BERNHARD SORG
DENKSPUREN. ZUM VERHÄLTNIS VON PHILOSOPHIE UND
LITERATUR (II.) : MARTIN HEIDEGGER, THEODOR W. ADORNO
1. Einleitung / Martin Heidegger: Vita
2. Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes
3. Martin Heidegger: Hölderlin
4. Martin Heidegger: Georg Trakl
5. Martin Heidegger: Paul Celan
6. Theodor W. Adorno: Vita
7. Theodor W. Adorno: Thomas Manns Doktor Faustus
8. Theodor W. Adorno: Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins
9. Theodor W. Adorno: Joseph von Eichendorff
10. Theodor W. Adorno: Becketts Endspiel
Unveränderter Text einer im Wintersemester 2001/2002 an der Universität Bonn
gehaltenen Vorlesung
1. Einleitung / Martin Heidegger: Vita
Ich begrüße Sie sehr herzlich zu dieser Vorlesung, die sich mit dem Verhältnis
von Philosophie und Literatur bei Martin Heidegger und Theodor W. Adorno
beschäftigt, also, verkürzt gesagt: mit deren ästhetischer Theorie. Es ist in
mancher Hinsicht eine Fortsetzung der Vorlesung des vorigen Wintersemesters
(also WS 2000/01), in der ich über die Denkspuren im Gefolge der
philosophischen Welt-Bilder Arthur Schopenhauers und Friedrich Nietzsches
gesprochen habe. Niemand, der diese Vorlesung versäumt hat, sollte sich jedoch
hier und jetzt ausgeschlossen fühlen. Ich setze sie an keiner Stelle voraus und
beginne gleichsam ab ovo. Schopenhauer und Nietzsche sind Denker des 19.
Jahrhunderts (1788 - 1860; 1844 - 1900), Heidegger und Adorno solche des 20.
Jahrhunderts: M.H. 1889 - 1976; T.W.A. 1903 - 1969.
Zu Lebzeiten galten sie als philosophisch-weltanschauliche Gegner; während
Martin Heidegger von dem Opponenten in Frankfurt, Adornos Heimatstadt und
die Stadt seiner akademischen Lehrtätigkeit von 1931 -1933 und von 1949 bis
zu seinem Tod 1969, öffentlich keinerlei Notiz genommen hat, hat Adorno sich
seine unbedingte Opposition zum Denken des Mannes aus Meßkirch und
Freiburg i.Br. viele Male von der Seele geschrieben, am fulminantesten im
Essay Jargon der Eigentlichkeit, 1964, zuerst veröffentlicht in der edition
suhrkamp, jetzt in: Gesammelte Schriften, Band 6. Dazu an anderer Stelle mehr.
Nicht nur waren beide zu Lebzeiten gegnerische, vielleicht sogar feindliche
Denker, auch ihre intellektuelle und akademische (was nicht ganz das gleiche
ist) Gefolgschaft hat sich streng geschieden. Man konnte nur für den Einen oder
den Anderen sein. In der Tat hat es nach 1945 - und vor allem in den 50er und
60er Jahren - keine zwei lebenden Philosophen von vergleichbarem Einfluß in
Deutschland gegeben wie eben Heidegger und Adorno. Von beiden
gleichermaßen attrahiert und fasziniert zu sein war unmöglich. Unter den
direkten Schülern herrschte die gleiche Feindschaft, Unversöhnlichkeit wie
unter den Meistern (nur unter Gleichaltrigen gab es gelegentlich Beziehungen
und Quereinflüsse, etwa bei Herbert Marcuse oder, freilich ganz anders, auch
Hannah Arendt; aber das waren seltene Ausnahmen). Entweder man folgte
Heideggers Wegen oder denen Adornos. Tertium non datur.
Das war damals. Jetzt, 32 Jahre nach Adornos Tod und 25 nach dem Tod
Heideggers, hat sich diese Situation grundlegend geändert. Ich zögere nicht zu
sagen: Ihr Werk, beider Denken ist historisch geworden. Das bedeutet nicht:
veraltet oder überholt von neueren Philosophen oder nichtssagend geworden. Es
sind keine beliebigen Dokumente aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts,
sondern es sind nach wie vor immens starke Manifestationen des KunstDenkens jener Jahrzehnte, jener Epoche, die noch an die Kunst geglaubt hat in unterschiedlichem Sinn und mit unterschiedlichem Bekenntnis; geglaubt,
ganz im spätromantischen Verständnis, die Kunst trage in sich das Potential
einer Transzendierung der falschen Welt-Ordnung, besser: Welt-Unordnung.
Diese Zeit ist vorüber. Ich nenne deshalb beider Denken und vor allem beider
Kunst-Denken historisch. Wir können es jetzt gleichsam von außen betrachten.
Und wir können es zusammen betrachten; im Sinne eines Zusammenrückens
beider Konzeptionen, um so Gemeinsames und Trennendes besser sehen und
beschreiben zu können.
Das heißt auch: Ich will in den kommenden Wochen mich lösen sowohl von den
impliziten wie expliziten Voraussetzungen wie von ihrem "Jargon" (Heidegger
mag den "Jargon der Eigentlichkeit" gesprochen und geschrieben haben; aber
auch Adornos Sprache ist von jargonhafter Manieriertheit geprägt und von
begrifflicher Hermetik am Rande des Obskurantistischen, eine Art "Jargon der
Uneigentlichkeit".). Viele, zu viele Schüler haben den Stil des Meisters
nachgeäfft, als daß man dies heute noch versuchen möchte.
Freilich: Gerade aus dem geschichtlichen Abstand, der Zeit, die diese Texte
historisch gemacht hat, erwächst die Einsicht sowohl in die Verwandtschaft von
beider Gesellschafts- und Kulturkritik wie in die Gebundenheit und Begrenztheit
ihrer Positionen. Gebunden an ihre Entstehungszeit, gebunden an die
nachwirkende Romantik und gebunden an die Erwartungen der Epoche des Fin
de Siecle und des Expressionismus. Sich hier und heute mit ihnen zu
beschäftigen kann nur angemessen geschehen unter der Voraussetzung, daß sich
in beider ästhetischem Denken (und bei Adorno noch dazu in der künstlerischen
Praxis des Komponierens, nicht ausschließlich, aber überwiegend in den 20er
Jahren des 20. Jahrhunderts) ein trans-historisches Reflektieren und ein
Verständnis von Kunst erschließen läßt, über das nachzudenken auch und
vielleicht gerade heute von Relevanz sein könnte.
Ganz unabhängig von der Tatsache, daß wir in ihnen einen immens
wirkungsmächtigen Ausdruck der Kunst-Theorie der ersten Hälfte des vorigen
Jahrhunderts vor uns haben. Also es liegt in ihnen eine geschichtliche
Dimension und ein verfremdeter Blick auf unsere Gegenwart zu Beginn des 21.
Jahrhunderts. Beider Denken ist abgeschlossen, und das bedeutet zweierlei: 1.
Es ist beendet, vollendet, eben historisch geworden; und 2. es ist verschlossen,
teilweise hermetisch, der Interpretation bedürftig - genau wie die Kunst, an
deren Seite sie sich kommentierend und deutend gestellt haben.
Ich beginne beide Groß-Kapitel jeweils mit einer Skizze von beider Lebensgang.
Dann folgt die Interpretation des ersten Heidegger-Textes, eines Aufsatzes/einer
Rede aus dem Jahr 1935: Der Ursprung des Kunstwerkes. (Unter diesem Titel
auch erschienen bei reclam Nr. 8446.) Ich lese ihn als grundlegenden Versuch
Heideggers, die Begrifflichkeiten für eine fundamentale Definition der Kunst
bereitzustellen. Danach beschäftige ich mich mit Heideggers Verhältnis zu und
seinem Verständnis von Friedrich Hölderlin. Unzweifelhaft ist das jener
Dichter, den Heidegger am intensivsten gedeutet und am stärksten geehrt, ja
geliebt hat. In welche Richtung er ihn gedacht hat, werde ich zu eruieren suchen,
denn natürlich entsteht ein Hölderlin aus dem Geiste und der futurischen
Dimension Heideggers. Von 1934 bis 1968 erstrecken sich die Vorlesungen,
Vorträge und Aufsätze zu Hölderlin. Er ist für Heidegger der zentrale Dichter
der Deutschen, ja in mancherlei Hinsicht der zentrale Poet des Abendlandes, der
abendländischen Bestimmung.
Von den Dichtern des 20. Jahrhunderts (die zwischen Hölderlin und dem Fin de
Siecle übergeht er, von wenigen Ausnahmen abgesehen, wie Johann Peter
Hebel, mit verachtungsvollem Schweigen) wähle ich zwei aus, mit denen er sich
intensiv beschäftigt hat (sehr viel mehr sind es sowieso nicht), nämlich Georg
Trakl und Paul Celan. Letzterer ist der einzige Zeitgenosse (1920-1970), den er
einer Betrachtung für wert erachtet. Beider schwierige Beziehung läßt sich noch
immer nicht angemessen rekonstruieren; noch immer ist zu vieles in beider, von
den Söhnen gehüteter, Archive verschlossen. Was öffentlich ist, hoffe ich
verknüpfen und zu einem zumindest halbwegs plausiblen Bild fügen zu können.
Mit so profanen literarischen Gattungen wie dem Roman/der erzählenden Prosa
oder selbst dem Drama hat sich Heidegger meines Wissens gar nicht beschäftigt,
jedenfalls dazu nichts publiziert; was er ja auch als Professor für Philosophie
nicht mußte. Diese Ignorierung alles Nicht-Lyrischen hat Gründe, über die zu
sprechen sein wird. Es handelt sich dabei nicht eigentlich um eine persönliche
Idiosynkrasie, sondern primär um eine - ich bin geneigt zu sagen: - archaische
Hierarchie der Sprach-Künste. An der Spitze steht da die Poesie (Lyrik), gefolgt
von der Tragödie und dann erst dem Epos. Der moderne Roman verfällt, trotz
der frühromantischen Hochschätzung, dem Verdikt des Unseriösen, des Banalen,
des allzu Zeitgemäßen, des Unterhaltsamen. Eine eigentlich ausgestorbene
Rangordnung; aber man trifft sie noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts
gelegentlich, etwa bei Stefan George und Karl Kraus.
Ich komme dann zu Theodor W. Adorno. Auch hier zuerst eine kurze Skizze
seines Lebens. Ich beginne dann mit der Darstellung seiner ästhetischen Theorie,
und zwar anhand seiner Mitarbeit an Thomas Manns Roman Doktor Faustus
(1943-1947). Es gelingt dem Mit-Exilanten und Nachbarn (im amerikanischen
Verständnis, also etwa eine Autostunde entfernt) Adorno, seine Konzeptionen
der Moderne, der modernen Musik, der zeitgenössischen Kunst, den
musiktheoretischen und kompositionstechnischen Partien des Romans gleichsam
zu inoculieren, sie in seinem Sinn aufs stärkste zu beeinflußen. Zu sprechen wird
also zuerst sein über die Rolle und Funktion der Musik und des Komponierens,
schließlich des Schreibens über Musik im Kontext des modernen Romans. Und
damit natürlich über den Begriff der "Moderne" bei Adorno. Eigentlich wäre es
auch Teil meines Themas, Adornos Kompositionen detailliert vorzustellen, was
jedoch leider, in Ermangelung der Fähigkeit zum Partiturlesen, meine
Kompetenz überschreitet.
Danach werde ich, medias in res gehend, mich dem zuwenden, was ich als das
geheime oder gar nicht so geheime Zentrum der Kunst-Erfahrung Adornos
ansehe: die deutsche Romantik. Auch für Adorno ist Friedrich Hölderlin
(dargestellt in dem Aufsatz "Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins", 1963)
einer der zentralen Repräsentanten seiner ästhetischen Theorie, ebenso wie
Joseph von Eichendorff. Daß und wie das mit den prägenden
Kindheitserfahrungen Adornos und seiner Konzeption von Kunst/Literatur als
Utopie eines Besseren, mit der Idee des "Nicht-Identischen", zusammenhängt,
hoffe ich plausibel machen zu können.
Zu seinen Lebzeiten war Theodor W. Adorno in erster Linie bekannt und
berühmt-berüchtigt als Propagandist und Ideologe der künstlerischen (vor allem,
aber nicht nur, musikalischen) "Moderne" - ein sehr unbestimmter und darum
besonders wirkungsmächtiger Begriff. Was es damit auf sich hat, werde ich zu
erklären versuchen anhand eines Essays zu Samuel Becketts Theaterstück
Endspiel ( Fin de Partie / Endgame). Ich wähle diesen Text, weil sich, meiner
Überzeugung nach, nirgendwo sonst so gut und anschaulich die Stärken und
Schwächen von Adornos Moderne-Konzeption zeigen, diskutieren und
beurteilen lassen.
Zum Schluß möchte ich die These vorstellen, daß Adornos Kunst-Theorie eine
verkappte Kunst-Theologie ist, eine Negative Dialektik (so der Titel eines
Buches aus dem Jahr 1966) der Katastrophen der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts, mit der Kunst (besonders der Musik und der Literatur) als dem
Zentrum und der Epiphanie einer anders nicht möglichen Wider-Rede. Die
Kunst, so betrachtet, erscheint als der letztgültige Ausdruck einer dem
Empirischen sich entwindenden Geist-Sphäre, als ein Absolutes ohne
Transzendenz.
Soviel, vorläufig, zu den Texten und Problemen, die ich behandeln werde. Ich
beginne also mit einer knappen Skizze des Lebens von Martin Heidegger.
Als beste Einführung in Leben und Werk Heideggers empfehle ich das Buch von
Rüdiger Safranski: Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit.
München: Carl Hanser Verlag, 1994.
Eine Vorlesung über Aristoteles hat Martin Heidegger so begonnen: "Er wurde
geboren, arbeitete und starb." Nun, etwas mehr läßt sich denn doch über jeden
Philosophen sagen, wenngleich zu konzedieren ist, daß das Überdauernde und
Relevante eines Denkers sein Denken ist (wenn überhaupt etwas dauert und
überdauert und relevant ist), nicht seine physische und kontingente Existenz.
Aber seine Zeitlichkeit ist es eben auch in einem sehr konkreten Sinn: er
existiert zu dieser Zeit und zu keiner anderen. Und in jeder Zeit stehen wir vor
neuen und je anderen Problemen, weshalb ein genauerer Blick auf die jeweilige
Zeit so unnütz nicht ist.
Martin Heidegger wurde am 26. September 1889 in Meßkirch geboren.
Meßkirch liegt etwa 50 Kilometer nördlich von Konstanz, im Südbadischen und
ist katholisch. Beides, die geographische Lage und die religiöse Herkunft, hat
sein Leben und Philosophieren tief geprägt. Die meisten seiner Vorfahren
stammen aus dieser Gegend, Bauern, kleine Handwerker, Mesner. Heideggers
Heimatbegriff - so wie, freilich verborgener und indirekter, auch sein
Verständnis von Kunst - ist die ins strenge Denken transformierte Erfahrung
einer existentiellen Zugehörigkeit und gleichzeitig die Erkenntnis, daß die
moderne Welt, die zeitgenössische Gesellschaft, die Sphäre der Technik, der
Maschinen und Fabriken, der Beschleunigung und ethnischen Entwurzelung,
eine solche unmittelbare Zugehörigkeit nicht mehr gestattet. Ich hoffe zeigen zu
können, daß die theoretischen und praktischen Entwürfe während seines
Freiburger Rektorats 1933-34 gewaltsame Versuche darstellen, eine solche,
ansonsten entschwundene, Zugehörigkeit auch und gerade für den
Intellektuellen zu restituieren, samt der Erkenntnis von der Unmöglichkeit eines
solchen Tuns.
Also: Heimat ist für Heidegger zunächst das südliche Baden; in Konstanz
besucht er das Gymnasium und legt dort das Abitur ab. Geplant war der
Priesterberuf; aber der Körper revoltiert, 1909, es sind offenbar
psychosomatische Herzbeschwerden, und so wendet er sich zum Studium der
Philosophie und Theologie, später auch noch der Naturwissenschaften, in
Freiburg i.Br. Damit ist schon der geographische Raum zu drei Vierteln
umrissen, innerhalb dessen er sein Leben leben wird; es kommt nur noch hinzu
die legendäre Hütte in Todtnauberg im Schwarzwald. Dieses Geviert seines
Lebensraumes (Meßkirch, Konstanz, Freiburg und Todtnauberg) bestimmt seine
gesamte Existenz. Nur einige wenige, nämlich viereinhalb, Jahre verbringt er
außerhalb, im hessischen Marburg, als außerordentlicher Professor von 1923 28. Später kommen noch zahlreiche Reisen hinzu, aber das ist kein eigentliches
Verlassen des kleinen Lebensraumes.
1913 promoviert er in Freiburg mit der Arbeit Die Lehre vom Urteil im
Psychologismus. Schon zwei Jahre später schließt sich die Habilitation an: Die
Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus. Im Jahr 1915 wird er zum
Militär eingezogen, aber Schlimmes bleibt ihm erspart: Er leistet den Wehr- und
Kriegsdienst ab bei der Postüberwachung und schließlich der meteorologischen
Vorhersage. Während dieser Kriegsjahre heiratet er, 1917. Der Ehe entstammen
zwei Kinder, die Söhne Jörg und Hermann.
Von 1918 an ist er wieder als Privatdozent und Mitarbeiter des berühmten
Philosophen Edmund Husserl in Freiburg tätig. Wie schon gesagt, verläßt er
1923 die badische Heimat; er wird auf einen außerordentlichen Lehrstuhl nach
Marburg berufen. Dort beginnt langsam die Bekanntheit, innerhalb von Fach
und Universität, aber auch schon nach außen strahlend. Sein Sprechen ist nicht
leicht verständlich, manchmal ganz und gar dunkel, aber in jedem Fall
faszinierend. Viele Studenten unterschiedlicher politischer und
weltanschaulicher Herkunft und Ausrichtung sind gleichermaßen von ihm
fasziniert. Darunter auch Hannah Arendt (ab 1924); eine, trotz aller
ideologischen Unübersteigbarkeiten, lebenslange Liebesbeziehung.
1927, ein Jahr vor der Rückkehr nach Freiburg, erscheint das Hauptwerk Sein
und Zeit. Spätestens von da an ist der körperlich kleine und unscheinbare Mann
aus dem katholischen Baden, der sich bäurisch oder, besser, pseudo-bäurisch zu
kleiden liebt, also so, wie die Städter sich einen Bauern gekleidet vorstellen, der
"ungekrönte König im Reich des Denkens", wie seine Geliebte Hannah Arendt
es ebenso pathetisch wie treffend formuliert hat. Den äußerlichen Höhepunkt
erreicht seine Karriere im fatalen Jahr 1933, als er im April zum Rektor der
Universität Freiburg gewählt wird, das Amt jedoch schon ein Jahr später, im
April 1934, zurückgibt und sich von da an nur noch in Seminaren und
Vorlesungen, also innerhalb seiner akademischen Welt, äußert. In diesen Jahren
entstehen, natürlich nicht zufällig, die Schriften zur Kunst, zu Hölderlin und
Trakl.
1945 wird er zunächst von den französischen Besatzungsfunktionären
entpflichtet und erhält Lehrverbot. Bis 1949. Das ist eine sehr komplizierte und
in jeder Hinsicht unerfreuliche Geschichte, bei der keine Seite gut abschneidet.
Nach langen Hin und Her wird er 1950 offiziell emeritiert, pensioniert. Es
beginnt jetzt seine letzte und vielleicht befriedigendste Lebensphase. Er wird
auch außerhalb Deutschlands berühmt, in erster Linie in Frankreich, wird
eingeladen zu Vorträgen, Kongressen und seiner eigenen Philosophie
gewidmeten Colloquien. Es beginnt also "die Komödie des Ruhms", wie
Schopenhauer das genannt hat. Ehrungen, Festschriften, Gesammelte Werke.
Noch bis wenige Jahre vor seinem Tod ist er unermüdlich fleißig. Er dürfte einer
der fleißigsten und produktivsten Philosophen der Philosophiegeschichte
gewesen sein. Jede Vorlesung ist bis ins letzte ausgearbeitet, natürlich auch jeder
Vortag; für die meisten Seminarsitzungen gibt es detaillierte Pläne und so weiter
und so fort. Jetzt, in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts, da er
weltberühmt ist, kommen auch die unvermeidlichen Touristen, um das Haus in
Freiburg und die Hütte in Todtnauberg mitsamt dem berühmten Denk-Guru zu
besehen und zu fotografieren. Er trägt es mit Gelassenheit - einem
Zentralbegriff seines späten Denkens.
In den allerletzten Jahren nimmt die Kraft ab, nimmt die kreatürliche Müdigkeit
zu. Immerhin kann er sich noch begeistern an Fußballübertragungen im
Fernsehen, die er sich bei Nachbarn anschaut, denn naturgemäß haben die
Heideggers keinen TV-Apparat, besonders wenn Franz Beckenbauer spielt,
dessen reale und metaphorische "Unverwundbarkeit" er rühmt.
Am 26. Mai 1976 stirbt er in Freiburg und wird zwei Tage später im
Familiengrab in Meßkirch beigesetzt. Am Grab spricht sein Sohn Hermann
Heidegger fünf von Martin Heidegger selbst ausgewählte Worte Hölderlins.
Zum Schluß die 3. Strophe der Elegie Brot und Wein: "So komm! dass wir das
Offene schauen, / Dan ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist. / Fest bleibt
eins; es sei um Mittag oder es gehe / Bis in die Mitternacht, immer bestehe ein
Maas, / Allen gemein, doch jeglichem auch ist eignes beschieden, / Dahin gehet
und kommt jeder, wohin er es kann."
Ich versuche eine knappe Zusammenfassung und einige Antizipationen auf der
Basis des Gesagten und Angedeuteten. Die Erfahrung einer geschichtlich,
ethnisch und geographisch gegründeten Heimat in Martin Heideggers Kindheit
und Jugend legitimiert die späteren Fragen nach der existentiellen Zugehörigkeit
und hält diese Fragen als zentrales Problem offen. Das Katholische als ein
ebenfalls Gründendes verliert für ihn zunehmend an Bedeutung: Der offizielle
Anspruch auf dogmatische Verbindlichkeit gerät in Konflikt mit dem freien
Denken und muß so, um der Wahrheit der Sache willen, zurückgewiesen
werden. Es bleibt freilich, von den wildbewegten dreißiger Jahren abgesehen,
der Respekt vor der kulturellen Leistung und der zivilisatorischen Kraft des
Katholischen, und es hält sich die Sehnsucht nach einem Zustand, in dem "das
Göttliche" zur Erscheinung gebracht werden kann. Daß diese Epiphanie einer
anderen Wirklichkeit, die in und durch Heideggers Denken ermöglicht werden
soll, in der Realität der Lebenswelt in engster Relation steht zur Kunst und ihrer
Erscheinung innerhalb der Geschichte, bedarf keiner ausführlichen Begründung.
Es ist das Werk Hölderlins, das Heidegger diesen Weg weist und das er in dieser
weltgeschichtlichen, ja eschatologischen Perspektive interpretiert.
Eine weitere knappe Bemerkung sei mir zum Schluß dieser Einleitung gestattet.
Ich weiß nicht, ob Rüdiger Safranski in seiner Heidegger-Biographie als erster
daraufhingewiesen hat, jedenfalls verdanke ich ihm die These von der
Wirkungsmächtigkeit der Generations-Zugehörigkeit Heideggers zum
Expressionismus. Man pflegt in der Regel dies auf Künstler zu beschränken,
aber warum sollte nicht auch einer, der dann später den Weg des
philosophischen Denkens geht, von den gleichen Strömungen, geschichtlichen
Ereignissen und sozialen Konstellationen beeinflußt werden wie der Maler oder
Schriftsteller? Nicht nur zufällig durch das Jahr seiner Geburt gehört Heidegger
in die Generation der Expressionisten; er teilt, mindestens bis 1914, das gleiche
Kollektiv-Schicksal mit, zum Beispiel, Ernst Stadler (* 1883), Gottfried Benn
(*1886), Georg Heym, Jakob van Hoddis und Georg Trakl (alle *1887) und auch
mit Johannes R. Becher (*1891). Und auch mit Adolf Hitler (*1889), en passant
gesagt. Es ist primär die Sprach- und Denk-Figur der Erwartung, die die
Dichter (und den Politiker) mit dem Philosophen verbindet: die Idee des Neuen,
Unerhörten, das sich auf den Trümmern des falschen Alten erheben muß und
wird. Ob man nun Teile der Philosophie Heideggers "expressionistisch" nennen
kann, ist wohl eine müßige Frage. Zumindest diskutabel scheint mir, daß sich da
Tiefenschichten berühren, ein Denken in Kategorien der Gefahr, von Anfang
und Ende, Ursprung und Eschatologie, und eines (säkularen) Neubeginns. Was
nicht nur oder nicht primär künstlerisch ist, wohl aber im Sprechen der Kunst
ein der Philosophie gleichwertiges Ertönen einer ansonsten nicht erlebbaren
Wahrheit erfährt.
2. Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes
Ich beginne mit meiner Interpretation des als Vortrag konzipierten Aufsatzes
"Der Ursprung des Kunstwerkes" aus dem Jahr 1935. Er ist in vier Abschnitte
unterteilt; der erste trägt keine Überschrift und ist der kürzeste, also eine Art
Einleitung. Es folgen "Das Ding und das Werk" (S.11-34), "Das Werk und die
Wahrheit" (S.35-56) und schließlich "Die Wahrheit und die Kunst" (S.56-81).
Der Eindruck einer strengen gedanklichen Ordnung trügt nicht: Der Text ist, wie
die meisten Vorträge und Aufsätze Heideggers, in Thematik und Argumentation
genau durchkomponiert, in klarer Begrifflichkeit - klar innerhalb der
Voraussetzungen seines Denkens, die jeder Leser zunächst einmal akzeptieren
muß, bevor er Kritik üben kann. Heidegger beginnt mit kurzen apodiktischen
Definitionen: "Ursprung bedeutet hier jenes, von woher und wodurch eine Sache
ist, was sie ist und wie sie ist." (S.7) Gefragt wird nicht - und das macht der
Fortgang noch deutlicher - nach der Genese, der Herkunft der Kunst aus der
Frühzeit der Zivilisation, aus Kult und mythischem Zwang, seelischer
Entlastung und gemeinschaftsbildender Ekstase. Gefragt wird vielmehr nach der
"Herkunft des Wesens" (S.7) der Kunst als ihrem im Denken
nachzuvollziehenden Ursprung. Das zu Beginn festzustellen scheint mir nicht
unwichtig. Ähnlich wie später Adorno weigert sich auch Heidegger, den
"Ursprung" als konkretes historisches Phänomen zu bestimmen; Ursprung
bedeutet offensichtlich die Frage nach der "Wesensherkunft" (S.7) des
Kunstwerkes. Das heißt auch: die Frage nach dem Kunst-Charakter der Kunst.
Was macht aus einem menschlichen Werk ein Kunstwerk? "Ursprung der
Kunst" zielt nicht in historisch unvorgreifliche Fernen, sondern auf die
emphatische Präsenz des Kunstwerkes als der einzigen Instanz, die über ihren
"Ursprung" Aufschluß geben kann.
Freilich geraten wir damit schon am Anfang in das, was die
Ästhetik/Philosophie den "hermeneutischen Zirkel" nennt. Das ist folgende
Kreisbewegung: "Was die Kunst sei, soll sich aus dem Werk entnehmen lassen.
Was das Werk sei, können wir nur aus dem Wesen der Kunst erfahren." Diese
scheinbare Aporie nennt man den hermeneutischen Zirkel. Wir können die
Kunst nur begreifen, wenn wir das einzelne Kunstwerk als solches wahrnehmen
und erfahren. Wir können aber ein menschliches Werk als Kunstwerk nur dann
wahrnehmen und erfahren, wenn wir wissen, was Kunst ist. Logisch ist das
unauflöslich, aber in der Praxis der lebendigen Auseinandersetzung mit Werk
und Kunstbegriff führt uns diese Kreisbewegung nicht in die Tautologie,
sondern in eine nach oben, zur Erkenntnis, führende Spirale. Wir beginnen also
mit der alltäglichen Wahrnehmung eines Kunstwerkes und prüfen an ihm die
Gültigkeit ästhetischer Begriffe. Diese Begriffe und diese Begrifflichkeit muß
dann am Kunstwerk immer wieder überprüft, korrigiert und verfeinert werden.
Das gilt natürlich nicht nur für das Verhältnis von ästhetischer FundamentalBegrifflichkeit und konkretem Kunstwerk, sondern auch für die Relation
Gattung - Werk, Teile des Werks - das Ganze des Werks u.s.w. (Die beste
Einführung in diese Problematik und verwandte Fragen ist Hans-Georg
Gadamer: Wahrheit und Methode, 1960; hier S.250-290)
Freilich muß auch Heidegger, um überhaupt beginnen zu können, den einen
notwendigen Schritt tun, der aus Eigenem nicht zu begründen ist, sondern durch
Konventionen und fremde Urteile vorgegeben ist - er muß sich dem einzelnen
Kunstwerk in seiner Singularität zuwenden. Kunstwerk meint hier zunächst und
interessanterweise: Bild, Gemälde, Werk der bildenden Kunst. Wir werden rasch
sehen, daß das vieles vereinfacht. Vor allem konzentriert es die Vorstellung des
Dinghaften als eines Fundaments jedweder Werk-Konstitution hin auf das
elementar Konkrete. Wir sehen ein Bild an der Wand. Es ist unter anderem ein
Ding wie jedes andere Ding. Es besitzt Materialität, Ausdehnung, Farbe(n) etc.
Das gilt auch, mutatis mutandis, für Literatur (Buch/Bücher) und Musik
(Partitur). Daß die Seinsweise eines Gedichtes oder eines Streichquartettes eine
andere ist als die eines Velazquez-Gemäldes, muß denn doch angemerkt werden;
freilich sind wir ja erst am Anfang der Reflexionen. Und da ist nicht zu leugnen,
daß die unmittelbare Erfahrung eines Gemäldes die Erfahrung eines Dinges
unter anderen Dingen ist. Freilich macht bereits die unmittelbare Erfahrung aus
dem Dinghaften des Werkes das Kunstwerk, und zwar durch das, wodurch das
Kunstwerk sich kategorial von den anderen Dingen unterscheidet. Es sagt etwas
anderes, es sagt mehr als die anderen Dinge, die sich in ihrer Zweckhaftigkeit
erschöpfen. Das Kunstwerk ist anders als die anderen Dinge, sagt etwas anderes
- allo agoreuei. Es ist, in Heideggers Diktion, Allegorie und Symbol zugleich.
Es bringt das Ding und das Andere zusammen. Das griechische Wort
symballein heißt zusammenbringen.
Man erlebt schon gleich ein gutes Beispiel für Heideggers zweifellos etwas
gewaltsame Begrifflichkeit und seine eigenwillige Verwendung zentraler
ästhetischer Begriffe wie "Allegorie" oder "Symbol". Manchmal entstehen aus
der Etymologie als erkenntnisleitendem Prinzip geradezu geniale Erkenntnisse
(z.B.: Wahrheit =
= Unverborgenheit); gelegentlich
muß er freilich das griechische Original in der Übersetzung ziemlich willkürlich
zurechtbiegen, um den gewünschten Effekt zu erzielen, etwa am Ende der
Rektoratsrede. Darauf komme ich noch zu sprechen Vergleichbares gibt es auch
bei Adorno: Kunst sei, so erfindet er ein Hegel-Zitat, ein "Bewußtsein von
Nöthen" (= Plural von "Not"), wo nur gemeint war, daß in der Kunst ein
Bewußtsein "vonnöthen" (= notwendig) sei ...
Um zum Heidegger-Text zurückzukommen: Das Kunstwerk ist zunächst ein
Ding wie alles Materielle. Es ist darüberhinaus, vermöge eines noch zu
definierenden Anderen, ein Werk der Kunst. Das ist, verkürzt, der
Gedankengang dieser Einleitung.
Er geht sofort über in das erste Kapitel, "Das Ding und das Werk" (S.11-34).
Hier entfaltet Heidegger - ich bin geneigt zu sagen: mit sanfter Unerbittlichkeit
- seine Idee des Kunstwerkes als eines Anderen, eines sich vom Übrigen
kategorial und existentiell abhebenden In-der-Welt-Seins. Er beginnt mit einer
begrifflichen Umkreisung des "Dings". Auch das Kunstwerk ist ja ein Ding, aber
nicht jedes Ding ist ein Kunst-Werk. Ein Ding ist "jegliches, was nicht
schlechthin nichts ist" (S.12). Das meint also: Nicht nur ein Stein, ein Gebäude,
ein Blütenblatt oder ein Tier ist ein Ding im philosophischen Sinn, sondern auch
jedes technisches Gerät ist ein Ding, ebenso wie ideologisch-religiöse Termini,
also Tod und Gericht, Gott und Teufel etc. "Jegliches, was nicht schlechthin
nichts ist." Das widerspricht zwar zum Teil dem Alltagsverständnis und dem
alltäglichen Sprachgebrauch, aber es ist Teil der Heideggerschen
philosophischen Rede. Ein Ding ist ein Seiendes, jegliches Seiende ist ein Ding.
Im Verlauf des abendländischen Denkens hat es nun verschiedene Versuche
gegeben, das was Heidegger die "Dingheit des Dings" nennt, näher zu
bestimmen. Ich fasse diese Versuche zusammen, noch knapper, als Heidegger es
tut.
1.: Ein Ding ist der Träger seiner Merkmale. Das ist nie ganz falsch, aber es
ignoriert das elementare Faktum, daß wir das Ding in vielen Fällen erleben, es
ist ein
"das in den Sinnen der Sinnlichkeit durch die Empfindungen
Vernehmbare" (S.17). Es verbindet folglich, in der gängigen Terminologie
formuliert, das Objekt mit dem es erfahrenden Subjekt.
2.: Es ist "die Einheit einer Mannigfaltigkeit des in den Sinnen Gegebenen"
(S.17). Heidegger vermeidet hier wie stets die Dichotomie von Subjekt und
Objekt zugunsten einer Art Situations-Beschreibung, in der sich nicht Subjekt
und Objekt gegenüberstehen, sondern die Gesamtheit aller Phänomene einen
einmaligen konsistenten Zustand bilden. Das wird klarer, wenn wir zum Werk
als dem Kunst-Werk kommen und dazu, wie wir das Werk erfahren und wie wir
ihm gegenüber sind und dann doch nicht "gegenüber" sind, sondern woanders.
Aber auch diese zweite Definition ist nicht wirklich befriedigend, denn sie
unterschlägt die vielfältigen Eindrücke und Gemütszustände, die Dinge auf uns
ausüben, und die Art und Weise, in der dies geschieht. So versucht der Text
einen dritten Anlauf. Nun, 3., erscheint das Ding "als geformter Stoff" (S.19).
"Diese Auslegung des Dinges beruft sich auf den unmittelbaren Anblick, mit
dem uns das Ding durch sein Aussehen [...] angeht. Mit der Synthesis von Stoff
und Form ist endlich der Dingbegriff gefunden, der auf die Naturdinge und die
Gebrauchsdinge gleich gut paßt." (S.19)
Was heißt das, und was bedeutet es? Es heißt, daß dies als "geformter Stoff"
beschriebene Ding nicht nur Naturdinge und Gebrauchsdinge angemessen
umfaßt, sondern auch bereits vorausdeutet auf das Kunst-Werk als ein nun
freilich anderes Ding. Vorausdeutet durch die Begriffe "Stoff" und "Form".
