EDITORIAL
Peter Pagel
Edy Portmann
}
Karin Vey
Cognitive Computing – Teil 2
Im zweiten Teil unseres Themenschwerpunkts ,,Cognitive Computing“ geht es um konkrete Anwendungen. Der
Chefredakteur des Informatik-Spektrums, Peter Pagel, sprach dazu wieder mit den beiden Gastherausgebern dieses
Themenheftes, Edy Portmann und Karin Vey.
Peter Pagel: Werden uns elektronische Organismen demnächst verdrängen?
Edy Portmann: Christoph von der Malsburg führt in seinem Essay elektronische Organismen als neuen Pfad für
die synthetische Erforschung von Intelligenz ein. Dieser Art der Forschung liegt eine auf Kybernetik und Systemtheorie
aufbauende, neue Wissenschaft der Organisation zugrunde. Auf Basis dieser Wissenschaft kann beispielsweise das
Genom verstanden werden, so dass in Zukunft etwa Krankheiten behandelt werden können, die von mehr als einem Gen verursacht werden. Erst auf Basis dieser Wissenschaft kann das Gehirn, die menschliche Gesellschaft sowie
ihre Städte verstanden werden. Diese Wissenschaft dient dabei als Petrischale für die Entwicklung von künstlicher
Intelligenz.
Auf Basis dieser Wissenschaft kann wohl auch eine Maschine zu dem gemacht werden, was sie sein kann oder
– besser – eigentlich sein sollte. Aus algorithmisch gesteuerten Systemen können autonome Maschinen werden. Die
heute noch dem Menschen vorbehaltene Autonomie kann durch den neuen Begriff des ,,elektronischen Organismus“
umgangen werden. Laut von der Malsburg gibt es nämlich keine Grenze für zielorientierte elektronische Organismen,
es müssen nur gewisse Vorurteile aus dem Weg geräumt werden. Deshalb schlägt er uns vor, besser von elektronischen Organismen, als Maschinen, welche durch Autonomie intelligent werden können, zu sprechen. Wenn wir
wollen, dass die Autonomie elektronischer Organismen unseren Zwecken dient, dann müssen wir diese in abstrakten
Begriffen, wie wir es etwa im Recht oder in der Ethik tun, beschreiben; das heißt, wir müssen unsere elektronischen
Hilfsmittel mit Charakter ausstatten.
In seinem Essay entwickeln sich deshalb die KI-Verfahren von heutiger Statistik über Soft Computing und
Neurowissenschaften hin zu Molekularbiologie weiter und es entstehen dadurch plastisch formbare, aus sich selbst
entstehende Netzfragmente und Netze, welche uns schlussendlich ,,echte“ künstliche Intelligenz bringt. Im Essay bildet
sich diese echte Intelligenz allerdings erst ab 2020 sukzessive und ist erst 80 Jahre danach voll entwickelt. Dann leben
diese KI jedoch, gemäß von der Malsburg, als neue Art von Organismen mit uns Menschen in einer Symbiose.
Peter Pagel: Viele glauben ja, einen Job in der Geschäftsleitung werden Roboter nie übernehmen können, stimmt
das so?
Karin Vey: Cornelia Diethelm zeigt in ihrem Beitrag auf, dass künstliche Intelligenz in absehbarer Zeit tatsächlich über genügend Stärken verfügen könnten, um die menschlichen Fähigkeiten innerhalb der Geschäftsleitung zu
ergänzen. KI Systeme sind Meister der Recherche und des Spreadsheet-Managements. Bei entsprechender Datenintegration, Wissensrepräsentation und Algorithmenentwicklung könnten spezifische Unternehmensinformationen
und Entscheidungs-Empfehlungen im Dialog in Echtzeit zur Verfügung gestellt werden. Innerhalb von vorgegebenen Denkräumen können die Systeme auch selbständig Nachfragen stellen. Sie können so etwa dazu beitragen,
Konsistenzchecks bei neuen Vorhaben durchzuführen. Auch das Gegenüberstellen von Pro- und Contra-Argumenten
hinsichtlich eines bestimmten Vorhabens liegt in absehbarer Zeit im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Dabei können die
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Systeme auf der Basis riesiger Datenmengen Informationen bereitstellen und z. B. alle publizierten Studien, Expertenmeinungen oder veröffentlichten ethische Argumente mit einbeziehen. Der Wert solcher Systeme als Teil eines
Cognitive Boardrooms wäre beträchtlich. Von einem Geschäftsleitungsmitglied erwartet man jedoch noch weit mehr.
