ZU DEN NEUEREN NIETZSCHE-ÜBERSETZUNGEN IN UNGARN
Der vorliegenden Übersetzungskritik muß vorangestellt werden, daß die Verfasserin die
ungarische Sprache für sehr geeignet hält, abstrakteste Gedanken und Feinheiten aller Art
auszudrücken. Es mag andere Sprachen geben, wo der Übersetzer an der Enge des Vokabulars, an
grammatikalischen Besonderheiten scheitert bzw. wo er oft zu Umschreibungen greifen muß – das
Ungarische gehört jedenfalls nicht dazu. Es bietet unter anderem die Möglichkeit, durch Infixe und
Suffixe Wörter zu bilden, die jedem Einheimischen sofort verständlich sind, ohne daß er sie jemals
vorher gehört hätte. So ist bei der Übersetzung Hegels z.B. der Begriff des „Sollens“ durch ein neu
gebildetes Wort – (a kellés – hauptwörtlicher Gebrauch von „kell“ – müssen) – übersetzt worden.
Wenn also bei den Übersetzungen Unzulänglichkeiten bemängelt werden, so bin ich hierbei von
der Überzeugung geleitet, daß diese sich nicht notwendig aus dem Charakter der Sprache ergeben
und daher im mangelnden sprachlichen oder inhaltlichen Verständnis des Übersetzers begründet
sind.
Im Jahre 1990 ist ein Buch mit dem Titel „A vándor és árnyéka“ – Der Wanderer und sein
Schatten – beim Verlag Göncöl erschienen. Dieses Buch enthält die Dritte Unzeitgemäße
Betrachtung – „Schopenhauer als Erzieher“, und einen Teil von „Menschliches, Allzumenschliches
I & II“. Das Buch gelangte mit der Schleife „Erschienen zum 90. Todestag des Verfassers“ in den
Buchhandel. Das ist insofern von Bedeutung, als damit klar ist: Es gab eine Frist, bis dahin sollte
offenbar die Übersetzung fertig sein. Das ist eine Erklärungsmöglichkeit dafür, warum sie
unvollständig ist. Davon später. Der Übersetzer heißt Gábor Török.
1. Schopenhauer als Erzieher
Die Übersetzung ist ungenau, und zwar von einer gewissen Schwatzhaftigkeit geleitet, die dann
eben haarscharf an dem, was Nietzsche meint, vorbeigeht.
Ansonsten ist bei diesem Übersetzer ein gewisser Hang festzustellen, Nietzsche dort zu
verharmlosen, wo er ihm zu sehr gegen bürgerliche Konventionen zu verstoßen scheint, und ein
süßliches Anstandsdeckchen darüber zu breiten. Ein Beispiel dafür bereits auf der ersten Seite – der
Satz: „die Menschen … fürchten gerade am meisten die Beschwerden, welche ihnen eine
unbedingte Ehrlichkeit und Nacktheit aufbürden würde.“ (KSA 1, S 337) Hier wurde „Ehrlichkeit“
mit „Anständigkeit“1 übersetzt, – unnötigerweise, denn es gäbe ein entsprechendes Wort;
„Nacktheit“ hingegen mit „Offenheit“2 – hätte Nietzsche „Offenheit“ gemeint, so hätte er es auch so
hingeschrieben. Das Wort „aufbürden“ ist durch „von ihnen fordern“3 übersetzt.
Bereits im nächsten Satz gibt es wieder Grund zur Beanstandung: Nietzsche schreibt
„übergehängte Meinungen“, der Übersetzer macht „zusammengeworfene Gemeinplätze“4 daraus –
kann das daran liegen, daß im Ungarn des Jahres 1990 niemand etwas gegen eine Meinung sagen
mag?