Heidegger vermeidet es allerdings, die ästhetische Fragwürdigkeit dieser
Dichotomie weiter zu diskutieren, wie es denn ganz allgemein ein Signum
dieses Vortrags und anderer Texte Heideggers mir zu sein scheint, an
bestimmten heiklen Stellen abzubrechen und eine neue Begrifflichkeit
einzuführen. Das geschieht hier durch den Terminus "Dienlichkeit" (S.21).
"Dienlichkeit" verbindet "Ding" mit "Zeug", also die Gesamtheit des Seienden
verengt sich quasi durch die Kategorie der "Dienlichkeit" hin zum "Zeug", das
ein von Menschenhand Hergestelltes ist und damit eine Zwischenstellung
einnimmt zwischen dem "Ding" und dem "Werk". Die Trias Ding - Zeug Werk beruht also auf einer fortschreitenden Spezifizierung und Steigerung.
"Zeug" und "Werk" sind verbunden durch ihren Charakter des vom Menschen
Hervorgebrachten; wobei das "Zeug" unmittelbar dienlich ist (z.B. ein Paar
Schuhe).
Diese Kategorien, so macht der Text bald deutlich, sind jedoch für Heidegger
angekränkelt von der Geschichte des abendländischen Denkens, das, so
Heidegger, die Funktionalität (und das ist jetzt mein Wort) des Dings als sein
spezifisches Merkmal heraushebt, also, anders gesagt, den Zugriff des Subjekts
auf die Objektwelt bis in die Terminologie hinein nachvollzieht und legitimiert.
So wissen wir nicht, was das "Zeug" "in Wahrheit" (S.26) ist. Wie erfahren wir
es aber? Zu diesem Zweck wendet sich der Text ganz abrupt nun einem "Werk"
zu, dem Gemälde mit den Schuhen/Bauernschuhen des Vinzent van Gogh. Die
Forschung hat, nicht ganz ohne Häme, daraufhingewiesen, daß es sich da nicht
um Bauernschuhe, sondern um ein Paar ausgetretene Schuhe des Künstlers
selbst handelt. (Außerdem gibt es acht (!) Gemälde mit ausgetretenen Schuhen
von van Gogh aus den Jahren 1886/87, gemalt in Paris, von denen immerhin
noch drei (!) der Heideggerschen Interpretation zugrunde gelegen haben
könnten. Aber dies nur am Rande. Es berührt nicht den Kern der
Heideggerschen Deutung.) Eine gewisse souveräne Ignorierung der Tatsachen
kommt bei Heidegger nicht ganz selten vor; ähnlich ist es bei Adorno. Was ein
rechter Groß-Ordinarius ist, bestimmt selbst, was Tatsache ist und was nicht.
Wie auch immer. Heidegger zieht als Exempel für das "Zeug" "ein Paar
Bauernschuhe" (S.26) heran, aber eben nicht reale Schuhe, sondern gemalte, in
einem Kunst-Werk gestaltete, zu einem Kunst-Werk gewordene. Und hier, sagt
Heidegger unvermittelt, erleben wir einen qualitativen Sprung. Reale Schuhe
sagen uns nichts über die Zeughaftigkeit des Zeugs; nur das Kunst-Werk, das
Werk als Ausdruck der Wahrheit, gibt uns Auskunft über das Zeug und über uns,
die wir das Kunst-Werk betrachten.
Ein großer Sprung. Wir stehen zum ersten Mal da, wohin der Vortrag von
Anfang an hinwollte und nur mit einiger Mühe, wie manche vielleicht sagen
werden, und auf mancherlei Umwegen, hingekommen ist. Wir stehen vor einem
Kunst-Werk, den gemalten Schuhen des van Gogh. Was sehen wir - was sollen
wir sehen?
Heidegger gelingen in der Bildbeschreibung einige ungemein suggestive
Assoziationen und Folgerungen. Das Bild "spricht". Es spricht, und zwar
unmittelbar, von der Mühsal des bäurischen Lebens, von Not und Erfüllung,
Einsamkeit und Zugehörigkeit, jenseits des neo-romantischen Bauern-Klischees
und -Kitsches. Das Bild mit den alten, ausgetretenen Schuhen spricht von
Geburt und Tod, existentieller Gefährdung und elementarem Glück - ohne
Allegorie (im herkömmlichen Sinn des Begriffs) und ohne dies in einzelne
Szenen und Geschichten auflösen zu müssen. Es spricht - so jedenfalls hört es
Heidegger - von der fundamentalen Verläßlichkeit dieses Zeugs als Inbild der
Verläßlichkeit der Erde (S.28). Und es tut dies "unversehens" (S.29), durch
seinen Charakter als Kunst-Werk. Was wir sehen und hören, hören und sehen
wir in dem und durch das Kunst-Werk. Was wir gelernt haben, haben wir gelernt
nicht durch empirische Studien oder durch eine Betrachtung und Auslegung
realer Dinge oder eines realen Zeugs, sondern durch dieses eine Kunst-Werk van
Goghs.
Heideggers charakteristische Bestimmung des Phänomens lautet so: "In der
Nähe des Werkes sind wir jäh anderswo gewesen, als wir gewöhnlich zu sein
pflegen." (S.29) Ein bemerkenswerter Satz. Er führt direkt in das Zentrum der
ästhetischen Konzeption Heideggers. Das Werk, hier: das Gemälde, das KunstWerk, das das Auge an-spricht, erfaßt den Beschauer, so wie er das Werk erfaßt.
Es erfaßt ihn und führt ihn in einen anderen Zustand. Wir sind "jäh anderswo
gewesen" - will auch sagen: Wir sind plötzlich aus der gewohnten Welt der
Zwecke und Kausalitäten herausgerissen und Teil einer anderen Sphäre
geworden, innerhalb deren wir eine neue Welt erleben und später diese neue
Welt zumindest ansatzweise artikulieren können.
Das Wort "jäh" = plötzlich verweist auf mehreres. Zum einen verweist es,
unausgesprochen, auf den "ästhetischen Zustand" Arthur Schopenhauers
(voriges Wintersemester!), der in vergleichbarer Weise den Betrachter aus der
Welt des Willens in die Welt der Vorstellung, der Kontemplation hineinzieht
(Heidegger hat sich nur sehr selten und dann recht abschätzig über
Schopenhauer geäußert; ich möchte das jetzt nicht kommentieren). Es geschieht
"plötzlich", wenn der Einzelne die Welt des Willens verläßt und die Welt der
Erkenntnis betritt.
Die Kategorie der "Plötzlichkeit" ist aber auch eine zutiefst expressionistische.
Es gibt kein langsames Eintauchen in die Kunst-Welt, in das Kunst-Werk,
sondern es gibt nur den jähen Orts- und Apperzeptionswechsel. Sowohl in der
Erfahrung der Kunst wie der Aufnahme und Bewertung der geschichtlichempirischen Situation dominiert das Erlebnis der Plötzlichkeit, so jedenfalls
Heidegger und mit ihm seine Generation. Der Umschwung von der einen in die
andere Situation kann nur "jäh" geschehen. Es gibt da nur ein Entweder - Oder.
Das gilt auch für die zentrale Kategorie, die Heidegger nun einführt, die der
"Wahrheit" (S.30). "Van Goghs Gemälde ist die Eröffnung dessen, was das
Zeug, das Paar Bauernschuhe, in Wahrheit ist." (S.30)
Betrachten wir diesen Zentralbegriff der "Wahrheit" genauer. Wir haben es mit
einer jener Etymologien zu tun, für die Heideggers Denken berühmt-berüchtigt
ist. Hier, so scheint mir, trifft das Wortspiel den zentralen Aspekt. Die Wahrheit,
die durch das Kunst-Werk in die Welt tritt, ist die "Unverborgenheit seines
Seins" (S.30). Das Kunst-Werk eröffnet also etwas, es ent-birgt das Zentrum,
die eigentliche Bedeutung der Dinge, des von Menschen gemachten und
verwendeten Zeugs. Wahrheit heißt im Griechischen aleitheia. Das bedeutet,
etwas frei übersetzt, in die Wörtlichkeit gewissermaßen zurückgenommen:
Unverborgenheit. Wahrheit ist Unverborgenheit. Das Kunst-Werk er-schafft die
Wahrheit, indem es die Dinge in die Unverborgenheit ihres eigentlichen
Zustandes entläßt, entläßt in die Offenheit und Freiheit der Kunst-Welt. "Im
Werk der Kunst hat sich die Wahrheit des Seienden ins Werk gesetzt. 'Setzen'
heißt hier: zum Stehen bringen. Ein Seiendes, ein Paar Bauernschuhe, kommt im
Werk in das Lichte seines Seins zu stehen. Das Sein des Seienden kommt in das
Ständige seines Scheinens." (S.39)
Ich versuche, diesen Gedankengang mit meinen Worten nachzuvollziehen. Die
Welt, so wie wir sie ständig erfahren, zeigt sich uns als verworren, als
ungeordnet, als kontingent. Wir leben in ihr, aber wir erfahren in ihr im Alltag
keine Wahrheit. Der Alltag ist ohne ein Hervor-ragendes, ist ohne Wahrheit im
emphatischen Sinn. Nur ganz exzeptionelle Momente eröffnen einen Raum, in
dem wir das Sein des Seienden in seiner Wahrheit, eben seiner Un-verborgenheit
sehen und erleben.
Aus anderen Texten Heideggers wird evident, daß damit nicht nur die Erfahrung
der Kunst gemeint ist; aber hier ist es eben das Kunst-Werk, das das Sein für
wertvolle Augenblicke in das Offene einer wahren Erfahrung zieht..
Schopenhauers "ästhetischer Zustand", die willensreine Anschauung, war, eben
durch die Überwindung der Gewalt des Willens, ein Moment der Freiheit und
damit auch ein Moment der Erfahrung einer Wahrheit, nämlich einer Sphäre
ohne Willen, also ohne Schmerz und Subjekt-Objekt-Antagonismus. Heidegger
spricht nicht von Freiheit, er spricht von der Wahrheit, die durch die Kunst in die
Welt gesetzt wird. Indem er Wahrheit als Unverborgenheit definiert, kann er das
Kunst-Werk, das Bild van Goghs, begreifen als Agens und Mittel einer Öffnung.
Die dunkle, zufällige und wirre Welt öffnet eine Lichtung des Unverborgenen,
innerhalb deren wir eine neue Erfahrung machen, die der Wahrheit, die
ansonsten verborgen ist. "So wäre denn das Wesen der Kunst dieses: das Sichins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden." (S.30)
Wie immer wir inhaltlich zu dieser Definition stehen - sie steht in der Tradition
deutschen Kunst-Denkens, von der Frühromantik bis in die Mitte des 20.
Jahrhunderts. Sie situiert Kunst in der Nähe der Wahrheit, ja als ihr höchster
Ausdruck, als Teil einer anders nicht möglichen Welt-Erkenntnis und Erfahrung. Daß die Kunst es auch mit der Herstellung des Schönen zu tun hat,
wird zwar kurz konzediert (S.30-31), aber ebenso rasch auch wieder abgetan.
Ich deutete schon an, daß Heidegger es sich immer dann leicht macht, wenn er
einen Punkt nicht diskutieren will, also hier die Relation Wahrheit - Schönheit.
Er bricht dann einfach ab und begibt sich auf das nächste Gedankenfeld. Das ist
hier der kurze Versuch, das angesichts des van Gogh-Bildes Gewonnene zu
transformieren in die Welt der Sprache, und das kann bei Heidegger nur heißen:
des Gedichts, der Poesie.
Er wählt Conrad Ferdinand Meyers "Der römische Brunnen" (veröffentlicht
1882).
Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.
Von einem Gemälde zur sprachlichen Darstellung eines Brunnens. Von der
Konkretion zur Abstraktion der Sprache. In einem Umweg, wie Heidegger
selbst konzediert (S.34). Leider geht er auch nicht direkt auf Meyers Gedicht
ein. Was er sagen will, dürfte sein: Das Kunst-Werk steht in engster Beziehung
zur Sphäre von Ding und Zeug. Aber es ist nicht die Summe oder Addition von
Teilbereichen innerhalb der gesamten Welt des Seienden. Sondern die Wahrheit
der Kunst entsteht oder ent-birgt sich in einem neuen, die gängigen Kategorien
übersteigenden oder ignorierenden Vorgang, hin auf die Eröffnung des Seins des
Seienden. Das Kunst-Werk (Gemälde oder Gedicht) ist kein quantitativ, sondern
ein qualitativ Neues. Weder ist es die mimetische Abbildung der Empirie noch
ein voluntaristischer Eingriff in diese Empirie (wie etwa in der politischaktionistischen Kunst). Stattdessen können wir uns das Kunst-Werk nur
angemessen vorstellen im Prozeß der Ent-Bergung des Seins. So wird es
herausgestellt aus der Dunkelheit der kontingenten Empirie in die Lichtung, auf
der und durch die das Sein des Seienden recht eigentlich erst erscheint. In
Heideggers Worten: "Das Kunstwerk eröffnet auf seine Weise das Sein des
Seienden. Im Werk geschieht diese Eröffnung, d.h. das Entbergen, d.h. die
Wahrheit des Seienden. Im Kunstwerk hat sich die Wahrheit des Seienden ins
Werk gesetzt. Die Kunst ist das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit. Was ist die
Wahrheit selbst, daß sie sich zu Zeiten als Kunst ereignet? Was ist dieses Sichins-Werk-Setzen?" (S.34) Damit endet das erste Kapitel, überschrieben "Das
Ding und das Werk".
Ich fasse es kurz und in meinen Worten zusammen. Heidegger geht von der
unbestreitbaren Erkenntnis aus, daß jedes Kunst-Werk zunächst ein Ding ist wie
jedes andere. Als ein vom Menschen hervorgebrachtes Ding ist es auch ein
"Zeug". Aber es ist mehr als das. Denn in ihm und durch seine Präsenz geschieht
etwas. Der Betrachter wird aus der Normalität, aus der herkömmlichen Welt des
Beliebigen herausgehoben und in einen anderen Zustand versetzt, in dem er die
Welt der Dinge und Relationen neu sieht, in dem er "in der Wahrheit" ist.
Heidegger nennt das: Das Kunstwerk "eröffnet das Sein des Seienden". Man
könnte auch sagen: Das Kunst-Werk schafft in sich und durch sich einen anderen
Zustand, in der der Betrachter einer Wahrheit teilhaftig wird, die ihm ansonsten
verschlossen bleibt. Kunst macht sichtbar. Das heißt auch: Kunst fügt das
Kontingente zu einem plötzlich Notwendigen zusammen.
Das zweite Kapitel heißt "Das Werk und die Wahrheit" (S.35 - 56). Heidegger
beginnt mit der Frage nach der Historizität des Kunst-Werkes. Kunst-Werke sind
überwiegend Vergangenes; sie sind, so könnte man sagen, zwar Momente der
Wahrheit, aber zunächst doch Dokumente einer nicht mehr wirklich
rekonstruierbaren Vergangenheit. In Heideggers Sprache: "die Welt der
vorhandenen Werke ist zerfallen." (S.36) Ist damit, mag der verblüffte Leser
fragen, auch van Goghs Bild gemeint? Offensichtlich nicht, denn in ihm und
durch es eröffnet sich doch die Welt der Wahrheit. Wohl aber gilt es für die
Werke der griechischen Antike. Heidegger nimmt zum Exempel den
griechischen Tempel. Er war das Zentrum der Polis, der Gemeinde. Er war der
Ort, an dem die Dinge dieser Welt und die Erfahrungen einer anderen Sphäre
zusammentrafen. Er ragt aus dem Felsengrund in die Höhe, ist Stätte der Götter
und Platz der Begegnung von Mensch und Mensch und Gott und Mensch. Er ist
Moment der Erde und eröffnet eine andere Welt. Erde ist an sich, so verstehe ich
diese Passage, reflexionslose Natur, die sich den Anstrengungen des Menschen,
sie zu erobern und zu unterwerfen, verweigert. Der Tempel jedoch gründet auf
der Erde und überhöht sie gleichzeitig. "Das Tempelwerk eröffnet dastehend
eine Welt und stellt diese zugleich zurück auf die Erde [... ]" (S.38).
Es ist spätestens jetzt die Frage nicht zu unterdrücken, ob Heidegger den Tempel
der griechischen Antike als Kunstwerk oder als sakralen Raum betrachtet, bzw.
ob es für ihn da überhaupt einen Unterschied gibt. Mir will scheinen, daß bereits
hier der religiöse Hintergrund der Heideggerschen Ästhetik ungestüm nach
vorne drängt. Der Tempel war ein sakraler Bau; gleichzeitig war er das
gemeinschaftliche und gemeinschaftsbildende Zentrum der griechischen Polis.
So, als ein dem Göttlichen geweihtes Menschenwerk, eröffnet es den
Zeitgenossen den Blick auf sich und auf die Sphäre der Transzendenz. Der
Tempel, gerade vermöge dieser Doppelfunktion, ist Moment der Welt der
Wahrheit: ein vom Menschen geschaffener Raum, der den Einzelnen in die
Wahrheit des Seins stellt. Aber da dies auch einen Raum der Götter dar-stellt,
kommen Sakralität und Wahrheit hier zusammen, im Kunst-Werk, das wir
Tempel nennen.
Wenn aber, so folgere ich daraus, die sakrale und die weltschaffende
Dimensionalität des Tempels erloschen ist im Verlauf der Jahrhunderte, dann
kann der Tempel, oder das was von ihm übriggeblieben ist, für uns heute nur
mehr noch ein Dokument sein, kein gründendes Zeugnis der Wahrheit, keine
Epiphanie des Seins. "Diese Sicht [die der Tempel auf Welt und Mensch
gewährt, B.S.] bleibt so lange offen, als das Werk ein Werk ist, so lange als der
Gott nicht aus ihm geflohen." (S.39) Wenn ich diesen Satz nicht mißverstehe,
dann bindet Heidegger die Kunst unlösbar sowohl an eine Gemeinschaft (die
Polis), wie auch an die Erfahrung des Göttlichen. Eine entgöttlichte, die
aufgeklärte europäische Moderne, unsere Gegenwart, ist nicht mehr in der Lage,
diese elementaren Erfahrungen der Antike nachzuvollziehen. (Das wird das
Zentrum der Heideggerschen Hölderlin-Interpretationen bilden.)
Aber ist sie in der Lage, die Gegenwart zu öffnen für unsere Erfahrung der
Wahrheit? Einen ersten Eindruck einer möglichen Antwort gibt der knappe
Abschnitt zur "Tragödie" (S.39). Man begreift sofort, daß Heidegger hier die
antike Tragödie im Auge hat, denn er spricht davon, wie in der Tragödie "der
Kampf der neuen Götter gegen die alten" (S.39) gekämpft wird. Das ist nicht
unbedingt ein zeitgenössisches Thema. Es wird es jedoch gleichsam unter der
Hand, denn die Tragödien-Definition, die sogleich folgt, geht zwar aus von
einem Fragment des Heraklit (!), meint aber ersichtlich die Zeit der Entstehung
des Vortrages, also die Jahre um 1935.
Das muß etwas weiter ausgeführt werden. Heidegger bezieht sich auf ein von
ihm besonders geschätztes Fragment des Vorsokratikers Heraklit (von Ephesus;
etwa 560 - 510 v.Chr.), das berühmt-berüchtigte, nach dem der Krieg der Vater
von allem sei.
Nun, Heidegger übersetzt hier wie stets
polemos nicht mit "Krieg", sondern mit "Streit" oder "Auseinandersetzung".
Dann heißt das Fragment: "Der Kampf/der Streit/die Auseinandersetzung ist von
allem der Vater und von allem der König; denn die einen erweist er als Götter,
die anderen als Menschen, die einen macht er zu Sklaven, die anderen zu
Freien."
Es ist leicht zu sehen, was dieses Fragment des ansonsten als "dunkel"
verschrieenen Heraklit meint. Der Krieg/der Kampf/der Streit/die
Auseinandersetzung sind die großen entscheidenden Mächte im Leben des
Einzelnen und der Völker. Sie entscheiden darüber, "was groß und was klein,
was wacker und was feig, was edel und was flüchtig, was Herr und was Knecht"
ist (S.39). Diese Trennung, die von Heidegger existentiell aufgeladen und quasi
verabsolutiert wird, vollzieht sich ebenfalls in der Tragödie, im tragischen
Sprechen des Volkes von sich selbst. Die moderne Tragödie verhandelt, so ließe
sich der Gedanke zu Ende denken, die moderne Welt unter dem leitenden Aspekt
einer heroischen Zuspitzung; in ihr tritt die Wahrheit der Welt hervor, als
Auseinandersetzung zwischen (manichäisch aufgestellten) Prinzipien oder
Wesenheiten. Leider gibt uns Heidegger kein einziges Beispiel für die moderne
Tragödie und ihre Gründungs- oder Zuspitzungs-Mythen.
Heidegger bleibt bei diesem Gedanken nicht stehen. Vielleicht auch, weil er
spürt, daß damit das Eigentliche noch nicht gesagt ist. Dieses Eigentliche eines
Kunst-Werkes unter dem Aspekt seines Welt-Bezuges ist jedoch, daß es die Welt
deutlich macht, sie ver-deutlicht, sie erklärt. Es stellt eine neue Welt auf (S.40).
Das bedeutet bei Heidegger: Welt ist die gesteigerte, auf den Wahrheitskern hin
geordnete Erfahrung des Seins. Die Welt öffnet sich, und das bedeutet: Nur in
der Kunst wird die Welt als gesteigerte Existenzweise erfahrbar. Nur in der
Kunst erfährt der Einzelne das Wesen der Welt, das Wesen der Gemeinschaft,
das Wesen des Göttlichen. Das ist der zentrale Gedanke des Abschnittes.
Und der Gegensatz von "Welt" und "Erde", der diese Seiten einigermaßen
rätselhaft durchzieht, ist der Gegensatz von "Sichverschließendem" (S.45)
(=Erde) und "sich öffnender Offenheit" (S.45) (=Welt). Vielleicht auch: der
Gegensatz von Normalität und Exzeptionalität, von Dunkelheit und Helligkeit,
von Verbergung und Lichtung. In Heideggers Worten: "Nur diese Lichtung
schenkt und verbürgt uns Menschen einen Durchgang zum Seienden, das wir
selbst nicht sind, und den Zugang zu dem Seienden, das wir selbst sind. Dank
dieser Lichtung ist das Seiende in gewissen und wechselnden Maßen
unverborgen." (S.51) Dann ist es Teil der Wahrheit. Sie, diese Wahrheit,
"geschieht" in der Form des Wesentlichen, und das ist unter anderem das KunstWerk. Im Werk, seiner Wahrheit und Schönheit, wird die Welt wesentlich. Sie
tritt heraus aus der Schwere und Funktionalität des Erdhaften und bildet eine
"weltende Welt" (S.41). Als sich öffnende Welt ist sie gleichzeitig schön. Im
Kunst-Werk treffen sich also Wahrheit und Schönheit; aber nicht als
Akzidentien, die der pragmatischen Existenz zufällig zugehören oder auch nicht,
sondern als Modi einer neuen Erfahrung. Das Kunst-Werk ist gleichzeitig eine
Ent-Bergung der Wahrheit und die Erfahrung einer Welt, die als "gestiftete" von
mehr kündet als der schweren Alltäglichkeit. In der Kunst erfährt der Mensch
von etwas, was in dieser Welt ist und doch nicht in ihr ohne Rest aufgeht. Er
erfährt das Sein als gesteigerte, sinnvolle und sinnstiftende Form seines Daseins
und damit als einen Anhauch von Wahrheit und Nähe des Göttlichen (oder als
Erlebnis einer selbstverschuldeten Götterferne).
Womit dieses Kapitel beendet ist und das letzte beginnt. Es trägt die Überschrift
"Die Wahrheit und die Kunst" (S.56 - 81). Es zieht mehrere Summen, insofern
die Wahrheitsfrage verknüpft wird mit der geschichtlichen Frage des
"Ursprungs". "Der Ursprung des Kunstwerkes" heißt ja der Vortrag, und diese
Verbindung war noch unklar geblieben. Sie wird auch im folgenden erst
allmählich klarer; Heideggers Denk- und Sprach-Stil - die bohrenden
Wiederholungen und zahllosen Wiederaufnahmen, die spezielle Verwendung
alltäglicher Begriffe, um nur zwei von vielen zu nennen - ist im Grunde
wesentlich unkommunikativ, abweisend, herrisch. Es ist so, sagt jeder
einzelne Satz, und jeder einzelne Satz fordert diskussionslos den nächsten. Wir
werden feststellen, daß sich das bei Theodor W. Adorno nicht fundamental
anders verhält.
Die Intention dieses letzten Abschnittes ist eine gedankliche Verbindung von
Wahrheit und Kunst. Wahrheit ist verstanden als Un-Verborgenheit. Die
Erscheinung, das Heraustreten aus der Verborgenheit/dem Dunkel - sie gehören
zur Wahrheit, sind Teil ihres Wesens. Der Schritt vom Verborgenen in die UnVerborgenheit geschieht im Streit, in der Auseinandersetzung, nach Heraklit.
Das Kunst-Werk ist folglich das Resultat einer Auseinandersetzung. So und nur
so entbirgt sich die Wahrheit des Seins.
Nun gilt dies nicht nur für die Kunst, sondern auch für die "staatsgründende
Tat", es gilt für das "wesentliche Opfer" (S.62) und die Fragen des Denkers.
Dies sind Taten des Ursprungs. Kunst ist ebenso eine Tat des Ursprungs wie
eine Staatsgründung und das Denken des Denkers (Heidegger vermeidet hier
wie oft das Wort "Philosoph"). Dies schreibt Heidegger im Jahr 1935. Die Taten
des Ursprungs, die aus dem Streit entstehen, werden zu einer notwendigen
Gestalt: des Staates, der Kunst. Ist der Streit notwendig und wesenhaft, dann
wird auch das Resultat, also die spezifische Gestalt, notwendig und wesenhaft
sein. Am einzelnen Kunst-Werk wird das besonders evident: "Je wesentlicher
das Werk sich öffnet, um so leuchtender wird die Einzigartigkeit dessen, daß es
ist und vielmehr nicht ist." (S.66)
Das Kunstwerk trägt in sich den Glanz des Ursprungs, als Resultat einer
Auseinandersetzung (polemos), die das Wesen der Dinge unterscheidet. So
gehören Kunst und Leben zusammen, denn auch die Existenz ist nur dann
wesenhaft ursprünglich, wenn sie ein "ekstatisches Sicheinlassen des
existierenden Menschen in die Unverborgenheit des Seins" (S.68) ist. Das
expressionistische Pathos ist unüberhörbar. Das Kunstwerk ist dann und nur
dann Teil einer herausgehobenen Existenzform, eines anderen Zustandes, wenn
es partizipiert an dem Mythos des Ursprungs, an Heraklits polemos, am Streit
der Prinzipien, an der Sehnsucht nach existentieller Un-Verborgenheit. Dann ist
die Kunst "in der Wahrheit" und damit Modus eines gesteigerten, eines
wahrhaften Daseins, dann ist sie "die schaffende Bewahrung der Wahrheit im
Werk" (S.73).
Es ist offensichtlich, in welch enger Beziehung Kunst und Religion bei
Heidegger stehen - Religion nicht verstanden als konfessionelle Gemeinschaft
oder Zuordnung oder formuliertes Dogma, sondern verstanden als Anwesenheit
oder Epiphanie des Göttlichen. Sowohl Religion wie Kunst sind, so Heidegger,
Taten und Ergebnisse eines unhintergehbaren Ursprungs, so wie die
Staatsgründung oder das Denken des Seins. Die Kunst entsteht aus
uranfänglichem Streit, und dieser Streit ist nichts Negatives, sondern die
Bedingung der Notwendigkeit eines Offenbarung, eines Sich-Öffnen des Seins.
Wahrheit ist Dichtung, und Dichtung ist Wahrheit. "Alle Kunst ist als
Geschehenlassen der Ankunft der Wahrheit des Seienden als eines solchen im
Wesen Dichtung." (S.73f) Das heißt nicht, daß alle Kunst Literatur ist, sondern
eine Ver-Dichtung des ansonsten Diffusen in der Lichtung des Seins.
(Heideggers Wortspiele sind dadurch gekennzeichnet - so sagte Peter Szondi,
auch nicht gerade als Sprach-Komiker bekannt - daß man bei ihnen nicht
lachen darf.) "Aus dem dichtenden Wesen der Kunst geschieht es, daß sie
inmitten des Seienden eine offene Stelle aufschlägt, in deren Offenheit alles
anders ist wie sonst." (S.74) Einer der Sätze, deretwegen sich die Lektüre des
Vortrags lohnt.
Wir nähern uns dem Ende des Textes und seiner Gedankenführung. Die Begriffe
beziehen sich enger und intensiver aufeinander; deutlich wird, neben anderem,
die herausgehobene Stellung der Dichtung als Sprachkunstwerk, als das SprachWerk. Hörer der Schopenhauer/Nietzsche-Vorlesung im vergangenen
Wintersemester werden sich noch an die Hierarchie der Künste in der Ästhetik
Schopenhauers erinnern. Kurz resümiert: Unten stehen Architektur/Baukunst
und bildende Kunst. Darüber alle Sprach-Kunst, mithin alle Literatur; an ihrer
Spitze, wie üblich, die Tragödie. Aber ganz oben in der Hierarchie steht bei
Schopenhauer die Musik, weil sie das Wesen der Welt sprachlos und ohne die
Qualen des Willens ausdrückt. Eine zutiefst romantische Theorie, die bis ins
20. Jahrhundert von immensem Einfluß war. Bei Heidegger nun wird wieder,
wie in vor-romantischen Zeiten, der Sprache die höchste Stufe zugewiesen.
Gemeint ist naturgemäß nicht die Sprache der pragmatischen Kommunikation,
sondern die Sprache als Moment der Offenwerdung des Seins. Sie nennt das
Seiende und ent-birgt es zur Erfahrung des Seins. Genauer: zur Erfahrung eines
geschichtlichen und kollektiven Seins: "Die jeweilige Sprache ist das
Geschehnis jenes Sagens, in dem geschichtlich einem Volk seine Welt aufgeht
und die Erde als das Verschlossene aufbewahrt wird." (S.76)
Letzteres, die Wiederaufnahme des Begriffs "Erde", deute ich als das GegenGewicht zur Offenbarung der Welt in der Kunst. Die Erde ist das Verschlossene,
das Ungreifbare, aber auch das Tragende, aus dessen dunkler Kraft das
Gründende von Stadt, Sprache, Kultus und Kunst entstehen.
"Die Sprache selbst ist Dichtung im wesentlichen Sinn." (S.76) In der Sprache
vollzieht sich der Streit (polemos), den Heraklit als den Vater von Allem
bezeichnet hatte, vollzieht sich die Auseinandersetzung mit der Welt. Es entsteht
daraus das Werk, die Stiftung der Wahrheit, die Erfahrung des Ursprungs.
Damit erreicht Heideggers Text seinen Höhepunkt. Es ist die Feier des Anfangs
- "das Eigentümliche des Sprungs aus dem Unvermittelbaren her" (S.78). Auch
hier ist das Expressionistische der Formulierung und der Idee evident. Das
emphatische Ursprüngliche hat nichts zu tun mit dem Primitiven. "Der Anfang
dagegen enthält immer die unerschlossene Fülle des Ungeheuren und d.h. des
Streites mit dem Geheuren. Kunst als Dichtung [...] ist Stiftung als Anfang."
(S.79)
Heidegger sieht in der Vergangenheit drei Anfänge. Zuerst natürlich im
Griechentum als dem Ursprung unseres Verständnisses von Sein und Kunst.
Dann im Mittelalter "zum Seienden im Sinne des von Gott Geschaffenen."
(S.79) Und schließlich in der Neuzeit: "Das Seiende wurde zum rechnerisch
beherrschbaren und durchschaubaren Gegenstand." (S.79) (Griechentum Mittelalter - Neuzeit: Spengler hat da ersichtlich keine Spuren hinterlassen.
Oder doch: in der verbissenen, geradezu fanatischen Negation seiner
Konzeption. Dazu mehr im nächsten Kapitel, dem über Heideggers HölderlinVerständnis und Griechenland-Vision!)
Damit sind definitiv Kunst und Geschichte, Kunst und Anfang miteinander
verknüpft: "Immer wenn Kunst geschieht, dh. wenn ein Anfang ist, kommt in
die Geschichte ein Stoß, fängt Geschichte erst oder wieder an. Geschichte meint
hier nicht die Abfolge irgendwelcher und sei es noch so wichtiger
Begebenheiten in der Zeit. Geschichte ist die Entrückung eines Volkes in sein
Aufgegebenes als Einrückung in sein Mitgegebenes." (S.79) Ein typischer
Heidegger-Satz, den ich so auslege: Kunst bezieht sich, wenn sie wesentlich ist
oder sein soll, stets auf den Kampf um die Wahrheit, auf den Kampf um die neue
Perspektive eines Volkes. Nur als Moment einer geschichtlichen Aufgabe kann
die Kunst Teil des Ursprungs sein, Teil des Ursprungs-Mythos. Sie ist damit
Wahrheit im Sinn der Unverborgenheit, im Sinne der schaffenden
Auseinandersetzung, einer neuen Setzung des Seienden. "Die Kunst ist
Geschichte in dem wesentlichen Sinne, daß sie Geschichte gründet." (S.80) Sie
bringt Seiendes ins Sein - darum ist sie ein Ursprung.
Nun mag man fragen, was dies mit (zum Beispiel) van Gogh zu tun hat. Ganz
offensichtlich trägt hier die geschichtliche Stunde des Jahres 1935 den Verfasser
über die Konkretion des Text-Anfanges hinaus. Nicht jedes Kunstwerk, nicht
einmal jede Dichtung kann ein Gründungs-Mythos sein. Läßt man diesen
Gedanken in seiner Erhabenheit für den Moment beiseite und beschränkt sich
allein auf das Werk in seiner Singularität und wesenhaften Kraft, dann gelangt
man zu dem etwas weniger hermetisch-pathetischen, dafür um so treffenderen
Satz: "Das ist so, weil die Kunst in ihrem Wesen ein Ursprung ist: eine
ausgezeichnete Weise wie Wahrheit seiend, dh. geschichtlich wird." (S.80)
Womit wir uns dem Schlußgedanken nähern. Warum fragen wir uns diese
Fragen? Warum beschäftigen wir uns überhaupt mit diesen Dingen? Weil nur
so, laut Heidegger, den Schaffenden der Weg zur Kunst bereitet wird ( - auch
dies ein Gedanke. der, so will mir scheinen, bei Hölderlin vor-gedacht ist, in der
Elegie "Brot und Wein", zum Beispiel). Durch unser vorbereitendes Mühen
entscheidet sich, ob die Kunst ein emphatischer Ursprung ist oder "eine üblich
gewordene Erscheinung der Kultur" (S.81), die dann zu einer Vergangenheit
wird, in der die Nachgeborenen nichts anderes mehr zu sehen vermögen als ein
verstaubtes Dokument. Nur wenn wir "am Ursprung" sind, sind wir in der
Wahrheit; nur dann können wir, so sagt es Heidegger am Ende des Textes mit
einem Hölderlin-Zitat ("Schwer verläßt / Was nahe dem Ursprung wohnet, den
Ort", aus dem Gedicht "Die Wanderung"), Teil eines Sprungs in die neue, die
wesenhafte Welt sein. Was dazu notwendig ist, bleibt offen, wie stets bei
Heidegger in solchen Zusammenhängen. Vage wird ein "Entweder - Oder"
genannt, ein manichäischer Dualismus, vor dem wir angeblich stehen,
prinzipiell, jetzt im Jahr 1935.
