verdeutlicht jedoch, dass ein Ausgießen eines
Trankopfers, womöglich sogar für den wanax selbst56, durch einen seitlich an den Thron
tretenden Besucher oder auch ein gemeinsames Darbringen einer Libation durch Thronenden und Besucher ebenso in Erwägung gezogen werden kann.
Nicht unproblematisch ist aufgrund der insbesondere durch den Tirynther Megaronboden verdeutlichten starken Hervorhebung des erweiterten Thronplatzes aus seiner
Umgebung die Frage nach dem letzten Standpunkt der in die Nähe des Herrschers vorgelassenen Besucher. Durften diese nicht direkt vor den Thron – und damit in den Bereich
52
53
54
55
56
206
Bendall 2004, 112–124; Kritik insbesondere bei Hruby 2006, 109 Anm. 40.
Thaler 2007, 304–305.
Hall 1966, 96; Rapoport 1982, 84. 117. 145. 149–152; Sanders 1984, 93. 439–440. 545.
Blegen – Rawson 1966, 88.
Vgl. Säf lund 1980, 241.
ULRICH THALER
der malerischen Thronplatzmarkierung – treten und mussten folglich nach einer letzten
Station seitlich des Thrones aus einer Sackgasse umkehren und den zum Thron hin genommenen Weg zurückverfolgen? Bestand hier eine weitere Abstufung von Zugangsrechten?
Antworten bleiben hier wohl spekulativ. Am wahrscheinlichsten ist meines Erachtens,
dass nur ein kleiner und sehr exklusiver Kreis von Besuchern überhaupt auf die Thronwandseite der Megaronhaupträume vorgelassen wurde und dass diese dann auch in die unmittelbare Umgebung des wanax eintreten durfte – ob diese nun, wie in Tiryns, malerisch
klar herausgehoben oder, wie mutmaßlich in Pylos, nur durch die Präsenz des Herrschers
selbst definiert war –, die sie danach in Richtung der Thronsaaltür wieder verließen.
8 Ausblick: Weiterführende Überlegungen und ein Perspektivwechsel
Unabhängig von der Beantwortung dieser letzten Fragen scheint die grundsätzliche Akzeptanz einer Bewegung im Uhrzeigersinn um den Zentralherd herum oder zumindest
einer entsprechenden primären Orientierung des Besucherverkehrs in den Haupträumen
der mykenischen Palastmegara unausweichlich. Diese Erkenntnis ist sowohl per se von
Interesse als auch hinsichtlich neuer Perspektiven, die sie eröffnet und von denen hier
nur zwei kurz angedeutet werden sollen.
Zum einen stellt sich die Frage, ob die Kreisbewegung, die in einem architektonischen
Kontext, der eine strenge Kontrolle sozialer Normen erwarten lässt, an dem symbolisch
ebenso wie räumlich zentralen Rundherd orientiert ist, über ihre Rolle in der wahrnehmungsmäßigen Erschließung dieses baulichen Kontextes für den Besucher hinaus nicht
selbst symbolisch aufgeladen ist und z. B. eine kosmologische Bedeutung transportiert.
Obschon in einem nichtstaatlichen Kontext verankert, liefert etwa das seinerseits u. a.
durch ethnographische Schilderungen inspirierte sun-wise model, das zur Erklärung der
Struktur eisenzeitlicher britischer Rundhäuser vorgeschlagen wurde57, ein gutes illustratives Beispiel der Art von Phänomenen, an die sich hier denken lässt. Konkrete Vorschläge
dürften jedoch in Anbetracht der für die mykenische Kultur verfügbaren Quellen schwer
zu untermauern sein.
Zum anderen liegt die Vermutung nahe, dass mit der Bewegungsrichtung im Thronsaal auch die Leserichtung der dort angebrachten Wandmalereien zusammenfällt, in
ähnlicher Weise wie dies im assyrischen Kontext Barbara N. Porter für die Thronsaalreliefs im Nordwestpalast von Kalhu dargestellt hat58. Angesichts der Anlehnung an die
˘
Wahrnehmung des sich in der Architektur bewegenden Besuchers dürfte diese Annahme
letztlich plausibler sein als die von mir an anderer Stelle für das Megaron von Pylos angedachte, eher – wenn auch nicht ausschließlich – aus der Vogelperspektive der Grund57
58
Fitzpatrick 1994.
Porter 2003, 182–188.
GOING ROUND IN CIRCLES
207
rissbetrachtung schlüssige Möglichkeit einer Lesung im Sinne einer binären Opposition
zweier in innerer und äußerer Hälfte des Thronsaales repräsentierter Konzepte59. Eine
Überlagerung und Komplementarität dieser beiden und unter Umständen noch anderer
Leseweisen ist natürlich denkbar. Gemeinsam ist beiden Lesevorschlägen in jedem Falle
leider die Schwierigkeit, sie trotz der lückenhaften oder gänzlich fehlenden Überlieferung der Wandmalereien in den Palastmegara in Pylos und Tiryns als Grundlage einer
konkreten, detaillierten Lesung heranzuziehen. Umso erfreulicher ist die Übereinstimmung, die sich mit der von Gerhart Rodenwaldt bereits vor langer Zeit vorgestellten Interpretation der Thronraumfresken von Mykene ergibt. Rodenwaldt erschließt nach Motivik
und Fundlage der erhaltenen Fragmente eine Darstellung, die von der Tür aus über den
nördlichen Teil der Westwand und die Nordwand hinweg »von links nach rechts abzulesen
ist«60 und in einer »fortschreitende[n] Handlung […] die Rüstung der Wagen im Lager, die
Fahrt zum Kampf und die Kampfszenen selbst«61 als aufeinander folgende Episoden einer
Schlacht schildert. Obwohl die Fortsetzung des Frieses durch den Absturz der Ost- und
Südwand des Megarons in die Chavos-Schlucht verloren ist und Rodenwaldt letztlich nur
die Lagerszene links der Tür und die Schlachtdarstellung, die Streitwagen und Fußsoldaten umfasst und wohl um eine große Architekturzeichnung in der Mitte der Osthälfte
der Nordwand angeordnet war, klar belegen und verorten kann62, während für die »Fahrt
zum Kampf« klare Indizien fehlen, ist die Identifikation der Leserichtung überzeugend
und somit die Parallele zur hier vorgestellten Argumentation augenscheinlich63 .
Während sich trotz dieser Parallele in den beiden zuletzt angesprochenen Punkten insgesamt zwar Perspektiven, aber noch keine eingehenderen Interpretationen erschließen, sei
zum Schluss ein Perspektivwechsel versucht, der ein letztes Indiz zur Stützung der Hauptthese dieses Aufsatzes liefern mag und zurück an einen der Ausgangspunkte der obigen
Überlegungen führt, genauer gesagt zu der in den Wandmalereien, wie Fragmentkomplex
45 H 6, reflektierten Bedeutung von Prozessionen innerhalb des mykenischen Hofzeremoniells. Nachdem zuvor hauptsächlich das sich dem Besucher darbietende Bild des Thronraums behandelt wurde, ist zur Perspektive des thronenden Herrschers anzumerken, dass
eine Reihe von Gabenträgern, die sich hypothetisch von der Tür des Thronsaals direkt auf
seinen Sitz zu bewegten, für den wanax zwar zeitlich als Folge, aber nicht visuell als Prozession erfahrbar wäre. Eine durch das ›Fenster‹ zwischen den Säulen auf der Gegenseite
des Saales schreitende Gabenträgerreihe wäre hingegen als Prozession im Wortsinne ›ersichtlich‹ – und böte ein Bild, das direkt der Darstellung der Wandmalereien entspräche.
59 Thaler 2006, 102.
60 Rodenwaldt 1921, 44.
61
Rodenwaldt 1921, 59.
62 Rodenwaldt 1911, 245–247; Rodenwaldt 1921, 24–45, bes. 29. 43. 44.
63 Hierfür ist u. a. bedeutend, dass die Lagerszene nicht nur, wie von Immerwahr (1990, 123) verkürzend
wiedergegeben, allgemein der Westwand, sondern, wie Rodenwaldt (1921, 29. 44) an zwei Stellen betont, im
Speziellen dem links der Tür gelegenen Nordabschnitt der Westwand zuzuweisen ist.
208
ULRICH THALER
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Abbildungsnachweis
Abb. 1 a: Photographie A. Brysbaert, digitale Rekonstruktion der Frontalansicht U. Thaler;
Abb. 1 b: nach Rodenwaldt 1912, Taf. 8; Abb. 2: nach Graham 1960, 52 Abb. 12; Abb. 3:
nach McCallum 1987, 195–197 Taf. 8 a–c, digitale Zusammensetzung M. Kostoula;
Abb. 4: Zeichnung H. Sulze, reproduziert mit Genehmigung des Tiryns-Projektes
des DAI; Abb. 5 a: nach Rodenwaldt 1912, Taf. 21, 4; Abb. 5 b: nach Rodenwaldt 1912,
Taf. 21, 3; Abb. 5 c: nach Rodenwaldt 1912, Taf. 19; Abb. 6 a: nach Blegen – Rawson 1966,
Taf. 418; Abb. 6 b: Zeichnung U. Thaler.
214
ULRICH THALER
Ortwin Dally
Bild – Raum – Handlung. Die Faustinathermen in Milet
This paper discusses the furnishings of the imperial-era Faustina Thermae in Miletus, which in recent years
have been the subject of an ongoing reexamination by the Antikensammlung Berlin and the Deutsches
Archäologisches Institut. The studies and depictions conducted thus far of the building’s various construction
phases and its decoration with inscriptions, sculptures and graffiti between the 2nd and 7th century A.D. have
permitted some observations on the connection between sculptural decoration and the surrounding space, as
well as on how the visitors moved through the space and what acts they performed. The sequence of spaces
visited by the bathers in the Thermae facility, one of the so-called »ring type,« was to a certain extent predetermined by the builders. In the early Byzantine period this sequence underwent changes every bit as significant
as those undergone by the interior furnishings.
Bilder spielen in der Klassischen Archäologie von Anbeginn an eine zentrale Rolle, nicht
nur als Medium der Darstellung, sondern auch als Objekte der Forschung. Im Vordergrund des Interesses stand lange Zeit das Paradigma von Original und Kopie 1 . Seit den
siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts rückten neue Fragen in den Vordergrund
des Interesses: Die Kontexte von Bildwerken wurden bedeutsam für die Frage nach deren
politischer Aussage und ihrer konkreten Funktion. Visuelle Gesamtkomplexe, ihre komplizierte, sich wandelnde Ästhetik, ihre Wahrnehmung und ihre Rolle in der Gestaltung
des antiken Lebensraumes sind aber bislang noch immer wenig analysiert, geschweige
denn systematisch erforscht: als umfassende Bilder, nicht als (figürliche) Bilder im Kontext. Neue Impulse hat die Debatte durch raumbezogene Forschungsansätze in der Kunstgeschichte und der Archäologie erfahren2. Unter Weiterentwicklung von erstmalig um
die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entwickelten Ansätzen haben sich solche als
besonders weiterführend erwiesen, die Raum nicht als eine physische Hülle oder einen
Container begreifen, sondern als das Resultat eines Wechselspiels zwischen gebautem
Raum in Form von festen Grenzen und der Rezeption durch Menschen. Dadurch werden
Räume zum Resultat sozialer Interaktion3 . Das bedeutet, dass die Erfahrung von Räumen
durch die Umgebung geprägt wird, aber auch dass solche Räume erst durch soziale und
kulturelle Handlungen hervorgebracht werden.
Römische Thermen, die – meistens im Zentrum der Städte des Imperium Romanum gelegen – als sehr repräsentative und aufwendige Bauten gelten dürfen, eignen sich
für eine so verstandene Raumbetrachtung, weil nicht nur aufgrund der archäologischen
Für wertvolle Hinweise bin ich Martin Maischberger und Peter I. Schneider (beide Berlin) sehr zu Dank
verpf lichtet.
1
Junker – Stähli – Kunze 2008; Bartsch – Becker – Bredekamp – Schreiter 2010.
2
Eine Übersicht bietet Pfisterer 2003, 295–296 (s. v. Raum).
3
Jöchner 2008, 11.
BILD – R AUM – HANDLUNG. DIE FAUS TINATHERMEN IN MILE T
215
Befunde, sondern auch aufgrund der epigraphischen und literarischen Überlieferung sowohl Informationen zur Ausgestaltung von Räumen und einer bestimmten Abfolge von
Räumen während des Badevorganges als auch zu Handlungen, die in den durchweg vom
Kaiser und/oder vermögenden Bürgern der Städte gestifteten Bauten vorliegen. Sie sind
aber bislang kaum unter einer raumbezogenen Fragestellung im oben genannten Sinne
untersucht worden, in der Forschung ging es bislang primär um Fragen der Wasserversorgung, der physischen Raumgestaltung und Raumtypologie4 . Antike Schriftquellen legen
aber durchaus nahe, dass Räume in römischen Thermen schon in der Antike als Handlungsräume verstanden worden sind, sie lassen darüber hinaus erkennen, wie Räume von
Betrachtern wahrgenommen worden sind. Ein prägnantes Beispiel ist die Schrift Ἱππίας
ἢ Βαλανεῖον des Lukianos von Samosata. Der Autor schildert einen Rundgang durch ein
fiktives römisches Bad:
Zunächst ein Torbau mit breiten Treppen, eher schräg als steil, zur Bequemlichkeit
der Hinaufgehenden. Ist man dann in diesen eingetreten, so empfängt einen ein sehr
großer gemeinsamer Saal, der den Dienern und Sklaven einen bequemen Aufenthalt
gewährt und der zur Linken der der Schlemmerei geweihten Räume liegt; auch diese
passen sehr wohl zu einem Bade. Nette und sehr helle Innenzimmer. Daran schließt
an diese ein Saal an, der zwar für ein Bad eigentlich überflüssig ist, hingegen notwendig zur gastlichen Aufnahme der Wohlhabenderen. Nach diesem kommen beiderseits
ausreichende Garderoben für die sich Entkleidenden and dazwischen ein sehr hoher
und strahlend heller Saal, der drei Becken mit kaltem Wasser enthält, mit lakonischem
Marmor geziert ist und weiße Marmorstatuen von altertümlicher Art birgt, Hygieia und
einen Asklepios.