Dazu zählt etwa der holistische Blick auf das Unternehmen im Kontext des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und
politischen Umfelds. Von besonderer Bedeutung sind zudem proaktives Handeln, vorausschauende strategische Weichenstellungen und motivierende Visionen. Hier stossen die Systeme in absehbarer Zukunft an ihre Grenzen. Das
bleibt die Domäne des Menschen.
Eine künstliche Intelligenz in der Geschäftsleitung kann in vielerlei Gestalt auftreten – als interaktiver Bildschirm,
Chatbot, Hologramm oder physischer Roboter. Um ein Vertrauens-verhältnis aufzubauen, braucht es zum einen eine
exzellente Qualität des Outputs. Zum anderen spielt aber auch die Gestaltung der Schnittstelle eine nicht unwesentliche Rolle. Dies gilt insbesondere für humanoide Roboter. Wie Untersuchungen zeigen, reagieren wir positiv auf sie,
wenn sie uns zum einen zwar ähnlich, zum anderen jedoch auch klar als Maschinen zu erkennen sind. Werden sie
uns zu ähnlich, werden negative Gefühle ausgelöst und Abwehr-mechanismen in Gang gesetzt. Bestimmte Attribute
wie grosse bewegliche Augen helfen uns dabei, Roboter auch als emotionale Projektionsfläche zu erleben. Differenzierte Beweglichkeit von Armen und Händen sind zudem wichtig um einen direkten Körperkontakt herzustellen –
etwa bei Begrüssungen. Die Illusion des anderen Dritten als Gegenüber wird verstärkt – weder Tier noch Mensch
und trotzdem hinsichtlich mancher Reaktionen ähnlich. Ein wichtiges Element für die Einbindung in die Interaktionen
innerhalb einer Gruppe ist zudem ein Name.
Grundsätzlich scheint es möglich, Roboter als Teilnehmer von Geschäftsleitungssitzungen aufzubieten, jedoch
weniger als Mitglieder des Leitungsgremiums, sondern eher mit einem besonderen Beraterstatus. Wie in vielen anderen Bereichen auch, müssen sie mehr als augmentative Ergänzung und fortgeschrittene Assistenten und weniger als
vollwertiger Ersatz für den Menschen angesehen werden. Sie übernehmen Aufgaben, keine Jobs.
Peter Pagel: Wie wirkt sich die digitale Transformation auf das Thema Human Ressources, auf Unternehmen und
Mitarbeiter aus?
Karin Vey: Künstliche Intelligenz wird in verschiedener Hinsicht einen starken Einfluss auf das Thema Human Resources entfalten. Zum einen geht es um die direkte Unterstützung von HR-Funktionen, sei es bei der Rekrutierung
von Mitarbeitern, der Verbesserung von Prozessen und Serviceleistungen wie dem Unterstützen von personalisiertem Lernen. Bei der Rekrutierung kann mittels KI bei der Vorselektion ein deutlich umfangreicheres Assessment
durchgeführt werden. Ein Pilotprojekt mit einem auf die Plazierung von Ingenieuren spezialisierten Unternehmen
in Japan ergab ein signifikant besseres Matching. Der Einsatz von KI macht es zum Beispiel möglich, Videointerviews
automatisiert multifaktoriell zu analysieren.
Vielversprechend ist etwa auch der Einsatz von Personality Insights. Dieser Service erlaubt auf der Basis eines
Textes von 4000–6000 Worten eine Analyse der Persönlichkeit entsprechend dem Big Five Modell der Psychologie
(inklusive aller Subdimensionen). Auch Serviceleistungen lassen sich deutlich verbessern, etwa durch den Einsatz
von Chatbots im Rahmen des On-Boarding. Standardanfragen können vom Chatbot übernommen werden. Für die
Beantwortung komplexer Fragestellungen bleibt den HR-Mitarbeitern dann mehr Zeit. Einen besonders hohen Wert
verspricht die KI für die personalisierte Weiterbildung. Ein System, das mein Profil, meine Karriereaspirationen und
meine Vorlieben kennt, kann als wertvoller Weiterbildungsberater fungieren. Auch hier sind Pilotsysteme bereits im
Einsatz.
Edy Portmann: In der Schweiz bietet etwa eine neue Plattform Wissen über verschiedene Bereiche des Personalwesens an und vernetzt dadurch die Schweizer HR Community. Die auf der Technologie des Uni Zürich Startups
Starmind basierende künstliche Intelligenz findet dank selbstlernender Algorithmen für unterschiedlichste Fragen die
richtigen Ansprechpersonen. Das zugrundeliegende dialektische Muster bedient sich hier wiederum dem Menschen als
These, der Maschine als Antithese und einen erweiterten Menschen als Synthese, die mit verschiedener Formen kollektiver Intelligenz verbunden werden kann. Mit ihr können wir William Butler Yeats Aussage adressieren, dass die Welt
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voller magischer Dinge sieht, welche geduldig darauf wartet, dass unsere Sinne schärfer werden. Im HR eingesetzte
kollektive Intelligenz hilft uns immer mehr, gemeinsam neue Herausforderungen gezielt anzugehen.