Ich versuche eine knappe resümierende Schlußbemerkung, den Versuch einer,
auch historischen, Einschätzung und Wertung dieses Vortrags nach fast 70
Jahren. Meine Perspektive ist nicht nur grundsätzlich anders als die des Autors,
sie betrachtet den Text als einen vergangenen. Es fällt zunächst auf, daß die
Kunst als ein eigenständiger Welt-Zugang begriffen und legitimiert wird. Sie, als
wahre Kunst, ist niemals Propaganda oder Explikation eines ihr Vorgängigen,
etwa eines politischen Meinens oder Wollens. Zwar erscheint die Kunst nur
dann als Moment der "Wahrheit", wenn sie Teil einer Macht - man könnte auch
sagen: eines Mythos - des Ursprungs ist. Dann jedoch tritt sie gleichwertig
neben Philosophie, Religion und Staatlichkeit. Freilich zeigt sich der abstrakte
Duktus vor allem darin, daß er mit Beispielen extrem geizt. Zwar gelingt ihm
eine eindrucksvolle Interpretation des van Gogh-Gemäldes, aber damit findet die
Konkretion auch schon ihr Ende. Weder die Sätzs zu Conrad Ferdinand Meyers
Gedicht "Der römische Brunnen" oder zu den Tragödien der Griechen oder zur
sakralen Architektur der Antike sind sonderlich spezifisch oder lassen
ahnen,warum gerade diese Exempla gewählt werden und nicht ganz andere.
Gleichwohl bleibt der Eindruck eines sehr dichten und konzeptuell präzisen
Textes, bei Unklarheiten im einzelnen, wie stets bei Martin Heidegger. Ein Text,
der die Kunst als autonome unter dem Gesetz der Wahrheit hypostasiert. In der
Kunst entbirgt sich eine ansonsten verborgene, eine dunkle und undurchsichtige
Welt. Das bedeutet für den Rezipienten: Die Kunst gewährt die intensive und
transitorische Erfahrung eines Anders-Seins, eines ekstatischen Anders-Seins.
Sie rückt damit an die Seite der Religion. Beides sind Erfahrungen der Wahrheit
im Moment ihres Hervortretens in die Un-Verborgenheit.
Heideggers Kunst-Denken visiert lediglich die Gipfel-Werke der Gattung an.
Alles andere ist "Kultur", ist Betriebsamkeit und historisches Dokument.
Dokumente wirken nicht mehr. Sie öffnen keine Lichtung des Seins. Aber kann
es nicht sein, daß aus einem tradierten Dokument unter bestimmten
geschichtlichen Umständen wieder ein Kunstwerk wird, das eine neue Epoche
begründet - oder begründen könnte, wenn die Menschen der neuen Zeit es
ernstnehmen als erneuerten Gründungs-Mythos? Ich spreche vom Werk
Friedrich Hölderlins und Martin Heideggers Auslegungen dieses Werkes.
3. Martin Heidegger: Hölderlin
Rezeption Hölderlins
Altertum - Mittelalter - Neuzeit versus Spenglers Konzeption
Grundzüge der Poetologie Hölderlins
Martin Heidegger: Hölderlin und das Wesen der Dichtung
Heideggers Theorie der Sprache im Zusammenhang mit seinen HölderlinInterpretationen
Zusammenfassung, Ausblick
Friedrich Hölderlin ist für Martin Heidegger nicht nur der bedeutendste
deutsche Lyriker, sondern darüber hinaus der Künder einer neuen Zeit, der
Mittler zwischen der Sphäre der Menschen und der der Götter, einer, dessen
Bedeutung die Gegenwärtigen noch kaum erahnen und dessen wahre geistige
Dimension erst die Zukunft zeichnen kann. Große Worte, pathetische Worte,
sakrale Worte.
Ich möchte mich dieser eigentümlichen Form und Daseinsweise einer Verehrung
langsam und gleichsam auf Umwegen nähern. Heidegger hat den Lyriker
Goethe mit Schweigen übergangen und auch die meisten der signifikanten
Romantiker. Das ist das gute Recht eines Philosophen, der kein
Literaturhistoriker ist und nicht zu sein braucht. Aber die quasi-religiöse
Verehrung Hölderlins bleibt dennoch eigenartig und herausragend. Sie hat am
wenigsten zu tun mit landsmannschaftlicher schwäbisch-alemannischer
Verbundenheit ("Heimat"). Warum ist sie so exzeptionell?
Ich gehe einige Umwege. Hölderlin war im 19. Jahrhundert durchaus kein
Unbekannter oder gänzlich Verkannter. Aber es erschienen nur wenige Texte zu
Lebzeiten (der Roman Hyperion war die einzige selbständige Publikation bis zu
seinem Tod; daneben erschienen einige Gedichte in Zeitschriften, Almanachen
und Anthologien); so daß sein Oeuvre, durch das gesamte 19. Jahrhundert
hindurch, nur höchst fragmentarisch vorlag. Sein Einfluß blieb naturgemäß
begrenzt. Immerhin hielt der Hyperion den Namen in einer gewissen scheuen
Verehrung einiger Weniger, darunter interessanterweise Nietzsche. Erst um 1900
wurde das Spätwerk erschlossen, also die gewaltigen Hymnen und Elegien, auf
denen heute der Großteil des Ruhmes beruht, und die Empedokles-Fragmente.
Es war der Kreis um Stefan George, der Hölderlin aus der Sphäre eines
liebenswerten und mit viel Unglück geschlagenen schwäbischen Lokaldichters
in die Höhen der Weltliteratur hob. Der George-Schüler Norbert von Hellingrath
konzipierte und begann die erste historisch-kritische Ausgabe, ab 1911, mit der
zum ersten Mal Hölderlins Werk in seiner Gesamtheit erkennbar wurde. Es
dauerte freilich noch viele Jahrzehnte, bis die säkulare Bedeutung Hölderlins
unbestreitbar geworden war.
Wenn sich also Martin Heidegger von 1934 an - mit einer Vorlesung über die
Hymnen "Germanien" und "Der Rhein" - mit Hölderlin intensiv zu
beschäftigen begann (und der letzte Vortrag stammt aus dem Jahr 1968), so fällt
das durchaus noch in die Jahre und Jahrzehnte einer Entdeckung der wahren
Bedeutung Hölderlins. Es waren gründende, also grundlegende Arbeiten; ganz
unabhängig davon, ob man ihnen im einzelnen oder im ganzen zustimmt oder
nicht. Es ist Hölderlin, der für Heidegger mehr als für jeden anderen Interpreten
die Verbindung herstellt zwischen dem antiken Griechenland und dem
Deutschland der Gegenwart, zwischen dem, was Heidegger als den Anfang des
abendländischen Denkens gesehen hat und der Situation der Not unserer Jahre
("Dichter in dürftiger Zeit"), die für ihn einen neuen Anfang, einen Ursprung aus
neuem Geiste zu fordern schien. Nur aus der Besinnung auf das Griechenland
der Vergangenheit, das gleichzeitig ein Ort des Ursprungs war, konnte ein Neues
entstehen, unter Rekurs auf Hölderlin als der zentralen Mittlergestalt zwischen
damals und heute, dem Göttlichen und dem Menschlichen, zwischen Heimat
und Kosmos, Endlichkeit und Transzendenz.
Wege, Umwege hin zu Heideggers Verständnis der Welt Hölderlins und seiner
Gedichte; einen zweiten möchte ich jetzt gehen. Heidegger war, wie
selbstverständlich, in seinem Vortrag "Der Ursprung des Kunstwerkes" von der
Trias "Altertum - Mittelalter - Neuzeit" ausgegangen. Dreimal, so Heidegger,
gelangte das Seiende in die Offenheit einer jeweils neuen Welt-Erfahrung: im
Griechentum, eben dem "Altertum", dann im "Mittelalter" als der Erfahrung des
Seienden als des von Gott Geschaffenen und schließlich in der "Neuzeit", der
Epoche, in der das Seiende zum "rechnerisch beherrschbaren und
durchschaubaren Gegenstand" objektiviert wurde. Das mag uns mehr oder
minder selbstverständlich erscheinen. Zumindest diese Trias als
geschichtsstrukturierende Erkenntnis. Was aber durchaus nicht
selbstverständlich ist oder sein sollte. Denn was meint sie eigentlich? Die
Weltgeschichte sei in drei Stadien verlaufen, wovon das erste Stadium die
griechische und römische Antike umfaßt habe, vielleicht noch zusammen mit
den ägyptischen und babylonischen Vorläufern; das zweite Stadium sei die Zeit
von etwa 800 n.Chr. bis etwa 1400 n.Chr. in Europa gewesen; und die Neuzeit
als drittes Stadium erstrecke sich von etwa 1400 n.Chr. bis in unsere Jahre,
geographisch zu lokalisieren in Europa und den von Europa eroberten und
besiedelten Regionen Nord- und Süd-Amerikas.
Daß dies eine höchst eigentümliche Gliederung ist, haben schon viele bemerkt
und kritisiert.
1. Was ist mit Indien und China, mit Rußland und Afrika, mit den präkolumbianischen Kulturen Amerikas? Sie existieren in diesem radikal
eurozentrischen Ansatz überhaupt nicht oder nur als zufälliger Raum einer
ökonomischen und/oder kulturellen Beeinflußumg oder als begriffs- und
namenlose Vorzeit ("prä-kolumbianisch").
2. Was war davor, was kommt danach? Die Trias suggeriert, daß Geschichte im
emphatischen Sinn lediglich in Europa stattfindet. Das ist Hegelianismus in
Reinkultur. Vielleicht läßt sich eine Geschichte der modernen Technik so
gliedern, aber diese Geschichte ist ja möglicherweise etwas Abgeleitetes, nichts
Gründendes.
3. Die Trias bezieht das Griechentum und Rom auf die Kultur des europäischen
Raumes der letzten 1200 Jahre im Sinne eines Kontinuums und einer direkten
Abhängigkeit, einer inneren Verwandtschaft. Dies ist das Fragwürdigste von
allem.
Heidegger muß an dieser Trias festhalten, weil nur so die unmittelbare, die
geradezu schicksalhafte Relation Griechentum der Antike - modernes
Europa/Deutschland gedanklich gerettet werden kann.
Welche andere Perspektive ist möglich - die freilich Heideggers Konstruktion
unterminieren würde? Die Kultur-Morphologie und Geschichts-Philosophie
Oswald Spenglers (1880 - 1936) etwa, die daher von Heidegger konsequent
ignoriert werden muß und ignoriert wird. In seinem berühmten Werk Der
Untergang des Abendlandes (1.Band 1918; 2.Band 1922) hat er ein GegenModell entworfen, das natürlich auch Heidegger bekannt war und das er
umgehen, totschweigen mußte, wollte er die direkte Abhängigkeit des
deutschen/europäischen Geistesraumes von der griechischen Antike nicht
preisgeben und damit seine Theorie ruinieren.
Dieses Gegen-Modell sieht etwa so aus: Spengler verabschiedet die Trias
Altertum - Mittelalter - Neuzeit und ersetzt sie durch die Idee oder die
Konstruktion voneinander unabhängiger Kulturkreise. Es wird seltsamerweise
nie klar und definitiv gesagt, wie viele es gibt; Spengler nennt mit
unterschiedlichen Gewichtungen die indische Kultur und die chinesische, die
ägyptische und die arabische, die mexikanische und die russische, die antike
(griechisch-lateinische) und die abendländische ("faustische"). Von zentraler
Relevanz sind allerdings nur die beiden letzteren. Jede der Kulturen ist, so
insistiert Spengler, autonom und unbeeinflußbar, eine jeweils neue Form
menschlicher Zivilisation, Welt-Erfahrung und Welt-Erfassung; aber jede
verläuft in gleicher Weise, in analogen Schritten und Formen, eine Art
kulturelles Naturprodukt mit Beginn, Blüte, Höhepunkt des Formenreichtums
und äußerer und innerer Macht, schließlich Verfall (was Spengler "Zivilisation"
nennt, eine leere, manierierte und brutale Spätzeit), dann Untergang und
Erlöschen aller Spuren oder formbildenden Kräfte.
Spengler spricht über diese Kulturen nicht mit gleicher Intensität und gleichen
Kenntnissen. Manche werden gleichsam nur gestreift, etwa die chinesische oder
die altägyptische, manche in isolierten Aspekten betrachtet. Wirklich interessiert
er sich lediglich für die griechisch-römische Antike und das Abendland, also
unsere Kultur, die nun, mit dem Weltkrieg 1914-1918, in das Stadium des
Niedergangs (was der Buchtitel einigermaßen mißverständlich „Untergang“
nennt) eingetreten ist und den gleichen Weg gehen wird wie das kaiserliche
Rom. Das war der Aspekt, der um 1919 naturgemäß die meisten Leser fasziniert
hat und am erbittertsten diskutiert worden ist.
In unserem Kontext ist anderes wichtiger. Spenglers Kultur-Morphologie, wie er
sein Verfahren selbst genannt hat, beruht entscheidend auf der These von der
Unabhängigkeit jeder einzelnen Kultur voneinander. Jede Kultur entwickelt sich
zwar naturgesetzlich in analoger und homogener Weise, aber jenseits aller
Kausalitäten. Will sagen: Tatsächliche Beeinflußungen einer Kultur durch eine
oder mehrere andere gibt es schlechterdings nicht. Der Verlauf jeder dieser
Kulturen gehorcht biologischen Gesetzen, wie bei jeder Pflanze, jedem Tier, wie
beim Menschen. Jede einzelne schafft ein jeweils neues Spiel der Formen,
schafft eine neue Kunst-Sprache, eine neue Zivilisation, ja auch neue NaturWissenschaften, eine neue Mathematik, eine neue Symbolik. Aber alles nach
den gleichen strengen Natur-Gesetzen von Anfang, Blütezeit, äußerem
Höhepunkt, Verfall und Tod/Ende. Wie bei allen Natur-Wesen.
Das kann man durchaus eine fatalistische Geschichts-Auffassung nennen. Wenn
es keine genuine Beeinflußung gibt, gibt es auch kein wirkliches Verständnis
einer anderen Kultur, bestenfalls eine akademische Annäherung. Wir
konstruieren uns eine griechische Antike, die nichts anderes ist als unser Bild
der Antike, etwa in der Renaissance oder in der deutschen Klassik, und die mit
der Realität des antiken Griechenland oder des alten Rom wenig bis nichts zu
tun hat. Zwischen den Kulturen kann es , so Spengler, nur Mißverständnisse
oder Gleichgültigkeit geben. Es gibt folglich keine wirkliche Rezeption, nur
einen chimärischen Glauben daran.
Nun hat diese Theorie, neben vielen Wahrheiten und durchaus realistischen
Einsichten in die Unübersteigbarkeit des eigenen Gartenzauns, den
erkenntnistheoretischen Nachteil, nicht widerspruchsfrei zu sein. Denn zum
Faszinierendsten an Spenglers Buch gehört die Beredsamkeit und intellektuelle
(auch die rhetorische) Kraft, mit der er die wahre antike Welt - im Unterschied
zu den Konstruktionen der Historiker und Literaten vor ihm - vor unseren
Augen ausbreitet. Wer so eloquent und begriffsscharf die Differenzen benennen
kann, kann sehr wohl von dieser Antike für unsere Epoche lernen, durch die
Andersartigkeit ihrer Existenz und ihrer Formensprache. Unangetastet bleibt
freilich in jedem Fall die Zentral-These, daß allen geschichtlichen Abläufen eine
elementare Unentrinnbarkeit inhärent ist. Wenn wir uns im 20. Jahrhundert also
in der zivilisatorischen Spät-Phase der abendländischen („faustischen“) Kultur
befinden, dann ist jede Hoffnung auf einen kommenden Gott, auf ein WiederErscheinen des Göttlichen, auf eine Überwindung der Epoche der Götterferne
vollständig sinnlos. Heideggers Religiosität der Erwartung fällt dann unter
Spenglers abwertenden Begriff von der „sekundären Religiosität“ innerhalb
einer jeden Spät-Zeit - einer Religiosität, die entsteht nach dem Durchgang
einer jeden Kultur durch eine Phase radikaler atheistischer Aufklärung, und die
dann nichts anderes mehr ist als privatistischer Synkretismus (schlicht gesagt:
Jeder nimmt sich an religiösen Lehren, Symbolen und Formen, was er und
woher er es bekommen kann. Spenglers Vorhersage; ernsthaft nicht zu
bestreiten.).
„An der Zeit“ sind in dieser Spät- und End-Phase nicht mehr Religion oder
Kunst oder Philosophie, sondern an der Zeit ist die Techniki all ihren
Ausdrucksformen. Die abendländische Zivilisation, in ihr finales Stadium
getreten, kann nicht in ihrer Richtung, gar prinzipiell verändert werden, sie kann
nur bejaht oder verneint werden. Wer sie aber verneint, begibt sich um jeden
Einfluß innerhalb ihres unerschütterlichen Ganges.
Martin Heidegger mag vieles davon nicht gänzlich anders gesehen haben.
Freilich bleibt ihm, wie konstruiert auch immer und gänzlich unähnlich
Spengler, der Ausweg aus der geschichtlichen Unerbittlichkeit in der Gestalt
einer neuen religiösen Epiphanie.
Hölderlin war der Dichter, der als erster aus diesem Bewußtsein, innerhalb
dieses Horizonts gesprochen hat. Seine Gegenwart war ihm die Zeit der
„Götternacht“, also der fundamentalen Abwesenheit des Göttlichen in der Welt.
Diese Götternacht ist ihm nicht, wie den Aufklärern des 18. Jahrhunderts, ein
Triumph des autonomen Menschen über Aberglauben und Pfaffenbetrug,
Fremdbestimmung und intellektuelle Dunkelheit, sondern ein Signum
kosmischer Verlorenheit. Einst weilten die Götter unter den Menschen - im
„seligen Griechenland“. Mit dem Untergang der antiken Welt sind auch die
Götter, ist die Erfahrung des Göttlichen - eines innerweltlich Göttlichen, im
Unterschied zum transzendenten Absolutheitsglauben des Christentums verschwunden. Christus ist in dieser Hölderlinschen Mythologie nicht der
inkarnierte Sohn Gottes, sondern eine Mittlergestalt, der mit dem Einsetzen des
Abendmahls, also mit Brot und Wein, die Erinnerung an die Sphäre des
Göttlichen, des Sakralen, gleichsam existierend zwischen Himmel und Erde,
wachhält. Gerade durch die Nächte der Götter-Abwesenheit hindurch. In diesen
Nächten, also in unserer Zeit, sind es lediglich einige Wenige, einige vereinzelte
und vereinsamte, Dichter, die die Erinnerung an das verschwundene oder
vergessene Göttliche erhalten. Der Dichter der Moderne ist, in dieser
Perspektive, nicht Teil einer Unterhaltungs- und Zerstreuungs-Manufaktur, kein
Propagandist oder Kritiker irdischer Verhältnisse, sondern er ist Moment einer
anders nicht möglichen Bewahrung des Sakralen. Dichtung im Verständnis
Hölderlins ist ein heilsgeschichtliches und existentielles Ereignis, das den
Advent des Neuen Gottes vorbereiten und die Menschen der hesperischen Welt
auf sein Kommen einstimmen soll. Nimmt man noch die Vita Hölderlins hinzu,
vor allem de geistigen Zusammenbruch um 1805 und das sich anschließende
lange Dämmern im Turm zu Tübingen, dann ist fast alles versammelt, was im
20. Jahrhundert zum Mythos Hölderlin werden sollte. Und Teile dieser
Mythisierung stammen von Martin Heidegger.
Ich möchte einen dieser Texte, in denen sich die Mythisierung Hölderlins
vollzogen hat, genauer betrachten, den Vortrag „Hölderlin und das Wesen der
Dichtung“ aus dem Jahr 1936. Es ist ein kurzer und sehr konzentrierter Text, der
die zentralen Aspekte des Heideggerschen Hölderlin-Bildes klar hervortreten
läßt.
Die einzelnen Interpretationen beziehen sich auf und gehen aus von insgesamt
fünf Sätzen aus dem lyrischen Werk Hölderlins. Es sind Sätze über das Dichten,
über das Wesen der Dichtung, teils direkt darauf abzielend, teils auf Umwegen
relevant für Heideggers Kunst-Denken. Hölderlin war für Martin Heidegger „der
Dichter des Dichters“ (S.34), also der Künstler, der wie kein anderer das Wesen
der Dichtung in das Zentrum seiner Dichtung gestellt hat.
Die erste Sentenz, aus einem Brief an die Mutter vom Januar 1799, spricht vom
Dichten als dem „unschuldigsten aller Geschäfte“ (S.34). Unschuldig ist es, weil
es ein Spiel ist, keine weltverändernde Tat, und weil sich dieses Spiel bewegt im
Bereich der Sprache, nicht innerhalb des Empirischen. Gleichzeitig aber ist die
Dichtung - zweites Zitat - „der Güter Gefährlichstes“ (S.35). Das ist sie und
muß sie sein, weil sie vom Höchsten handelt. Zwar ist die Sprache für die
meisten Menschen und für alle innerweltlichen Situationen das primäre Mittel
der Kommunikation. Aber darin erschöpft sich mitnichten ihre Bedeutung. Ja,
ihr Wesen ist damit nicht einmal tangiert. Eigentlich ist sie doch eine elementare
Form, „inmitten der Offenheit von Seiendem zu stehen“ (S.38). Wo Sprache ist,
ist Welt, und nur wo Welt ist, geschieht Geschichte. Sie ist folglich das
„Ereignis, das über die höchste Möglichkeit des Menschseins verfügt“ (S.38).
In dieser Höhe ist sie in besonderer Weise ausgesetzt und damit gefährdet;
gleichzeitig jedoch herausgehoben und exponiert als Partizipation am
Göttlichen.
Das dritte Hölderlin-Zitat entstammt dem titellosen Fragment „Versöhnender,
der du nimmergeglaubt ...“ aus dem Spätwerk. „Viel hat erfahren der Mensch, /
Der Himmlischen viele genannt, / Seit ein Gespräch wir sind / Und hören
können voneinander.“ (S.38)Seit ein Gespräch wir sind - so interpretiert
Heidegger diesen poetischen Satz - seitdem wir geschichtlich geworden sind,
haben wir die Erfahrung des Göttlichen und das Sich-Öffnen der Welt er-lebt.
Gleichzeitig hat uns die Sprache die Möglichkeit gegeben, mit den Göttern in
ein Gespräch zu treten. Und umgekehrt gibt die Sprache den Göttern die
Möglichkeit, uns anzusprechen, uns zum Teil ihrer Welt zu machen, mit uns in
ein Gespräch zu kommen. „Seit die Götter uns in das Gespräch bringen, seit der
Zeit ist es die Zeit, seitdem ist der Grund unseres Daseins ein Gespräch.“ (S.40)
Man spürt, daß Heidegger von Anfang an das Wesen der Dichtung, den Dichter
selbst und das dichterische Wort auf etwas ihnen Nahes, aber doch NichtIdentisches bezieht: nämlich auf die Götter, auf das Göttliche, die Epiphanie
einer Transzendenz, die nicht ausgeht von und beschlossen ist in einem Dogma,
sondern die einzig in einer gesteigerten, in einer existentiellen Situation
erfahrbar und nur im dichterischen Wort darstellbar ist.
Das führt zum vierten Zitat. „[...] was bleibet aber, stiften die Dichter“ - das ist
der Schluß des Gedichtes „Andenken“ (S.41). Das Bleibende ist kein an sich
Bleibendes, dh. Gegründetes, sondern bedarf des dichterischen Wortes, um in
der Zeit dauern und gegen die Verwüstungen der Geschichte zum Stehen, zum
Innehalten gebracht zu werden. So stiftet der Dichter das Bleibende, er stiftet
das Sein (S.41). Er stiftet es nie aus der Menge des Seienden, sondern er stiftet
es aus einem Akt des Ursprungs. „Das Sagen des Dichters ist Stiftung nicht nur
im Sinne der freien Schenkung, sondern zugleich im Sinne der festen Gründung
des menschlichen Daseins auf seinem Grund.“ (S.41f) Wir erinnern uns, daß
Hölderlin die Dichtung in die Ambivalenz von „Höchstem“ und
„Gefährdetstem“ gestellt hatte. Darauf rekurriert das fünfte und letzte Zitat, aus
dem ebenfalls titellosen Gedicht „In lieblicher Bläue blühet ...“. Es lautet: „Voll
Verdienst, doch dichterisch wohnet / Der Mensch auf dieser Erde.“ (S.42)
Eine bemerkenswerte Entgegensetzung: voll Verdienst - doch dichterisch. Was
bedeutet das? Heidegger interpretiert die Sentenz etwa so: Die irdischen Dinge
und Relationen des Menschen sind die eine Welt, innerhalb derer er sich das
Seine „verdient“. Aber die eigentliche Ordnung der Welt geschieht an anderer
Stätte und vollzieht sich nach anderen Gesetzen, nach einer „dichterischen“
Logik. Diese dichterische Logik steht deshalb - nach Heideggers Definition
des Dichterischen - herausgehoben, weil sie partizipiert an der Wahrheit des
Göttlichen. Das „Dichterische“ kann daher nur verstanden werden als Geschenk,
als ein ohne Verdienst Existentes. Und weil der Dichter der Statthalter dieses
Exzeptionellen ist, ist er ein Herausgehobener. Gleichzeitig ist er aber auch ein
Ausgesetzter, denn die Sphäre des Göttlichen ist eine des Erhabenen und eine
des Schrecklichen. Wer von Apoll geschlagen ist, steht über den Anderen. Wer
aber über den Anderen steht, ist gefährdeter als die anderen. Heidegger zitiert
aus dem Empedokles-Fragment: „es muß / Bei Zeiten weg, durch wen der Geist
geredet“.
In der Dichtung gründet somit im emphatischen Sinne die Welt des Seienden
und öffnet sich für die Erfahrung und die Entbergung des Göttlichen.
Martin Heideggers Kunst-Denken steht in der Tradition des deutschen
Idealismus, auch der Schopenhauers (wiewohl er gerade für diesen kein
freundliches Wort findet in seinen philosophiehistorischen Vorlesungen und
Vorträgen) und Nietzsches, für die die Kunst eine spezifische Form der
Entfaltung der Wahrheit, ein Durchschauen des empirischen Trugs und ein
Mittel zur Steigerung des Lebens ist. Gleichzeitig radikalisiert Heidegger das
immer schon diesen Theorien latent inhärente Theologische beträchtlich:
Hölderlin ist ihm der Statthalter der Idee von der Abwesenheit Gottes in
dürftiger Zeit, unserer Gegenwart.
Kunst begründet jetzt nicht bloß die geschichtliche Existenz des Menschen sie erscheint als Dialog des Menschen mit den Göttern. Der Künstler bewahrt
das Feuer des Göttlichen und benennt die Götter im Prozeß der Artikulation des
künstlerischen Wortes. Gleichzeitig ist der Künstler ( - ein Künstler wie
Hölderlin, so muß der Leser ständig hinzudenken)die Stimme seines Volkes,
auserwählt und ausgesetzt. Der, durch den der Geist redet, lebt prekärer,
gefährdeter als die Anderen. Damit knüpft Heidegger an die antike Vorstellung
vom Künstler als dem dem Wahnsinn Nahen an. Als säkularer Priester von Apoll
und Dionysos ist er der Mittler zwischen Göttern und Menschen, aber er ist kein
Halbgott oder Übermensch, sondern eine tragische Figur der Epoche des
Übergangs. Hölderlin spricht in seiner Zeit von zwei anderen Epochen: von der
Zeit der jetzt entschwundenen Götter und von der Zeit des kommenden Gottes.
Mithin ist unsere Zeit, die zwischen der Anwesenheit der Götter in der
griechischen Antike und ihrer Wiederkunft in undenklicher Zukunft, mithin ist
unsere Gegenwart eine „dürftige Zeit“.
Dieses vielverwendete Wort stammt ursprünglich aus Höldrerlins 1801 – 1803
entstandener Elegie „Brot und Wein“. Die „dürftige Zeit“ ist die Gegenwart der
Götternacht. „Dürftig“ bedeutet hier zweierlei: Einmal meint es „schwach,
armselig, kümmerlich“; und es bedeutet „bedürftig, etwas nicht besitzend, von
Mangel gekennzeichnet“. Die Gegenwart ist also eine Epoche des Mangels wegen der Abwesenheit des Göttlichen und wegen der menschlichen
Unfähigkeit oder Unwilligkeit, den Boden zu bereiten für die Ankunft des
Gottes. Einzig der Dichter lebt in der Erwartung und spricht von ihr. So bahnt er
der Wahrheit einen Weg, in die Lichtung der Unverborgenheit. Darin liegt das
Wesen der Dichtung und liegt die Aufgabe des Dichters. Keiner hat, so sagt
Heidegger, dies so klar empfunden und in immer neuen Anläufen beschrieben
wie Friedrich Hölderlin. Darum ist er für Heidegger der paradigmatische Dichter
des Abendlandes, nicht nur der paradigmatische Dichter der Deutschen,
zwischen vergangenem Griechentum und der Ankunft des neuen Gottes. Nur er,
der Dichter in dürftiger Zeit, kann davon angemessen sprechen.
Martin Heideggers Vorlesungen über Hölderlin nehmen diesen Gedanken auf,
variieren ihn und exemplifizieren ihn an einzelnen Hymnen, an „Germanien“,
„Der Rhein“ und „Der Ister“ (i.e.: die Donau). Dabei werden „Germanien“ und
„Der Rhein“ interpretiert in der Vorlesung des Wintersemesters 1934/35, also
direkt nach der Niederlegung des Rektorats der Universität Freiburg. Es scheint
mir zu zeitaufwendig, den gesamten Gedankengang dieser HölderlinAuslegungen hier nachzeichnen zu wollen. Zudem finden sich in allen
Gedanken zu Hölderlin stets wiederkehrende Vorstellungen und Zitate. In der
zweiten Vorlesung zu Hölderlin, Hölderlins Hymne 'Der Ister', aus dem
Sommersemester 1942, findet sich zudem eine ausführliche Auseinandersetzung
mit der Tragödie Antigone des Sophokles, ihrem Menschenbild und der Idee der
antiken Polis. Das alles würde zu weit abführen vom Thema Heidegger und
Hölderlin.
Ich möchte und werde mich beschränken auf zwei Themen: 1. Martin
Heideggers Sprachtheorie im Kontext seiner Hölderlin-Deutung; und 2. den
geheimen und vielfach durchaus offensichtlichen Bezug dieser HölderlinExegese zur gesellschaftlich-politischen Situation der Zeit. Zeit meint hier: die
Epoche der Götternacht, die Epoche der Technik und einer universalen
Mobilmachung im Zeichen des Willens zur Macht. Im engeren Sinn meint Zeit
natürlich die Zeit des Nationalsozialismus und die des Krieges.
Die These Heideggers zur Sprache wäre, kurz gefaßt, so zu lesen: Die
dichterische Sprache ist zu definieren als die höchstmögliche Art und Weise der
dem Menschen möglichen Gründung der Welt.
Dichtung ist zu sich selbst gekommene Sprache. In der und durch die Dichtung
gründet das Sein. Heidegger sieht seine Sprach-Philosophie von Hölderlin vorgedacht. Heidegger sieht in Hölderlin unsere Aporien und Utopien schon
angelegt und dichterisch antizipiert. Wenn die Sprache den Menschen
ungeschützt in die Wirksamkeit des Seins stellt, dann ist sie in der Tat „der Güter
Gefährlichstes“, denn dann setzt sie ihn, den Menschen, der Gefahr des
Seinsverlustes, der Seinsvergessenheit aus. Schwierige Begriffe, deren
Bedeutung ersichtlich im Religiösen wurzelt. Indem die Sprache das Haus des
Seins und Mittlerin zwischen Göttlichem und Irdischem ist, rührt sie an die
höchste dem Menschen mögliche Erfahrung.
Gefährlich ist die Sprache, weil sie in sich die Gefahr der Verflachung und des
Verfalls trägt. Denn die Alltagssprache, „das Gerede“, also die pragmatische
Kommunikation - dies alles verfällt bei Heidegger dem Verdikt (gewisse
Parallelen zu Adorno - siehe seine Verdammung der „Kulturindustrie“ - sind
unleugbar). Alltagssprache - das ist Gerede, das ist Un-Eigentlichkeit, das ist
die Sphäre des „Man“ (Sein und Zeit; §27). Alltagssprache als
Kommunikationsform, so ist der Interpret zusammenfassend geneigt zu sagen,
bedient sich eines Mediums, das zu Höchstem geschaffen wurde und nun, eben
durch das Gerede, entweiht wird. Das soll natürlich nicht bedeuten, daß der
Mensch in der Sprache nur den Kontakt zum Göttlichen suchen müsse oder
lediglich die existentiellen Grenzsituationen wie Geburt und Tod, Liebe und Haß
thematisieren dürfe. Wohl aber soll es bedeuten, daß die Sprache dem Menschen
zum Begreifen und Aussprechen der „wesentlichen Verhältnisse“ (II. Abteilung,
Band 39, S.74) gegeben ist. Nur so wird sie selbst wesentlich und drückt das
Wesentliche aus. Daß der einzelne Mensch und die Gemeinschaft der Menschen
nicht immer „wesentlich“ sein können, dürfte Heidegger nicht bestreiten.
Bemerkenswert in diesem Kontext ist, daß sprachliche Eigentlichkeit und die
Erfahrung des Kunstwerkes zwei ontologische Zustände benennen, deren
kategoriale Nähe das explizite Verständnis von Kunst als dem herausgehobenen
Medium des Anderen und eines Anderswo nochmals bestätigt.
Ein knapper Exkurs sei erlaubt, vor den abschließenden Überlegungen zu
Heideggers Sprach-Philosophie oder Sprach-Theologie.
Auf die vielen Sprach-Spiele in Heideggers Sprache bin ich schon kurz
eingegangen. Heidegger liebte Etymologien, oft von sehr eigenwilliger Art. Was
liegt dem zugrunde? Man kann, verknappt gesagt, Sprache auf zwei sehr
unterschiedliche Weisen definieren. Erstens als pragmatisches System der
Verständigung, wobei jedes sinntragende Wort durch gesellschaftliche
Übereinkunft seine Funktion und seine Semantik erhält. Der Gebrauch eines
Wortes wird so durch Übereinkunft festgelegt und ist prinzipiell kontingent.
Wenn die Sprachgemeinschaft es wollte, könnte sie den „Tisch“ auch
„mnftgruich“ nennen oder „wrrrloudd“ oder noch ganz anders. Sprache ist in
dieser positivistischen Konzeption ein System von Lauten, über deren
Verwendung die Gesamtheit der Sprechenden in freier Bestimmung entscheidet,
wert-neutral und a-historisch.
Zweitens existiert eine quasi entgegengesetzte Definition. Sprache entsteht
danach in einem Akt des Ursprungs, ist Ausdruck einer irreduziblen Erfahrung
des Anfangs, der Gründung, einer Ur-Nennung. Anfang meint hier nichts
Primitives, ganz im Gegenteil. Im Anfang liegt der Zauber des Ursprungs, des
Ursprünglichen: liegt die Nähe zum Sein. In dieser Nähe entsteht die Sprache.
Indem sie davon spricht, im religiösen Sprechen, ist sie ganz bei sich.
Im Fluß der Zeit wird sie notwendigerweise banal, alltäglich, gleichsam
ausgewaschen. Nur in der Erinnerung an die Sphäre des Ursprungs gewinnt sie
ihre Wesenheit als Zeuge des Seins zurück. Oder als „Haus des Seins“, wie
Heidegger sie an andrer Stelle nennt. Darum sind Etymologien für Heidegger
so zentral. In ihnen ent-birgt sich die Wahrheit des Anfangs, die Erfahrung der
Fülle und die Schönheit und Strenge des Ursprungs. Die Entwicklung der
Geschichte bedeutet: Weg vom Ursprung, hin auf eine leere Welt des
entfesselten Seienden. Nur wer weiß, was das Wort im Anfang bedeutet hat,
ahnt, wie weit wir vom Ursprung abgekommen sind und uns in der
Seinsvergessenheit verloren haben.