Da die Schrift eher zu den schwärmerischen Werken Nietzsches gehört, ist die Übersetzung im
weiteren etwas besser gelungen – es gibt nicht allzuviel kritische Bemerkungen, gegen die der
Übersetzer seine anscheinend vorliegenden inneren Widerstände überwinden mußte. Aber auch so
hat man unbefriedigende Erlebnisse, wenn man eine Seite genau durchliest. So z.B. die Seite 86, im
letzten, achten Abschnitt des Buches, sie entspricht ungefähr der Seite 424 der KSA. „Um nicht
prinzipiell die Ausscheidung von Disziplinen wünschen zu müssen“ ist übersetzt: „von der
1
tisztesség
nyíltság
3
követel
4
összedobált közhelyek
2
Ausscheidung der erwähnten Disziplinen abgesehen“,5 „die Nicht-Akademiker haben gute Gründe“
ist bei Török um „Rechte“6 ergänzt worden, als ob Gründe allein ihm zu wenig wären. Schließlich
wird „nicht vorangehen“ im gleichen Satz übersetzt mit „nicht fortschreiten“,7 das ist verkehrt, denn
Nietzsche meint, daß sie nicht vorne gehen, nicht, daß sie überhaupt nicht gehen. Schließlich wird
das Wort „Anzeichen“ (hinter: „Lehrstühle für Goethe und Schiller“, KSA S 425 oben) mit
„Kriterien“8 wiedergegeben.
2. Menschliches, Allzumenschliches
Der erste Mangel dieser Übersetzung ist einer der Vollständigkeit. Von den 638 Aphorismen des
ersten Bandes sind 296 übersetzt. Dem zweiten Teil ist es prozentuell noch schlechter ergangen:
Von den 408 Aphorismen der „Vermischten Meinungen und Sprüche“ sind 107 auf den
ungarischen Leser gekommen, von „Der Wanderer und sein Schatten“, der Titelgeschichte
sozusagen, ganze 138 von 349. (Der nicht numerierte Schluß fehlt ebenfalls.) Und zwar sind die
Aphorismen mit ihrer Originalnummer angeführt, und dann folgt der nächste übersetzte
Aphorismus, dazwischen fehlen zwischen einem und 7 andere.
Bei dem Abschnitt „Das religiöse Leben“ sind von 33 Aphorismen 8 übersetzt, die
religionskritischeren oder gar spottenden, wie 108, 110, 113, 115-117, 133, 134 – fehlen. Zensur
eines Anstandshüters?
Das Buch verfügt zwar über ein Nachwort des Übersetzers, in dem der unterschiedliche Aufbau
und teilweise die Umstände der Entstehung der „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ und von
„Menschliches, Allzumenschliches“ besprochen werden und in dem immerhin drei Seiten der
Behandlung des Aphorismus als Ausdrucksform gewidmet sind. Aber in diesem Nachwort findet
sich kein Hinweis darauf, warum die Übersetzung so lückenhaft ausgefallen ist. Und zwar wird
weder der Grund der Auslassungen, noch das Kriterium der Auswahl derjenigen Aphorismen, die
übersetzt wurden, genannt.
Auch auf dem Umschlag oder im Klappentext des Buches steht nichts von „Auswahl“ oder
„gekürzter Ausgabe“, sondern das Buch wurde im Gegenteil noch mit einer besonderen Schleife
beworben, auf der „Erschienen zum 90. Todestag des Verfassers“ zu lesen war. Es kann daher m.E.
durchaus von einer bewußten Täuschung des Käufers gesprochen werden, der erst beim Durchlesen
des Buches feststellt, daß da einiges fehlt. Es ist auch seither keine vollständige Übersetzung des
Buches erschienen, noch hat der Übersetzer sich über andere Werke Nietzsches gewagt. Die
Tatsache, daß das andere Nietzsche-Buch, das beim gleichen Verlag veröffentlicht wurde, von
jemand anderem übersetzt worden ist, deutet auf ein Zerwürfnis zwischen Verlag und Übersetzer
hin.
Die Übersetzung selbst läßt auch zu wünschen übrig: So ist der „Erbfehler der Philosophen“
(MA 2) mit „Ewiger Fehler der Philosophie“ übersetzt (S. 101), „Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo
die Religionen nachlassen.“ (MA 150) ist wiedergeben mit „Die Kunst entsteht …“9 (S. 148) „Ein
Mensch stirbt, eine Eule krächzt … alles in Einer Nachtstunde …“ (MA 255), hier hat der
Übersetzer gemeint, „in dunkler Nacht“10 wiedergeben zu müssen, „Nacht“ kursiv gesetzt (S. 181).
