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Denkspuren-ii (1)

Ich begrüße Sie sehr herzlich zu dieser Vorlesung, die sich mit dem Verhältnis von Philosophie und Literatur bei Martin Heidegger und Theodor W. Adorno beschäftigt, also, verkürzt gesagt: mit deren ästhetischer Theorie. Es ist in mancher Hinsicht eine Fortsetzung der Vorlesung des vorigen Wintersemesters (also WS 2000/01), in der ich über die Denkspuren im Gefolge der philosophischen Welt-Bilder Arthur Schopenhauers und Friedrich Nietzsches gesprochen habe. Niemand, der diese Vorlesung versäumt hat, sollte sich jedoch hier und jetzt ausgeschlossen fühlen. Ich setze sie an keiner Stelle voraus und beginne gleichsam ab ovo. Schopenhauer und Nietzsche sind Denker des 19.

BERNHARD SORG DENKSPUREN. ZUM VERHÄLTNIS VON PHILOSOPHIE UND LITERATUR (II.) : MARTIN HEIDEGGER, THEODOR W. ADORNO 1. Einleitung / Martin Heidegger: Vita 2. Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes 3. Martin Heidegger: Hölderlin 4. Martin Heidegger: Georg Trakl 5. Martin Heidegger: Paul Celan 6. Theodor W. Adorno: Vita 7. Theodor W. Adorno: Thomas Manns Doktor Faustus 8. Theodor W. Adorno: Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins 9. Theodor W. Adorno: Joseph von Eichendorff 10. Theodor W. Adorno: Becketts Endspiel Unveränderter Text einer im Wintersemester 2001/2002 an der Universität Bonn gehaltenen Vorlesung 1. Einleitung / Martin Heidegger: Vita Ich begrüße Sie sehr herzlich zu dieser Vorlesung, die sich mit dem Verhältnis von Philosophie und Literatur bei Martin Heidegger und Theodor W. Adorno beschäftigt, also, verkürzt gesagt: mit deren ästhetischer Theorie. Es ist in mancher Hinsicht eine Fortsetzung der Vorlesung des vorigen Wintersemesters (also WS 2000/01), in der ich über die Denkspuren im Gefolge der philosophischen Welt-Bilder Arthur Schopenhauers und Friedrich Nietzsches gesprochen habe. Niemand, der diese Vorlesung versäumt hat, sollte sich jedoch hier und jetzt ausgeschlossen fühlen. Ich setze sie an keiner Stelle voraus und beginne gleichsam ab ovo. Schopenhauer und Nietzsche sind Denker des 19. Jahrhunderts (1788 - 1860; 1844 - 1900), Heidegger und Adorno solche des 20. Jahrhunderts: M.H. 1889 - 1976; T.W.A. 1903 - 1969. Zu Lebzeiten galten sie als philosophisch-weltanschauliche Gegner; während Martin Heidegger von dem Opponenten in Frankfurt, Adornos Heimatstadt und die Stadt seiner akademischen Lehrtätigkeit von 1931 -1933 und von 1949 bis zu seinem Tod 1969, öffentlich keinerlei Notiz genommen hat, hat Adorno sich seine unbedingte Opposition zum Denken des Mannes aus Meßkirch und Freiburg i.Br. viele Male von der Seele geschrieben, am fulminantesten im Essay Jargon der Eigentlichkeit, 1964, zuerst veröffentlicht in der edition suhrkamp, jetzt in: Gesammelte Schriften, Band 6. Dazu an anderer Stelle mehr. Nicht nur waren beide zu Lebzeiten gegnerische, vielleicht sogar feindliche Denker, auch ihre intellektuelle und akademische (was nicht ganz das gleiche ist) Gefolgschaft hat sich streng geschieden. Man konnte nur für den Einen oder den Anderen sein. In der Tat hat es nach 1945 - und vor allem in den 50er und 60er Jahren - keine zwei lebenden Philosophen von vergleichbarem Einfluß in Deutschland gegeben wie eben Heidegger und Adorno. Von beiden gleichermaßen attrahiert und fasziniert zu sein war unmöglich. Unter den direkten Schülern herrschte die gleiche Feindschaft, Unversöhnlichkeit wie unter den Meistern (nur unter Gleichaltrigen gab es gelegentlich Beziehungen und Quereinflüsse, etwa bei Herbert Marcuse oder, freilich ganz anders, auch Hannah Arendt; aber das waren seltene Ausnahmen). Entweder man folgte Heideggers Wegen oder denen Adornos. Tertium non datur. Das war damals. Jetzt, 32 Jahre nach Adornos Tod und 25 nach dem Tod Heideggers, hat sich diese Situation grundlegend geändert. Ich zögere nicht zu sagen: Ihr Werk, beider Denken ist historisch geworden. Das bedeutet nicht: veraltet oder überholt von neueren Philosophen oder nichtssagend geworden. Es sind keine beliebigen Dokumente aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sondern es sind nach wie vor immens starke Manifestationen des KunstDenkens jener Jahrzehnte, jener Epoche, die noch an die Kunst geglaubt hat in unterschiedlichem Sinn und mit unterschiedlichem Bekenntnis; geglaubt, ganz im spätromantischen Verständnis, die Kunst trage in sich das Potential einer Transzendierung der falschen Welt-Ordnung, besser: Welt-Unordnung. Diese Zeit ist vorüber. Ich nenne deshalb beider Denken und vor allem beider Kunst-Denken historisch. Wir können es jetzt gleichsam von außen betrachten. Und wir können es zusammen betrachten; im Sinne eines Zusammenrückens beider Konzeptionen, um so Gemeinsames und Trennendes besser sehen und beschreiben zu können. Das heißt auch: Ich will in den kommenden Wochen mich lösen sowohl von den impliziten wie expliziten Voraussetzungen wie von ihrem "Jargon" (Heidegger mag den "Jargon der Eigentlichkeit" gesprochen und geschrieben haben; aber auch Adornos Sprache ist von jargonhafter Manieriertheit geprägt und von begrifflicher Hermetik am Rande des Obskurantistischen, eine Art "Jargon der Uneigentlichkeit".). Viele, zu viele Schüler haben den Stil des Meisters nachgeäfft, als daß man dies heute noch versuchen möchte. Freilich: Gerade aus dem geschichtlichen Abstand, der Zeit, die diese Texte historisch gemacht hat, erwächst die Einsicht sowohl in die Verwandtschaft von beider Gesellschafts- und Kulturkritik wie in die Gebundenheit und Begrenztheit ihrer Positionen. Gebunden an ihre Entstehungszeit, gebunden an die nachwirkende Romantik und gebunden an die Erwartungen der Epoche des Fin de Siecle und des Expressionismus. Sich hier und heute mit ihnen zu beschäftigen kann nur angemessen geschehen unter der Voraussetzung, daß sich in beider ästhetischem Denken (und bei Adorno noch dazu in der künstlerischen Praxis des Komponierens, nicht ausschließlich, aber überwiegend in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts) ein trans-historisches Reflektieren und ein Verständnis von Kunst erschließen läßt, über das nachzudenken auch und vielleicht gerade heute von Relevanz sein könnte. Ganz unabhängig von der Tatsache, daß wir in ihnen einen immens wirkungsmächtigen Ausdruck der Kunst-Theorie der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts vor uns haben. Also es liegt in ihnen eine geschichtliche Dimension und ein verfremdeter Blick auf unsere Gegenwart zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Beider Denken ist abgeschlossen, und das bedeutet zweierlei: 1. Es ist beendet, vollendet, eben historisch geworden; und 2. es ist verschlossen, teilweise hermetisch, der Interpretation bedürftig - genau wie die Kunst, an deren Seite sie sich kommentierend und deutend gestellt haben. Ich beginne beide Groß-Kapitel jeweils mit einer Skizze von beider Lebensgang. Dann folgt die Interpretation des ersten Heidegger-Textes, eines Aufsatzes/einer Rede aus dem Jahr 1935: Der Ursprung des Kunstwerkes. (Unter diesem Titel auch erschienen bei reclam Nr. 8446.) Ich lese ihn als grundlegenden Versuch Heideggers, die Begrifflichkeiten für eine fundamentale Definition der Kunst bereitzustellen. Danach beschäftige ich mich mit Heideggers Verhältnis zu und seinem Verständnis von Friedrich Hölderlin. Unzweifelhaft ist das jener Dichter, den Heidegger am intensivsten gedeutet und am stärksten geehrt, ja geliebt hat. In welche Richtung er ihn gedacht hat, werde ich zu eruieren suchen, denn natürlich entsteht ein Hölderlin aus dem Geiste und der futurischen Dimension Heideggers. Von 1934 bis 1968 erstrecken sich die Vorlesungen, Vorträge und Aufsätze zu Hölderlin. Er ist für Heidegger der zentrale Dichter der Deutschen, ja in mancherlei Hinsicht der zentrale Poet des Abendlandes, der abendländischen Bestimmung. Von den Dichtern des 20. Jahrhunderts (die zwischen Hölderlin und dem Fin de Siecle übergeht er, von wenigen Ausnahmen abgesehen, wie Johann Peter Hebel, mit verachtungsvollem Schweigen) wähle ich zwei aus, mit denen er sich intensiv beschäftigt hat (sehr viel mehr sind es sowieso nicht), nämlich Georg Trakl und Paul Celan. Letzterer ist der einzige Zeitgenosse (1920-1970), den er einer Betrachtung für wert erachtet. Beider schwierige Beziehung läßt sich noch immer nicht angemessen rekonstruieren; noch immer ist zu vieles in beider, von den Söhnen gehüteter, Archive verschlossen. Was öffentlich ist, hoffe ich verknüpfen und zu einem zumindest halbwegs plausiblen Bild fügen zu können. Mit so profanen literarischen Gattungen wie dem Roman/der erzählenden Prosa oder selbst dem Drama hat sich Heidegger meines Wissens gar nicht beschäftigt, jedenfalls dazu nichts publiziert; was er ja auch als Professor für Philosophie nicht mußte. Diese Ignorierung alles Nicht-Lyrischen hat Gründe, über die zu sprechen sein wird. Es handelt sich dabei nicht eigentlich um eine persönliche Idiosynkrasie, sondern primär um eine - ich bin geneigt zu sagen: - archaische Hierarchie der Sprach-Künste. An der Spitze steht da die Poesie (Lyrik), gefolgt von der Tragödie und dann erst dem Epos. Der moderne Roman verfällt, trotz der frühromantischen Hochschätzung, dem Verdikt des Unseriösen, des Banalen, des allzu Zeitgemäßen, des Unterhaltsamen. Eine eigentlich ausgestorbene Rangordnung; aber man trifft sie noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelegentlich, etwa bei Stefan George und Karl Kraus. Ich komme dann zu Theodor W. Adorno. Auch hier zuerst eine kurze Skizze seines Lebens. Ich beginne dann mit der Darstellung seiner ästhetischen Theorie, und zwar anhand seiner Mitarbeit an Thomas Manns Roman Doktor Faustus (1943-1947). Es gelingt dem Mit-Exilanten und Nachbarn (im amerikanischen Verständnis, also etwa eine Autostunde entfernt) Adorno, seine Konzeptionen der Moderne, der modernen Musik, der zeitgenössischen Kunst, den musiktheoretischen und kompositionstechnischen Partien des Romans gleichsam zu inoculieren, sie in seinem Sinn aufs stärkste zu beeinflußen. Zu sprechen wird also zuerst sein über die Rolle und Funktion der Musik und des Komponierens, schließlich des Schreibens über Musik im Kontext des modernen Romans. Und damit natürlich über den Begriff der "Moderne" bei Adorno. Eigentlich wäre es auch Teil meines Themas, Adornos Kompositionen detailliert vorzustellen, was jedoch leider, in Ermangelung der Fähigkeit zum Partiturlesen, meine Kompetenz überschreitet. Danach werde ich, medias in res gehend, mich dem zuwenden, was ich als das geheime oder gar nicht so geheime Zentrum der Kunst-Erfahrung Adornos ansehe: die deutsche Romantik. Auch für Adorno ist Friedrich Hölderlin (dargestellt in dem Aufsatz "Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins", 1963) einer der zentralen Repräsentanten seiner ästhetischen Theorie, ebenso wie Joseph von Eichendorff. Daß und wie das mit den prägenden Kindheitserfahrungen Adornos und seiner Konzeption von Kunst/Literatur als Utopie eines Besseren, mit der Idee des "Nicht-Identischen", zusammenhängt, hoffe ich plausibel machen zu können. Zu seinen Lebzeiten war Theodor W. Adorno in erster Linie bekannt und berühmt-berüchtigt als Propagandist und Ideologe der künstlerischen (vor allem, aber nicht nur, musikalischen) "Moderne" - ein sehr unbestimmter und darum besonders wirkungsmächtiger Begriff. Was es damit auf sich hat, werde ich zu erklären versuchen anhand eines Essays zu Samuel Becketts Theaterstück Endspiel ( Fin de Partie / Endgame). Ich wähle diesen Text, weil sich, meiner Überzeugung nach, nirgendwo sonst so gut und anschaulich die Stärken und Schwächen von Adornos Moderne-Konzeption zeigen, diskutieren und beurteilen lassen. Zum Schluß möchte ich die These vorstellen, daß Adornos Kunst-Theorie eine verkappte Kunst-Theologie ist, eine Negative Dialektik (so der Titel eines Buches aus dem Jahr 1966) der Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit der Kunst (besonders der Musik und der Literatur) als dem Zentrum und der Epiphanie einer anders nicht möglichen Wider-Rede. Die Kunst, so betrachtet, erscheint als der letztgültige Ausdruck einer dem Empirischen sich entwindenden Geist-Sphäre, als ein Absolutes ohne Transzendenz. Soviel, vorläufig, zu den Texten und Problemen, die ich behandeln werde. Ich beginne also mit einer knappen Skizze des Lebens von Martin Heidegger. Als beste Einführung in Leben und Werk Heideggers empfehle ich das Buch von Rüdiger Safranski: Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit. München: Carl Hanser Verlag, 1994. Eine Vorlesung über Aristoteles hat Martin Heidegger so begonnen: "Er wurde geboren, arbeitete und starb." Nun, etwas mehr läßt sich denn doch über jeden Philosophen sagen, wenngleich zu konzedieren ist, daß das Überdauernde und Relevante eines Denkers sein Denken ist (wenn überhaupt etwas dauert und überdauert und relevant ist), nicht seine physische und kontingente Existenz. Aber seine Zeitlichkeit ist es eben auch in einem sehr konkreten Sinn: er existiert zu dieser Zeit und zu keiner anderen. Und in jeder Zeit stehen wir vor neuen und je anderen Problemen, weshalb ein genauerer Blick auf die jeweilige Zeit so unnütz nicht ist. Martin Heidegger wurde am 26. September 1889 in Meßkirch geboren. Meßkirch liegt etwa 50 Kilometer nördlich von Konstanz, im Südbadischen und ist katholisch. Beides, die geographische Lage und die religiöse Herkunft, hat sein Leben und Philosophieren tief geprägt. Die meisten seiner Vorfahren stammen aus dieser Gegend, Bauern, kleine Handwerker, Mesner. Heideggers Heimatbegriff - so wie, freilich verborgener und indirekter, auch sein Verständnis von Kunst - ist die ins strenge Denken transformierte Erfahrung einer existentiellen Zugehörigkeit und gleichzeitig die Erkenntnis, daß die moderne Welt, die zeitgenössische Gesellschaft, die Sphäre der Technik, der Maschinen und Fabriken, der Beschleunigung und ethnischen Entwurzelung, eine solche unmittelbare Zugehörigkeit nicht mehr gestattet. Ich hoffe zeigen zu können, daß die theoretischen und praktischen Entwürfe während seines Freiburger Rektorats 1933-34 gewaltsame Versuche darstellen, eine solche, ansonsten entschwundene, Zugehörigkeit auch und gerade für den Intellektuellen zu restituieren, samt der Erkenntnis von der Unmöglichkeit eines solchen Tuns. Also: Heimat ist für Heidegger zunächst das südliche Baden; in Konstanz besucht er das Gymnasium und legt dort das Abitur ab. Geplant war der Priesterberuf; aber der Körper revoltiert, 1909, es sind offenbar psychosomatische Herzbeschwerden, und so wendet er sich zum Studium der Philosophie und Theologie, später auch noch der Naturwissenschaften, in Freiburg i.Br. Damit ist schon der geographische Raum zu drei Vierteln umrissen, innerhalb dessen er sein Leben leben wird; es kommt nur noch hinzu die legendäre Hütte in Todtnauberg im Schwarzwald. Dieses Geviert seines Lebensraumes (Meßkirch, Konstanz, Freiburg und Todtnauberg) bestimmt seine gesamte Existenz. Nur einige wenige, nämlich viereinhalb, Jahre verbringt er außerhalb, im hessischen Marburg, als außerordentlicher Professor von 1923 28. Später kommen noch zahlreiche Reisen hinzu, aber das ist kein eigentliches Verlassen des kleinen Lebensraumes. 1913 promoviert er in Freiburg mit der Arbeit Die Lehre vom Urteil im Psychologismus. Schon zwei Jahre später schließt sich die Habilitation an: Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus. Im Jahr 1915 wird er zum Militär eingezogen, aber Schlimmes bleibt ihm erspart: Er leistet den Wehr- und Kriegsdienst ab bei der Postüberwachung und schließlich der meteorologischen Vorhersage. Während dieser Kriegsjahre heiratet er, 1917. Der Ehe entstammen zwei Kinder, die Söhne Jörg und Hermann. Von 1918 an ist er wieder als Privatdozent und Mitarbeiter des berühmten Philosophen Edmund Husserl in Freiburg tätig. Wie schon gesagt, verläßt er 1923 die badische Heimat; er wird auf einen außerordentlichen Lehrstuhl nach Marburg berufen. Dort beginnt langsam die Bekanntheit, innerhalb von Fach und Universität, aber auch schon nach außen strahlend. Sein Sprechen ist nicht leicht verständlich, manchmal ganz und gar dunkel, aber in jedem Fall faszinierend. Viele Studenten unterschiedlicher politischer und weltanschaulicher Herkunft und Ausrichtung sind gleichermaßen von ihm fasziniert. Darunter auch Hannah Arendt (ab 1924); eine, trotz aller ideologischen Unübersteigbarkeiten, lebenslange Liebesbeziehung. 1927, ein Jahr vor der Rückkehr nach Freiburg, erscheint das Hauptwerk Sein und Zeit. Spätestens von da an ist der körperlich kleine und unscheinbare Mann aus dem katholischen Baden, der sich bäurisch oder, besser, pseudo-bäurisch zu kleiden liebt, also so, wie die Städter sich einen Bauern gekleidet vorstellen, der "ungekrönte König im Reich des Denkens", wie seine Geliebte Hannah Arendt es ebenso pathetisch wie treffend formuliert hat. Den äußerlichen Höhepunkt erreicht seine Karriere im fatalen Jahr 1933, als er im April zum Rektor der Universität Freiburg gewählt wird, das Amt jedoch schon ein Jahr später, im April 1934, zurückgibt und sich von da an nur noch in Seminaren und Vorlesungen, also innerhalb seiner akademischen Welt, äußert. In diesen Jahren entstehen, natürlich nicht zufällig, die Schriften zur Kunst, zu Hölderlin und Trakl. 1945 wird er zunächst von den französischen Besatzungsfunktionären entpflichtet und erhält Lehrverbot. Bis 1949. Das ist eine sehr komplizierte und in jeder Hinsicht unerfreuliche Geschichte, bei der keine Seite gut abschneidet. Nach langen Hin und Her wird er 1950 offiziell emeritiert, pensioniert. Es beginnt jetzt seine letzte und vielleicht befriedigendste Lebensphase. Er wird auch außerhalb Deutschlands berühmt, in erster Linie in Frankreich, wird eingeladen zu Vorträgen, Kongressen und seiner eigenen Philosophie gewidmeten Colloquien. Es beginnt also "die Komödie des Ruhms", wie Schopenhauer das genannt hat. Ehrungen, Festschriften, Gesammelte Werke. Noch bis wenige Jahre vor seinem Tod ist er unermüdlich fleißig. Er dürfte einer der fleißigsten und produktivsten Philosophen der Philosophiegeschichte gewesen sein. Jede Vorlesung ist bis ins letzte ausgearbeitet, natürlich auch jeder Vortag; für die meisten Seminarsitzungen gibt es detaillierte Pläne und so weiter und so fort. Jetzt, in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts, da er weltberühmt ist, kommen auch die unvermeidlichen Touristen, um das Haus in Freiburg und die Hütte in Todtnauberg mitsamt dem berühmten Denk-Guru zu besehen und zu fotografieren. Er trägt es mit Gelassenheit - einem Zentralbegriff seines späten Denkens. In den allerletzten Jahren nimmt die Kraft ab, nimmt die kreatürliche Müdigkeit zu. Immerhin kann er sich noch begeistern an Fußballübertragungen im Fernsehen, die er sich bei Nachbarn anschaut, denn naturgemäß haben die Heideggers keinen TV-Apparat, besonders wenn Franz Beckenbauer spielt, dessen reale und metaphorische "Unverwundbarkeit" er rühmt. Am 26. Mai 1976 stirbt er in Freiburg und wird zwei Tage später im Familiengrab in Meßkirch beigesetzt. Am Grab spricht sein Sohn Hermann Heidegger fünf von Martin Heidegger selbst ausgewählte Worte Hölderlins. Zum Schluß die 3. Strophe der Elegie Brot und Wein: "So komm! dass wir das Offene schauen, / Dan ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist. / Fest bleibt eins; es sei um Mittag oder es gehe / Bis in die Mitternacht, immer bestehe ein Maas, / Allen gemein, doch jeglichem auch ist eignes beschieden, / Dahin gehet und kommt jeder, wohin er es kann." Ich versuche eine knappe Zusammenfassung und einige Antizipationen auf der Basis des Gesagten und Angedeuteten. Die Erfahrung einer geschichtlich, ethnisch und geographisch gegründeten Heimat in Martin Heideggers Kindheit und Jugend legitimiert die späteren Fragen nach der existentiellen Zugehörigkeit und hält diese Fragen als zentrales Problem offen. Das Katholische als ein ebenfalls Gründendes verliert für ihn zunehmend an Bedeutung: Der offizielle Anspruch auf dogmatische Verbindlichkeit gerät in Konflikt mit dem freien Denken und muß so, um der Wahrheit der Sache willen, zurückgewiesen werden. Es bleibt freilich, von den wildbewegten dreißiger Jahren abgesehen, der Respekt vor der kulturellen Leistung und der zivilisatorischen Kraft des Katholischen, und es hält sich die Sehnsucht nach einem Zustand, in dem "das Göttliche" zur Erscheinung gebracht werden kann. Daß diese Epiphanie einer anderen Wirklichkeit, die in und durch Heideggers Denken ermöglicht werden soll, in der Realität der Lebenswelt in engster Relation steht zur Kunst und ihrer Erscheinung innerhalb der Geschichte, bedarf keiner ausführlichen Begründung. Es ist das Werk Hölderlins, das Heidegger diesen Weg weist und das er in dieser weltgeschichtlichen, ja eschatologischen Perspektive interpretiert. Eine weitere knappe Bemerkung sei mir zum Schluß dieser Einleitung gestattet. Ich weiß nicht, ob Rüdiger Safranski in seiner Heidegger-Biographie als erster daraufhingewiesen hat, jedenfalls verdanke ich ihm die These von der Wirkungsmächtigkeit der Generations-Zugehörigkeit Heideggers zum Expressionismus. Man pflegt in der Regel dies auf Künstler zu beschränken, aber warum sollte nicht auch einer, der dann später den Weg des philosophischen Denkens geht, von den gleichen Strömungen, geschichtlichen Ereignissen und sozialen Konstellationen beeinflußt werden wie der Maler oder Schriftsteller? Nicht nur zufällig durch das Jahr seiner Geburt gehört Heidegger in die Generation der Expressionisten; er teilt, mindestens bis 1914, das gleiche Kollektiv-Schicksal mit, zum Beispiel, Ernst Stadler (* 1883), Gottfried Benn (*1886), Georg Heym, Jakob van Hoddis und Georg Trakl (alle *1887) und auch mit Johannes R. Becher (*1891). Und auch mit Adolf Hitler (*1889), en passant gesagt. Es ist primär die Sprach- und Denk-Figur der Erwartung, die die Dichter (und den Politiker) mit dem Philosophen verbindet: die Idee des Neuen, Unerhörten, das sich auf den Trümmern des falschen Alten erheben muß und wird. Ob man nun Teile der Philosophie Heideggers "expressionistisch" nennen kann, ist wohl eine müßige Frage. Zumindest diskutabel scheint mir, daß sich da Tiefenschichten berühren, ein Denken in Kategorien der Gefahr, von Anfang und Ende, Ursprung und Eschatologie, und eines (säkularen) Neubeginns. Was nicht nur oder nicht primär künstlerisch ist, wohl aber im Sprechen der Kunst ein der Philosophie gleichwertiges Ertönen einer ansonsten nicht erlebbaren Wahrheit erfährt. 2. Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes Ich beginne mit meiner Interpretation des als Vortrag konzipierten Aufsatzes "Der Ursprung des Kunstwerkes" aus dem Jahr 1935. Er ist in vier Abschnitte unterteilt; der erste trägt keine Überschrift und ist der kürzeste, also eine Art Einleitung. Es folgen "Das Ding und das Werk" (S.11-34), "Das Werk und die Wahrheit" (S.35-56) und schließlich "Die Wahrheit und die Kunst" (S.56-81). Der Eindruck einer strengen gedanklichen Ordnung trügt nicht: Der Text ist, wie die meisten Vorträge und Aufsätze Heideggers, in Thematik und Argumentation genau durchkomponiert, in klarer Begrifflichkeit - klar innerhalb der Voraussetzungen seines Denkens, die jeder Leser zunächst einmal akzeptieren muß, bevor er Kritik üben kann. Heidegger beginnt mit kurzen apodiktischen Definitionen: "Ursprung bedeutet hier jenes, von woher und wodurch eine Sache ist, was sie ist und wie sie ist." (S.7) Gefragt wird nicht - und das macht der Fortgang noch deutlicher - nach der Genese, der Herkunft der Kunst aus der Frühzeit der Zivilisation, aus Kult und mythischem Zwang, seelischer Entlastung und gemeinschaftsbildender Ekstase. Gefragt wird vielmehr nach der "Herkunft des Wesens" (S.7) der Kunst als ihrem im Denken nachzuvollziehenden Ursprung. Das zu Beginn festzustellen scheint mir nicht unwichtig. Ähnlich wie später Adorno weigert sich auch Heidegger, den "Ursprung" als konkretes historisches Phänomen zu bestimmen; Ursprung bedeutet offensichtlich die Frage nach der "Wesensherkunft" (S.7) des Kunstwerkes. Das heißt auch: die Frage nach dem Kunst-Charakter der Kunst. Was macht aus einem menschlichen Werk ein Kunstwerk? "Ursprung der Kunst" zielt nicht in historisch unvorgreifliche Fernen, sondern auf die emphatische Präsenz des Kunstwerkes als der einzigen Instanz, die über ihren "Ursprung" Aufschluß geben kann. Freilich geraten wir damit schon am Anfang in das, was die Ästhetik/Philosophie den "hermeneutischen Zirkel" nennt. Das ist folgende Kreisbewegung: "Was die Kunst sei, soll sich aus dem Werk entnehmen lassen. Was das Werk sei, können wir nur aus dem Wesen der Kunst erfahren." Diese scheinbare Aporie nennt man den hermeneutischen Zirkel. Wir können die Kunst nur begreifen, wenn wir das einzelne Kunstwerk als solches wahrnehmen und erfahren. Wir können aber ein menschliches Werk als Kunstwerk nur dann wahrnehmen und erfahren, wenn wir wissen, was Kunst ist. Logisch ist das unauflöslich, aber in der Praxis der lebendigen Auseinandersetzung mit Werk und Kunstbegriff führt uns diese Kreisbewegung nicht in die Tautologie, sondern in eine nach oben, zur Erkenntnis, führende Spirale. Wir beginnen also mit der alltäglichen Wahrnehmung eines Kunstwerkes und prüfen an ihm die Gültigkeit ästhetischer Begriffe. Diese Begriffe und diese Begrifflichkeit muß dann am Kunstwerk immer wieder überprüft, korrigiert und verfeinert werden. Das gilt natürlich nicht nur für das Verhältnis von ästhetischer FundamentalBegrifflichkeit und konkretem Kunstwerk, sondern auch für die Relation Gattung - Werk, Teile des Werks - das Ganze des Werks u.s.w. (Die beste Einführung in diese Problematik und verwandte Fragen ist Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, 1960; hier S.250-290) Freilich muß auch Heidegger, um überhaupt beginnen zu können, den einen notwendigen Schritt tun, der aus Eigenem nicht zu begründen ist, sondern durch Konventionen und fremde Urteile vorgegeben ist - er muß sich dem einzelnen Kunstwerk in seiner Singularität zuwenden. Kunstwerk meint hier zunächst und interessanterweise: Bild, Gemälde, Werk der bildenden Kunst. Wir werden rasch sehen, daß das vieles vereinfacht. Vor allem konzentriert es die Vorstellung des Dinghaften als eines Fundaments jedweder Werk-Konstitution hin auf das elementar Konkrete. Wir sehen ein Bild an der Wand. Es ist unter anderem ein Ding wie jedes andere Ding. Es besitzt Materialität, Ausdehnung, Farbe(n) etc. Das gilt auch, mutatis mutandis, für Literatur (Buch/Bücher) und Musik (Partitur). Daß die Seinsweise eines Gedichtes oder eines Streichquartettes eine andere ist als die eines Velazquez-Gemäldes, muß denn doch angemerkt werden; freilich sind wir ja erst am Anfang der Reflexionen. Und da ist nicht zu leugnen, daß die unmittelbare Erfahrung eines Gemäldes die Erfahrung eines Dinges unter anderen Dingen ist. Freilich macht bereits die unmittelbare Erfahrung aus dem Dinghaften des Werkes das Kunstwerk, und zwar durch das, wodurch das Kunstwerk sich kategorial von den anderen Dingen unterscheidet. Es sagt etwas anderes, es sagt mehr als die anderen Dinge, die sich in ihrer Zweckhaftigkeit erschöpfen. Das Kunstwerk ist anders als die anderen Dinge, sagt etwas anderes - allo agoreuei. Es ist, in Heideggers Diktion, Allegorie und Symbol zugleich. Es bringt das Ding und das Andere zusammen. Das griechische Wort symballein heißt zusammenbringen. Man erlebt schon gleich ein gutes Beispiel für Heideggers zweifellos etwas gewaltsame Begrifflichkeit und seine eigenwillige Verwendung zentraler ästhetischer Begriffe wie "Allegorie" oder "Symbol". Manchmal entstehen aus der Etymologie als erkenntnisleitendem Prinzip geradezu geniale Erkenntnisse (z.B.: Wahrheit = = Unverborgenheit); gelegentlich muß er freilich das griechische Original in der Übersetzung ziemlich willkürlich zurechtbiegen, um den gewünschten Effekt zu erzielen, etwa am Ende der Rektoratsrede. Darauf komme ich noch zu sprechen Vergleichbares gibt es auch bei Adorno: Kunst sei, so erfindet er ein Hegel-Zitat, ein "Bewußtsein von Nöthen" (= Plural von "Not"), wo nur gemeint war, daß in der Kunst ein Bewußtsein "vonnöthen" (= notwendig) sei ... Um zum Heidegger-Text zurückzukommen: Das Kunstwerk ist zunächst ein Ding wie alles Materielle. Es ist darüberhinaus, vermöge eines noch zu definierenden Anderen, ein Werk der Kunst. Das ist, verkürzt, der Gedankengang dieser Einleitung. Er geht sofort über in das erste Kapitel, "Das Ding und das Werk" (S.11-34). Hier entfaltet Heidegger - ich bin geneigt zu sagen: mit sanfter Unerbittlichkeit - seine Idee des Kunstwerkes als eines Anderen, eines sich vom Übrigen kategorial und existentiell abhebenden In-der-Welt-Seins. Er beginnt mit einer begrifflichen Umkreisung des "Dings". Auch das Kunstwerk ist ja ein Ding, aber nicht jedes Ding ist ein Kunst-Werk. Ein Ding ist "jegliches, was nicht schlechthin nichts ist" (S.12). Das meint also: Nicht nur ein Stein, ein Gebäude, ein Blütenblatt oder ein Tier ist ein Ding im philosophischen Sinn, sondern auch jedes technisches Gerät ist ein Ding, ebenso wie ideologisch-religiöse Termini, also Tod und Gericht, Gott und Teufel etc. "Jegliches, was nicht schlechthin nichts ist." Das widerspricht zwar zum Teil dem Alltagsverständnis und dem alltäglichen Sprachgebrauch, aber es ist Teil der Heideggerschen philosophischen Rede. Ein Ding ist ein Seiendes, jegliches Seiende ist ein Ding. Im Verlauf des abendländischen Denkens hat es nun verschiedene Versuche gegeben, das was Heidegger die "Dingheit des Dings" nennt, näher zu bestimmen. Ich fasse diese Versuche zusammen, noch knapper, als Heidegger es tut. 1.: Ein Ding ist der Träger seiner Merkmale. Das ist nie ganz falsch, aber es ignoriert das elementare Faktum, daß wir das Ding in vielen Fällen erleben, es ist ein "das in den Sinnen der Sinnlichkeit durch die Empfindungen Vernehmbare" (S.17). Es verbindet folglich, in der gängigen Terminologie formuliert, das Objekt mit dem es erfahrenden Subjekt. 