Heideggers Sprach-Metaphysik des Ursprungs hat, so will mir scheinen,
durchaus magische Züge. Im Anfang war der Logos, das Wort, so beginnt das
Johannes-Evangelium. Das Wort ist der Ursprung, und nur so erfahrbar. Das
Magische und der Logos fallen bei Heidegger zusammen. Das Ziel der
Erkenntnis liegt im Ursprung des Seins. Dahin gelangen wir einzig in dem und
durch das Wort.
Ich komme zurück zu Heideggers Sprach-Philosophie, wie sie sich in seiner
Hölderlin-Vorlesung des Wintersemesters 1934/35 manifestiert. Sie gipfelt in der
Überzeugung vom Primat der Sprache: Nicht der Mensch „hat“ die Sprache,
sondern sie „hat“ den Menschen. Die Sprache ist die vorgängige Weise, in der
und durch die der Mensch an der Wahrheit des Seins teilhat. Woraus, neben
anderem, folgt, daß er sich ihr würdig zu erweisen hat. Nicht er gebietet über die
Sprache - sie ist es, die ihm das Sein, die Lichtung der Welt, eröffnet, ihm das
Wesen der Existenz offenbart.
Heidegger faßt das so zusammen: „Die Dichtung stiftet das Seyn. Dichtung ist
die Ursprache eines Volkes. In dieser Sprache geschieht die Ausgesetztheit in
das sich damit öffnende Seiende.“ (S.74) Die Sprache ist also das zentrale
Medium der Welterfahrung auch in dem Sinne, daß die Dichtung als die
gesteigerte Sprache des Ursprungs den Menschen/das Volk seiner/ihrer
Geschichte anheimgibt und sie gleichzeitig im emphatischen Sinn bewußtmacht.
„Die Sprache ist der Grund der Möglichkeit von Geschichte, und nicht etwa ist
die Sprache erst eine im Verlauf der geschichtlichen Kulturschaffung gemachte
Erfindung.“ (S.74f)
Heideggers Widerspruch gilt der pragmatisch-evolutionären Sprach-Auffassung,
die nach der Entstehung von Sprach-Laut, Wort und Satz im Verlauf der
menschlichen Entwicklung fragt und naturgemäß nicht umhin kommt, eine Art
Werden der Sprache von primitiven Artikulationen, Exclamationen und simplen
Additionen hin zur Komplexität der verschiedenen Sprachen in den diversen
Zivilisationen zu konstatieren. Seine Theorie der Sprache steht den empirischen
Tatsachen gleichgültig gegenüber. Sie legt den Akzent nicht auf den Anfang der
Sprache(n), sondern fragt nach dem Ursprung. Das meint: Sprache ist erst dann
die Bedingung oder der Grund der Möglichkeit von Geschichte, wenn in ihr sich
bereits ein Bewußtsein von Geschichte manifestiert oder sedimentiert hat.
Diesen Gedanken verfolgt Heidegger noch über viele weitere Seiten. Natürlich
kann auch er nicht gänzlich ignorieren, daß es irgendwann einmal einen Anfang
der Sprache(n) im Verlauf der Evolution gegeben haben muß. Er nennt das den
„ursprünglichen Ursprung der Sprache“ (S.75). Dieser Moment bewußter
Artikulation trennt den Menschen vom Tier. Die unbelebte Natur und das
Tierreich existieren in einer nicht nur quantitativ, sondern in einer wesenhaft
(also: qualitativ) anderen Welt als der Mensch.
Es ist die auf dem Bewußtsein ruhende Sprache, die uns zur Kenntnis und
Darstellung der Welt führt, sie überhaupt erst möglich macht. Nur in der
Sprache, dem Haus des Seins, bildet der Mensch seine Welt, stellt sich in die
Geschichte als bewußter Auseinandersetzung mit dem Sein und erlebt die
Gefahr der Erfahrung des Nichts. Da die Dichtung die höchste Form der Sprache
ist, stellt sich die Problematik dort in der denkbar schärfsten Weise, zeigt sich in
ihr die Zuspitzung am elementarsten. Dieses „Stehen-vor-der-Entscheidung“ als
zentraler Erfahrung der Kunst faßt Heidegger am Ende seines Gedankengangs
so zusammen: Die Dichtung Hölderlins zwingt uns zur Teilhabe an der „Frage,
wer wir sind, ob wir ein Gespräch sind oder nur noch ein Gerede; ob wir uns auf
die ursprüngliche Geschichtlichkeit unseres geschichtlichen Daseins einlassen
oder uns darumherumdrücken; ob wir von unserem Seyn als solchem ein
wahrhaftes Wissen haben oder ob wir nur in Redensarten herumtaumeln; ob wir
wahrhaft wissen, was wir nicht wissen und nicht wissen können, um durch den
echten Anprall an diesen Schranken selbst stark zu werden und Widerstand
gegen Widerstand zu setzen. Das ist die Entscheidung, durch die immer wieder
das Mitsagen jedes Gedichtes der Hölderlinschen Dichtung, das Eingehen in ihr
Gespräch, hindurch muß.“ (Band 39, S.77)
Ich komme zum letzten Abschnitt meiner Darlegung des Verhältnisses
Heideggers zur Dichtung Hölderlins. Was können wir der Tatsache entnehmen,
daß Heidegger sich erst 1934 zum ersten Mal in einer akademischen Vorlesung
und 1936 in einem Vortrag mit dem dichterischen Oeuvre Hölderlins beschäftigt
hat? Zudem ist es seine erste öffentliche Auseinandersetzung mit Fragen der
Kunst, eine Auseinandersetzung, die von da an bis in die siebziger Jahre geht. Es
scheint mir plausibel, dieses Kunst-Denken, die Integration der Kunst in das
philosophische Denken, im Zusammenhang zu sehen mit dem gründlich
gescheiterten Rektorat der Universität Freiburg von Mai 1933 bis April 1934.
Wieso und woran gescheitert - darüber werde ich im Kontext Paul Celan
ausführlicher sprechen. Hier und jetzt mag es genügen zu sagen, daß Heideggers
Pläne für eine tiefgreifende Umgestaltung der deutschen Universität zwar auf
dem Papier radikal und revolutionär war, aber durchaus nicht im Sinn der
Nationalsozialisten. Die Einsicht in die Unmöglichkeit einer - von ihm aus
gesehen - notwendigen Umgestaltung der deutschen Universität hat gewiß auch
den Blick für eine kategorial andere Form menschlicher intellektueller Tätigkeit
geschärft, in der und durch die der Mensch ebenfalls der Alltäglichkeit
entkommt und in gesteigertem Dasein zu sich selbst findet. Heidegger ist der
Philosoph der heroischen Zuspitzung, und in der Begegnung mit Hölderlin, und
dann später mit Georg Trakl, Gottfried Benn und Paul Celan, erfährt er diese
Zuspitzung, diese Existenz der Exzeptionalität, als geschichtlich bedingt und
daher als notwendig. Von nun an ist für ihn die Kunst in gleicher Weise wie das
geschichtliche Sein ein fundamentaler Moment der Selbstbehauptung des sich
verwirklichenden Menschen. Dichtung als konzentrierteste Form der Sprache ist
für Heidegger von nun an eine Art der Praxis innerhalb der geschichtlichen
Suche nach Wahrheit, die gleichberechtigt tritt neben das gründende
gesellschaftlich-politische Handeln.
Eine solche Definition vermag heute niemanden mehr zu irritieren. Aber 1934
war der darin liegende zwar bloß implizite aber besonders stringente
Widerspruch zur herrschenden nationalsozialistischen Kunst-Doktrin (und auch
zu der in der UdSSR herrschenden marxistisch-leninistisch-stalinistischen)
nicht zu übersehen. Weder inhaltlich (Blut-und-Boden-Kult, Ariertum, AntiSemitismus, Führeradoration) noch formal (anti-avantgardistisch in jeder
Variante) konnte sich die herrschende Kunst-Ideologie auf Heidegger beziehen.
Aus dessen Ästhetik war keine Legitimation des Zeitgenössisch-Trivialen zu
beziehen. Stattdessen war unüberlesbar seine Insistenz auf der Autonomie der
Kunst, des einzelnen Kunst-Werkes als eines nur der Wahrheit verpflichteten
Resultats herausgehobener menschlicher Anstrengung. Indem Kunst, im Sinne
Heideggers, am Ursprung partizipiert, wenn sie tatsächlich Kunst ist und nicht
ein beliebiges Dokument von Kultur-Verwaltung oder -Ausübung (Adorno
würde gesagt haben: der Kulturindustrie), entzieht sie sich dem Einspruch, der
Gewalt der jeweils Herrschenden. Wahrheit und Ursprung siedeln jenseits der
Alltäglichkeit, des Geredes, des Man, und das bedeutet auch: jenseits der Politik
des Hier und Jetzt, die immer eine Tat der Bewußt-Losigkeit und der
Gegenwarts-Verhaftetheit ist - und eben kein Hervortreten der Wahrheit in die
Lichtung des Seins.
Damit ist nicht gesagt, daß Heideggers Ästhetik direkt in Opposition tritt zum
Denken und Handeln der nationalsozialistischen Funktionäre. Wohl aber entfernt
sie sich vollständig von der Idee einer aktionistischen Kunst, einer, die
heterogenen Gesetzen, gar „der Partei“, verpflichtet wäre. Hölderlin erscheint
als der Dichter unserer „dürftigen Zeit“, weil er wie kein anderer die Erfahrung
der „Götternacht“ gemacht und sie zum Fundament seiner Dichtung
ideologisiert hat. Die Moderne seit der Romantik erscheint bei Hölderlin und
nun auch bei Heidegger nicht als Epoche der Erfüllung, in der Gegenwart
geleitet von Führer und Partei, sondern als Nacht der Abwesenheit des
Göttlichen. Man kann auch sagen: als Säkulum der Ausgesetztheit und der
Seinsvergessenheit, als Höhepunkt des abendländischen Nihilismus. Es ist die
griechische Antike (und nicht die arisch-germanische Welt der Vorzeit), die
Vorbild ist für die unausdenkbare Zukunft, für den Anbruch eines Neuen nach
der Götternacht. Nicht aus der Herkunftsvergessenheit der Gegenwart entbirgt
sich ein Neues, Gründendes, sondern nur in einer Anstrengung hin auf ein
geschichtlich Unerhörtes. Nur eine sich ihrer historischen Aufgabe bewußte
Kunst vermag mitzuarbeiten an dem In-Erscheinung-Treten des Neuen. Sie ist
dann Teil der Wahrheit, der Unverborgenheit einer anderen Zeit. Darum ist
Hölderlin für Heidegger der unerreichte Mittler zwischen Vergangenheit und
Zukunft. Nicht er hat sich vor unserem geschmäcklerischen Urteil zu bewähren,
sondern wir haben zu bestehen vor seiner geschichtlichen und künstlerischen
Größe.
4.
Martin Heidegger: Georg Trakl
Das dichterische Werk Friedrich Hölderlins steht zentral, steht „gründend“ für
den Philosophen Martin Heidegger. Mit anderen Lyrikern hat er sich nicht
annähernd so intensiv beschäftigt, ganz zu schweigen von den Gattungen
erzählende Prosa oder Drama. Das mußte er als Philosoph auch durchaus nicht.
Gleichwohl ist auffällig, mit welcher - man ist geneigt zu sagen: - Monomanie
er sich mit dem Oeuvre Hölderlins beschäftigt hat.
Einige wenige Künstler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind es dennoch,
die seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben: Stefan George, Georg Trakl,
Gottfried Benn und Paul Celan. Wobei man sagen muß, daß es zu Celan keinen
veröffentlichten Text gibt, lediglich Erinnerungen und Meinungen Dritter und
einige direkte und indirekte Äußerungen Celans. Ich werde darauf noch zu
sprechen kommen.
Was Gottfried Benn anbetrifft, so gibt es in den Vorlesungen und Vorträgen
Heideggers nur wenige verstreute und unsystematische Erwähnungen.
Berichtenswert ist jedoch, daß Benn in einem Brief an Friedrich Wilhelm Oelze
vom 22. August 1950 die Nachricht weitergibt, daß Heidegger ihn, also Benn, in
Freiburg zustimmend vorgetragen und interpretiert habe: „Aus Freiburg bekam
ich die Nachricht, dass Heidegger in seinem ersten Kolleg, das er wieder vor
Studenten hielt, 4 Gedichte von mir vorgelesen hat, z.B. 'Dennoch die Schwerter
halten', 'In Memoriam Höhe 317', 'Gedichte', 'Ach das Erhabene' und ein 5., das
der Schreiber nicht mehr weiß. 'Das von ihm Gemeinte glaubte er in diesen
Gedichten festgehalten zu sehen', schreibt der Briefverfasser an mich.“ (Band
II/2, 1980; S.59) Der Vortrag fand in Wahrheit in Todtnauberg statt, und zwar
am 8. Juli 1950, unter dem Titel „Wirklichkeit, Illusion und Möglichkeit der
Universität“. Daß Benn sich seinerseits meist abweisend und ablehnend zu
Heidegger verhalten und geäußert hat, sei nur am Rande erwähnt; es steht
sozusagen auf einem anderen Blatt.
Es bleiben von den Lyrikern Stefan George und Georg Trakl. Im Mittelpunkt der
knappen Auseinandersetzung mit Stefan George szeht dessen Gedicht „Das
Wort“, mit der signifikanten Schlußzeile „Kein Ding sei, wo das Wort gebricht“.
Aufschlußreicher ist die Beschäftigung mit Georg Trakl (1887-1914). Sie findet
sich in dem Band Unterwegs zur Sprache, 1959. Es ist der Aufsatz/Vortrag „Die
Sprache“
(1950), hier S.9-33, und „Die Sprache im Gedicht. Eine Erörterung von Georg
Trakls Gedicht“ (1953), hier S.35-82.
Georg Trakl, geboren 1887, stammte aus Salzburg und erlernte den
Apothekerberuf. Berufen fühlte er sich jedoch einzig zum Dichter, sah sich
selbst als poete maudit in der Tradition Rimbauds und Verlaines. Zu Lebzeiten
veröffentlichte er einige wenige Gedichte in Zeitschriften und Anthologien;
lediglich eine selbständige Publikation erschien, Gedichte, 1913. Nach
Kriegsausbruch wurde Trakl an die galizische Ostfront versetzt, als Apotheker,
und nahm sich dort, unfähig, das erlebte Grauen zu verarbeiten, am 3. November
1914 mit einer Überdosis Kokain das Leben. Die erste Gesamtausgabe seiner
Gedichte erschien 1919, und spätestens von da an verbreitet sich sein Ruhm als
einer der bedeutendsten Lyriker der expressionistischen Generation.
Martin Heideggers zwei Essays zu Trakl stammen aus den Jahren 1950 und
1953. Sie gehören in eine Zeit, in der Trakl durchaus noch nicht jene
Aufmerksamkeit gefunden hat, die ihm dann in den folgenden Jahrzehnten zuteil
geworden ist, bis heute. Trakls Lyrik ist für Heidegger ein Beispiel für das
hermetische Sprechen am Beginn des 20. Jahrhunderts. „Hermetisch“ meint
hier: in zuweilen provokanter Weise abweichend vom alltäglich-pragmatischen
Sprachgebrauch - ohne daß es einen Schlüssel gäbe, mit dem diese
Abweichungen transponiert werden könnten in das „gewöhnliche“ AlltagsReden. Während bei Hölderlin im Hintergrund der Gedichte stets Motive
religiös-messianischer Art hervorblitzen, was ihn für Heidegger so faszinierend
macht, fehlen metaphysische Spekulationen bei Trakl gänzlich. Hinter den
Fragmenten des Empirischen sammelt sich kein Heils-Pathos, das auf die
Ankunft eines noch verborgenen Gottes hoffen ließe. Die lyrische Welt Trakls ist
heil-los, erfüllt von einer enigmatischen Schönheit und einer anrührenden
Trauer. Trakls Texte transportieren keine begrifflich faßbare Ideologie,
verdoppeln keine vorgängige Welt-Anschauung, sondern sind eine ästhetische
Welt in sich und für sich. Sie sind für Heidegger „rein Gesprochenes“. Dies
definiert sich so: „Rein Gesprochenes ist jenes, worin die Vollendung des
Sprechens, die dem Gesprochenen eignet, ihrerseits eine anfangende ist. Rein
Gesprochenes ist das Gedicht.“ (S.16) „Rein“ ist, wenn ich es einigermaßen
verstehe, eine Kategorie des Ursprungs, die die spezifische Wahrheit des
Traklschen Gedichts hervortreten läßt und sie beglaubigt.
Heidegger wendet sich dann dem Gedicht „Ein Winterabend“ zu, das Trakl im
Jahr 1913 geschrieben hat und das posthum 1915 veröffentlicht wurde, innerhalb
des Bandes Sebastian im Traum.
Ein Winterabend
Wenn der Schnee ans Fenster fällt,
Lang die Abendglocke läutet,
Vielen ist der Tisch bereitet
Und das Haus ist wohlbestellt.
Mancher auf der Wanderschaft
Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden.
Golden blüht der Baum der Gnaden
Aus der Erde kühlem Saft.
Wanderer tritt still herein;
Schmerz versteinerte die Schwelle.
Da erglänzt in reiner Helle
Auf dem Tische Brot und Wein.
Heideggers Interpretation geht Zeile für Zeile vor, man könnte beinahe sagen:
Substantiv für Substantiv. Er versucht, einen kohärenten Kontext aus Trakls Text
entstehen zu lassen - ein zweifelhaftes Vorgehen, denn eine der Charakteristika
Trakls liegt in der bildlichen Dis-Kontinuität, mit der die einzelnen Gedichte in
immer neuen Anläufen ihre zerbrochene Welt dem Leser vor Augen stellen.
Heidegger dagegen zieht nicht ohne Gewaltsamkeiten das Ferne in die Nähe und
macht aus dem Fragmentarischen eine gefügte Sinn-Struktur.
Ein Beispiel vom Anfang. Heidegger konstatiert in der ersten Strophe eine
Evokation von Himmel und Erde (Haus/Schnee und die Abendglocke als
Signum des Göttlichen), von Sterblichen und Unsterblichen. Das ist durchaus
plausibel, aber ob die Abendglocke tatsächlich „das Göttliche“ symbolisiert das sei dahingestellt. Heidegger fährt fort: „Die Dinge lassen das Geviert der
Vier bei sich verweilen. Dieses versammelnde Verweilenlassen ist das Dingen
der Dinge [!]. Wir nennen das im Dingen der Dinge verweilte einige Geviert von
Himmel und Erde, Sterblichen und Göttlichen: die Welt. Im Namen sind die
genannten Dinge in ihr Dingen gerufen. Dingend ent-falten sie Welt, in der die
Dinge weilen und so je die weiligen sind. Die Dinge tragen, indem sie dingen,
Welt aus. Unsere alte Sprache nennt das Austragen: bern, bären; daher die
Wörter 'gebären' und 'Gebärde'. Dingend sind die Dinge Dinge. Dingend
gebärden sie Welt.“ (S.22)
Ich habe diese eigenartige Sentenz, die paradigmatisch für viele in diesem Essay
ist, ausgewählt, weil sie signifikant steht für Heideggers Verfahren. Er geht aus
von den Dingen der ersten Strophe, von ihrer unmittelbaren Erfahrbarkeit.
Sofort und umstandslos jedoch verwandelt er sie zur Basis einer magischen Welt
und einer magischen Sprache. Aus Heideggers Worten lerne ich nichts über
Trakls Gedicht, aber viel über sein Vermögen, anhand einiger weniger
selektierter Begriffe und eines daraus gesponnenen assoziativen Geflechts Trakl
in Heidegger zu verwandeln. Daß Dinge dingend Dinge sind, ist entweder eine
logische Platitüde oder eine schrecklich prätentiöse Leerformel, und ob sie die
Welt gebären, indem sie gebärden, oder umgekehrt, wage ich nicht zu
entscheiden. Heideggers Interpretation ist keine Deutung, sondern eine rigorose
Festlegung auf Be-Deutung. Es ist zwar legitim, Gedichte mit verfremdendem
Blick zu beschreiben, aber es scheint mir doch bedenklich, sie derartig
gewaltsam in das eigene philosophische System zu zwingen. Bei Hölderlin war
der singuläre Fall zu konstatieren, daß dessen Welt-Sicht mit der Heideggers
aufs Erstaunlichste übereinstimmte, ja vieles direkt antizipierte, etwa die
Vorstellung von der hesperischen Götternacht und der modernen
Seinsvergessenheit.
Von einer solchen apriorischen Übereinstimmung kann bei Trakl nicht die Rede
sein. Trakls Bildlichkeit hat nichts zu tun mit einem denkerischen Wille zur
Synthese, sondern ist die einer elementar destruierten Sphäre. Keiner sich „im
Geviert“ oder wie sonst auch immer ordnenden Welt. Heidegger gelingen
gelegentlich durchaus überraschende assoziative Verknüpfungen, aber er
ignoriert oder übersieht das zentrale Konstruktions-Prinzip Trakls - eine zu
Sprache gewordene Trauer über den irreversiblen Verlust eines sinnerfüllten
Kosmos, der jetzt nur noch als kontingenter und rudimentärer darstellbar, und
das bedeutet auch: poetisierbar ist.
Ich komme zur zweiten Strophe. Das Gedicht spricht von Wanderern, die „auf
dunklen Pfaden“ ans Haus-Tor kommen. Das ist, weil nicht eindeutig,
unterschiedlich interpretierbar. Mir scheint es zu verweisen auf dunkle SeelenAbgründe, auf Schuld und existentielle Verzweiflung. Heidegger ignoriert
freilich alle diese naheliegenden Deutungen und zielt auf das Ganz Große, den
Tod. Von dem nun allerdings weit und breit nicht die Rede ist. „Diese
Sterblichen vermögen das Sterben als die Wanderschaft zum Tode. Im Tod
versammelt sich die höchste Verborgenheit des Seins. Der Tod hat jedes Sterben
schon überholt.“ (S.23) Die Wandernden so zu spezifizieren entbehrt jeder
dichterischen Grundlage; gänzlich bodenlos wird es, wenn Heidegger sie als
Vor-Läufer derer bestimmt, die selbstzufrieden zu Hause an den Tischen sitzen
und glauben, „schon in das Wohnen gelangt“ (S.23) zu sein. Heideggers
zwanghafte Konstellation eines Göttlichen da, wo es dergleichen bei Trakl
schlechterdings nicht gibt - diese wilde philosophische Konstruktion macht
aus Trakls enigmatischer Metaphorik einen gedanklichen Vor-Wurf, den nur der
Philosoph nachzeichnen, in seiner Begrifflichkeit überholen und schließlich
hinter sich lassen kann. Womit sich die Auslegung vollständig vom Gedicht
getrennt hat und im luft- und sprachleeren Raum schwebt.
Im Schluß der zweiten Strophe wird nochmals Heideggers Verfahren potenziert,
den lyrischen Texten ihre Eigen-Artigkeit zu nehmen und sie zu reduzieren auf
ein Material zur Entfaltung der eigenen Philosophie. „Golden blüht der Baum
der Gnaden / Aus der Erde kühlem Saft.“ Heidegger weigert sich, den
Rätselcharakter dieser Zeilen zu akzeptieren; stattdessen diesen sie ihm als
Sprungbrett für die sehr eigenen dichterischen Sprach-Bewegungen. “Der Baum
wurzelt gediegen in der Erde. So gedeiht er in das Blühen, das sich dem Segen
des Himmels öffnet. Das Ragen des Baumes ist gerufen. Es durchmißt zumal
den Rausch des Erblühens und die Nüchternheit der nährenden Säfte.
Verhaltenes Wachstum der Erde und die Spende des Himmels gehören
zueinander. Das Gedicht nennt den Baum der Gnaden. Sein gediegenes Blühen
birgt die unverdient zufallende Frucht: das rettend Heilige, das den Sterblichen
hold ist.“ (S.23)
Es ist evident, daß Heideggers Sprechen das Gedicht Trakls in eine kohärente
Etüde gedanklich-sprachlicher Heidegger-Imitation verwandelt - um das Wort
„unfreiwillige Selbst-Parodie“ zu vermeiden. HeideggersText läuft parallel zu
Trakls Dichtung, aber nicht als seine Erläuterung, sondern als eine
selbstgefällige Extrapolation. Heidegger sagt, was das Gedicht seiner
Überzeugung nach sagt oder sagen sollte, aber auszusprechen sich weigert.
Anders formuliert: Heidegger legt den Trakl-Text herrisch auf jene Bedeutungen
fest, die er haben könnte, stammte er von Heidegger.
Die dritte Strophe gibt Heidegger die Gelegenheit, ausgehend von den Begriffen
„Schmerz“ und „Schwelle“, das „Sprechen der Sprache“ zu beschwören. Diese
Strophe, einigermaßen unvoreingenommen gelesen, ruft herauf eine Heimat
jenseits der vertrauten, eine unbeschreibliche Erfüllung jenseits der irdischen
Schmerzen. Sie evoziert einen dichterischen Raum, in dem Innerweltliches, Brot
und Wein, den Wanderer erwartet als Symbol einer Epiphanie ohne Dogma oder
religiöse Transzendenz. Heidegger dagegen spinnt nun einen
Assoziationsteppich von nicht mehr nachvollziehbarer Dunkelheit. „Die Sprache
spricht als das Geläut der Stille. Die Stille stillt, indem sie Welt und Dinge in ihr
Wesen austrägt. Das Austragen von Welt und Ding in der Weise des Stillens ist
das Ereignis des Unter-Schiedes. Die Sprache, das Geläut der Stille, ist, indem
sich der Unter-Schied ereignet. Die Sprache west als der sich ereignende UnterSchied für Welt und Dinge.“ (S.30)
Es mag ja sein, daß dies etwas bedeutet, aber ich vermag nicht zu sehen, in
welcher Weise diese Sätze etwas zum Verständnis des Traklschen Gedichts
beitragen. Die zentralen Aussagen Heideggers haben mit diesem Poem nur
insofern zu tun, als sie sich an jedes gelungene Gedicht anschließen lassen.
„Der Mensch spricht nur, indem er der Sprache entspricht. / Die Sprache spricht.
/ Ihr Sprechen spricht für uns im Gesprochenen.“ (S.33) Das hat mit Trakl alles
und nichts zu tun und schwebt folglich über Allem in nebelhafter Nichtigkeit.
Der zweite sich mit Trakl beschäftigende Aufsatz Martin Heideggers stammt aus
dem Jahr 1953 und lautet „Die Sprache im Gedicht. Eine Erörterung von Georg
Trakls Gedicht“. Bemerkenswert ist zunächst der Singular „Georg Trakls
Gedicht“, denn natürlich gibt es Dutzende. Er spricht emphatisch von allen,
wenn er die Einzahl „Gedicht“ verwendet. Er legitimiert den Singular wie folgt:
„Jeder große Dichter dichtet nur aus einem einzigen Gedicht. Die Größe bemißt
sich daraus, inwieweit er diesem Einzigen so anvertraut wird, daß er es vermag,
sein dichtendes Sagen rein darin zu halten.“ (Unterwegs zur Sprache, S.37)
Gedicht wird hier in zweifacher Bedeutung verwendet, ohne daß dies weiter
erklärt würde. Einmal in der gängigen Bedeutung, als einzelner lyrischer Text,
als Einzelrede in Versen. Aber „Gedicht“ ist eigentlich für ihn eine platonische
Idee, die dann in der Vielzahl der konkreten Gedichte angemessen realisiert wird
oder nicht. Wenn der Dichter sein „Sagen“ „rein“ darin verwirklichen kann,
dann rückt das Gedicht an den richtigen Ort. Ort meint: das „Höchste und
Äußerste“ der dichterischen Möglichkeiten. Dann ist das Gedicht Statthalter des
dichterischen Sprechens an sich.
Man mag dem zustimmen, wenngleich es schwerfällt, bei Lyrikern mit durchaus
unterschiedlichen „Tönen“ (etwa Goethe oder Benn) von einem platonischen
Ur-Gedicht auszugehen. Selbst Lyriker mit recht einheitlichen „Tönen“ (sagen
wir: Stefan George oder Paul Celan) dichten, ernsthaft und ohne Systemzwang
betrachtet, aus einer Vielheit der Stimmen und Perspektiven. Auf solche
poetologischen Differenzen will Heidegger sich ersichtlich nicht einlassen. Zwar
trifft auf Trakl der Gedanke von dem grundlegenden einen Gedicht insofern zu,
als sein lyrisches Verfahren tatsächlich zu bestimmen wäre als
kaleidoskopartiger Wechsel weniger gleichbleibender Bilder und „Töne“, aber
gerade diese literaturwissenschaftliche Erkenntnis wird von Heidegger, wohl als
gedanklich zu schlicht, ja subaltern, ignoriert. So konkret meint er es gerade
nicht.
Der weitere Verlauf des Aufsatzes verfährt wie bei allen anderen. Er geht aus
von einer Zeile: „Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden.“ (S.39) Er verbindet
sie assoziativ mit anderen Sätzen, die nur mit größerer oder geringerer
Gewaltsamkeit in seine Nähe gerückt werden können. Ein Beispiel: „ […] da
im grünen Geäst / Die Drossel ein Fremdes in den Untergang rief“ (S.42). Die
beiden Sätze werden dergestalt zueinander gerückt, daß nun „die Seele“ in den
Untergang gerufen wird - schließlich nennt das erste Gedicht die Seele „ein
Fremdes auf Erden“. Ein Fremdes = die Seele, die Seele = ein Fremdes, und
beides sozusagen beliebig kombinierbar. So läßt sich ein wild wucherndes
Beziehungsgeflecht herstellen, das mit Trakls lyrischem Verfahren nur mehr
noch sehr gelegentlich in sinnvoller Beziehung steht.
Ich möchte, bevor ich zum Ende dieses Heidegger-Aufsatzes komme, der etwas
versöhnlicher stimmt, als Charakteristicum seiner Auseinandersetzung mit Trakl
eine durchgängige Unwilligkeit bestimmen, sich auf konkrete und
nachvollziehbare literarische Phänomene einzulassen. Stattdessen dichtet er den
Trakl-Wortlaut in seinem Sinn weiter, so lange, bis seine, Heideggers,
Philosophie, aus der Tiefe an der Oberfläche angekommen ist. Der Gedicht-Text
erscheint als Tiefenstruktur, die erst durch den Philosophen in die
Unverborgenheit des denkerischen Begriffs emporgehoben wird. Da dies auch
mehr als nur tendenziell bei Theodor W. Adorno so ist, wird man dieses
Phänomen zu dem rechnen dürfen, was beiden Denkern gemeinsam war. Sie
suchten beide eine Bestätigung ihrer Philosophie in Werken der Kunst, vor allem
denen der Literatur, ohne Rücksicht auf Philologie und intellektuelle
Plausibilität. (Es ist dies ja eigentlich ihr gutes Recht, als Philosophen. Welcher
Philosoph ist je anders verfahren? Aber es ist unser gutes Recht, auf diese
Schwächen hinzuweisen.)
Ich sagte, daß mich der Schluß des Aufsatzes etwas versöhnlicher stimmt. Ich
meine das Ende von Kapitel II und das gesamte Kapitel III (S.73-82).
Heidegger rekurriert hier auf das Eigentümliche der Sprache Trakls. Er erkennt,
daß Trakls lyrischer Weg, den die Sprache in hermetischen Chiffren antizipiert,
wahrlich vorausdeutet, einer in den Untergang ist. Ein Untergang, der aber keine
Unwiderruflichkeit der Zerstörung markiert, sondern das Ineinander von Anfang
und Ende im Zeichen eines Aufganges. „Die Sprache des Gedichtes, das seinen
Ort in der Abgeschiedenheit hat, entspricht der Heimkehr des ungeborenen
Menschengeschlechts in den ruhigeren Anbeginn seines stilleren Wesens.“
(S.74) Das meint eine Utopie der Verwandlung, die als Sehnsucht hinter der
lyrischen Sprache liegt und ihr die eigentümlich melancholische - und eben
nicht verzweifelte - Schönheit und Grazie verleiht.
Heideggers Fazit zielt auf zweierlei: Erstens: Trakls Dichtung ist in keiner
nachvollziehbaren Weise christlich - wie die meisten Interpreten damals
behauptet haben; heute wird das keiner mehr tun; ein kleines Verdienst
Heideggers. Trakls Trauer ist durch kein dogmatisches Heilsversprechen zu
erlösen. Zweitens: Es erscheint die zerbrochene Welt Trakls als Chiffre eines
Verborgenen, das unter der Dimension des Zukünftigen als Einheit und Einklang
zu lesen wäre. In Heideggers Worten: „Eine Erörterung seines Gedichtes zeigt
uns Georg Trakl als den Dichter des noch verborgenen Abend-Landes.“ (S.81)
Heidegger sieht in Trakls Lyrik den dichterischen Ausdruck einer Erfahrung der
Geschichte als eines Geschickes, dh. einer Katastrophe, der die Rettung in
undenkbarer Zukunft inhärent ist. Der Untergang wird so zum Zeichen eines
unbeschreiblichen Übergangs. Der Weg des lyrischen Ich entbirgt sich als Pfad
hin zum Untergang, dem die Hoffnung eines Aufganges eingeschrieben ist.
5.
Martin Heidegger: Paul Celan
Die Beziehung Martin Heideggers zu Paul Celan und die Paul Celans zu Martin
Heidegger entzieht sich (noch?) einer präzisen Darstellung, da die Zahl der
veröffentlichten schriftlichen Dokumente sehr klein ist. Möglicherweise liegt
noch einiges (vieles?) in den jeweiligen Privatarchiven, aber darüber können
Außenstehende nur spekulieren. Insofern ist mein Vorhaben am Rand des
Unmöglichen. Ich möchte dennoch wagen, diese Beziehung zumindest in den
Grundzügen zu skizzieren, weil beide voneinander beeindruckt, vielleicht
fasziniert, waren und Paul Celan der einzige lebende Lyriker gewesen ist, dessen
Bekanntschaft Heidegger ausdrücklich gesucht hat. Das Verhältnis beider war,
dessen ungeachtet, überschattet von Heideggers Verhalten 1933/34 und sein
Schweigen nach 1945 über seine persönliche Involviertheit in die
nationalsozialistische Politik. Paul Celan war Jude, seine Eltern wurden 1941/42
in der von deutschen Truppen besetzten Bukowina ermordet.
Ich möchte so vorgehen, daß ich als erstes die Relevanz des Jahres 1933 für
Martin Heidegger darlege, anhand der sogenannten Rektoratsrede vom 27. Mai
1933. Zweitens werde ich Paul Celans Lebensgang knapp nachzeichnen.
Drittens werde ich einige der Anekdoten wiedergeben, die von dieser
eigenartigen Beziehung Heidegger – Celan in Umlauf sind, mehr oder minder
verbürgt. Und viertens und letztens werde ich jene Gedichte Celans vorstellen,
die sich mit Heidegger direkt oder indirekt befassen, einschließlich des
Eintrages Celans in das Hüttenbuch Heideggers in Todtnauberg.
Ich beginne mit einer konzisen Interpretation von Martin Heideggers zu Beginn
seines Rektorats an der Universität Fraiburg im Sommersemester 1933
gehaltenen Rede. Sie trägt einen bemerkenswerten, weil durchaus
mißverständlichenTitel: „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“
(Neuauflage unter diesem Titel Frankfurt am Main 1983). Sie markiert den
Anfang des Rektoratsjahres 1933/34, an dessen Ende der freiwillige Rücktritt
Heideggers vom Amt des Rektors im April 1934 steht.
Mißverständlich ist die Überschrift, weil „Selbstbehauptung“ hier nicht die
Selbstbehauptung der Hochschule gegen Staat und differente
Mehrheitsmeinungen oder Konformismen meint, sondern ihr Standhalten in der
Geschichte gegen die andrängenden Kräfte der Verfalls und der Nivellierung.