Treten wir ein, so nimmt uns ein gelinde geheizter Saal auf, aus dem uns eine keineswegs unangenehme Wärme entgegenkommt, sehr groß, beiderseits abgerundet und
hinter diesem zur rechten ein sehr freundliches Gemach, das bequeme Gelegenheit bietet, sich zu salben, und das beiderseits mit phyrgischem Marmor verzierte Eingänge hat.
Darauf folgt ein Saal, der von allen der schönste ist, auch er bis oben an die Decke von
phrygischem Marmor schimmernd; sehr behaglich darin herumzustehen und zu sitzen
und ohne Schaden (nach dem Bade) zu verweilen, und sehr geeignet, sich darin massieren zu lassen. Daran schließt der geheizte, mit numidischem Marmor ausgelegte Durchgangsraum. Der innere Saal endlich ist prächtig, von reichem Licht durchflutet und bunt
wie Purpur gefärbt. Wenn Du gebadet hast, brauchst Du nicht durch dieselben Räume
wieder zurückzugehen, sondern kannst schnell durch den mäßig warmen Saal wieder
zum Kaltbad kommen. Auch in diesen Räumen allen herrscht klares Licht und heller
Tag; ferner ist überall die Höhe angemessen, und die breite steht im richtigen Verhältnis
zur Länge, und so entfaltet sich überall Anmut und Schönheit. Denn, wie der treffliche
4
Brödner 1983; Manderscheid 1988; Nielsen 1990; Lenoir 1991; Yegül 1992; Weber 1996; Manderscheid
2004; Fagan 1999; von Hesberg 2005, 169–182.
216
ORT WIN DALLY
Pindar sagt: ›Wenn man ein Werk beginnt, so muß man ihm ein strahlendes Angesicht
geben.‹ Das dürfte hauptsächlich durch die Lichtfülle und Lichtöffnungen erreicht sein.
Denn klug, wie er ist, hat Hippias den Saal der kalten Bäder nach Norden vorspringen
lassen, doch so, dass er auch am südlichen Himmel seinen Anteil hat; die Säle hingegen, die vieler Wärme bedürfen, hat er dem Südost-, Süd- und Westwind ausgesetzt.
Was soll ich Dir nun noch die Ringplätze schildern und die zum allgemeinen Brauch
dienenden Einrichtungen der Kleiderbewahrer, die zur Bequemlichkeit und Verhütung
von Schädigungen durch eine schnellen, kurzen Weg mit dem Bad verbinden sind? Das
ist das Werk, das der bewundernswerte Hippias uns vor Augen gestellt hat. Er vereinigt
alle Vorzüge eines Bades: Die Zweckmäßigkeit, die Bequemlichkeit, die Helligkeit, die
Symmetrie, die Anpassung ans Gelände, die Möglichkeit, es sicher (vor Dieben) zu benutzen; und dazu hat es noch andere Einrichtungen, mit denen der Baumeister es umsichtig ausgestattet hat: so mit zwei abseits liegenden Abortanlagen und mit zahlreichen
Ausgängen; ferner hat es zwei Stundenweiser, nämlich eine Wasseruhr mit Schlagwerk
und eine Sonnenuhr.5
Der Text lässt erkennen, dass es Räume mit unterschiedlichen Funktionen gab, die dem
Sport, der Entspannung und dem Baden galten, dabei auch verschiedenartig ausgestattet waren und sich durch abweichende Temperaturgrade, Wasserangebot und Lichteinfall
unterschieden. Der Eindruck der Räume wurde aber auch von Statuen wie denen des
Asklepios und der Hygieia bestimmt. Der Text verdeutlicht schließlich, dass die Thermen
von Lukian in Bewegung erfahren wurden und dass sich der Raumeindruck einer bestimmten sozialen Praxis des Erholens und des Badens verdankte.
Der Versuch, Thermen als einen ›relationalen‹ Raum zu begreifen, bildete den Ausgangspunkt für ein seit 2006 laufendes Forschungsprojekt, das die Antikensammlung
der Staatlichen Museen zu Berlin (Prof. Dr. Andreas Scholl, Dr. Martin Maischberger) und
das Deutsche Archäologische Institut (Prof. Dr. Ortwin Dally, Dr.-Ing. Peter I. Schneider)
verfolgen6. Im Zentrum des Projekts steht die Frage, wie sich der ca. 3500 m 2 umfassende Komplex der Faustinathermen in Milet als visueller und räumlicher Gesamtkomplex
von seiner Erbauung an bis in die Spätantike entwickelt hat (Abb. 2. 3). Die Forschungen
erlauben erste Beobachtungen zum Zusammenhang von Skulpturenausstattung und
umgebendem Raum, aber auch zum Bewegungsablauf der Besucher. Die Abfolge der von
den Badegästen aufgesuchten Räume war teilweise vorgegeben, wurde allerdings in der
frühbyzantinischen Zeit ebenso wie die Ausstattung der Räume im Vergleich zur Situation in der Kaiserzeit verändert. Auf dieser Phase wird der Schwerpunkt der Ausführungen
liegen.
5
Lukian., Hippias 4–8 (dt. Übers. nach Brödner 1983, 94–96).– Vgl. dazu auch Schneider 1999, 57–69.
6
Zu den bisher erzielten Forschungsergebnissen vgl. Maischberger 2007a, 33–35; Maischberger 2007b,
237–251; Schneider 2008, 68–69; ZeitRäume, passim; Schneider im Druck; Dally – Maischberger – Schneider –
Scholl 2011. – Vgl. jetzt auch Bol et al. 2011, 81–88.
BILD – R AUM – HANDLUNG. DIE FAUS TINATHERMEN IN MILE T
217
Unter der Leitung von Theodor Wiegand war die Anlage zwischen 1905 und 1913
freigelegt worden, publiziert wurde sie von Fritz Krischen7. Die Anlage verkörpert einen
spezifischen architektonischen Typus, der sich im Osten des Römischen Reiches großer
Beliebtheit erfreute. Zunächst waren Gymnasien im griechischsprachigen Osten der Ort,
an dem sich ein wesentlicher Teil des öffentlichen Lebens der griechischen Städte abspielte, da hier junge Männer der jeweiligen Städte ausgebildet wurden. In ihnen wurden
die Werte vermittelt, die sie schließlich zu vollwertigen Bürgern machen sollten. In der
Kaiserzeit wurden die Gymnasien mit Thermen kombiniert8. In Milet wurde das erste
Thermengymnasion, die sog. Capitothermen, in der Zeit des Kaisers Claudius errichtet,
eine weitere Anlage entstand in einem Wohnquartier am Löwenhafen am Humeitepe.
Bereits in das 2. Jh. n. Chr. ist die Umwandlung des hellenistischen Gymnasions unmittelbar westlich des Stadions in eine Thermenanlage zu datieren. Die Faustinathermen als
die vierte und aufwendigste Thermenanlage in Milet zeigen die Bedeutung, die diesen
Badekomplexen als Brennpunkten öffentlichen Lebens in Milet zukam9.
Vorausgeschickt sei, dass die angeschnittenen Fragen nicht ganz einfach zu beantworten sind. Das hängt mit mehreren Gründen zusammen: Als Wiegands Mitarbeiter
den Komplex freilegten, waren sie mit meterhohen Verschüttungen konfrontiert, die sie in
vergleichsweise kurzer Zeit beseitigen ließen, ohne dass deren Inhalt akkurat dokumentiert oder überhaupt aufgehoben worden wäre. Auch die im Archiv der Antikensammlung
SMB im Original aufbewahrten Grabungstagebücher Wiegands enthalten keine detaillierteren Informationen. Dadurch werden auch heute noch chronologische Beobachtungen erschwert. Im Zuge der seit 2006 laufenden Arbeiten wurden ferner Funddepots freigelegt, die von den Erstausgräbern angelegt, aber nicht dokumentiert worden waren und
anschließend in Vergessenheit gerieten 10. Bei der Reinigung der Thermenräume während der seit 2006 laufenden Arbeiten tauchten sie wieder auf, die Funde können dabei in
den meisten, aber nicht in allen Fällen mit Sicherheit dem jeweiligen Raum zugewiesen
werden, in welchem sie angetroffen wurden 11 . Dadurch werden Aussagen zur monumen7
Milet I 9. – Vgl. auch Wiegand 1901, 903–913; Wiegand 1906, 249–265; Wiegand 1908; Wiegand 1911.
8
Vgl. von Hesberg 2005, 180.
9
von Hesberg 2005, 180 Abb. 50 a; ZeitRäume, 46–49 Abb. 6–10 (I. Blum); Bol et al. 2011, 79–81. – Eine
weitere Thermenanlage ist kürzlich von Philipp Niewöhner (DAI Abteilung Istanbul) 2009–2010 südlich der
Moschee freigelegt worden. Sie datiert in ihrem Ursprung auch in die Kaiserzeit.
10
Die Depots wurden vor allem in der östlichen Kammer 7 des ›Ambulacrum‹ (Raum 1), vor den Längswänden des Warmbaderaums 7, in den Bogennischen des großen Caldarium (Raum 9) und an mehreren Stellen in
Nebenraum 18 entdeckt.
11
Man kann mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass so gut wie alle klein- bis mittelformatigen marmornen Dekorationselemente und die Mehrheit der größeren Architekturglieder zu den Thermen gehören.
Ausnahmen sind wenige Architekturglieder in der Palaestra (weil diese dem Theater am nächsten liegt), die
sicher nicht hierhergehören. Bei einigen anderen Architekturgliedern in den südlichen Räumen ist mittlerweile eine Zugehörigkeit auch wahrscheinlicher geworden. – Weniger gut gesichert ist hingegen die Zugehörigkeit zu den jeweiligen Thermenräumen: Hier ist es sehr gut möglich, dass die Altgrabung Sammeldepots
angelegt hat, die für Funde aus mehreren Räume dienten.
218
ORT WIN DALLY
talen Ausstattung der Badeanlage erschwert. Schließlich zeigen die Skulpturen Spuren
von Überarbeitungen, Manipulationen und ›Restaurierungen‹, die zum Teil in eine relativchronologische Reihenfolge gebracht, jedoch nicht absolutchronologisch datiert werden
können. Beispielsweise war der Löwe im Frigidarium 4 offenbar schon in archaischer Zeit
existent, wie bereits Volker Michael Strocka bemerkt hat. Das Vorderteil des Löwen wurde
in der Kaiserzeit an zeitgenössische Vorstellungen angepasst und in einem dritten Schritt
durchbohrt, um Platz für eine Wasserleitung zu schaffen 12 .
Dennoch lassen der vergleichsweise gute Erhaltungszustand der Ruine und die Grabungen viele Beobachtungen zu: Die Thermen liegen zwischen Theater und Stadion am
östlichen Rand der sog. Theaterbucht und weichen signifikant von der Orientierung des
orthogonalen Schemas, nach dem die Stadt angelegt war, ab. Die Gründe hierfür konnten
ansatzweise im Zuge der laufenden Arbeiten ermittelt werden: Mit Hilfe einer geophysikalischen Prospektion und eines Grabungsschnittes im Bereich des sog. Ambulacrums
(Wandelhalle) konnten unterhalb eines bauzeitlichen Kanalsystems Reste eines Steinfußbodens aus schwarzen und weißen Kieseln, der vor dem 1. Jh. n. Chr. entstanden sein
dürfte, dokumentiert werden; letztere überlagerten wiederum ältere Kulturschichten bis
zum 4. Jh. v. Chr.13 . Da die Orientierung des Steinfußbodens derjenigen der Thermen
entspricht, ist hier unter Umständen eine Vorgängerbebauung in derselben Orientierung
zu fassen. Nicht auszuschließen ist, dass auch energetische Gesichtspunkte und/oder die
Lage des Hafenbeckens bei der Anlage der Thermen eine wesentliche Rolle spielten. Die
Badeanlage wird um die Mitte des 2. Jhs. n. Chr. erbaut worden sein. Hierfür sprechen
die Ergebnisse der seit 2006 vorgenommenen Sondagen 14 ebenso wie der Name »Bad der
Faustina«, der über zwei Inschriften aus den Thermen (s. u.)15 und eine weitere aus Didyma überliefert ist, wonach ein Bürger aus Milet namens Menandros die Faustina-Thermen durch einen Raum auf seine Kosten hatte ergänzen lassen16. Die Badeanlage dürfte
mindestens bis zum 6. Jh. n. Chr. genutzt worden sein, wie das Ergebnis der jüngst angelegten Schnitte gezeigt hat 17. Für eine Nutzungszeit von mindestens vier Jahrhunderten
12
Strocka 1977, 495–498 Nr. 7 Abb. 17–20. – s. auch u. Anm. 54.
13
Die geophysikalischen Untersuchungen und Bohrungen wurden 2008/2009 durchgeführt von der
Universität Kiel (Harald Stümpel), der Universität Marburg (Helmut Brückner) und der Universität Tübingen (Alexander Herda).
14
Insbesondere Sondage 6/2009, die in der sog. Wandelhalle angelegt wurde und Fundmaterial des
1.–2. Jhs. n. Chr. erbrachte. Demnach dürfte der Marmorfußboden der Halle in das 2. Jh. n. Chr. zu gehören.
15
Es handelt sich um ein Epigramm auf den Asiarchen Makarios, das sich auf einem Marmorblock
im Durchgang zwischen ›Ambulacrum› und Musensaal befindet, sowie eine Säule mit einem Epigramm auf
Tatianos aus dem ›Ambulacrum‹ (möglicherweise 60er Jahre des 4. Jhs. n. Chr.).
16
Wiegand 1958, Nr. 84; Busch 1999, 154.
17
Aufschlussreich war insbesondere Sondage 7/2009 in Raum 6 mit Funden, die sicher bis in das 6. Jh.
n. Chr. reichen. Dies wird vor allem durch die spätesten Objekte im Abwasserkanal unter dem Boden vor der
Nordwand des Saales nahegelegt. Das Spektrum der Fundmünzen aus allen Sondagen reicht ebenfalls bis in
die Mitte des 6. Jhs. n. Chr., mit deutlichen Schwerpunkten im 4. und 5. Jh. (laut vorläufiger Bestimmung der
rund 80 Münzen durch Joachim Gorecki, ehem. Universität Frankfurt a. M., im August 2010).