2.: Es ist "die Einheit einer Mannigfaltigkeit des in den Sinnen Gegebenen" (S.17). Heidegger vermeidet hier wie stets die Dichotomie von Subjekt und Objekt zugunsten einer Art Situations-Beschreibung, in der sich nicht Subjekt und Objekt gegenüberstehen, sondern die Gesamtheit aller Phänomene einen einmaligen konsistenten Zustand bilden. Das wird klarer, wenn wir zum Werk als dem Kunst-Werk kommen und dazu, wie wir das Werk erfahren und wie wir ihm gegenüber sind und dann doch nicht "gegenüber" sind, sondern woanders. Aber auch diese zweite Definition ist nicht wirklich befriedigend, denn sie unterschlägt die vielfältigen Eindrücke und Gemütszustände, die Dinge auf uns ausüben, und die Art und Weise, in der dies geschieht. So versucht der Text einen dritten Anlauf. Nun, 3., erscheint das Ding "als geformter Stoff" (S.19). "Diese Auslegung des Dinges beruft sich auf den unmittelbaren Anblick, mit dem uns das Ding durch sein Aussehen [...] angeht. Mit der Synthesis von Stoff und Form ist endlich der Dingbegriff gefunden, der auf die Naturdinge und die Gebrauchsdinge gleich gut paßt." (S.19) Was heißt das, und was bedeutet es? Es heißt, daß dies als "geformter Stoff" beschriebene Ding nicht nur Naturdinge und Gebrauchsdinge angemessen umfaßt, sondern auch bereits vorausdeutet auf das Kunst-Werk als ein nun freilich anderes Ding. Vorausdeutet durch die Begriffe "Stoff" und "Form". Heidegger vermeidet es allerdings, die ästhetische Fragwürdigkeit dieser Dichotomie weiter zu diskutieren, wie es denn ganz allgemein ein Signum dieses Vortrags und anderer Texte Heideggers mir zu sein scheint, an bestimmten heiklen Stellen abzubrechen und eine neue Begrifflichkeit einzuführen. Das geschieht hier durch den Terminus "Dienlichkeit" (S.21). "Dienlichkeit" verbindet "Ding" mit "Zeug", also die Gesamtheit des Seienden verengt sich quasi durch die Kategorie der "Dienlichkeit" hin zum "Zeug", das ein von Menschenhand Hergestelltes ist und damit eine Zwischenstellung einnimmt zwischen dem "Ding" und dem "Werk". Die Trias Ding - Zeug Werk beruht also auf einer fortschreitenden Spezifizierung und Steigerung. "Zeug" und "Werk" sind verbunden durch ihren Charakter des vom Menschen Hervorgebrachten; wobei das "Zeug" unmittelbar dienlich ist (z.B. ein Paar Schuhe). Diese Kategorien, so macht der Text bald deutlich, sind jedoch für Heidegger angekränkelt von der Geschichte des abendländischen Denkens, das, so Heidegger, die Funktionalität (und das ist jetzt mein Wort) des Dings als sein spezifisches Merkmal heraushebt, also, anders gesagt, den Zugriff des Subjekts auf die Objektwelt bis in die Terminologie hinein nachvollzieht und legitimiert. So wissen wir nicht, was das "Zeug" "in Wahrheit" (S.26) ist. Wie erfahren wir es aber? Zu diesem Zweck wendet sich der Text ganz abrupt nun einem "Werk" zu, dem Gemälde mit den Schuhen/Bauernschuhen des Vinzent van Gogh. Die Forschung hat, nicht ganz ohne Häme, daraufhingewiesen, daß es sich da nicht um Bauernschuhe, sondern um ein Paar ausgetretene Schuhe des Künstlers selbst handelt. (Außerdem gibt es acht (!) Gemälde mit ausgetretenen Schuhen von van Gogh aus den Jahren 1886/87, gemalt in Paris, von denen immerhin noch drei (!) der Heideggerschen Interpretation zugrunde gelegen haben könnten. Aber dies nur am Rande. Es berührt nicht den Kern der Heideggerschen Deutung.) Eine gewisse souveräne Ignorierung der Tatsachen kommt bei Heidegger nicht ganz selten vor; ähnlich ist es bei Adorno. Was ein rechter Groß-Ordinarius ist, bestimmt selbst, was Tatsache ist und was nicht. Wie auch immer. Heidegger zieht als Exempel für das "Zeug" "ein Paar Bauernschuhe" (S.26) heran, aber eben nicht reale Schuhe, sondern gemalte, in einem Kunst-Werk gestaltete, zu einem Kunst-Werk gewordene. Und hier, sagt Heidegger unvermittelt, erleben wir einen qualitativen Sprung. Reale Schuhe sagen uns nichts über die Zeughaftigkeit des Zeugs; nur das Kunst-Werk, das Werk als Ausdruck der Wahrheit, gibt uns Auskunft über das Zeug und über uns, die wir das Kunst-Werk betrachten. Ein großer Sprung. Wir stehen zum ersten Mal da, wohin der Vortrag von Anfang an hinwollte und nur mit einiger Mühe, wie manche vielleicht sagen werden, und auf mancherlei Umwegen, hingekommen ist. Wir stehen vor einem Kunst-Werk, den gemalten Schuhen des van Gogh. Was sehen wir - was sollen wir sehen? Heidegger gelingen in der Bildbeschreibung einige ungemein suggestive Assoziationen und Folgerungen. Das Bild "spricht". Es spricht, und zwar unmittelbar, von der Mühsal des bäurischen Lebens, von Not und Erfüllung, Einsamkeit und Zugehörigkeit, jenseits des neo-romantischen Bauern-Klischees und -Kitsches. Das Bild mit den alten, ausgetretenen Schuhen spricht von Geburt und Tod, existentieller Gefährdung und elementarem Glück - ohne Allegorie (im herkömmlichen Sinn des Begriffs) und ohne dies in einzelne Szenen und Geschichten auflösen zu müssen. Es spricht - so jedenfalls hört es Heidegger - von der fundamentalen Verläßlichkeit dieses Zeugs als Inbild der Verläßlichkeit der Erde (S.28). Und es tut dies "unversehens" (S.29), durch seinen Charakter als Kunst-Werk. Was wir sehen und hören, hören und sehen wir in dem und durch das Kunst-Werk. Was wir gelernt haben, haben wir gelernt nicht durch empirische Studien oder durch eine Betrachtung und Auslegung realer Dinge oder eines realen Zeugs, sondern durch dieses eine Kunst-Werk van Goghs. Heideggers charakteristische Bestimmung des Phänomens lautet so: "In der Nähe des Werkes sind wir jäh anderswo gewesen, als wir gewöhnlich zu sein pflegen." (S.29) Ein bemerkenswerter Satz. Er führt direkt in das Zentrum der ästhetischen Konzeption Heideggers. Das Werk, hier: das Gemälde, das KunstWerk, das das Auge an-spricht, erfaßt den Beschauer, so wie er das Werk erfaßt. Es erfaßt ihn und führt ihn in einen anderen Zustand. Wir sind "jäh anderswo gewesen" - will auch sagen: Wir sind plötzlich aus der gewohnten Welt der Zwecke und Kausalitäten herausgerissen und Teil einer anderen Sphäre geworden, innerhalb deren wir eine neue Welt erleben und später diese neue Welt zumindest ansatzweise artikulieren können. Das Wort "jäh" = plötzlich verweist auf mehreres. Zum einen verweist es, unausgesprochen, auf den "ästhetischen Zustand" Arthur Schopenhauers (voriges Wintersemester!), der in vergleichbarer Weise den Betrachter aus der Welt des Willens in die Welt der Vorstellung, der Kontemplation hineinzieht (Heidegger hat sich nur sehr selten und dann recht abschätzig über Schopenhauer geäußert; ich möchte das jetzt nicht kommentieren). Es geschieht "plötzlich", wenn der Einzelne die Welt des Willens verläßt und die Welt der Erkenntnis betritt. Die Kategorie der "Plötzlichkeit" ist aber auch eine zutiefst expressionistische. Es gibt kein langsames Eintauchen in die Kunst-Welt, in das Kunst-Werk, sondern es gibt nur den jähen Orts- und Apperzeptionswechsel. Sowohl in der Erfahrung der Kunst wie der Aufnahme und Bewertung der geschichtlichempirischen Situation dominiert das Erlebnis der Plötzlichkeit, so jedenfalls Heidegger und mit ihm seine Generation. Der Umschwung von der einen in die andere Situation kann nur "jäh" geschehen. Es gibt da nur ein Entweder - Oder. Das gilt auch für die zentrale Kategorie, die Heidegger nun einführt, die der "Wahrheit" (S.30). "Van Goghs Gemälde ist die Eröffnung dessen, was das Zeug, das Paar Bauernschuhe, in Wahrheit ist." (S.30) Betrachten wir diesen Zentralbegriff der "Wahrheit" genauer. Wir haben es mit einer jener Etymologien zu tun, für die Heideggers Denken berühmt-berüchtigt ist. Hier, so scheint mir, trifft das Wortspiel den zentralen Aspekt. Die Wahrheit, die durch das Kunst-Werk in die Welt tritt, ist die "Unverborgenheit seines Seins" (S.30). Das Kunst-Werk eröffnet also etwas, es ent-birgt das Zentrum, die eigentliche Bedeutung der Dinge, des von Menschen gemachten und verwendeten Zeugs. Wahrheit heißt im Griechischen aleitheia. Das bedeutet, etwas frei übersetzt, in die Wörtlichkeit gewissermaßen zurückgenommen: Unverborgenheit. Wahrheit ist Unverborgenheit. Das Kunst-Werk er-schafft die Wahrheit, indem es die Dinge in die Unverborgenheit ihres eigentlichen Zustandes entläßt, entläßt in die Offenheit und Freiheit der Kunst-Welt. "Im Werk der Kunst hat sich die Wahrheit des Seienden ins Werk gesetzt. 'Setzen' heißt hier: zum Stehen bringen. Ein Seiendes, ein Paar Bauernschuhe, kommt im Werk in das Lichte seines Seins zu stehen. Das Sein des Seienden kommt in das Ständige seines Scheinens." (S.39) Ich versuche, diesen Gedankengang mit meinen Worten nachzuvollziehen. Die Welt, so wie wir sie ständig erfahren, zeigt sich uns als verworren, als ungeordnet, als kontingent. Wir leben in ihr, aber wir erfahren in ihr im Alltag keine Wahrheit. Der Alltag ist ohne ein Hervor-ragendes, ist ohne Wahrheit im emphatischen Sinn. Nur ganz exzeptionelle Momente eröffnen einen Raum, in dem wir das Sein des Seienden in seiner Wahrheit, eben seiner Un-verborgenheit sehen und erleben. Aus anderen Texten Heideggers wird evident, daß damit nicht nur die Erfahrung der Kunst gemeint ist; aber hier ist es eben das Kunst-Werk, das das Sein für wertvolle Augenblicke in das Offene einer wahren Erfahrung zieht.. Schopenhauers "ästhetischer Zustand", die willensreine Anschauung, war, eben durch die Überwindung der Gewalt des Willens, ein Moment der Freiheit und damit auch ein Moment der Erfahrung einer Wahrheit, nämlich einer Sphäre ohne Willen, also ohne Schmerz und Subjekt-Objekt-Antagonismus. Heidegger spricht nicht von Freiheit, er spricht von der Wahrheit, die durch die Kunst in die Welt gesetzt wird. Indem er Wahrheit als Unverborgenheit definiert, kann er das Kunst-Werk, das Bild van Goghs, begreifen als Agens und Mittel einer Öffnung. Die dunkle, zufällige und wirre Welt öffnet eine Lichtung des Unverborgenen, innerhalb deren wir eine neue Erfahrung machen, die der Wahrheit, die ansonsten verborgen ist. "So wäre denn das Wesen der Kunst dieses: das Sichins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden." (S.30) Wie immer wir inhaltlich zu dieser Definition stehen - sie steht in der Tradition deutschen Kunst-Denkens, von der Frühromantik bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Sie situiert Kunst in der Nähe der Wahrheit, ja als ihr höchster Ausdruck, als Teil einer anders nicht möglichen Welt-Erkenntnis und Erfahrung. Daß die Kunst es auch mit der Herstellung des Schönen zu tun hat, wird zwar kurz konzediert (S.30-31), aber ebenso rasch auch wieder abgetan. Ich deutete schon an, daß Heidegger es sich immer dann leicht macht, wenn er einen Punkt nicht diskutieren will, also hier die Relation Wahrheit - Schönheit. Er bricht dann einfach ab und begibt sich auf das nächste Gedankenfeld. Das ist hier der kurze Versuch, das angesichts des van Gogh-Bildes Gewonnene zu transformieren in die Welt der Sprache, und das kann bei Heidegger nur heißen: des Gedichts, der Poesie. Er wählt Conrad Ferdinand Meyers "Der römische Brunnen" (veröffentlicht 1882). Aufsteigt der Strahl und fallend gießt Er voll der Marmorschale Rund, Die, sich verschleiernd, überfließt In einer zweiten Schale Grund; Die zweite gibt, sie wird zu reich, Der dritten wallend ihre Flut, Und jede nimmt und gibt zugleich Und strömt und ruht. Von einem Gemälde zur sprachlichen Darstellung eines Brunnens. Von der Konkretion zur Abstraktion der Sprache. In einem Umweg, wie Heidegger selbst konzediert (S.34). Leider geht er auch nicht direkt auf Meyers Gedicht ein. Was er sagen will, dürfte sein: Das Kunst-Werk steht in engster Beziehung zur Sphäre von Ding und Zeug. Aber es ist nicht die Summe oder Addition von Teilbereichen innerhalb der gesamten Welt des Seienden. Sondern die Wahrheit der Kunst entsteht oder ent-birgt sich in einem neuen, die gängigen Kategorien übersteigenden oder ignorierenden Vorgang, hin auf die Eröffnung des Seins des Seienden. Das Kunst-Werk (Gemälde oder Gedicht) ist kein quantitativ, sondern ein qualitativ Neues. Weder ist es die mimetische Abbildung der Empirie noch ein voluntaristischer Eingriff in diese Empirie (wie etwa in der politischaktionistischen Kunst). Stattdessen können wir uns das Kunst-Werk nur angemessen vorstellen im Prozeß der Ent-Bergung des Seins. So wird es herausgestellt aus der Dunkelheit der kontingenten Empirie in die Lichtung, auf der und durch die das Sein des Seienden recht eigentlich erst erscheint. In Heideggers Worten: "Das Kunstwerk eröffnet auf seine Weise das Sein des Seienden. Im Werk geschieht diese Eröffnung, d.h. das Entbergen, d.h. die Wahrheit des Seienden. Im Kunstwerk hat sich die Wahrheit des Seienden ins Werk gesetzt. Die Kunst ist das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit. Was ist die Wahrheit selbst, daß sie sich zu Zeiten als Kunst ereignet? Was ist dieses Sichins-Werk-Setzen?" (S.34) Damit endet das erste Kapitel, überschrieben "Das Ding und das Werk". Ich fasse es kurz und in meinen Worten zusammen. Heidegger geht von der unbestreitbaren Erkenntnis aus, daß jedes Kunst-Werk zunächst ein Ding ist wie jedes andere. Als ein vom Menschen hervorgebrachtes Ding ist es auch ein "Zeug". Aber es ist mehr als das. Denn in ihm und durch seine Präsenz geschieht etwas. Der Betrachter wird aus der Normalität, aus der herkömmlichen Welt des Beliebigen herausgehoben und in einen anderen Zustand versetzt, in dem er die Welt der Dinge und Relationen neu sieht, in dem er "in der Wahrheit" ist. Heidegger nennt das: Das Kunstwerk "eröffnet das Sein des Seienden". Man könnte auch sagen: Das Kunst-Werk schafft in sich und durch sich einen anderen Zustand, in der der Betrachter einer Wahrheit teilhaftig wird, die ihm ansonsten verschlossen bleibt. Kunst macht sichtbar. Das heißt auch: Kunst fügt das Kontingente zu einem plötzlich Notwendigen zusammen. Das zweite Kapitel heißt "Das Werk und die Wahrheit" (S.35 - 56). Heidegger beginnt mit der Frage nach der Historizität des Kunst-Werkes. Kunst-Werke sind überwiegend Vergangenes; sie sind, so könnte man sagen, zwar Momente der Wahrheit, aber zunächst doch Dokumente einer nicht mehr wirklich rekonstruierbaren Vergangenheit. In Heideggers Sprache: "die Welt der vorhandenen Werke ist zerfallen." (S.36) Ist damit, mag der verblüffte Leser fragen, auch van Goghs Bild gemeint? Offensichtlich nicht, denn in ihm und durch es eröffnet sich doch die Welt der Wahrheit. Wohl aber gilt es für die Werke der griechischen Antike. Heidegger nimmt zum Exempel den griechischen Tempel. Er war das Zentrum der Polis, der Gemeinde. Er war der Ort, an dem die Dinge dieser Welt und die Erfahrungen einer anderen Sphäre zusammentrafen. Er ragt aus dem Felsengrund in die Höhe, ist Stätte der Götter und Platz der Begegnung von Mensch und Mensch und Gott und Mensch. Er ist Moment der Erde und eröffnet eine andere Welt. Erde ist an sich, so verstehe ich diese Passage, reflexionslose Natur, die sich den Anstrengungen des Menschen, sie zu erobern und zu unterwerfen, verweigert. Der Tempel jedoch gründet auf der Erde und überhöht sie gleichzeitig. "Das Tempelwerk eröffnet dastehend eine Welt und stellt diese zugleich zurück auf die Erde [... ]" (S.38). Es ist spätestens jetzt die Frage nicht zu unterdrücken, ob Heidegger den Tempel der griechischen Antike als Kunstwerk oder als sakralen Raum betrachtet, bzw. ob es für ihn da überhaupt einen Unterschied gibt. Mir will scheinen, daß bereits hier der religiöse Hintergrund der Heideggerschen Ästhetik ungestüm nach vorne drängt. Der Tempel war ein sakraler Bau; gleichzeitig war er das gemeinschaftliche und gemeinschaftsbildende Zentrum der griechischen Polis. So, als ein dem Göttlichen geweihtes Menschenwerk, eröffnet es den Zeitgenossen den Blick auf sich und auf die Sphäre der Transzendenz. Der Tempel, gerade vermöge dieser Doppelfunktion, ist Moment der Welt der Wahrheit: ein vom Menschen geschaffener Raum, der den Einzelnen in die Wahrheit des Seins stellt. Aber da dies auch einen Raum der Götter dar-stellt, kommen Sakralität und Wahrheit hier zusammen, im Kunst-Werk, das wir Tempel nennen. Wenn aber, so folgere ich daraus, die sakrale und die weltschaffende Dimensionalität des Tempels erloschen ist im Verlauf der Jahrhunderte, dann kann der Tempel, oder das was von ihm übriggeblieben ist, für uns heute nur mehr noch ein Dokument sein, kein gründendes Zeugnis der Wahrheit, keine Epiphanie des Seins. "Diese Sicht [die der Tempel auf Welt und Mensch gewährt, B.S.] bleibt so lange offen, als das Werk ein Werk ist, so lange als der Gott nicht aus ihm geflohen." (S.39) Wenn ich diesen Satz nicht mißverstehe, dann bindet Heidegger die Kunst unlösbar sowohl an eine Gemeinschaft (die Polis), wie auch an die Erfahrung des Göttlichen. Eine entgöttlichte, die aufgeklärte europäische Moderne, unsere Gegenwart, ist nicht mehr in der Lage, diese elementaren Erfahrungen der Antike nachzuvollziehen. (Das wird das Zentrum der Heideggerschen Hölderlin-Interpretationen bilden.) Aber ist sie in der Lage, die Gegenwart zu öffnen für unsere Erfahrung der Wahrheit? Einen ersten Eindruck einer möglichen Antwort gibt der knappe Abschnitt zur "Tragödie" (S.39). Man begreift sofort, daß Heidegger hier die antike Tragödie im Auge hat, denn er spricht davon, wie in der Tragödie "der Kampf der neuen Götter gegen die alten" (S.39) gekämpft wird. Das ist nicht unbedingt ein zeitgenössisches Thema. Es wird es jedoch gleichsam unter der Hand, denn die Tragödien-Definition, die sogleich folgt, geht zwar aus von einem Fragment des Heraklit (!), meint aber ersichtlich die Zeit der Entstehung des Vortrages, also die Jahre um 1935. Das muß etwas weiter ausgeführt werden. Heidegger bezieht sich auf ein von ihm besonders geschätztes Fragment des Vorsokratikers Heraklit (von Ephesus; etwa 560 - 510 v.Chr.), das berühmt-berüchtigte, nach dem der Krieg der Vater von allem sei. Nun, Heidegger übersetzt hier wie stets polemos nicht mit "Krieg", sondern mit "Streit" oder "Auseinandersetzung". Dann heißt das Fragment: "Der Kampf/der Streit/die Auseinandersetzung ist von allem der Vater und von allem der König; denn die einen erweist er als Götter, die anderen als Menschen, die einen macht er zu Sklaven, die anderen zu Freien." Es ist leicht zu sehen, was dieses Fragment des ansonsten als "dunkel" verschrieenen Heraklit meint. Der Krieg/der Kampf/der Streit/die Auseinandersetzung sind die großen entscheidenden Mächte im Leben des Einzelnen und der Völker. Sie entscheiden darüber, "was groß und was klein, was wacker und was feig, was edel und was flüchtig, was Herr und was Knecht" ist (S.39). Diese Trennung, die von Heidegger existentiell aufgeladen und quasi verabsolutiert wird, vollzieht sich ebenfalls in der Tragödie, im tragischen Sprechen des Volkes von sich selbst. Die moderne Tragödie verhandelt, so ließe sich der Gedanke zu Ende denken, die moderne Welt unter dem leitenden Aspekt einer heroischen Zuspitzung; in ihr tritt die Wahrheit der Welt hervor, als Auseinandersetzung zwischen (manichäisch aufgestellten) Prinzipien oder Wesenheiten. Leider gibt uns Heidegger kein einziges Beispiel für die moderne Tragödie und ihre Gründungs- oder Zuspitzungs-Mythen. Heidegger bleibt bei diesem Gedanken nicht stehen. Vielleicht auch, weil er spürt, daß damit das Eigentliche noch nicht gesagt ist. Dieses Eigentliche eines Kunst-Werkes unter dem Aspekt seines Welt-Bezuges ist jedoch, daß es die Welt deutlich macht, sie ver-deutlicht, sie erklärt. Es stellt eine neue Welt auf (S.40). Das bedeutet bei Heidegger: Welt ist die gesteigerte, auf den Wahrheitskern hin geordnete Erfahrung des Seins. Die Welt öffnet sich, und das bedeutet: Nur in der Kunst wird die Welt als gesteigerte Existenzweise erfahrbar. Nur in der Kunst erfährt der Einzelne das Wesen der Welt, das Wesen der Gemeinschaft, das Wesen des Göttlichen. Das ist der zentrale Gedanke des Abschnittes. Und der Gegensatz von "Welt" und "Erde", der diese Seiten einigermaßen rätselhaft durchzieht, ist der Gegensatz von "Sichverschließendem" (S.45) (=Erde) und "sich öffnender Offenheit" (S.45) (=Welt). Vielleicht auch: der Gegensatz von Normalität und Exzeptionalität, von Dunkelheit und Helligkeit, von Verbergung und Lichtung. In Heideggers Worten: "Nur diese Lichtung schenkt und verbürgt uns Menschen einen Durchgang zum Seienden, das wir selbst nicht sind, und den Zugang zu dem Seienden, das wir selbst sind. Dank dieser Lichtung ist das Seiende in gewissen und wechselnden Maßen unverborgen." (S.51) Dann ist es Teil der Wahrheit. Sie, diese Wahrheit, "geschieht" in der Form des Wesentlichen, und das ist unter anderem das KunstWerk. Im Werk, seiner Wahrheit und Schönheit, wird die Welt wesentlich. Sie tritt heraus aus der Schwere und Funktionalität des Erdhaften und bildet eine "weltende Welt" (S.41). Als sich öffnende Welt ist sie gleichzeitig schön. Im Kunst-Werk treffen sich also Wahrheit und Schönheit; aber nicht als Akzidentien, die der pragmatischen Existenz zufällig zugehören oder auch nicht, sondern als Modi einer neuen Erfahrung. Das Kunst-Werk ist gleichzeitig eine Ent-Bergung der Wahrheit und die Erfahrung einer Welt, die als "gestiftete" von mehr kündet als der schweren Alltäglichkeit. In der Kunst erfährt der Mensch von etwas, was in dieser Welt ist und doch nicht in ihr ohne Rest aufgeht. Er erfährt das Sein als gesteigerte, sinnvolle und sinnstiftende Form seines Daseins und damit als einen Anhauch von Wahrheit und Nähe des Göttlichen (oder als Erlebnis einer selbstverschuldeten Götterferne). Womit dieses Kapitel beendet ist und das letzte beginnt. Es trägt die Überschrift "Die Wahrheit und die Kunst" (S.56 - 81). Es zieht mehrere Summen, insofern die Wahrheitsfrage verknüpft wird mit der geschichtlichen Frage des "Ursprungs". "Der Ursprung des Kunstwerkes" heißt ja der Vortrag, und diese Verbindung war noch unklar geblieben. Sie wird auch im folgenden erst allmählich klarer; Heideggers Denk- und Sprach-Stil - die bohrenden Wiederholungen und zahllosen Wiederaufnahmen, die spezielle Verwendung alltäglicher Begriffe, um nur zwei von vielen zu nennen - ist im Grunde wesentlich unkommunikativ, abweisend, herrisch. Es ist so, sagt jeder einzelne Satz, und jeder einzelne Satz fordert diskussionslos den nächsten. Wir werden feststellen, daß sich das bei Theodor W. Adorno nicht fundamental anders verhält. Die Intention dieses letzten Abschnittes ist eine gedankliche Verbindung von Wahrheit und Kunst. Wahrheit ist verstanden als Un-Verborgenheit. Die Erscheinung, das Heraustreten aus der Verborgenheit/dem Dunkel - sie gehören zur Wahrheit, sind Teil ihres Wesens. Der Schritt vom Verborgenen in die UnVerborgenheit geschieht im Streit, in der Auseinandersetzung, nach Heraklit. Das Kunst-Werk ist folglich das Resultat einer Auseinandersetzung. So und nur so entbirgt sich die Wahrheit des Seins. Nun gilt dies nicht nur für die Kunst, sondern auch für die "staatsgründende Tat", es gilt für das "wesentliche Opfer" (S.62) und die Fragen des Denkers. Dies sind Taten des Ursprungs. Kunst ist ebenso eine Tat des Ursprungs wie eine Staatsgründung und das Denken des Denkers (Heidegger vermeidet hier wie oft das Wort "Philosoph"). Dies schreibt Heidegger im Jahr 1935. Die Taten des Ursprungs, die aus dem Streit entstehen, werden zu einer notwendigen Gestalt: des Staates, der Kunst. Ist der Streit notwendig und wesenhaft, dann wird auch das Resultat, also die spezifische Gestalt, notwendig und wesenhaft sein. Am einzelnen Kunst-Werk wird das besonders evident: "Je wesentlicher das Werk sich öffnet, um so leuchtender wird die Einzigartigkeit dessen, daß es ist und vielmehr nicht ist." (S.66) Das Kunstwerk trägt in sich den Glanz des Ursprungs, als Resultat einer Auseinandersetzung (polemos), die das Wesen der Dinge unterscheidet. So gehören Kunst und Leben zusammen, denn auch die Existenz ist nur dann wesenhaft ursprünglich, wenn sie ein "ekstatisches Sicheinlassen des existierenden Menschen in die Unverborgenheit des Seins" (S.68) ist. Das expressionistische Pathos ist unüberhörbar. Das Kunstwerk ist dann und nur dann Teil einer herausgehobenen Existenzform, eines anderen Zustandes, wenn es partizipiert an dem Mythos des Ursprungs, an Heraklits polemos, am Streit der Prinzipien, an der Sehnsucht nach existentieller Un-Verborgenheit. Dann ist die Kunst "in der Wahrheit" und damit Modus