Das deutsche Volk in seiner Gesamtheit, nicht nur die akademische Welt, ist
aufgerufen, zu kämpfen für die Durchsetzung und für die Bewahrung des
historisch Notwendigen. Die deutsche Universität nimmt in diesem heroischen
Ringen freilich eine herausgehobene Position ein, die näher zu bestimmen
Heidegger schwer fällt, zumal er lavieren zu müssen glaubt zwischen seinen
programmatischen Vorstellungen und den ideologischen Vorgaben der Parteiund Staats-Führung in Berlin.
Unerläßlich scheint es mir, auf einige Aspekte der Vorgeschichte des
Heideggerschen Rektorats hinzuweisen - ein Amt, das ihm keineswegs nur
wegen seines fachlich unstrittigen Rufs zugefallen war, sondern auch gegründet
war in der Überzeugung der neuen Machthaber und ihrer Sympathisanten
innerhalb und außerhalb der Universität, in Heidegger eines verläßlichen
Bundesgenossen bei der Durchsetzung ihrer akademischen Ziele zu besitzen.
Obwohl Martin Heidegger bis 1927, dem Erscheinungsjahr von Sein und Zeit,
außer der Dissertation und der Habilitationsschrift nur einen Aufsatz
veröffentlicht hatte, war er in philosophisch interessierten Kreisen schon seit der
Mitte der 20er Jahre eine Art Geheimtip, wie man heute sagen würde. Er war
keiner, der in philosophischer Geheimsprache Lehrbuchwissen wiederholte, war
nicht einer der zahllosen Verfasser einer „Professorenphilosophie von
Philosophieprofessoren“ (Arthur Schopenhauer, den Heidegger allerdings aus
eher undurchsichtigen Gründen nicht leiden konnte), sondern ein Selbstdenker,
mit dem die Philosophie der Jahrhunderte wieder lebendig geworden zu sein
schien. Er war vielen „der heimliche König im Reich des Denkens“ (ein Wort
der jahrzehntelangen Geliebten Hannah Arendt). Heideggers Vorlesungen und
Seminare waren Auseinandersetzungen mit den Werken der Vergangenheit, nicht
öde Repetitionen bekannter Lehrbuchsätze. Es waren quasi existentielle DenkErfahrungen, keine Anhäufung toter „Bildung“. Er vermochte es, die Studenten
zu einer ihr Leben betreffenden Lektüre der Philosophien der Vergangenheit
anzuregen, ohne die alten Texte zu mumifizieren oder billig zu aktualisieren.
Was nicht ausschließt, daß seinem eigenen Denken durchaus etwas HerrischMonomanisches anhaftete; mit ihm zu „diskutieren“ war unmöglich. Das haben
viele Kritiker schon zu seinen Lebzeiten erkannt und ausgesprochen. Auch an
den Interpretationen Hölderlins und Trakls ist dies zu bemerken.
Schon aus diesen Gründen wäre eine Wahl zum Rektor der Universität Freiburg
nichts Ungewöhnliches gewesen. Aber sie geschah mit ausdrücklicher
Unterstützung der NSDAP. Heidegger war, kurz nach der Wahl zum Rektor und
vor dem Amtsantritt, Mitglied der NSDAP geworden, symbolträchtig am 1. Mai
1933, dem Tag der deutschen Arbeit. Die Vorgeschichte dieser Wahl und die
realen Kontakte Heideggers zu NSDAP-Kreisen im Badischen liegen immer
noch ziemlich im Dunkeln. Unbestreitbar ist, daß Heideggers Beziehungen zu
badischen Nazi-Größen innerhalb und außerhalb der Universität so eng waren,
daß sie seine Wahl zum Rektor offensiv förderten. Das offizielle Kampfblatt der
Nationalsozialisten Oberbadens Der Alemanne schrieb am 3. Mai 1933 - also
vierzehn Tage nach der Wahl und drei Wochen vor der Antrittsrede - : „Wir
wissen, daß Martin Heidegger in seinem hohen Verantwortungsbewußtsein, in
seiner Sorge um das Schicksal und die Zukunft des deutschen Menschen mitten
im Herzen unserer herrlichen Bewegung steht; wir wissen auch, daß er aus
seiner deutschen Gesinnung niemals ein Hehl machte, und daß er seit Jahren die
Partei Adolf Hitlers in ihrem schweren Ringen um Sein und Macht [sic] aufs
wirksamste unterstützte, daß er stets bereit war, für Deutschlands heilige Sache
Opfer zu bringen, und daß ein Nationalsozialist niemals vergebens bei ihm
anpochte ...“ (zitiert nach Farias, S.137).
Ob dem tatsächlich so war, steht natürlich dahin. Es war im Interesse der
NSDAP, den berühmten Mann so eng wie möglich an sich zu binden, Wahrheit
hin oder her. Opportunisten und Mitläufer gab es genug; überzeugte
Nationalsozialisten im Universitätsmilieu waren eher selten. Sicher und
nachweisbar ist, daß Heidegger als Rektor zunächst eine weitgehend mit dem
schon von den Nationalsozialisten beherrschten zuständigen Ministerium in
Karlsruhe abgestimmte Personal- und Programm-Politik betrieb. Auch nach der
Niederlegung des Rektorats am 23. April 1934 bekannte er sich in vielen
privaten Gesprächen zu den Zielen der sogenannten Bewegung. Zum Ende des
Rektorats gleich mehr. Zunächst ein Blick auf den Inhalt der Rektoratsrede.
Eine ihrer Spezifika ist die Dominanz großer und schwerer Begriffe wie
„Kampf“, „Schicksal“, „Auftrag“ oder „Wesen der Wissenschaft“. Heroische
Termini, die unerklärt und weitestgehend unentfaltet bleiben, aber einen SubText bilden, der sich nur dem erschließt, der schon davor die zentralen
Heideggerschen Gedanken-Gänge nachvollzogen hat.
Ich zitiere den ersten Abschnitt zur Gänze. „Die Übernahme des Rektorats ist
die Verpflichtung zur geistigen Führung dieser hohen Schule. Die Gefolgschaft
der Lehrer und Schüler erwacht und erstarkt allein aus der wahrhaften und
gemeinsamen Verwurzelung im Wesen der deutschen Universität. Dieses Wesen
aber kommt erst zu Klarheit, Rang und Macht, wenn zuvörderst und jederzeit
die Führer selbst Geführte sind - geführt von der Unerbittlichkeit jenes
geistigen Auftrags, der das Schicksal des deutschen Volkes in das Gepräge seiner
Geschichte zwingt.“ (S.9)
Der Gedanke hat seinen Beginn und seinen Grund im Begriff des „geistigen
Auftrags“, der unbestimmt aber unbezweifelbar existiert, mit der Universität
oder ohne sie, in jedem Fall: in Unerbittlichkeit. Dieser nebulöse Auftrag ist der
eigentliche Führer der Neuen Zeit. Und eben nicht der Führer in Berlin. (Eine
wiederholt anklingende Idee.) Der „Auftrag“ erinnert an Rilkes Erste Duineser
Elegie („Das alles war Auftrag.“). Aber weder ist klar, ob Heidegger hier auf
Rilke anspielt, noch, ob er glaubt, daß das Auditorium dies als Zitat verstehen
kann oder soll. Wie auch immer: Es ist der ominöse Auftrag, der die Universität
der Gegenwart ausrichtet auf noch näher zu bestimmende Ziele. Die Führer der
Neuen Zeit - und eben nicht nur der Führer, was man in gläubigen ParteiKreisen mit Mißfallen aufgenommen haben dürfte - müssen sich dem
numinosen Auftrag unterwerfen, der die gesamte Existenz und Geschichte des
deutschen Volkes auf geheimnisvolle Weise umgreift und finalisiert. Indem die
Führer des Volkes sich dem Auftrag unterwerfen, sich anschicken sein Wollen zu
erfüllen, arbeiten sie an der „Klarheit“, am „Rang“ und an der „Macht“ der
deutschen Universität. Dann und nur dann sind sie legitimiert zur geistigen
Führung der Hohen Schule. Was bedeutet, daß es eine Führung (oder mehrere
Führungen) gibt, die nicht dem Rektor als dem geistigen Führer der Universität
obliegt. Dadurch, daß die geistigen Führer dem Auftrag folgen, sind sie im
Wesen der deutschen Universität verwurzelt. Dieses Wesen der Universität ist
auf elementare Weise verknüpft mit der Gesamtheit des deutschen Schicksals.
Die drei Eingangssätze visieren zwei Gedanken-Komplexe an, die im Fortgang
der Rede deutlicher hervortreten, ohne daß sie eine zweifelsfreie Konkretion
erführen. Erstens: der „geistige Auftrag“ und zweitens: das deutsche Schicksal
in engster Verbindung mit dem Wesen der deutschen Universität. Beides, so
statuiert Heidegger, gehört untrennbar zusammen, und beides hat zu tun mit
einem fundamental anderen Wesen des deutsche Denkens, der deutschen
Philosophie, anders als das Denken der anderen abendländischen Völker.
„Der Wille zum Wesen der deutschen Universität ist der Wille zur Wissenschaft
als Wille zum geschichtlichen geistigen Auftrag des deutschen Volkes als eines
in seinem Staat sich selbst wissenden Volkes.“ (S.10) Der geistige Auftrag, der
an das deutsche Volk und an die deutsche Universität ergeht, ist folglich der zur
Wissenschaft. Das meint freilich etwas anderes als in der gängigen Bedeutung
des Wortes „Wissenschaft“. Es bedeutet nicht Wissenschaft als Resultat einer
uferlosen Funktionalisierung des Geistes im Dienste der Technik und der Macht.
Es ist auch nicht eine Wissenschaft als Dienerin des Willens zur Macht in der
planetarischen Ausprägung der der sich manifestierenden universalen
Mobilmachung. Und es ist auch nicht die Wissenschaft als eine Ideologie des
Politischen. Es ist vielmehr: „das fragende Standhalten inmitten des sich ständig
verbergenden Seienden im Ganzen. Dieses handelnde Ausharren weiß dabei um
seine Unkraft vor dem Schicksal.“ (S.12)
Heideggers Konzeption von Wissenschaft und Universität führt die Hohe Schule
weg von der sie seit Jahrhunderten dominierenden Funktionalisierung des
Geistes, nicht bloß in den sogenannten Naturwissenschaften, sondern ganz
allgemein in der Bestimmung des uns zugänglichen Seienden. Der Auftrag leitet
die Universität und die in ihr Lehrenden und Lernenden hin zum Anfang des
Denkens, also des Philosophierens, hin zur „Macht des Anfangs“ (S.11) bei den
Griechen. Das fragende Standhalten verbindet Griechenland und das griechische
Denken mit dem zeitgenössischen Auftrag, der hier und jetzt an das deutsche
Denken ergeht.
Griechenland und nur Griechenland stand unter der Macht und der Kraft und
der Herrlichkeit des wesenhaften Denkens. In Griechenland, und nirgendwo
sonst, lagen der Anfang des Denkens und der Anfang der Wissenschaft. In
diesem Anfang war insofern schon das Größte beschlossen, weil er Ursprung
war, nicht der zufällige Beginn einer rein quantitativen Steigerung und
Steigerungsideologie, und auch nicht der Beginn des Willens zur Macht. Die
nach-griechische Entwicklung von Gesellschaft und Wissenschaft durch das
Christentum, in der sogenannten Neuzeit, hin zu den mathematisierendquantifizierenden Natur-Wissenschaften erscheint so als Entfernung von der
Tiefe des Ursprungs. Es ist Teil einer umfassenden Seins- und WesensVergessenheit im Namen der leeren technizistischen Weltbeherrschung. Jetzt,
also zu Beginn der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, ist Deutschland
aufgerufen - hat den „Auftrag“ erhalten - diese Unheilsgeschichte zu wenden.
Denn als einziges Volk der Gegenwart versteht das deutsche das Wesen des
Wissens. (Heidegger hat an vielen Stellen seines umfangreichen Werkes die
Überzeugung geäußert, man könne nur in zwei Sprachen philosophieren, auf altgriechisch und auf deutsch.)
Diese Vorstellung ist eine von der Auserwähltheit des deutschen Volkes als eines
der denkenden Denker. Womit natürlich auch eine immense Verantwortung auf
dem deutschen Denken lastet, nämlich die Wahrheit in der Sprache zu entbergen, das Sein zu denken gegen den modernen Nihilismus. Daran knüpft sich
eine weitere geschichtsphilosophische Spekulation an. Sie ist so zu umreißen:
Deutschland ist das Land der Philosophie und der Wahrheit des Denkens in der
und durch die Sprache. Und es ist „das Land der Mitte“ (Einführung in die
Metapfysik, 1953, zitiert nach Farias, S.294). Das bedeutet: Es ist das Land, das
sich im Interesse des Wissens und im Interesse vom Wesen der Wahrheit
paradigmatisch den beiden Welt-Mächten USA und Rußland/Sowjetunion
entgegenstellen muß. Beide außereuropäischen Mächte, (also USA und UdSSR)
verkörpern elementar falsche Verformungen und Funktionalisierungen des
Wissens. Die Vereinigten Staaten repräsentieren die „trostlose Raserei der
entfesselten Technik“; Rußland, die UdSSR, „die bodenlose Organisation des
Normalmenschen“. Somit sind sie für Heidegger „metaphysisch gesehen:
dasselbe“ (a.a.O., S.294).
Eine tiefsitzende Aversion nicht nur gegen die UdSSR, sondern in gleicher
Weise gegen die USA durchzieht das gesamte Werk Heideggers. Es ist eine
Ablehnung aus kulturkonservativem Geist. Abgelehnt wird die zeitgenössische
Technik, die demokratische Gleichheitsidee, die kapitalistische Wirtschaftslogik
und der Individualismus als der brüchigen Basis einer fragmentierten
Gesellschaft. Deutschland fällt der „Auftrag“ zu, die Mitte des Denkens in der
Wissenschaft zu bewahren als Eingedenken des Ursprungs. In diese Richtung
muß sich bewegen, wer den Auftrag annimmt, die Universität zu revolutionieren
im Sinne des Willens zum Wesen der Wissenschaft. Die Rolle der Universität im
neuen Staat besteht darin, das Denken auch institutionell zu zentrieren als
Erkenntnis „der innersten Notwendigkeit des Daseins“ (S.13), wider alle
Funktionalität durch Technik, Ideologie und Individualismus oder
Kollektivismus. Es geht Heidegger darum, die Heterogenität der im Verlauf der
Jahrhunderte ausdifferenzierten Fächer, Wissenschaften und Diskurse zu
überwinden.
Auf welches Ende hin? Auf eine monistische Wissenschaft als Wissen vom Sein.
„Die ufer- und ziellose Zerstreuung in vereinzelte Fächer und Ecken [!]“ (S.13),
also die moderne Wissenschaft schlechthin und der moderne
Wissenschaftsbetrieb als Spiegel und Movens der modernen Lebenswelt, muß
wieder angebunden werden an die „weltbildenden Mächte des menschlichgeschichtlichen Daseins“ (S.13).
Diese „Mächte“ werden in fünf Gruppen unterteilt: „Natur, Geschichte, Sprache;
Volk, Sitte, Staat; Dichten, Denken, Glauben; Krankheit, Wahnsinn, Tod; Recht,
Wirtschaft, Technik“ (S.13f). Die Pointe dieser Konstruktion liegt darin, daß die
Wissenschaft(en) ihre Würde nicht in sich selbst, also in einer sachimmanenten
Logik, besitzen, sondern abhängig gemacht werden von übergeordneten
zeitlosen Ideen des Lebensausdrucks, der unmittelbaren Seinserfahrung.
Heideggers Strukturierung des Wissens gehorcht keiner autonomen Logik, ganz
im Gegenteil ist sie Dienerin einer ihr vorgängigen Vorstellung von Ursprung
und Wesenhaftigkeit. Freilich gilt hier wie für andere Reden und öffentliche
Stellungnahmen des Jahres 1933, daß Heidegger jedwede Konkretion dieser
Umwandlung der Universität als Institution verweigert. Der deutlich präzisere
Plan zur Einrichtung einer Dozentenschule vom August 1934 zielt auf eine der
Universität übergeordnete Institution und stammt zudem aus der Zeit nach dem
Rektorat.
Was Heidegger im weiteren Verlauf der Rektoratsrede zur Neuen Universität
vorträgt, bleibt blaß und schlecht abstrakt. Sie, die Neue Universität, soll in drei
unterschiedlichen „Bindungen“ an das Volk stehen. Die erste Bindung nennt er
den „Arbeitsdienst“ - mit anderen Worten: eine konkrete Bindung an die
werktätige Volksgemeinschaft. Die Studenten sollen teilhaben an dem „Mühen,
Trachten und Können“ aller Teile des Volkes, gerade auch der nichtakademischen. Heidegger hat tatsächlich während seines Rektorats versucht,
einen obligatorischen Arbeitsdienst einzuführen, in radikaler Abkehr von der
Idee der akademischen Freiheit, hin zu einer „Kampfgemeinschaft der Lehrer
und Schüler“ (S.18).
Womit wir bei der zweiten „Bindung“ wären, dem „Wehrdienst“. „Er verlangt
die in Wissen und Können gesicherte und durch Zucht gestraffte Bereitschaft
zum Einsatz bis ins Letzte.“ (S.15) Hier wie stets bleibt offen, was das
bedeuten soll. Es ist Teil der den gesamten Text konstituierenden Metaphorik
einer ununterbrochenen Bewährung, des Kampfes, der unerbittlichen Härte und
einer physischen Bedürfnislosigkeit. Spartanische Ideale, im Einklang mit der
Zeit - aber, von unserer post-heroischen Position betrachtet, wozu? Eine
Antwort auf diese Frage bleibt aus. Heidegger verachtet ersichtlich alle
Bemühungen zur Erleichterung des Lebens als Konsequenz der Zivilisation, der
Technisierung und der Individualisierung. Daher das Vokabular der Schwere und
der Zucht, von Auftrag und Selbstvergessenheit. Daß Heidegger da in
Übereinstimmung mit seiner Epoche ist, einer Zeit der unendlichen
Radikalisierung, Steigerung und einer Sehnsucht nach ultimativer Zuspitzung,
sei en passant vermerkt.
Die dritte „Bindung“ ist der „Wissensdienst“ - die geistige Revolutionierung
der Universität und des Volkes. Es geht dabei nicht um anwendbare Kenntnisse
oder eine funktionale Berufsausbildung, sondern um eine alles umfassende und
alles umwälzende, also revolutionäre, geistige Mobilmachung. „Aber dieses
Wissen ist uns nicht die beruhigte Kenntnisnahme von Wesenheiten und Werten
an sich, sondern die schärfste Gefährdung des Daseins inmitten der Übermacht
des Seienden.“ (S.16) Der Wissensarbeiter nimmt, als herausgehobener Teil der
Erneuerungs-Elite, eine exceptionelle Position ein; er ist wahrlich die
Avantgarde, die an vorderster Front stehende und sich bewährende Kampftruppe
für die Neue Universität. Das heißt aber auch: Der Wissensarbeiter formt eine
Kampftruppe gegen die Moderne, ja gegen die zeitgenössische abendländische
Wissenschaft, gegen die Funktionalität des modernen Wissens. Man kann auch
sagen: gegen die Universität als Fachhochschule. Nur so kann die Neue
Universität ihren „Auftrag“ erfüllen. Dazu gehört, daß die Gegenwart, die
Epoche des Falschen, radikal negiert, dh.: überwunden wird. Der Wissensdienst
steht an der vordersten Front im Kampf gegen die „abgelebte Scheinkultur“ der
Gegenwart mit ihrer Tendenz zur „Verwirrung“, ja zum „Wahnsinn“ (S.19).
Weil es die geschichtliche Aufgabe Deutschlands und des deutschen Denkens
ist, die Wahrheit des Wissens zu bewahren oder neu zu gewinnen, muß es die
höchste Aufgabe des Neuen Staates und der Neuen Universität sein, den
Aufbruch des Volkes umzusetzen in ein umfassendes geschichtliches Sein - in
ein gründendes Handeln. Das ist der Sinn dieser Verpflichtungen und
Kampfpositionen. Sie sind Momente der äußersten Gefährdung und Zeichen
eines Ursprungs, eines neuen Denkens und Handelns. Der geschichtliche
Auftrag des deutschen Volkes und damit der deutschen Universität ist eine die
Wurzeln affizierende, mithin radikale, Erneuerung der geistigen Kräfte Europas
durch Deutschland und die Neue deutsche Universität. In dieser Rettung des
wiedergewonnenen Ursprungs liegt die geschichtsphilosophische Relevanz der
nationalsozialistischen Revolution des Jahres 1933. So der Philosoph Martin
Heidegger am 27. Mai 1933.
Seine Rede zur Übernahme des Rektorats der Universität Freiburg endet mit
einem Platon-Zitat. „Die Herrlichkeit aber und die Größe dieses Aufbruchs
verstehen wir dann erst ganz, wenn wir in uns jene tiefe und weite Besonnenheit
tragen, aus der die alte griechische Weisheit das Wort gesprochen: ta megala
panta episfale - Alles Große steht im Sturm … (Platon, Politeia, 497 d,9)“
(S.19)
Universität. Freilich - und das scheint erst bei der Neuauflage der Rede im Jahr
1983, also sieben Jahre nach Heideggers Tod, bemerkt worden zu sein übersetzt er den Satz Platons schlicht falsch. Episfale heißt „unsicher,
schwankend“ auch „gefährlich“. Platons Satz aus der Politeia beschäftigt sich
mit dem Verhältnis von Staat und Philosophie. Schleiermacher übersetzt die
Passage so: „Es ist nicht leicht zu sagen, auf welche Weise ein Staat sich mit der
Philosophie befassen muß, um nicht unterzugehen. Denn alles Große ist auch
bedenklich und, wie man sagt, das Schöne in der Tat schwer.“ Warum steht bei
Heidegger eine ersichtlich falsche Übersetzung des Wortes episfale? Warum
statt „bedenklich“ oder „gefährlich“ - „steht im Sturm“? Natürlich, so könnte
man sagen, weil nur eine solche heroisierende Verfälschung in sein Konzept
hineinpaßt. Aber warum überhaupt wählt er dieses Zitat? Wollte er den Zuhörern
oder später den Lesern einen geheimen Hinweis geben, daß dieses Im-SturmStehen in Wahrheit gefährlich und höchst bedenklich ist?
Summa summarum: Heideggers Rektoratsrede, voller Allgemeinheiten und doch
Teil einer sehnsüchtig erstrebten Revolutionierung der deutschen Universität als
Moment einer umfassenden Revolutionierung von Volk und Staat - diese Rede
sollte ein Fanal des Aufbruchs sein. Sie sollte das emphatische In-die-WeltTreten des deutschen Volkes begrifflich begleiten, unterstützen und legitimieren.
Der „Auftrag“ für das „Land der Mitte“ lautet: Heraus aus der falschen Welt des
funktionalisierten Wissens, des demokratischen Pluralismus und der differenten
Wissens-Diskurse. Der Aufbruch sollte einer sein zurück zum Ursprung. Die
Gegenwart schien eine Zeit der Gründung zu sein, ein Kampf (polemos), an
dessen Ende der Neue Staat mit dem Neuen Volk stehen wird. Es galt, besonders
in der und durch die Universität, das ungestüme und diffuse Wesen der
nationalsozialistischen „Bewegung“ zu läutern und deutend zu begleiten. So
betrachtet war der Gedanke nicht allzu verwegen, daß auch der Führer geführt
werden mußte, und zwar vom Philosophen selbst, in Analogie zu Platons
Tätigkeit in Syrakus. An welchen Philosophen in der gegenwärtigen Revolution
Heidegger da gedacht hat, braucht hier nicht weiter expliziert zu werden.
Der Rücktritt vom Rektorat im April 1934 ist das Eingeständnis des/seines
Scheiterns. Die eigentlichen Machthaber mißtrauten Heidegger zutiefst. Ob der
Führer in Berlin überhaupt von ihm Notiz genommen hat, ist nicht bekannt. Der
Philosoph in Freiburg sieht zunehmend den Sinn der „Bewegung“ verraten
durch kleinbürgerliches Taktieren und Anpassung an die Alten Mächte. Einmal
versucht er eine Präzisierung seiner Ideen der radikalen Umgestaltung: in der
knappen Skizze einer zu gründenden Dozentenschule, im August 1934. Wenn
schon die Universität nicht revolutioniert werden kann, dann vielleicht der
Universitäts-Dozent, der Habilitierte, der angehende Professor, vielleicht schon
der Assistent oder der begabte Student. Zum Zwecke der Radikalisierung sollen
sie ein halbes Jahr oder ein ganzes Jahr oder zwei Jahre, das bleibt unklar,
zusammenleben und zusammen studieren. Vielleicht verblüffend (aber gar nicht
so sehr, bedenkt man die Herkunft Heideggers) ist die Tatsache, daß diese
Dozentenschule in Struktur wie äußerer und innerer Gestalt einem säkularen
Kloster gleicht - ausdrücklich ist gesagt, daß die lehrenden und lernenden
Dozenten in Zellen arbeiten und schlafen. Nicht Gefängniszellen, sondern
Klosterzellen. Daß dieser leicht bizarre Vorschlag im Papierkorb der zuständigen
Ministerialbürokratie gelandet ist, um nie mehr aufzutauchen, bedarf kaum der
Erwähnung. Nach 1934 wandte sich Heidegger ausschließlich seiner
Lehrtätigkeit zu; es entstehen jetzt die großen Texte zu Kunst und Literatur, auch
die Vorlesung über Friedrich Nietzsche. Diese Vorlesungen wurden polizeilich
überwacht - Heideggers diesbezügliche Bemerkungen nach 1945 wurden lange
Jahre als Schutzbehauptungen bezweifelt; es ist dies aber aufgrund
aufgefundener Dokumente nicht zu bestreiten. Das totalitäre System, das der
Nationalsozialisten wie das der Kommunisten, mißtraut dem Geist als solchem,
auch da, wo der Intellektuelle sich explizit zur Herrschaft der jeweiligen Partei
bekannt hat. Gleichwohl bleibt Heidegger Mitglied der NSDAP bis zum bitteren
Ende. Zwar spricht alles dafür, daß er in der „Bewegung“ zunehmend nicht die
Überwindung des europäischen Nihilismus gesehen hat, sondern im Gegenteil
seine tiefste Realisation - aber zu dieser Frage und vergleichbaren anderen
schwieg er, antwortete, wenn überhaupt, nur ausweichend. So entstanden
Legenden und ausufernde Spekulationen.
An diesem Punkt betritt Paul Celan die Bühne unseres Stückes, das weit mehr
eine Tragödie denn eine Komödie ist, wenngleich ihm komödiantische Züge
nicht gänzlich fehlen.
Paul Celan wurde als Paul Antschel (Ancel) am 23. November 1920 in
Czernowitz in der Bukowina geboren. Czernowitz hatte damals etwa 110 000
Einwohner, die Hälfte deutschsprachig, viele davon Juden. Die anderen sprachen
überwiegend rumänisch. Czernowitz, vor dem 18. Jahrhundert eine rumänische
Kleinstadt, war nach der Übernahme durch die Habsburger 1774 (durch Kauf,
nicht durch Eroberung) zu einem beachtlichen Handelsplatz und schließlich zu
einem Zentrum der deutschen Kultur im Osten geworden. Nach dem verlorenen
Ersten Weltkrieg und dem Ende der Habsburgermonarchie im November 1918
wurde Czernowitz rumänisch. Paul Antschel wurde also als rumänischer
Staatsbürger geboren und blieb dies bis 1947. Der Vater war Makler im
Brennholzhandel, mittleres Bürgertum. Paul Antschel/Ancel nannte sich seit
1945/46 Celan. Er wuchs zweisprachig auf, deutsch und rumänisch. Später
lernte er französisch und englisch, im Krieg offenbar auch russisch. Eine der
Voraussetzungen für seine spätere herausragende Übersetzertätigkeit. Die
eigenen Gedichte schrieb er ausnahmslos auf deutsch, auch in den späteren
Jahren in Paris, und trotz lebenslanger Frankophilie. Nach dem Abitur 1938
studierte er ein Jahr Medizin in Tours; der Kriegsausbruch im Herbst 1939
verhinderte eine Wiederaufnahme des Studiums in Frankreich. Während des
Krieges und der deutschen Besatzung wurden Celans Eltern von deutschen
Kommandos ermordet; er selbst überlebte mit Glück. Über diese Jahre hat er
sich nie öffentlich geäußert. Im Jahr 1944 wurde die Bukowina dann endgültig
von der sowjetischen Armee erobert und der Sowjetunion zugeschlagen.
(Czernowitz und die Bukowina sind heute Teil der Ukraine.) Celan und alle
anderen deutschschreibenden Dichter und Intellektuellen (um nur einige zu
nennen: Rose Ausländer, Immanuel Weißglas, Moses Rosenkranz, Edwin
Chargaff, Gregor von Rezzori) flohen nach Rumänien, dessen Staatsbürger sie
ja waren, die meisten in die Hauptstadt Bukarest.
Dort entstand zu Anfang 1945 Paul Celans berühmtestes Gedicht, die
„Todesfuge“, ursprünglich genannt „Todestango“, veröffentlicht zuerst in
rumänischer Übersetzung: „Tangoul mortii“. Celan hatte, wie die meisten
rumänischen Intellektuellen, nach 1945 auf Meinungsfreiheit und radikale
Erneuerung gehofft, stattdessen wurde auch Rumänien stalinistisch, schon vor
Ceaucescu. Celan floh im Dezember 1947 nach Wien; es muß eine
abenteuerliche Flucht gewesen sein, aber auch darüber wissen wir eigentlich
nichts. In Wien gewinnt er zwar einige Freunde und beginnt eine Beziehung mit
Ingeborg Bachmann, damals so unbekannt wie er selbst, aber die Stadt gefällt
ihm nicht, er gibt Ärger mit dem Verleger der ersten Publikation, Der Sand aus
den Urnen, und so verläßt er Wien schon im Sommer 1948 in Richtung Paris.
Dort arbeitet er als Lektor für deutsche Sprache und Literatur an der berühmten
Ecole Normale Superieur, heiratet 1952 die dem wohlhabend-konservativen
französischen Bürgertum entstammende Malerin Gisele Lestrange; 1955 wird
ihr einziges Kind geboren, der Sohn Eric. Es erscheinen die ersten Gedichtbände
in Deutschland, er wird langsam bekannt, schließlich berühmt, und in den 60er
Jahren ist er für jeden, der sich überhaupt noch ernsthaft für Lyrik interessiert,
der bedeutendste lebende Dichter in deutscher Sprache. Gleichzeitig verschärfen
sich seine, latent immer schon vorhandenen, seelischen Probleme. Eine
manisch-depressive Disposition hatte sich zwar schon zu Schulzeiten gezeigt,
wird aber jetzt, trotz aller Erfolge und materieller Sekurität, zu einer manifesten
psychischen Krankheit. Kein Arzt, auch keine Klinik können ihm helfen. Züge
von schwerer Paranoia treten auf. Er wähnt sich unverstanden oder bewußt
mißverstanden, verfolgt von einer mächtigen anti-semitischen (Literatur-)Mafia
in Deutschland, die ihm die unbezweifelbaren Erfolge neidet und ihn schamlos
als Plagiator denunziert (Affäre Goll). Im Frühjahr 1970 erscheint ein in
deutscher Sprache geschriebener Artikel in einer rumänischen, der deutschen
Literatur gewidmeten Zeitschrift (eine Alibi-Zeitschrift Ceaucescus, mit der er
Gelder aus Deutschland zu gewinnen hoffte, und tatsächlich auch bekommen
hat), in der ziemlich plausibel gewisse Übereinstimmungen seiner
weltberühmten „Todesfuge“ mit dem ein halbes Jahr vorher (!) erschienenen
Gedicht „ER“ des ebenfalls Bukowiner Lyrikers Immanuel Weißglas
nachgewiesen wurde. Der Zeitschriftenband fand sich nach seinem Tod auf
seinem Schreibtisch. Wie auch immer: Ende April 1970 sucht und findet Paul
Celan den Tod in der Seine. Auf seinem Grab in Paris steht der Name Paul
Antschel.
Die Beziehung Paul Celans zu Martin Heidegger ist bis heute nur undeutlich
nachzuzeichnen, in erster Linie, weil die Privat-Archive noch nicht allgemein
zugänglich sind. Vieles muß daher anekdotisch bleiben. Paul Celan hat
Heideggers Werk mit großem Interesse verfolgt und mit fragendem
Unverständnis angesichts der Worte und Taten 1933/34. Das „Schweigen“
Heideggers über diese Jahre - im Verlauf der Jahrzehnte zum Klischee
geworden - zieht sich leitmotivisch durch die wenigen überlieferten Sätze
Celans, die sich mit Heidegger und seinem Denken befassen. Umgekehrt
bewunderte Heidegger Celans Lyrik und behandelte den Schwierigen mit
ausgesuchter Höflichkeit und viel Verständnis für dessen psychische Leiden, für
seine extreme Sensibilität, das eigene poetische Werk betreffend.
Einige Stationen der Beziehung seien hier knapp nachgezeichnet. Die beiden
ersten Gedichte, die von vielen Interpreten als ein lyrischer Blick Celans auf
Heidegger gedeutet werden, „Schliere“ aus Sprachgitter (1959), und „Largo“
aus Schneepart, postum veröffentlicht 1971 - ihnen vermag ich keinerlei Bezug
zu Heidegger zu entnehmen. Ein Bezug des „Schliere“-Gedichts zu Heidegger
ergibt sich höchstens, wenn man der Erinnerung des Philosophen Otto Pöggeler,
mit Celan damals so befreundet, wie man mit Celan befreundet sein konnte,
folgt, der berichtet, Celan habe dieses Gedicht Heidegger persönlich übersenden
wollen. Weder wissen wir, ob das überhaupt zutrifft, noch vermag ich diesem
Gedicht-Text irgendeine Beziehung zur Person Martin Heidegger oder seiner
Philosophie zu entnehmen. Und das zweite Gedicht, „Largo“, nimmt nur dann
Bezug auf Heidegger, wenn man die erste Zeile isoliert betrachtet und darin den
Namen entschlüsseln will, was eine gewisse Gewaltsamkeit voraussetzt:
„Gleichsinnige du, heidegängerisch Nahe […]“ (Paul Celan: Gesammelte
Werke, Band 2, S.356).
Kommen wir zu den gesicherten Marksteinen dieser Beziehung. Der Germanist
Gerhart Baumann, in Freiburg lehrend wie Heidegger, war ein guter Bekannter
Celans, um das Wort Freund zu vermeiden. 1967 bereitete er eine Lesung Celans
in Freiburg vor und berichtete davon Heidegger. Der schrieb zurück: „Schon
lange wünsche ich, Paul Celan kennen zu lernen. Er steht am weitesten vorne
und hält sich am meisten zurück. Ich kenne alles von ihm, weiß auch von der
schweren Krise, aus der er sich selbst herausgeholt hat, soweit dies ein Mensch
vermag … Es wäre heilsam, Paul Celan auch den Schwarzwald zu zeigen.“
(zit. nach Safranski, S.485)
Die Lesung findet statt am 24. Juli 1967; angeblich vor 1000 (!) Hörern; es ist
einer der wenigen öffentlichen Auftritte Celans. Es ist die Zeit der sogenannten
Achtundsechziger, und das bedeutet in diesem Kontext: die Zeit einer ebenso
elementaren wie stupiden Kunstfeindschaft, der Dominaz des Agitprop und
eines poltisch legitimierten Ikonoklasmus. Es scheint, daß damals niemand
gekommen war, die Lesung zu stören oder gar zu verhindern, was ansonsten
durchaus an der Tagesordnung war. Eher im Gegenteil: große Aufmerksamkeit
und viel Beifall. Und Heidegger war vor der Ankunft Celans in Freiburg von
Buchhandlung zu Buchhandlung gegangen und hatte die Buchhändler gebeten,
ihre Schaufenster mit Celan-Büchern und Celan-Fotos zu dekorieren. Was
geschieht. Celan spaziert am Nachmittag vor der Lesung durch die Innenstadt
und ist höchst beeindruckt von der freundlichen Aufmerksamkeit der Freiburger,
sich manifestierend in so vielen wohlgeschmückten Celan-Altären.