Karin Vey: KI kann HR und Mitarbeiter also vielfältig unterstützen. Durch den zunehmenden Einsatz der Technologie in Organisationen werden sich jedoch auch die Anforderungen an die Mitarbeitenden ändern. Da repetetive,
Routine- und Recherchetätigkeiten vermehrt durch die Systeme übernommen werden, sind wir gefordert, unsere Kompetenzen entsprechend weiterzuentwickeln. Ziel ist eine Partnerschaft zwischen Mensch und Maschine, die Effizienz
und Effektivität steigert sowie unsere Lebens- und Arbeitsqualität erhöht. Zum einen geht es darum, die Kompetenzen
im Umgang mit der Digitalisierung zu verbessern. Zum anderen wird es jedoch zunehmend wichtig werden, typisch
menschliche Fähigkeiten weiter zu entwickeln, die komplementär zu den Kompetenzen der Maschine sind. Mit anderen Worten: Es geht darum, sich auf menschlichen Stärken zu besinnen und einen ,,Skill-Shift“ herbeizuführen. Im
Fokus stehen etwa Intuition, Empathie, kritisches Denken und ,,Artistic Intelligence“. Agieren können wie ein Künstler
wird zu einer gefragten Management-Qualität. Deren Förderung kann etwa durch Arbeit mit Kunst bzw. Künstlern
erfolgen.
Cognitive Computing fordert also das Thema Human Resources heraus – und unterstützt es gleichzeitig bei
der Bewältigung dieser und weiterer Herausforderungen, welche die digitale Transformation mit sich bringt. Dieser
Wandel ist fortlaufend. Nicht zuletzt werden eine hohe Flexibiltät und Anpassungsfähigkeit sowie die Bereitschaft zu
lebenslangem Lernen zu zentralen Erfolgsfaktoren.
Peter Pagel: Werden wir schon bald mit Computern reden wie mit Menschen?
Edy Portmann: Bereits vor einem Jahr deutete ich an dieser Stelle in einem Interview zu Smart Cities an, dass
meines Erachtens die Bürger künftig mehr mit ihren Computersystemen sprechen werden. In den USA wurden damals rund 20 Prozent von mobilen Suchanfragen über Sprache abgesetzt. Die neusten Zahlen kenne ich nicht, aber
sprachliche Suchen dürften in den Staaten zwischenzeitlich weiter angestiegen sein; man kann sich hiervon gerne im
öffentlichen Verkehr in der kalifornischen Bay Area überzeugen lassen, denn da spricht heute bereits ein Grossteil der
Bevölkerung mit Siri und Co.
Im Home-Bereich werden ebenfalls smarte Assistenten wie Amazon Echo et al. immer mehr eingesetzt. Dies hat
gravierende Konsequenzen für die Industrie, welche diese neuen Schnittstellen auch bedienen müssen. Silvia Quateroni legt deshalb in ihrem Artikel die Erfahrungen der Elca Informatik AG vor, welche diese mit Natural Language
Processing (NLP) sammelten. Die Art und Weise, wie Menschen mit ihrer Umwelt interagieren, wird sich im Laufe der
nächsten Jahre wohl immer mehr verändern.
Diese Veränderung antizipativ erforschend, arbeiten wir am Human-IST Institut der Universität Freiburg mit
NLP-Spezialisten zusammen und entwickeln so über die akademischen Grenzen hinaus neue Schnittstellen beispielsweise für Partner wie die Schweizerische Post. Einer unserer Fokuspunkte liegt dabei im Soft Computing, wessen
Technologie Sara D’Onofrio et al. in ihrem Artikel vorstellt. Soft-Computing-Technologien sind ein Zusammenspiel
von evolutionären Algorithmen und genetischer Programmierung, Neurowissenschaften und neuronalen Netzen,
Fuzzy-Mengenlehre und -Systemen sowie Chaostheorie und chaotischen Systemen. Diese Technologie erlaubt die
Implementation von natürlichsprachigen Systeme etwa für smarte Dienstleistungen. Wir werden also bald immer
mehr mit Systemen sprechen wie mit Menschen.
Peter Pagel: Was unterscheidet das Konzept Smart Government von E-Government?