BILD – R AUM – HANDLUNG. DIE FAUS TINATHERMEN IN MILE T
219
spricht auch der epigraphische Befund in dem ›Ambulacrum‹ (s. u.). Damit stehen die
Faustinathermen nicht allein. Auch andernorts konnte in Kleinasien eine vergleichbar
lange Nutzungsdauer von Thermen beobachtet werden 18.
Der Rundgang lässt sich relativ gut rekonstruieren (Abb. 1). Die Besucher betraten
das Areal der Thermen über die Palästra. Diese quadratische Platzanlage, gesäumt von
Säulenhallen korinthischer Ordnung mit Kompositkapitellen, diente zur sportlichen
Ertüchtigung. Sie ist, soweit angesichts der nicht komplett erfolgten Freilegung zu beurteilen, möglicherweise erst gegen Ende des 2. Jhs. n. Chr. errichtet worden 19.
Östlich grenzte ein langgestreckter Raum, der – beiderseits gesäumt von je 13 kleineren Räumen – als ›Ambulacrum‹ diente20. Die Halle, die über drei Eingänge von der
Palaestra aus betreten werden konnte, war ein bevorzugter Standort für Ehrenstatuen und
Inschriften, die verdiente Bürger der Stadt rühmten. Den Durchgang zwischen ›Ambulacrum‹ und ›Musensaal‹ zierte eine aus vier Epigrammen bestehende monumentale Inschrift über zweien der Marmorblöcke des östlichen Gewändes. Danach hatte Makarios,
der sich erfolgreich im Kampf gegen die Goten 262/263 n. Chr. engagiert hatte, Restaurierungsmaßnahmen in den Bädern in Angriff genommen, die dann von Tatianos, praeses
Cariae (?), möglicherweise in den 60er Jahren des 4. Jhs. n. Chr. vollendet wurden 21 . Derselbe Tatianos wurde für seine Verdienste um die Thermen durch ein zusätzliches Säulenmonument im ›Ambulacrum‹ geehrt 22 . In zwei weiteren Inschriften, die die Gewändeblöcke zwischen dem ›Ambulacrum‹ und dem südlich angrenzenden Raum 6 zierten,
wurde schließlich ein Redner des 4.–5. Jhs. n. Chr., Hesychios, für weitere Reparaturmaßnahmen an den Wasserinstallationen gerühmt 23 . Wie Tatianos erhielt auch Hesychios
ein Statuenpostament im ›Ambulacrum‹ mit einer dritten Inschrift, die seine Verdienste
um die Badeanlage hervorhob24 . Im Zusammenhang damit könnten etwa Rohrleitungen
stehen, die im Zuge nachträglicher Umbaumaßnahmen der Wasserbecken in den Kaltbaderäumen 4, 5 und 6 sowie in den Nischen des Ambulacrums neu verlegt worden sind
(s. u.). Die Halle dürfte freilich nicht erst in der frühbyzantinischen Zeit für Statuenaufstellungen genutzt worden sein. Darauf deuten verschiedene kaiserzeitliche Statuenbasen
mit der Aufschrift »Agathe Tyche« hin, die in ›Ambulacrum‹ und ›Musensaal‹ geborgen
18
z. B. Südthermen von Perge (1. – Ende 7. Jh. n. Chr.): Atik 1995, 210. – Vediusgymansium in Ephesos
(Mitte 2. – 8. Jh. n. Chr.): Steskal 2008, 309–312.
19
ZeitRäume, 130–131 (M. Maischberger).
20 ZeitRäume, 125–126 (P. I. Schneider). – Zum Raumtypus, der auch gelegentlich als »Basilica Thermarum«
bezeichnet wird und den Raum zwischen Palaestra und dem Badetrakt markiert, vgl. Yegül 1992, 414–416
Appendix D; Schneider 1999, 57; Steskal – La Torre 2008, 298–299; Yegül 2010, 63. 76. 142. 146. 246.
21
Milet VI 1, n. 339 mit Anhang; Busch 1999, 154–169.
22 Milet VI 1, n. 340 mit Anhang; Busch 1999, 169–182.
23
Milet VI 1, n. 341-342 mit Anhang; Busch 1999, 181.
24 Milet VI 1, n. 343 mit Anhang; Busch 1999, 182–185; Bol 105 Kat. VI.19 (P. Herrmann – R. Bol).
220
ORT WIN DALLY
Abb. 1 | Plan der Faustinathermen in Milet unter Angabe des Fundortes der Skulpturen, des beweglichen Mobiliars
sowie der Suchschnitte und Sondagen (M. 1 : 500).
BILD – R AUM – HANDLUNG. DIE FAUS TINATHERMEN IN MILE T
221
222
ORT WIN DALLY
Abb. 2 | Plan der Faustinathermen in Milet unter Angabe der möglichen Bewegungsrichtungen,
Mitte 2. Jh. n. Chr. (M. 1 : 750).
BILD – R AUM – HANDLUNG. DIE FAUS TINATHERMEN IN MILE T
223
Abb. 3 | Plan der Faustinathermen in Milet unter Angabe der möglichen Bewegungsrichtungen
in der letzten Nutzungsphase, 5.–6. Jh. n. Chr. (M. 1 : 750).
wurden25, und die Inschrift zu einer Statue des Iunius Quintianus an der Südseite des
›Ambulacrum‹26.
Die Halle war mit weiteren Statuen geschmückt, hier fanden sich u. a. eine Statue des
Asklepios mit Telesphoros27, der Hygieia28 und eines jugendlichen Athleten mit Herkulesherme29. Sie zeigen Spuren von Überarbeitungen und Manipulationen: Dem jugendlichen Athleten wurde das Geschlecht sorgfältig abgetrennt. Verwitterungsspuren auf der
Standplatte zeigen, dass die Statue sehr lange gestanden haben muss, auch noch zu einem
Zeitpunkt, als das Dach des Gebäudetrakts bereits teilweise eingestürzt bzw. nicht mehr
funktionstüchtig war30.
Das ›Ambulacrum‹ war der einzige Raum, in dem neben Überresten von Malereien31
auch Graffiti unterschiedlicher Größe, Machart und Positionierung dokumentiert werden
konnten. Zu nennen sind ein Kopf mit einer severischen Frauenfrisur auf der Schwelle
zum südlich angrenzenden Raum 6, das Profil einer ionischen Basis auf dem östlichen
Gewände des Durchgangs zum ›Musensaal‹ und eine abstrakte Figur in der Kammer
13 West. Der Befund ist insofern auffällig, als Graffiti ein Indikator für die Zahl von
Besuchern von Räumen und deren Verweildauer sind32 . Darüber hinaus sind sie möglicherweise gerade im Thermenbereich vor allem in solchen Räumen belegt, die nicht der
Feuchtigkeit ausgesetzt und in denen die Besucher noch bekleidet waren. Dort dürften die
Besucher im Gegensatz zum eigentlichen Badetrakt noch über entsprechende Werkzeuge
wie Gewandspangen verfügt haben33 . Weitere Funde, die auf eine längere Verweildauer
und auch die Einnahme von Speisen hindeuten, traten allerdings nicht auf34 .
25
Wandelhalle: Milet VI 3, n. 1207.– Musensaal: Milet VI 3, n. 1211. Weitere, in den Inschriftenpublikationen
nicht aufgeführte Inschriften dieses Typus wurden im Verlauf unserer Arbeiten in der Wandelhalle entdeckt.
26 Milet VI 1, n. 344 mit Anhang; Manderscheid 1981, 95–96 Nr. 223; Bol et al. 2011, 104–105 Kat. VI.18
(W. Günther – R. Bol).
27 Istanbul, Arch. Mus. Inv. 1995. – Milet I 9, 97–98 Taf. 25; Manderscheid 1981, 93 Nr. 208 Taf. 30; Bol et al.
2011, 96–99 Kat. VI.15 Taf. 39 d. e – 41 (F. Fless).
28 Izmir, Arch. Mus. Inv. 1168. – Milet I 9, 98–99 Taf. 26; Manderscheid 1981, 93 Nr. 209 Taf. 30; Bol et al.
2011, 100–102 Kat. VI.16 Taf. 42–43 (C. Schneider).
29 Istanbul, Arch. Mus. Inv. 1998. – Milet I 9, 99–100 Taf. 27; Manderscheid 1981, 96 Nr. 225 Taf. 32;
Bol et al. 2011, Kat. VI.17 Taf. 44. 45 (N. Meissner).
30 Diese Interpretation ist die wahrscheinlichste. Das Wasser könnte auch von woanders hergekommen
sein – aber es gibt für sonstige ›Wasservorkommen‹ im Ambulacrum keine Hinweise.
31
Es handelt sich um die großformatige, noch in Ritzung erhaltene Figur eines Jägers (?) auf dem Türgewände.
32
Langner 2001, 100.
33
Vgl. dazu Langner 2011, 116 mit der Beobachtung, dass in pompejanischen Thermen Graffitizeichnungen vor allem in Apodyterien und Palaestren zu beobachten sind.
34 In der nördlichen Hälfte der Sondage 6/2009 vor den Kammern 5 und 6 Ost der Wandelhalle wurden
Schnecken, Miesmuscheln, Jakobsmuscheln, Austern, Purpurschnecken und Shell gefunden, die allerdings
vermutlich Teil einer Fundamentierungsschicht waren. – Vgl. aber etwa die Funde in Raum 5 der Südthermen
von Perge: Viele Unguentarien und Lampen deuten darauf hin, dass der Raum als Apodyterium genutzt wurde,
in Raum 8 zeigen u. a. Schalen und Schüsseln an, dass es ich um einen Speise- und Ruhesaal handelte (Atik
1995, 210).
224
ORT WIN DALLY
Nach Norden hin findet die Wandelhalle ihren Abschluss in einem Bogendurchgang, der zu einem großen, quadratischen Raum mit einer zentralen Apsis, dem ›Musensaal‹, führt35 . Die seitlichen Wände und auch die Apsis waren mit Nischen versehen,
die zur Aufnahme von Statuen bestimmt waren. In die Apsis wurde sekundär ein Podium oder eine Bühne eingebaut, die über die beiden den halbrunden Raumabschluss rahmenden Kammern zu betreten war (Abb. 2). Für die Erbauung des Pulpitums ergibt sich
ein Terminus post quem durch den bärtigen Kopf eines Mannes, der als Spolie in dem
Podium verbaut war. Um 300 n. Chr. dürfte dieser Kopf aus einem älteren Kopf umgearbeitet und mit seiner gepickten Frisur dem Zeitgeschmack angepasst worden sein36. Es
könnte sich um eine Ehrenstatue gehandelt haben, die in der Spätantike umgearbeitet
wurde.
Die Erstausgräber fanden 1906 in dem Raum eine Reihe von weiteren Skulpturen:
eine Statuengruppe des Apoll und der Musen, die in den Apsiden des Raumes standen37,
einen Torso der Aphrodite im Typus Louvre-Neapel38, den Torso einer Askeliposstatue39,
zwei weibliche Köpfe40 und eine Panzerstatue im Durchgang zur Palaestra 41 . Vermutlich
handelt es sich bei der Panzerstatue um das Bildnis eines Kaisers, da der zugehörige
gezapfte Einsatzkopf jedoch nicht erhalten ist, bleibt unklar, welcher Kaiser dargestellt
war42 . Die Statue des Apoll ist nachträglich manipuliert worden, sie lässt ein abgemeißeltes Geschlecht erkennen. Die Plinthen der Musenstatuen sind ebenso wie ihre Gewänder
verkürzt, einige Statuen weisen infolge von Marmorbrüchen Anstückungen auf, die mit
Hilfe von Dübeln befestigt worden sind. Noch unklar ist, wann diese Arbeiten vorgenommen wurden. Die Nischen sind sehr eng angelegt und waren möglicherweise nicht von
vorneherein zur Aufnahme der Musengruppe bestimmt 43 . Überreste von Marmorprofilen, die sich in der Unterfütterung der Nischenauskleidung gefunden haben, könnten als
Hinweis auf eine spätere Umgestaltung des Musenraumes interpretiert werden.
35
ZeitRäume, 126–131 (P. I. Schneider).
36 Berlin, Antikensammlung SMB Inv. Sk 1759. – Blümel 1933, 48 R 115 Taf. 69; Manderscheid 1981, 96
Nr. 224; Schneider 1999, 13; ZeitRäume, 203 Nr. 22 (S. Agelidis); Bol et al. 2011 Kat. VI.10 Taf. 35 (G. Breitner).
37
Istanbul, Arch. Mus. Inv. 1993. 1994. 1999. 2001. 2002. 2007. 2000. – Manderscheid 1981, 94–95
Nr. 214–220 Taf. 31; Schneider 1999, 8–11; Bol et al. 2011, 88–89 Kat. VI.1–VI.7 Abb. 40–42 Taf. 32 avg (R. Bol).
38 Istanbul, Arch. Mus. Inv. 2003. – Manderscheid 1981, 95 Nr. 222 Taf. 32; Schneider 1999, 12; Bol et al.
2011, 89–91 Kat. VI.8 Taf. 33 (S. Frede).
39 Izmir, Arch. Mus. Inv. 1167. – Milet I 9, 114 Anm. 1; Manderscheid 1981, 96 Nr. 226; Schneider 1999, 7
Anm. 22; 50 Anm. 186 Taf. 67 Nr. 11; Bol et al. 2011, 94–95 Kat. VI.11 Taf. 36. 38 (R. Bol).
40 Istanbul, Arch. Mus. Inv. 2326. – Manderscheid 1981, 94 Nr. 211 Taf. 30; Schneider 1999, 12–13; Bol et al.
2011, 95–96 Kat. VI.12 Taf. 38 (R. Bol). – Istanbul, Arch. Mus. Inv. 2327. – Manderscheid 1981, 96 Nr. 227 Taf.
32; Schneider 1999, 13; Bol et al. 2011, 96 Kat. VI.13 Taf. 39 a (R. Bol).