Wie gesagt: Die Lesung am Abend ist ein starker Erfolg. Er wird freilich für
Heidegger ein wenig getrübt durch Celans Weigerung, sich zusammen mit
Heidegger fotografieren zu lassen. „Er will nicht - nun, dann lassen wir es“
kommentiert der Philosoph die Szene stoisch. Hinter Celans Weigerung scheint
sich primär Nervosität verborgen zu haben, denn danach läßt sich Celan auf
Heideggers Hütte in Todtnauberg für den kommenden Vormittag einladen. Am
25. Juli 1967 ist also Celan bei Heidegger „auf der Hütte“ in Todtnauberg. Über
das Gespräch der beiden wissen wir nichts. Celan schreibt in das Gästebuch:
„Ins Hüttenbuch, mit dem Blick auf den Brunnenstern, mit einer Hoffnung auf
ein kommendes Wort im Herzen.“ (Safranski, S.485) Was dieses „kommende
Wort“ sein könnte - es bleibt offen. Sicher ist, daß Celan nach dieser
Begegnung ausgesprochen gut gelaunt und ungewöhnlich kommunikativ war,
zum gelinden Erstaunen aller.
Wenige Tage später, am 1. August 1967, schreibt Celan das Gedicht
„Todtnauberg“.
Arnika, Augentrost, der
Trunk aus dem Brunnen mit dem
Steinwürfel drauf,
in der
Hütte
die in das Buch
-wessen Namen nahms auf
vor dem meinen? -,
die in dies Buch
geschriebene Zeile von
einer Hoffnung, heute,
auf eines Denkenden
kommendes
Wort
im Herzen,
Waldwasen, uneingeebnet
Orchis und Orchis, einzeln,
Krudes, später, im Fahren, deutlich,
der uns fährt, der Mensch,
der's mit anhört,
die halbbeschrittenen Krüppelpfade im Hochmoor,
Feuchtes,
viel.
Paul Celan: Gesammelte Werke, Band 2, S.255f
Nimmt man das Gedicht als Dokument eines Besuches in Todtnauberg, so fallen
mehrere Stationen des Aufenthaltes auf: der Trunk aus dem Brunnen, der Eintrag
in das Gäste/Hüttenbuch mit der Hoffnung auf „eines Denkenden kommendes
Wort“, und ein Gang durch die Umgebung im Schwarzwald. Schließlich die
Rückfahrt nach Freiburg im Auto. Lesbar für alle, die die Situation mit Celan
geteilt haben und annähernd verstehbar für den, der aus anderen Quellen davon
weiß. Celan schickt das Gedicht an Heidegger etwa ein Jahr nach der
Niederschrift: veröffentlicht wird es, natürlich kommentarlos, im Todesjahr
Celans, also 1970, in dem Band Lichtzwang.
Es hat einige weitere Begegnungen der beiden gegeben; von den GesprächsInhalten wissen wir nichts. Die letzte Begegnung fand am 26. März 1970 statt,
also kurz vor dem Suizid Celans. Die depressiven Schübe, abgelöst von Formen
unkontrollierbarer Aggressivität, hatten sich verstärkt, die Ehe mit Gisele
Lestrange war gescheitert. Celan fühlte sich von allen mißverstanden und hinter
seinem Rücken verspottet. Heidegger war über den mentalen Zustand Celans
erschüttert und sagte zu Baumann: „Celan ist krank - heillos.“ Ende April
suchte und fand Celan dann den Tod in der Seine, innerhalb von Paris. Er wurde
am 1. Mai 1970 tot aufgefunden. Eine Reaktion Heideggers ist nicht überliefert.
Ein einziger Brief Heideggers an Celan ist bislang bekannt, vom 30. Januar
1968, veröffentlicht in der Neuen Zürcher Zeitung vom 3./4. Januar 1998.
So läßt sich mehr als nur Vorläufiges über diese eigenartige Beziehung nicht
sagen. Wenn Celan gehofft haben sollte, Heidegger würde sich ihm öffnen, seine
Reden und Taten des Jahres 1933 betreffend, dann sah er sich gewiß getäuscht,
war enttäuscht. Angesichts der globalen Dimension des Verhängnisses hielt
Heidegger seine Person für gänzlich irrelevant. Womit freilich die Frage nach
der persönlichen Verantwortung noch nicht beantwortet ist. Ihr ist Heidegger
tatsächlich ausgewichen; auch im genannten „Spiegel“-Gespräch aus dem Jahr
1966. So bleibt vieles, vielleicht zu vieles unausgesprochen im Denken dieses
Philosophen, der ein so immens umfangreiches, um nicht zu sagen: redseliges,
Oeuvre hinterlassen hat. Aber daß das Schweigen mehr in sich tragen kann als
viele leichtfertige Worte, haben schon die griechischen Philosophen vor mehr als
zwei Jahrtausenden gewußt. Bei Celan wie bei Heidegger öffnet nur das Wort
der Dichtung, das poetische Wort, eine Lichtung im Seienden, hin zur
Unverborgenheit, also zur Wahrheit, zum unaussprechlichen Sein.
Das Schweigen und das Wort stehen, einander ergänzend, als Erfahrungen der
Wahrheit. So mögen Celans dichterisches Wort und Heideggers Schweigen,
Heideggers denkerisches Wort und Celans Schweigen bedeutsam sein als
Ausdruck der Verworrenheit und der Dunkelheit des von ihnen beiden geteilten
geschichtlichen Augen-Blicks.
THEODOR W. ADORNO: VITA
Im zweiten Teil dieser Vorlesung beschäftige ich mich mit dem Kunst-Denken
des Theodor W. Adorno. Wie schon zu Beginn gesagt, ist eine
unvoreingenommene Parallelisierung von Martin Heidegger und Theodor W.
Adorno erst jetzt möglich geworden. (Ich verdanke viel dem Buch von
Hermann Mörchen: Heidegger und Adorno. 1981. Es kam zu früh. Der
Nachweis einer tiefen inneren Verwandtschaft
der beiden Zivilisationskritiker aus dem Geist einer gnostischen WeltVerneinung und Kunst-Verehrung war für die meisten Schüler schwer
verdaulich, um mich flapsig auszudrücken. Gleichwohl traf es den Kern, was
jetzt evident ist.)
Beider Werk ist historisch geworden. Historisch bedeutet nicht: veraltet,
sondern: in die Distanz der geschichtlichen Betrachtungsmöglichkeiten entrückt.
Zunächst skizziere ich Adornos Lebensgang. Dann versuche ich seine
Mitwirkung und die Relevanz und den Anteil seiner Musik-/Kunst-Philosophie
an Thomas Manns Roman Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers
Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde (1943 – 1947 entstanden, 1947
veröffentlicht) nachzuzeichnen. Beide, Thomas Mann und Adorno, waren in
diesen Jahren Nachbarn in Los Angeles ('Nachbarn' im amerikanischen Sinne
des Wortes, also eine gute Autostunde voneinander entfernt). Adorno hat
entscheidend die ästhetischen Perspektiven und die musiktheoretische
Konzeption mitgestaltet. Thomas Manns öffentlicher Dank sollte das Zentrum
des Essays „Die Entstehung des Doktor Faustus“ (1949) bilden; er wurde aber
auf das ebenso insistente wie unhöfliche Betreiben von Katja und Erika Mann
weitestgehend und bis zur Unkenntlichkeit reduziert, denn beide Damen haßten
Adorno und wollten nicht akzeptieren, daß Thomas Mann so deutlich und für
alle nachlesbar seine gedankliche Abhängigkeit vom verabscheuten Gelehrten
eingestehen wollte und es im Manuskript bereits getan hatte. Diese Seiten
wurden entfernt, was allerdings auch Thomas Mann nicht im besten Licht
erscheinen läßt. Adorno hat von diesen Hintergründen mit größter
Wahrscheinlichkeit nie etwas erfahren; die gegenseitige Hochschätzung Thomas
Mann - Adorno hat bis zum Tode Thomas Manns angedauert und alle
Anfeindungen von gehässiger Damenseite überstanden.
Danach möchte ich, mit gelegentlichem Blick auf Heideggers Deutung, den
Aufsatz Adornos zu Hölderlins lyrischem Spätwerk vorstellen, „Parataxis“
(1963). Adornos Ästhetik wurzelt im Kunst- und ganz besonders im MusikVerständnis der deutschen Romantik; vielleicht weniger bei Hölderlin als bei
Joseph von Eichendorff, dessen Lyrik und Prosa als melancholisch-ironische
Beschwörung einer utopischen Heimat uns in das ideelle Zentrum des
Adornoschen Kunst-Denkens führen wird.
Der Brückenschlag von hier in die von ihm stets emphatisch beschworene
„Moderne“, hin zu Samuel Beckett, mag etwas gewaltsam erscheinen, markiert
aber genau die historischen zwei Pfeiler seiner Ästhetik: die Romantik und die
erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Warum die Kunst der „Moderne“ für Adorno
von solcher geradezu existentieller Relevanz ist, läßt sich nicht nur aus den
kollektiven Katastrophen des Jahrhunderts deduzieren, es hat auch, ja vielleicht
in erster Linie zu tun mit individuellen Dispositionen, Prägungen aus Kindheit
und Jugend. War für Heidegger Kunst die Erfahrung einer Lichtung des Seins,
so nähert sich die Kunst bei Adorno einer spezifischen Form negativer
Theologie an, in deren Zentrum das von ihm so genannte „Nicht-Identische“
steht. Dazu später mehr.
Theodor W. Adorno - so nannte er sich freilich erst nach 1945 - wurde als
Theodor Wiesengrund Adorno am 11. September 1903 in Frankfurt am Main
geboren. Der Vater war ein assimilierter, schon früh zur evangelischen Kirche
übergetretener Frankfurter Jude, ein wohlhabender Weingroßhändler, namens
Oscar Alexander Wiesengrund (30.7.1870 – 8.7.1946, New York). Es ist
naturgemäß kein „Zufall“, daß der Vater im Werk des (einzigen) Sohnes keine
erkennbaren Spuren hinterlassen hat. Die Welt der Väter spielt bei Adorno
niemals eine existentielle, höchstens eine literarisch vermittelte Rolle. Adorno
gehört nur noch quasi am Rand zur expressionistischen Generation, und von
einem Aufstand gegen die Väter-Generation kann so direkt wie bei den
Expressionisten bei Adorno nicht die Rede sein. Anders verhält es sich mit der
Welt der Mutter. Sie war die Tochter einer deutschen Sängerin und eines
korsischen (also politisch: französischen, ethnisch-sprachlich: italienischen)
Offiziers und Reitlehrers, den es aus unbekannten Gründen nach Frankfurt
verschlagen hatte, wurde am 30.9.1865 in Frankfurt geboren (gestorben am
23.2.1952 in New York) und trug vor der Hochzeit den schönen Namen Maria
Calvelli-Adorno delle Piane. Daher der Name des einzigen Kindes Wiesengrund
Adorno, den dieser in der angelsächsischen Emigration (erst England, ab 1939
USA) zu Theodor W. Adorno verkürzte, damit anglisierte (W = Dabbeljuh) und
italianisierte. Und als Nebeneffekt: der Name des Vaters, deutsch und jüdisch in
einem, verschwand.
Niemals widersprach „Teddy“ in den fünfziger und sechziger Jahren in
Frankfurt umlaufenden Gerüchten, er sei mütterlicherseits mit dem Genueser
Dogengeschlecht der Adorno verwandt - Korsika gehörte ja bis 1768 zu Genua
und wurde dann von Frankreich gekauft, weshalb Napoleon als Franzose
geboren wurde. Ob Adorno nun tatsächlich mütterlicherseits von adliger
Herkunft war, ist eher unwahrscheinlich; unbestreitbar ist jedoch, daß er sich
zeit seines Lebens in der Gesellschaft des Adels/Hochadels ausgesprochen wohl
gefühlt hat, besonders wenn der Adel weiblich, jung und blond war.
Anekdotisch, gewiß. Aber während es zu Heidegger kaum Anekdoten gibt, die
diese Bezeichnung verdienen, sind die zu Adorno zahlreich und sogar
gesammelt; nämlich von Eckhard Henscheid: Wie Max Horkheimer einmal
sogar Adorno hereinlegte. Anekdoten über Fußball, Kritische Theorie, Hegel
und Schach. 1983. Wie auch immer. Die Mutter Maria Adorno (und ihre
Schwester Agathe, eine Sängerin) vererbte die beträchtliche Musikalität dem
Sohn; der junge Teddy war ein überdurchschnittlicher Klavierspieler, zeitlebens
Musikästhetiker und in der ersten Hälfte seines Lebens auch Komponist. Das
mütterliche immaterielle Erbe, das mütterliche Element, wie man sagen könnte,
dominierte die Interessen und Dispositionen des Sohnes. Seine Kindheit muß,
nach allem, was wir wissen und darüber sagen können, glücklich gewesen sein;
und diese Erfahrung einer behüteten, liebevollen und kulturell überaus
anregenden Kindheit (von der materiellen Versorgtheit durch den wohlhabenden
Vater ganz zu schweigen) zieht sich direkt oder indirekt auch durch das gesamte
Werk Adornos. Man kann thesenhaft sagen, daß zwischen seiner Person und den
Weltverhältnissen, die fast stets bedrohlich waren, sich immer eine Sphäre der
Abmilderung, ein erlebtes Prinzip existentiellen Schutzes, existentieller Rettung
schiebt. Sehr bald wird dies, das Mutter-Bild sublimierend und substituierend,
die Kunst sein. Sie erscheint als Fluchtpunkt und Idee der Rettung, als von der
kruden Realität zwar erschütterbar, aber nicht ihrem quasi-absolutistischen
Anspruch unterworfen. In der Kunst, autonom und welthaltig, findet sich die
Erfahrung der kindlichen Geborgenheit transponiert und für die Welt des
Erwachsenen brauchbar gemacht. Dieser Welt tritt der Künstler und Philosoph,
der Musiker und Intellektuelle, als Einzelner entgegen. Daran ändert auch die
spätere marxistische Welt-Anschauung, ändert auch die Mitgliedschaft am
Institut für Sozialforschung nichts.
Der junge Teddy Wiesengrund, katholisch getauft und katholisch erzogen von
Mutter und Tante, ist vielfältig begabt, ein glänzender Schüler und absolviert das
Gymnasium in Frankfurt sozusagen in Rekordzeit. Schon mit siebzehneinhalb
Jahren, zu Ostern 1921, legt er das Abitur ab. Mit dem Sommersemester 1921
beginnt er an der Universität Frankfurt das Studium der Philosophie,
Psychologie und Musik. (Die Universität Frankfurt Frankfurt am Main existiert
erst seit 1914. Sie ist eine der ganz wenigen Neugründungen zwischen der
Napoleonischen Zeit und den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Es ist eine
vom wohlhabenden Frankfurter Bürgertum getragene Stiftungs-Universität,
deutlich gerichtet gegen den Preußischen Obrigkeitsstaat, der in Frankfurt, seit
1866 preußisch, besonders unbeliebt war.) Sein 1. Streichquartett wird 1923 in
Frankfurt uraufgeführt. Auch das Studium vollzieht sich in Rekordzeit: Bereits
1924, also mit 21 Jahren, promoviert Teddy Wiesengrund mit der Arbeit Die
Transzendenz des Dinglichen und Noematischen in Husserls Phänomenologie.
Sehr akademisch und nur mäßig originell - aber wer wollte einem
20/21jährigen das vorwerfen. Nach der Promotion geht er nach Wien; er wird
für kurze Zeit Schüler von Arnold Schönberg und lernt Alban Berg kennen.
Schönberg trifft er im amerikanische Exil wieder. Beide sind sich nicht
sonderlich sympathisch; aber für Adorno wird Schönberg zeitlebens das Inbild
des „modernen“ Komponisten sein.
In der Schrift Zur Philosophie der Neuen Musik (1949), in Kalifornien verfaßt
und in engstem Zusammenhang zu sehen mit Thomas Manns Roman Doktor
Faustus, stellt er ihn, in manichäischer Konstruktion, dem ungeliebten Igor
Stravinsky gegenüber, musikalischer Fortschritt gegen musikalische Reaktion.
Schon hier sei gesagt, daß solche wahrhaft simplen Dichotomien, aufbauend auf
dem primären Gegensatz „Fortschritt versus Reaktion“, zu den Zügen des
Adornoschen Werkes gehören, die am raschesten veraltet sind. Dies und der
durchgängig oberlehrerhafte Duktus seiner Texte, die Attitude des
unerschütterlichen Besserwissers, der auch und gerade besser weiß, was den
anderen Menschen von Nutz und Frommen ist, was sie eigentlich wollen und
wollen sollen oder sollen sollen - dies hat vieles an seinem Oeuvre rasch altern
lassen.
Während Adorno den um viele Jahre älteren Schönberg zumindest als
Komponisten verehrt und ihm dessen Musik zeitlebens Ausdruck avanciertester
Kunst ist, kann Schönberg den Jüngeren durchaus nicht leiden, wiewohl er
zähneknirschend zugestehen muß, daß Adorno hochmusikalisch ist, glänzend
Klavier spielen kann und über einschüchternde Kenntnisse der abendländischen
Musik verfügt. In Wien versucht Adorno also vergebens, Fuß zu fassen; alles
ohne den, wie man so sagt, durchschlagenden Erfolg. Er kehrt nach Frankfurt
zurück und legt, im November 1927, der Philosophischen Fakultät ein
Manuskript vor, mit dem er sich zu habilitieren gedenkt - er ist gerade 24 Jahre
alt. Er nennt ihn: Der Begriff des Unbewußten in der transzendentalen
Seelenlehre. Nach einigen Briefwechseln zwischen den akademischen Lehrern
zieht er die Arbeit, wie das in solchen Fällen üblich ist, im Januar 1928 zurück.
Er lebt von da an einige Jahre in Berlin, wo er seine spätere Ehefrau Gretel
Karplus kennenlernt. Sie heiraten im September 1937. Über diesen BerlinAufenthalt hat er sich nie öffentlich geäußert, in deutlichem Gegensatz zu den
(wenigen) Monaten in Wien. Immerhin verfaßt er in Berlin und Frankfurt dann
die Arbeit, die 1931 in Frankfurt als Habilitations-Schrift angenommen wird:
Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen.
In diese Jahre fällt auch die Etablierung des Instituts für Sozialforschung an der
Universität Frankfurt, und es beginnt die lebenslange Freundschaft mit Max
Horkheimer und die Bekanntschaft mit Walter Benjamin (Freundschaft wird
man es nicht nennen können). Zu jedem dieser drei Ereignisse wäre einiges zu
sagen; aber es würde den Rahmen der Vorlesung sprengen. Nur so viel: Das
Institut für Sozialforschung wurde als private Stiftung von einem reichen
jüdischen Industriellen namens Hermann Weil im Sommer 1924 in Frankfurt
gegründet. Sein Aufgabenbereich sollte, verkürzt gesagt, die akademischwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Marxismus und die Analyse der
modernen Gesellschaft unter marxistisch-materialistischen Aspekten und
Perspektiven sein. Der Marxismus existierte damals an den deutschen
Universitäten sozusagen nicht, weder als Objekt wissenschaftlichen Interesses
noch als Leitidee intersubjektiver Erkenntnis. Das Institut sollte diese Lücke
schließen, sich aber fernhalten von Agitprop und dem offiziellen dialektischen
Materialismus der UdSSR und ihrer westlichen Ableger, vor allem der KPD.
„Marxismus der feinen Leute“ spotteten manche über das Institut, denn sowohl
der erste Direktor Carl Grünberg wie der ab 1928 dem Institut vorstehende und
es dann auch von 1950 wieder bis zu seiner Emeritierung 1960 leitende Max
Horkheimer entstammten tatsächlich dem jüdischen assimilierten deutschen
Großbürgertum. (Nach der Emeritierung zog sich Horkheimer dann
standesgemäß in seine Villa ins Tessin zurück; er starb 1973.)
All dies trug dazu bei, daß das Institut nach 1933 erst schikaniert und dann
geschlossen wurde. Horkheimer hatte die Finanzmittel in weiser Voraussicht erst
nach Genf, dann nach New York transferiert. Das Institut war also in den USA
relativ unabhängig und konnte den Mitarbeitern auch im Exil Gehälter zahlen.
Adorno gehörte zu den ersten Habilitierten, die 1933 von den
Nationalsozialisten
ihres Amtes enthoben wurden; wiewohl er, jüdischem matrilinearen Denken
zufolge, gar kein Jude war. Er ging zunächst nach Oxford, ohne dort in
irgendeiner Weise Fuß zu fassen. Lange Jahre kehrte er öfters nach Frankfurt
zurück; erst 1938 emigrierte er endgültig, in die USA. Zunächst lebte er in New
York, dann in Los Angeles, in der Nähe von Thomas Mann, wie schon
angedeutet.
Der deutsche Bildungsbürger in Californien - das ist die Erfahrung einer
radikalen Andersartigkeit - damals noch viel mehr als heute. Thomas Mann
konnte sich, durch seinen Reichtum, seine Berühmtheit und seine ihn
abschirmende und in allem unterstützende Familie, diesem Neuen weitestgehend
entziehen. Adorno konnte es nicht wirklich. So bleibt Amerika ihm stets
doppelgesichtig: Einerseits das Land, das ihn vor dem Tod bewahrt hat;
andererseits die Verkörperung der kulturellen und zivilisatorischen
Andersartigkeit.
1949 kehrt er nach Deutschland zurück. Er hat da nicht geschwankt. Seine
Intellektualität war eine sehr spezifisch deutsche, und sein Platz konnte nur an
einer deutschen Universität sein. (Im Unterschied zu anderen Emigranten hat er
auch in den USA, wie vorher schon in England, akademisch nicht reüssiert. Er
war Mitglied des Instituts für Sozialforschung, des Institute for Social Research,
mit einigen Lehraufträgen und Projekten da und dort, aber ohne amerikanische
Professur.) Er wird in Frankfurt erst außerordentlicher, dann, 1956, ordentlicher
Professor für Philosophie und Soziologie und trägt dazu bei, die Universität
Frankfurt zu einem Zentrum der undogmatischen Linken zu machen. Und er
wird berühmt. Mit einer gewissen Verzögerung gelingt es ihm, den Posten des
intellektuellen Vordenkers, des philosophischen Groß- oder Über-Ordinarius zu
besetzen. Noch zu Lebzeiten Heideggers, als dessen schärfster Konkurrent (oder
Nachfolger, wie man will).
Er weiß die Auszeichnungen, den Ruhm, ja auch die gelegentlichen
akademischen Anfeindungen durchaus zu schätzen, wiewohl seine Philosophie,
auch seine Ästhetik nichts explizit Tröstliches oder Erbauliches enthalten. Man
könnte sagen: gerade deshalb; denn Kollektiv-Masochismus ist ja ein Signum
der Epoche, zumindest in den Kreisen der Gebildeten oder derer, die sich dafür
halten. So hört man ergriffen von der Verzweiflung, der Ausweglosigkeit der
Gegenwart, dem Verblendungszusammenhang und dergleichen mehr. Georg
Lukacs lästert zwar vom „Grandhotel Abgrund“, in dem die Frankfurter Schule
sich häuslich und selbstzufrieden und luxuriös eingerichtet habe, aber Lukacs
ist ein durchaus suspekter Zeitgenosse, dessen Residenz in der sozialistischen
Baracke niemanden, der noch seine fünf Sinne beisammen hat, zur Übersiedlung
vom Grandhotel in die Baracke der reinen Lehre verführen kann. Gleichwohl
und trotz alledem: Der Groß-Ordinarius Adorno ist der unangefochtene
Platzhirsch im Reich des Denkens im Deutschland der späten fünfziger und
frühen sechziger Jahre.
Um so bitterer sind die letzten zwei oder drei Jahre seines Lebens. Es ist
unerläßlich, sie hier zu erwähnen; einmal, weil sie mir paradigmatisch zu sein
scheinen für viele inneruniversitäre Konflikte jener Zeit in ihrer unentwirrbaren
Mischung aus gesellschaftlicher Großwetterlage, politischen PartikularIntentionen und höchst subjektiven, gleichzeitig mit der objektiven Situation
vermittelten, psychischen Spannungen, bis hin zu jenen ödipalen VatermordPhantasien, denen - reden wir nicht drumherum - auch Theodor W. Adorno
zum Opfer gefallen ist.
Ich kann das hier nur andeuten. Die Zeit von 1965 bis 1970, mit dem äußeren
Höhepunkt des mythischen Jahres 1968, war eine ebenso kurze wie intensive
Epoche tiefer gesellschaftlich-sozialer Umbrüche in der gesamten industriellen
Welt, nicht bloß in West-Deutschland, wie manche Darstellung Ihnen
suggerieren möchte. Sie haben sich in jedem Staat anders manifestiert, politisch
anders, aber immer weit darüber hinaus greifend. In Stichworten: USA:
Vietnam-Krieg (verschärft durch Wehrpflicht); Rassen-Konflikte, nicht nur im
historischen Süden; Feminismus; neue Gruppen von Einwanderern (Asiaten,
Hispanics) mit Anspruch auf größere Teile vom materiellen Besitz und auf mehr
Macht. In Deutschland (West): das vermeintliche oder tatsächliche
„Schweigen“ der Vätergeneration zu ihrer Verwicklung in die Nazi-Zeit; die
(heute vollkommen unbekannten) sogenannten Notstands-Gesetze; der VietnamKrieg als Beispiel des US-Imperialismus und des angeblich unvermeidlichen
Krieges Erste vs. Dritte Welt; der „Kapitalismus“ schlechthin; und nicht zuletzt
die sogenannte Ordinarien-Universität. In Frankreich: Herrschaft de Gaulles;
auch dort der Vietnam-Krieg; anarchische Träume, und nicht nur Träume, von
einer herrschaftsfreien Gesellschaft.
In allen Ländern war es nicht ausschließlich, aber doch überwiegend eine
studentische, eine intellektuell (besser: pseudo-intellektuell) geprägte
Veranstaltung. Irrational, aber im Gewand einer vernünftigen Überwindung des
Herrschenden. Im Osten Europas - um auch dies hier kurz zu erwähnen markiert es den Anfang vom Ende des Marxismus als Herrschaft-Ideologie. Im
Grunde ist das auch im Westen so, verdeckt von der Renaissance diverser
kommunistischer Klein- und Kleinst-Gruppen, der DKP und ganz allgemein
eines „linken“ Diskurses. Es ist gleichzeitig und nachhaltig der Beginn neuer
Diskurse: des Feminismus, der Ökologie und, noch fast unbemerkt, einer
diffusen Erstarkung, knapp jenseits der Nullmarke, des Islam. (Aus all dem,
minus naturgemäß dem Islam, entsteht um 1980 in Deutschland die Milieu- und
Generationen-Partei „Die Grünen“. Mitbegründer: Joseph Fischer (Sponti und
Anarcho-Prügler aus dem Schwäbischen, tätig vornehmlich in Frankfurt am
Main), Jürgen Trittin (Kommunistischer Bund, Göttingen), Hans-Christian
Ströbele (dto.), Antje Vollmer (dto.). Allesamt von 1998 – 2005 führende
Mitglieder der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder.)
Was ist nun das gesellschaftliche Substrat dieser Jahre um 1968? Man könnte
es verknappt so sagen: Es ist eine Ablösung des ödipalen durch den
narzißtischen Charakter. Es ist die Erstarkung der weiblichen Emanzipation als
sexueller Emanzipation; es ist der Beginn einer biologischen Lösung der
Sexualität von der Fortpflanzung; es ist ein neuer (und nicht bloß) sexueller
Hedonismus als Ausgleich zu einer immer stärker genormten, gleichzeitig
weitgehend internalisierten und abstrakter werdenden Arbeit
(„Spaßgesellschaft“).
Vieles davon war erahnbar, manches nicht einmal in Ansätzen. Zudem wurden
diese Konflikte in einer Sprache ausgetragen, die marxistisch-leninistischen
Jargon mit Teilen einer vulgarisierten Psychoanalyse verband, gleich, ob es
passend, ob es angemessen war oder nicht. Wobei weniger die anthropologische
Skepsis Sigmund Freuds im Zentrum stand als die utopischen Spintisierereien
des Simplifikateurs Wilhelm Reich und die Revolutions-Phantastereien des
Herbert Marcuse, des Philosophen in der Heidegger-Nachfolge mit dem
Massen-Appeal und der Kriegs-(und Nachkriegs-)Vergangenheit im
amerikanischen Geheimdienst.
Zurück zu Adorno und den Auseinandersetzungen der letzten Lebensjahre mit
seinen Studenten. Umfangreiche Informationen dazu: Wolfgang Kraushaar
(Hg.): Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Band 1: Chronik. Band 2:
Dokumente. Band 3: Aufsätze und Kommentare. Register. Rogner + Bernhard
bei Zweitausendeins, Hamburg 1998.
Diese Auseinandersetzungen betrafen zunächst und primär die Mitglieder des
legendären Adornoschen Oberseminars, seine Doktoranden also, um den
charismatischen Hans-Jürgen Krahl, der ein halbes Jahr nach Adorno bei einem
Autounfall ums Leben kam. Zum anderen waren involviert andere Soziologieund Philosophie-Studenten der Universität Frankfurt und universitätsfremde
Anarchos und Krawallos. Worum ging es eigentlich? Nicht eigentlich um die
Enttäuschung, daß TWA nicht gewillt war, der theoretischen Verurteilung der
kapitalistischen Herrschaft die praktische Konsequenz revolutionären
Straßenkampfs folgen zu lassen, sei es in der unfreiwillig komischselbstparodistischen Form des Herrn Joseph Fischer, sei es in der gefährlicheren
Variante der französischen Mai-Unruhen mit Herrn Daniel Cohn-Bendit, der
dann allerdings, als deutscher Staatsbürger aus Frankreich ausgewiesen und nach
Frankfurt am Main übergesiedelt, sich langsam aber sicher ins Reformerische zu
wandeln begann. Es kann niemand im Ernst von Adorno erwartet haben, daß er
auch nur jene revolutionäre Rhetorik im Stil Herbert Marcuses gepflegt hätte,
die diesen bei den linken amerikanischen und dann auch deutschen Studenten
so populär gemacht hat, geschweige denn in gediegenem Maßanzug den
brüllenden Massen durch Frankfurts Straßen vorangestürmt wäre.
Das alles entsprach nicht seinen Überzeugungen und seinem großbürgerlichen
Lebensstil. Mir will scheinen, daß dieser Konflikt in der Tiefe nicht nur ein
Aufstand der Söhne gegen den Über-Vater war, sondern ein Ausdruck des Ekels
gegen die Abstraktheit des philosophischen Gedankens und gegen die
unvermeidliche Innerlichkeit jeder Kunst und jedes Denkens über Kunst. Also in
der Tiefe eine Art Bildersturm, unter dem Vorwand revolutionärer
Verbesserungen und der Rettung der Welt im Zeichen einer neuen marxistischen
Umwälzung. Denn wenn die Kunst damals überhaupt in jenen Kreisen eine
Rolle spielen durfte, dann in der Weise des Agitprop.
Für Nuancierteres war kein Platz, gab es keine Geduld. Und für Adornos
bekanntlich besonders nuancierte Kunst-Theorie schon gar nicht. Insofern hatten
die Studenten Adorno durchaus richtig verstanden: Zwischen ihnen klaffte ein
Abgrund, der nicht zu überbrücken oder zuzuschütten war. Nur durch viel guten
Willen von beiden Seiten wäre er vielleicht zu verdecken gewesen - aber
warum hätte Adorno seine lebenslangen Überzeugungen aufgeben sollen?
Aufgeben angesichts einer gewaltigen Verachtung, die ihm entgegenschlug und
die sich nicht selten in Haß verwandelte.
Die äußeren Ereignisse spielten dabei bloß eine Nebenrolle, etwa die Besetzung
des Instituts durch rabiate Studenten (im Januar 1969), die Räumung des
Instituts durch die Polizei auf Anordnung Adornos, der Abbruch der Vorlesung
im Sommersemester 1969, auch provoziert durch einen strip-tease dreier
Studentinnen. (Solches geschah damals, etwas später, auch in Bonn, im
Wintersemester 1973/74 in einer Vorlesung meines akademischen Lehrers Peter
Pütz; leider nicht in meiner Anwesenheit. „Mehr Masse als Klasse“ war die
einzige Äußerung von Peter Pütz zu diesem in Bonn durchaus unüblichen
Vorgang.) Es ging in Frankfurt nicht um eine dem aufkommenden Hedonismus
geschuldete Unterbrechung des tristen Universitäts-Alltags, sondern es war ein
Ausdruck tiefer Verachtung, was Adorno sofort und klarer begriff als die
Journalisten, die mehr oder minder hämisch und unverständig den Vorfall
kommentierten. Zu Beginn der Semesterferien im Juli 1969 mußte Adorno als
Zeuge in dem Prozeß gegen seinen Lieblingsschüler Hans-Jürgen Krahl
auftreten und aussagen, wegen der Institutsbesetzung. Die Zuhörer im
Gerichtssaal grölten bei jedem Satz, den Adorno sprach, und der Staatsanwalt
hielt den professoralen Zeugen sowieso für den Schuldigen an der ganzen
Geschichte. Anfang August fuhr Adorno mit seiner Frau in den Urlaub nach
Zermatt. Am 5. August wurde er wegen Herzbeschwerden in das Kantonsspital
Visp eingeliefert, wo er am nächsten Tag, also am 6. August 1969, verstarb. Am
13.8. wurde er unter größter Anteilnahme von Freunden, Kollegen und
Studenten auf dem Frankfurter Hauptfriedhof beerdigt; es sollen fast 2000
Trauergäste anwesend gewesen sein. Am Grab sprachen Max Horkheimer, der
hessische Kultusminister Schütte und Ralf Dahrendorf, der Soziologe aus
Konstanz. Kein Geistlicher hat ihn begleitet.
Thomas Mann: Doktor Faustus
Im Mai 1943 beginnt Thomas Mann in seiner Villa in Pacific Palisades, dem
kalifornischen Exil, seinen Faust-Roman, Das Leben des deutschen Tonsetzers
Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Es ist sein ambitioniertester Text,
eine lange Erzählung zur deutschen Geschichte, über die deutsche Kunst, in
erster Linie die deutsche Musik, sein, Thomas Manns, eigenes Leben, und die
teuflische Verstrickung, in der sich Deutschland in der Vergangenheit und
Gegenwart gefesselt hat, ausweglos, wie der Roman insinuiert. Ein Buch über
Alles - so könnte man despektierlich sagen, und in der Tat leidet dieser immens
komplexe, ungeheuer anspielungsreiche und von alexandrinischer Bildung
überquellende Roman unter diesem Unmaß an Themen, Motiven, Verweisen und
ideellen, besser: ideologischen Konstruktionen. Ein kaum je noch zu
überbietendes „Sprachkunstwerk“, um es altmodisch zu sagen, aber auch ein
Text, der auf eher schwachen gedanklichen Füßen aufgebaut ist. Ich kann das
hier nur andeuten. Auch steht ja hier nicht der gesamte Roman zur Debatte,
sondern Adornos gedankliche Hilfe bei seiner Entstehung. Vereinfacht gesagt,
wird die Entstehung der „modernen“ Musik, also der (deutschen) des frühen 20.