Manchmal neigt die Übersetzung zu entstellenden Vereinfachungen: „ein Gleichbleibendes in
allem Strudel“ (MA 2) ist einfach etwas „Beständiges“11 (S. 101), „sind eine unerschöpfliche
5
(...) az említett diszciplinák kiválásáról eltekintve is, (...)
okuk és joguk van rá
7
nem haladnak
8
ismérv
9
születik
10
sötét éjszaka
11
valami állandó
6
Beweis-Fundgrube“ (MA 271) heißt schlicht „beweisen“12 (S. 185), die „grösste Erleichterung des
Lebens“ (MA 462) wird zum „leichtesten Leben“13 (S. 218). Manchmal erlaubt sich der Übersetzer
dichterische Freiheit, ein Beispiel der Aphorismus MA 277: „seither“ ist wiedergegeben mit „seit
wir die Stätte unserer Kindheit das letzte Mal gesehen haben“.14 Das ist in dem „seither“ gar nicht
ausgesagt, wahrscheinlich ist gemeint: seit unserer Kindheit. „Nur sind wir … so bewegt“ gibt der
Übersetzer mit „über uns ist die Zeit hinweggegangen“ wieder,15 das gesperrte „mehr“ übersetzt er
gleich doppelt: einmal im Sinne von mengenmäßig „mehr“, einmal im Sinne von „nicht mehr“16 (S.
188). Dabei hat Nietzsche vermutlich dieses Wort deshalb gesperrt geschrieben, um die Leseart
„nicht mehr“ zu vermeiden.
Das Wort „Affekt“ (MA 214, es geht hier um Liebe und Sexualität) mit „Effekt“17 (S. 162) zu
übersetzen, heißt Ursache und Wirkung vertauschen. „Die Griechen besaßen Nichts weniger, als
eine vierschrötige Gesundheit,“ heißt es im gleichen Aphorismus, Török übersetzt: „Die Griechen
erfreuten sich einer robusten Gesundheit“.18
Im Aphorismus MA 354 ergeht sich Nietzsche über die Begriffe des Freundes und des
Verwandten bei den Griechen und drückt im Schlußsatz seine Verwunderung darüber aus, daß
dieses Volk, das die Freundschaft so gut verstand, den Verwandten besser einstuft, als es Nietzsche
tut. Dieser Gegensatz wird in der Übersetzung ein wenig unter den Tisch gekehrt, dort lautet der
Schlußsatz: „All dies ist mir unverständlich“,19 – also auch die griechische Auffassung der
Freundschaft ebenso wie die der Verwandtschaft.
„Alle guten Dinge haben etwas Lässiges und liegen wie Kühe auf der Wiese.“ (VM 107) schreibt
Nietzsche und will mit „lässig“ durchaus nichts Nachteiliges gesagt haben, der Übersetzer läßt sich
vom Bild der Kuh täuschen und übersetzt „Lässiges“ mit „Schwerfälligkeit“.20 (S. 263)
Ein gröberer Schnitzer ist allerdings die Übersetzung von einem der „verwegenen Ehrlichen“ mit
(WS 267) „einer unserer verirrten Großen (genauer: jemand, auf den wir stolz sind)“.21 Wo der
Stolz herkommt, ist schon kryptisch genug, das Wort „verwegen“ hat der Übersetzer offenbar wie
folgt zerlegt: „Weg“, Vorsilbe „ver-“, also: „vom Weg abgekommen“, also: „verirrt“. Für so einen
Fall gibt es Wörterbücher, die man zu Rate ziehen kann, das führt zu ergiebigeren Resultaten!
Bei dieser Übersetzung kann man übrigens in jedem Aphorismus solche Schnitzer finden, ich
habe nur Stichproben gemacht.
Ecce homo
Die Übersetzung des 3. Buches, des „Ecce homo“, ist beim gleichen Verlag Göncöl erschienen,
aber von einem anderen Übersetzer, von Géza Horváth. Dieser, das sei vorangestellt, versieht seine
Aufgabe unvergleichlich besser, man kann ihm das Verständnis des Textes, oder Nietzsches
überhaupt nicht absprechen – im Gegensatz zu seinem Vorgänger.