eines gesteigerten, eines wahrhaften Daseins, dann ist sie "die schaffende Bewahrung der Wahrheit im Werk" (S.73). Es ist offensichtlich, in welch enger Beziehung Kunst und Religion bei Heidegger stehen - Religion nicht verstanden als konfessionelle Gemeinschaft oder Zuordnung oder formuliertes Dogma, sondern verstanden als Anwesenheit oder Epiphanie des Göttlichen. Sowohl Religion wie Kunst sind, so Heidegger, Taten und Ergebnisse eines unhintergehbaren Ursprungs, so wie die Staatsgründung oder das Denken des Seins. Die Kunst entsteht aus uranfänglichem Streit, und dieser Streit ist nichts Negatives, sondern die Bedingung der Notwendigkeit eines Offenbarung, eines Sich-Öffnen des Seins. Wahrheit ist Dichtung, und Dichtung ist Wahrheit. "Alle Kunst ist als Geschehenlassen der Ankunft der Wahrheit des Seienden als eines solchen im Wesen Dichtung." (S.73f) Das heißt nicht, daß alle Kunst Literatur ist, sondern eine Ver-Dichtung des ansonsten Diffusen in der Lichtung des Seins. (Heideggers Wortspiele sind dadurch gekennzeichnet - so sagte Peter Szondi, auch nicht gerade als Sprach-Komiker bekannt - daß man bei ihnen nicht lachen darf.) "Aus dem dichtenden Wesen der Kunst geschieht es, daß sie inmitten des Seienden eine offene Stelle aufschlägt, in deren Offenheit alles anders ist wie sonst." (S.74) Einer der Sätze, deretwegen sich die Lektüre des Vortrags lohnt. Wir nähern uns dem Ende des Textes und seiner Gedankenführung. Die Begriffe beziehen sich enger und intensiver aufeinander; deutlich wird, neben anderem, die herausgehobene Stellung der Dichtung als Sprachkunstwerk, als das SprachWerk. Hörer der Schopenhauer/Nietzsche-Vorlesung im vergangenen Wintersemester werden sich noch an die Hierarchie der Künste in der Ästhetik Schopenhauers erinnern. Kurz resümiert: Unten stehen Architektur/Baukunst und bildende Kunst. Darüber alle Sprach-Kunst, mithin alle Literatur; an ihrer Spitze, wie üblich, die Tragödie. Aber ganz oben in der Hierarchie steht bei Schopenhauer die Musik, weil sie das Wesen der Welt sprachlos und ohne die Qualen des Willens ausdrückt. Eine zutiefst romantische Theorie, die bis ins 20. Jahrhundert von immensem Einfluß war. Bei Heidegger nun wird wieder, wie in vor-romantischen Zeiten, der Sprache die höchste Stufe zugewiesen. Gemeint ist naturgemäß nicht die Sprache der pragmatischen Kommunikation, sondern die Sprache als Moment der Offenwerdung des Seins. Sie nennt das Seiende und ent-birgt es zur Erfahrung des Seins. Genauer: zur Erfahrung eines geschichtlichen und kollektiven Seins: "Die jeweilige Sprache ist das Geschehnis jenes Sagens, in dem geschichtlich einem Volk seine Welt aufgeht und die Erde als das Verschlossene aufbewahrt wird." (S.76) Letzteres, die Wiederaufnahme des Begriffs "Erde", deute ich als das GegenGewicht zur Offenbarung der Welt in der Kunst. Die Erde ist das Verschlossene, das Ungreifbare, aber auch das Tragende, aus dessen dunkler Kraft das Gründende von Stadt, Sprache, Kultus und Kunst entstehen. "Die Sprache selbst ist Dichtung im wesentlichen Sinn." (S.76) In der Sprache vollzieht sich der Streit (polemos), den Heraklit als den Vater von Allem bezeichnet hatte, vollzieht sich die Auseinandersetzung mit der Welt. Es entsteht daraus das Werk, die Stiftung der Wahrheit, die Erfahrung des Ursprungs. Damit erreicht Heideggers Text seinen Höhepunkt. Es ist die Feier des Anfangs - "das Eigentümliche des Sprungs aus dem Unvermittelbaren her" (S.78). Auch hier ist das Expressionistische der Formulierung und der Idee evident. Das emphatische Ursprüngliche hat nichts zu tun mit dem Primitiven. "Der Anfang dagegen enthält immer die unerschlossene Fülle des Ungeheuren und d.h. des Streites mit dem Geheuren. Kunst als Dichtung [...] ist Stiftung als Anfang." (S.79) Heidegger sieht in der Vergangenheit drei Anfänge. Zuerst natürlich im Griechentum als dem Ursprung unseres Verständnisses von Sein und Kunst. Dann im Mittelalter "zum Seienden im Sinne des von Gott Geschaffenen." (S.79) Und schließlich in der Neuzeit: "Das Seiende wurde zum rechnerisch beherrschbaren und durchschaubaren Gegenstand." (S.79) (Griechentum Mittelalter - Neuzeit: Spengler hat da ersichtlich keine Spuren hinterlassen. Oder doch: in der verbissenen, geradezu fanatischen Negation seiner Konzeption. Dazu mehr im nächsten Kapitel, dem über Heideggers HölderlinVerständnis und Griechenland-Vision!) Damit sind definitiv Kunst und Geschichte, Kunst und Anfang miteinander verknüpft: "Immer wenn Kunst geschieht, dh. wenn ein Anfang ist, kommt in die Geschichte ein Stoß, fängt Geschichte erst oder wieder an. Geschichte meint hier nicht die Abfolge irgendwelcher und sei es noch so wichtiger Begebenheiten in der Zeit. Geschichte ist die Entrückung eines Volkes in sein Aufgegebenes als Einrückung in sein Mitgegebenes." (S.79) Ein typischer Heidegger-Satz, den ich so auslege: Kunst bezieht sich, wenn sie wesentlich ist oder sein soll, stets auf den Kampf um die Wahrheit, auf den Kampf um die neue Perspektive eines Volkes. Nur als Moment einer geschichtlichen Aufgabe kann die Kunst Teil des Ursprungs sein, Teil des Ursprungs-Mythos. Sie ist damit Wahrheit im Sinn der Unverborgenheit, im Sinne der schaffenden Auseinandersetzung, einer neuen Setzung des Seienden. "Die Kunst ist Geschichte in dem wesentlichen Sinne, daß sie Geschichte gründet." (S.80) Sie bringt Seiendes ins Sein - darum ist sie ein Ursprung. Nun mag man fragen, was dies mit (zum Beispiel) van Gogh zu tun hat. Ganz offensichtlich trägt hier die geschichtliche Stunde des Jahres 1935 den Verfasser über die Konkretion des Text-Anfanges hinaus. Nicht jedes Kunstwerk, nicht einmal jede Dichtung kann ein Gründungs-Mythos sein. Läßt man diesen Gedanken in seiner Erhabenheit für den Moment beiseite und beschränkt sich allein auf das Werk in seiner Singularität und wesenhaften Kraft, dann gelangt man zu dem etwas weniger hermetisch-pathetischen, dafür um so treffenderen Satz: "Das ist so, weil die Kunst in ihrem Wesen ein Ursprung ist: eine ausgezeichnete Weise wie Wahrheit seiend, dh. geschichtlich wird." (S.80) Womit wir uns dem Schlußgedanken nähern. Warum fragen wir uns diese Fragen? Warum beschäftigen wir uns überhaupt mit diesen Dingen? Weil nur so, laut Heidegger, den Schaffenden der Weg zur Kunst bereitet wird ( - auch dies ein Gedanke. der, so will mir scheinen, bei Hölderlin vor-gedacht ist, in der Elegie "Brot und Wein", zum Beispiel). Durch unser vorbereitendes Mühen entscheidet sich, ob die Kunst ein emphatischer Ursprung ist oder "eine üblich gewordene Erscheinung der Kultur" (S.81), die dann zu einer Vergangenheit wird, in der die Nachgeborenen nichts anderes mehr zu sehen vermögen als ein verstaubtes Dokument. Nur wenn wir "am Ursprung" sind, sind wir in der Wahrheit; nur dann können wir, so sagt es Heidegger am Ende des Textes mit einem Hölderlin-Zitat ("Schwer verläßt / Was nahe dem Ursprung wohnet, den Ort", aus dem Gedicht "Die Wanderung"), Teil eines Sprungs in die neue, die wesenhafte Welt sein. Was dazu notwendig ist, bleibt offen, wie stets bei Heidegger in solchen Zusammenhängen. Vage wird ein "Entweder - Oder" genannt, ein manichäischer Dualismus, vor dem wir angeblich stehen, prinzipiell, jetzt im Jahr 1935. Ich versuche eine knappe resümierende Schlußbemerkung, den Versuch einer, auch historischen, Einschätzung und Wertung dieses Vortrags nach fast 70 Jahren. Meine Perspektive ist nicht nur grundsätzlich anders als die des Autors, sie betrachtet den Text als einen vergangenen. Es fällt zunächst auf, daß die Kunst als ein eigenständiger Welt-Zugang begriffen und legitimiert wird. Sie, als wahre Kunst, ist niemals Propaganda oder Explikation eines ihr Vorgängigen, etwa eines politischen Meinens oder Wollens. Zwar erscheint die Kunst nur dann als Moment der "Wahrheit", wenn sie Teil einer Macht - man könnte auch sagen: eines Mythos - des Ursprungs ist. Dann jedoch tritt sie gleichwertig neben Philosophie, Religion und Staatlichkeit. Freilich zeigt sich der abstrakte Duktus vor allem darin, daß er mit Beispielen extrem geizt. Zwar gelingt ihm eine eindrucksvolle Interpretation des van Gogh-Gemäldes, aber damit findet die Konkretion auch schon ihr Ende. Weder die Sätzs zu Conrad Ferdinand Meyers Gedicht "Der römische Brunnen" oder zu den Tragödien der Griechen oder zur sakralen Architektur der Antike sind sonderlich spezifisch oder lassen ahnen,warum gerade diese Exempla gewählt werden und nicht ganz andere. Gleichwohl bleibt der Eindruck eines sehr dichten und konzeptuell präzisen Textes, bei Unklarheiten im einzelnen, wie stets bei Martin Heidegger. Ein Text, der die Kunst als autonome unter dem Gesetz der Wahrheit hypostasiert. In der Kunst entbirgt sich eine ansonsten verborgene, eine dunkle und undurchsichtige Welt. Das bedeutet für den Rezipienten: Die Kunst gewährt die intensive und transitorische Erfahrung eines Anders-Seins, eines ekstatischen Anders-Seins. Sie rückt damit an die Seite der Religion. Beides sind Erfahrungen der Wahrheit im Moment ihres Hervortretens in die Un-Verborgenheit. Heideggers Kunst-Denken visiert lediglich die Gipfel-Werke der Gattung an. Alles andere ist "Kultur", ist Betriebsamkeit und historisches Dokument. Dokumente wirken nicht mehr. Sie öffnen keine Lichtung des Seins. Aber kann es nicht sein, daß aus einem tradierten Dokument unter bestimmten geschichtlichen Umständen wieder ein Kunstwerk wird, das eine neue Epoche begründet - oder begründen könnte, wenn die Menschen der neuen Zeit es ernstnehmen als erneuerten Gründungs-Mythos? Ich spreche vom Werk Friedrich Hölderlins und Martin Heideggers Auslegungen dieses Werkes. 3. Martin Heidegger: Hölderlin Rezeption Hölderlins Altertum - Mittelalter - Neuzeit versus Spenglers Konzeption Grundzüge der Poetologie Hölderlins Martin Heidegger: Hölderlin und das Wesen der Dichtung Heideggers Theorie der Sprache im Zusammenhang mit seinen HölderlinInterpretationen Zusammenfassung, Ausblick Friedrich Hölderlin ist für Martin Heidegger nicht nur der bedeutendste deutsche Lyriker, sondern darüber hinaus der Künder einer neuen Zeit, der Mittler zwischen der Sphäre der Menschen und der der Götter, einer, dessen Bedeutung die Gegenwärtigen noch kaum erahnen und dessen wahre geistige Dimension erst die Zukunft zeichnen kann. Große Worte, pathetische Worte, sakrale Worte. Ich möchte mich dieser eigentümlichen Form und Daseinsweise einer Verehrung langsam und gleichsam auf Umwegen nähern. Heidegger hat den Lyriker Goethe mit Schweigen übergangen und auch die meisten der signifikanten Romantiker. Das ist das gute Recht eines Philosophen, der kein Literaturhistoriker ist und nicht zu sein braucht. Aber die quasi-religiöse Verehrung Hölderlins bleibt dennoch eigenartig und herausragend. Sie hat am wenigsten zu tun mit landsmannschaftlicher schwäbisch-alemannischer Verbundenheit ("Heimat"). Warum ist sie so exzeptionell? Ich gehe einige Umwege. Hölderlin war im 19. Jahrhundert durchaus kein Unbekannter oder gänzlich Verkannter. Aber es erschienen nur wenige Texte zu Lebzeiten (der Roman Hyperion war die einzige selbständige Publikation bis zu seinem Tod; daneben erschienen einige Gedichte in Zeitschriften, Almanachen und Anthologien); so daß sein Oeuvre, durch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch, nur höchst fragmentarisch vorlag. Sein Einfluß blieb naturgemäß begrenzt. Immerhin hielt der Hyperion den Namen in einer gewissen scheuen Verehrung einiger Weniger, darunter interessanterweise Nietzsche. Erst um 1900 wurde das Spätwerk erschlossen, also die gewaltigen Hymnen und Elegien, auf denen heute der Großteil des Ruhmes beruht, und die Empedokles-Fragmente. Es war der Kreis um Stefan George, der Hölderlin aus der Sphäre eines liebenswerten und mit viel Unglück geschlagenen schwäbischen Lokaldichters in die Höhen der Weltliteratur hob. Der George-Schüler Norbert von Hellingrath konzipierte und begann die erste historisch-kritische Ausgabe, ab 1911, mit der zum ersten Mal Hölderlins Werk in seiner Gesamtheit erkennbar wurde. Es dauerte freilich noch viele Jahrzehnte, bis die säkulare Bedeutung Hölderlins unbestreitbar geworden war. Wenn sich also Martin Heidegger von 1934 an - mit einer Vorlesung über die Hymnen "Germanien" und "Der Rhein" - mit Hölderlin intensiv zu beschäftigen begann (und der letzte Vortrag stammt aus dem Jahr 1968), so fällt das durchaus noch in die Jahre und Jahrzehnte einer Entdeckung der wahren Bedeutung Hölderlins. Es waren gründende, also grundlegende Arbeiten; ganz unabhängig davon, ob man ihnen im einzelnen oder im ganzen zustimmt oder nicht. Es ist Hölderlin, der für Heidegger mehr als für jeden anderen Interpreten die Verbindung herstellt zwischen dem antiken Griechenland und dem Deutschland der Gegenwart, zwischen dem, was Heidegger als den Anfang des abendländischen Denkens gesehen hat und der Situation der Not unserer Jahre ("Dichter in dürftiger Zeit"), die für ihn einen neuen Anfang, einen Ursprung aus neuem Geiste zu fordern schien. Nur aus der Besinnung auf das Griechenland der Vergangenheit, das gleichzeitig ein Ort des Ursprungs war, konnte ein Neues entstehen, unter Rekurs auf Hölderlin als der zentralen Mittlergestalt zwischen damals und heute, dem Göttlichen und dem Menschlichen, zwischen Heimat und Kosmos, Endlichkeit und Transzendenz. Wege, Umwege hin zu Heideggers Verständnis der Welt Hölderlins und seiner Gedichte; einen zweiten möchte ich jetzt gehen. Heidegger war, wie selbstverständlich, in seinem Vortrag "Der Ursprung des Kunstwerkes" von der Trias "Altertum - Mittelalter - Neuzeit" ausgegangen. Dreimal, so Heidegger, gelangte das Seiende in die Offenheit einer jeweils neuen Welt-Erfahrung: im Griechentum, eben dem "Altertum", dann im "Mittelalter" als der Erfahrung des Seienden als des von Gott Geschaffenen und schließlich in der "Neuzeit", der Epoche, in der das Seiende zum "rechnerisch beherrschbaren und durchschaubaren Gegenstand" objektiviert wurde. Das mag uns mehr oder minder selbstverständlich erscheinen. Zumindest diese Trias als geschichtsstrukturierende Erkenntnis. Was aber durchaus nicht selbstverständlich ist oder sein sollte. Denn was meint sie eigentlich? Die Weltgeschichte sei in drei Stadien verlaufen, wovon das erste Stadium die griechische und römische Antike umfaßt habe, vielleicht noch zusammen mit den ägyptischen und babylonischen Vorläufern; das zweite Stadium sei die Zeit von etwa 800 n.Chr. bis etwa 1400 n.Chr. in Europa gewesen; und die Neuzeit als drittes Stadium erstrecke sich von etwa 1400 n.Chr. bis in unsere Jahre, geographisch zu lokalisieren in Europa und den von Europa eroberten und besiedelten Regionen Nord- und Süd-Amerikas. Daß dies eine höchst eigentümliche Gliederung ist, haben schon viele bemerkt und kritisiert. 1. Was ist mit Indien und China, mit Rußland und Afrika, mit den präkolumbianischen Kulturen Amerikas? Sie existieren in diesem radikal eurozentrischen Ansatz überhaupt nicht oder nur als zufälliger Raum einer ökonomischen und/oder kulturellen Beeinflußumg oder als begriffs- und namenlose Vorzeit ("prä-kolumbianisch"). 2. Was war davor, was kommt danach? Die Trias suggeriert, daß Geschichte im emphatischen Sinn lediglich in Europa stattfindet. Das ist Hegelianismus in Reinkultur. Vielleicht läßt sich eine Geschichte der modernen Technik so gliedern, aber diese Geschichte ist ja möglicherweise etwas Abgeleitetes, nichts Gründendes. 3. Die Trias bezieht das Griechentum und Rom auf die Kultur des europäischen Raumes der letzten 1200 Jahre im Sinne eines Kontinuums und einer direkten Abhängigkeit, einer inneren Verwandtschaft. Dies ist das Fragwürdigste von allem. Heidegger muß an dieser Trias festhalten, weil nur so die unmittelbare, die geradezu schicksalhafte Relation Griechentum der Antike - modernes Europa/Deutschland gedanklich gerettet werden kann. Welche andere Perspektive ist möglich - die freilich Heideggers Konstruktion unterminieren würde? Die Kultur-Morphologie und Geschichts-Philosophie Oswald Spenglers (1880 - 1936) etwa, die daher von Heidegger konsequent ignoriert werden muß und ignoriert wird. In seinem berühmten Werk Der Untergang des Abendlandes (1.Band 1918; 2.Band 1922) hat er ein GegenModell entworfen, das natürlich auch Heidegger bekannt war und das er umgehen, totschweigen mußte, wollte er die direkte Abhängigkeit des deutschen/europäischen Geistesraumes von der griechischen Antike nicht preisgeben und damit seine Theorie ruinieren. Dieses Gegen-Modell sieht etwa so aus: Spengler verabschiedet die Trias Altertum - Mittelalter - Neuzeit und ersetzt sie durch die Idee oder die Konstruktion voneinander unabhängiger Kulturkreise. Es wird seltsamerweise nie klar und definitiv gesagt, wie viele es gibt; Spengler nennt mit unterschiedlichen Gewichtungen die indische Kultur und die chinesische, die ägyptische und die arabische, die mexikanische und die russische, die antike (griechisch-lateinische) und die abendländische ("faustische"). Von zentraler Relevanz sind allerdings nur die beiden letzteren. Jede der Kulturen ist, so insistiert Spengler, autonom und unbeeinflußbar, eine jeweils neue Form menschlicher Zivilisation, Welt-Erfahrung und Welt-Erfassung; aber jede verläuft in gleicher Weise, in analogen Schritten und Formen, eine Art kulturelles Naturprodukt mit Beginn, Blüte, Höhepunkt des Formenreichtums und äußerer und innerer Macht, schließlich Verfall (was Spengler "Zivilisation" nennt, eine leere, manierierte und brutale Spätzeit), dann Untergang und Erlöschen aller Spuren oder formbildenden Kräfte. Spengler spricht über diese Kulturen nicht mit gleicher Intensität und gleichen Kenntnissen. Manche werden gleichsam nur gestreift, etwa die chinesische oder die altägyptische, manche in isolierten Aspekten betrachtet. Wirklich interessiert er sich lediglich für die griechisch-römische Antike und das Abendland, also unsere Kultur, die nun, mit dem Weltkrieg 1914-1918, in das Stadium des Niedergangs (was der Buchtitel einigermaßen mißverständlich „Untergang“ nennt) eingetreten ist und den gleichen Weg gehen wird wie das kaiserliche Rom. Das war der Aspekt, der um 1919 naturgemäß die meisten Leser fasziniert hat und am erbittertsten diskutiert worden ist. In unserem Kontext ist anderes wichtiger. Spenglers Kultur-Morphologie, wie er sein Verfahren selbst genannt hat, beruht entscheidend auf der These von der Unabhängigkeit jeder einzelnen Kultur voneinander. Jede Kultur entwickelt sich zwar naturgesetzlich in analoger und homogener Weise, aber jenseits aller Kausalitäten. Will sagen: Tatsächliche Beeinflußungen einer Kultur durch eine oder mehrere andere gibt es schlechterdings nicht. Der Verlauf jeder dieser Kulturen gehorcht biologischen Gesetzen, wie bei jeder Pflanze, jedem Tier, wie beim Menschen. Jede einzelne schafft ein jeweils neues Spiel der Formen, schafft eine neue Kunst-Sprache, eine neue Zivilisation, ja auch neue NaturWissenschaften, eine neue Mathematik, eine neue Symbolik. Aber alles nach den gleichen strengen Natur-Gesetzen von Anfang, Blütezeit, äußerem Höhepunkt, Verfall und Tod/Ende. Wie bei allen Natur-Wesen. Das kann man durchaus eine fatalistische Geschichts-Auffassung nennen. Wenn es keine genuine Beeinflußung gibt, gibt es auch kein wirkliches Verständnis einer anderen Kultur, bestenfalls eine akademische Annäherung. Wir konstruieren uns eine griechische Antike, die nichts anderes ist als unser Bild der Antike, etwa in der Renaissance oder in der deutschen Klassik, und die mit der Realität des antiken Griechenland oder des alten Rom wenig bis nichts zu tun hat. Zwischen den Kulturen kann es , so Spengler, nur Mißverständnisse oder Gleichgültigkeit geben. Es gibt folglich keine wirkliche Rezeption, nur einen chimärischen Glauben daran. Nun hat diese Theorie, neben vielen Wahrheiten und durchaus realistischen Einsichten in die Unübersteigbarkeit des eigenen Gartenzauns, den erkenntnistheoretischen Nachteil, nicht widerspruchsfrei zu sein. Denn zum Faszinierendsten an Spenglers Buch gehört die Beredsamkeit und intellektuelle (auch die rhetorische) Kraft, mit der er die wahre antike Welt - im Unterschied zu den Konstruktionen der Historiker und Literaten vor ihm - vor unseren Augen ausbreitet. Wer so eloquent und begriffsscharf die Differenzen benennen kann, kann sehr wohl von dieser Antike für unsere Epoche lernen, durch die Andersartigkeit ihrer Existenz und ihrer Formensprache. Unangetastet bleibt freilich in jedem Fall die Zentral-These, daß allen geschichtlichen Abläufen eine elementare Unentrinnbarkeit inhärent ist. Wenn wir uns im 20. Jahrhundert also in der zivilisatorischen Spät-Phase der abendländischen („faustischen“) Kultur befinden, dann ist jede Hoffnung auf einen kommenden Gott, auf ein WiederErscheinen des Göttlichen, auf eine Überwindung der Epoche der Götterferne vollständig sinnlos. Heideggers Religiosität der Erwartung fällt dann unter Spenglers abwertenden Begriff von der „sekundären Religiosität“ innerhalb einer jeden Spät-Zeit - einer Religiosität, die entsteht nach dem Durchgang einer jeden Kultur durch eine Phase radikaler atheistischer Aufklärung, und die dann nichts anderes mehr ist als privatistischer Synkretismus (schlicht gesagt: Jeder nimmt sich an religiösen Lehren, Symbolen und Formen, was er und woher er es bekommen kann. Spenglers Vorhersage; ernsthaft nicht zu bestreiten.). „An der Zeit“ sind in dieser Spät- und End-Phase nicht mehr Religion oder Kunst oder Philosophie, sondern an der Zeit ist die Techniki all ihren Ausdrucksformen. Die abendländische Zivilisation, in ihr finales Stadium getreten, kann nicht in ihrer Richtung, gar prinzipiell verändert werden, sie kann nur bejaht oder verneint werden. Wer sie aber verneint, begibt sich um jeden Einfluß innerhalb ihres unerschütterlichen Ganges. Martin Heidegger mag vieles davon nicht gänzlich anders gesehen haben. Freilich bleibt ihm, wie konstruiert auch immer und gänzlich unähnlich Spengler, der Ausweg aus der geschichtlichen Unerbittlichkeit in der Gestalt einer neuen religiösen Epiphanie. Hölderlin war der Dichter, der als erster aus diesem Bewußtsein, innerhalb dieses Horizonts gesprochen hat. Seine Gegenwart war ihm die Zeit der „Götternacht“, also der fundamentalen Abwesenheit des Göttlichen in der Welt. Diese Götternacht ist ihm nicht, wie den Aufklärern des 18. Jahrhunderts, ein Triumph des autonomen Menschen über Aberglauben und Pfaffenbetrug, Fremdbestimmung und intellektuelle Dunkelheit, sondern ein Signum kosmischer Verlorenheit. Einst weilten die Götter unter den Menschen - im „seligen Griechenland“. Mit dem Untergang der antiken Welt sind auch die Götter, ist die Erfahrung des Göttlichen - eines innerweltlich Göttlichen, im Unterschied zum transzendenten Absolutheitsglauben des Christentums verschwunden. Christus ist in dieser Hölderlinschen Mythologie nicht der inkarnierte Sohn Gottes, sondern eine Mittlergestalt, der mit dem Einsetzen des Abendmahls, also mit Brot und Wein, die Erinnerung an die Sphäre des Göttlichen, des Sakralen, gleichsam existierend zwischen Himmel und Erde, wachhält. Gerade durch die Nächte der Götter-Abwesenheit hindurch. In diesen Nächten, also in unserer Zeit, sind es lediglich einige Wenige, einige vereinzelte und vereinsamte, Dichter, die die Erinnerung an das verschwundene oder vergessene Göttliche erhalten. Der Dichter der Moderne ist, in dieser Perspektive, nicht Teil einer Unterhaltungs- und Zerstreuungs-Manufaktur, kein Propagandist oder Kritiker irdischer Verhältnisse, sondern er ist Moment einer anders nicht möglichen Bewahrung des Sakralen. Dichtung im Verständnis Hölderlins ist ein heilsgeschichtliches und existentielles Ereignis, das den Advent des Neuen Gottes vorbereiten und die Menschen der hesperischen Welt auf sein Kommen einstimmen soll. Nimmt man noch die Vita Hölderlins hinzu, vor allem de geistigen Zusammenbruch um 1805 und das sich anschließende lange Dämmern im Turm zu Tübingen, dann ist fast alles versammelt, was im 20. Jahrhundert zum Mythos Hölderlin werden sollte. Und Teile dieser Mythisierung stammen von Martin Heidegger. Ich möchte einen dieser Texte, in denen sich die Mythisierung Hölderlins vollzogen hat, genauer betrachten, den Vortrag „Hölderlin und das Wesen der Dichtung“ aus dem Jahr 1936. Es ist ein kurzer und sehr konzentrierter Text, der die zentralen Aspekte des Heideggerschen Hölderlin-Bildes klar hervortreten läßt. Die einzelnen Interpretationen beziehen sich auf und gehen aus von insgesamt fünf Sätzen aus dem lyrischen Werk Hölderlins. Es sind Sätze über das Dichten, über das Wesen der Dichtung, teils direkt darauf abzielend, teils auf Umwegen relevant für Heideggers Kunst-Denken. Hölderlin war für Martin Heidegger „der Dichter des Dichters“ (S.34), also der Künstler, der wie kein anderer das Wesen der Dichtung in das Zentrum seiner Dichtung gestellt hat. Die erste Sentenz, aus einem Brief an die Mutter vom Januar 1799, spricht vom Dichten als dem „unschuldigsten aller Geschäfte“ (S.34). Unschuldig ist es, weil es ein Spiel ist, keine weltverändernde Tat, und weil sich dieses Spiel bewegt im Bereich der Sprache, nicht innerhalb des Empirischen. Gleichzeitig aber ist die Dichtung - zweites Zitat - „der Güter Gefährlichstes“ (S.35). Das ist sie und muß sie sein, weil sie vom Höchsten handelt. Zwar ist die Sprache für die meisten Menschen und für alle innerweltlichen Situationen das primäre Mittel der Kommunikation. Aber darin erschöpft sich mitnichten ihre Bedeutung. Ja, ihr Wesen ist damit nicht einmal tangiert. Eigentlich ist sie doch eine elementare Form, „inmitten der Offenheit von Seiendem zu stehen“ (S.38). Wo Sprache ist, ist Welt, und nur wo Welt ist, geschieht Geschichte. Sie ist folglich das „Ereignis, das über die höchste Möglichkeit des Menschseins verfügt“ (S.38). In dieser Höhe ist sie in besonderer Weise ausgesetzt und damit gefährdet; gleichzeitig jedoch herausgehoben und exponiert als Partizipation am Göttlichen. Das dritte Hölderlin-Zitat entstammt dem titellosen Fragment „Versöhnender, der du nimmergeglaubt ...“ aus dem Spätwerk. „Viel hat erfahren der Mensch, / Der Himmlischen viele genannt, / Seit ein Gespräch wir sind / Und hören können voneinander.“ (S.38)Seit ein Gespräch wir sind - so interpretiert Heidegger diesen poetischen Satz - seitdem wir geschichtlich geworden sind, haben wir die Erfahrung des Göttlichen und das Sich-Öffnen der Welt er-lebt. Gleichzeitig hat uns die Sprache die Möglichkeit gegeben, mit den Göttern in ein Gespräch zu treten. Und umgekehrt gibt die Sprache den Göttern die Möglichkeit, uns anzusprechen, uns zum Teil ihrer Welt zu machen, mit uns in ein Gespräch zu kommen. „Seit die Götter uns in das Gespräch bringen, seit der Zeit ist es die Zeit, seitdem ist der Grund unseres Daseins ein Gespräch.