41
Berlin, Antikensammlung SMB Inv. Sk 1799. – Milet I 9, 110–101 Nr. 4 Abb. 116; Manderscheid 1981, 95
Nr. 221 Taf. 31; Schneider 1999, 12. 24. 29. 43. 50–51. 67–68; ZeitRäume, 201 Nr. 21 (S. Agelidis); Bol et al. 2011,
91–93 Kat. VI.9 Taf. 34 (G. Breitner).
42 Manderscheid 1981, 37 und Schneider 1999, 67–68 gehen von Marc Aurel aus, der zusammen mit
Faustina Minor dargestellt gewesen sein soll.
43
Vgl. hierzu auch Schneider 1999, 50–54, der von einer Zweitaufstellung ausgeht.
BILD – R AUM – HANDLUNG. DIE FAUS TINATHERMEN IN MILE T
225
Betrachtet man beide Räume – ›Ambulacrum‹ und ›Musensaal‹ – im Zusammenhang, bleibt festzuhalten, dass beide zwar durch eine Türschwelle getrennt und somit als
eigenständige Räume zu sehen sind, gleichwohl aber ein enger Zusammenhang erkennbar ist: Beide Räume liegen in einer Flucht, während alle anderen Räume des eigentlichen Badetraktes eher kreisförmig angeordnet sind. Diese enge Verbindung der beiden
Räume wurde auch optisch zum Ausdruck gebracht durch einen monumentalen Bogendurchgang zwischen ›Ambulacrum‹ und ›Musensaal‹ mit zwei erst in den 1970er/1980er
Jahren zerstörten Gorgoneia auf beiden Seiten des Abschluss-Keilsteins, die die Achse
betonten 44 .
Wenn der Besucher sich im ›Ambulacrum‹ nach Süden wendete, gelangte er in einen
breiten, rechteckigen Raum, dessen Wände durch sieben Strebepfeiler gegliedert waren.
Beim Betreten fand sich der Besucher in der nordwestlichen Ecke dieses Raumes 6 wieder45 . Wenn er ihn durchmessen wollte, musste er einen Richtungswechsel vollziehen
und sich nach Osten wenden. Die Ostseite des Raumes war visuell und gestalterisch als
Hauptansichtsseite besonders durch ein Wasserbassin hervorgehoben, das der Wand vorgelagert war. In dem Becken in der Mittelachse des Raumes war auf einem Postament die
Statuengruppe des Weingottes Dionysos mit einem ihn begleitenden Satyrn aufgestellt,
die um 160/170 n. Chr. gefertigt worden sein dürfte 46. Auch hier war das Geschlecht wie
bei der Statue des Apoll im ›Musensaal‹ und der Statue des Athleten im ›Ambulacrum‹
sorgfältig abgetrennt worden. Sinterspuren auf dem Rücken und der Bodenplatte beider
Statuen erklären sich dadurch, dass eine Steigleitung im Rücken der Gruppe Wasser
spendete, das dann an den Statuen hinab in das Becken zurückfloss. Die jüngst erfolgten
Bauuntersuchungen haben deutlich gemacht, dass Becken, Wasserleitungen und die Aufstellung der Statuengruppe nicht der Erstausstattung des Raumes zugerechnet werden
können, sondern erst in einer weiteren Phase erfolgt sein dürften. Der Raum war mit
Sicherheit noch nicht Bestandteil des eigentlichen Badetraktes. Er ist weder Teil des kreisrunden Baderundganges noch verfügte er über entsprechende Badeanlagen und -becken
bzw. Hypokausten. Für die zunächst von F. Krischen geäußerte Vermutung, es könne sich
um das Tepidarium gehandelt haben, spricht deshalb wenig. Wahrscheinlicher wirkt die
Annahme Carsten Schneiders, dass hier der Umkleideraum der Anlage lag.
Um in den eigentlichen Badetrakt zu gelangen, musste der Besucher Raum 6 von
West nach Ost durchschreiten, um sich dann in einem abermaligen Richtungswechsel
nach Süden durch eine deutlich markierte Tür in Raum 7 zu begeben 47. Hier erst betrat
44 Milet I 9, 59 Abb. 76 Taf. 17; Schneider 1999, 67 Anm. 306; Bol et al. 2011, 96 Kat. VI.14 Taf. 39 b. c
(R. Bol).
45
ZeitRäume, 131–134 (P. I. Schneider).
46 Berlin, Antikensammlung SMB Inv. Sk 1797. – Manderscheid 1981, 93–94 Nr. 210 Taf. 30; Scholl –
Maischberger 2007, 197–198 Nr. 117; ZeitRäume, 199 Nr. 20 (S. Agelidis); Bol et al. 2011, 105–108 Kat. VI.20
Taf. 46. 47 (R. Bol).
47 ZeitRäume, 138–139 (P. I. Schneider).
226
ORT WIN DALLY
der Besucher den eigentlichen Warmbadetrakt, erkennbar an Hypokausten und einer
Tubulatur. Nicht nur aufgrund des Fensters und des damit verbundenen Wärmeverlustes,
sondern auch aufgrund des fehlenden Praefurniums an der südlichen Außenseite des
Raumes ist aber gleichwohl die These von F. Krischen, dass es sich um das Sudatorium
der Thermen gehandelt habe48, nicht zu halten. Statuen wurden in dem Raum nicht gefunden, festzuhalten bleibt allerdings, dass die in nordsüdlicher Richtung verlaufende
Längsachse des Raumes sowohl durch die Tür zu Raum 6 als auch durch ein monumentales Fenster in der Südseite des Raumes akzentuiert wurde. Festzuhalten bleibt ferner, dass auf dieses Fenster hin die Bewegung der Besucher ausgerichtet war, bevor sie
sich in einem weiteren Richtungswechsel nach Osten wendeten, um den angrenzenden
Raum 8 zu betreten. Auch er ist durch Hypokausten und Tubuli als Warmbaderaum charakterisiert. Beleuchtet wurde der Raum durch ein weiteres Fenster an der Südseite, das
ebenso wie das Fenster in Raum 7 dem Besucher den Blick nach draußen eröffnete. Die
Hauptansichtsseite des Raumes war jedoch die Ostseite, die durch eine Apsis markiert
wurde. Diese Apsis hat in Raum 8 kein Pendant, in der Nische stand als einziges in Raum
8 gefundenes Standbild eine weitere Statue einer halb bekleideten Aphrodite mit Hüftmantel 49. Auch sie zeigt Spuren beständigen Wasserflusses. Da der Raum aber keine
Wasserleitungen enthielt50, ist die Statue möglicherweise sekundär dorthin gebracht worden oder war nach einem teilweisen Einsturz des Daches Witterungseinflüssen schutzlos
ausgesetzt. Sowohl die Apsis als auch die Statue der Aphrodite lenkten nicht nur den
Blick des Besuchers auf sich, sondern animierten ihn zugleich, den Raum der Länge nach
zu durchmessen. Um diesen Raum zu verlassen, musste der Besucher wiederum einen
Richtungswechsel vollziehen und sich nach Norden wenden, er betrat dann durch einen
großen Bogendurchgang ein monumentales Caldarium (Raum 9), dessen Wände und
Boden mittels Hypokausten und Tubuli erwärmt wurden. Es handelt sich um den größten
und aufwendigsten Raum der Badeanlage überhaupt, der an seinen Längsseiten je zwei
rechteckige Nischen aufwies, die ihrerseits je eine halbrunde Nische rahmten; diese waren
zur Aufnahme von Wasserbecken bestimmt51 . Aufgrund der Fenster oberhalb der Seitenund Ecknischen musste der Raum besonders hell gewesen sein. Leicht verschoben zum
Bogendurchgang, aber genau auf die Mitte (?) des Raumes 9 ausgerichtet lag im Norden
eine monumentale Apsis, in der ein weiteres, von F. Krischen dokumentiertes Wasserbecken stand. Apsis und Wasserbecken lenkten den Blick und die Bewegungsrichtung
48 Ergebnis der Sondage 10a/2010.
49 Istanbul, Arch. Mus. Inv. 2004. – Milet I 9, 121–122 Nr. 16 Taf. 36 links; Bol et al. 2011, 108–109 Kat. VI.21
Taf. 48. 49 (R. Bol).
50 Möglicherweise enthielt der Raum ein (heute nicht mehr erhaltenes) Wasserbecken, das eigentlich in
einem Warmbaderaum zu erwarten wäre.
51
F. Krischen erwähnt Wassernischen in den südlichen Ecknischen und der nordöstlichen Ecknische.
In der Grabungskampagne 2010 wurde ein weiteres Wasserbecken in der Südost-Ecke des Raumes entdeckt
(Säuberung 27/2010).
BILD – R AUM – HANDLUNG. DIE FAUS TINATHERMEN IN MILE T
227
des Besuchers in Richtung Norden. Die im Osten angrenzenden Nebenräume 10–15 und
die im Norden angrenzenden Nebenräume 16–18 können hier außer Betracht bleiben, da
sie der Versorgung der Thermenanlage mit warmem Wasser dienten und von regulären
Besuchern der Badeanlage nicht betreten worden sein dürften. Um vom Warmbade- in
den Kaltbadetrakt zu gelangen, mussten sich letztere nach Westen in einen Zwischenraum (5a) begeben, der die nordwestliche der vier rechteckigen Nischen in den Ecken
des Caldariums 9 einnahm. Dieser Raum war vermutlich in einer späteren Bauphase
durch eine Wand vom Caldarium abgetrennt worden und konnte durch zwei Türen betreten werden, von denen die nördlich zu einem späteren, noch nicht näher zu bestimmenden Zeitpunkt vermauert wurde. Diese Baumaßnahme ging mit einer Unterteilung
des Zwischenraums durch eine Schrankenplatte einher. Von dort steuerte der Besucher
auf einen weiteren Zwischenraum (5) zu, der auch als Verteilerraum bezeichnet werden
kann, da er darüber hinaus Zugänge zum angenommenen Umkleideraum (6) im Süden
und dem unbeheizten Frigidarium (4) im Norden bot. Von Osten durch den Zwischenraum 5a kommend musste der Blick des Betrachters zunächst auf eine breite Apsis im
Westen des Raumes fallen, der ein quergelagertes Wasserbecken aus Marmor vorgelagert
war. In dieser Nische war eine unbekleidete Statue der Aphrodite im Typus der kapitolinischen Venus postiert52 , die wie die Statuen in der ›Musenhalle‹ und dem ›Ambulacrum‹
manipuliert worden war. In einem ersten Schritt waren ihr die Scham und beide Brüste sorgfältig abgemeißelt worden, bevor ihr in einem zweiten Schritt der Kopf und die
Arme abgeschlagen worden waren. Das Wasserbecken kann nicht zur Erstausstattung
des Raumes gehört haben: Der gesamte Raum war mit einem Marmorboden ausgelegt,
von dem sich spärliche Reste entlang der Wände erhalten haben. Er lag auf einem noch
gut erhaltenen Estrich auf, der an verschiedenen Stellen Abdrücke von Rahmenprofilen
und Kreuzeszeichen erkennen lässt, die sich auf der Rückseite wiederverwendeter Platten
des Marmorfußbodens befunden haben müssen. Die Platten des Fußbodens sind demnach frühestens im späten 4. Jh. n. Chr. wiederverwendet worden und gehörten ursprünglich zu einem anderen Gebäude, einem Privathaus oder einer Kirche. Da die Wasserzuleitung zu dem Wasserbecken erst nach der Verlegung des Marmorfußbodens in diesen
eingeschlagen wurde, dürfte das Becken noch später anzusetzen sein. Nicht zur ursprünglichen, sondern zu einer späteren Ausstattungsphase des Verteilerraumes 5a zählt
ferner ein Wasserbecken aus Spolien in der Südostecke des Raumes, dessen Estrichboden
ebenfalls Negativ-Abdrücke von Kreuzeszeichen erkennen lässt. Damit dürfte das Becken,
in dessen Sockel weitere Kreuzeszeichen, Buchstaben und Lorbeerzweige eingraviert
waren, gleichzeitig mit dem Marmorfußboden oder noch später angelegt worden sein.
Visuell besonders akzentuiert war schließlich der Blick in das nördlich angrenzende Frigidarium 4. Die Durchgangstür zu dem Kaltbaderaum wurde von zwei Nischen
52
Istanbul, Arch. Mus. Inv. 1997. – Milet I 9, 122–123 Nr. 17 Taf. 36 rechts; Manderscheid 1981, 94 Nr. 212
Taf. 30; Bol et al. 2011, 113–116 Kat. VI.24 Abb. 40 Taf. 53 (A. Ahle).
228
ORT WIN DALLY
gerahmt, die möglicherweise nicht zur Erstausstattung des Raumes gehört haben, sondern
sekundär in die Wand eingefügt wurden und vermutlich zur Aufnahme von Statuen bestimmt waren, deren Aussehen und Typus nicht mehr zu erschließen ist53 . Bevor der
erwähnte Marmorfußboden in den Raum eingebracht wurde, wurden die Nischen wieder zugemauert. Möglicherweise wurden die Statuen, die in den beiden Nischen standen, andernorts in den Thermen aufgestellt. Der Blick des Betrachters fiel dann, wenn
er das Frigidarium 4 von Raum 5 her kommend betrat, auf eine gelagerte Flussgottheit,
aus deren Gefäß sich Wasser in das Kaltwasserbecken ergoss54 . Der Flussgott kann nicht
ursprünglich an dieser Stelle platziert gewesen sein, nicht auzuschließen ist aber, dass
er dennoch zu originären Ausstattung des Raumes (vor einer anderen Wand?) gehörte.
Das Wasser, das sich in das Becken ergoss, kam aus einem nördlich gelegenen weiteren Raum (3), der ursprünglich Teil des Kaltwasserblockes war, dann aber in ein Reservoir umfunktioniert wurde. Als man das Arrangement in dieser Form vornahm, wurde
eine vorher zu Raum 3 existierende Verbindung zugemauert und mit Marmor vertäfelt.
Außerdem wurde, um die Funktion des Raumes 3 als Wasserspeicher zu ermöglichen,
eine ursprünglich existierende Verbindung zum ›Ambulacrum‹ ebenfalls zugemauert.