Der Übersetzer bricht mit der herkömmlichen ungarischen Übersetzung des Wortes
„Übermensch“, wie sie in der bisher als maßgeblich angesehenen Übersetzung des „Zarathustra“
durch Ödön Wildner vom Anfang dieses Jahrhunderts festgelegt worden ist. Wildner übersetzte
12
bizonyítják
legkönnyebb élet
14
mióta utoljára láttuk gyermekkorunk színhelyét
15
fölöttünk múlott el az idő
16
már nem érződik erősebben
17
effektus – Es mag sein, daß es sich um einen Druckfehler handelt, aber eben um einen sehr entstellenden.
18
A görögök robusztus egészségnek örvendtek.
19
Mindez érthetetlen számomra.
20
tohonyaság
21
eltévelyedett büszkeségünk
13
„Übermensch“ mit „emberfölötti ember“, was soviel bedeutet wie „der Mensch über dem
Menschen, oberhalb des Menschen“, oder „der über dem Menschen stehende Mensch“.
Géza Horváth übersetzt „Übermensch“ mit „emberebb ember“, was soviel bedeutet wie: „der
menschgemäßere Mensch, der menschenartigere Mensch“. Auch sonst hat Horváth die ZarathustraÜbersetzung Wildners nicht übernommen und diejenigen Stellen des „Zarathustra“, die in „Ecce
homo“ zitiert werden, neu übersetzt – in ein modernes Ungarisch. Wobei erwähnt werden muß, daß
Wildner sich bei seiner Übersetzung absichtlich einer antiquierten Sprache bediente, um den
poetischen Gehalt des Buches deutlicher herauszustreichen.
Die Übersetzung Horváths ist also um vieles besser als diejenige von Török, aber Fehler sind
auch hier unterlaufen.
So verwechselt der Übersetzer öfter 1. und 4. Fall, oder Subjekt und Prädikat. So ist der Satz:
„Er reagiert auf alle Art Reize langsam, mit jener Langsamkeit, die eine lange Vorsicht und ein
gewollter Stolz ihm angezüchtet haben, – “ (Warum ich so weise bin 2) übersetzt mit: „ … und
diese Langsamkeit bildet ungeheure Vorsicht und bewußten Stolz in ihm aus.“22 (S. 26) Hier
werden Ursache und Wirkung verwechselt.
Schon vorher tritt ein solcher Fehler auf, im selben Aphorismus: „ – das verräth die unbedingte
Instinkt-Gewißheit darüber, was damals vor allem noth that.“ In der Übersetzung steht: „… das
verräth die unbedingte Instinkt-Gewißheit, die mir damals mehr als alles andere nötig war.“23 (S.
25)
Es gibt auch einfache, am einzelnen Wort festzumachende Übersetzungsfehler:
Ob „Wohlgerathenheit“ mit „Gesundheit“24 (S. 25), „blutig“ mit „tödlich“25 (S. 26), „Lauterkeit“
mit „Reinlichkeit“26 (S. 35), „einzelne“ mit „bestimmte“27 (S. 56), „Lernen“ mit „Zuwachs,
Vermehrung“28 (S. 64) bestmöglich übersetzt ist, kann angezweifelt werden. Ein „überflüssiges
Gefühl“ (Warum ich so weise bin 6) wird in der Übersetzung zu einem „überschäumendem
Gefühl“29 (S. 32), was zwar vom Bild her ähnlich sein mag, in der Bedeutung jedoch nicht.
„Reizbar für fremde Not“ (Warum ich so weise bin 7) heißt nicht, wie vom Übersetzer verfälscht,
„reizbar dafür, andere zugrunde zu richten.“30 (S. 33) Manchmal kommt überhaupt alles
durcheinander: „die Raffinierten“, so heißt es bei Nietzsche, würden „mit den Reichen, die Späten
mit den Großen verwechselt.“ Bei Horváth wird „das Gekünstelte mit dem Reichtum, das
Verspätete mit der wahren Größe verwechselt.“31 (S. 34) „Übermütig“ wird zu „hochmütig“.32 (S.
39) Nach mehrseitigen Ausführungen Nietzsches über rechte Ernährung meint er „ … die
Unwissenheit in physiologicis – der verfluchte »Idealismus«“ sei das Verhängnis seines Lebens
gewesen. (Warum ich so klug bin 2), der Übersetzer macht daraus „in psychologicis“ (S. 44)
Die Aussage Nietzsches, er sei „ein Psychologe …, der nicht seines Gleichen hat“ (Warum ich
so gute Bücher schreibe 5), wird in der Übersetzung zu einem „unschuldigen“33 Psychologen (S.