“ (S.40) Man spürt, daß Heidegger von Anfang an das Wesen der Dichtung, den Dichter selbst und das dichterische Wort auf etwas ihnen Nahes, aber doch NichtIdentisches bezieht: nämlich auf die Götter, auf das Göttliche, die Epiphanie einer Transzendenz, die nicht ausgeht von und beschlossen ist in einem Dogma, sondern die einzig in einer gesteigerten, in einer existentiellen Situation erfahrbar und nur im dichterischen Wort darstellbar ist. Das führt zum vierten Zitat. „[...] was bleibet aber, stiften die Dichter“ - das ist der Schluß des Gedichtes „Andenken“ (S.41). Das Bleibende ist kein an sich Bleibendes, dh. Gegründetes, sondern bedarf des dichterischen Wortes, um in der Zeit dauern und gegen die Verwüstungen der Geschichte zum Stehen, zum Innehalten gebracht zu werden. So stiftet der Dichter das Bleibende, er stiftet das Sein (S.41). Er stiftet es nie aus der Menge des Seienden, sondern er stiftet es aus einem Akt des Ursprungs. „Das Sagen des Dichters ist Stiftung nicht nur im Sinne der freien Schenkung, sondern zugleich im Sinne der festen Gründung des menschlichen Daseins auf seinem Grund.“ (S.41f) Wir erinnern uns, daß Hölderlin die Dichtung in die Ambivalenz von „Höchstem“ und „Gefährdetstem“ gestellt hatte. Darauf rekurriert das fünfte und letzte Zitat, aus dem ebenfalls titellosen Gedicht „In lieblicher Bläue blühet ...“. Es lautet: „Voll Verdienst, doch dichterisch wohnet / Der Mensch auf dieser Erde.“ (S.42) Eine bemerkenswerte Entgegensetzung: voll Verdienst - doch dichterisch. Was bedeutet das? Heidegger interpretiert die Sentenz etwa so: Die irdischen Dinge und Relationen des Menschen sind die eine Welt, innerhalb derer er sich das Seine „verdient“. Aber die eigentliche Ordnung der Welt geschieht an anderer Stätte und vollzieht sich nach anderen Gesetzen, nach einer „dichterischen“ Logik. Diese dichterische Logik steht deshalb - nach Heideggers Definition des Dichterischen - herausgehoben, weil sie partizipiert an der Wahrheit des Göttlichen. Das „Dichterische“ kann daher nur verstanden werden als Geschenk, als ein ohne Verdienst Existentes. Und weil der Dichter der Statthalter dieses Exzeptionellen ist, ist er ein Herausgehobener. Gleichzeitig ist er aber auch ein Ausgesetzter, denn die Sphäre des Göttlichen ist eine des Erhabenen und eine des Schrecklichen. Wer von Apoll geschlagen ist, steht über den Anderen. Wer aber über den Anderen steht, ist gefährdeter als die anderen. Heidegger zitiert aus dem Empedokles-Fragment: „es muß / Bei Zeiten weg, durch wen der Geist geredet“. In der Dichtung gründet somit im emphatischen Sinne die Welt des Seienden und öffnet sich für die Erfahrung und die Entbergung des Göttlichen. Martin Heideggers Kunst-Denken steht in der Tradition des deutschen Idealismus, auch der Schopenhauers (wiewohl er gerade für diesen kein freundliches Wort findet in seinen philosophiehistorischen Vorlesungen und Vorträgen) und Nietzsches, für die die Kunst eine spezifische Form der Entfaltung der Wahrheit, ein Durchschauen des empirischen Trugs und ein Mittel zur Steigerung des Lebens ist. Gleichzeitig radikalisiert Heidegger das immer schon diesen Theorien latent inhärente Theologische beträchtlich: Hölderlin ist ihm der Statthalter der Idee von der Abwesenheit Gottes in dürftiger Zeit, unserer Gegenwart. Kunst begründet jetzt nicht bloß die geschichtliche Existenz des Menschen sie erscheint als Dialog des Menschen mit den Göttern. Der Künstler bewahrt das Feuer des Göttlichen und benennt die Götter im Prozeß der Artikulation des künstlerischen Wortes. Gleichzeitig ist der Künstler ( - ein Künstler wie Hölderlin, so muß der Leser ständig hinzudenken)die Stimme seines Volkes, auserwählt und ausgesetzt. Der, durch den der Geist redet, lebt prekärer, gefährdeter als die Anderen. Damit knüpft Heidegger an die antike Vorstellung vom Künstler als dem dem Wahnsinn Nahen an. Als säkularer Priester von Apoll und Dionysos ist er der Mittler zwischen Göttern und Menschen, aber er ist kein Halbgott oder Übermensch, sondern eine tragische Figur der Epoche des Übergangs. Hölderlin spricht in seiner Zeit von zwei anderen Epochen: von der Zeit der jetzt entschwundenen Götter und von der Zeit des kommenden Gottes. Mithin ist unsere Zeit, die zwischen der Anwesenheit der Götter in der griechischen Antike und ihrer Wiederkunft in undenklicher Zukunft, mithin ist unsere Gegenwart eine „dürftige Zeit“. Dieses vielverwendete Wort stammt ursprünglich aus Höldrerlins 1801 – 1803 entstandener Elegie „Brot und Wein“. Die „dürftige Zeit“ ist die Gegenwart der Götternacht. „Dürftig“ bedeutet hier zweierlei: Einmal meint es „schwach, armselig, kümmerlich“; und es bedeutet „bedürftig, etwas nicht besitzend, von Mangel gekennzeichnet“. Die Gegenwart ist also eine Epoche des Mangels wegen der Abwesenheit des Göttlichen und wegen der menschlichen Unfähigkeit oder Unwilligkeit, den Boden zu bereiten für die Ankunft des Gottes. Einzig der Dichter lebt in der Erwartung und spricht von ihr. So bahnt er der Wahrheit einen Weg, in die Lichtung der Unverborgenheit. Darin liegt das Wesen der Dichtung und liegt die Aufgabe des Dichters. Keiner hat, so sagt Heidegger, dies so klar empfunden und in immer neuen Anläufen beschrieben wie Friedrich Hölderlin. Darum ist er für Heidegger der paradigmatische Dichter des Abendlandes, nicht nur der paradigmatische Dichter der Deutschen, zwischen vergangenem Griechentum und der Ankunft des neuen Gottes. Nur er, der Dichter in dürftiger Zeit, kann davon angemessen sprechen. Martin Heideggers Vorlesungen über Hölderlin nehmen diesen Gedanken auf, variieren ihn und exemplifizieren ihn an einzelnen Hymnen, an „Germanien“, „Der Rhein“ und „Der Ister“ (i.e.: die Donau). Dabei werden „Germanien“ und „Der Rhein“ interpretiert in der Vorlesung des Wintersemesters 1934/35, also direkt nach der Niederlegung des Rektorats der Universität Freiburg. Es scheint mir zu zeitaufwendig, den gesamten Gedankengang dieser HölderlinAuslegungen hier nachzeichnen zu wollen. Zudem finden sich in allen Gedanken zu Hölderlin stets wiederkehrende Vorstellungen und Zitate. In der zweiten Vorlesung zu Hölderlin, Hölderlins Hymne 'Der Ister', aus dem Sommersemester 1942, findet sich zudem eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Tragödie Antigone des Sophokles, ihrem Menschenbild und der Idee der antiken Polis. Das alles würde zu weit abführen vom Thema Heidegger und Hölderlin. Ich möchte und werde mich beschränken auf zwei Themen: 1. Martin Heideggers Sprachtheorie im Kontext seiner Hölderlin-Deutung; und 2. den geheimen und vielfach durchaus offensichtlichen Bezug dieser HölderlinExegese zur gesellschaftlich-politischen Situation der Zeit. Zeit meint hier: die Epoche der Götternacht, die Epoche der Technik und einer universalen Mobilmachung im Zeichen des Willens zur Macht. Im engeren Sinn meint Zeit natürlich die Zeit des Nationalsozialismus und die des Krieges. Die These Heideggers zur Sprache wäre, kurz gefaßt, so zu lesen: Die dichterische Sprache ist zu definieren als die höchstmögliche Art und Weise der dem Menschen möglichen Gründung der Welt. Dichtung ist zu sich selbst gekommene Sprache. In der und durch die Dichtung gründet das Sein. Heidegger sieht seine Sprach-Philosophie von Hölderlin vorgedacht. Heidegger sieht in Hölderlin unsere Aporien und Utopien schon angelegt und dichterisch antizipiert. Wenn die Sprache den Menschen ungeschützt in die Wirksamkeit des Seins stellt, dann ist sie in der Tat „der Güter Gefährlichstes“, denn dann setzt sie ihn, den Menschen, der Gefahr des Seinsverlustes, der Seinsvergessenheit aus. Schwierige Begriffe, deren Bedeutung ersichtlich im Religiösen wurzelt. Indem die Sprache das Haus des Seins und Mittlerin zwischen Göttlichem und Irdischem ist, rührt sie an die höchste dem Menschen mögliche Erfahrung. Gefährlich ist die Sprache, weil sie in sich die Gefahr der Verflachung und des Verfalls trägt. Denn die Alltagssprache, „das Gerede“, also die pragmatische Kommunikation - dies alles verfällt bei Heidegger dem Verdikt (gewisse Parallelen zu Adorno - siehe seine Verdammung der „Kulturindustrie“ - sind unleugbar). Alltagssprache - das ist Gerede, das ist Un-Eigentlichkeit, das ist die Sphäre des „Man“ (Sein und Zeit; §27). Alltagssprache als Kommunikationsform, so ist der Interpret zusammenfassend geneigt zu sagen, bedient sich eines Mediums, das zu Höchstem geschaffen wurde und nun, eben durch das Gerede, entweiht wird. Das soll natürlich nicht bedeuten, daß der Mensch in der Sprache nur den Kontakt zum Göttlichen suchen müsse oder lediglich die existentiellen Grenzsituationen wie Geburt und Tod, Liebe und Haß thematisieren dürfe. Wohl aber soll es bedeuten, daß die Sprache dem Menschen zum Begreifen und Aussprechen der „wesentlichen Verhältnisse“ (II. Abteilung, Band 39, S.74) gegeben ist. Nur so wird sie selbst wesentlich und drückt das Wesentliche aus. Daß der einzelne Mensch und die Gemeinschaft der Menschen nicht immer „wesentlich“ sein können, dürfte Heidegger nicht bestreiten. Bemerkenswert in diesem Kontext ist, daß sprachliche Eigentlichkeit und die Erfahrung des Kunstwerkes zwei ontologische Zustände benennen, deren kategoriale Nähe das explizite Verständnis von Kunst als dem herausgehobenen Medium des Anderen und eines Anderswo nochmals bestätigt. Ein knapper Exkurs sei erlaubt, vor den abschließenden Überlegungen zu Heideggers Sprach-Philosophie oder Sprach-Theologie. Auf die vielen Sprach-Spiele in Heideggers Sprache bin ich schon kurz eingegangen. Heidegger liebte Etymologien, oft von sehr eigenwilliger Art. Was liegt dem zugrunde? Man kann, verknappt gesagt, Sprache auf zwei sehr unterschiedliche Weisen definieren. Erstens als pragmatisches System der Verständigung, wobei jedes sinntragende Wort durch gesellschaftliche Übereinkunft seine Funktion und seine Semantik erhält. Der Gebrauch eines Wortes wird so durch Übereinkunft festgelegt und ist prinzipiell kontingent. Wenn die Sprachgemeinschaft es wollte, könnte sie den „Tisch“ auch „mnftgruich“ nennen oder „wrrrloudd“ oder noch ganz anders. Sprache ist in dieser positivistischen Konzeption ein System von Lauten, über deren Verwendung die Gesamtheit der Sprechenden in freier Bestimmung entscheidet, wert-neutral und a-historisch. Zweitens existiert eine quasi entgegengesetzte Definition. Sprache entsteht danach in einem Akt des Ursprungs, ist Ausdruck einer irreduziblen Erfahrung des Anfangs, der Gründung, einer Ur-Nennung. Anfang meint hier nichts Primitives, ganz im Gegenteil. Im Anfang liegt der Zauber des Ursprungs, des Ursprünglichen: liegt die Nähe zum Sein. In dieser Nähe entsteht die Sprache. Indem sie davon spricht, im religiösen Sprechen, ist sie ganz bei sich. Im Fluß der Zeit wird sie notwendigerweise banal, alltäglich, gleichsam ausgewaschen. Nur in der Erinnerung an die Sphäre des Ursprungs gewinnt sie ihre Wesenheit als Zeuge des Seins zurück. Oder als „Haus des Seins“, wie Heidegger sie an andrer Stelle nennt. Darum sind Etymologien für Heidegger so zentral. In ihnen ent-birgt sich die Wahrheit des Anfangs, die Erfahrung der Fülle und die Schönheit und Strenge des Ursprungs. Die Entwicklung der Geschichte bedeutet: Weg vom Ursprung, hin auf eine leere Welt des entfesselten Seienden. Nur wer weiß, was das Wort im Anfang bedeutet hat, ahnt, wie weit wir vom Ursprung abgekommen sind und uns in der Seinsvergessenheit verloren haben. Heideggers Sprach-Metaphysik des Ursprungs hat, so will mir scheinen, durchaus magische Züge. Im Anfang war der Logos, das Wort, so beginnt das Johannes-Evangelium. Das Wort ist der Ursprung, und nur so erfahrbar. Das Magische und der Logos fallen bei Heidegger zusammen. Das Ziel der Erkenntnis liegt im Ursprung des Seins. Dahin gelangen wir einzig in dem und durch das Wort. Ich komme zurück zu Heideggers Sprach-Philosophie, wie sie sich in seiner Hölderlin-Vorlesung des Wintersemesters 1934/35 manifestiert. Sie gipfelt in der Überzeugung vom Primat der Sprache: Nicht der Mensch „hat“ die Sprache, sondern sie „hat“ den Menschen. Die Sprache ist die vorgängige Weise, in der und durch die der Mensch an der Wahrheit des Seins teilhat. Woraus, neben anderem, folgt, daß er sich ihr würdig zu erweisen hat. Nicht er gebietet über die Sprache - sie ist es, die ihm das Sein, die Lichtung der Welt, eröffnet, ihm das Wesen der Existenz offenbart. Heidegger faßt das so zusammen: „Die Dichtung stiftet das Seyn. Dichtung ist die Ursprache eines Volkes. In dieser Sprache geschieht die Ausgesetztheit in das sich damit öffnende Seiende.“ (S.74) Die Sprache ist also das zentrale Medium der Welterfahrung auch in dem Sinne, daß die Dichtung als die gesteigerte Sprache des Ursprungs den Menschen/das Volk seiner/ihrer Geschichte anheimgibt und sie gleichzeitig im emphatischen Sinn bewußtmacht. „Die Sprache ist der Grund der Möglichkeit von Geschichte, und nicht etwa ist die Sprache erst eine im Verlauf der geschichtlichen Kulturschaffung gemachte Erfindung.“ (S.74f) Heideggers Widerspruch gilt der pragmatisch-evolutionären Sprach-Auffassung, die nach der Entstehung von Sprach-Laut, Wort und Satz im Verlauf der menschlichen Entwicklung fragt und naturgemäß nicht umhin kommt, eine Art Werden der Sprache von primitiven Artikulationen, Exclamationen und simplen Additionen hin zur Komplexität der verschiedenen Sprachen in den diversen Zivilisationen zu konstatieren. Seine Theorie der Sprache steht den empirischen Tatsachen gleichgültig gegenüber. Sie legt den Akzent nicht auf den Anfang der Sprache(n), sondern fragt nach dem Ursprung. Das meint: Sprache ist erst dann die Bedingung oder der Grund der Möglichkeit von Geschichte, wenn in ihr sich bereits ein Bewußtsein von Geschichte manifestiert oder sedimentiert hat. Diesen Gedanken verfolgt Heidegger noch über viele weitere Seiten. Natürlich kann auch er nicht gänzlich ignorieren, daß es irgendwann einmal einen Anfang der Sprache(n) im Verlauf der Evolution gegeben haben muß. Er nennt das den „ursprünglichen Ursprung der Sprache“ (S.75). Dieser Moment bewußter Artikulation trennt den Menschen vom Tier. Die unbelebte Natur und das Tierreich existieren in einer nicht nur quantitativ, sondern in einer wesenhaft (also: qualitativ) anderen Welt als der Mensch. Es ist die auf dem Bewußtsein ruhende Sprache, die uns zur Kenntnis und Darstellung der Welt führt, sie überhaupt erst möglich macht. Nur in der Sprache, dem Haus des Seins, bildet der Mensch seine Welt, stellt sich in die Geschichte als bewußter Auseinandersetzung mit dem Sein und erlebt die Gefahr der Erfahrung des Nichts. Da die Dichtung die höchste Form der Sprache ist, stellt sich die Problematik dort in der denkbar schärfsten Weise, zeigt sich in ihr die Zuspitzung am elementarsten. Dieses „Stehen-vor-der-Entscheidung“ als zentraler Erfahrung der Kunst faßt Heidegger am Ende seines Gedankengangs so zusammen: Die Dichtung Hölderlins zwingt uns zur Teilhabe an der „Frage, wer wir sind, ob wir ein Gespräch sind oder nur noch ein Gerede; ob wir uns auf die ursprüngliche Geschichtlichkeit unseres geschichtlichen Daseins einlassen oder uns darumherumdrücken; ob wir von unserem Seyn als solchem ein wahrhaftes Wissen haben oder ob wir nur in Redensarten herumtaumeln; ob wir wahrhaft wissen, was wir nicht wissen und nicht wissen können, um durch den echten Anprall an diesen Schranken selbst stark zu werden und Widerstand gegen Widerstand zu setzen. Das ist die Entscheidung, durch die immer wieder das Mitsagen jedes Gedichtes der Hölderlinschen Dichtung, das Eingehen in ihr Gespräch, hindurch muß.“ (Band 39, S.77) Ich komme zum letzten Abschnitt meiner Darlegung des Verhältnisses Heideggers zur Dichtung Hölderlins. Was können wir der Tatsache entnehmen, daß Heidegger sich erst 1934 zum ersten Mal in einer akademischen Vorlesung und 1936 in einem Vortrag mit dem dichterischen Oeuvre Hölderlins beschäftigt hat? Zudem ist es seine erste öffentliche Auseinandersetzung mit Fragen der Kunst, eine Auseinandersetzung, die von da an bis in die siebziger Jahre geht. Es scheint mir plausibel, dieses Kunst-Denken, die Integration der Kunst in das philosophische Denken, im Zusammenhang zu sehen mit dem gründlich gescheiterten Rektorat der Universität Freiburg von Mai 1933 bis April 1934. Wieso und woran gescheitert - darüber werde ich im Kontext Paul Celan ausführlicher sprechen. Hier und jetzt mag es genügen zu sagen, daß Heideggers Pläne für eine tiefgreifende Umgestaltung der deutschen Universität zwar auf dem Papier radikal und revolutionär war, aber durchaus nicht im Sinn der Nationalsozialisten. Die Einsicht in die Unmöglichkeit einer - von ihm aus gesehen - notwendigen Umgestaltung der deutschen Universität hat gewiß auch den Blick für eine kategorial andere Form menschlicher intellektueller Tätigkeit geschärft, in der und durch die der Mensch ebenfalls der Alltäglichkeit entkommt und in gesteigertem Dasein zu sich selbst findet. Heidegger ist der Philosoph der heroischen Zuspitzung, und in der Begegnung mit Hölderlin, und dann später mit Georg Trakl, Gottfried Benn und Paul Celan, erfährt er diese Zuspitzung, diese Existenz der Exzeptionalität, als geschichtlich bedingt und daher als notwendig. Von nun an ist für ihn die Kunst in gleicher Weise wie das geschichtliche Sein ein fundamentaler Moment der Selbstbehauptung des sich verwirklichenden Menschen. Dichtung als konzentrierteste Form der Sprache ist für Heidegger von nun an eine Art der Praxis innerhalb der geschichtlichen Suche nach Wahrheit, die gleichberechtigt tritt neben das gründende gesellschaftlich-politische Handeln. Eine solche Definition vermag heute niemanden mehr zu irritieren. Aber 1934 war der darin liegende zwar bloß implizite aber besonders stringente Widerspruch zur herrschenden nationalsozialistischen Kunst-Doktrin (und auch zu der in der UdSSR herrschenden marxistisch-leninistisch-stalinistischen) nicht zu übersehen. Weder inhaltlich (Blut-und-Boden-Kult, Ariertum, AntiSemitismus, Führeradoration) noch formal (anti-avantgardistisch in jeder Variante) konnte sich die herrschende Kunst-Ideologie auf Heidegger beziehen. Aus dessen Ästhetik war keine Legitimation des Zeitgenössisch-Trivialen zu beziehen. Stattdessen war unüberlesbar seine Insistenz auf der Autonomie der Kunst, des einzelnen Kunst-Werkes als eines nur der Wahrheit verpflichteten Resultats herausgehobener menschlicher Anstrengung. Indem Kunst, im Sinne Heideggers, am Ursprung partizipiert, wenn sie tatsächlich Kunst ist und nicht ein beliebiges Dokument von Kultur-Verwaltung oder -Ausübung (Adorno würde gesagt haben: der Kulturindustrie), entzieht sie sich dem Einspruch, der Gewalt der jeweils Herrschenden. Wahrheit und Ursprung siedeln jenseits der Alltäglichkeit, des Geredes, des Man, und das bedeutet auch: jenseits der Politik des Hier und Jetzt, die immer eine Tat der Bewußt-Losigkeit und der Gegenwarts-Verhaftetheit ist - und eben kein Hervortreten der Wahrheit in die Lichtung des Seins. Damit ist nicht gesagt, daß Heideggers Ästhetik direkt in Opposition tritt zum Denken und Handeln der nationalsozialistischen Funktionäre. Wohl aber entfernt sie sich vollständig von der Idee einer aktionistischen Kunst, einer, die heterogenen Gesetzen, gar „der Partei“, verpflichtet wäre. Hölderlin erscheint als der Dichter unserer „dürftigen Zeit“, weil er wie kein anderer die Erfahrung der „Götternacht“ gemacht und sie zum Fundament seiner Dichtung ideologisiert hat. Die Moderne seit der Romantik erscheint bei Hölderlin und nun auch bei Heidegger nicht als Epoche der Erfüllung, in der Gegenwart geleitet von Führer und Partei, sondern als Nacht der Abwesenheit des Göttlichen. Man kann auch sagen: als Säkulum der Ausgesetztheit und der Seinsvergessenheit, als Höhepunkt des abendländischen Nihilismus. Es ist die griechische Antike (und nicht die arisch-germanische Welt der Vorzeit), die Vorbild ist für die unausdenkbare Zukunft, für den Anbruch eines Neuen nach der Götternacht. Nicht aus der Herkunftsvergessenheit der Gegenwart entbirgt sich ein Neues, Gründendes, sondern nur in einer Anstrengung hin auf ein geschichtlich Unerhörtes. Nur eine sich ihrer historischen Aufgabe bewußte Kunst vermag mitzuarbeiten an dem In-Erscheinung-Treten des Neuen. Sie ist dann Teil der Wahrheit, der Unverborgenheit einer anderen Zeit. Darum ist Hölderlin für Heidegger der unerreichte Mittler zwischen Vergangenheit und Zukunft. Nicht er hat sich vor unserem geschmäcklerischen Urteil zu bewähren, sondern wir haben zu bestehen vor seiner geschichtlichen und künstlerischen Größe. 4. Martin Heidegger: Georg Trakl Das dichterische Werk Friedrich Hölderlins steht zentral, steht „gründend“ für den Philosophen Martin Heidegger. Mit anderen Lyrikern hat er sich nicht annähernd so intensiv beschäftigt, ganz zu schweigen von den Gattungen erzählende Prosa oder Drama. Das mußte er als Philosoph auch durchaus nicht. Gleichwohl ist auffällig, mit welcher - man ist geneigt zu sagen: - Monomanie er sich mit dem Oeuvre Hölderlins beschäftigt hat. Einige wenige Künstler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind es dennoch, die seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben: Stefan George, Georg Trakl, Gottfried Benn und Paul Celan. Wobei man sagen muß, daß es zu Celan keinen veröffentlichten Text gibt, lediglich Erinnerungen und Meinungen Dritter und einige direkte und indirekte Äußerungen Celans. Ich werde darauf noch zu sprechen kommen. Was Gottfried Benn anbetrifft, so gibt es in den Vorlesungen und Vorträgen Heideggers nur wenige verstreute und unsystematische Erwähnungen. Berichtenswert ist jedoch, daß Benn in einem Brief an Friedrich Wilhelm Oelze vom 22. August 1950 die Nachricht weitergibt, daß Heidegger ihn, also Benn, in Freiburg zustimmend vorgetragen und interpretiert habe: „Aus Freiburg bekam ich die Nachricht, dass Heidegger in seinem ersten Kolleg, das er wieder vor Studenten hielt, 4 Gedichte von mir vorgelesen hat, z.B. 'Dennoch die Schwerter halten', 'In Memoriam Höhe 317', 'Gedichte', 'Ach das Erhabene' und ein 5., das der Schreiber nicht mehr weiß. 'Das von ihm Gemeinte glaubte er in diesen Gedichten festgehalten zu sehen', schreibt der Briefverfasser an mich.“ (Band II/2, 1980; S.59) Der Vortrag fand in Wahrheit in Todtnauberg statt, und zwar am 8. Juli 1950, unter dem Titel „Wirklichkeit, Illusion und Möglichkeit der Universität“. Daß Benn sich seinerseits meist abweisend und ablehnend zu Heidegger verhalten und geäußert hat, sei nur am Rande erwähnt; es steht sozusagen auf einem anderen Blatt. Es bleiben von den Lyrikern Stefan George und Georg Trakl. Im Mittelpunkt der knappen Auseinandersetzung mit Stefan George szeht dessen Gedicht „Das Wort“, mit der signifikanten Schlußzeile „Kein Ding sei, wo das Wort gebricht“. Aufschlußreicher ist die Beschäftigung mit Georg Trakl (1887-1914). Sie findet sich in dem Band Unterwegs zur Sprache, 1959. Es ist der Aufsatz/Vortrag „Die Sprache“ (1950), hier S.9-33, und „Die Sprache im Gedicht. Eine Erörterung von Georg Trakls Gedicht“ (1953), hier S.35-82. Georg Trakl, geboren 1887, stammte aus Salzburg und erlernte den Apothekerberuf. Berufen fühlte er sich jedoch einzig zum Dichter, sah sich selbst als poete maudit in der Tradition Rimbauds und Verlaines. Zu Lebzeiten veröffentlichte er einige wenige Gedichte in Zeitschriften und Anthologien; lediglich eine selbständige Publikation erschien, Gedichte, 1913. Nach Kriegsausbruch wurde Trakl an die galizische Ostfront versetzt, als Apotheker, und nahm sich dort, unfähig, das erlebte Grauen zu verarbeiten, am 3. November 1914 mit einer Überdosis Kokain das Leben. Die erste Gesamtausgabe seiner Gedichte erschien 1919, und spätestens von da an verbreitet sich sein Ruhm als einer der bedeutendsten Lyriker der expressionistischen Generation. Martin Heideggers zwei Essays zu Trakl stammen aus den Jahren 1950 und 1953. Sie gehören in eine Zeit, in der Trakl durchaus noch nicht jene Aufmerksamkeit gefunden hat, die ihm dann in den folgenden Jahrzehnten zuteil geworden ist, bis heute. Trakls Lyrik ist für Heidegger ein Beispiel für das hermetische Sprechen am Beginn des 20. Jahrhunderts. „Hermetisch“ meint hier: in zuweilen provokanter Weise abweichend vom alltäglich-pragmatischen Sprachgebrauch - ohne daß es einen Schlüssel gäbe, mit dem diese Abweichungen transponiert werden könnten in das „gewöhnliche“ AlltagsReden. Während bei Hölderlin im Hintergrund der Gedichte stets Motive religiös-messianischer Art hervorblitzen, was ihn für Heidegger so faszinierend macht, fehlen metaphysische Spekulationen bei Trakl gänzlich. Hinter den Fragmenten des Empirischen sammelt sich kein Heils-Pathos, das auf die Ankunft eines noch verborgenen Gottes hoffen ließe. Die lyrische Welt Trakls ist heil-los, erfüllt von einer enigmatischen Schönheit und einer anrührenden Trauer. Trakls Texte transportieren keine begrifflich faßbare Ideologie, verdoppeln keine vorgängige Welt-Anschauung, sondern sind eine ästhetische Welt in sich und für sich. Sie sind für Heidegger „rein Gesprochenes“. Dies definiert sich so: „Rein Gesprochenes ist jenes, worin die Vollendung des Sprechens, die dem Gesprochenen eignet, ihrerseits eine anfangende ist. Rein Gesprochenes ist das Gedicht.“ (S.16) „Rein“ ist, wenn ich es einigermaßen verstehe, eine Kategorie des Ursprungs, die die spezifische Wahrheit des Traklschen Gedichts hervortreten läßt und sie beglaubigt. Heidegger wendet sich dann dem Gedicht „Ein Winterabend“ zu, das Trakl im Jahr 1913 geschrieben hat und das posthum 1915 veröffentlicht wurde, innerhalb des Bandes Sebastian im Traum. Ein Winterabend Wenn der Schnee ans Fenster fällt, Lang die Abendglocke läutet, Vielen ist der Tisch bereitet Und das Haus ist wohlbestellt. Mancher auf der Wanderschaft Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden. Golden blüht der Baum der Gnaden Aus der Erde kühlem Saft. Wanderer tritt still herein; Schmerz versteinerte die Schwelle. Da erglänzt in reiner Helle Auf dem Tische Brot und Wein. Heideggers Interpretation geht Zeile für Zeile vor, man könnte beinahe sagen: Substantiv für Substantiv. Er versucht, einen kohärenten Kontext aus Trakls Text entstehen zu lassen - ein zweifelhaftes Vorgehen, denn eine der Charakteristika Trakls liegt in der bildlichen Dis-Kontinuität, mit der die einzelnen Gedichte in immer neuen Anläufen ihre zerbrochene Welt dem Leser vor Augen stellen. Heidegger dagegen zieht nicht ohne Gewaltsamkeiten das Ferne in die Nähe und macht aus dem Fragmentarischen eine gefügte Sinn-Struktur. Ein Beispiel vom Anfang. Heidegger konstatiert in der ersten Strophe eine Evokation von Himmel und Erde (Haus/Schnee und die Abendglocke als Signum des Göttlichen), von Sterblichen und Unsterblichen. Das ist durchaus plausibel, aber ob die Abendglocke tatsächlich „das Göttliche“ symbolisiert das sei dahingestellt. Heidegger fährt fort: „Die Dinge lassen das Geviert der Vier bei sich verweilen. Dieses versammelnde Verweilenlassen ist das Dingen der Dinge [!]. Wir nennen das im Dingen der Dinge verweilte einige Geviert von Himmel und Erde, Sterblichen und Göttlichen: die Welt. Im Namen sind die genannten Dinge in ihr Dingen gerufen. Dingend ent-falten sie Welt, in der die Dinge weilen und so je die weiligen sind. Die Dinge tragen, indem sie dingen, Welt aus. Unsere alte Sprache nennt das Austragen: bern, bären; daher die Wörter 'gebären' und 'Gebärde'. Dingend sind die Dinge Dinge. Dingend gebärden sie Welt.