Zwei weitere Durchgänge an der Westseite des Frigidariums 4 zum ›Ambulacrum‹ blieben hingegen über die gesamte Nutzungsphase der Thermenanlage bestehen. Der an der
Ostseite des Raumes postierte Löwe, aus dessen Maul sich Wasser in das Becken ergoss55,
dürfte ebenfalls erst zu einem späteren Zeitpunkt an diese Stelle gelangt sein.
Der beschriebene Rundgang vermittelt die eine Abfolge von Stationen innerhalb der
Badeanlage, wie sie sich in der hohen Kaiserzeit nach der Erbauung dargestellt haben
müssen (Abb. 2). Die Thermen sind jedoch im Laufe ihrer Geschichte mehrfach umgebaut worden. Diese Veränderungen betrafen auch die Ausstattung der Thermen (Abb. 3).
Im ›Musensaal‹ wurde erst im 3. Jh. n. Chr. ein Podium eingezogen56. Eine ursprünglich
existente Verbindung zwischen Palaestra und ›Musensaal‹ wurde zu einem unbekannten
Zeitpunkt ebenso wie die nördliche Tür zwischen Palaestra und ›Ambulacrum‹ in Kammer
West 12 verschlossen. Raum 3 wurde in ein Wasserreservoir umfunktioniert, in den Räu-
53
Angesichts der kruden Ausführung an vielen Stellen würde es aber auch nicht verwundern, wenn diese
vorgesetzte Nischenschale im Zuge der Errichtung in einem zweiten Schritt ausgeführt worden wäre.
54 Milet, Arch. Mus. Inv. 2136. – Milet I 9, 123–124 Abb. 120; Manderscheid 1981, 93 Nr. 207 Taf. 30; Bol et al.
2011, 109–110 Kat. VI.22 Abb. 40. 44 Taf. 50. 51 (R. Bol). Von der heute im örtlichen Museum auf bewahrten
Originalstatue wurde eine Beton-Kopie in den Thermen aufgestellt. Das Gesicht der Statue war bei Auffindung
noch intakt und wurde gegen Ende des Ersten Weltkrieges zerstört. – Möglicherweise ist auch die Gruppe eines
weiteren Flussgottes mit Nymphe (Istanbul, Arch. Mus. Inv. 1038. – Milet I 9, 124–125 Nr. 19 Abb. 122; Bol et al.
2011, 116–118 Kat. VI.25 Taf. 54 [U. Bolender]) von den Faustinathermen zu ihrem Fundort auf dem türkischen
Friedhof verschleppt worden.
55
Milet, Arch. Mus. Inv. 2137. – Milet I 9, 64. 93. 124 Abb. 86–87; Strocka 1977; Manderscheid 1981, 96
Nr. 228; Bol et al. 2011, 110–113 Kat. VI.23 Abb. 44. 45 Taf. 52 (S. Felicia Meynersen). Auch von dieser Statue
wurde eine Beton-Kopie in den Thermen aufgestellt.
56 Vgl. hierzu auch die Baubeschreibung von Schneider 1999, 47–49. – s. auch o. Anm. 12.
BILD – R AUM – HANDLUNG. DIE FAUS TINATHERMEN IN MILE T
229
men 4, 5 und 6 wurden sekundär Wasserleitungen eingezogen und – damit verbunden –
Statuen neu aufgestellt. Raum 7 konnte nach dem Einbau eines zusätzlichen Wasserbeckens in seiner nördlichen Hälfte nicht mehr von Raum 6 betreten werden. Damit war ein
Rundgang in der beschriebenen Form nicht mehr möglich. In der letzten Nutzungsphase
muss sich der Betrieb auf die Wandelhalle, die Räume 5, 5a, 6 und 7 konzentriert haben.
Indiz hierfür sind Sitzbänke aus dem nahegelegenen Stadion, die, nachdem letzteres aufgelassen oder zumindest teilweise aufgegeben worden worden war, in die genannten Räume verbracht und neu aufgestellt wurden. Bemerkenswerterweise sind dies auch durchweg
Räume, in denen Statuen gefunden wurden. Letztere weisen ebenfalls Überarbeitungen
aus der frühbyzantinischen Zeit auf. Den Statuen des Apoll (›Musensaal‹), des Athleten
(›Ambulacrum‹), des Dionysos und des Satyrn (Raum 6) wurde jeweils das Geschlecht
abgenommen, der Aphroditestatue aus Raum 5a wurden Scham und Brüste entfernt57.
Auch wenn im archäologischen Befund die Ausstattung der Thermen in ihrer letzten
Nutzungsphase und nicht zur Zeit der Erbauung fassbar bleibt, müssen die einzelnen
Räume schon nach der Erbauung der Thermen unterschiedlich charakterisiert gewesen
sein. Zu diesem unterschiedlichen Gepräge der Räume trugen in den Augen des Betrachters verschiedene Faktoren bei: Zunächst musste er während seines Baderundganges permanente Richtungswechsel vollziehen, um in einen angrenzenden Raum zu gelangen.
Die beiden einzigen hiervon ausgenommenen Räume sind das ›Ambulacrum‹ und der
›Musensaal‹, die sich zwar in ihrer Ausstattung unterschieden, aber in einer Linie liegen
und von daher zum Wandeln, Hin- und Herschreiten einladen.
Den Räumen wurde schließlich auch ein unterschiedliches Gepräge durch ihre Ausstattung verliehen. Die Warmbaderäume des Badetraktes verfügten über Vorrichtungen
zum Beheizen, die in dem ›Musensaal‹, dem ›Ambulacrum‹ und Raum 6 fehlten, die
Warmbaderäume 7 und 8 lagen darüber hinaus an der (wärmeren) Südseite der Thermen.
Durch eine höhere Temperatur wurde somit dem Besucher signalisiert, dass er sich hier
im Warmbadetrakt aufhielt. Eine besondere Bedeutung dürfte auch das Wasser gehabt
haben. Es fehlte vermutlich in dem ›Ambulacrum‹ und dem ›Musensaal‹58. In den Räumen 5 und 6 hat das Wasser die Statuen nach dem Aufbau der Steigleitungen vermutlich
eher sanft umspült und in den Becken des Caldariums 9 und des Verteilerraumes 5 vermutlich gestanden oder sanft geplätschert, während das Frigidarium auf den Besucher
schon dadurch anders gewirkt haben dürfte, weil das Wasser aus dem Flussgott und der
Statue eines Löwens laut plätschernd in das Becken geflossen sein wird. Möglicherweise
57
Vgl. zu diesen Manipulationen, die in Milet nicht nur an Skulpturen aus den Faustinathermen, sondern
auch an solchen aus dem Theater und dem Nymphäum beobachtet werden können, jetzt ZeitRäume, 143–153
(O. Dally – A. Scholl); Bol et al. 2011, 11–12. 87.
58 Es ist aber nicht ganz ausgeschlossen, dass in den Kammern des ›Ambulacrums‹ (möglicherweise sekundär eingebrachte) Wasserspiele für Kühlung sorgten. Dafür gibt es einen, wenn auch noch etwas unklaren
Befund aus einer 2008 vorgenommenen Schürfung in Kammer Ost 4.
230
ORT WIN DALLY
war auch die durch die Nutzer verursachte Geräuschkulisse unterschiedlich59. Sportliche
Aktivitäten wurden in der Palaestra vollzogen, für Vorträge bot sich der ›Musensaal‹ an,
Konversation konnte sehr gut im ›Musensaal‹ und im ›Ambulacrum‹ betrieben werden.
Der einzige Raum mit einem Becken, in das man auch hineinspringen konnte, war das
Frigidarium 4.
Das Gepräge der Räume wurde schließlich in den Augen der Betrachter auch wesentlich durch die Ausstattung mit Statuen, die im mittleren 2. Jh. n. Chr. entstanden
sein dürften bzw. – im Falle des Löwen aus dem Frigidarium 4 – zeitgemäß umgearbeitet
worden sind60. Es können unterschiedliche Sinnebenen erschlossen werden, die einen
differenzierten Bezug zur Funktion der Räume und damit auch der handelnden Personen erkennen lassen61 . Sämtliche Räume, in denen Statuen geborgen wurden, unterscheiden sich zunächst hinsichtlich der verwendeten Statuentypen und -ensembles: Apoll und
die Musen, ein Asklepios, weibliche Statuen, eine Kaiserstatue (?) und Ehrenstatuen im
›Musensaal‹, Ehrenstatuen, die Statue eines Athleten, des Asklepios und der Hygieia im
›Ambulacrum‹, die Gruppe des Weingottes Dionysos mit einem Satyrn in Raum 6, eine
halb bekleidete Aphrodite in Raum 8, eine gänzlich unbekleidete Aphrodite in Raum 5
sowie der Flussgott und eine Löwenstatue im Frigidarium 4. Keiner der erhaltenen Statuentypen ist mehrfach nachgewiesen mit einer Ausnahme: Zwar sind Statuen, die den im
›Ambulacrum‹ und ›Musensaal‹ gefundenen Statuenbasen zugewiesen werden könnten,
nicht mehr erhalten, die Fußspuren lassen jedoch die Annahme zu, dass hier eine relativ
begrenzte Zahl von Ehrenstatuentypen zur Aufstellung gelangt ist.
Zu beobachten ist zunächst ein genereller Unterschied hinsichtlich der Ausstattung
zwischen ›Musensaal‹/›Ambulacrum‹ auf der einen und Raum 6 (Umkleideraum?) sowie
dem Badetrakt auf der anderen Seite. Während sich in letzterem ausschließlich halbnackte oder nackte Idealplastik befand, dürften auf den erhaltene Basen im Musensaal und der
Wandelhalle auch bekleidete Ehrenstatuen gestanden haben, das gilt auch für die Panzerstatue des Kaisers (?). Dieser Befund ist zum einen aufschlussreich, da ›Ambulacrum‹
und ›Musensaal‹ vermutlich die Räume waren, in denen sich das Publikum bekleidet aufhielt, wandelte und Speisen einnahm. Statuenstiftungen und Inschriften, aber auch die
in diesen Medien zum Ausdruck gebrachten bürgerlichen Werte konnten hier am ehesten
betrachtet werden. Zum anderen weil die generelle Aufteilung der Statuen mit kaum bzw.
unbekleideten Statuen im Umkleideraum (?) 6 und eigentlichen Badetrakt aussagekräftig
ist: Das Thema des Badens, das ja nur teilweise bekleidet bzw. unbekleidet erfolgte, wurde
auch optisch zum Ausdruck gebracht. Darüber hinaus wurde auch die fortschreitende
59 Vgl. hierzu auch Sen.epist. 56, 1–2, der schildert, wie er, als er über einem Bad wohnte, aufgrund der
vielfältigen Lärmbelästigung zu leiden hatte.
60 Zur Statuenausstattung römischer Thermen vgl. Manderscheid 1981, passim; Brödner 1983a, 132–133;
Manderscheid 1988, 37–38; von Hesberg 2005, 180; Manderscheid 2004, 23–24; Schollmeyer 2005, 110–111.
61
Vgl. jetzt auch Bol et al. 2011, 87.
BILD – R AUM – HANDLUNG. DIE FAUS TINATHERMEN IN MILE T
231
Entkleidung und damit zugleich – implizit – die Abfolge des Badeprozesses visuell vor
allem durch die Statuen der Aphrodite, die generell auf Anmut und Schönheit als Resultat der Körperpflege und des Badens verwiesen, versinnbildlicht. Die im ›Musensaal‹
und ›Ambulacrum‹ gefundenen Köpfe von weiblichen Statuen haben die jeweiligen Göttinen (?) bekleidet oder unbekleidet gezeigt – das ist nicht mehr sicher zu entscheiden. Auffällig ist aber, dass die Göttin oder Faustina Minor (?) im Typus der Aphrodite Fréjus bekleidet dargestellt war. Im Badetrakt fanden sich hingegen keine bekleideten Statuen der
Aphrodite mehr. Die in Raum 8 gefundene Statue zeigte die Göttin halbentblößt – nur der
Unterkörper war von einem Mantel umhüllt. Die Statue der Aphrodite in Raum 5 zeigte
die Göttin schließlich vollkommen unbekleidet. Gleichzeitig wurde dem Besucher durch
optische Signale in Form von Nischen, in denen die Statuen des Badetraktes standen, und
Fenstern die Richtung seines Rundganges nahegelegt. Bezeichnend ist, dass – sieht man
wiederum von dem ›Ambulacrum‹ und dem ›Musensaal‹ ab – Raum 6 und die Räume
des Badetraktes eine Hauptansichtsseite hatten, die besonders hervorgehoben war und die
den Blick der Besucher, also auch die Richtung seines Ganges lenken sollte. Damit wird
ein enger Zusammenhang zwischen physischem Raum und Handlung evident.
Darüber hinaus lassen sich Detailbeobachtungen machen: Die Palaestra ist nicht
komplett freigelegt worden, insofern sind Aussagen zur Ausstattung des Platzes nicht
mit Bestimmtheit zu treffen. Gleichwohl ist auffällig, dass in dem freigelegten Teil, auch
wenn sich dieser lediglich auf die östliche Säulenhalle bezieht, keine Statuen gefunden
worden sind. Dieser Befund deckt sich mit dem vergleichbarer Anlagen, da der Platz für
sportliche Aktivitäten freigehalten werden musste. Musen und die Statue des Apoll unterstreichen die Rolle der Thermen und speziell des ›Musensaales‹ als Ausbildungsstätte
und kulturellem Brennpunkt öffentlichen Lebens. Somit ergibt sich ein unmittelbarer
Bezug zwischen der im 3. Jh. n. Chr. eingebauten Bühne und den Statuen, die möglicherweise erst zu diesem Zeitpunkt im ›Musensaal‹ aufgestellt wurden. Für die von C. Schneider geäußerte These, dass die weiblichen Statuen im Gefolge des Apoll nicht als Musen,
sondern als Nymphen verstanden worden sind62 , spricht meines Erachtens wenig. Der
Musensaal verfügte ebenso wenig wie das benachbarte ›Ambulacrum‹ über Wasser, und
der von ihm als Beleg angeführte Vers aus der Stifterinschrift des Makarios (s. o.), wonach dieser die Nymphen wieder habe herstellen lassen, ist nichts anderes als in eine
für die frühbyzantinische Zeit charakteristische Schilderung der Fertigstellung und der
Inbetriebnahme der Thermen als Ganze, in dem vor allem die Wasserversorgung hergestellt wurde63 . Dafür spricht auch die Formulierung, dass sich die Nymphen mit dem
62 Schneider 1999, 52 Anm. 202; 200; Bol et al. 2011, 89–91 Nr. VI.8 Taf. 33 (S. Frede). – Schneider 1999,
54–69 vertritt ferner die (m. E. eher unwahrscheinliche) Ansicht, dass es sich zunächst um einen Kaisersaal
gehandelt haben müsse. – Vgl. dagegen jetzt generell Burrell 2006, 437–469. Der geophysikalische Plan von
Milet (ZeitRäume, Abb. S. 10–11) lässt auch nicht den Schluss zu, dass ein derartiger Raum an den nicht ergrabenen Teil der Palaestra angrenzte.