67). Gänzlich danebengegangen ist die folgende Übersetzung: Im Original steht der „geborene
Rattenfänger, (…) welcher (…) nicht einen Blick blickt, in dem nicht eine Rücksicht (…) der
Lockung läge, zu dessen Meisterschaft es gehört, dass er zu scheinen versteht –“ (Warum ich so
gute Bücher schreibe 6). Im Ungarischen wird daraus: „ … den jede Lockung völlig kalt läßt und
22
ez a megfontoltság óriási elővigyázatot és tudatos büszkeséget alakít ki benne
arról a föltétlen ösztönbizonyosságról árulkodik, amelyre akkoriban minennél inkább szükségem volt
24
egészség
25
halálosan
26
tisztaság
27
bizonyos
28
gyarapodás
29
túlcsorduló érzés
30
ingerlékeny is mások megnyomorítására
31
összetéveszti a keresettet a gazdagsággal, a megkésettet az igazi nagysággal
32
gőgös
33
ártatlan
23
der dennoch ganz einfach strahlt (…)“34 (S. 70) Einmal wird „Selbstsucht“ (Warum ich ein
Schicksal bin 7) mit „Selbstzucht“35 (S. 137) übersetzt.
Manchmal entsteht der Eindruck, der Übersetzer denke nicht mit: Nietzsche bespricht die
Absicht und Leistung der christlichen Moral, „das Mißtrauen gegen die Instinkte zur zweiten Natur
zu machen“ (Warum ich ein Schicksal bin 8). Horváth schreibt: „die Instinkte zu verwirren und
Mißtrauen gegen die zweite Natur zu säen“36 (S. 139) – er zerbricht sich hier nicht den Kopf,
warum Nietzsche in seiner Übersetzung auf einmal zum Advokaten einer zweiten Natur gemacht
wird.
Wenn von einem Herren, der bei Nietzsche „sorgsam“ die „Erlaubnis“ eingeholt hatte, ihn zu
besuchen, die Rede ist (Warum ich so weise bin 4), so ist es etwas mißverständlich, zu übersetzen:
„nachdem er sich alle erforderlichen Genehmigungen beschafft hatte“37 (S. 28), als ob er die
Behörden des Kantons Engadin oder die Zollbehörden der Schweizer Grenze von seinem Kommen
in Kenntnis hätte setzen müssen. Auch „ich ertappte diese Bildung dabei auf der That“ (Warum ich
so weise bin 7) ist mit „ich riß dieser Bildung die Larve vom Gesicht“38 (S. 34) nicht genau
wiedergegeben.
Der Satz „Wenn irgend Etwas … gegen Kranksein … geltend gemacht werden muss, so ist es,
dass in ihm der eigentliche Heilinstinkt … im Menschen mürbe gemacht wird“ (Warum ich so
weise bin 6) ist vom Übersetzer offenbar nicht richtig, nämlich als gedanklicher Einwand,
verstanden worden. Er schreibt: „Wenn man der Krankheit etwas entgegensetzen muß, so das, daß
der in ihr enthaltene eigentliche heilsame Trieb … aufgerieben werden soll.“39 (S. 31) „Es ist mir
gänzlich entgangen, worin ich »sündhaft« sein sollte.“ wird übersetzt mit „es läßt mich kalt, warum
ich »sündhaft« sein sollte.“40 „Rückständig bis zur Heiligkeit“ (Warum ich so klug bin 1) wird
wiedergegeben mit „hier blieb ich bis ins Unendliche zurück“.41
Auf dieser Seite hat überhaupt die Aufmerksamkeit des Übersetzers etwas nachgelassen.
Nietzsche schreibt „die vollkommene Nichtswürdigkeit der deutschen Bildung – ihr »Idealismus« –
“, meint also, die deutsche Bildung sei deswegen nichtswürdig, weil sie idealistisch sei bzw. sich als
solche bezeichne. Die Übersetzung lautet „die Nichtswürdigkeit der dt. Bildung, des »Idealismus«“
(S. 39), leistet also dem Irrtum Vorschub, es gebe einen nicht nichtswürdigen Idealismus, nur eben
nicht in Deutschland.