“ (S.22) Ich habe diese eigenartige Sentenz, die paradigmatisch für viele in diesem Essay ist, ausgewählt, weil sie signifikant steht für Heideggers Verfahren. Er geht aus von den Dingen der ersten Strophe, von ihrer unmittelbaren Erfahrbarkeit. Sofort und umstandslos jedoch verwandelt er sie zur Basis einer magischen Welt und einer magischen Sprache. Aus Heideggers Worten lerne ich nichts über Trakls Gedicht, aber viel über sein Vermögen, anhand einiger weniger selektierter Begriffe und eines daraus gesponnenen assoziativen Geflechts Trakl in Heidegger zu verwandeln. Daß Dinge dingend Dinge sind, ist entweder eine logische Platitüde oder eine schrecklich prätentiöse Leerformel, und ob sie die Welt gebären, indem sie gebärden, oder umgekehrt, wage ich nicht zu entscheiden. Heideggers Interpretation ist keine Deutung, sondern eine rigorose Festlegung auf Be-Deutung. Es ist zwar legitim, Gedichte mit verfremdendem Blick zu beschreiben, aber es scheint mir doch bedenklich, sie derartig gewaltsam in das eigene philosophische System zu zwingen. Bei Hölderlin war der singuläre Fall zu konstatieren, daß dessen Welt-Sicht mit der Heideggers aufs Erstaunlichste übereinstimmte, ja vieles direkt antizipierte, etwa die Vorstellung von der hesperischen Götternacht und der modernen Seinsvergessenheit. Von einer solchen apriorischen Übereinstimmung kann bei Trakl nicht die Rede sein. Trakls Bildlichkeit hat nichts zu tun mit einem denkerischen Wille zur Synthese, sondern ist die einer elementar destruierten Sphäre. Keiner sich „im Geviert“ oder wie sonst auch immer ordnenden Welt. Heidegger gelingen gelegentlich durchaus überraschende assoziative Verknüpfungen, aber er ignoriert oder übersieht das zentrale Konstruktions-Prinzip Trakls - eine zu Sprache gewordene Trauer über den irreversiblen Verlust eines sinnerfüllten Kosmos, der jetzt nur noch als kontingenter und rudimentärer darstellbar, und das bedeutet auch: poetisierbar ist. Ich komme zur zweiten Strophe. Das Gedicht spricht von Wanderern, die „auf dunklen Pfaden“ ans Haus-Tor kommen. Das ist, weil nicht eindeutig, unterschiedlich interpretierbar. Mir scheint es zu verweisen auf dunkle SeelenAbgründe, auf Schuld und existentielle Verzweiflung. Heidegger ignoriert freilich alle diese naheliegenden Deutungen und zielt auf das Ganz Große, den Tod. Von dem nun allerdings weit und breit nicht die Rede ist. „Diese Sterblichen vermögen das Sterben als die Wanderschaft zum Tode. Im Tod versammelt sich die höchste Verborgenheit des Seins. Der Tod hat jedes Sterben schon überholt.“ (S.23) Die Wandernden so zu spezifizieren entbehrt jeder dichterischen Grundlage; gänzlich bodenlos wird es, wenn Heidegger sie als Vor-Läufer derer bestimmt, die selbstzufrieden zu Hause an den Tischen sitzen und glauben, „schon in das Wohnen gelangt“ (S.23) zu sein. Heideggers zwanghafte Konstellation eines Göttlichen da, wo es dergleichen bei Trakl schlechterdings nicht gibt - diese wilde philosophische Konstruktion macht aus Trakls enigmatischer Metaphorik einen gedanklichen Vor-Wurf, den nur der Philosoph nachzeichnen, in seiner Begrifflichkeit überholen und schließlich hinter sich lassen kann. Womit sich die Auslegung vollständig vom Gedicht getrennt hat und im luft- und sprachleeren Raum schwebt. Im Schluß der zweiten Strophe wird nochmals Heideggers Verfahren potenziert, den lyrischen Texten ihre Eigen-Artigkeit zu nehmen und sie zu reduzieren auf ein Material zur Entfaltung der eigenen Philosophie. „Golden blüht der Baum der Gnaden / Aus der Erde kühlem Saft.“ Heidegger weigert sich, den Rätselcharakter dieser Zeilen zu akzeptieren; stattdessen diesen sie ihm als Sprungbrett für die sehr eigenen dichterischen Sprach-Bewegungen. “Der Baum wurzelt gediegen in der Erde. So gedeiht er in das Blühen, das sich dem Segen des Himmels öffnet. Das Ragen des Baumes ist gerufen. Es durchmißt zumal den Rausch des Erblühens und die Nüchternheit der nährenden Säfte. Verhaltenes Wachstum der Erde und die Spende des Himmels gehören zueinander. Das Gedicht nennt den Baum der Gnaden. Sein gediegenes Blühen birgt die unverdient zufallende Frucht: das rettend Heilige, das den Sterblichen hold ist.“ (S.23) Es ist evident, daß Heideggers Sprechen das Gedicht Trakls in eine kohärente Etüde gedanklich-sprachlicher Heidegger-Imitation verwandelt - um das Wort „unfreiwillige Selbst-Parodie“ zu vermeiden. HeideggersText läuft parallel zu Trakls Dichtung, aber nicht als seine Erläuterung, sondern als eine selbstgefällige Extrapolation. Heidegger sagt, was das Gedicht seiner Überzeugung nach sagt oder sagen sollte, aber auszusprechen sich weigert. Anders formuliert: Heidegger legt den Trakl-Text herrisch auf jene Bedeutungen fest, die er haben könnte, stammte er von Heidegger. Die dritte Strophe gibt Heidegger die Gelegenheit, ausgehend von den Begriffen „Schmerz“ und „Schwelle“, das „Sprechen der Sprache“ zu beschwören. Diese Strophe, einigermaßen unvoreingenommen gelesen, ruft herauf eine Heimat jenseits der vertrauten, eine unbeschreibliche Erfüllung jenseits der irdischen Schmerzen. Sie evoziert einen dichterischen Raum, in dem Innerweltliches, Brot und Wein, den Wanderer erwartet als Symbol einer Epiphanie ohne Dogma oder religiöse Transzendenz. Heidegger dagegen spinnt nun einen Assoziationsteppich von nicht mehr nachvollziehbarer Dunkelheit. „Die Sprache spricht als das Geläut der Stille. Die Stille stillt, indem sie Welt und Dinge in ihr Wesen austrägt. Das Austragen von Welt und Ding in der Weise des Stillens ist das Ereignis des Unter-Schiedes. Die Sprache, das Geläut der Stille, ist, indem sich der Unter-Schied ereignet. Die Sprache west als der sich ereignende UnterSchied für Welt und Dinge.“ (S.30) Es mag ja sein, daß dies etwas bedeutet, aber ich vermag nicht zu sehen, in welcher Weise diese Sätze etwas zum Verständnis des Traklschen Gedichts beitragen. Die zentralen Aussagen Heideggers haben mit diesem Poem nur insofern zu tun, als sie sich an jedes gelungene Gedicht anschließen lassen. „Der Mensch spricht nur, indem er der Sprache entspricht. / Die Sprache spricht. / Ihr Sprechen spricht für uns im Gesprochenen.“ (S.33) Das hat mit Trakl alles und nichts zu tun und schwebt folglich über Allem in nebelhafter Nichtigkeit. Der zweite sich mit Trakl beschäftigende Aufsatz Martin Heideggers stammt aus dem Jahr 1953 und lautet „Die Sprache im Gedicht. Eine Erörterung von Georg Trakls Gedicht“. Bemerkenswert ist zunächst der Singular „Georg Trakls Gedicht“, denn natürlich gibt es Dutzende. Er spricht emphatisch von allen, wenn er die Einzahl „Gedicht“ verwendet. Er legitimiert den Singular wie folgt: „Jeder große Dichter dichtet nur aus einem einzigen Gedicht. Die Größe bemißt sich daraus, inwieweit er diesem Einzigen so anvertraut wird, daß er es vermag, sein dichtendes Sagen rein darin zu halten.“ (Unterwegs zur Sprache, S.37) Gedicht wird hier in zweifacher Bedeutung verwendet, ohne daß dies weiter erklärt würde. Einmal in der gängigen Bedeutung, als einzelner lyrischer Text, als Einzelrede in Versen. Aber „Gedicht“ ist eigentlich für ihn eine platonische Idee, die dann in der Vielzahl der konkreten Gedichte angemessen realisiert wird oder nicht. Wenn der Dichter sein „Sagen“ „rein“ darin verwirklichen kann, dann rückt das Gedicht an den richtigen Ort. Ort meint: das „Höchste und Äußerste“ der dichterischen Möglichkeiten. Dann ist das Gedicht Statthalter des dichterischen Sprechens an sich. Man mag dem zustimmen, wenngleich es schwerfällt, bei Lyrikern mit durchaus unterschiedlichen „Tönen“ (etwa Goethe oder Benn) von einem platonischen Ur-Gedicht auszugehen. Selbst Lyriker mit recht einheitlichen „Tönen“ (sagen wir: Stefan George oder Paul Celan) dichten, ernsthaft und ohne Systemzwang betrachtet, aus einer Vielheit der Stimmen und Perspektiven. Auf solche poetologischen Differenzen will Heidegger sich ersichtlich nicht einlassen. Zwar trifft auf Trakl der Gedanke von dem grundlegenden einen Gedicht insofern zu, als sein lyrisches Verfahren tatsächlich zu bestimmen wäre als kaleidoskopartiger Wechsel weniger gleichbleibender Bilder und „Töne“, aber gerade diese literaturwissenschaftliche Erkenntnis wird von Heidegger, wohl als gedanklich zu schlicht, ja subaltern, ignoriert. So konkret meint er es gerade nicht. Der weitere Verlauf des Aufsatzes verfährt wie bei allen anderen. Er geht aus von einer Zeile: „Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden.“ (S.39) Er verbindet sie assoziativ mit anderen Sätzen, die nur mit größerer oder geringerer Gewaltsamkeit in seine Nähe gerückt werden können. Ein Beispiel: „ […] da im grünen Geäst / Die Drossel ein Fremdes in den Untergang rief“ (S.42). Die beiden Sätze werden dergestalt zueinander gerückt, daß nun „die Seele“ in den Untergang gerufen wird - schließlich nennt das erste Gedicht die Seele „ein Fremdes auf Erden“. Ein Fremdes = die Seele, die Seele = ein Fremdes, und beides sozusagen beliebig kombinierbar. So läßt sich ein wild wucherndes Beziehungsgeflecht herstellen, das mit Trakls lyrischem Verfahren nur mehr noch sehr gelegentlich in sinnvoller Beziehung steht. Ich möchte, bevor ich zum Ende dieses Heidegger-Aufsatzes komme, der etwas versöhnlicher stimmt, als Charakteristicum seiner Auseinandersetzung mit Trakl eine durchgängige Unwilligkeit bestimmen, sich auf konkrete und nachvollziehbare literarische Phänomene einzulassen. Stattdessen dichtet er den Trakl-Wortlaut in seinem Sinn weiter, so lange, bis seine, Heideggers, Philosophie, aus der Tiefe an der Oberfläche angekommen ist. Der Gedicht-Text erscheint als Tiefenstruktur, die erst durch den Philosophen in die Unverborgenheit des denkerischen Begriffs emporgehoben wird. Da dies auch mehr als nur tendenziell bei Theodor W. Adorno so ist, wird man dieses Phänomen zu dem rechnen dürfen, was beiden Denkern gemeinsam war. Sie suchten beide eine Bestätigung ihrer Philosophie in Werken der Kunst, vor allem denen der Literatur, ohne Rücksicht auf Philologie und intellektuelle Plausibilität. (Es ist dies ja eigentlich ihr gutes Recht, als Philosophen. Welcher Philosoph ist je anders verfahren? Aber es ist unser gutes Recht, auf diese Schwächen hinzuweisen.) Ich sagte, daß mich der Schluß des Aufsatzes etwas versöhnlicher stimmt. Ich meine das Ende von Kapitel II und das gesamte Kapitel III (S.73-82). Heidegger rekurriert hier auf das Eigentümliche der Sprache Trakls. Er erkennt, daß Trakls lyrischer Weg, den die Sprache in hermetischen Chiffren antizipiert, wahrlich vorausdeutet, einer in den Untergang ist. Ein Untergang, der aber keine Unwiderruflichkeit der Zerstörung markiert, sondern das Ineinander von Anfang und Ende im Zeichen eines Aufganges. „Die Sprache des Gedichtes, das seinen Ort in der Abgeschiedenheit hat, entspricht der Heimkehr des ungeborenen Menschengeschlechts in den ruhigeren Anbeginn seines stilleren Wesens.“ (S.74) Das meint eine Utopie der Verwandlung, die als Sehnsucht hinter der lyrischen Sprache liegt und ihr die eigentümlich melancholische - und eben nicht verzweifelte - Schönheit und Grazie verleiht. Heideggers Fazit zielt auf zweierlei: Erstens: Trakls Dichtung ist in keiner nachvollziehbaren Weise christlich - wie die meisten Interpreten damals behauptet haben; heute wird das keiner mehr tun; ein kleines Verdienst Heideggers. Trakls Trauer ist durch kein dogmatisches Heilsversprechen zu erlösen. Zweitens: Es erscheint die zerbrochene Welt Trakls als Chiffre eines Verborgenen, das unter der Dimension des Zukünftigen als Einheit und Einklang zu lesen wäre. In Heideggers Worten: „Eine Erörterung seines Gedichtes zeigt uns Georg Trakl als den Dichter des noch verborgenen Abend-Landes.“ (S.81) Heidegger sieht in Trakls Lyrik den dichterischen Ausdruck einer Erfahrung der Geschichte als eines Geschickes, dh. einer Katastrophe, der die Rettung in undenkbarer Zukunft inhärent ist. Der Untergang wird so zum Zeichen eines unbeschreiblichen Übergangs. Der Weg des lyrischen Ich entbirgt sich als Pfad hin zum Untergang, dem die Hoffnung eines Aufganges eingeschrieben ist. 5. Martin Heidegger: Paul Celan Die Beziehung Martin Heideggers zu Paul Celan und die Paul Celans zu Martin Heidegger entzieht sich (noch?) einer präzisen Darstellung, da die Zahl der veröffentlichten schriftlichen Dokumente sehr klein ist. Möglicherweise liegt noch einiges (vieles?) in den jeweiligen Privatarchiven, aber darüber können Außenstehende nur spekulieren. Insofern ist mein Vorhaben am Rand des Unmöglichen. Ich möchte dennoch wagen, diese Beziehung zumindest in den Grundzügen zu skizzieren, weil beide voneinander beeindruckt, vielleicht fasziniert, waren und Paul Celan der einzige lebende Lyriker gewesen ist, dessen Bekanntschaft Heidegger ausdrücklich gesucht hat. Das Verhältnis beider war, dessen ungeachtet, überschattet von Heideggers Verhalten 1933/34 und sein Schweigen nach 1945 über seine persönliche Involviertheit in die nationalsozialistische Politik. Paul Celan war Jude, seine Eltern wurden 1941/42 in der von deutschen Truppen besetzten Bukowina ermordet. Ich möchte so vorgehen, daß ich als erstes die Relevanz des Jahres 1933 für Martin Heidegger darlege, anhand der sogenannten Rektoratsrede vom 27. Mai 1933. Zweitens werde ich Paul Celans Lebensgang knapp nachzeichnen. Drittens werde ich einige der Anekdoten wiedergeben, die von dieser eigenartigen Beziehung Heidegger – Celan in Umlauf sind, mehr oder minder verbürgt. Und viertens und letztens werde ich jene Gedichte Celans vorstellen, die sich mit Heidegger direkt oder indirekt befassen, einschließlich des Eintrages Celans in das Hüttenbuch Heideggers in Todtnauberg. Ich beginne mit einer konzisen Interpretation von Martin Heideggers zu Beginn seines Rektorats an der Universität Fraiburg im Sommersemester 1933 gehaltenen Rede. Sie trägt einen bemerkenswerten, weil durchaus mißverständlichenTitel: „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“ (Neuauflage unter diesem Titel Frankfurt am Main 1983). Sie markiert den Anfang des Rektoratsjahres 1933/34, an dessen Ende der freiwillige Rücktritt Heideggers vom Amt des Rektors im April 1934 steht. Mißverständlich ist die Überschrift, weil „Selbstbehauptung“ hier nicht die Selbstbehauptung der Hochschule gegen Staat und differente Mehrheitsmeinungen oder Konformismen meint, sondern ihr Standhalten in der Geschichte gegen die andrängenden Kräfte der Verfalls und der Nivellierung. Das deutsche Volk in seiner Gesamtheit, nicht nur die akademische Welt, ist aufgerufen, zu kämpfen für die Durchsetzung und für die Bewahrung des historisch Notwendigen. Die deutsche Universität nimmt in diesem heroischen Ringen freilich eine herausgehobene Position ein, die näher zu bestimmen Heidegger schwer fällt, zumal er lavieren zu müssen glaubt zwischen seinen programmatischen Vorstellungen und den ideologischen Vorgaben der Parteiund Staats-Führung in Berlin. Unerläßlich scheint es mir, auf einige Aspekte der Vorgeschichte des Heideggerschen Rektorats hinzuweisen - ein Amt, das ihm keineswegs nur wegen seines fachlich unstrittigen Rufs zugefallen war, sondern auch gegründet war in der Überzeugung der neuen Machthaber und ihrer Sympathisanten innerhalb und außerhalb der Universität, in Heidegger eines verläßlichen Bundesgenossen bei der Durchsetzung ihrer akademischen Ziele zu besitzen. Obwohl Martin Heidegger bis 1927, dem Erscheinungsjahr von Sein und Zeit, außer der Dissertation und der Habilitationsschrift nur einen Aufsatz veröffentlicht hatte, war er in philosophisch interessierten Kreisen schon seit der Mitte der 20er Jahre eine Art Geheimtip, wie man heute sagen würde. Er war keiner, der in philosophischer Geheimsprache Lehrbuchwissen wiederholte, war nicht einer der zahllosen Verfasser einer „Professorenphilosophie von Philosophieprofessoren“ (Arthur Schopenhauer, den Heidegger allerdings aus eher undurchsichtigen Gründen nicht leiden konnte), sondern ein Selbstdenker, mit dem die Philosophie der Jahrhunderte wieder lebendig geworden zu sein schien. Er war vielen „der heimliche König im Reich des Denkens“ (ein Wort der jahrzehntelangen Geliebten Hannah Arendt). Heideggers Vorlesungen und Seminare waren Auseinandersetzungen mit den Werken der Vergangenheit, nicht öde Repetitionen bekannter Lehrbuchsätze. Es waren quasi existentielle DenkErfahrungen, keine Anhäufung toter „Bildung“. Er vermochte es, die Studenten zu einer ihr Leben betreffenden Lektüre der Philosophien der Vergangenheit anzuregen, ohne die alten Texte zu mumifizieren oder billig zu aktualisieren. Was nicht ausschließt, daß seinem eigenen Denken durchaus etwas HerrischMonomanisches anhaftete; mit ihm zu „diskutieren“ war unmöglich. Das haben viele Kritiker schon zu seinen Lebzeiten erkannt und ausgesprochen. Auch an den Interpretationen Hölderlins und Trakls ist dies zu bemerken. Schon aus diesen Gründen wäre eine Wahl zum Rektor der Universität Freiburg nichts Ungewöhnliches gewesen. Aber sie geschah mit ausdrücklicher Unterstützung der NSDAP. Heidegger war, kurz nach der Wahl zum Rektor und vor dem Amtsantritt, Mitglied der NSDAP geworden, symbolträchtig am 1. Mai 1933, dem Tag der deutschen Arbeit. Die Vorgeschichte dieser Wahl und die realen Kontakte Heideggers zu NSDAP-Kreisen im Badischen liegen immer noch ziemlich im Dunkeln. Unbestreitbar ist, daß Heideggers Beziehungen zu badischen Nazi-Größen innerhalb und außerhalb der Universität so eng waren, daß sie seine Wahl zum Rektor offensiv förderten. Das offizielle Kampfblatt der Nationalsozialisten Oberbadens Der Alemanne schrieb am 3. Mai 1933 - also vierzehn Tage nach der Wahl und drei Wochen vor der Antrittsrede - : „Wir wissen, daß Martin Heidegger in seinem hohen Verantwortungsbewußtsein, in seiner Sorge um das Schicksal und die Zukunft des deutschen Menschen mitten im Herzen unserer herrlichen Bewegung steht; wir wissen auch, daß er aus seiner deutschen Gesinnung niemals ein Hehl machte, und daß er seit Jahren die Partei Adolf Hitlers in ihrem schweren Ringen um Sein und Macht [sic] aufs wirksamste unterstützte, daß er stets bereit war, für Deutschlands heilige Sache Opfer zu bringen, und daß ein Nationalsozialist niemals vergebens bei ihm anpochte ...“ (zitiert nach Farias, S.137). Ob dem tatsächlich so war, steht natürlich dahin. Es war im Interesse der NSDAP, den berühmten Mann so eng wie möglich an sich zu binden, Wahrheit hin oder her. Opportunisten und Mitläufer gab es genug; überzeugte Nationalsozialisten im Universitätsmilieu waren eher selten. Sicher und nachweisbar ist, daß Heidegger als Rektor zunächst eine weitgehend mit dem schon von den Nationalsozialisten beherrschten zuständigen Ministerium in Karlsruhe abgestimmte Personal- und Programm-Politik betrieb. Auch nach der Niederlegung des Rektorats am 23. April 1934 bekannte er sich in vielen privaten Gesprächen zu den Zielen der sogenannten Bewegung. Zum Ende des Rektorats gleich mehr. Zunächst ein Blick auf den Inhalt der Rektoratsrede. Eine ihrer Spezifika ist die Dominanz großer und schwerer Begriffe wie „Kampf“, „Schicksal“, „Auftrag“ oder „Wesen der Wissenschaft“. Heroische Termini, die unerklärt und weitestgehend unentfaltet bleiben, aber einen SubText bilden, der sich nur dem erschließt, der schon davor die zentralen Heideggerschen Gedanken-Gänge nachvollzogen hat. Ich zitiere den ersten Abschnitt zur Gänze. „Die Übernahme des Rektorats ist die Verpflichtung zur geistigen Führung dieser hohen Schule. Die Gefolgschaft der Lehrer und Schüler erwacht und erstarkt allein aus der wahrhaften und gemeinsamen Verwurzelung im Wesen der deutschen Universität. Dieses Wesen aber kommt erst zu Klarheit, Rang und Macht, wenn zuvörderst und jederzeit die Führer selbst Geführte sind - geführt von der Unerbittlichkeit jenes geistigen Auftrags, der das Schicksal des deutschen Volkes in das Gepräge seiner Geschichte zwingt.“ (S.9) Der Gedanke hat seinen Beginn und seinen Grund im Begriff des „geistigen Auftrags“, der unbestimmt aber unbezweifelbar existiert, mit der Universität oder ohne sie, in jedem Fall: in Unerbittlichkeit. Dieser nebulöse Auftrag ist der eigentliche Führer der Neuen Zeit. Und eben nicht der Führer in Berlin. (Eine wiederholt anklingende Idee.) Der „Auftrag“ erinnert an Rilkes Erste Duineser Elegie („Das alles war Auftrag.“). Aber weder ist klar, ob Heidegger hier auf Rilke anspielt, noch, ob er glaubt, daß das Auditorium dies als Zitat verstehen kann oder soll. Wie auch immer: Es ist der ominöse Auftrag, der die Universität der Gegenwart ausrichtet auf noch näher zu bestimmende Ziele. Die Führer der Neuen Zeit - und eben nicht nur der Führer, was man in gläubigen ParteiKreisen mit Mißfallen aufgenommen haben dürfte - müssen sich dem numinosen Auftrag unterwerfen, der die gesamte Existenz und Geschichte des deutschen Volkes auf geheimnisvolle Weise umgreift und finalisiert. Indem die Führer des Volkes sich dem Auftrag unterwerfen, sich anschicken sein Wollen zu erfüllen, arbeiten sie an der „Klarheit“, am „Rang“ und an der „Macht“ der deutschen Universität. Dann und nur dann sind sie legitimiert zur geistigen Führung der Hohen Schule. Was bedeutet, daß es eine Führung (oder mehrere Führungen) gibt, die nicht dem Rektor als dem geistigen Führer der Universität obliegt. Dadurch, daß die geistigen Führer dem Auftrag folgen, sind sie im Wesen der deutschen Universität verwurzelt. Dieses Wesen der Universität ist auf elementare Weise verknüpft mit der Gesamtheit des deutschen Schicksals. Die drei Eingangssätze visieren zwei Gedanken-Komplexe an, die im Fortgang der Rede deutlicher hervortreten, ohne daß sie eine zweifelsfreie Konkretion erführen. Erstens: der „geistige Auftrag“ und zweitens: das deutsche Schicksal in engster Verbindung mit dem Wesen der deutschen Universität. Beides, so statuiert Heidegger, gehört untrennbar zusammen, und beides hat zu tun mit einem fundamental anderen Wesen des deutsche Denkens, der deutschen Philosophie, anders als das Denken der anderen abendländischen Völker. „Der Wille zum Wesen der deutschen Universität ist der Wille zur Wissenschaft als Wille zum geschichtlichen geistigen Auftrag des deutschen Volkes als eines in seinem Staat sich selbst wissenden Volkes.“ (S.10) Der geistige Auftrag, der an das deutsche Volk und an die deutsche Universität ergeht, ist folglich der zur Wissenschaft. Das meint freilich etwas anderes als in der gängigen Bedeutung des Wortes „Wissenschaft“. Es bedeutet nicht Wissenschaft als Resultat einer uferlosen Funktionalisierung des Geistes im Dienste der Technik und der Macht. Es ist auch nicht eine Wissenschaft als Dienerin des Willens zur Macht in der planetarischen Ausprägung der der sich manifestierenden universalen Mobilmachung. Und es ist auch nicht die Wissenschaft als eine Ideologie des Politischen. Es ist vielmehr: „das fragende Standhalten inmitten des sich ständig verbergenden Seienden im Ganzen. Dieses handelnde Ausharren weiß dabei um seine Unkraft vor dem Schicksal.“ (S.12) Heideggers Konzeption von Wissenschaft und Universität führt die Hohe Schule weg von der sie seit Jahrhunderten dominierenden Funktionalisierung des Geistes, nicht bloß in den sogenannten Naturwissenschaften, sondern ganz allgemein in der Bestimmung des uns zugänglichen Seienden. Der Auftrag leitet die Universität und die in ihr Lehrenden und Lernenden hin zum Anfang des Denkens, also des Philosophierens, hin zur „Macht des Anfangs“ (S.11) bei den Griechen. Das fragende Standhalten verbindet Griechenland und das griechische Denken mit dem zeitgenössischen Auftrag, der hier und jetzt an das deutsche Denken ergeht. Griechenland und nur Griechenland stand unter der Macht und der Kraft und der Herrlichkeit des wesenhaften Denkens. In Griechenland, und nirgendwo sonst, lagen der Anfang des Denkens und der Anfang der Wissenschaft. In diesem Anfang war insofern schon das Größte beschlossen, weil er Ursprung war, nicht der zufällige Beginn einer rein quantitativen Steigerung und Steigerungsideologie, und auch nicht der Beginn des Willens zur Macht. Die nach-griechische Entwicklung von Gesellschaft und Wissenschaft durch das Christentum, in der sogenannten Neuzeit, hin zu den mathematisierendquantifizierenden Natur-Wissenschaften erscheint so als Entfernung von der Tiefe des Ursprungs. Es ist Teil einer umfassenden Seins- und WesensVergessenheit im Namen der leeren technizistischen Weltbeherrschung. Jetzt, also zu Beginn der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, ist Deutschland aufgerufen - hat den „Auftrag“ erhalten - diese Unheilsgeschichte zu wenden. Denn als einziges Volk der Gegenwart versteht das deutsche das Wesen des Wissens. (Heidegger hat an vielen Stellen seines umfangreichen Werkes die Überzeugung geäußert, man könne nur in zwei Sprachen philosophieren, auf altgriechisch und auf deutsch.) Diese Vorstellung ist eine von der Auserwähltheit des deutschen Volkes als eines der denkenden Denker. Womit natürlich auch eine immense Verantwortung auf dem deutschen Denken lastet, nämlich die Wahrheit in der Sprache zu entbergen, das Sein zu denken gegen den modernen Nihilismus. Daran knüpft sich eine weitere geschichtsphilosophische Spekulation an. Sie ist so zu umreißen: Deutschland ist das Land der Philosophie und der Wahrheit des Denkens in der und durch die Sprache. Und es ist „das Land der Mitte“ (Einführung in die Metapfysik, 1953, zitiert nach Farias, S.294). Das bedeutet: Es ist das Land, das sich im Interesse des Wissens und im Interesse vom Wesen der Wahrheit paradigmatisch den beiden Welt-Mächten USA und Rußland/Sowjetunion entgegenstellen muß. Beide außereuropäischen Mächte, (also USA und UdSSR) verkörpern elementar falsche Verformungen und Funktionalisierungen des Wissens. Die Vereinigten Staaten repräsentieren die „trostlose Raserei der entfesselten Technik“; Rußland, die UdSSR, „die bodenlose Organisation des Normalmenschen“. Somit sind sie für Heidegger „metaphysisch gesehen: dasselbe“ (a.a.O., S.294). Eine tiefsitzende Aversion nicht nur gegen die UdSSR, sondern in gleicher Weise gegen die USA durchzieht das gesamte Werk Heideggers. Es ist eine Ablehnung aus kulturkonservativem Geist. Abgelehnt wird die zeitgenössische Technik, die demokratische Gleichheitsidee, die kapitalistische Wirtschaftslogik und der Individualismus als der brüchigen Basis einer fragmentierten Gesellschaft. Deutschland fällt der „Auftrag“ zu, die Mitte des Denkens in der Wissenschaft zu bewahren als Eingedenken des Ursprungs. In diese Richtung muß sich bewegen, wer den Auftrag annimmt, die Universität zu revolutionieren im Sinne des Willens zum Wesen der Wissenschaft. Die Rolle der Universität im neuen Staat besteht darin, das Denken auch institutionell zu zentrieren als Erkenntnis „der innersten Notwendigkeit des Daseins“ (S.13), wider alle Funktionalität durch Technik, Ideologie und Individualismus oder Kollektivismus. Es geht Heidegger darum, die Heterogenität der im Verlauf der Jahrhunderte ausdifferenzierten Fächer, Wissenschaften und Diskurse zu überwinden. Auf welches Ende hin? Auf eine monistische Wissenschaft als Wissen vom Sein. „Die ufer- und ziellose Zerstreuung in vereinzelte Fächer und Ecken [!]