63 Vgl. AG 9, 184; Stat. Silv. 1, 5, 23 ff.; CIL V 3106; Busch 1999, 161. 177. 305–306.
232
ORT WIN DALLY
Feuer vermischt hätten: ein poetischer Ausdruck für das Beheizen des Bades64 . Sollte die
Statuengruppe des Apoll und der Musen bereits im 2. Jh. v. Chr. in dem Raum gestanden
haben, in dem sie gefunden wurden, könnte es sich bei diesem Raum auch um das in
einer milesischen Orakelanfrage an den Apoll von Didyma aus dem späten 2. Jh. n. Chr.
erwähnte Museion in Milet handeln65 . Die Positionierung der frühbyzantinischen Inschriften des Makarios und des Hesychios auf den Türstürzen, die das ›Ambulacrum‹
rahmten, dürfte aufgrund ihrer gelehrten Sprache mit altertümlichen homerischen Formeln speziell diesen Aspekt des ›Ambulacrums‹ und des angrenzenden ›Musensaales‹
besonders hervorgehoben und die Räume zugleich von dem eigentlichen Badetrakt abgehoben haben66. Die Athletenstatue verweist auf einen wesentlichen Teil der Ausbildung in den Gymnasien und Thermengymnasien, der in der sportlichen Ertüchtigung
bestand. Die Statue stand im ›Ambulacrum‹, das direkt an die Palaestra angebunden war,
wo die sportlichen Übungen vollzogen wurden. Darüber hinaus verwies sie ebenso wie
die Statuen des Asklepios und der Hygieia, die sehr häufig in Thermen zu finden sind,
auf die Vorstellung, dass das Baden dazu diente, den Körper zu reinigen und gesund
zu halten67. Derartige Statuen gehörten nach einer offenbar weit verbreitete Vorstellung
auch zu einer angemessenen Ausstattung von Thermenanlagen68. Die Ehrenstatuen und
die zugehörigen Inschriften verdeutlichten schließlich in besonderem Maße bürgerliche
Werte und Tugenden, zu denen die Jugend in den Thermenkomplexen erzogen wurde69.
Hierzu gehörte auch ganz wesentlich ihr Einsatz für die Gemeinschaft, der sich insbesondere in der Stiftung aufwendiger Denkmäler und Bauten wie der Thermen bemerkbar
machte70. Dass sie in diesem Engagement es den Kaisern gleichtaten, unterstrichen die
Inschriften des Makarios und die vermutliche Statue eines Kaisers im ›Musensaal‹. Die
Gruppe des Dionysos und des ihn begleitenden Satyren verweist in einem allgemeineren
Sinne auf die Thermen als Orte des Vergnügens, der Unterhaltung und des Luxus, gerade
in Milet aber muss auch eine enge Verbindung zwischen der Gottheit und dem Element
Wasser gesehen worden sein, wie der Fund von mehreren Satyrn im hochkaiserzeitlichen
64 Vgl. AL 202 (Felix); Busch 1999, 161.
65 Milet, Inschriften-Inv. 1881. – Ehrhardt – Günther 2002, 48–53 Nr. 1 Abb. 1. 2, bes. 52–53; Bol et al. 2011,
82. – Voraussetzung wäre aber, dass die Gruppe tatsächlich schon zur Erstausstattung der Thermen gehörte.
Dieser Punkt ist angesichts der Bearbeitungs- und Überarbeitungsspuren der Skulpturen in Verhältnis zu den
Maßen der Nischen umstritten. Während Bol (Bol et al. 2011, 81–83 mit Anm. 530; 89 mit Anm. 584) davon
ausgeht, dass lediglich die Rückseiten nur summarisch ausgearbeitet worden sind und die Statuen von vorneherein zur Aufstellung im Musensaal auserkoren waren, haben sich Schneider und ihm folgend Ehrhardt –
Günther 2002, 52– 54 für eine Aufstellung der Gruppe erst im 4. Jh. n. Chr. ausgesprochen. Zu der Diskussion
vgl. auch Zeiträume, 126. 129 (P. I. Schneider) und Anm. 42.
66 Vgl. dazu auch Busch 1999, 155. 159.
67 Manderscheid 1981, 31; Schollmeyer 2005, 111.
68 Vgl. Vitr. 7, 5, 6. – Die Passage (vgl. dazu jetzt Marvin 2oo8, 234–235) ist generell aufschlussreich in Hinsicht auf die Prinzipien der Aufstellung von Skulpturen auf öffentlichen Plätzen.
69 Yegül 1992, 422; von Hesberg 2005, 180.
70 Zum Euergetismus im kaiserzeitlichen Kleinasien vgl. Halfmann 2001.
BILD – R AUM – HANDLUNG. DIE FAUS TINATHERMEN IN MILE T
233
Nymphäum an der Agora von Milet zeigt71 . Die Bedeutung des Wassers für die Thermen
wurde schließlich in besonderer Art und Weise durch die Flussgottheit im Frigidarium,
verbunden mit einem Gestus des Ruhens in Form des über den Kopf geführten rechten
Armes, visuell zum Ausdruck gebracht, unterstrichen durch den sprudelnden Bogen, der
sich in das Becken ergoss. Zu überlegen wäre, ob nicht durch die Kombination mit dem
Löwen auch die Vorstellung eines bestimmten Flusses (des Mäander?) oder eine Anspielung auf das Wappen von Milet evoziert werden sollte 72 .
Bemerkenswert ist, dass sich in der Anlage nicht nur bestimmte Sinnebenen erschließen lassen, die in einem Zusammenhang mit der unterschiedlichen Funktion der verschiedenen Räume der Thermen gestanden haben, sondern auch optische und architektonische Signale, durch die die Bewegung und damit das Handeln von Personen teilweise
greifbar werden. Der Raum der Thermen mus auch noch in der frühbyzantinischen Zeit
von großer Bedeutung gewesen sein. Anders sind die Manipulationen (Entfernung von
Genitalien, Scham und Brüsten) an vielen der Statuen nicht zu erklären, die die Annahme nahe legen, dass der Zusammenhang von Bildern, physischem Raum und Handeln
auch dann noch gegeben war, als das Christentum verstärkt Bedeutung erlangt hatte. Mit
diesem Befund stehen die Faustinathermen in Milet nicht vereinzelt dar: In zahlreichen
weiteren Städten Kleinasiens kann ein Gebrauch von Bädern bis in die frühbyzantinische
Zeit hinein beobachtet werden. Statuen gehörten unvermindert zum Inventar. Sie wurden
einerseits ebenso wie in Milet unter dem wachsenden Einfluss des Christentums zum
Schutz vor Dämonen, sofern sie nackt waren, häufig ihrer Genitalien beraubt73, stehen
aber andererseits auch für die Fortdauer von Traditionen und Raumempfinden.
71
ZeitRäume, 97–107 (M. Maischberger); Bol et al. 2011, 25–68.
72 Vgl. zu der Diskussion jetzt Bol et al. 2011, 86 mit Anm. 571; 109 zu Kat. VI.22 (R. Bol).
73
Vgl. jetzt Hannestad 2001. – Aphrodisias: Smith 2007, 203–235. – Ephesos: Auinger – Rathmayr 2007,
237–269; Auinger 2011, 67–79. – Zum Problem der Nacktheit vgl. die Überlegungen von Susanne
Moraw: Moraw 2008, 113–139.
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Abbildungsnachweis
Abb. 1 : Photographien P. I. Schneider, © I. Geske/DAI; Abb. 2. 3: P. I. Schneider.
BILD – R AUM – HANDLUNG. DIE FAUS TINATHERMEN IN MILE T
239
Bilder als Elemente ritueller Handlungen
Klaus Schmidt
Die megalithischen Kreisanlagen des steinzeitlichen Göbekli Tepe
This article deals with the round structures built on Göbekli Tepe (present-day southeastern Turkey) during the
transition from the Epipalaeolithic to the Neolithic period. An important result of the excavations carried out in
recent years has been the discovery of a large number of T-shaped, monolithic pillars, which, due to the occasional presence of highly stylized arms and hands depicted in bas-relief, have been positively identified as anthropomorphic stone beings. These pillar-like beings, some over five meters tall, encircle and define this space.
Within the space, ritual acts were performed, acts in which liquids have been shown to have played a major role.
At the moment, it seems that no precise definition can be given of the relation between the pillar-like beings
(including the animals occasionally depicted on them) and the acts that were performed here. But the structures on Göbekli Tepe – like those of many other cultures – may well have been erected in the context of burial
rites and in the service of a culture that seeks to triumph over death.
Weltweit lebten die Menschen der Altsteinzeit als Wildbeuter, denn die nahrungsproduzierende Lebensweise und die hierfür notwendigen Grundlagen, darunter am wichtigsten: Kulturpflanzen und Haustiere, waren ihnen noch unbekannt. Es war ›die große
Zeit der Eiszeitjäger‹, die mit viel Know-how den Herausforderungen der im Pleistozän
oft lebensfeindlichen Umwelt trotzten. Mit der ›Eiszeitkunst‹ hinterließen sie uns beeindruckende Zeugnisse einer vielfältigen spirituellen Welt. Naturheilige Plätze, spezielle
landschaftliche Formationen, Felsschutzdächer, Höhlen oder auch nur besondere Bäume
markierten die Orte, die für die Durchführung sakraler Handlungen genutzt wurden.
Auch in der Nacheiszeit, im Holozän, verharren die Menschen in den meisten Teilen
der Welt zunächst auf der wildbeuterischen Stufe. In der ›Alten Welt‹ wird diese Phase
als Mittlere Steinzeit, als Mesolithikum, bezeichnet. Es folgt die Jüngere Steinzeit, das
Neolithikum, dessen wichtigste Neuerung die Nahrungsproduktion darstellt, also eine
Änderung der Subsistenzstrategien mit dem Wechsel vom nomadisierenden Wildbeutertum hin zum sesshaften und bäuerlichen Leben. Das Auftreten der neolithischen Lebensweisen erfolgt allerdings in verschiedenen Teilen der Erde zu verschiedenen Zeiten und
teilweise unabhängig voneinander. Für den Fortgang der Geschichte in der ›Alten Welt‹
ist der fruchtbare Halbmond Vorderasiens ausschlaggebend. Hier findet in der Zeit um
9000 v. Chr. weltweit gesehen das erste Mal dieser Übergang statt, der die elementaren
Grundvoraussetzungen für die späteren urbanen Zivilisationen der Antike bereitet. Die
Kernzone der Neolithisierung liegt hierbei im Herzen des fruchtbaren Halbmonds zwischen den Oberläufen von Euphrat und Tigris. Es handelt sich um eine Landschaft, in der
die Verbreitungsgebiete der Wildformen all der Pflanzen und Tiere, die im 9. Jt. v. Chr.
domestiziert wurden, eine gemeinsame Schnittmenge finden, denn die Domestikation
einer Spezies ist natürlich nur in der Heimat der jeweiligen Wildform denkbar. Hier in
Obermesopotamien begannen am Ende des 10. Jts. v. Chr. die Menschen mit der Domestikation von Pflanzen und Tieren das sog. neolithische Paket zu schnüren, dessen Besitz
DIE MEGALITHISCHEN KREISANL AGEN DES S TEINZEITLICHEN GÖBEKLI TEPE
243
der neuen bäuerlichen, nahrungsproduzierenden Lebensweise zum schnellen Siegeszug
und zur Ausbreitung über ganz Europa und Mittelasien hinweg verhelfen sollte.
In dieser Kernzone der Entstehung nahrungsproduzierender Lebensformen liegt
ein Platz, der unmittelbar nach dem Ende der Eiszeit in der 1. Hälfte des 10. Jts. v. Chr.
mit einer spektakulären Befundlage auf den Plan tritt. Es handelt sich um den seit 1995
vom Deutschen Archäologischen Institut erforschten Göbekli Tepe 1 . Hier beschränkt
sich die Schöpferkraft des Menschen nicht mehr auf den Auftritt auf einer von der Natur
bereiteten Bühne. Erstmals in seiner Geschichte setzt sich der Mensch als Baumeister
monumentaler Anlagen in Szene und das Verlangen nach einem ›sakralen Raum‹ wird
zu einem gewaltigen Gebilde aus unterschiedlichsten und oft monumentalen Bauteilen
aufgetürmt.
Errichtet wurden mehrere in ihrer Konzeption weitgehend gleiche Anlagen, die von
einem immer wiederkehrenden Element beherrscht werden: den T-förmigen, aus Kalkstein gefertigten, monolithischen Pfeilern, die kreis- oder ovalförmig um zwei besonders
große Pfeiler im Zentrum der Anlage aufgestellt wurden (Abb. 1). Der Begriff »Pfeiler«
wird hierbei im Sinn der heiligen Pfeiler Altägyptens benutzt, deren bekannteste Vertreter die Obelisken bilden. Diese Pfeiler mussten bekanntermaßen niemals die Last eines
darüber aufgetürmten Gebälks und eines Daches tragen, sie ragten völlig unbeschwert
und frei in den Himmel. Ob dies auch für die T-Pfeiler des Göbekli Tepe zutrifft, ist allerdings weiterhin noch nicht sicher: Die Frage, ob wir es mit offenen, hypäthralen oder
mit überdachten, die T-Pfeiler möglicherweise als Stützen benutzenden Anlagen zu tun
haben, ist noch nicht abschließend geklärt. Sie kann aber aus Platzgründen in dem vorliegenden Aufsatz auch nicht weiter vertieft werden. Bei der Behandlung des Themas »Bild –
Raum – Handlung« soll im Fall des Göbekli Tepe und der sakralen Anlagen des frühholozänen Obermesopotamiens insgesamt die Frage der Überdachung – ob überhaupt und
wenn ja, in welcher Gestalt – ausgeklammert sein.