Der Satz „Als ob es nicht von vornherein verurtheilt wäre, »klassisch« und »deutsch« in einen
Begriff zu einigen!“ (Warum ich so klug bin 1) ist dem Übersetzer offensichtlich nicht klar
gewesen. Nietzsche meint nämlich: Die zwei Begriffe widersprechen einander. Die Übersetzung
lautet: „Als ob »klassisch« und »deutsch« nicht von vornherein dazu verurteilt wären, in einem
Begriff vereint zu werden“,42 (S. 39) versucht also eine Art historische Notwendigkeit zu
postulieren. „Ein ehrlicher Atheist“ meint Nietzsche, sei eine „in Frankreich spärlich und fast kaum
auffindbare species“ (Warum ich so klug bin 3), Horváth übersetzt, „die species“ sei „in Frankreich
fast ausgestorben“43 (S. 47), was den Trugschluß entstehen läßt, sie sei dort früher häufiger
aufzufinden gewesen – eine Behauptung, die Nietzsche jedoch nicht aufgestellt hat. Im Satz: „Alle
Fragen der Politik … sind dadurch bis in Grund und Boden verfälscht, dass man die schädlichsten
Menschen für grosse Menschen nahm, – dass man die »kleinen« Dinge (…) verachten lernte“
34
nem törődik a csábítással, mégis ragyog, egyszerűen ragyog
„önfegyelem“ (Selbstzucht) – Selbstsucht wäre önzés
36
hogy összekuszálják az ösztönöket és bizalmatlanságot keltsenek a második természet iránt
37
miután gondosan beszerzett minden szükséges engedélyt
38
magáról a müveltségről rántottam le a leplet
39
Ha egyáltalán valamit szembe kell helyezni a betegséggel (...), akkor azt, hogy a benne lévő gyógyító ösztön (...)
fölörlődjék
40
Tőkéletesen hidegen hagy, mennyiben volnék »bűnös«
41
ebben a kérdésben maradtam el a végtelenségig
42
mintha „klasszikus“ és „német“ eleve nem arra ítéltetett volna, hogy egy fogalommá kovácsolják őket
43
mely species Franciaországban szinte már kihalt
35
(Warum ich so klug bin 10), wird in der Übersetzung das „dadurch“ ganz weggelassen, anstelle des
ersten dass ein Beistrich gesetzt, somit das ganze in eine Aufzählung verwandelt, sodaß dann das
zweite „dass“, welches im Unterschied zum ersten schon übersetzt ist, völlig in der Luft hängt.44 (S.
58) Der dritte Abschnitt von „Ecce homo“ beginnt mit dem Satz: „Das Eine bin ich, das Andere
sind meine Schriften.“ (Warum ich so gute Bücher schreibe 1). Damit soll wohl ein Unterschied
ausgedrückt werden, in der Übersetzung wird daraus eine Reihenfolge: „Auf meine Person folgen
meine Schriften.“45 (S. 60)
Das Zitat: „wo ich nicht mehr mit Worten, sondern mit Blitzen rede“ (Die Unzeitgemäßen 3) ist
mit „mich mit Blitzen unterhalte, mit Blitzen Gespräche führe“46 (S. 82) falsch übersetzt. „Man muß
das Fürchten nicht gelernt haben“, um den gentilhomme im Sinne Nietzsches auszuhalten (Jenseits
von Gut und Böse 2), warum daraus bei Horváth wurde; „man muß ums Fürchten nicht verlegen
sein“47 (S. 115), ist nicht ganz klar.