Jahrhunderts, der politisch-gesellschaftlichen Entwicklung Deutschlands
parallelisiert. Und zwar so, daß der paradigmatische Künstler, eben der deutsche
Tonsetzer Adrian Leverkühn, den Stillstand seiner Kreativität überwindet durch
einen Pakt mit dem Teufel (Faust !!), im Roman symbolhaft verknüpft mit einer
syphilitischen Ansteckung. (Gestaltet nach Friedrich Nietzsche oder, besser
gesagt, nach dem gängigen Nietzsche-Mythos; denn ob er tatsächlich
syphilitisch infiziert war, muß für immer unklar bleiben, wie jeder Facharzt (z.B.
Dr. Gottfried Benn) wußte und weiß. Nur Thomas Mann war sich ganz sicher.
Künstler wissen nichts, aber alles besser.) Diese Intoxikation verhilft nun dem
„modernen“ Komponisten Leverkühn zu ungeahnten kreativen Aufschwüngen,
zu genialen Werken, zu esoterischem Ruhm unter einer winzigen FanGemeinde. Die Bedingung des Teufels: Er darf nicht lieben, „kalt“ muß sein
Leben sein, und am Ende wird ihn der Leibhaftige holen. Was im Kontext der
Syphilis bedeutet: Zusammenbruch und Paralyse.
Es ist also der alte Faust-Stoff, jedoch nicht in der Goethe-Variante, sondern
direkt bezogen von der Quelle, da wo alle Faust-Bearbeitungen ihren Ursprung
haben, dem Volksbuch aus dem Jahr 1587. Der Lohn, den der Teufel zahlt für
die arme Seele, solange sie eben noch auf Erden wandelt, ist die künstlerische
Produktivität, sind die neuen, unerhörten, die „modernen“ Musikstücke. Dies ist
der eine Strang des Romans, und er ist schon fragwürdig genug; denn Thomas
Mann setzt ja tatsächlich künstlerische Modernität und teuflische Verführung in
Eins, hier konkret die Zwölftonmusik mit dem Rat aus der Hölle. Arnold
Schönberg hatte so Unrecht nicht, als er verärgert fragte, was denn seine
Zwölftonmusik mit dem Teufel zu tun habe. Schönberg hat das Thomas Mann
sehr übel genommen; die ursprünglich einigermaßen freundschaftliche
Beziehung der zwei Emigranten zerbrach darüber und wurde nur mühsam und
oberflächlich kurz vor Schönbergs Tod (am 13. Juli 1951) wieder gekittet.
Der zweite ideelle Roman-Strang parallelisiert diesen plot (story), diese
Geschichte, mit der Welt-Geschichte (history), in erster Linie der Geschichte
Deutschlands im Kontext der allgemeinen Geschichte und der deutschen
Mentalität, wie Thomas Mann sie damals sah. Hier wird es, kurz gesagt, sehr
bald sehr fragwürdig, schon theorie-immanent, und dann besonders, wenn man
nach der Parallelität von Geschichte und der Existenz und der Kreativität
Leverkühns fragt. Daß sich Deutschland 1933 dem Teufel verschrieben habe,
mag man, legitimiert von poetischer Freiheit, in einem Roman behaupten,
wenngleich es wenig zu einer rationalen Analyse und eigentlich nur zu einer
Mystifikation, zu einer Mythifizierung beiträgt. Aber wie und wieso dieser
Teufelspakt auf gesellschaftlicher Ebene etwas zu tun haben könnte mit dem
individuellen Teufelspakt Leverkühns zur Komposition “moderner“, und das
heißt ja gerade hier: authentischer, „fortschrittlicher“ und die Tradition
deutscher, abendländischer Musik adäquat fortsetzender Musik - das ist doch
mehr als fragwürdig und als Konstruktion letztlich unhaltbar.
Und vollends kommt man, fast 65 Jahre nach dem Beginn der Niederschrift, ins
Grübeln angesichts einer Genealogie des Bösen, die sozusagen mit Martin
Luther beginnt und über die deutsche Romantik bis in die Gegenwart des
nationalsozialistischen Totalitarismus führt. So entsteht nicht bloß eine
Kollektiv-Schuld-These über die Jahrhunderte hinweg, ein entsetzlich platter
Schuld-Mythos, sondern bemerkenswerterweise nähert sich Thomas Mann
damit - die Extreme berühren sich interessanterweise auch hier - der
nationalsozialistischen Ideologie, nach der eben der Nationalsozialismus die
Krönung, die Vollendung aller positiven Tendenzen, Elemente und Ideen der
deutschen Kulturgeschichte sei. Seltsame Übereinstimmung - mit der sich
Thomas Mann übrigens von der gesamten deutschen Emigrantenszene entfernt
und sich extrem isoliert hat. Und wieso und warum entsteht aus der Tradition
des Bösen Leverkühns avancierte, „moderne“, authentische Musik?
Ich leite über zum Auftritt Theodor W. Adornos mit einer Tagebuchnotiz
Thomas Manns vom 22. Februar 1948, die unkommentiert hier wiedergegeben
sei: „Legte abends die alte Platte „Abendlich strahlt“ [Schlußszene aus
Wagners Rheingold, Monolog Wotans: „Abendlich strahlt / der Sonne Auge; / in
prächtiger Glut / prangt glänzend die Burg“] ein und war fast zu Tränen bewegt
von dem Gesang der Rheintöchter mit dem 'Traulich und treu ist's nur in der
Tiefe'. Gebe für diese Stelle allein die gesamte Musik Schönbergs, Bergs,
Kreneks und Leverkühns dahin.“
Nun endlich zu Adorno.
Bevor Thomas Mann ihn kennenlernte, hatte er wahrscheinlich nur einen Text
von ihm gelesen - den Kierkegaard-Aufsatz, „On Kierkegaards Doctrine of
Love“, im August 1940; so im Tagebuch, ohne Namensnennung und ohne
Angabe eines Bezuges zur eigenen Arbeit. Am 6. Juli 1943 verzeichnet das
Tagebuch einen Besuch Adornos, er überbringt ein musiktheoretisches Buch,
noch nichts von ihm selbst. Der persönliche Kontakt war entstanden durch Max
Horkheimer, der nur wenige Straßen von Thomas Mann entfernt in Pacific
Palisades wohnt. (Eigentlich konnte Thomas Mann den Max Horkheimer
persönlich gar nicht ausstehen, er schreibt ihn im Tagebuch fast immer
Horckheimer, was stets ein sicheres Zeichen für Verachtung bei ihm ist, und
äußert sich auch sonst eher despektierlich. Adorno war 28 Jahre jünger als
Thomas Mann und durchaus ehrerbietig, da fand es der Weltberühmte leichter,
Sympathie zu verströmen.)
Im Juli 1943 liest er dann im Manuskript Die Philosophie der neuen Musik . Von
da an ist der Jüngere der musikalische Lehrmeister des Älteren. Die
Tagebucheintragungen, Adorno betreffend, häufen sich, und die Niederschrift
des Doktor Faustus entwickelt sich über weite Strecken zu einer
Zusammenarbeit. Der Essay Die Entstehung des Doktor Faustus läßt vollends
an der Relevanz Adornos für die kompositorischen Partien des Romans keinen
Zweifel.
Worum geht es im einzelnen? Thomas Mann stand vor der selbstgestellten
Aufgabe, fiktive Kompositionen eines fiktiven Komponisten so darzustellen,
daß sie als Moment einer bestimmten Musik-Ästhetik und als integraler Teil
einer spezifischen Geschichts-Philosophie plausibel wurden. Einfach zu
schreiben: „... und dann setzte er sich an seinen Schreibtisch und komponierte
ein weiteres unsterbliches Werk ...“ wäre natürlich weit unter seinem Niveau
gewesen. Das Werk mußte jeweils so beschrieben werden, als existiere es, und
aus der genauen Beschreibung mußte die Relevanz für Leverkühn und für den
Stand der modernen Musik hervorgehen. Adorno war nun nicht bloß seiner
musiktheoretischen und musikhistorischen Kenntnisse wegen der ideale Helfer,
sondern auch, weil seine, also Adornos, Musikästhetik, erstens teleologisch
war, und zweitens, ganz im Sinne der Romantik und also Schopenhauers und
Nietzsches, die Musik in der dem Roman ebenfalls zugrundeliegenden KunstHierarchie an der Spitze der Künste steht, autonom und souverän ist.
Was bedeutet das? Ich habe im vergangenen WS 1999/2000 ausführlich
darzulegen mich bemüht, daß in der Ästhetik Arthur Schopenhauers, formuliert
in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung, 1815 – 1818, zum
ersten Mal in der abendländischen ästhetischen Diskussion, die Musik an die
Spitze der Künste tritt. Das Außerordentliche dieses Vorgangs kann ich hier nur
andeuten. Sie löst damit in der Hierarchie der Künste die Literatur ab, die über
viele Jahrhunderte, und vor allem in den Jahrzehnten der Aufklärung, diesen
Platz innehatte. Schopenhauers Hochschätzung der Musik, reiner Ausdruck der
Romantik, beruht auf ihrer Sprach- und Begriffs-Losigkeit, gerade darauf. Sie
ist eine emphatische Wiederholung der Welt, aber im Medium der
Willensreinheit. Mit anderen Worten: Musik ist die Welt noch einmal, aber in
der Freiheit einer kategorial differenten Form.
Wir erfahren durch sie Freude und Trauer, Euphorie und Melancholie, Erregung
und Entspannung, also die gesamte Skala der Affekte direkt und gleichzeitig in
einem anderen Zustand. Nur die Musik ist von allen Künsten wahrhaft
eigenständig, also autonom; alle anderen Künste tragen in sich und mit sich
immer noch die Spuren ihrer empirischen Fundierung, der sie entkommen sind,
aber eben nie gänzlich. Die trans-empirische Ordnung und Logik der Musik ist
der Garant ihrer Superiorität. Sie ist tiefste Erfahrung und Erlösung zugleich,
welthaltig und weltfremd in gleichem Maße.
Diese Schopenhauerschen Gedanken liegen, so will mir scheinen, auf dem
ideellen Grund des Doktor Faustus; sie sind Teil jener Ambivalenz, die
Leverkühns Kompositionen so charakteristisch und zeitgemäß machen. Sie
dokumentieren und transzendieren gleichermaßen Höllenfahrt und
Auferstehung, Verfallenheit an die Geschichte und Befreiung aus ihrer
mythischen Fatalität. Musik ist für Schopenhauer wie für Adorno die gegenmythische Kraft schlechthin, utopisch und real, Vorschein und Präsenz.
Aber sie ist auch, zumindest für Thomas Mann und seinen Adrian Leverkühn,
Teil des modernen Verhängnisses - eben weil sie dem historisch Bösen, dem
Faktischen (in Heideggers Terminologie: der Verfallenheit an das Seiende)
nicht eigentlich Widerstand leisten kann, also nicht auf der Ebene des
Empirischen existiert und eingreifend zu handeln in der Lage ist.
Darum parallelisiert Thomas Mann die deutsche Musik (Deutschland als Land
der Musik, die Musik als die deutscheste der Künste) der deutschen Politik, das
Unsprachliche dem ungezügelt Geschwätzigen. Daß dies nicht aufgeht, habe ich
schon behauptet und wiederhole es hier. Es wäre nur dann logisch, wenn die
radikal 'moderne', also die dodekaphone Musik Leverkühns (und Schönbergs)
ebenfalls in sich den Keim des Bösen und der Apokalypse tragen würde. Aber
Apokalypsis cum figuris, das krönende Spät- und Hauptwerk Leverkühns, 1926
uraufgeführt in Frankfurt am Main (!), ist eben eine künstlerische 'Offenbarung'
(Apokalypse), keine messianisch-eschatologische. Und Leverkühns letztes
Oeuvre, Dr. Fausti Weheklag, 1927 begonnen, das „ungeheure Variationenwerk
der Klage“, ist zwar höchste Gebundenheit und Freiheit im Innermusikalischen,
aber naturgemäß nicht ausgreifend ins Empirische.
So bleibt die Frage nach dem Status der Musik. Er ist in der Logik des Romans
zwar ambivalent, vielleicht widersprüchlich, aber nicht in der Theorie Adornos.
Denn seine Ästhetik ist, wie schon gesagt, teleologisch angelegt. Telos heißt:
Ziel; und teleologisch bedeutet folglich „zielgerichtet“. Es gehört zu den
Charakteristika des 20. Jahrhunderts, daß sich das politische Denken
weitestgehend in dichotomischen Kategorien abgespielt hat: links - rechts;
Demokratie - Diktatur; Proletariat - Bürgertum etc. Und, zentral: Fortschritt
- Reaktion. Die Gegensätze waren so gebräuchlich, daß nur ganz selten die
Frage gestellt wurde, ob diesen antinomischen idealtypischen Begriffen, die stets
wertend gebraucht wurden, eine Wirklichkeit zugrunde lag. Es waren
Kampfbegriffe, die den eigenen Standort geschichtsphilosophisch überhöhten
und den des Feindes herabsetzen, sozusagen unmöglich machen sollten.
Wobei sich das Oppositionspaar Fortschritt - Reaktion einer ganz besonderen
Beliebtheit erfreut hat. Es schien die eigene Position, die stets eine des
Fortschritts war, innerhalb der historisch konstruierten Heilsgeschichte,
elementar zu legitimieren und die der Opposition fundamental zu delegitimieren. Was „fortschrittlich“ war, war nicht nur ganz allgemein „an der
Zeit“, sondern im besonderen Moment eines Mythos: dem der Geschichte als
eines innerweltlich-messianischen Heilsvorgangs. Eine ursprünglich religiöse
Denk-Figur wurde im Gefolge der Französischen Revolution säkularisiert (so
wie viele religiöse Kategorien und Perspektiven) und damit Teil einer
weltimmanenten Erlösungs-Vision. In erster Linie im Marxismus. Er wurde
auch deshalb so denk-mächtig im 20. Jahrhundert, weil die ersten Jahrzehnte
grundiert waren von der Figur der „Erwartung“. Was im Poltischen bedeutet: die
Erwartung eines Ganz Anderen, des Reichs der Freiheit, der Herrschaft des
Proletariats oder der arischen Rasse. Und in der Kunst bedeutet es: eine
elementare Trennung in „fortschrittliche“ und „reaktionäre“ Kunst.
Problematisch ist dies nicht zuletzt deswegen, weil eine verbindliche Definition
dessen, was in der Kunst fortschrittlich sein soll, nicht wirklich möglich ist. „Die
Kunst ist immer am Ziel“ hatte Schopenhauer gesagt; aber in der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts schien diese Erkenntnis vergessen. Auch Adornos KunstDenken zentriert sich mutatis mutandis um die Kategorie des Progresses, aber
wesentlich nuancierter als in der dogmatischen Ästhetik orthodoxer Marxisten.
Die Kunst-Ideologie des „sozialistischen Realismus“ bestand ja in der
Amalgamierung der jeweils gültigen Parteitags-Beschlüsse mit dem
Oberflächen-Realismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das war dann
„fortschrittlich“, alles andere „bürgerlich“, „dekadent“ oder „formalistisch“ und darum „reaktionär“.
So primitiv geht es bei Adorno nun wahrlich nicht zu. Aber es bleiben die
unheilschwangeren Kategorien „fortschrittlich“ und „reaktionär“ - so in der
Philosophie der neuen Musik, wo Arnold Schönberg dem guten, Igor Strawinsky
dem bösen Prinzip zugeordnet wird. Beides hat zwar mit politischen Ideologien
nichts zu tun, definiert sich rein innermusikalisch, als Fortschritt in der
Materialbeherrschung und Ausweitung der kompositorischen Möglichkeiten,
aber Adorno verwendet eben doch jene Urteils-Figur der messianischen
Unterscheidung.
Wieder zurück zu den Kompositionen Adrian Leverkühns und Adornos Anteil an
ihnen. Zentral ist ihnen die Kompositionstechnik mit zwölf gleichberechtigten
Tönen innerhalb einer Oktave, was eine gleichberechtigte temperierte Stimmung
voraussetzt. Der Roman tut so, als habe Leverkühn das Verfahren, das die
Grenzen der Tonalität endgültig sprengt, selbst erfunden; natürlich waren dies
Arnold Schönberg und Joseph Maria Hauer. Die Dodekaphonie ist eine
Erweiterung der kompositorischen Möglichkeiten, mehr nicht, weniger nicht.
Ob man sie nun als gesteigerte Form des innermusikalischen Fortschritts, als
eine unter vielen Möglichkeiten kompositorischen Neu-Schaffens ansieht oder
als eine Sackgasse - das bleibt jedem zu entscheiden überlassen. Nur den
Fortschritt an und für sich darin zu erblicken und zu ideologisieren - das dürfte
heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, tiefste Vergangenheit sein. Im Roman ist
sie jedoch Moment der teleologisch ausgerichteten „Fortschritts“-Ideologie. Ihre
Gefahr liegt nun in der Konstruktivität, also der intellektuellen „Kälte“, die von
ihr ausgeht, auch durch die Distanz zu einer unmittelbaren Aufnahme.
Um diese Kälte zu erhitzen, bedarf es des Teufels. Worüber sich Schönberg
gewaltig geärgert hat, und nicht ohne Berechtigung. Freilich ist das Verhältnis
von Kalkül und Inspiration zentral für die meisten, wenn nicht alle, Werke der
sogenannten Moderne. Adorno hat da nur theoretisch unterfüttert, was für
Thomas Mann seit langem feststand. Leverkühns Zerrissenheit zwischen dem
„Ausdruck“ (romantisch) und den innerkünstlerischen KonstruktionsAnforderungen (intellektualistisch-modern) spiegelt die Zerrissenheit der
Gegenwart der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Adorno verschärft die romantische Idee vom einsamen, der Masse
notwendigerweise entrückten und einer unentrinnbaren existentiellen Kälte
anheimfallenden Künstler, die schon im Tod in Venedig Teil einer pathetischen
Feier der eigenen Auserwähltheit gewesen war, hin zur Theorie einer
monadologischen Kunst. Sie kann ihre Autonomie nur bewahren als eine
gesteigerte, sich gegen Welt und Geschichte bewahrende Einsamkeit. Und zwar
so, daß sie Welt und Geschichte in sich aufnimmt, verwandelt und zu reiner
Form werden läßt.
Der isolierte Künstler ist nicht notwendigerweise ein einsamer Mensch, aber ein
selbst-zentrierter.Thomas Manns Leverkühn, in manchem gebaut nach dem
Vorbild Friedrich Nietzsche, verkörpert nicht bloß die monomanische Hingabe
an die Kunst, sondern auch diese Selbst-Zentriertheit als Folge künstlerischer
Radikalität. Leverkühn ist, als Geschöpf beider, Thomas Manns und Adornos,
der unerbittliche Kämpfer gegen die heranrollende Flut der „Kulturindustrie“ der ewigen und jetzt, vermeintlich oder tatsächlich, besonders bedrohlich
werdenden Idee und Realität der Kunst als Amusement. Adornos Kunst-Begriff
ist von mönchischer Strenge. Nur durch asketische Versenkung in die Gesetze
der Form können sich Schöpfer und Rezipient der Wahrheit des Ästhetischen
nähern. Die religiösen Parallelen sind evident. Die Kunst ist, im Gefolge der
Romantik, ein Absolutes ohne Transzendenz, ist die weltimmanente Epiphanie
einer Sphäre jenseits des Empirischen. Wie bei Schopenhauer und Nietzsche,
nur radikaler und ohne jedwede Erlösungs-Hoffnungen.
So geht denn auch der einsame Künstler Leverkühn elend zugrunde. Der
Fragwürdigkeit der Konstruktion war sich Thomas Mann auf einer Ebene seines
ästhetischen Bewußtseins durchaus im klaren. Im XXV. Kapitel läßt Thomas
Mann den Teufel selbst auftreten, in unterschiedlicher Gestalt. Seine zweite
Variante sieht so aus: „Sah ich recht hin, kam er mir verschieden vor gegen
früher; saß da nicht länger als Ludewig und Mannsluder, sondern, bitte doch
sehr, als was Besseres, hatt einen weißen Kragen um und einen Schleifenschlips,
auf der gebogenen Nase eine Brille mit Hornrahmen, hinter dem feucht-dunkle,
etwas gerötete Augen schimmern, - eine Mischung von Schärfe und Weichheit
das Gesicht: die Nase scharf, die Lippen scharf, aber weich das Kinn, mit einem
Grübchen darin, ein Grübchen in der Wange noch obendrein, - weich und
gewölbt die Stirn, aus der das Haar wohl erhöhend zurückgeschwunden, aber
von den Seiten dicht, schwarz und wollig dahinstand, - ein Intelligenzler, der
über Kunst, über Musik, für die gemeinen Zeitungen schreibt, ein Theoretiker
und Kritiker, der selbst komponiert, soweit eben das Denken es ihm erlaubt.
Weiche, magere Hände dazu, die mit Gesten von feinem Ungeschick seine Rede
begleiten, manchmal zart über das dicke Schläfen- und Nackenhaare streichen.
Dies war nun des Besuchers Bild in der Sofaecke.“ (S.321) Und dieser
Besucher als Teufel, dieser Teufel als Besucher ist niemand anderer als Theodor
W. Adorno.
Theodor W. Adorno: Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins
Theodor W. Adornos Essay zur späten Lyrik Friedrich Hölderlins stammt aus
dem Jahr 1963. Er ist Teil einer ausführlichen Auseinandersetzung mit Martin
Heidegger, die im Jargon der Eigentlichkeit, 1964, und der Negativen Dialektik,
1966, gipfelt. Für Heidegger wie für Adorno ist Friedrich Hölderlin einer der
überragenden deutschen Lyriker (für Heidegger der Lyriker schlechthin). Beide
verschmähen die in den späten 60er und 70er Jahren modische Perspektive auf
Hölderlin als explizit politischen Revolutionär, deutschen Jakobiner und von der
Zensur in eine religiöse Meta-Sprache gedrängten säkularen Radikalen. Adorno
wie Heidegger insistieren auf der tiefverwurzelten philosophischen Reflexivität
Hölderlins als Grundlage für sein „Denken des Seins“ (Heidegger) und/oder sein
„Denken des Nicht-Identischen“ (Adorno).
Adornos Essay besteht aus drei Teilen. Im ersten, einleitenden, wird die
prinzipielle Frage nach der Legitimität philosophischen Interpretierens gerade
dieser Lyrik gestellt. Im zweiten Teil setzt sich Adorno polemisch mit
Heideggers Hölderlin-Studien auseinander. Im dritten Teil entwickelt Adorno
seine Sicht auf Hölderlins Spätwerk; ausgehend von der parataktischen Struktur
der späten Gedichte.
Der zentrale Aspekt des ersten Teils ist die reflektierte Distanzierung zum
Verfahren der Rekonstruktion der Autor-Intention. Daß ein Suchen nach ihr
höchst fragwürdig ist, hat sich herumgesprochen. Ein Text besitzt stets ein
Eigenleben, jenseits des manifesten und rekonstruierbaren Wollens des KünstlerSubjekts. Je künstlerischer ein Kunstwerk, desto weniger ist es erschließbar über
eine Intention. Daß freilich Adorno an ihre Stelle „die objektive Wahrheit“ setzt,
eröffnet eine neue Welt von Fragen. Es ist eine Denkfigur Adornos, die benannt
werden kann als Zentralisierung der Wahrheit der Form, sofern sie mit der
geschichtlichen Stunde in empathetischer Korrespondenz steht. Dieser
„Wahrheitsgehalt“ grundiert in einer radikaler Opposition zu den Produkten der
Kulturindustrie und dem Geschmack der Vielzuvielen - „schon ihre zahl ist
frevel“ (Stefan George, von Adorno durchaus geschätzt).
Mithin - so kann ohne Übertreibung und deskriptiv gesagt werden - ist dieser
Begriff der Kunst elitär. Er muß es sein, verbietet es doch der gesellschaftliche
„Verblendungszusammenhang“ (einer von Adornos Lieblingsbegriffen; er
meint: ein mystisches Verhängnis, aus dem es keinen Ausweg gibt und geben
kann), daß diese Vielzuvielen ihrer Lage innewerden. Was dann geschehen
könnte, bleibt freilich offen. Einer der Gründe für das Zerwürfnis zwischen
Adorno und den 68er Studenten. Der elitäre Kunstbegriff Adornos verbindet ihn,
stärker als es ihm selbst lieb gewesen sein dürfte, mit der unter Künstlern und
Intellektuellen weitverbreiteten aristokratischen Aversion gegen die Massen und
ihren Geschmack; unabhängig von der marxistischen Ideologie, der die meisten
von ihnen anhingen oder anzuhängen glaubten. Lukacs Kritik an Adorno hatte
zumindest in diesem einen Punkt nicht unrecht („Grandhotel Abgrund“), ist
aber im Zentrum natürlich indiskutabel.
Adornos philosophischer Versuch, die avancierte Kunst als utopischen Vorschein
einer besseren Existenz nicht nur ästhetisch zu legitimieren, sondern auch als
das objektiv Wahre zu rechtfertigen gegenüber Kulturindustrie und
stalinistischem Agitprop, vermag heute nicht mehr zu überzeugen. Der aus
dieser insistenten Verbindung von Kunst und objektivem Wahrheitsgehalt
entstehende kompromißlose Manichäismus (fortschrittlich - reaktionär,
authentische Kunst - Kulturindustrie/Massengeschmack) wirkt heute verbohrt,
pathetisch und ohne Gefühl für den flüchtigen Charme des Nicht-Radikalen,
Nicht-Fortschrittlichen (in erster Linie in der Musik).
Auch die oberlehrerhafte Herablassung, mit der Adorno den sogenannten
Massen-Geschmack als Teil des universalen Verblendungszusammenhangs
abkanzelt, als objektiv falsche Befriedigung subjektiv wahrer Bedürfnisse,
erscheint heute nur noch als quasi-diktatorische Attitüde des Philosophen als
Geschmacks-Richters. Auch der nachvollziehbare Schock angesichts der
infantilen und infantilisierenden Kultur-Industrie der USA der 30er und 40er
Jahre legitimiert nicht die Selbst-Inthronisation des europäischen (deutschen)
Ästhetikers als arbiter artis.
Der zweite Teil wendet sich Heideggers Hölderlins-Deutungen zu. Er läßt an
ihnen, wie man zu sagen pflegt, kein gutes Haar. Gleichwohl sind die zentralen
Kritikpunkte nicht unplausibel. Adorno moniert zentral Martin Heideggers
Gleichgültigkeit gegenüber dem spezifisch Dichterischen der Hölderlinschen
Lyrik. Zu rasch siedele er sie an in der Tradition der Gedankenlyrik Klopstocks
und Schillers. Schließlich werde Hölderlins komplexe Beziehung zwischen
Heimat und Fremde, Patriotismus und Exotismus allzu rasch hineingezwungen
in Heideggers Konzeption von Ursprung und autochthoner Zugehörigkeit.
Zudem reiße Heidegger Hölderlin aus dem Kontext des deutschen Idealismus,
als der philosophischen Auseinandersetzung des Denkens mit der Epoche.
Adornos eigene Interpretation folgt nun im dritten Teil. Man kann sie nicht auf
eine These reduzieren. Einerseits bemüht er sich, die Literarität der Gedichte
ernst zu nehmen, andererseits unterliegt auch er der Versuchung, sehr rasch
abzuheben vom Wortlaut des Gedichts in die Sphäre gedanklicher Höhen. Nicht
fundamental anders als Heidegger. Wie denn überhaupt die Unterschiede in
beider Hölderlin-Verständnis so sehr groß gar nicht sind.
Parataxis - der griechische Begriff, der dem Essay den Titel gibt - also das
Prinzip der Aneinanderreihung von Hauptsätzen, im Gegensatz zur Hypotaxe,
der Unterordnung von Sätzen. (Mein griechisches Wörterbuch sagt zu
parataxis allerdings nur: Aufstellung, Schlachtordnung, Feldschlacht.) Parataxe
ist charakteristisch für Hölderlins Spätwerk, weil es der formale Ausdruck der
Rebellion gegen logische und begriffliche Hierarchien ist. Es ist ein antiklassizistisches Verfahren zur Negierung von Über- und Unter-Ordnungen.
Interessant ist, daß Adorno die Herkunft dieses Stilprinzips nicht nur, und nicht
primär, auf den griechischen Lyriker Pindar zurückführt, wie dies meist der Fall
ist, sondern auch auf eine psychologische Eigenart des Autors Hölderlin selbst.
Hölderlins Schicksal habe anfangs nicht unter dem Zeichen der Rebellion
gestanden, sondern unter dem der verinnerlichten Abhängigkeit, in erster Linie
der Familie gegenüber. Aus dieser Fügsamkeit heraus habe er die Ideale, die
man ihn lehrte, gläubig internalisiert, und, schließlich zur Überzeugung gelangt,
daß unsere Welt gänzlich anders ist als die Ideale, versucht, diesen Idealen bis
zum existentiellen Konflikt mit der Empirie treu zu bleiben, bis zum Ende. „Die
Sublimierung primärer Fügsamkeit aber zur Autonomie ist jene oberste
Passivität, die ihr formales Korrelat in der Technik des Reihens fand. Die
Instanz, der Hölderlin nun sich fügt, ist die Sprache.“ (S.475)
Man kann das plausibel finden oder nicht - richtig dürfte sein, daß die
parataktische Struktur des Spätwerks einer simplen logischen Hierarchisierung
widerspricht. Man könnte auch sagen: einer Subordination unter heterogene
Zwecke. Das enigmatische Spätwerk ist eben nicht in erster Linie Gefäß einer
begrifflich chiffrierten und darum dechiffrierbaren Philosophie, einer gleichsam
aus einem Gefäß zu befreienden Gedankenwelt im Sinne Heideggers, sondern
die unmittelbare Erfahrung des Heterogenen, des logisch nicht Subsumierbaren.
Denn ähnlich wie bei Nietzsche sind auch die späten Texte Hölderlins „Werke
des Zusammenbruchs“ (Karl Schlechta), kühne Korrespondenzen, deren
Radikalität eben nicht in philosophische(r) Sprache geglättet werden kann.
Parataxis heißt dann auch: Niederschrift einer übermächtigen Realität in ihrer
Gleichrangigkeit.
An diesem Punkt des Essays tritt ein vertrautes Motiv auf die Bühne der
Adornoschen Argumentation: die These von der Kunst als dem Einspruch wider
die pragmatische Logik der modernen abendländischen Naturbeherrschung. Eine
bemerkenswerte Parallele zu Heidegger. Hier wie dort wird die Kunst begriffen
als Moment eines Zustandes jenseits aller lebensweltlichen Ordnungen - eine
Neu-Ordnung der Dinge ohne Zwang und Telos. Es ist das, was bei Heidegger
als das undefinierbare „Sein“ durch die Schriften geistert. Bei Adorno heißt das
„das Nicht-Identische“. Und hier im Kontext Hölderlin: „Philosophie ist [... ]
das Bewußtsein von Nichtidentität, das den Identitätszwang des Logos
überflügelt“ (S.482). Ein zentraler Satz. Hölderlins späte Lyrik, so lese ich ihn,
hat ihre Größe in der sprachlichen Realisation des Nicht-Identischen, dem
unbeschreibbaren Kern der Kunst. Dieses Nicht-Identische ist die Essenz der
Kunst angesichts der modernen funktionalen Welt-Beherrschung, angesichts des
„Identitätszwanges“. Die Kunst verweigert sich dieser Logik. Ihr Logos - ihre
Rede, ihr Sinn, ihr Weltverhältnis - siedelt in einer letztlich utopischen Sphäre,
die nicht zu benennen, wohl aber durch eine („willensreine“ würde
Schopenhauer sagen) Versenkung in die Wahrheit des Kunstwerkes zu erfahren
ist.
In seiner Ästhetischen Theorie, postum erschienen 1970, schreibt Adorno:
„Kunstwerke sind vom Identitätszwang befreite Selbstgleichheit.“ (ÄT, S.190)
Das bedeutet, daß die Kunst eine Form der bestimmten Negation darstellt, eine
Negierung der Welt-Logik ist, ein bestimmter Akt der Hervorbringung einer
neuen Wahrheit. Diese Wahrheit ist das Nicht-Identische der Kunst.
Große Worte, könnte man sagen, große Sätze einer weitestgehend vergangenen
Kunst-Gläubigkeit, Spätest-Romantik. Kunst als Absolutes ohne Transzendenz.
Das Pathos des Unaussprechlichen angesichts der Schrecken der Geschichte.
Daß Hölderlin einer Epoche zugehört, die an eine Versöhnung von Mensch und
Natur, Mensch und Geschichte, von Individual- und Kollektiv-Schicksal
geglaubt hat, scheint mir sowohl bei Heidegger wie bei Adorno nicht
zureichend bedacht. Heideggers Idee einer Welt-Mitternacht, die es hoffend
durchzustehen gilt, ist zwar kompatibel mit Hölderlins Zeit der Götterferne, aber
der Dichter hat sich eine Realisation seiner messianischen Träume innerhalb
seiner Zeit erwartet - eine unpolitische Spekulation fernab jeder Wirklichkeit.
Adornos Hölderlin ist textnäher als der Heideggers, auch näher der
(idealistischen) Philosophie der Zeit um 1800. Gleichwohl scheint mir die
Deutung des Frankfurter Groß-Ordinarius ähnlich bedenklich wie die des
Freiburger Groß-Ordinarius. Primär deswegen, weil beide, aber besonders
Heidegger, nach einem Dichter Ausschau halten, der ihr jeweiliges Denken
antizipiert, in großer Lyrik eingeschlossen und so tradierbar gemacht hat.
Heideggers Hölderlin denkt nicht viel anders als Heidegger. Adornos Hölderlin
denkt nicht viel anders als Adorno. Zwar moniert Adorno mit Recht, daß
Heideggers Zugriff die Literarität der Texte Hölderlins gleichsam umgeht, um zu
einem Kern vorzustoßen, den der Denker für das Zentrum hält. Aber auch
Adornos Essay ist sehr bald in den Höhen philosophischer Spekulation.
Merkwürdig zudem ist, daß er die Elegie Brot und Wein ignoriert. Denn gerade
hier entwirft Hölderlin seine geschichtlich-anthropologische Utopie, die mir
wesentlich dezidierter zu sein scheint und zudem konkreter als die von Adorno
beschworene „Versöhnung“, die damit verglichen blaß, ja beliebig erscheint.
Sowohl Heideggers wie Adornos Arbeiten zu Hölderlin sind, trotz aller an ihnen
zu übenden Kritik, bedeutende Versuche einer Standortbestimmung seiner
Lyrik. Indem sie sich auf das lyrische Spätwerk beschränken, können sie
frühere Aspekte seines Oeuvres, also auch Veränderungen und Zuspitzungen,
nicht in ihre Gedankengänge einbeziehen. So bleibt der Hölderlin beider
statischer als er gewesen ist. Ihr größtes Verdienst liegt, denke ich, darin, seinen
exzeptionellen Rang in der Geschichte der deutschen Dichtung erkannt und
benannt zu haben. Neuere Arbeiten, etwa die Kommentare von Manfred Frank
und Jochen Schmidt, haben eine Fülle von vordem übersehenen oder nicht
angemessen bewerteten Nuancen und historischen Bezügen herausgearbeitet,
aber auch sie profitieren von den bahnbrechenden Reflexionen Heideggers und
Adornos.