“ (S.13), also die moderne Wissenschaft schlechthin und der moderne Wissenschaftsbetrieb als Spiegel und Movens der modernen Lebenswelt, muß wieder angebunden werden an die „weltbildenden Mächte des menschlichgeschichtlichen Daseins“ (S.13). Diese „Mächte“ werden in fünf Gruppen unterteilt: „Natur, Geschichte, Sprache; Volk, Sitte, Staat; Dichten, Denken, Glauben; Krankheit, Wahnsinn, Tod; Recht, Wirtschaft, Technik“ (S.13f). Die Pointe dieser Konstruktion liegt darin, daß die Wissenschaft(en) ihre Würde nicht in sich selbst, also in einer sachimmanenten Logik, besitzen, sondern abhängig gemacht werden von übergeordneten zeitlosen Ideen des Lebensausdrucks, der unmittelbaren Seinserfahrung. Heideggers Strukturierung des Wissens gehorcht keiner autonomen Logik, ganz im Gegenteil ist sie Dienerin einer ihr vorgängigen Vorstellung von Ursprung und Wesenhaftigkeit. Freilich gilt hier wie für andere Reden und öffentliche Stellungnahmen des Jahres 1933, daß Heidegger jedwede Konkretion dieser Umwandlung der Universität als Institution verweigert. Der deutlich präzisere Plan zur Einrichtung einer Dozentenschule vom August 1934 zielt auf eine der Universität übergeordnete Institution und stammt zudem aus der Zeit nach dem Rektorat. Was Heidegger im weiteren Verlauf der Rektoratsrede zur Neuen Universität vorträgt, bleibt blaß und schlecht abstrakt. Sie, die Neue Universität, soll in drei unterschiedlichen „Bindungen“ an das Volk stehen. Die erste Bindung nennt er den „Arbeitsdienst“ - mit anderen Worten: eine konkrete Bindung an die werktätige Volksgemeinschaft. Die Studenten sollen teilhaben an dem „Mühen, Trachten und Können“ aller Teile des Volkes, gerade auch der nichtakademischen. Heidegger hat tatsächlich während seines Rektorats versucht, einen obligatorischen Arbeitsdienst einzuführen, in radikaler Abkehr von der Idee der akademischen Freiheit, hin zu einer „Kampfgemeinschaft der Lehrer und Schüler“ (S.18). Womit wir bei der zweiten „Bindung“ wären, dem „Wehrdienst“. „Er verlangt die in Wissen und Können gesicherte und durch Zucht gestraffte Bereitschaft zum Einsatz bis ins Letzte.“ (S.15) Hier wie stets bleibt offen, was das bedeuten soll. Es ist Teil der den gesamten Text konstituierenden Metaphorik einer ununterbrochenen Bewährung, des Kampfes, der unerbittlichen Härte und einer physischen Bedürfnislosigkeit. Spartanische Ideale, im Einklang mit der Zeit - aber, von unserer post-heroischen Position betrachtet, wozu? Eine Antwort auf diese Frage bleibt aus. Heidegger verachtet ersichtlich alle Bemühungen zur Erleichterung des Lebens als Konsequenz der Zivilisation, der Technisierung und der Individualisierung. Daher das Vokabular der Schwere und der Zucht, von Auftrag und Selbstvergessenheit. Daß Heidegger da in Übereinstimmung mit seiner Epoche ist, einer Zeit der unendlichen Radikalisierung, Steigerung und einer Sehnsucht nach ultimativer Zuspitzung, sei en passant vermerkt. Die dritte „Bindung“ ist der „Wissensdienst“ - die geistige Revolutionierung der Universität und des Volkes. Es geht dabei nicht um anwendbare Kenntnisse oder eine funktionale Berufsausbildung, sondern um eine alles umfassende und alles umwälzende, also revolutionäre, geistige Mobilmachung. „Aber dieses Wissen ist uns nicht die beruhigte Kenntnisnahme von Wesenheiten und Werten an sich, sondern die schärfste Gefährdung des Daseins inmitten der Übermacht des Seienden.“ (S.16) Der Wissensarbeiter nimmt, als herausgehobener Teil der Erneuerungs-Elite, eine exceptionelle Position ein; er ist wahrlich die Avantgarde, die an vorderster Front stehende und sich bewährende Kampftruppe für die Neue Universität. Das heißt aber auch: Der Wissensarbeiter formt eine Kampftruppe gegen die Moderne, ja gegen die zeitgenössische abendländische Wissenschaft, gegen die Funktionalität des modernen Wissens. Man kann auch sagen: gegen die Universität als Fachhochschule. Nur so kann die Neue Universität ihren „Auftrag“ erfüllen. Dazu gehört, daß die Gegenwart, die Epoche des Falschen, radikal negiert, dh.: überwunden wird. Der Wissensdienst steht an der vordersten Front im Kampf gegen die „abgelebte Scheinkultur“ der Gegenwart mit ihrer Tendenz zur „Verwirrung“, ja zum „Wahnsinn“ (S.19). Weil es die geschichtliche Aufgabe Deutschlands und des deutschen Denkens ist, die Wahrheit des Wissens zu bewahren oder neu zu gewinnen, muß es die höchste Aufgabe des Neuen Staates und der Neuen Universität sein, den Aufbruch des Volkes umzusetzen in ein umfassendes geschichtliches Sein - in ein gründendes Handeln. Das ist der Sinn dieser Verpflichtungen und Kampfpositionen. Sie sind Momente der äußersten Gefährdung und Zeichen eines Ursprungs, eines neuen Denkens und Handelns. Der geschichtliche Auftrag des deutschen Volkes und damit der deutschen Universität ist eine die Wurzeln affizierende, mithin radikale, Erneuerung der geistigen Kräfte Europas durch Deutschland und die Neue deutsche Universität. In dieser Rettung des wiedergewonnenen Ursprungs liegt die geschichtsphilosophische Relevanz der nationalsozialistischen Revolution des Jahres 1933. So der Philosoph Martin Heidegger am 27. Mai 1933. Seine Rede zur Übernahme des Rektorats der Universität Freiburg endet mit einem Platon-Zitat. „Die Herrlichkeit aber und die Größe dieses Aufbruchs verstehen wir dann erst ganz, wenn wir in uns jene tiefe und weite Besonnenheit tragen, aus der die alte griechische Weisheit das Wort gesprochen: ta megala panta episfale - Alles Große steht im Sturm … (Platon, Politeia, 497 d,9)“ (S.19) Universität. Freilich - und das scheint erst bei der Neuauflage der Rede im Jahr 1983, also sieben Jahre nach Heideggers Tod, bemerkt worden zu sein übersetzt er den Satz Platons schlicht falsch. Episfale heißt „unsicher, schwankend“ auch „gefährlich“. Platons Satz aus der Politeia beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Staat und Philosophie. Schleiermacher übersetzt die Passage so: „Es ist nicht leicht zu sagen, auf welche Weise ein Staat sich mit der Philosophie befassen muß, um nicht unterzugehen. Denn alles Große ist auch bedenklich und, wie man sagt, das Schöne in der Tat schwer.“ Warum steht bei Heidegger eine ersichtlich falsche Übersetzung des Wortes episfale? Warum statt „bedenklich“ oder „gefährlich“ - „steht im Sturm“? Natürlich, so könnte man sagen, weil nur eine solche heroisierende Verfälschung in sein Konzept hineinpaßt. Aber warum überhaupt wählt er dieses Zitat? Wollte er den Zuhörern oder später den Lesern einen geheimen Hinweis geben, daß dieses Im-SturmStehen in Wahrheit gefährlich und höchst bedenklich ist? Summa summarum: Heideggers Rektoratsrede, voller Allgemeinheiten und doch Teil einer sehnsüchtig erstrebten Revolutionierung der deutschen Universität als Moment einer umfassenden Revolutionierung von Volk und Staat - diese Rede sollte ein Fanal des Aufbruchs sein. Sie sollte das emphatische In-die-WeltTreten des deutschen Volkes begrifflich begleiten, unterstützen und legitimieren. Der „Auftrag“ für das „Land der Mitte“ lautet: Heraus aus der falschen Welt des funktionalisierten Wissens, des demokratischen Pluralismus und der differenten Wissens-Diskurse. Der Aufbruch sollte einer sein zurück zum Ursprung. Die Gegenwart schien eine Zeit der Gründung zu sein, ein Kampf (polemos), an dessen Ende der Neue Staat mit dem Neuen Volk stehen wird. Es galt, besonders in der und durch die Universität, das ungestüme und diffuse Wesen der nationalsozialistischen „Bewegung“ zu läutern und deutend zu begleiten. So betrachtet war der Gedanke nicht allzu verwegen, daß auch der Führer geführt werden mußte, und zwar vom Philosophen selbst, in Analogie zu Platons Tätigkeit in Syrakus. An welchen Philosophen in der gegenwärtigen Revolution Heidegger da gedacht hat, braucht hier nicht weiter expliziert zu werden. Der Rücktritt vom Rektorat im April 1934 ist das Eingeständnis des/seines Scheiterns. Die eigentlichen Machthaber mißtrauten Heidegger zutiefst. Ob der Führer in Berlin überhaupt von ihm Notiz genommen hat, ist nicht bekannt. Der Philosoph in Freiburg sieht zunehmend den Sinn der „Bewegung“ verraten durch kleinbürgerliches Taktieren und Anpassung an die Alten Mächte. Einmal versucht er eine Präzisierung seiner Ideen der radikalen Umgestaltung: in der knappen Skizze einer zu gründenden Dozentenschule, im August 1934. Wenn schon die Universität nicht revolutioniert werden kann, dann vielleicht der Universitäts-Dozent, der Habilitierte, der angehende Professor, vielleicht schon der Assistent oder der begabte Student. Zum Zwecke der Radikalisierung sollen sie ein halbes Jahr oder ein ganzes Jahr oder zwei Jahre, das bleibt unklar, zusammenleben und zusammen studieren. Vielleicht verblüffend (aber gar nicht so sehr, bedenkt man die Herkunft Heideggers) ist die Tatsache, daß diese Dozentenschule in Struktur wie äußerer und innerer Gestalt einem säkularen Kloster gleicht - ausdrücklich ist gesagt, daß die lehrenden und lernenden Dozenten in Zellen arbeiten und schlafen. Nicht Gefängniszellen, sondern Klosterzellen. Daß dieser leicht bizarre Vorschlag im Papierkorb der zuständigen Ministerialbürokratie gelandet ist, um nie mehr aufzutauchen, bedarf kaum der Erwähnung. Nach 1934 wandte sich Heidegger ausschließlich seiner Lehrtätigkeit zu; es entstehen jetzt die großen Texte zu Kunst und Literatur, auch die Vorlesung über Friedrich Nietzsche. Diese Vorlesungen wurden polizeilich überwacht - Heideggers diesbezügliche Bemerkungen nach 1945 wurden lange Jahre als Schutzbehauptungen bezweifelt; es ist dies aber aufgrund aufgefundener Dokumente nicht zu bestreiten. Das totalitäre System, das der Nationalsozialisten wie das der Kommunisten, mißtraut dem Geist als solchem, auch da, wo der Intellektuelle sich explizit zur Herrschaft der jeweiligen Partei bekannt hat. Gleichwohl bleibt Heidegger Mitglied der NSDAP bis zum bitteren Ende. Zwar spricht alles dafür, daß er in der „Bewegung“ zunehmend nicht die Überwindung des europäischen Nihilismus gesehen hat, sondern im Gegenteil seine tiefste Realisation - aber zu dieser Frage und vergleichbaren anderen schwieg er, antwortete, wenn überhaupt, nur ausweichend. So entstanden Legenden und ausufernde Spekulationen. An diesem Punkt betritt Paul Celan die Bühne unseres Stückes, das weit mehr eine Tragödie denn eine Komödie ist, wenngleich ihm komödiantische Züge nicht gänzlich fehlen. Paul Celan wurde als Paul Antschel (Ancel) am 23. November 1920 in Czernowitz in der Bukowina geboren. Czernowitz hatte damals etwa 110 000 Einwohner, die Hälfte deutschsprachig, viele davon Juden. Die anderen sprachen überwiegend rumänisch. Czernowitz, vor dem 18. Jahrhundert eine rumänische Kleinstadt, war nach der Übernahme durch die Habsburger 1774 (durch Kauf, nicht durch Eroberung) zu einem beachtlichen Handelsplatz und schließlich zu einem Zentrum der deutschen Kultur im Osten geworden. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und dem Ende der Habsburgermonarchie im November 1918 wurde Czernowitz rumänisch. Paul Antschel wurde also als rumänischer Staatsbürger geboren und blieb dies bis 1947. Der Vater war Makler im Brennholzhandel, mittleres Bürgertum. Paul Antschel/Ancel nannte sich seit 1945/46 Celan. Er wuchs zweisprachig auf, deutsch und rumänisch. Später lernte er französisch und englisch, im Krieg offenbar auch russisch. Eine der Voraussetzungen für seine spätere herausragende Übersetzertätigkeit. Die eigenen Gedichte schrieb er ausnahmslos auf deutsch, auch in den späteren Jahren in Paris, und trotz lebenslanger Frankophilie. Nach dem Abitur 1938 studierte er ein Jahr Medizin in Tours; der Kriegsausbruch im Herbst 1939 verhinderte eine Wiederaufnahme des Studiums in Frankreich. Während des Krieges und der deutschen Besatzung wurden Celans Eltern von deutschen Kommandos ermordet; er selbst überlebte mit Glück. Über diese Jahre hat er sich nie öffentlich geäußert. Im Jahr 1944 wurde die Bukowina dann endgültig von der sowjetischen Armee erobert und der Sowjetunion zugeschlagen. (Czernowitz und die Bukowina sind heute Teil der Ukraine.) Celan und alle anderen deutschschreibenden Dichter und Intellektuellen (um nur einige zu nennen: Rose Ausländer, Immanuel Weißglas, Moses Rosenkranz, Edwin Chargaff, Gregor von Rezzori) flohen nach Rumänien, dessen Staatsbürger sie ja waren, die meisten in die Hauptstadt Bukarest. Dort entstand zu Anfang 1945 Paul Celans berühmtestes Gedicht, die „Todesfuge“, ursprünglich genannt „Todestango“, veröffentlicht zuerst in rumänischer Übersetzung: „Tangoul mortii“. Celan hatte, wie die meisten rumänischen Intellektuellen, nach 1945 auf Meinungsfreiheit und radikale Erneuerung gehofft, stattdessen wurde auch Rumänien stalinistisch, schon vor Ceaucescu. Celan floh im Dezember 1947 nach Wien; es muß eine abenteuerliche Flucht gewesen sein, aber auch darüber wissen wir eigentlich nichts. In Wien gewinnt er zwar einige Freunde und beginnt eine Beziehung mit Ingeborg Bachmann, damals so unbekannt wie er selbst, aber die Stadt gefällt ihm nicht, er gibt Ärger mit dem Verleger der ersten Publikation, Der Sand aus den Urnen, und so verläßt er Wien schon im Sommer 1948 in Richtung Paris. Dort arbeitet er als Lektor für deutsche Sprache und Literatur an der berühmten Ecole Normale Superieur, heiratet 1952 die dem wohlhabend-konservativen französischen Bürgertum entstammende Malerin Gisele Lestrange; 1955 wird ihr einziges Kind geboren, der Sohn Eric. Es erscheinen die ersten Gedichtbände in Deutschland, er wird langsam bekannt, schließlich berühmt, und in den 60er Jahren ist er für jeden, der sich überhaupt noch ernsthaft für Lyrik interessiert, der bedeutendste lebende Dichter in deutscher Sprache. Gleichzeitig verschärfen sich seine, latent immer schon vorhandenen, seelischen Probleme. Eine manisch-depressive Disposition hatte sich zwar schon zu Schulzeiten gezeigt, wird aber jetzt, trotz aller Erfolge und materieller Sekurität, zu einer manifesten psychischen Krankheit. Kein Arzt, auch keine Klinik können ihm helfen. Züge von schwerer Paranoia treten auf. Er wähnt sich unverstanden oder bewußt mißverstanden, verfolgt von einer mächtigen anti-semitischen (Literatur-)Mafia in Deutschland, die ihm die unbezweifelbaren Erfolge neidet und ihn schamlos als Plagiator denunziert (Affäre Goll). Im Frühjahr 1970 erscheint ein in deutscher Sprache geschriebener Artikel in einer rumänischen, der deutschen Literatur gewidmeten Zeitschrift (eine Alibi-Zeitschrift Ceaucescus, mit der er Gelder aus Deutschland zu gewinnen hoffte, und tatsächlich auch bekommen hat), in der ziemlich plausibel gewisse Übereinstimmungen seiner weltberühmten „Todesfuge“ mit dem ein halbes Jahr vorher (!) erschienenen Gedicht „ER“ des ebenfalls Bukowiner Lyrikers Immanuel Weißglas nachgewiesen wurde. Der Zeitschriftenband fand sich nach seinem Tod auf seinem Schreibtisch. Wie auch immer: Ende April 1970 sucht und findet Paul Celan den Tod in der Seine. Auf seinem Grab in Paris steht der Name Paul Antschel. Die Beziehung Paul Celans zu Martin Heidegger ist bis heute nur undeutlich nachzuzeichnen, in erster Linie, weil die Privat-Archive noch nicht allgemein zugänglich sind. Vieles muß daher anekdotisch bleiben. Paul Celan hat Heideggers Werk mit großem Interesse verfolgt und mit fragendem Unverständnis angesichts der Worte und Taten 1933/34. Das „Schweigen“ Heideggers über diese Jahre - im Verlauf der Jahrzehnte zum Klischee geworden - zieht sich leitmotivisch durch die wenigen überlieferten Sätze Celans, die sich mit Heidegger und seinem Denken befassen. Umgekehrt bewunderte Heidegger Celans Lyrik und behandelte den Schwierigen mit ausgesuchter Höflichkeit und viel Verständnis für dessen psychische Leiden, für seine extreme Sensibilität, das eigene poetische Werk betreffend. Einige Stationen der Beziehung seien hier knapp nachgezeichnet. Die beiden ersten Gedichte, die von vielen Interpreten als ein lyrischer Blick Celans auf Heidegger gedeutet werden, „Schliere“ aus Sprachgitter (1959), und „Largo“ aus Schneepart, postum veröffentlicht 1971 - ihnen vermag ich keinerlei Bezug zu Heidegger zu entnehmen. Ein Bezug des „Schliere“-Gedichts zu Heidegger ergibt sich höchstens, wenn man der Erinnerung des Philosophen Otto Pöggeler, mit Celan damals so befreundet, wie man mit Celan befreundet sein konnte, folgt, der berichtet, Celan habe dieses Gedicht Heidegger persönlich übersenden wollen. Weder wissen wir, ob das überhaupt zutrifft, noch vermag ich diesem Gedicht-Text irgendeine Beziehung zur Person Martin Heidegger oder seiner Philosophie zu entnehmen. Und das zweite Gedicht, „Largo“, nimmt nur dann Bezug auf Heidegger, wenn man die erste Zeile isoliert betrachtet und darin den Namen entschlüsseln will, was eine gewisse Gewaltsamkeit voraussetzt: „Gleichsinnige du, heidegängerisch Nahe […]“ (Paul Celan: Gesammelte Werke, Band 2, S.356). Kommen wir zu den gesicherten Marksteinen dieser Beziehung. Der Germanist Gerhart Baumann, in Freiburg lehrend wie Heidegger, war ein guter Bekannter Celans, um das Wort Freund zu vermeiden. 1967 bereitete er eine Lesung Celans in Freiburg vor und berichtete davon Heidegger. Der schrieb zurück: „Schon lange wünsche ich, Paul Celan kennen zu lernen. Er steht am weitesten vorne und hält sich am meisten zurück. Ich kenne alles von ihm, weiß auch von der schweren Krise, aus der er sich selbst herausgeholt hat, soweit dies ein Mensch vermag … Es wäre heilsam, Paul Celan auch den Schwarzwald zu zeigen.“ (zit. nach Safranski, S.485) Die Lesung findet statt am 24. Juli 1967; angeblich vor 1000 (!) Hörern; es ist einer der wenigen öffentlichen Auftritte Celans. Es ist die Zeit der sogenannten Achtundsechziger, und das bedeutet in diesem Kontext: die Zeit einer ebenso elementaren wie stupiden Kunstfeindschaft, der Dominaz des Agitprop und eines poltisch legitimierten Ikonoklasmus. Es scheint, daß damals niemand gekommen war, die Lesung zu stören oder gar zu verhindern, was ansonsten durchaus an der Tagesordnung war. Eher im Gegenteil: große Aufmerksamkeit und viel Beifall. Und Heidegger war vor der Ankunft Celans in Freiburg von Buchhandlung zu Buchhandlung gegangen und hatte die Buchhändler gebeten, ihre Schaufenster mit Celan-Büchern und Celan-Fotos zu dekorieren. Was geschieht. Celan spaziert am Nachmittag vor der Lesung durch die Innenstadt und ist höchst beeindruckt von der freundlichen Aufmerksamkeit der Freiburger, sich manifestierend in so vielen wohlgeschmückten Celan-Altären. Wie gesagt: Die Lesung am Abend ist ein starker Erfolg. Er wird freilich für Heidegger ein wenig getrübt durch Celans Weigerung, sich zusammen mit Heidegger fotografieren zu lassen. „Er will nicht - nun, dann lassen wir es“ kommentiert der Philosoph die Szene stoisch. Hinter Celans Weigerung scheint sich primär Nervosität verborgen zu haben, denn danach läßt sich Celan auf Heideggers Hütte in Todtnauberg für den kommenden Vormittag einladen. Am 25. Juli 1967 ist also Celan bei Heidegger „auf der Hütte“ in Todtnauberg. Über das Gespräch der beiden wissen wir nichts. Celan schreibt in das Gästebuch: „Ins Hüttenbuch, mit dem Blick auf den Brunnenstern, mit einer Hoffnung auf ein kommendes Wort im Herzen.“ (Safranski, S.485) Was dieses „kommende Wort“ sein könnte - es bleibt offen. Sicher ist, daß Celan nach dieser Begegnung ausgesprochen gut gelaunt und ungewöhnlich kommunikativ war, zum gelinden Erstaunen aller. Wenige Tage später, am 1. August 1967, schreibt Celan das Gedicht „Todtnauberg“. Arnika, Augentrost, der Trunk aus dem Brunnen mit dem Steinwürfel drauf, in der Hütte die in das Buch -wessen Namen nahms auf vor dem meinen? -, die in dies Buch geschriebene Zeile von einer Hoffnung, heute, auf eines Denkenden kommendes Wort im Herzen, Waldwasen, uneingeebnet Orchis und Orchis, einzeln, Krudes, später, im Fahren, deutlich, der uns fährt, der Mensch, der's mit anhört, die halbbeschrittenen Krüppelpfade im Hochmoor, Feuchtes, viel. Paul Celan: Gesammelte Werke, Band 2, S.255f Nimmt man das Gedicht als Dokument eines Besuches in Todtnauberg, so fallen mehrere Stationen des Aufenthaltes auf: der Trunk aus dem Brunnen, der Eintrag in das Gäste/Hüttenbuch mit der Hoffnung auf „eines Denkenden kommendes Wort“, und ein Gang durch die Umgebung im Schwarzwald. Schließlich die Rückfahrt nach Freiburg im Auto. Lesbar für alle, die die Situation mit Celan geteilt haben und annähernd verstehbar für den, der aus anderen Quellen davon weiß. Celan schickt das Gedicht an Heidegger etwa ein Jahr nach der Niederschrift: veröffentlicht wird es, natürlich kommentarlos, im Todesjahr Celans, also 1970, in dem Band Lichtzwang. Es hat einige weitere Begegnungen der beiden gegeben; von den GesprächsInhalten wissen wir nichts. Die letzte Begegnung fand am 26. März 1970 statt, also kurz vor dem Suizid Celans. Die depressiven Schübe, abgelöst von Formen unkontrollierbarer Aggressivität, hatten sich verstärkt, die Ehe mit Gisele Lestrange war gescheitert. Celan fühlte sich von allen mißverstanden und hinter seinem Rücken verspottet. Heidegger war über den mentalen Zustand Celans erschüttert und sagte zu Baumann: „Celan ist krank - heillos.“ Ende April suchte und fand Celan dann den Tod in der Seine, innerhalb von Paris. Er wurde am 1. Mai 1970 tot aufgefunden. Eine Reaktion Heideggers ist nicht überliefert. Ein einziger Brief Heideggers an Celan ist bislang bekannt, vom 30. Januar 1968, veröffentlicht in der Neuen Zürcher Zeitung vom 3./4. Januar 1998. So läßt sich mehr als nur Vorläufiges über diese eigenartige Beziehung nicht sagen. Wenn Celan gehofft haben sollte, Heidegger würde sich ihm öffnen, seine Reden und Taten des Jahres 1933 betreffend, dann sah er sich gewiß getäuscht, war enttäuscht. Angesichts der globalen Dimension des Verhängnisses hielt Heidegger seine Person für gänzlich irrelevant. Womit freilich die Frage nach der persönlichen Verantwortung noch nicht beantwortet ist. Ihr ist Heidegger tatsächlich ausgewichen; auch im genannten „Spiegel“-Gespräch aus dem Jahr 1966. So bleibt vieles, vielleicht zu vieles unausgesprochen im Denken dieses Philosophen, der ein so immens umfangreiches, um nicht zu sagen: redseliges, Oeuvre hinterlassen hat. Aber daß das Schweigen mehr in sich tragen kann als viele leichtfertige Worte, haben schon die griechischen Philosophen vor mehr als zwei Jahrtausenden gewußt. Bei Celan wie bei Heidegger öffnet nur das Wort der Dichtung, das poetische Wort, eine Lichtung im Seienden, hin zur Unverborgenheit, also zur Wahrheit, zum unaussprechlichen Sein. Das Schweigen und das Wort stehen, einander ergänzend, als Erfahrungen der Wahrheit. So mögen Celans dichterisches Wort und Heideggers Schweigen, Heideggers denkerisches Wort und Celans Schweigen bedeutsam sein als Ausdruck der Verworrenheit und der Dunkelheit des von ihnen beiden geteilten geschichtlichen Augen-Blicks. THEODOR W. ADORNO: VITA Im zweiten Teil dieser Vorlesung beschäftige ich mich mit dem Kunst-Denken des Theodor W. Adorno. Wie schon zu Beginn gesagt, ist eine unvoreingenommene Parallelisierung von Martin Heidegger und Theodor W. Adorno erst jetzt möglich geworden. (Ich verdanke viel dem Buch von Hermann Mörchen: Heidegger und Adorno. 1981. Es kam zu früh. Der Nachweis einer tiefen inneren Verwandtschaft der beiden Zivilisationskritiker aus dem Geist einer gnostischen WeltVerneinung und Kunst-Verehrung war für die meisten Schüler schwer verdaulich, um mich flapsig auszudrücken. Gleichwohl traf es den Kern, was jetzt evident ist.) Beider Werk ist historisch geworden. Historisch bedeutet nicht: veraltet, sondern: in die Distanz der geschichtlichen Betrachtungsmöglichkeiten entrückt. Zunächst skizziere ich Adornos Lebensgang. Dann versuche ich seine Mitwirkung und die Relevanz und den Anteil seiner Musik-/Kunst-Philosophie an Thomas Manns Roman Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde (1943 – 1947 entstanden, 1947 veröffentlicht) nachzuzeichnen. Beide, Thomas Mann und Adorno, waren in diesen Jahren Nachbarn in Los Angeles ('Nachbarn' im amerikanischen Sinne des Wortes, also eine gute Autostunde voneinander entfernt). Adorno hat entscheidend die ästhetischen Perspektiven und die musiktheoretische Konzeption mitgestaltet. Thomas Manns öffentlicher Dank sollte das Zentrum des Essays „Die Entstehung des Doktor Faustus“ (1949) bilden; er wurde aber auf das ebenso insistente wie unhöfliche Betreiben von Katja und Erika Mann weitestgehend und bis zur Unkenntlichkeit reduziert, denn beide Damen haßten Adorno und wollten nicht akzeptieren, daß Thomas Mann so deutlich und für alle nachlesbar seine gedankliche Abhängigkeit vom verabscheuten Gelehrten eingestehen wollte und es im Manuskript bereits getan hatte. Diese Seiten wurden entfernt, was allerdings auch Thomas Mann nicht im besten Licht erscheinen läßt. Adorno hat von diesen Hintergründen mit größter Wahrscheinlichkeit nie etwas erfahren; die gegenseitige Hochschätzung Thomas Mann - Adorno hat bis zum Tode Thomas Manns angedauert und alle Anfeindungen von gehässiger Damenseite überstanden. Danach möchte ich, mit gelegentlichem Blick auf Heideggers Deutung, den Aufsatz Adornos zu Hölderlins lyrischem Spätwerk vorstellen, „Parataxis“ (1963). Adornos Ästhetik wurzelt im Kunst- und ganz besonders im MusikVerständnis der deutschen Romantik; vielleicht weniger bei Hölderlin als bei Joseph von Eichendorff, dessen Lyrik und Prosa als melancholisch-ironische Beschwörung einer utopischen Heimat uns in das ideelle Zentrum des Adornoschen Kunst-Denkens führen wird. Der Brückenschlag von hier in die von ihm stets emphatisch beschworene „Moderne“, hin zu Samuel Beckett, mag etwas gewaltsam erscheinen, markiert aber genau die historischen zwei Pfeiler seiner Ästhetik: die Romantik und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Warum die Kunst der „Moderne“ für Adorno von solcher geradezu existentieller Relevanz ist, läßt sich nicht nur aus den kollektiven Katastrophen des Jahrhunderts deduzieren, es hat auch, ja vielleicht in erster Linie zu tun mit individuellen Dispositionen, Prägungen aus Kindheit und Jugend. War für Heidegger Kunst die Erfahrung einer Lichtung des Seins, so nähert sich die Kunst bei Adorno einer spezifischen Form negativer Theologie an, in deren Zentrum das von ihm so genannte „Nicht-Identische“ steht. Dazu später mehr. Theodor W. Adorno - so nannte er sich freilich erst nach 1945 - wurde als Theodor Wiesengrund Adorno am 11. September 1903 in Frankfurt am Main geboren. Der Vater war ein assimilierter, schon früh zur evangelischen Kirche übergetretener Frankfurter Jude, ein wohlhabender Weingroßhändler, namens Oscar Alexander Wiesengrund (30.7.1870 – 8.7.1946, New York). Es ist naturgemäß kein „Zufall“, daß der Vater im Werk des (einzigen) Sohnes keine erkennbaren Spuren hinterlassen hat. Die Welt der Väter spielt bei Adorno niemals eine existentielle, höchstens eine literarisch vermittelte Rolle. Adorno gehört nur noch quasi am Rand zur expressionistischen Generation, und von einem Aufstand gegen die Väter-Generation kann so direkt wie bei den Expressionisten bei Adorno nicht die Rede sein. Anders verhält es sich mit der Welt der Mutter. Sie war die Tochter einer deutschen Sängerin und eines korsischen (also politisch: französischen, ethnisch-sprachlich: italienischen) Offiziers und Reitlehrers, den es aus unbekannten Gründen nach Frankfurt verschlagen hatte, wurde am 30.9.1865 in Frankfurt geboren (gestorben am 23.2.1952 in New York) und trug vor der Hochzeit den schönen Namen Maria Calvelli-Adorno delle Piane. Daher der Name des einzigen Kindes Wiesengrund Adorno, den dieser in der angelsächsischen Emigration (erst England, ab 1939 USA) zu Theodor W. Adorno verkürzte, damit anglisierte (W = Dabbeljuh) und italianisierte. Und als Nebeneffekt: der Name des Vaters, deutsch und jüdisch in einem, verschwand. Niemals widersprach „Teddy“ in den fünfziger und sechziger Jahren in Frankfurt umlaufenden Gerüchten, er sei mütterlicherseits mit dem Genueser Dogengeschlecht der Adorno verwandt - Korsika gehörte ja bis 1768 zu Genua und wurde dann von Frankreich gekauft, weshalb Napoleon als Franzose geboren wurde. Ob Adorno nun tatsächlich mütterlicherseits von adliger Herkunft war, ist eher unwahrscheinlich; unbestreitbar ist jedoch, daß er sich zeit seines Lebens in der Gesellschaft des Adels/Hochadels ausgesprochen wohl gefühlt hat, besonders wenn der Adel weiblich, jung und blond war. Anekdotisch, gewiß. Aber während es zu Heidegger kaum Anekdoten gibt, die diese Bezeichnung verdienen, sind die zu Adorno zahlreich und sogar gesammelt; nämlich von Eckhard Henscheid: Wie Max Horkheimer einmal sogar Adorno hereinlegte. Anekdoten über Fußball, Kritische Theorie, Hegel und Schach. 