Die Steinkreise des Göbekli Tepe ragen nicht nur durch ihre Monumentalität, nicht
nur durch die Vielfalt ihrer künstlerischen Ausstattung mit großformatigen Skulpturen
und Reliefs aus den bisher bekannten ›heiligen Stätten der Steinzeit‹ hervor, sie scheinen vielmehr eine Schüsselfunktion im Transformationsgeschehen vom Wildbeuter zum
Bauern zu besitzen. Denn die Steinkreise bezeugen mehr als nur die Fähigkeit zur Mobilisierung großer Menschengruppen, ohne deren Arbeitskraft die tonnenschweren Pfeiler
nicht hätten hergestellt, transportiert und aufgerichtet werden können.
Oft finden sich auf den T-Pfeilern des Göbekli Tepe in Flachrelief dargestellt Tiere,
die einzeln oder in verschiedener Kombination vorkommen können, so z. B. Schlangen
und Skorpione, Füchse und Wildschweine, Gazellen und Wildesel. Daneben gibt es aber
auch abstrakte Symbole. Diese können bisher nicht gedeutet werden, sie illustrieren aber
1
244
Schmidt 1995; Schmidt 2009; Schmidt 2010.
KL AUS SCHMIDT
Abb. 1 | Göbekli Tepe, das Hauptgrabungsgelände am Südhang mit den monumentalen Anlagen
A bis D im Frühjahr 2010 von Norden aus gesehen.
DIE MEGALITHISCHEN KREISANL AGEN DES S TEINZEITLICHEN GÖBEKLI TEPE
245
zusammen mit den Tieren offenbar mythische Geschehen, die auf den Pfeilern abgebildet
sind und mit diesen Tieren wahrscheinlich in Verbindung stehen.
Der Inhalt dieser steinzeitlichen Mythen wird für uns nie mehr als in vagen Umrissen zu erschließen sein und wir können nur vermuten, dass auch hier wie in den durch
mündliche oder schriftliche Überlieferung bekannten Mythen der Welt wichtige, letztlich
kosmogonische Fragen im Mittelpunkt des Geschehens stehen, wobei wir aber durchaus
auch manch pikareske Erzählmotive erwarten können. Auch wenn uns beim Versuch,
anhand der überlieferten Bilder die steinzeitlichen Mythen gleichsam wiederzubeleben,
enge und nicht ablegbare Fesseln angelegt sind, so können wir doch die Bedeutung der
T-Form der Pfeiler glücklicherweise mit großer Sicherheit festmachen. Aufgrund der am
Pfeilerschaft manchmal in Relief ausgeführten Arme und Hände sind die Pfeiler als zwar
stark stilisierte, dennoch menschengestaltige Figuren zu verstehen. Der T-Kopf bildet den
Kopf in Profilansicht, der Pfeilerschaft den Körper. Zwei auf der Bauchseite befindliche,
in Flachrelief angegebene Bänder, können als Bekleidungsbestandteil in der Art einer Stola verstanden werden. Da sich die Stola wesentlich öfter als Arme und Hände beobachten
lässt, kann man auch für die Pfeiler, bei denen die Darstellung von Armen und Händen
fehlt, von einer Bauch- bzw einer Rückenseite sprechen. Deshalb ist festzustellen, dass
alle Pfeiler des Kreises auf die Zentralpfeiler hin ausgerichtet sind.
Es gilt demzufolge festzuhalten, dass es sich bei den Pfeilern also weniger um architektonische Bauelemente handelt als um Statuen – zwar hochstilisierte Statuen in
einer geradezu paläokubistisch zu nennenden Stilrichtung, die erst im frühen 20. Jahrhundert unserer Zeit wieder aufgegriffen wird (ohne dabei zur T-förmigen Stilisierung
des menschlichen Körpers zu finden) – und dass es sich bei den Pfeileranlagen weniger
um Bauwerke handelt als um Steinkreise. Im Unterschied zu den großen Steinkreisen
des atlantischen Europas verbinden allerdings Mauern die im Kreis stehenden Pfeiler, so
dass das Innen und Außen deutlich voneinander geschieden werden. Völlig frei stehend
aufgestellt sind nur die beiden Zentralpfeiler, die den Raum dominieren. Dass es hier um
einen sakralen Raum geht, kann dabei kaum bezweifelt werden.
Bemerkenswert ist die Gesichtslosigkeit der Pfeilerwesen. Nie sind Augen oder andere Züge des menschlichen Gesichts dargestellt, immer verbleibt die ›Gesichtsfläche‹ ohne
anatomische Details. Allerdings ist sie nicht immer völlig leer. Bei mehreren Pfeilern
finden sich Tierreliefs auf der Vorderseite der T-Köpfe, in einem Fall auch ein abstraktes H-förmiges Symbol. In jeden Fall sollte das durchgängige Fehlen anatomischer, das
Gesicht wiedergebender Details auf den T-Köpfen als ein Merkmal verstanden werden,
das zusammen mit der Monumentalität der teilweise über 5 m großen steinernen Wesen
eines anzeigt: Sie sind riesig und entrückt, sie verkörpern Mächte, die ganz offensichtlich
einer anderen Welt entstammen, sie gehören einer höheren Sphäre als der diesseitigen an.
Die Frage, ob es sich um Götter handelt oder um Ahnen, um Geister oder Dämonen, kann
natürlich nicht ohne Weiteres beantwortet werden und im vorliegenden Zusammenhang
wird sie auch nicht weiter thematisiert. Denn wir müssen uns in der Frage, wen die T-Pfeiler
246
KL AUS SCHMIDT
verkörpern, nicht verbindlich entscheiden, wenn wir der Grundaussage zustimmen: Es
handelt sich in jeden Fall um sehr wichtige Wesen, die sich dort im Kreis versammeln.
Zu den beiden ersten Elementen der Thematik »Bild – Raum – Handlung« können wir
daher mit – vielleicht überraschender – Klarheit wichtige Beobachtungen festhalten. Der
sakrale Raum des frühholozänen Obermesopotamiens wird von einer (mehr oder weniger) kreisförmigen Versammlung hochstilisierter menschengestaltiger, ganz offenbar
einer jenseitigen Welt zugehöriger Wesen gebildet, die in streng kubischer Form in Stein
gehauen mit teilweise über 5 m Höhe die ersten Monumentalstatuen der Menschheit darstellen. Mit Mauern verbunden bilden sie den sakralen Raum und grenzen das Außen
vom Innen deutlich ab. Das sakrale Geschehen findet nicht umrahmt von einem Bauwerk
statt, die Versammlung selbst formiert sich zum architektonischen Gebilde. Die Bildwelt
der Kreisanlage lässt sich hierbei in drei Ebenen gliedern: zuerst die der anthropomorphen T-Pfeiler selbst, die das Geschehen fraglos dominieren, dann die auf den Pfeilern
angebrachten Tierreliefs, die mythologische Geschehen zu illustrieren scheinen, und als
dritte Ebene die der ›kleinen Zeichen‹, die neben Tiermotiven auch abstrakte Symbole
beinhalten2 . Alle drei Ebenen kodieren einen kulturellen Text, der für den steinzeitlichen
Menschen lesbar war und der den architektonischen Strukturen und dem so geschaffenen sakralen Raum in großer Intensität aufgeprägt ist.
Auch zum dritten Teil des Themas, dem Aspekt der »Handlung«, lässt sich Einiges beitragen, und dies gleich auf zwei Ebenen. Zunächst sind im Inneren der Kreise
rituelle Handlungen der steinzeitlichen Menschen zu erkennen. Was da genau stattfand
und welche Zwecke damit verfolgt wurden, ist im Dunkel der schriftlosen Vergangenheit
natürlich allenfalls noch zu erahnen, doch fand ›etwas‹ statt, denn es gibt Installationen
und Befunde, die dies deutlich anzeigen. Bei diesen Handlungen scheinen Flüssigkeiten
eine wichtige Rolle zu spielen, da sich mehrfach Steingefäße vor und zwischen den Zentralpfeilern beobachten ließen. In Anlage B befindet sich unmittelbar westlich vor dem östlichen Zentralpfeiler in den Terrazzoboden eingelassen eine flache Kalkschale, in die ein
kleiner, in den Rand der Schale eingesenkter Kanal führt (Abb. 2). Ganz offenbar konnte
so eine Flüssigkeit in die Schale geleitet werden. Ähnliche Schalen mit Zuleitungskanal
im Schalenrand sind am Göbekli Tepe aus sekundärem Kontext mehrfach belegt. Sie
erhielten angesichts des Befundes in Anlage B im Grabungsjargon den Begriff »Opferschalen«. Das Fassungsvolumen der Schalen liegt dabei allerdings deutlich unter einem
Liter, so dass es sich nicht um große Mengen vergossener Flüssigkeiten gehandelt haben
kann.
In der ovalen Anlage C wurde im Fußboden keine derartige ›Opferschale‹ angetroffen. Den Fußboden bildet hier der gewachsene Fels, der sorgfältig geglättet und offenbar
um mindestens 30 cm abgearbeitet wurde, da im Zentrum des Ovals zwei entsprechend
2
Morenz – Schmidt 2009.
DIE MEGALITHISCHEN KREISANL AGEN DES S TEINZEITLICHEN GÖBEKLI TEPE
247
hohe, trapezförmige Podeste zur Aufstellung der Zentralpfeiler von der Absenkung ausgespart blieben. Auf der westlichen Fläche des östlichen Podests befinden sich zwei
kreisförmige schalenartige Einsenkungen. Ihnen könnte die Funktion der sog. Opferschale von Anlage B zukommen. Zusätzlich fanden sich auf dem Podest zwei in der Mitte
durchlochte Steinteller und ein napfförmiges Steingefäß, dazu noch die Skulptur eines
deutlich unterlebensgroßen Keilers (Abb. 3). Die hier durchgeführten Rituale beinhalteten offenbar recht umfangreiche, detailreiche Geschehen.
Die Bedeutung des Raums vor und zwischen den Zentralpfeilern im Hinblick auf
rituelle Geschehen setzt sich in Anlage F fort. Die Zentralpfeiler sind hier im Unterschied
zu den Anlagen A bis E nicht nach Südsüdost, sondern nach Südwest hin orientiert. Vor
dem südöstlichen Zentralpfeiler treffen wir auf ein zwar zerbrochenes, ursprünglich aber
voluminöses Gefäß. In den Anlage A und D ist der Bereich zwischen den Zentralpfeilern
noch nicht bis zum Fußboden ausgegraben – es sollte keine Überraschung sein, wenn
auch hier weitere Gefäße angetroffen werden.
Die Verwendung von Flüssigkeiten im Rahmen der in den Kreisanlagen vollführten
Rituale erklärt möglicherweise auch das offenkundige Bestreben, die Anlagen mit wasserfesten Fußböden auszustatten. In den Anlagen C bis E ist es der sorgsam geglättete gewachsene Fels, bei Anlage B, F und G ein betonartiger, ebenfalls wasserfester Terrazzoboden (in
Anlage A wurde der Fußboden noch nicht freigelegt). Die Annahme, dass die Terrazzoböden Felsböden nachzuahmen versuchen, ist dabei sehr naheliegend. Doch ist mit diesen
Beobachtungen das Spektrum der in den Anlagen vollführten Rituale bei weitem noch
nicht durchmessen und es werden noch viele andere Dinge von Bedeutung gewesen sein.
Eine zweite »Handlungs«-Ebene eröffnen die T-Pfeiler selbst. Auch wenn nicht viele
mit der in Flachrelief ausgeführten Darstellung von Armen und Händen versehen sind,
so kann kein Zweifel daran bestehen, dass die anthropomorphe Gestalt für alle T-Pfeiler
gilt und dass der Gestus der V-förmig auf den Bauch gelegten, sich gegenüberstehenden
und sich nicht berührenden Hände von allen T-Pfeiler eingenommen wird.
Gestische Kommunikation gehört zu den wichtigen Themen der Kognitionsforschung. Leider ist der V-förmige Handgestus der T-Pfeiler noch wenig erforscht, ein
Sachverhalt, der um so bedauerlicher ist, als ihm beim Verständnis der Kreisanlagen des
Göbekli Tepe eine Schlüsselfunktion zukommt. Die Handdarstellung für sich genommen
ist ein vieldeutiges Zeichen. Das Spektrum der Deutungsmöglichkeiten reicht von der Gottes- zur Beterhand, von der Abwehr- zur Grußhand und im anderen Deutungsextrem zur
abgeschlagenen Hand des Feindes als Siegeszeichen3. Eine grundsätzlich polyseme Form
erlaubt es dem fernen Betrachter nicht, sich auf eine ganz konkrete Deutung festzulegen.
Die Vieldeutigkeit des Handzeichens wird allerdings in Fall der T-Pfeiler in ihrer Spannweite erheblich reduziert. Denn es erscheint die Hand ja nicht als Bildzeichen, sondern
als Bild, anatomisch eingebunden in die kubische Körperlichkeit der Pfeilerwesen. Ohne
3
248
Vgl. z. B. Jursch 1952; Wollenik 1982.
KL AUS SCHMIDT
Abb. 2 | Der östliche Zentralpfeiler der Anlage B mit
einer in den Terrazzoboden eingelassenen Kalkschale.
Abb. 3 | Anlage C, auf dem östlichen Felspodest zwei
in der Mitte durchlochte Steinteller und ein napfförmiges Steingefäß, dazu noch die Skulptur eines
deutlich unterlebensgroßen Keilers.