Joseph von Eichendorff
Es mag überraschend erscheinen, daß Theodor W. Adorno, der Prophet der
Avantgarde und des gebrochenen Verhältnisses zur Tradition, nicht nur
Hölderlin, sondern auch dem Spätromantiker Joseph von Eichendorff (1788 –
1857) einen zutiefst affirmativen, ja beinahe verklärenden Essay (ursprünglich
ein Vortrag für den WDR aus Anlaß des hundertsten Todestages Eichendorff im
Jahr 1957) gewidmet hat. Dies ist freilich nicht wirklich verwunderlich. Nicht
nur erweist sich die gesamte Kunst-Konzeption Adornos romantischen
Vorstellungen verpflichtet; besonders seine Theorie der Musik als der Erlöserin
vom Fluch des gesellschaftlichen Verblendungszusammenhangs verweist auf
ästhetische Theorien der Romantik. In ihnen sind Musik und Lyrik eng
verwandt. Lyrik verstanden als Ausdruck einer metaphysischen Heimatlosigkeit,
einer Sehnsucht hin zum Unnennbaren, zum Nächtig-Dunklen, zu jenem
geheimnisvollen Nicht-Identischen, von dem ich schon gesprochen habe.
Bevor er seine Affinität zur Hochblüte der Spätromantik darlegt, fühlt sich
Adorno gedrängt, kurz zu begründen, warum er sich mit Eichendorff
auseinandersetzt. Denn die meisten Verehrer des Dichters sind, horribile dictu,
„Kulturkonservative“ (S.70). Nun könnte man heute auch und gerade Adorno
unter diesem Begriff subsumieren, aber das war am Ende der 50er Jahre so noch
nicht erkennbar. Adorno stand für Avantgarde, Radikalität, „kritische Theorie“
(=Marxismus der feinen Leute). Von dem „Kulturkonservativismus“ seiner Zeit
sich zu distanzieren, ist ihm ein „Anliegen“ (auch wenn er eigentlich das Wort
als Teil des Jargons der Eigentlichkeit verabscheut). Denn Eichendorffs Lyrik ist
von oberster Qualität - das ist die teils offen ausgesprochene, teils nur
angedeutete Prämisse des Essays. Insofern spielt es keine Rolle, ob auch
„Kulturkonservative“ zu den Verehrern Eichendorffs gehören. (Wirklich
interessant ist an diesen Einleitungsgedanken nur die Angst, von der
sogenannten falschen Seite Beifall zu bekommen. Schon die Metapher eines
'Beifalls von der falschen Seite' verrät ein Verhaftetsein in jenem dualistischen
Denken, das charakteristisch ist für die gesamte erste Hälfte des 20.
Jahrhunderts, nicht nur für Adorno. Dies am Rande.)
Der Versuch einer Rettung Eichendorffs aus den Händen derer mit dem falschen
Bewußtsein (ausnahmsweise kann er Heidegger hier nicht meinen, denn der hat
sich nie zu Eichendorff geäußert) muß die Scheinhaftigkeit jedweder
Zuordnung seiner Gedichte zu Kategorien wie 'Ursprung', 'Zauber',
'Geborgenheit' oder 'Weltflucht' aufzeigen. Er muß die Relevanz der Gedichte
auf andere Prinzipien und Erfahrungen gründen. Eichendorff ist ihm nicht „der
Dichter der Heimat, sondern der des Heimwehs“ (S.73). Was bedeutet: Seine
Gedichte sprechen nichts Unmittelbares aus („Heimat“), sondern sind
Manifestationen einer Sehnsucht nach einer Welt vor oder jenseits unserer
empirischen.
Das ist zwar nicht gänzlich neu, aber immerhin rückt er damit Eichendorff in die
Nähe der Frühromantik. Gleichwohl bleibt der Adlige politisch ein
Konservativer. Aber einer, dessen Realitätssinn das Neue nicht apriorisch
ablehnt, sondern die Notwendigkeit gesellschaftlicher Entwicklungen akzeptiert,
sie also weder dämonisiert noch verklärt.
Dem verschwistert, so Adornos Gedankengang, ist die spezifische Utopie
Eichendorffs, eine umfassend erotische. Dies meint nicht sexuelles Glück in der
Vereinigung, sondern ist die Sehnsucht nach dem Unendlichen im IrdischBegrenzten. Das Erotische wird so zur Allegorie des Glücks. Das Erotische
erscheint als Liebe zur Welt und den Dingen, nicht nur als sinnlich-bejahende
Erfahrung eines menschlichen Gegenüber. Die Affinität dieser Entgrenzung
zum Strom der dichterischen Sprache, zur Transzendierung des Ich („Und ich
mag mich nicht bewahren!“), sind evident. Das lyrische Ich in den Gedichten
Eichendorffs ist ein seiner selbst vergessenes, lebenssüchtig und todesverfallen.
Daß hier Adorno, versteckt hinter dem einfühlsamen Portait Eichendorffs und
seiner Poesie, seine eigene persöhliche Utopie andeutend entfaltet, ist jedem
deutlich, der andere literatur- und musikwissenschaftliche Texte von ihm kennt.
Ich sagte ganz zu Beginn meiner Sätze über Adorno, daß die Erfahrung einer
erfüllten, im besten Sinn behüteten Kindheit jene Zone der psychischen
Unverwundbarkeit geschaffen haben dürfte, die ihn vor den schlimmsten
Erschütterungen seines Selbstwertgefühls geschützt hat - und die, sublimiert
und transportiert, in der Sphäre der Kunst, besonders der Musik, wiederkehrt.
Eichendorffs in Kunst verwandeltes Heimweh, die Sehnsucht nach existentieller
Nähe und Entgrenzung, scheint mir ein Analogon zu sein zu Adornos Idee von
der Kunst als der vom Identitätszwang befreiten Sichselbstgleichheit (ÄT,
S.190). Es ist eine gleichsam entkörperlichte Erotik, die das Ich vor der
Zerstörung durch die Empirie bewahrt und ihm die Worte gibt, zu sagen, was es
leidet.
In Eichendorffs Verfahren erkennt Adorno sein eigenes Verhältnis zur
Außenwelt wieder. Das eigentümlich Abstrakte der scheinbar so konkreten Lyrik
steht in untergründiger Beziehung zur frühromantischen Identitätsphilosophie.
In seinen Gedichten verleiht er den Dingen „die Kraft des Bedenkens“: Ihre Welt
ist keine realistisch abgeschilderte, sondern eine symbolhaft-bedeutungsvolle.
Zutiefst romantisch ist Eichendorff, weil in seiner Lyrik die Sprache keinen
funktionalen Weltbezug herstellt, sondern Mensch und Ding beseelt und
verzaubert. Dies ist eine Definition von Kunst: im Allgemeinen ein Besonderes
und im Besonderen ein Allgemeines entstehen zu lassen. Eine Kunst, deren
Autonomie sich von der Empirie getrennt hat und existiert als Ausdruck der
perennierenden Suche nach dem Glück.
So verstanden spricht Eichendorff von jenem Ursprung, der das Ziel allen
romantischen Strebens ist, eine Rückkehr zu den paradiesischen Anfängen, die
im Leben naturgemäß verloren gehen und nur in der Phantasie, in der Kunst
rekonstruierbar sind. So endet Adornos Vortrag mit einer Interpretation von
Robert Schumanns Lieder nach Gedichten Eichendorffs, op.39. Es ist eine
Interpretation in zweierlei Bedeutungen: im deutenden Wort und als
Vergegenwärtigung der musikalischen Notation. So findet zusammen, was in der
romantischen Theorie ungeschieden war und nur schuldhaft im Prozeß der
menschlichen Subjektwerdung getrennt wurde - Sprache und Musik, das Wort
und die Bedeutung, Unmittelbarkeit und Reflexivität. So wird die Lyrik
Eichendorffs zum Paradigma nicht einfach nur der Wort-Kunst, sondern der
einzig vorstellbaren innerweltlichen Utopie: einer Glücks-Erfüllung ohne Schuld
und Trauer.
Ich versuche eine Zusammenfassung der Adornoschen Kunst-Theorien, anhand
der schon erwähnten Texte, aber auch der Ästhetischen Theorie, 1970. Es geht
dabei um ein Ineinander von transhistorischen Einsichten und zeitbedingten
Frontstellungen. Adornos zentrales Theorem von der Autonomie der Kunst
bedarf denn doch einer näheren Erläuterung. Entgegen dem ersten Anschein.
Denn schon die romantische Genie-Ästhetik, kulminierend in der KunstPhilosophie Schopenhauers, hatte das Kunstwerk aus den jahrhundertealten
normativen Vorschriften befreit und an die Logik der je eigenen Form gebunden.
Die Regeln bilden sich nun im einzelnen Werk, nicht in der Folge tradierter
Systeme und Autoritäten. Der dadurch entstehende Innovations-Druck (jedes
Kunstwerk muß ein neues sein) spitzt sich dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts
immens zu. Jede künstlerische Arbeit wird zu einer Gratwanderung zwischen
Gelingen und Scheitern. Gleichzeitig wird dieses Autonomie-Postulat attackiert
von den totalitären Polit- und Gedanken-Systemen. Ihr Ideal der Kunst ist
gebunden an eine vorgängige Ideologie und an übergeordnete Prinzipien. Und
schließlich an staatliche oder quasi-staatliche Macht-Institutionen.
Zuwiderhandlungen werden sanktioniert, in nicht wenigen Fällen mit dem Tod.
Was zwar für die Kraft der Kunst spricht, aber doch nicht in dem Sinne, den sich
die Künstler wünschen.
Adornos Insistenz auf der Autonomie der Kunst richtet sich also gegen
politische Bevormundung durch Marxismus und Nationalsozialismus, aber auch
gegen das reflexionslose Tradieren vertrauter Formen und Inhalte. Autonomie
heißt bei ihm gleichfalls: Einsicht in den Stand der ästhetischen Entwicklung,
Bejahung des Fortschritts und der Modernität. Über das Fragwürdige des
Fortschritts-Begriffs habe ich bereits gesprochen. Das Autonomie-Postulat ist
darüberhinaus zu begreifen als künstlerischer Einspruch gegen die prinzipielle
Übermacht der gesellschaftlich-empirischen Faktizität. Die Nähe Adornos zu
Heidegger in diesem Punkt ist besonders bemerkenswert. Heideggers Diagnose
der Gegenwart als der Epoche der Götterferne und der Seinsvergessenheit
siedelt in einem Purgatorium zwischen säkularisierter Sündenverfallenheit und
weltimmanenter Hoffnung. Hoffnung auf eine, nur von außen kommende,
Transzendierung dieser Verfallenheit an das Seiende.
Bei Adorno klingt das natürlich anders, aber sein Sprechen vom
Verblendungszusammenhang, dem Verschwinden des Individuums, der
geschichtlich vermittelten Erfahrung der Apokalypse (Auschwitz) visiert in
ähnlicher Weise eine Metaphysik des Verfalls und der schuldhaften Verfallenheit
an die Empirie an. Das Ganze ist das Unwahre - so Adorno in Umkehrung
Hegels. In dieser gnostischen Total-Verdammnis der gesellschaftlichen
Faktizität, in dieser Metaphysik der Dunkelheit konvergieren Heidegger und
Adorno. Und beiden ist die Kunst, im Gefolge Schopenhauers und Nietzsches,
neben der Philosophie, der einzige Ort der Rettung.
Ihre, der Kunst, Logik des Abstandes zur Realität der Welt, ihr Sein als
Emanation des Nicht-Identischen gewährt die Erfahrung des Bruches mit der
falschen Empirie. Somit bedeutet Autonomie der Kunst nicht nur Distanz zur
Geschichte im allgemeinen und zur künstlerischen Vergangenheit im
besonderen, sondern ist im emphatischen Sinn die Gewißheit einer Existenz, die
in der Welt ist, aber nicht von dieser Welt.
Große Worte, auch dies. Säkularisiert religiöse zudem. Aber vielleicht läßt sich
Kunst nicht anders legitimieren, will man sie überhaupt legitimieren und nicht
nur als ein Phänomen unter vielen anderen beschreiben. Es ist daher
verständlich, daß Adorno durchgängig einer vulgären Soziologisierung der
Kunst eine kategorische Absage erteilt. Alle die Fragen nach dem Standort der
Kunst in der Gesellschaft sind an sich legitim, aber dem Wesen der Kunst nicht
adäquat. Autonomie der Kunst meint nicht Autarkie, sondern die Freiheit von
heterogenen Gesetzen. Mithin verfehlt das Wesen der Kunst, wer sie anderem
zu- oder unterordnet. Gerade die Lyrik zeigt dies. Ihre Freiheit ist eine von der
Gesellschaft; ihre Beziehung zur Gesellschaft ist das Resultat ihrer
monadologischen Homologie. Das bedeutet: Im Kunstwerk wiederholt sich die
Welt in ihrem Wesen und in ihren Formen, aber eben auf ihre Weise, in ihrer
Logik und in ihrer Bildlichkeit. Also nicht in naturalistischer Mimesis (wie es
auch die Lukacssche Widerspiegelungstheorie gefordert hatte als Kombination
von Oberflächenrichtigkeit und ideologischer Gesinnung), sondern geleitet von
ihrem künstlerischen Formgesetz. Eine so verstandene Kunst läßt sich nicht in
diskursiver Sprache darstellen. Darum spricht Adorno an vielen Stellen seines
Oeuvres vom „Rätselcharakter der Kunst“. Natürlich bedeutet das nicht, man
könne gar nicht über Kunst reden. Aber ein Sprechen von der Kunst, also die
Ästhetik, darf nicht vorgeben, das Kunstwerk de-chiffriert zu haben. Dann wäre
es überflüssig. Das über alles Begreifen Hinausgehende entzieht sich dem
begrifflichen Verstehen.
Dieses Nicht-Identische der Kunst führt, um es jetzt mit Heidegger zu sagen, auf
jene Lichtung des Seins, auf der wir in einer anderen Sphäre sind als sonst.
Beider Ästhetik ist durchaus eine Feier der Kunst. Sie rückt damit nicht nur in
eine privilegierte Erkenntnis-Position, sondern auch und in erster Linie in die
Nähe der emphatischen Vorstellung Hölderlins vom „Fest“ als des Eingedenkens
und der sinnlichen Erfahrung eines höheren Zustandes, der erinnert an die
Epiphanie des Göttlichen.
Adorno scheut zurück vor solchem oder ähnlichem Vokabular. Aber seine
Konzeption einer Ästhetik der Negation, die negative Theologie, die sich
dahinter unausgesprochen verbirgt, verweist, eben durch die Figur der
Verneinung und des Schweigens, auf eine Position, in der die Kunst als
Statthalterin des Wahren vorausdeutet auf eine gesellschaftliche Utopie dessen,
was Adorno „das richtige Leben“ nennt und das er in der falschen Totalität des
modernen Verblendungszusammenhangs nicht erkennen konnte.
Ähnlich wie bei Schopenhauer und Nietzsche ist es die Musik, die als sprachlose
Kunst besonders intensiv vom Wesen des Menschen kündet und von einer
Sphäre jenseits dieser Welt. Vielleicht auch darum fällt Adorno überaus harte,
von heutiger Position aus: ungerechte, Urteile über viele Komponisten, vor
allem des 20. Jahrhunderts, über die sogenannte U-Musik und über alles, was er
der Kulturindustrie zuschlagen zu müssen glaubte (Jazz, Beatles!). Eine Musik,
die nicht den strengsten Ansprüchen zu genügen schien, hatte sozusagen kein
Existenzrecht.
Innerhalb der Literatur ist es die Lyrik, die den Kern der Kunst ausmacht oder
ihm am nächsten kommt, weil sie am weitesten von der Empirie entfernt ist.
Die Ferne zum Faktischen bedeutet freilich nicht, daß die Lyrik außerhalb aller
Beziehungen zur Gesellschaft steht. Das Gesellschaftliche an ihr ist gerade das
Pathos der Distanz zur Welt als des Ausdruck des Verblendungszusammenhangs.
Dagegen entfaltet die Lyrik ihren Anspruch, Moment eines „Unentstellten“
(S.50) zu sein. Adorno nähert sich hier der Position Stefan Georges, dessen
aristokratische Resistenz gegenüber allem Trivialen und Mehrheitsfähigen nicht
sehr entfernt ist von Adornos Idee des „Authentischen“. Gerade weil Lyrik frei
ist von Handlung (von der Mischform der Ballade abgesehen), ist sie in der
Lage, dem Falschen dieser Welt eine andere Seinsform entgegenzuhalten. Der
Bruch zwischen lyrischem Ich und Empirie wird von Adorno nicht beklagt,
sondern verstanden als Signum einer Möglichkeit, aus dem falschen Leben
auszubrechen und die Ahnung eines Anderen zu erfahren. Somit ist nicht
Agitprop, der „sozialistische Realismus“, der wahre Protest gegen die schlechten
Verhältnisse, sondern der insistente Wille zur Form und zur freien Aussprache
des Ich.
Lyrik ist also ein unwillkürlicher und geformter Indikator, ein Ausdruck
gesellschaftlicher Zustände. (Man kann den Eindruck daher nicht abschütteln,
daß ihm besagter Stefan George sein Leben lang näher gestanden hat als Bertolt
Brecht.) Auch Adornos Ästhetik beruht auf einem Mythos der Sprache
(Heidegger: „Sprache ist das Haus des Seins“). Er will zwar nicht zu den
Ursprüngen zurück, wohl aber begreift er das Kunstwerk als eine von dem
Schuldzusammenhang zwar berührte, aber nicht befleckte Sphäre der Sprache.
Kunst kann sich davon nicht gänzlich befreien, ihn aber zum Bewußtsein
bringen und Vorschein sein eines Besseren. Gerade die hermetischen
Kunstwerke des 20. Jahrhunderts sind, vermöge ihres gesteigerten
Rätselcharakters, Paradigmen für Kunst schlechthin. In ihrer Verstörung
erblickte er nicht bloß ein sym-pathetisches Nach-Zittern der großen
gesellschaftlich-politischen Katastrophen, sondern ein In-Erscheinung-Treten
des Prozesses der Ent-Subjektivierung, den er als Signum der Gegenwart
begriff, ein Zeichen, das die Apokalypse des 20. Jahrhunderts sowohl
präfigurierte wie ihr elementar opponierte.
Dieser Gedankengang steht auch im Zentrum seiner Überlegungen zu Samuel
Becketts Endspiel, denen ich mich abschließend zuwende.
Samuel Beckett
„Versuch, das Endspiel zu verstehen“
Theodor W. Adornos Essay stammt aus dem Jahr 1961. Er gehört zu den ersten
ernsthaften akademischen Auseinandersetzungen mit dem Werk Samuel
Becketts. Stärken und - vor allem - Schwächen von Adornos
literaturkritischem Verfahren treten hier deutlicher hervor als in den Texten über
die romantischen Autoren. Beckett ist für Adorno einer der herausragenden
Repräsentanten der „Moderne“, eine Ikone der „Avantgarde“. Fragwürdig daran
ist nicht die qualitative Einordnung Becketts, wohl aber das terminologische
Pathos von „Moderne“ und „Avantgarde“ (bekanntlich ein Terminus aus dem
Militärischen). Warum Beckett so zentral ist für Adorno ergibt sich aus seiner
Theorie der Kunst des 20. Jahrhunderts. Literatur ist für Adorno unverstellter
Ausdruck einer tiefgreifenden Krise des bürgerlichen Subjekts, ja der
„Liquidation des Subjekts“ (S.287), der „Endgeschichte des Subjekts“ (S.316).
Kunst ist die Parodie der jeweils gängigen philosophischen Diskurse, hier des
französischen Existentialismus a la Sartre. Sartres Hochschätzung Heideggers
macht ihn schon allein deswegen hochgradig suspekt. Eine Parodie der
Philosophie nicht in Begriffen, sondern in literarischen Konstellationen. Die
Radikalität Becketts beweist sich durch seine unversöhnliche Negativität. Sie ist
negative Theologie und negative Ontologie in einem. Becketts ständige Rekurse
auf Schopenhauer sieht Adorno wohl als erster; dieser Bezug wird durchaus
positiv gewertet.
Das Endspiel, französisch Fin de Partie, englisch Endgame (1957) (nur im
Englischen wird der Bezug zum Schachspiel deutlich) ist das zweite der
Theaterstücke, mit denen Samuel Beckett weltberühmt wurde, nach Warten auf
Godot (1952). Samuel Beckett wurde am 13. April 1906 als Sohn wohlhabender
irischer Protestanten in Dublin (damals noch Teil Großbritanniens) geboren. Er
besuchte einige berühmte Privatschulen und studierte von 1923 – 1927 am
Trinity College Dublin, in erster Linie Literatur (romanische Sprachen) und
Philosophie. Im November 1928 beginnt er eine zweijährige Tätigkeit als Lektor
in Paris, an der berühmten Ecole Normale Superieure. 1930 beendet er seine
akademische Tätigkeit und lebt von da an freier Schriftsteller in Paris, zunächst
total erfolglos.
Die Bücher, die jetzt erscheinen, naturgemäß zunächst in englischer Sprache,
machen ihn zwar in Intellektuellen-Zirkeln von Paris, Dublin und London
bekannt, aber davon kann er nicht leben (wohl aber vom Vermögen der Familie,
wahrscheinlich bis in die fünfziger Jahre). Es werden veröffentliche ein
Gedichtband namens Whoroscope, Paris 1930, zwei längere Esays über Dante ...
Bruno, Vico ... Joyce, 1929, und Proust, 1931; und zwei Romane. Murphy, 1938,
und Watt, geschrieben 1944, veröffentlicht erst 1953. Nebenbei arbeitet er als
eine Art Sekretär von James Joyce, aber das ist nur sehr temporär und bringt
finanziell nichts ein.
Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs kehrt er von Irland, wo er sich bei seiner
Familie zufällig aufgehalten hatte, nach Paris zurück. „Frankreich im Krieg ist
mir lieber als Irland im Frieden.“ Unter der deutschen Besatzung flieht er 1940
mit seiner Lebensgefährtin Suzanne Deschevaux-Dumesnil, einer Französin,
die er erst am 25. März 1961 in England (wegen der minimalen bürokratischen
Aufwände) förmlich heiratet, aus Paris in den unbesetzten Süden des Landes, in
den Ort Roussillon in der Provence, Department Vaucluse, etwa 50 Kilometer
östlich von Avignon, wo er bis zum Ende der deutschen Besatzung 1944 bleibt.
Die Gründe für die überstürzte Flucht aus Paris und das Versteck im tiefen
Süden sind erst in den 80er Jahren bekannt geworden. Als neutraler irischer
Staatsbürger (was er bis zu seinem Lebensende blieb) und Nicht-Jude hatte er
an sich wenig zu befürchten; die deutsche Besatzung von Paris war zudem
relativ liberal - Sartre und Camus haben ihre ersten Bücher, nur mäßig
behindert von der Zensur, 1942 – 1944 in Paris publiziert. Beckett mußte
deshalb aus Paris fliehen, weil er für die Resistance und den britischen
Geheimdienst gearbeitet hat, als Übersetzer und Kopf einer vornehmlich aus
Franzosen bestehenden Zelle, die nach relativ kurzer Zeit aufflog - Beckett und
seine Lebensgefährtin gelang, offenbar mit viel Glück, gerade noch die Flucht.
Alle anderen Mitglieder der Zelle, die angeblich von einem katholischen Priester
als Doppelagent verraten wurden, wurden verhaftet. 1945 kehrt er nach Paris
zurück. Die Mutter stirbt 1950 in Irland; danach hält ihn nichts mehr in der
Heimat, er richtet sich auf Dauer in Paris ein. Bei einem der zahlreichen
Krankenbesuche bei seiner Mutter in Dublin erfährt er 1947 jene „Erleuchtung“,
die in Krapp's Last Tape das Zentrum der Erinnerungen des alten Krapp bildet
und worüber sich Beckett sonst ausgeschwiegen hat - eine mystische
Erfahrung, die ihm den Weg gewiesen zu haben scheint als Künstler.
In diesen Jahren 1947 – 1952 schreibt Beckett wie manisch, abwechselnd auf
französisch und englisch, die Theaterstücke überwiegend französich, die Prosa
überwiegend englisch. Es entstehen nicht nur die drei Romane Molloy, Malone
Dies, The Unnamable, sondern auch En attendent Godot / Warten auf Godot, das
nach langen vergeblichen Versuchen, ein Theater und einen Regisseur zu finden,
endlich am 5. Januar 1953 in Paris uraufgeführt wird. Von da an wächst
Becketts Ruhm kontinuierlich; 1957 erscheint Fin de partie, 1958 Krapp's Last
Tape, 1961 Happy Days, 1966 Bing, 1970 Le Depeupleur und andere immer
kürzer, komprimierter und rätselhafter werdende Texte. Beckett stirbt in Paris
am 22. Dezember 1989. (Biographie von James Knowlson: Samuel Beckett,
1996; dt. Übersetzung Suhrkamp Verlag 2001.)
Zu den persönlichen Beziehungen Adorno – Beckett kann ich nur das sagen, was
bei Knowlson zu lesen ist (S.601f). Begegnet sind sie sich im Februar 1961 in
Frankfurt a.M. bei einer Einladung des Suhrkamp-Chefs Siegfried Unseld. (Zu
Adornos Widmung seines Endspiel-Essays „To S.B. In memory of Paris, Fall
1958“ kann ich nichts sagen. Eine solche Begegnung ist jedenfalls bei
Knowlson nicht erwähnt.) Dort las Adorno Teile seines Endspiel-Essays vor.
Am gleichen Tag waren Unseld, Adorno und Beckett zum Essen versammelt,
und in kleinem Kreis entwickelte Adorno nochmals seine Namens-Theorie im
Endspiel, also Hamm - Hamlet usw. Beckett soll geantwortet haben: „Tut mir
leid, Professor, aber an Hamlet habe ich nie gedacht, als ich den Namen erfand.“
Adorno soll auf seiner Herleitung insistiert haben; Beckett war angeblich
verschnupft. Nachdem er den ganzen Text gelesen hatte, später, soll er einem
Bekannten gesagt haben: „Das ist der Fortschritt der Wissenschaft, daß die
Professoren mit ihren Irrtümern weitermachen können!“ (S.601f) Nun, auch
wenn der Eindruck entstehen könnte, daß ein Professor dem anderen kein Auge
aushackt: Adorno hat natürlich insofern recht, als eine Herleitung des Namens
einer fiktiven Figur nicht vom Wohlwollen oder gar der Zustimmung des
Verfassers abhängt. Entweder es ist plausibel oder nicht; was der Autor dazu
sagt, ist irrelevant.
Zu Adornos Essay. Zu Beginn konstatiert er, zu Recht, daß der Dramentext
starke, unübersehbare Beziehungen aufweist zum damals gerade modischen
Pariser Existentialismus. Aber im Sinne einer Aufkündigung oder Parodie. Denn
die Erkenntnis einer elementaren Sinnlosigkeit der Welt-Verhältnisse (Adorno
vermeidet auffälligerweise den Terminus „Nihilismus“, um nicht in die Nähe
Heideggers zu gelangen) fordert auch und gerade vom Kunstwerk die Absenz
eines inhaltlich Positiven. Die Sinnlosigkeit ist das Resultat der Katastrophe, der
die Figuren gerade entkommen sind - und der Autor (von der expliziten
Gefährdung Becketts in der Resistance dürfte Adorno nichts gewußt haben). Sie
stellt sich dar als momentaner Ruhepunkt zwischen Trümmerhaufen und einer
finalen Atom-Katastrophe. Vielleicht spielt das Stück aber auch schon nach dem
Atom-Krieg.
Vor diesem Hintergrund vollzieht sich die schon erwähnte
„Liquidation/Endgeschichte des Subjekts“ (S.287/316). Begriffe, deren
metaphysischer und geschichtsphilosophischer Charakter einer näheren
Betrachtung bedürfen. Sie sind nicht Teil einer empirischen
Zustandsbeschreibung oder einer empirisch unterfütterten Theorie. Sie beziehen
ihre Dignität aus einer metaphysischen Theorie des Verfalls, die der Marxschen
Geschichts-Philosophie vom notwendigen Untergang des kapitalbesitzenden
Bürgertums und der Heraufkunft der klassenlosen Gesellschaft zwar korreliert,
mit ihr aber nicht identisch ist. Eher ist sie in ihrem Kern, der weder
verifizierbar noch falsifizierbar, also metaphysisch ist, verwandt der DekadenzPhilosophie Nietzsches. Das „Subjekt“ erscheint als Figur des Verschwindens,
betritt nur die Bühne der Gegenwart um sie sofort wieder zu verlassen,
substanzlos und ziellos. Man könnte auch sagen: Die Subjekte sind
Personifikationen des Nietzsche'schen Nihilismus, also keine Antwort mehr zu
haben auf die große Frage nach dem Warum? und Wozu? von allem. Insofern
sind die Figuren Becketts tatsächlich Momente einer fundamentalen DePersonifikation, sind Spuren eines metaphysischen Verschwindens.
Ob Beckett dies intendiert hat, muß offen bleiben, ist auch letztlich unwichtig.
Eher ist er ein zeitgenössischer Schüler Schopenhauers (was auch Adorno
schließlich auffällt, freilich erst im Zusammenhang mit der Verneinung des
Willens, S.315). Dessen Willens-Metaphysik tritt krass und gleichsam nackt
hervor, in Reduktionen auf das Wesentliche. Insofern erfahren wir keine
„Liquidation des Subjekts“, sondern seine Reduktion aufs Elementare.
Daß Becketts Drama die Differenz von Hohem und Niedrigem nicht bloß
einebnet, sondern negiert, macht einen Aspekt des Beklemmenden des
Bühnengeschehens aus, „trübselige Einzelheiten“ (S.293). Ihre Dominanz
protestiert nicht nur gegen Tragik und Pathos idealistischer Konstruktionen,
sondern schafft einen neuen Raum bedeutungslos-bedeutender Dinge (also etwa
das Leinentuch Hamms, die Mülltonnen, der Blick aus dem Fenster, die
Geschichten, die im Nichts versanden etc.). Daß dazu auch ein sehr
spezifischer, oft obszöner und körperbezogener Humor gehört („irisch“), ist
unüberhörbar, wird aber leider von Adorno konsequent ignoriert. Daß Humor
und Lachen parodiert werden, wie Adorno meint, scheint mir eine professorale
Fehldeutung zu sein. Wo immer in einem literarischen Text Witz, Humor, Satire
auftauchen, ist Adorno hörbar irritiert, ja unangenehm berührt. Das ist nicht
seine Welt. Wohl aber die Beckett, den er auf diesem Feld gänzlich verfehlt.
Prinzipiell ist diese Beckett-Interpretation, nicht anders als die Auslegungen
Hölderlins und Eichendorffs, ein teils scharfsinniger, teils forcierter Versuch, das
eigene Denken im Schreiben Becketts wiederzufinden. Es ist eine
philosophische anstelle einer literaturwissenschaftlichen Deutung.
Bemerkenswert ist, daß ihm der Text deshalb so oft entgleitet, weil er ihn nicht
wirklich in Begriffen fassen kann - im Unterschied zu Eichendorffs Lyrik, die,
als Sprache des Heimwehs und der erotischen Sehnsucht verstanden, sich dem
Leser öffnet. Die Apercus zum Endspiel bleiben blaß und beliebig. Gerade hier,
wo es um eine Legitimation der „Moderne“ zu tun ist, bewegt sich seine Sprache
am Rande des Unverständlichen und nähert sich oft der unfreiwilligen SelbstParodie, dank weitestgehend auch dem akademischen Leser unbekannter,
preziös-erlesen-grotesker Fremdwörter: Äquivokationen, Gedanken sans
phrase, degout, nausea der Übersättigung, taedium des Geistes an sich selber,
homo homini sapienti sat, vaguement, der Weltuntergang ist diskontiert, der
messianische Myschkin, die Vereinfachung des Sozialprozesses relegiert sie zu
dem faux frais, das ästhetische principium stilisationis, phonyness, und so
weiter, und so weiter … Ach, wer da mitreisen dürfte durch die Begriffswüste
des Philosophen ...
Bei aller Kritik: Adornos Legitimation der Literatur der Klassischen Moderne,
mit den zentralen Namen Franz Kafka, Thomas Mann, James Joyce, Marcel
Proust und eben Samuel Beckett (die Namen Vladimir Nabokov und Jorge Luis
Borges vermißt man), der Versuch, Literatur und Musik der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts nicht als Dekadenzphänomene oder Sackgassen oder Experimente
ohne Beziehung zu unserer Lebenswelt abzuwerten, sondern sie zu lesen als
notwendigen Ausdruck einer verstörten und komplexen Epoche, dies mag heute
schon historisch anmuten, auch gelegentlich pathetisch und humorlos,
undistanziert, intolerant und teleologisch. Aber es war dies doch eine Leistung
sui generis, zu Beginn der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts. Das Endspiel
erscheint als Summe von Chiffren, die, im einzelnen rätselhaft, doch im ganzen
einen höheren Realismus ergeben. Auf dem Grund des einfachen Spiels liegt
eine vorbildlose „Harmonie von Verzweiflung“ (S.310), deren theatralische
Realisation von singulärer Richtigkeit und Schönheit ist. Auch die Kunst der
Moderne kann ohne Kategorien wie „Schönheit“ und „Richtigkeit“ nicht
beschrieben werden. Insofern ist auch diese „Avantgarde“, die Vorhut zur
Erstürmung ästhetischen Neulands, Teil einer Tradition. Wir sehen dies heute
deutlicher als vor 50 Jahren. Damals wurden literarische Schlachten geschlagen,
Vorurteile bekämpft und dem Neuen eine Gasse gebahnt. Aggressive, ja
martialische Metaphern. Man muß ihnen zugute halten, daß sie zusammengehen
mit den gesellschaftlichen Revolutionen und den apokalyptischen Katastrophen
von 1914 bis 1950 samt ihren Nachbeben, von denen das letzte, das symbolhafte
Jahr 1968, das Ende dieser Periode bezeichnet. Diese ästhetischen Kämpfe und
gesellschaftlichen Revolutionen zittern in Adornos Schriften zur Kunst noch
nach. In Kunst und Kunst-Theorie geht es immer um Alles. Das kann aber nie
adäquat ausgesprochen werden. So entsteht eine negative Ästhetik als Moment
einer nur als negative Theologie zu bezeichnenden Denkbewegung.
So wie der Gott der modernen Theologen nur im Nichts eines mystischen
Abgrunds erfahren und umkreist werden kann, so, mutatis mutandis, die
moderne Kunst. Ihre Epiphanie ist das einzig vorstellbare Erscheinen des
Absoluten. Daher der immense Ernst der Sprache Heideggers und Adornos. In
einer Welt der metaphysischen Verdüsterung und beispielloser existentieller
Gefährdung erscheint die Kunst, erscheinen Musik, Literatur uns Malerei als
jene Lichtung, auf der wir uns von der Macht und Übermacht des Seienden
temporär befreien und zu jenem unerklärbaren Sein vorstoßen, von dem wir
einmal ausgegangen sind und dessen Erfahrung des Ursprungs unser Ziel ist
oder sein sollte. Kunst ist jene Epiphanie der Wahrheit, die im Rätsel des NichtIdentischen beschlossen liegt und sich im authentischen Werk offenbart. Jenseits
des kontingenten Seienden, eben des Verblendungszusammenhangs, erfährt der
Rezipient eine Wahrheit, die ihn aus der Empirie herausführt, ohne daß diese
Erfahrung beliebig reproduziert werden könnte. Kunst bleibt ein Rätsel ohne
Lösung, eine Seinsweise, deren Rätselcharakter zu einer Wahrheit führt, die
nicht substituierbar ist. Das ist das Gemeinsame des ästhetischen Denkens von
Schopenhauer und Nietzsche, von Heidegger und Adorno, über alle
Unterschiede hinweg. So wird man annehmen können, daß sich in ihrer aller
Kunst-Reflexion eine Wahrheit ausspricht, die es uns, den Nachgeborenen, ein
wenig leichter macht, die Erfahrung des Kunst-Werkes in Begriffen und Bildern
nachzuzeichnen, die nicht elementar hinter dem Erleben der Kunst
zurückbleiben.