Öfters setzt Horváth etwas in die Gegenwart, was im Original in der Vergangenheit steht: „…
ich bin selbst in Zeiten schwerer Krankheit nicht krankhaft geworden;“ (Warum ich so klug bin 10),
die Übersetzung lautet: „selbst schwer krank bin ich nicht genügend krankhaft“48 (S. 58)
Einige Male läßt der Übersetzer etwas aus, wie z.B. bei Lord Bacon, dem nach Nietzsche „ersten
Realisten in jedem großen Sinn des Wortes“ (Warum ich so klug bin 4) – diese Charakterisierung
des englichen Philosophen fehlt in der Übersetzung (S. 48). Auch Baudelaire fällt um sein Attribut,
„jener typische décadent“ (Warum ich so klug bin 5) zu sein, um – in der Übersetzung steht das
nicht. Die „armselige Chineserei“, auf die die Menschheit heruntergebracht werden soll (Warum ich
ein Schicksal bin 4), erspart der Übersetzer dem ungarischen Leser (S. 134)
Zum Ausgleich gibt es Hinzufügungen: „Wer war der erste intelligente Anhänger Wagners
überhaupt?“ (Warum ich so klug bin 5), fragt Nietzsche; der Übersetzer erweitert: „Wer war
Wagners erster – und vielleicht letzter – verständnisvoller Anhänger?“49 (S. 50) Oder, nach einer
überhaupt sehr freien Übersetzung der Mängel der deutschen Großstadt, der Zusatz „in der alles
gleichermaßen wuchert“50 (S. 54), der im Original nicht aufzufinden ist, wo im Gegenteil sogar
steht: „wo nichts wächst“ (Warum ich so klug bin 8) Die „härteste Selbstsucht“ (Die
Unzeitgemässen 1) ist in der Übersetzung nicht nur die „härteste“, sondern „bereits krankhaft“51 (S.
79).
Eine eigenartige Mischung von Auslassung und Umschreibung ist die Übersetzung des
folgenden Satzes: „Ich kenne keine andre Art, mit grossen Aufgaben zu verkehren als das Spiel:
dies ist, als Anzeichen der Grösse, eine wesentliche Voraussetzung.“ (Warum ich so klug bin 10) Er
wird im Ungarischen wie folgt wiedergegeben: „Das Spiel ist das Zeichen der Größe, ohne es
können wir uns nicht an große Aufgaben heranwagen.“52 (S. 59) Nicht ganz falsch, aber etwas
verkürzend.
Bei soviel Kritik sollen auch die Leistungen dieser Übersetzung nicht zu kurz kommen: Es gibt
einen Anhang, in dem die fremdsprachigen, also lateinischen, französischen usw. Wörter und
Zitate, die im Text vorkommen, übersetzt und erklärt werden. Die von Nietzsche erwähnten
Personen werden kurz charakterisiert und ihre Bedeutung im Leben Nietzsches dargestellt. Dieser
Anhang wurde vom Übersetzer erstellt, während die Einleitung, die wenig zum Verständnis
44
A politika (…) minden kérdését a gyökérekig meghamisították, a legkártékony embereket kiáltották ki nagyságnak –
s hogy a »kis« dolgoknak …
45
Személyem után következnek írásaim.
46
villámokkal társalgok
47
rettegésért nem kell a szomszédba menni hozzá
48
én még súlyos betegen sem vagyok eléggé beteges
49
ki volt Wagner első – és tán utolsó – értő híve?
50
és minden egyaránt tenyészik
51
már-már beteges
52
A játék a nagyság jele, nélküle nem vághatjuk nagy feladatokba a fejszénket
Nietzsches beiträgt, von jemand anderem, einem gewissen Ernő Joos verfaßt wurde.
Es gibt auch gelungene Übersetzungen: So wurde der Halbsatz „wie Viel man unter sich fühlt!“
(Vorwort 3) mit „Was läßt sich nicht alles überwinden! worüber kommt man nicht hinweg!“
übersetzt. „… was mich in fremden Wissenschaften und Seelen spazierengehen läßt“, hat Horváth
mit „… führt mich auf den Saumpfad fremder Wissenschaften und Seelen“ übersetzt.
Manche Ausdrücke z.B. bereiten Schwierigkeiten und bedürfen einer Umschreibung, so hat
Horváth z.B. „Mucker“ nicht unzutreffend mit „scheinheilige Feiglinge“ (S. 49) wiedergegeben.
Alles in allem ist die Übersetzung zwar mit Mängeln ausgestattet, aber im großen und ganzen
gelungen.
Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben
Von den bisher besprochenen Übersetzungen unterscheidet sich diejenige des Buches „Vom
Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ grundlegend darin, daß sie von einem profunden
Nietzsche-Kenner, dem an der Universität Pécs lehrenden György Tatár vorgenommen wurde. Das
1989 erschienene Buch ist auch nicht bei einem der vielen nach dem Systemwechsel aus dem
Boden geschossenen Verlage erschienen, sondern beim Akadémia Kiadó, dem aus der
sozialistischen Zeit her etablierten Verlag für wissenschaftliche Publikationen.
Bereits am Titel hat er eine Veränderung vorgenommen: „Der ursprüngliche Titel – Vom Nutzen
und Nachteil der Historie für das Leben – wurde um des besseren ungarischen Klanges willen
verkürzt. Dagegen ist inhaltlich nichts einzuwenden, und entspricht auch der ursprünglichen
Intention Nietzsches. Auf das die Rohfassung enthaltende Heft schrieb er als Arbeitstitel: Vom
Nutzen und Nachteil der Historie“ (Vorwort, S. 7, Fußnote).
Im Vorwort erklärt Tatár, welch einen Angriff auf die Geschichtswissenschaft dieses Buch
seinem Gehalt nach darstellte, und er führt auch die Bedeutung der Geschichtswissenschaft für den
Nationalstolz der Deutschen im 19. Jahrhundert aus. Auf die erste „Unzeitgemäße Betrachtung“
(„David Strauss“) Bezug nehmend, stellt er auch noch kurz den damaligen Stand der
Bibelforschung, die Beschäftigung mit der Authentizität der kirchlichen Überlieferung, dar.
Tatár kann es sich leisten, kompliziertere Wendungen und Konstruktionen sehr frei zu
übersetzen, weil er mit dem Inhalt keine Schwierigkeiten hat.
Ein Moment, wo dies deutlich zum Ausdruck kommt, sind die Bilder, die Nietzsche verwendet.
Was tun z. B. mit einem „irdisch umdunkelten Horizont“? (KSA 1, S. 257) Tatár übersetzt es mit
„an die Erde gebunden, in Nebel gehüllter Horizont“53 (S. 36).
Die Wortspiele Nietzsches gehen manchmal bei der Übersetzung verloren, so bei „Inhalt“ und
„Innerlichkeit“ (KSA 1, S. 276) – im Ungarischen gibt es keine lautliche und inhaltliche
Ähnlichkeit zwischen den beiden Wörtern54, manchmal gelingt es jedoch, sie zu retten oder durch
Gleichwertiges zu ersetzen: Die „Afterbildung“ (KSA 1, S. 295) übersetzt Tatár mit „Halb- und
Unterhalb- (Gesäß-) Bildung“55 (S. 67).
Erwähnenswert ist vielleicht noch die Art der Übersetzung der von Nietzsche verwendeten
Zitate: Das im bei Nietzsche im englischen Original angeführte Zitat Humes (KSA 1, S. 255) wird
auch im ungarischen Text englisch wiedergegeben, ebenso die lateinischen Zitate (S. 34), während
53
földhözragadtan ködbe boruIt horizont
„tartalom“ und „bensőség“
55
al- es alfélműveltség
54
das Zitat Niebuhrs (KSA 1, S. 254) und diejenigen Goethes, wie z. B. das aus den Meistersingern
(KSA 1, S. 298) und auch die restlichen deutschsprachigen, ins Ungarische übersetzt wurden (S. 34
u. 70). Das Zitat Leopardis (KSA 1, S. 256), ebenfalls ins Ungarische übersetzt (S. 35), ist einer
ungarischen Leopardi-Übersetzung56 entnommen. Im Anhang wird für jedes Zitat auf das Werk
hingewiesen, dem es Nietzsche entnommen hat, sowie – sofern vorhanden – auf die ungarische
Übersetzung. Außerdem weist der Übersetzer auf die Stellen hin, in denen Nietzsche selbst frei, d.
h. mit Auslassungen zitiert, wie z. B. im Falle des Grillparzer-Zitates (KSA 1, S. 277).
Das Buch verfügt ferner über einen aus zwei Teilen bestehenden Anhang. Im ersten Teil werden
die Zitate, die im Text vorkommen, nachgewiesen, der zweite besteht aus einer kurzen Biographie
Nietzsches.
56
Aus dem Gedichtband: „Magános élet“ (Einsames Leben)