Frage bemerkenswert ist, dass alle Pfeiler offenbar die gleiche Geste zeigen, denn wir
können, wie schon angeführt, recht sicher sein, dass auch die Pfeiler ohne Arm- und
Handdarstellungen letztlich den gleichen Gestus einnahmen, einen Gestus, der so selbstverständlich war, dass auf seine bildliche Umsetzung eben auch verzichtet werden konnte.
Ist mit diesem Gestus Meditation, ist Gebetshaltung gemeint? Die Welt des Buddhismus z. B. kennt eine Vielzahl von Handgesten 4 , doch fehlt der Gestus der V-förmig
sich gegenübergestellten Hände. Auf dem Bauch übereinander gelegte Hände sind in der
Malerei des Mittelalters oft bei Frauendarstellungen zu beobachten. Dies wird als Ausdruck weiblicher Schamhaftigkeit verstanden. Aber die Hände der T-Pfeiler sind nicht
ruhend übereinander gelegt, sondern stehen sich gegenüber, und es erscheint als sehr
wahrscheinlich, dass dieser Unterschied nicht im darstellerischen Unvermögen der
4
Vgl. Seitz 2006.
DIE MEGALITHISCHEN KREISANL AGEN DES S TEINZEITLICHEN GÖBEKLI TEPE
249
steinzeitlichen Künstler begründet liegt. Die auffällig positionierten Hände scheinen neben der Stola das einzige darstellungsrelevante Merkmal der T-Pfeiler zu sein (Abb. 4).
Durch die Armhaltung könnte man nun annehmen, dass die Hände zur Geschlechtsregion hingeführt werden. Zeigen die Hände etwa auf den Phallus- bzw. die Vagina, auch
wenn kein Geschlechtsteil abgebildet ist?
Bei der Suche nach Vergleichen zur V-förmigen Handhaltung der T-Pfeiler erinnern
wir uns schnell der Monumentalstatuen der Osterinsel, die in ganz ähnlicher Weise in
Flachrelief dargestellte und am Körper anliegende, nach vorn gebeugte Arme und auf den
Bauch gelegte und sich gegenüberstehende, aber nicht berührende Hände besitzen5 . Doch
auch im Fall der Osterinselstatuen, über die wir in vielen Aspekten, so z. B. hinsichtlich
ihrer Herstellung und ihres Transports von den Steinbrüchen zu den Aufstellungsorten
hin, gut unterrichtet sind, ist wenig über die Bedeutung des an sich auffälligen HandGestus bekannt. So ist nicht völlig klar, ob die Hände ruhen oder ob sie etwas halten, etwas präsentieren, denn aus den vorhandenen Abbildungen wird oft nicht ersichtlich, ob es
sich bei bestimmten Objekten, die sich oft zwischen den Händen beobachten lassen, nur
um die Knoten eines Hüfttuches handelt oder ob auch das männliche Glied abgebildet
ist – und ob sich dieses im eregierten Zustand befindet. So ist sich selbst Heide-Margaret
Esen-Baur, die über die Statuen gearbeitet hat, hier offenbar nicht vollkommen sicher und
und sie findet zu den Worten: »Zwischen den Händen ist der Knoten des Lendenschurzes,
gelegentlich das männliche Glied in Hochrelief gearbeitet […] Vom Gesamteindruck her
dürfte es sich bei den Kollossalfiguren um phallische Bildnisse handeln«6.
Wenig beachtet wurde auch der Sachverhalt, dass die ›klassischen‹ Monumentalstatuen der Osterinsel knapp unterhalb der Hände gleichsam abgeschnitten, Unterkörper und
die Beine nicht dargestellt wurden. Die Unterseite der Statuen ist völlig gerade gebildet,
so dass angesichts der großen planen Fläche eine stabile Aufstellung ohne Verankerung
möglich war. Auch die steinzeitlichen T-Pfeiler besitzen keine Beine. Sie enden zwar nicht
unmittelbar unterhalb der Hände, doch zeigen die Proportionen von Kopf, Oberkörper,
Bauch (hier ruhen die Hände) und Schaftunterteil unzweideutig, dass auch hier der untere Körperabschnitt mit den Beinen allenfalls rudimentär und stark verkürzt dargestellt
wurde. Der Erkenntniswert der aufgezeigten phänomenologischen Gemeinsamkeiten der
Monumentalplastik beider geographisch und zeitlich entfernter Regionen muss vorläufig
leider unbestimmt bleiben. Das Beispiel »Osterinsel« wurde deshalb hier ausgebreitet,
um aufzuzeigen, dass selbst im Fall der durch ethnographische Daten gut erschlossenen
Osterinsel und ihrer Monumentalstatuen der Hand-Gestus der sich gegenübergestellten,
sich aber nicht berührenden Hände noch nicht abschließend erforscht zu sein scheint.
So verwundert es nicht weiter, dass wir auch bei den steinzeitlichen Vergleichsstücken, die diesen Hand-Gestus aufweisen, über dessen Bedeutung vorläufig keine völlige
5
6
250
Heyerdal 1975; Bothmer-Plates et al. 1989.
Esen-Baur 1989, 92 und 93.
KL AUS SCHMIDT
Abb. 4 | Der östliche Zentralpfeiler der Anlage D mit
Armen, Händen, Gürtel und
Lendenschurz, Höhe mit
Felspodest 5,5 m.
Gewissheit erlangen können. Bei der ältesten bekannten vollständig erhaltenen und lebensgroßen menschlichen Plastik, der Urfa-Statue, ist angesichts der hier nicht eindeutigen Erhaltung der in Flachrelief gezeichneten Details nicht völlig klar, ob die Hände das
männliche Glied ergreifen, ob sie den Phallus präsentieren7. Doch bei der Kilisik-Statue
mit zwei übereinander gereihten Individuen – ins Bild gesetzt sind jedenfalls deren Armpaare – präsentiert das obere der dargestellten Wesen offenbar den Phallus8. Auch beim
kürzlich entdeckten sog. Totempfahl vom Göbekli Tepe begegnen wir dieser Arm- und
7
8
Bucak – Schmidt 2003.
Hauptmann 2000.
DIE MEGALITHISCHEN KREISANL AGEN DES S TEINZEITLICHEN GÖBEKLI TEPE
251
Handhaltung9. Unter einem Raubtier befindet sich eine Person, deren Kopf von den Pranken des Raubtieres gehalten wird. Die Hände der Person sind auf den Bauch gelegt, ganz
offenbar ohne etwas zu halten und ohne sich zu berühren. Auch die zweite Person, die
unterhalb der ersten dargestellt ist, zeigt diese Arm- und Handhaltung. Zwischen den
Händen befindet sich hier aber ein (vergleichsweise großes) Objekt. Es bleibt leider unklar, wie dieses zu deuten ist. Es könnte einen Kopf darstellen, so dass es sich um eine
Geburtsszene handeln würde. Es könnte sich aber auch um die Darstellung des Skrotums
handeln und eine Bruchstelle am oberen Rand des Objektes die Ansatzstelle des abgebrochenen Phallus anzeigen, den bei dieser Deutungsvariante die Hände ergreifen würden.
Das Phallus-Präsentieren kann wie das weibliche Äquivalent, das Schamweisen, als
apotropäische Geste verstanden werden 10. Die meisten der von Irenäus Eibl-Eibesfeld und
Christa Sütterlin beschriebenen Darstellungen dieser Art wirken stark aggressiv auf den
Betrachter. Erika Qasim verweist auf das weitverbreitete Vorhandensein dieses Gestus
bei neolithischen Figurinen der Alten Welt 11 . Sie führt u. a. eine weibliche Darstellung
aus der Hamangia-Kultur an, die die gleiche Arm- und Handhaltung wie die T-Pfeiler
aufweist. Bemerkenswert, dass diese Figurine ohne Kopf und Gesicht, nur mit einem
aus den Schultern erwachsenden langezogenen konischen Zapfen angefertigt wurde. Das
Schamweisen ist bei diesen Figurinen mit auffallend großen Brüsten kombiniert, so dass
Qasim hier in überzeugender Weise eine Verdopplung des Abwehrgestus, ein Verbindung
von Brust- und Schamweisen sieht.
Ist es die apotropäische Haltung des Phallus- bzw. des Schamweisens, die trotz der Reduzierung des Gestus auf die Hände, trotz der Nichtdarstellung des Genitals den T-Pfeilern zukommt? Ist mit diesem Gestus die Bedeutung der T-Pfeiler gefunden und gehören
die Kreisanlagen zu den Strategien zur Bewältigung von Angst, verkörpern die T-Pfeiler
in Stein konservierte apotropäische Gesten?
Der Gedanke, dass auch die T-Pfeiler diesen Gestus einnehmen, ohne dass das Genital dargestellt wäre, kann nach der vollständigen Freilegung der beiden Zentralpfeiler der
Anlage D ausgeschlossen werden. Hier fanden sich neben Armen, Händen und Stola noch
weitere Details, die zunächst den Statuencharakter der Pfeiler unterstreichen und deutlich
machen, wie sehr »Pfeiler« als Hilfsbegriff zu verstehen ist. Beide Pfeiler tragen einen Gürtel, an dem auf der Bauchseite ein Tierfell als Lendenschurz befestigt ist (Abb. 4). Auch
wenn dieser die Genitalregion verdeckt und nicht unmittelbar erkennen lässt, welchem Geschlecht die Pfeilerwesen zugehören, so können wir nach unseren bisherigen ikonographischen Kenntnissen recht sicher sein, dass als Gürtelträger nur Männer in Frage kommen.
Da die Hände sich aber über dem Gürtel und dem Lendenschurz befinden, ist mit Sicherheit auszuschließen, dass die Pfeilerwesen als phallische Bildnisse konzipiert waren.
9
10
11
252
Köksal-Schmidt – Schmidt 2010.
Eibl-Eibesfeld – Sütterlin 1992.
Qasim 2009.
KL AUS SCHMIDT
Somit lässt sich abschließend feststellen, dass die Frage nach dem Verhältnis von Bild
zu umgebendem Raum klar beantwortet werden kann. Die T-Pfeiler und die darauf angebrachten Bilder definieren den Raum, sie selbst formieren sich zum architektonischen
Gebilde. Welche Handlungen allerdings in diesem Raum vollführt wurden, welche Auswirkungen die Präsenz der Bilder auf die Art und Weise des Vollzugs der Handlungen
hatte ist noch ungeklärt ebenso wie die Frage, inwieweit die Art und Weise der Gestaltung der Bilder und des Raumes eine Folge der dort vollzogenen Handlungen war. Der
archäologische Interpret steht vor dem Problem, eine vor 12.000 Jahren kodierte Botschaft
dekodieren zu wollen, eine Botschaft, die zudem nicht an ihn adressiert war. Bei der Deutungsarbeit stützen wir uns auf die Annahme, dass die Zeichen bewusst zur Kodierung
einer Botschaft geschaffen wurden. Wir können deshalb zuversichtlich sein, dass bei der
Fortführung der Ausgrabungen und der zu erwartenden zahlreichen Neufunde in dieser
Frage bald bedeutende Schritte hin zu befriedigenden Antworten möglich sein werden –
und letztlich steht zu erwarten, dass auch die monumentalen Anlagen des Göbekli Tepe wie
die vieler anderer Kulturen im Dienste der kulturellen Überwindung des Todes standen.
Bibliographie
Bothmer-Plates et al. 1989
A. Graf von Bothmer-Plates – H.-M. Esen-Baur – D. Sauer, 1500 Jahre Kultur der Osterinsel.
Schätze aus dem Land des Hotu Matua. Ausstellungskatalog Frankfurt a. M. (Mainz 1989).
Bucak – Schmidt 2003
E. Bucak – K. Schmidt, Dünyanın en eski heykeli, Atlas 127, ekim 2003, 36–40.
Eibl-Eibesfeld – Sütterlin 1992
I. Eibl-Eibesfeld – C. Sütterlin, Im Banne der Angst. Zur Natur- und Kunstgeschichte
menschlicher Abwehrsymbolik (München 1992).
Esen-Baur 1989
H.-M. Esen-Baur, Megalithische Steinplastiken und monumentale Architektur, in: A. Graf
von Bothmer-Plates – H.-M. Esen-Baur – D. Sauer, 1500 Jahre Kultur der Osterinsel. Schätze
aus dem Land des Hotu Matua. Ausstellungskatalog Frankfurt a. M. (Mainz 1989) 87–108.
Hauptmann 2000
H. Hauptmann, Ein frühneolithisches Kultbild aus Kommagene, in: J. Wagner, (Hg.),
Gottkönige am Euphrat. Neue Ausgrabungen und Forschungen in Kommagene,
Sonderbände der Antiken Welt. Zaberns Bildbände zur Archäologie (Mainz 2000) 5–9.
Heyerdal 1975
T. Heyerdal, Die Kunst der Osterinsel. Geheimnisse und Rätsel (Gütersloh 1975).
DIE MEGALITHISCHEN KREISANL AGEN DES S TEINZEITLICHEN GÖBEKLI TEPE
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Jursch 1952
H. Jursch – I. Jursch, Hände als Symbol und Gestalt 3(Berlin 1952).
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F. Kammerzell (Hgg.), Non-Textual Marking Systems, Writing and Pseudo Script from
Prehistory to Modern Times, Lingua Aegyptia - Studia monographica 8 (2009) 13–31.
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Interpretation in: ArchaeNova e.V. (Hg.), Erste Tempel – Frühe Siedlungen. 12000 Jahre
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K. Schmidt, Göbekli Tepe – Sanctuaries of the Stone Age. New results of the Ongoing
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Praehistorica XXXVII, 2010, <http://arheologija.ff.uni-lj.si/documenta/pdf37/37_21.pdf>.
Seitz 2006
G. Seitz, Die Bildsprache des Buddhismus (Düsseldorf 2006).
Wollenik 1982
F. Wollenik, Abwehrhand und Drudenfuß – Felsbilder in Bayern. Unter Mitarbeit von
Ebba Wendt, Maria Paulus, Peter Wörnle (Hallein 1982).
Abbildungsnachweis
Abb. 1. 4 : N. Becker, DAI; Abb. 2: I. Wagner, DAI; Abb. 3: K. Schmidt, DAI.
254
KL AUS SCHMIDT