1983. Wie auch immer. Die Mutter Maria Adorno (und ihre Schwester Agathe, eine Sängerin) vererbte die beträchtliche Musikalität dem Sohn; der junge Teddy war ein überdurchschnittlicher Klavierspieler, zeitlebens Musikästhetiker und in der ersten Hälfte seines Lebens auch Komponist. Das mütterliche immaterielle Erbe, das mütterliche Element, wie man sagen könnte, dominierte die Interessen und Dispositionen des Sohnes. Seine Kindheit muß, nach allem, was wir wissen und darüber sagen können, glücklich gewesen sein; und diese Erfahrung einer behüteten, liebevollen und kulturell überaus anregenden Kindheit (von der materiellen Versorgtheit durch den wohlhabenden Vater ganz zu schweigen) zieht sich direkt oder indirekt auch durch das gesamte Werk Adornos. Man kann thesenhaft sagen, daß zwischen seiner Person und den Weltverhältnissen, die fast stets bedrohlich waren, sich immer eine Sphäre der Abmilderung, ein erlebtes Prinzip existentiellen Schutzes, existentieller Rettung schiebt. Sehr bald wird dies, das Mutter-Bild sublimierend und substituierend, die Kunst sein. Sie erscheint als Fluchtpunkt und Idee der Rettung, als von der kruden Realität zwar erschütterbar, aber nicht ihrem quasi-absolutistischen Anspruch unterworfen. In der Kunst, autonom und welthaltig, findet sich die Erfahrung der kindlichen Geborgenheit transponiert und für die Welt des Erwachsenen brauchbar gemacht. Dieser Welt tritt der Künstler und Philosoph, der Musiker und Intellektuelle, als Einzelner entgegen. Daran ändert auch die spätere marxistische Welt-Anschauung, ändert auch die Mitgliedschaft am Institut für Sozialforschung nichts. Der junge Teddy Wiesengrund, katholisch getauft und katholisch erzogen von Mutter und Tante, ist vielfältig begabt, ein glänzender Schüler und absolviert das Gymnasium in Frankfurt sozusagen in Rekordzeit. Schon mit siebzehneinhalb Jahren, zu Ostern 1921, legt er das Abitur ab. Mit dem Sommersemester 1921 beginnt er an der Universität Frankfurt das Studium der Philosophie, Psychologie und Musik. (Die Universität Frankfurt Frankfurt am Main existiert erst seit 1914. Sie ist eine der ganz wenigen Neugründungen zwischen der Napoleonischen Zeit und den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Es ist eine vom wohlhabenden Frankfurter Bürgertum getragene Stiftungs-Universität, deutlich gerichtet gegen den Preußischen Obrigkeitsstaat, der in Frankfurt, seit 1866 preußisch, besonders unbeliebt war.) Sein 1. Streichquartett wird 1923 in Frankfurt uraufgeführt. Auch das Studium vollzieht sich in Rekordzeit: Bereits 1924, also mit 21 Jahren, promoviert Teddy Wiesengrund mit der Arbeit Die Transzendenz des Dinglichen und Noematischen in Husserls Phänomenologie. Sehr akademisch und nur mäßig originell - aber wer wollte einem 20/21jährigen das vorwerfen. Nach der Promotion geht er nach Wien; er wird für kurze Zeit Schüler von Arnold Schönberg und lernt Alban Berg kennen. Schönberg trifft er im amerikanische Exil wieder. Beide sind sich nicht sonderlich sympathisch; aber für Adorno wird Schönberg zeitlebens das Inbild des „modernen“ Komponisten sein. In der Schrift Zur Philosophie der Neuen Musik (1949), in Kalifornien verfaßt und in engstem Zusammenhang zu sehen mit Thomas Manns Roman Doktor Faustus, stellt er ihn, in manichäischer Konstruktion, dem ungeliebten Igor Stravinsky gegenüber, musikalischer Fortschritt gegen musikalische Reaktion. Schon hier sei gesagt, daß solche wahrhaft simplen Dichotomien, aufbauend auf dem primären Gegensatz „Fortschritt versus Reaktion“, zu den Zügen des Adornoschen Werkes gehören, die am raschesten veraltet sind. Dies und der durchgängig oberlehrerhafte Duktus seiner Texte, die Attitude des unerschütterlichen Besserwissers, der auch und gerade besser weiß, was den anderen Menschen von Nutz und Frommen ist, was sie eigentlich wollen und wollen sollen oder sollen sollen - dies hat vieles an seinem Oeuvre rasch altern lassen. Während Adorno den um viele Jahre älteren Schönberg zumindest als Komponisten verehrt und ihm dessen Musik zeitlebens Ausdruck avanciertester Kunst ist, kann Schönberg den Jüngeren durchaus nicht leiden, wiewohl er zähneknirschend zugestehen muß, daß Adorno hochmusikalisch ist, glänzend Klavier spielen kann und über einschüchternde Kenntnisse der abendländischen Musik verfügt. In Wien versucht Adorno also vergebens, Fuß zu fassen; alles ohne den, wie man so sagt, durchschlagenden Erfolg. Er kehrt nach Frankfurt zurück und legt, im November 1927, der Philosophischen Fakultät ein Manuskript vor, mit dem er sich zu habilitieren gedenkt - er ist gerade 24 Jahre alt. Er nennt ihn: Der Begriff des Unbewußten in der transzendentalen Seelenlehre. Nach einigen Briefwechseln zwischen den akademischen Lehrern zieht er die Arbeit, wie das in solchen Fällen üblich ist, im Januar 1928 zurück. Er lebt von da an einige Jahre in Berlin, wo er seine spätere Ehefrau Gretel Karplus kennenlernt. Sie heiraten im September 1937. Über diesen BerlinAufenthalt hat er sich nie öffentlich geäußert, in deutlichem Gegensatz zu den (wenigen) Monaten in Wien. Immerhin verfaßt er in Berlin und Frankfurt dann die Arbeit, die 1931 in Frankfurt als Habilitations-Schrift angenommen wird: Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen. In diese Jahre fällt auch die Etablierung des Instituts für Sozialforschung an der Universität Frankfurt, und es beginnt die lebenslange Freundschaft mit Max Horkheimer und die Bekanntschaft mit Walter Benjamin (Freundschaft wird man es nicht nennen können). Zu jedem dieser drei Ereignisse wäre einiges zu sagen; aber es würde den Rahmen der Vorlesung sprengen. Nur so viel: Das Institut für Sozialforschung wurde als private Stiftung von einem reichen jüdischen Industriellen namens Hermann Weil im Sommer 1924 in Frankfurt gegründet. Sein Aufgabenbereich sollte, verkürzt gesagt, die akademischwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Marxismus und die Analyse der modernen Gesellschaft unter marxistisch-materialistischen Aspekten und Perspektiven sein. Der Marxismus existierte damals an den deutschen Universitäten sozusagen nicht, weder als Objekt wissenschaftlichen Interesses noch als Leitidee intersubjektiver Erkenntnis. Das Institut sollte diese Lücke schließen, sich aber fernhalten von Agitprop und dem offiziellen dialektischen Materialismus der UdSSR und ihrer westlichen Ableger, vor allem der KPD. „Marxismus der feinen Leute“ spotteten manche über das Institut, denn sowohl der erste Direktor Carl Grünberg wie der ab 1928 dem Institut vorstehende und es dann auch von 1950 wieder bis zu seiner Emeritierung 1960 leitende Max Horkheimer entstammten tatsächlich dem jüdischen assimilierten deutschen Großbürgertum. (Nach der Emeritierung zog sich Horkheimer dann standesgemäß in seine Villa ins Tessin zurück; er starb 1973.) All dies trug dazu bei, daß das Institut nach 1933 erst schikaniert und dann geschlossen wurde. Horkheimer hatte die Finanzmittel in weiser Voraussicht erst nach Genf, dann nach New York transferiert. Das Institut war also in den USA relativ unabhängig und konnte den Mitarbeitern auch im Exil Gehälter zahlen. Adorno gehörte zu den ersten Habilitierten, die 1933 von den Nationalsozialisten ihres Amtes enthoben wurden; wiewohl er, jüdischem matrilinearen Denken zufolge, gar kein Jude war. Er ging zunächst nach Oxford, ohne dort in irgendeiner Weise Fuß zu fassen. Lange Jahre kehrte er öfters nach Frankfurt zurück; erst 1938 emigrierte er endgültig, in die USA. Zunächst lebte er in New York, dann in Los Angeles, in der Nähe von Thomas Mann, wie schon angedeutet. Der deutsche Bildungsbürger in Californien - das ist die Erfahrung einer radikalen Andersartigkeit - damals noch viel mehr als heute. Thomas Mann konnte sich, durch seinen Reichtum, seine Berühmtheit und seine ihn abschirmende und in allem unterstützende Familie, diesem Neuen weitestgehend entziehen. Adorno konnte es nicht wirklich. So bleibt Amerika ihm stets doppelgesichtig: Einerseits das Land, das ihn vor dem Tod bewahrt hat; andererseits die Verkörperung der kulturellen und zivilisatorischen Andersartigkeit. 1949 kehrt er nach Deutschland zurück. Er hat da nicht geschwankt. Seine Intellektualität war eine sehr spezifisch deutsche, und sein Platz konnte nur an einer deutschen Universität sein. (Im Unterschied zu anderen Emigranten hat er auch in den USA, wie vorher schon in England, akademisch nicht reüssiert. Er war Mitglied des Instituts für Sozialforschung, des Institute for Social Research, mit einigen Lehraufträgen und Projekten da und dort, aber ohne amerikanische Professur.) Er wird in Frankfurt erst außerordentlicher, dann, 1956, ordentlicher Professor für Philosophie und Soziologie und trägt dazu bei, die Universität Frankfurt zu einem Zentrum der undogmatischen Linken zu machen. Und er wird berühmt. Mit einer gewissen Verzögerung gelingt es ihm, den Posten des intellektuellen Vordenkers, des philosophischen Groß- oder Über-Ordinarius zu besetzen. Noch zu Lebzeiten Heideggers, als dessen schärfster Konkurrent (oder Nachfolger, wie man will). Er weiß die Auszeichnungen, den Ruhm, ja auch die gelegentlichen akademischen Anfeindungen durchaus zu schätzen, wiewohl seine Philosophie, auch seine Ästhetik nichts explizit Tröstliches oder Erbauliches enthalten. Man könnte sagen: gerade deshalb; denn Kollektiv-Masochismus ist ja ein Signum der Epoche, zumindest in den Kreisen der Gebildeten oder derer, die sich dafür halten. So hört man ergriffen von der Verzweiflung, der Ausweglosigkeit der Gegenwart, dem Verblendungszusammenhang und dergleichen mehr. Georg Lukacs lästert zwar vom „Grandhotel Abgrund“, in dem die Frankfurter Schule sich häuslich und selbstzufrieden und luxuriös eingerichtet habe, aber Lukacs ist ein durchaus suspekter Zeitgenosse, dessen Residenz in der sozialistischen Baracke niemanden, der noch seine fünf Sinne beisammen hat, zur Übersiedlung vom Grandhotel in die Baracke der reinen Lehre verführen kann. Gleichwohl und trotz alledem: Der Groß-Ordinarius Adorno ist der unangefochtene Platzhirsch im Reich des Denkens im Deutschland der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre. Um so bitterer sind die letzten zwei oder drei Jahre seines Lebens. Es ist unerläßlich, sie hier zu erwähnen; einmal, weil sie mir paradigmatisch zu sein scheinen für viele inneruniversitäre Konflikte jener Zeit in ihrer unentwirrbaren Mischung aus gesellschaftlicher Großwetterlage, politischen PartikularIntentionen und höchst subjektiven, gleichzeitig mit der objektiven Situation vermittelten, psychischen Spannungen, bis hin zu jenen ödipalen VatermordPhantasien, denen - reden wir nicht drumherum - auch Theodor W. Adorno zum Opfer gefallen ist. Ich kann das hier nur andeuten. Die Zeit von 1965 bis 1970, mit dem äußeren Höhepunkt des mythischen Jahres 1968, war eine ebenso kurze wie intensive Epoche tiefer gesellschaftlich-sozialer Umbrüche in der gesamten industriellen Welt, nicht bloß in West-Deutschland, wie manche Darstellung Ihnen suggerieren möchte. Sie haben sich in jedem Staat anders manifestiert, politisch anders, aber immer weit darüber hinaus greifend. In Stichworten: USA: Vietnam-Krieg (verschärft durch Wehrpflicht); Rassen-Konflikte, nicht nur im historischen Süden; Feminismus; neue Gruppen von Einwanderern (Asiaten, Hispanics) mit Anspruch auf größere Teile vom materiellen Besitz und auf mehr Macht. In Deutschland (West): das vermeintliche oder tatsächliche „Schweigen“ der Vätergeneration zu ihrer Verwicklung in die Nazi-Zeit; die (heute vollkommen unbekannten) sogenannten Notstands-Gesetze; der VietnamKrieg als Beispiel des US-Imperialismus und des angeblich unvermeidlichen Krieges Erste vs. Dritte Welt; der „Kapitalismus“ schlechthin; und nicht zuletzt die sogenannte Ordinarien-Universität. In Frankreich: Herrschaft de Gaulles; auch dort der Vietnam-Krieg; anarchische Träume, und nicht nur Träume, von einer herrschaftsfreien Gesellschaft. In allen Ländern war es nicht ausschließlich, aber doch überwiegend eine studentische, eine intellektuell (besser: pseudo-intellektuell) geprägte Veranstaltung. Irrational, aber im Gewand einer vernünftigen Überwindung des Herrschenden. Im Osten Europas - um auch dies hier kurz zu erwähnen markiert es den Anfang vom Ende des Marxismus als Herrschaft-Ideologie. Im Grunde ist das auch im Westen so, verdeckt von der Renaissance diverser kommunistischer Klein- und Kleinst-Gruppen, der DKP und ganz allgemein eines „linken“ Diskurses. Es ist gleichzeitig und nachhaltig der Beginn neuer Diskurse: des Feminismus, der Ökologie und, noch fast unbemerkt, einer diffusen Erstarkung, knapp jenseits der Nullmarke, des Islam. (Aus all dem, minus naturgemäß dem Islam, entsteht um 1980 in Deutschland die Milieu- und Generationen-Partei „Die Grünen“. Mitbegründer: Joseph Fischer (Sponti und Anarcho-Prügler aus dem Schwäbischen, tätig vornehmlich in Frankfurt am Main), Jürgen Trittin (Kommunistischer Bund, Göttingen), Hans-Christian Ströbele (dto.), Antje Vollmer (dto.). Allesamt von 1998 – 2005 führende Mitglieder der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder.) Was ist nun das gesellschaftliche Substrat dieser Jahre um 1968? Man könnte es verknappt so sagen: Es ist eine Ablösung des ödipalen durch den narzißtischen Charakter. Es ist die Erstarkung der weiblichen Emanzipation als sexueller Emanzipation; es ist der Beginn einer biologischen Lösung der Sexualität von der Fortpflanzung; es ist ein neuer (und nicht bloß) sexueller Hedonismus als Ausgleich zu einer immer stärker genormten, gleichzeitig weitgehend internalisierten und abstrakter werdenden Arbeit („Spaßgesellschaft“). Vieles davon war erahnbar, manches nicht einmal in Ansätzen. Zudem wurden diese Konflikte in einer Sprache ausgetragen, die marxistisch-leninistischen Jargon mit Teilen einer vulgarisierten Psychoanalyse verband, gleich, ob es passend, ob es angemessen war oder nicht. Wobei weniger die anthropologische Skepsis Sigmund Freuds im Zentrum stand als die utopischen Spintisierereien des Simplifikateurs Wilhelm Reich und die Revolutions-Phantastereien des Herbert Marcuse, des Philosophen in der Heidegger-Nachfolge mit dem Massen-Appeal und der Kriegs-(und Nachkriegs-)Vergangenheit im amerikanischen Geheimdienst. Zurück zu Adorno und den Auseinandersetzungen der letzten Lebensjahre mit seinen Studenten. Umfangreiche Informationen dazu: Wolfgang Kraushaar (Hg.): Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Band 1: Chronik. Band 2: Dokumente. Band 3: Aufsätze und Kommentare. Register. Rogner + Bernhard bei Zweitausendeins, Hamburg 1998. Diese Auseinandersetzungen betrafen zunächst und primär die Mitglieder des legendären Adornoschen Oberseminars, seine Doktoranden also, um den charismatischen Hans-Jürgen Krahl, der ein halbes Jahr nach Adorno bei einem Autounfall ums Leben kam. Zum anderen waren involviert andere Soziologieund Philosophie-Studenten der Universität Frankfurt und universitätsfremde Anarchos und Krawallos. Worum ging es eigentlich? Nicht eigentlich um die Enttäuschung, daß TWA nicht gewillt war, der theoretischen Verurteilung der kapitalistischen Herrschaft die praktische Konsequenz revolutionären Straßenkampfs folgen zu lassen, sei es in der unfreiwillig komischselbstparodistischen Form des Herrn Joseph Fischer, sei es in der gefährlicheren Variante der französischen Mai-Unruhen mit Herrn Daniel Cohn-Bendit, der dann allerdings, als deutscher Staatsbürger aus Frankreich ausgewiesen und nach Frankfurt am Main übergesiedelt, sich langsam aber sicher ins Reformerische zu wandeln begann. Es kann niemand im Ernst von Adorno erwartet haben, daß er auch nur jene revolutionäre Rhetorik im Stil Herbert Marcuses gepflegt hätte, die diesen bei den linken amerikanischen und dann auch deutschen Studenten so populär gemacht hat, geschweige denn in gediegenem Maßanzug den brüllenden Massen durch Frankfurts Straßen vorangestürmt wäre. Das alles entsprach nicht seinen Überzeugungen und seinem großbürgerlichen Lebensstil. Mir will scheinen, daß dieser Konflikt in der Tiefe nicht nur ein Aufstand der Söhne gegen den Über-Vater war, sondern ein Ausdruck des Ekels gegen die Abstraktheit des philosophischen Gedankens und gegen die unvermeidliche Innerlichkeit jeder Kunst und jedes Denkens über Kunst. Also in der Tiefe eine Art Bildersturm, unter dem Vorwand revolutionärer Verbesserungen und der Rettung der Welt im Zeichen einer neuen marxistischen Umwälzung. Denn wenn die Kunst damals überhaupt in jenen Kreisen eine Rolle spielen durfte, dann in der Weise des Agitprop. Für Nuancierteres war kein Platz, gab es keine Geduld. Und für Adornos bekanntlich besonders nuancierte Kunst-Theorie schon gar nicht. Insofern hatten die Studenten Adorno durchaus richtig verstanden: Zwischen ihnen klaffte ein Abgrund, der nicht zu überbrücken oder zuzuschütten war. Nur durch viel guten Willen von beiden Seiten wäre er vielleicht zu verdecken gewesen - aber warum hätte Adorno seine lebenslangen Überzeugungen aufgeben sollen? Aufgeben angesichts einer gewaltigen Verachtung, die ihm entgegenschlug und die sich nicht selten in Haß verwandelte. Die äußeren Ereignisse spielten dabei bloß eine Nebenrolle, etwa die Besetzung des Instituts durch rabiate Studenten (im Januar 1969), die Räumung des Instituts durch die Polizei auf Anordnung Adornos, der Abbruch der Vorlesung im Sommersemester 1969, auch provoziert durch einen strip-tease dreier Studentinnen. (Solches geschah damals, etwas später, auch in Bonn, im Wintersemester 1973/74 in einer Vorlesung meines akademischen Lehrers Peter Pütz; leider nicht in meiner Anwesenheit. „Mehr Masse als Klasse“ war die einzige Äußerung von Peter Pütz zu diesem in Bonn durchaus unüblichen Vorgang.) Es ging in Frankfurt nicht um eine dem aufkommenden Hedonismus geschuldete Unterbrechung des tristen Universitäts-Alltags, sondern es war ein Ausdruck tiefer Verachtung, was Adorno sofort und klarer begriff als die Journalisten, die mehr oder minder hämisch und unverständig den Vorfall kommentierten. Zu Beginn der Semesterferien im Juli 1969 mußte Adorno als Zeuge in dem Prozeß gegen seinen Lieblingsschüler Hans-Jürgen Krahl auftreten und aussagen, wegen der Institutsbesetzung. Die Zuhörer im Gerichtssaal grölten bei jedem Satz, den Adorno sprach, und der Staatsanwalt hielt den professoralen Zeugen sowieso für den Schuldigen an der ganzen Geschichte. Anfang August fuhr Adorno mit seiner Frau in den Urlaub nach Zermatt. Am 5. August wurde er wegen Herzbeschwerden in das Kantonsspital Visp eingeliefert, wo er am nächsten Tag, also am 6. August 1969, verstarb. Am 13.8. wurde er unter größter Anteilnahme von Freunden, Kollegen und Studenten auf dem Frankfurter Hauptfriedhof beerdigt; es sollen fast 2000 Trauergäste anwesend gewesen sein. Am Grab sprachen Max Horkheimer, der hessische Kultusminister Schütte und Ralf Dahrendorf, der Soziologe aus Konstanz. Kein Geistlicher hat ihn begleitet. Thomas Mann: Doktor Faustus Im Mai 1943 beginnt Thomas Mann in seiner Villa in Pacific Palisades, dem kalifornischen Exil, seinen Faust-Roman, Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Es ist sein ambitioniertester Text, eine lange Erzählung zur deutschen Geschichte, über die deutsche Kunst, in erster Linie die deutsche Musik, sein, Thomas Manns, eigenes Leben, und die teuflische Verstrickung, in der sich Deutschland in der Vergangenheit und Gegenwart gefesselt hat, ausweglos, wie der Roman insinuiert. Ein Buch über Alles - so könnte man despektierlich sagen, und in der Tat leidet dieser immens komplexe, ungeheuer anspielungsreiche und von alexandrinischer Bildung überquellende Roman unter diesem Unmaß an Themen, Motiven, Verweisen und ideellen, besser: ideologischen Konstruktionen. Ein kaum je noch zu überbietendes „Sprachkunstwerk“, um es altmodisch zu sagen, aber auch ein Text, der auf eher schwachen gedanklichen Füßen aufgebaut ist. Ich kann das hier nur andeuten. Auch steht ja hier nicht der gesamte Roman zur Debatte, sondern Adornos gedankliche Hilfe bei seiner Entstehung. Vereinfacht gesagt, wird die Entstehung der „modernen“ Musik, also der (deutschen) des frühen 20. Jahrhunderts, der politisch-gesellschaftlichen Entwicklung Deutschlands parallelisiert. Und zwar so, daß der paradigmatische Künstler, eben der deutsche Tonsetzer Adrian Leverkühn, den Stillstand seiner Kreativität überwindet durch einen Pakt mit dem Teufel (Faust !!), im Roman symbolhaft verknüpft mit einer syphilitischen Ansteckung. (Gestaltet nach Friedrich Nietzsche oder, besser gesagt, nach dem gängigen Nietzsche-Mythos; denn ob er tatsächlich syphilitisch infiziert war, muß für immer unklar bleiben, wie jeder Facharzt (z.B. Dr. Gottfried Benn) wußte und weiß. Nur Thomas Mann war sich ganz sicher. Künstler wissen nichts, aber alles besser.) Diese Intoxikation verhilft nun dem „modernen“ Komponisten Leverkühn zu ungeahnten kreativen Aufschwüngen, zu genialen Werken, zu esoterischem Ruhm unter einer winzigen FanGemeinde. Die Bedingung des Teufels: Er darf nicht lieben, „kalt“ muß sein Leben sein, und am Ende wird ihn der Leibhaftige holen. Was im Kontext der Syphilis bedeutet: Zusammenbruch und Paralyse. Es ist also der alte Faust-Stoff, jedoch nicht in der Goethe-Variante, sondern direkt bezogen von der Quelle, da wo alle Faust-Bearbeitungen ihren Ursprung haben, dem Volksbuch aus dem Jahr 1587. Der Lohn, den der Teufel zahlt für die arme Seele, solange sie eben noch auf Erden wandelt, ist die künstlerische Produktivität, sind die neuen, unerhörten, die „modernen“ Musikstücke. Dies ist der eine Strang des Romans, und er ist schon fragwürdig genug; denn Thomas Mann setzt ja tatsächlich künstlerische Modernität und teuflische Verführung in Eins, hier konkret die Zwölftonmusik mit dem Rat aus der Hölle. Arnold Schönberg hatte so Unrecht nicht, als er verärgert fragte, was denn seine Zwölftonmusik mit dem Teufel zu tun habe. Schönberg hat das Thomas Mann sehr übel genommen; die ursprünglich einigermaßen freundschaftliche Beziehung der zwei Emigranten zerbrach darüber und wurde nur mühsam und oberflächlich kurz vor Schönbergs Tod (am 13. Juli 1951) wieder gekittet. Der zweite ideelle Roman-Strang parallelisiert diesen plot (story), diese Geschichte, mit der Welt-Geschichte (history), in erster Linie der Geschichte Deutschlands im Kontext der allgemeinen Geschichte und der deutschen Mentalität, wie Thomas Mann sie damals sah. Hier wird es, kurz gesagt, sehr bald sehr fragwürdig, schon theorie-immanent, und dann besonders, wenn man nach der Parallelität von Geschichte und der Existenz und der Kreativität Leverkühns fragt. Daß sich Deutschland 1933 dem Teufel verschrieben habe, mag man, legitimiert von poetischer Freiheit, in einem Roman behaupten, wenngleich es wenig zu einer rationalen Analyse und eigentlich nur zu einer Mystifikation, zu einer Mythifizierung beiträgt. Aber wie und wieso dieser Teufelspakt auf gesellschaftlicher Ebene etwas zu tun haben könnte mit dem individuellen Teufelspakt Leverkühns zur Komposition “moderner“, und das heißt ja gerade hier: authentischer, „fortschrittlicher“ und die Tradition deutscher, abendländischer Musik adäquat fortsetzender Musik - das ist doch mehr als fragwürdig und als Konstruktion letztlich unhaltbar. Und vollends kommt man, fast 65 Jahre nach dem Beginn der Niederschrift, ins Grübeln angesichts einer Genealogie des Bösen, die sozusagen mit Martin Luther beginnt und über die deutsche Romantik bis in die Gegenwart des nationalsozialistischen Totalitarismus führt. So entsteht nicht bloß eine Kollektiv-Schuld-These über die Jahrhunderte hinweg, ein entsetzlich platter Schuld-Mythos, sondern bemerkenswerterweise nähert sich Thomas Mann damit - die Extreme berühren sich interessanterweise auch hier - der nationalsozialistischen Ideologie, nach der eben der Nationalsozialismus die Krönung, die Vollendung aller positiven Tendenzen, Elemente und Ideen der deutschen Kulturgeschichte sei. Seltsame Übereinstimmung - mit der sich Thomas Mann übrigens von der gesamten deutschen Emigrantenszene entfernt und sich extrem isoliert hat. Und wieso und warum entsteht aus der Tradition des Bösen Leverkühns avancierte, „moderne“, authentische Musik? Ich leite über zum Auftritt Theodor W. Adornos mit einer Tagebuchnotiz Thomas Manns vom 22. Februar 1948, die unkommentiert hier wiedergegeben sei: „Legte abends die alte Platte „Abendlich strahlt“ [Schlußszene aus Wagners Rheingold, Monolog Wotans: „Abendlich strahlt / der Sonne Auge; / in prächtiger Glut / prangt glänzend die Burg“] ein und war fast zu Tränen bewegt von dem Gesang der Rheintöchter mit dem 'Traulich und treu ist's nur in der Tiefe'. Gebe für diese Stelle allein die gesamte Musik Schönbergs, Bergs, Kreneks und Leverkühns dahin.“ Nun endlich zu Adorno. Bevor Thomas Mann ihn kennenlernte, hatte er wahrscheinlich nur einen Text von ihm gelesen - den Kierkegaard-Aufsatz, „On Kierkegaards Doctrine of Love“, im August 1940; so im Tagebuch, ohne Namensnennung und ohne Angabe eines Bezuges zur eigenen Arbeit. Am 6. Juli 1943 verzeichnet das Tagebuch einen Besuch Adornos, er überbringt ein musiktheoretisches Buch, noch nichts von ihm selbst. Der persönliche Kontakt war entstanden durch Max Horkheimer, der nur wenige Straßen von Thomas Mann entfernt in Pacific Palisades wohnt. (Eigentlich konnte Thomas Mann den Max Horkheimer persönlich gar nicht ausstehen, er schreibt ihn im Tagebuch fast immer Horckheimer, was stets ein sicheres Zeichen für Verachtung bei ihm ist, und äußert sich auch sonst eher despektierlich. Adorno war 28 Jahre jünger als Thomas Mann und durchaus ehrerbietig, da fand es der Weltberühmte leichter, Sympathie zu verströmen.) Im Juli 1943 liest er dann im Manuskript Die Philosophie der neuen Musik . Von da an ist der Jüngere der musikalische Lehrmeister des Älteren. Die Tagebucheintragungen, Adorno betreffend, häufen sich, und die Niederschrift des Doktor Faustus entwickelt sich über weite Strecken zu einer Zusammenarbeit. Der Essay Die Entstehung des Doktor Faustus läßt vollends an der Relevanz Adornos für die kompositorischen Partien des Romans keinen Zweifel. Worum geht es im einzelnen? Thomas Mann stand vor der selbstgestellten Aufgabe, fiktive Kompositionen eines fiktiven Komponisten so darzustellen, daß sie als Moment einer bestimmten Musik-Ästhetik und als integraler Teil einer spezifischen Geschichts-Philosophie plausibel wurden. Einfach zu schreiben: „... und dann setzte er sich an seinen Schreibtisch und komponierte ein weiteres unsterbliches Werk ...