Edy Portmann: Als Government bezeichnet man ein System oder eine Gruppe von Menschen, welche einen Staat,
eine Region oder eine Stadt verwalten. Die Verwaltung beinhaltet dabei die Durchsetzung einer gewissen Politik sowie
ein Mechanismus zur Festlegung dieser. Electronic Government oder kurz E-Government, kennzeichnet nun darin den
heutigen Gebrauch von Informations- und Kommunikationstechnologien, dem Internet und/oder dem World Wide
Web, um Bürger und Unternehmen mit öffentlichen Dienstleistungen zu versorgen. Oftmals kommt aber E-Government, laut Labinot Demaj, nur als eine elektronische Version eines zuvor physischen Prozesses daher, ohne mit intelligenteren Services hinterlegt zu werden, welche Dank Technologie möglich wäre. So wurde beispielsweise von
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vielen Verwaltungen das Ausfüllen eines physischen Formulars nur mit einer PDF-Version ergänzt, was nicht wirklich
smart ist.
Karin Vey: Die neue Digitalisierung ist aber mehr als E-Government. Während es bei E-Government primär darum
geht, analoge Strukturen, Verfahren und Dokumente in die digitale Welt zu überführen und sie gewissermassen zu
,,elektrifizieren“, stellen die Möglichkeiten der neuen Digitalisierungswelle die Art und Weise in Frage, wie wir öffentliche Leistungen grundsätzlich organisieren und bereitstellen. Ob man den Staat und die Verwaltung der Zukunft
Smart Government nennt oder anders bezeichnet, ist für mich zweitrangig. Wichtig ist, zu erkennen, dass es bei der
gegenwärtigen Digitalisierung nicht darum geht, vorhandene Strukturen und Prozesse zu optimieren, sondern sie
unter Umständen ganz zu ersetzen.
Edy Portmann: Smart Governance ist keine Neuauflage von E-Government sondern bezeichnet eine starke
Verbesserung heutiger Government-Systeme mittels smarter Technologie. Labinot Demaj nennt dazu drei Punkte,
welche Smart Governance seiner Meinung nach kennzeichnen: erstens glaubt er, dass moderne Koordinations- und
Transaktions-Plattformen wie Blockchain die neue Organisationslogik kollektiven Handelns repräsentieren, zweitens,
dass verhaltensorientiertes und datengetriebenes Verwaltungshandeln statt modellbasiertes Agiere immer wichtiger werden und, drittens, dass im Government immer mehr Systeme der künstlichen Intelligenz und des Cognitive
Computings statt individuelle Ermessensentscheide eingesetzt werden.
Karin Vey: Für mich gilt es in diesem Zusammenhang drei Elemente der jetzigen technologischen Entwicklung im
Auge zu behalten: Erstens, klassische Organisationen werden zusehends von digitalen Plattformen verdrängt. Für
den öffentlichen Bereich wird diese Entwicklung vor allem dort relevant, wo öffentliche Einheiten vornehmlich als
Intermediär gesellschaftlicher Akteure auftreten und weniger stark bzw. direkt am Leistungserstellungsprozess beteiligt
sind (z. B. Grundbuchamt vs. Polizei). Zweitens, die zunehmende Verfügbarkeit von Verhaltensinformationen (oft gar
in ,,Echtzeit“) eröffnet neue Möglichkeiten gesellschaftlicher Steuerungs- und Zugriffsabsichten. Damit einher gehen
substantiell neue Herausforderungen für den Schutz der individuellen Freiheit und Privatsphäre. Hier eine ausgewogene und demokratisch abgestützte Balance zwischen öffentlichem und privatem Interesse herzustellen, ist eine
Mammutaufgabe unserer Zeit.
Schliesslich, obwohl dank Bots und Systemen der künstlichen Intelligenz immer mehr Aufgaben automatisiert
und mit kleinerem (dafür aber relevanterem) menschlichen Zutun erledigt werden können, glaube ich nicht, dass sich
die öffentliche Verwaltung durch die Einführung solcher Systeme selber abschaffen wird. Wie bisher wird sie auch
die neuen technologischen Möglichkeiten dazu nutzen, sich weiter zu professionalisieren und zu spezialisieren. Dies
deshalb, weil sie zum einen so ihre Mission besser erfüllen kann und zum anderen dadurch ihre Legitimation bzw.
Daseinsberechtigung gegenüber der Gesellschaft stärkt. Anders als bisher wird diese Welle der Professionalisierung
und Spezialisierung allerdings von einer zunehmenden Entpersonalisierung der Verwaltungsentscheidungen geprägt
sein. Letzterem gilt es meines Erachtens entgegenzuwirken, wenn wir die Verwaltung nicht nur als ausführenden,
maschinellen Arm der Politik begreifen, sondern als eigenständige gesellschaftliche Institution verstehen, die mit jeder
Entscheidung eines Einzelfalls demokratisches und kulturell gebundenes Recht verwirklicht.
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