“ wäre natürlich weit unter seinem Niveau gewesen. Das Werk mußte jeweils so beschrieben werden, als existiere es, und aus der genauen Beschreibung mußte die Relevanz für Leverkühn und für den Stand der modernen Musik hervorgehen. Adorno war nun nicht bloß seiner musiktheoretischen und musikhistorischen Kenntnisse wegen der ideale Helfer, sondern auch, weil seine, also Adornos, Musikästhetik, erstens teleologisch war, und zweitens, ganz im Sinne der Romantik und also Schopenhauers und Nietzsches, die Musik in der dem Roman ebenfalls zugrundeliegenden KunstHierarchie an der Spitze der Künste steht, autonom und souverän ist. Was bedeutet das? Ich habe im vergangenen WS 1999/2000 ausführlich darzulegen mich bemüht, daß in der Ästhetik Arthur Schopenhauers, formuliert in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung, 1815 – 1818, zum ersten Mal in der abendländischen ästhetischen Diskussion, die Musik an die Spitze der Künste tritt. Das Außerordentliche dieses Vorgangs kann ich hier nur andeuten. Sie löst damit in der Hierarchie der Künste die Literatur ab, die über viele Jahrhunderte, und vor allem in den Jahrzehnten der Aufklärung, diesen Platz innehatte. Schopenhauers Hochschätzung der Musik, reiner Ausdruck der Romantik, beruht auf ihrer Sprach- und Begriffs-Losigkeit, gerade darauf. Sie ist eine emphatische Wiederholung der Welt, aber im Medium der Willensreinheit. Mit anderen Worten: Musik ist die Welt noch einmal, aber in der Freiheit einer kategorial differenten Form. Wir erfahren durch sie Freude und Trauer, Euphorie und Melancholie, Erregung und Entspannung, also die gesamte Skala der Affekte direkt und gleichzeitig in einem anderen Zustand. Nur die Musik ist von allen Künsten wahrhaft eigenständig, also autonom; alle anderen Künste tragen in sich und mit sich immer noch die Spuren ihrer empirischen Fundierung, der sie entkommen sind, aber eben nie gänzlich. Die trans-empirische Ordnung und Logik der Musik ist der Garant ihrer Superiorität. Sie ist tiefste Erfahrung und Erlösung zugleich, welthaltig und weltfremd in gleichem Maße. Diese Schopenhauerschen Gedanken liegen, so will mir scheinen, auf dem ideellen Grund des Doktor Faustus; sie sind Teil jener Ambivalenz, die Leverkühns Kompositionen so charakteristisch und zeitgemäß machen. Sie dokumentieren und transzendieren gleichermaßen Höllenfahrt und Auferstehung, Verfallenheit an die Geschichte und Befreiung aus ihrer mythischen Fatalität. Musik ist für Schopenhauer wie für Adorno die gegenmythische Kraft schlechthin, utopisch und real, Vorschein und Präsenz. Aber sie ist auch, zumindest für Thomas Mann und seinen Adrian Leverkühn, Teil des modernen Verhängnisses - eben weil sie dem historisch Bösen, dem Faktischen (in Heideggers Terminologie: der Verfallenheit an das Seiende) nicht eigentlich Widerstand leisten kann, also nicht auf der Ebene des Empirischen existiert und eingreifend zu handeln in der Lage ist. Darum parallelisiert Thomas Mann die deutsche Musik (Deutschland als Land der Musik, die Musik als die deutscheste der Künste) der deutschen Politik, das Unsprachliche dem ungezügelt Geschwätzigen. Daß dies nicht aufgeht, habe ich schon behauptet und wiederhole es hier. Es wäre nur dann logisch, wenn die radikal 'moderne', also die dodekaphone Musik Leverkühns (und Schönbergs) ebenfalls in sich den Keim des Bösen und der Apokalypse tragen würde. Aber Apokalypsis cum figuris, das krönende Spät- und Hauptwerk Leverkühns, 1926 uraufgeführt in Frankfurt am Main (!), ist eben eine künstlerische 'Offenbarung' (Apokalypse), keine messianisch-eschatologische. Und Leverkühns letztes Oeuvre, Dr. Fausti Weheklag, 1927 begonnen, das „ungeheure Variationenwerk der Klage“, ist zwar höchste Gebundenheit und Freiheit im Innermusikalischen, aber naturgemäß nicht ausgreifend ins Empirische. So bleibt die Frage nach dem Status der Musik. Er ist in der Logik des Romans zwar ambivalent, vielleicht widersprüchlich, aber nicht in der Theorie Adornos. Denn seine Ästhetik ist, wie schon gesagt, teleologisch angelegt. Telos heißt: Ziel; und teleologisch bedeutet folglich „zielgerichtet“. Es gehört zu den Charakteristika des 20. Jahrhunderts, daß sich das politische Denken weitestgehend in dichotomischen Kategorien abgespielt hat: links - rechts; Demokratie - Diktatur; Proletariat - Bürgertum etc. Und, zentral: Fortschritt - Reaktion. Die Gegensätze waren so gebräuchlich, daß nur ganz selten die Frage gestellt wurde, ob diesen antinomischen idealtypischen Begriffen, die stets wertend gebraucht wurden, eine Wirklichkeit zugrunde lag. Es waren Kampfbegriffe, die den eigenen Standort geschichtsphilosophisch überhöhten und den des Feindes herabsetzen, sozusagen unmöglich machen sollten. Wobei sich das Oppositionspaar Fortschritt - Reaktion einer ganz besonderen Beliebtheit erfreut hat. Es schien die eigene Position, die stets eine des Fortschritts war, innerhalb der historisch konstruierten Heilsgeschichte, elementar zu legitimieren und die der Opposition fundamental zu delegitimieren. Was „fortschrittlich“ war, war nicht nur ganz allgemein „an der Zeit“, sondern im besonderen Moment eines Mythos: dem der Geschichte als eines innerweltlich-messianischen Heilsvorgangs. Eine ursprünglich religiöse Denk-Figur wurde im Gefolge der Französischen Revolution säkularisiert (so wie viele religiöse Kategorien und Perspektiven) und damit Teil einer weltimmanenten Erlösungs-Vision. In erster Linie im Marxismus. Er wurde auch deshalb so denk-mächtig im 20. Jahrhundert, weil die ersten Jahrzehnte grundiert waren von der Figur der „Erwartung“. Was im Poltischen bedeutet: die Erwartung eines Ganz Anderen, des Reichs der Freiheit, der Herrschaft des Proletariats oder der arischen Rasse. Und in der Kunst bedeutet es: eine elementare Trennung in „fortschrittliche“ und „reaktionäre“ Kunst. Problematisch ist dies nicht zuletzt deswegen, weil eine verbindliche Definition dessen, was in der Kunst fortschrittlich sein soll, nicht wirklich möglich ist. „Die Kunst ist immer am Ziel“ hatte Schopenhauer gesagt; aber in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schien diese Erkenntnis vergessen. Auch Adornos KunstDenken zentriert sich mutatis mutandis um die Kategorie des Progresses, aber wesentlich nuancierter als in der dogmatischen Ästhetik orthodoxer Marxisten. Die Kunst-Ideologie des „sozialistischen Realismus“ bestand ja in der Amalgamierung der jeweils gültigen Parteitags-Beschlüsse mit dem Oberflächen-Realismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das war dann „fortschrittlich“, alles andere „bürgerlich“, „dekadent“ oder „formalistisch“ und darum „reaktionär“. So primitiv geht es bei Adorno nun wahrlich nicht zu. Aber es bleiben die unheilschwangeren Kategorien „fortschrittlich“ und „reaktionär“ - so in der Philosophie der neuen Musik, wo Arnold Schönberg dem guten, Igor Strawinsky dem bösen Prinzip zugeordnet wird. Beides hat zwar mit politischen Ideologien nichts zu tun, definiert sich rein innermusikalisch, als Fortschritt in der Materialbeherrschung und Ausweitung der kompositorischen Möglichkeiten, aber Adorno verwendet eben doch jene Urteils-Figur der messianischen Unterscheidung. Wieder zurück zu den Kompositionen Adrian Leverkühns und Adornos Anteil an ihnen. Zentral ist ihnen die Kompositionstechnik mit zwölf gleichberechtigten Tönen innerhalb einer Oktave, was eine gleichberechtigte temperierte Stimmung voraussetzt. Der Roman tut so, als habe Leverkühn das Verfahren, das die Grenzen der Tonalität endgültig sprengt, selbst erfunden; natürlich waren dies Arnold Schönberg und Joseph Maria Hauer. Die Dodekaphonie ist eine Erweiterung der kompositorischen Möglichkeiten, mehr nicht, weniger nicht. Ob man sie nun als gesteigerte Form des innermusikalischen Fortschritts, als eine unter vielen Möglichkeiten kompositorischen Neu-Schaffens ansieht oder als eine Sackgasse - das bleibt jedem zu entscheiden überlassen. Nur den Fortschritt an und für sich darin zu erblicken und zu ideologisieren - das dürfte heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, tiefste Vergangenheit sein. Im Roman ist sie jedoch Moment der teleologisch ausgerichteten „Fortschritts“-Ideologie. Ihre Gefahr liegt nun in der Konstruktivität, also der intellektuellen „Kälte“, die von ihr ausgeht, auch durch die Distanz zu einer unmittelbaren Aufnahme. Um diese Kälte zu erhitzen, bedarf es des Teufels. Worüber sich Schönberg gewaltig geärgert hat, und nicht ohne Berechtigung. Freilich ist das Verhältnis von Kalkül und Inspiration zentral für die meisten, wenn nicht alle, Werke der sogenannten Moderne. Adorno hat da nur theoretisch unterfüttert, was für Thomas Mann seit langem feststand. Leverkühns Zerrissenheit zwischen dem „Ausdruck“ (romantisch) und den innerkünstlerischen KonstruktionsAnforderungen (intellektualistisch-modern) spiegelt die Zerrissenheit der Gegenwart der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Adorno verschärft die romantische Idee vom einsamen, der Masse notwendigerweise entrückten und einer unentrinnbaren existentiellen Kälte anheimfallenden Künstler, die schon im Tod in Venedig Teil einer pathetischen Feier der eigenen Auserwähltheit gewesen war, hin zur Theorie einer monadologischen Kunst. Sie kann ihre Autonomie nur bewahren als eine gesteigerte, sich gegen Welt und Geschichte bewahrende Einsamkeit. Und zwar so, daß sie Welt und Geschichte in sich aufnimmt, verwandelt und zu reiner Form werden läßt. Der isolierte Künstler ist nicht notwendigerweise ein einsamer Mensch, aber ein selbst-zentrierter.Thomas Manns Leverkühn, in manchem gebaut nach dem Vorbild Friedrich Nietzsche, verkörpert nicht bloß die monomanische Hingabe an die Kunst, sondern auch diese Selbst-Zentriertheit als Folge künstlerischer Radikalität. Leverkühn ist, als Geschöpf beider, Thomas Manns und Adornos, der unerbittliche Kämpfer gegen die heranrollende Flut der „Kulturindustrie“ der ewigen und jetzt, vermeintlich oder tatsächlich, besonders bedrohlich werdenden Idee und Realität der Kunst als Amusement. Adornos Kunst-Begriff ist von mönchischer Strenge. Nur durch asketische Versenkung in die Gesetze der Form können sich Schöpfer und Rezipient der Wahrheit des Ästhetischen nähern. Die religiösen Parallelen sind evident. Die Kunst ist, im Gefolge der Romantik, ein Absolutes ohne Transzendenz, ist die weltimmanente Epiphanie einer Sphäre jenseits des Empirischen. Wie bei Schopenhauer und Nietzsche, nur radikaler und ohne jedwede Erlösungs-Hoffnungen. So geht denn auch der einsame Künstler Leverkühn elend zugrunde. Der Fragwürdigkeit der Konstruktion war sich Thomas Mann auf einer Ebene seines ästhetischen Bewußtseins durchaus im klaren. Im XXV. Kapitel läßt Thomas Mann den Teufel selbst auftreten, in unterschiedlicher Gestalt. Seine zweite Variante sieht so aus: „Sah ich recht hin, kam er mir verschieden vor gegen früher; saß da nicht länger als Ludewig und Mannsluder, sondern, bitte doch sehr, als was Besseres, hatt einen weißen Kragen um und einen Schleifenschlips, auf der gebogenen Nase eine Brille mit Hornrahmen, hinter dem feucht-dunkle, etwas gerötete Augen schimmern, - eine Mischung von Schärfe und Weichheit das Gesicht: die Nase scharf, die Lippen scharf, aber weich das Kinn, mit einem Grübchen darin, ein Grübchen in der Wange noch obendrein, - weich und gewölbt die Stirn, aus der das Haar wohl erhöhend zurückgeschwunden, aber von den Seiten dicht, schwarz und wollig dahinstand, - ein Intelligenzler, der über Kunst, über Musik, für die gemeinen Zeitungen schreibt, ein Theoretiker und Kritiker, der selbst komponiert, soweit eben das Denken es ihm erlaubt. Weiche, magere Hände dazu, die mit Gesten von feinem Ungeschick seine Rede begleiten, manchmal zart über das dicke Schläfen- und Nackenhaare streichen. Dies war nun des Besuchers Bild in der Sofaecke.“ (S.321) Und dieser Besucher als Teufel, dieser Teufel als Besucher ist niemand anderer als Theodor W. Adorno. Theodor W. Adorno: Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins Theodor W. Adornos Essay zur späten Lyrik Friedrich Hölderlins stammt aus dem Jahr 1963. Er ist Teil einer ausführlichen Auseinandersetzung mit Martin Heidegger, die im Jargon der Eigentlichkeit, 1964, und der Negativen Dialektik, 1966, gipfelt. Für Heidegger wie für Adorno ist Friedrich Hölderlin einer der überragenden deutschen Lyriker (für Heidegger der Lyriker schlechthin). Beide verschmähen die in den späten 60er und 70er Jahren modische Perspektive auf Hölderlin als explizit politischen Revolutionär, deutschen Jakobiner und von der Zensur in eine religiöse Meta-Sprache gedrängten säkularen Radikalen. Adorno wie Heidegger insistieren auf der tiefverwurzelten philosophischen Reflexivität Hölderlins als Grundlage für sein „Denken des Seins“ (Heidegger) und/oder sein „Denken des Nicht-Identischen“ (Adorno). Adornos Essay besteht aus drei Teilen. Im ersten, einleitenden, wird die prinzipielle Frage nach der Legitimität philosophischen Interpretierens gerade dieser Lyrik gestellt. Im zweiten Teil setzt sich Adorno polemisch mit Heideggers Hölderlin-Studien auseinander. Im dritten Teil entwickelt Adorno seine Sicht auf Hölderlins Spätwerk; ausgehend von der parataktischen Struktur der späten Gedichte. Der zentrale Aspekt des ersten Teils ist die reflektierte Distanzierung zum Verfahren der Rekonstruktion der Autor-Intention. Daß ein Suchen nach ihr höchst fragwürdig ist, hat sich herumgesprochen. Ein Text besitzt stets ein Eigenleben, jenseits des manifesten und rekonstruierbaren Wollens des KünstlerSubjekts. Je künstlerischer ein Kunstwerk, desto weniger ist es erschließbar über eine Intention. Daß freilich Adorno an ihre Stelle „die objektive Wahrheit“ setzt, eröffnet eine neue Welt von Fragen. Es ist eine Denkfigur Adornos, die benannt werden kann als Zentralisierung der Wahrheit der Form, sofern sie mit der geschichtlichen Stunde in empathetischer Korrespondenz steht. Dieser „Wahrheitsgehalt“ grundiert in einer radikaler Opposition zu den Produkten der Kulturindustrie und dem Geschmack der Vielzuvielen - „schon ihre zahl ist frevel“ (Stefan George, von Adorno durchaus geschätzt). Mithin - so kann ohne Übertreibung und deskriptiv gesagt werden - ist dieser Begriff der Kunst elitär. Er muß es sein, verbietet es doch der gesellschaftliche „Verblendungszusammenhang“ (einer von Adornos Lieblingsbegriffen; er meint: ein mystisches Verhängnis, aus dem es keinen Ausweg gibt und geben kann), daß diese Vielzuvielen ihrer Lage innewerden. Was dann geschehen könnte, bleibt freilich offen. Einer der Gründe für das Zerwürfnis zwischen Adorno und den 68er Studenten. Der elitäre Kunstbegriff Adornos verbindet ihn, stärker als es ihm selbst lieb gewesen sein dürfte, mit der unter Künstlern und Intellektuellen weitverbreiteten aristokratischen Aversion gegen die Massen und ihren Geschmack; unabhängig von der marxistischen Ideologie, der die meisten von ihnen anhingen oder anzuhängen glaubten. Lukacs Kritik an Adorno hatte zumindest in diesem einen Punkt nicht unrecht („Grandhotel Abgrund“), ist aber im Zentrum natürlich indiskutabel. Adornos philosophischer Versuch, die avancierte Kunst als utopischen Vorschein einer besseren Existenz nicht nur ästhetisch zu legitimieren, sondern auch als das objektiv Wahre zu rechtfertigen gegenüber Kulturindustrie und stalinistischem Agitprop, vermag heute nicht mehr zu überzeugen. Der aus dieser insistenten Verbindung von Kunst und objektivem Wahrheitsgehalt entstehende kompromißlose Manichäismus (fortschrittlich - reaktionär, authentische Kunst - Kulturindustrie/Massengeschmack) wirkt heute verbohrt, pathetisch und ohne Gefühl für den flüchtigen Charme des Nicht-Radikalen, Nicht-Fortschrittlichen (in erster Linie in der Musik). Auch die oberlehrerhafte Herablassung, mit der Adorno den sogenannten Massen-Geschmack als Teil des universalen Verblendungszusammenhangs abkanzelt, als objektiv falsche Befriedigung subjektiv wahrer Bedürfnisse, erscheint heute nur noch als quasi-diktatorische Attitüde des Philosophen als Geschmacks-Richters. Auch der nachvollziehbare Schock angesichts der infantilen und infantilisierenden Kultur-Industrie der USA der 30er und 40er Jahre legitimiert nicht die Selbst-Inthronisation des europäischen (deutschen) Ästhetikers als arbiter artis. Der zweite Teil wendet sich Heideggers Hölderlins-Deutungen zu. Er läßt an ihnen, wie man zu sagen pflegt, kein gutes Haar. Gleichwohl sind die zentralen Kritikpunkte nicht unplausibel. Adorno moniert zentral Martin Heideggers Gleichgültigkeit gegenüber dem spezifisch Dichterischen der Hölderlinschen Lyrik. Zu rasch siedele er sie an in der Tradition der Gedankenlyrik Klopstocks und Schillers. Schließlich werde Hölderlins komplexe Beziehung zwischen Heimat und Fremde, Patriotismus und Exotismus allzu rasch hineingezwungen in Heideggers Konzeption von Ursprung und autochthoner Zugehörigkeit. Zudem reiße Heidegger Hölderlin aus dem Kontext des deutschen Idealismus, als der philosophischen Auseinandersetzung des Denkens mit der Epoche. Adornos eigene Interpretation folgt nun im dritten Teil. Man kann sie nicht auf eine These reduzieren. Einerseits bemüht er sich, die Literarität der Gedichte ernst zu nehmen, andererseits unterliegt auch er der Versuchung, sehr rasch abzuheben vom Wortlaut des Gedichts in die Sphäre gedanklicher Höhen. Nicht fundamental anders als Heidegger. Wie denn überhaupt die Unterschiede in beider Hölderlin-Verständnis so sehr groß gar nicht sind. Parataxis - der griechische Begriff, der dem Essay den Titel gibt - also das Prinzip der Aneinanderreihung von Hauptsätzen, im Gegensatz zur Hypotaxe, der Unterordnung von Sätzen. (Mein griechisches Wörterbuch sagt zu parataxis allerdings nur: Aufstellung, Schlachtordnung, Feldschlacht.) Parataxe ist charakteristisch für Hölderlins Spätwerk, weil es der formale Ausdruck der Rebellion gegen logische und begriffliche Hierarchien ist. Es ist ein antiklassizistisches Verfahren zur Negierung von Über- und Unter-Ordnungen. Interessant ist, daß Adorno die Herkunft dieses Stilprinzips nicht nur, und nicht primär, auf den griechischen Lyriker Pindar zurückführt, wie dies meist der Fall ist, sondern auch auf eine psychologische Eigenart des Autors Hölderlin selbst. Hölderlins Schicksal habe anfangs nicht unter dem Zeichen der Rebellion gestanden, sondern unter dem der verinnerlichten Abhängigkeit, in erster Linie der Familie gegenüber. Aus dieser Fügsamkeit heraus habe er die Ideale, die man ihn lehrte, gläubig internalisiert, und, schließlich zur Überzeugung gelangt, daß unsere Welt gänzlich anders ist als die Ideale, versucht, diesen Idealen bis zum existentiellen Konflikt mit der Empirie treu zu bleiben, bis zum Ende. „Die Sublimierung primärer Fügsamkeit aber zur Autonomie ist jene oberste Passivität, die ihr formales Korrelat in der Technik des Reihens fand. Die Instanz, der Hölderlin nun sich fügt, ist die Sprache.“ (S.475) Man kann das plausibel finden oder nicht - richtig dürfte sein, daß die parataktische Struktur des Spätwerks einer simplen logischen Hierarchisierung widerspricht. Man könnte auch sagen: einer Subordination unter heterogene Zwecke. Das enigmatische Spätwerk ist eben nicht in erster Linie Gefäß einer begrifflich chiffrierten und darum dechiffrierbaren Philosophie, einer gleichsam aus einem Gefäß zu befreienden Gedankenwelt im Sinne Heideggers, sondern die unmittelbare Erfahrung des Heterogenen, des logisch nicht Subsumierbaren. Denn ähnlich wie bei Nietzsche sind auch die späten Texte Hölderlins „Werke des Zusammenbruchs“ (Karl Schlechta), kühne Korrespondenzen, deren Radikalität eben nicht in philosophische(r) Sprache geglättet werden kann. Parataxis heißt dann auch: Niederschrift einer übermächtigen Realität in ihrer Gleichrangigkeit. An diesem Punkt des Essays tritt ein vertrautes Motiv auf die Bühne der Adornoschen Argumentation: die These von der Kunst als dem Einspruch wider die pragmatische Logik der modernen abendländischen Naturbeherrschung. Eine bemerkenswerte Parallele zu Heidegger. Hier wie dort wird die Kunst begriffen als Moment eines Zustandes jenseits aller lebensweltlichen Ordnungen - eine Neu-Ordnung der Dinge ohne Zwang und Telos. Es ist das, was bei Heidegger als das undefinierbare „Sein“ durch die Schriften geistert. Bei Adorno heißt das „das Nicht-Identische“. Und hier im Kontext Hölderlin: „Philosophie ist [... ] das Bewußtsein von Nichtidentität, das den Identitätszwang des Logos überflügelt“ (S.482). Ein zentraler Satz. Hölderlins späte Lyrik, so lese ich ihn, hat ihre Größe in der sprachlichen Realisation des Nicht-Identischen, dem unbeschreibbaren Kern der Kunst. Dieses Nicht-Identische ist die Essenz der Kunst angesichts der modernen funktionalen Welt-Beherrschung, angesichts des „Identitätszwanges“. Die Kunst verweigert sich dieser Logik. Ihr Logos - ihre Rede, ihr Sinn, ihr Weltverhältnis - siedelt in einer letztlich utopischen Sphäre, die nicht zu benennen, wohl aber durch eine („willensreine“ würde Schopenhauer sagen) Versenkung in die Wahrheit des Kunstwerkes zu erfahren ist. In seiner Ästhetischen Theorie, postum erschienen 1970, schreibt Adorno: „Kunstwerke sind vom Identitätszwang befreite Selbstgleichheit.“ (ÄT, S.190) Das bedeutet, daß die Kunst eine Form der bestimmten Negation darstellt, eine Negierung der Welt-Logik ist, ein bestimmter Akt der Hervorbringung einer neuen Wahrheit. Diese Wahrheit ist das Nicht-Identische der Kunst. Große Worte, könnte man sagen, große Sätze einer weitestgehend vergangenen Kunst-Gläubigkeit, Spätest-Romantik. Kunst als Absolutes ohne Transzendenz. Das Pathos des Unaussprechlichen angesichts der Schrecken der Geschichte. Daß Hölderlin einer Epoche zugehört, die an eine Versöhnung von Mensch und Natur, Mensch und Geschichte, von Individual- und Kollektiv-Schicksal geglaubt hat, scheint mir sowohl bei Heidegger wie bei Adorno nicht zureichend bedacht. Heideggers Idee einer Welt-Mitternacht, die es hoffend durchzustehen gilt, ist zwar kompatibel mit Hölderlins Zeit der Götterferne, aber der Dichter hat sich eine Realisation seiner messianischen Träume innerhalb seiner Zeit erwartet - eine unpolitische Spekulation fernab jeder Wirklichkeit. Adornos Hölderlin ist textnäher als der Heideggers, auch näher der (idealistischen) Philosophie der Zeit um 1800. Gleichwohl scheint mir die Deutung des Frankfurter Groß-Ordinarius ähnlich bedenklich wie die des Freiburger Groß-Ordinarius. Primär deswegen, weil beide, aber besonders Heidegger, nach einem Dichter Ausschau halten, der ihr jeweiliges Denken antizipiert, in großer Lyrik eingeschlossen und so tradierbar gemacht hat. Heideggers Hölderlin denkt nicht viel anders als Heidegger. Adornos Hölderlin denkt nicht viel anders als Adorno. Zwar moniert Adorno mit Recht, daß Heideggers Zugriff die Literarität der Texte Hölderlins gleichsam umgeht, um zu einem Kern vorzustoßen, den der Denker für das Zentrum hält. Aber auch Adornos Essay ist sehr bald in den Höhen philosophischer Spekulation. Merkwürdig zudem ist, daß er die Elegie Brot und Wein ignoriert. Denn gerade hier entwirft Hölderlin seine geschichtlich-anthropologische Utopie, die mir wesentlich dezidierter zu sein scheint und zudem konkreter als die von Adorno beschworene „Versöhnung“, die damit verglichen blaß, ja beliebig erscheint. Sowohl Heideggers wie Adornos Arbeiten zu Hölderlin sind, trotz aller an ihnen zu übenden Kritik, bedeutende Versuche einer Standortbestimmung seiner Lyrik. Indem sie sich auf das lyrische Spätwerk beschränken, können sie frühere Aspekte seines Oeuvres, also auch Veränderungen und Zuspitzungen, nicht in ihre Gedankengänge einbeziehen. So bleibt der Hölderlin beider statischer als er gewesen ist. Ihr größtes Verdienst liegt, denke ich, darin, seinen exzeptionellen Rang in der Geschichte der deutschen Dichtung erkannt und benannt zu haben. Neuere Arbeiten, etwa die Kommentare von Manfred Frank und Jochen Schmidt, haben eine Fülle von vordem übersehenen oder nicht angemessen bewerteten Nuancen und historischen Bezügen herausgearbeitet, aber auch sie profitieren von den bahnbrechenden Reflexionen Heideggers und Adornos. Joseph von Eichendorff Es mag überraschend erscheinen, daß Theodor W. Adorno, der Prophet der Avantgarde und des gebrochenen Verhältnisses zur Tradition, nicht nur Hölderlin, sondern auch dem Spätromantiker Joseph von Eichendorff (1788 – 1857) einen zutiefst affirmativen, ja beinahe verklärenden Essay (ursprünglich ein Vortrag für den WDR aus Anlaß des hundertsten Todestages Eichendorff im Jahr 1957) gewidmet hat. Dies ist freilich nicht wirklich verwunderlich. Nicht nur erweist sich die gesamte Kunst-Konzeption Adornos romantischen Vorstellungen verpflichtet; besonders seine Theorie der Musik als der Erlöserin vom Fluch des gesellschaftlichen Verblendungszusammenhangs verweist auf ästhetische Theorien der Romantik. In ihnen sind Musik und Lyrik eng verwandt. Lyrik verstanden als Ausdruck einer metaphysischen Heimatlosigkeit, einer Sehnsucht hin zum Unnennbaren, zum Nächtig-Dunklen, zu jenem geheimnisvollen Nicht-Identischen, von dem ich schon gesprochen habe. Bevor er seine Affinität zur Hochblüte der Spätromantik darlegt, fühlt sich Adorno gedrängt, kurz zu begründen, warum er sich mit Eichendorff auseinandersetzt. Denn die meisten Verehrer des Dichters sind, horribile dictu, „Kulturkonservative“ (S.70). Nun könnte man heute auch und gerade Adorno unter diesem Begriff subsumieren, aber das war am Ende der 50er Jahre so noch nicht erkennbar. Adorno stand für Avantgarde, Radikalität, „kritische Theorie“ (=Marxismus der feinen Leute). Von dem „Kulturkonservativismus“ seiner Zeit sich zu distanzieren, ist ihm ein „Anliegen“ (auch wenn er eigentlich das Wort als Teil des Jargons der Eigentlichkeit verabscheut). Denn Eichendorffs Lyrik ist von oberster Qualität - das ist die teils offen ausgesprochene, teils nur angedeutete Prämisse des Essays. Insofern spielt es keine Rolle, ob auch „Kulturkonservative“ zu den Verehrern Eichendorffs gehören. (Wirklich interessant ist an diesen Einleitungsgedanken nur die Angst, von der sogenannten falschen Seite Beifall zu bekommen. Schon die Metapher eines 'Beifalls von der falschen Seite' verrät ein Verhaftetsein in jenem dualistischen Denken, das charakteristisch ist für die gesamte erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, nicht nur für Adorno. Dies am Rande.) Der Versuch einer Rettung Eichendorffs aus den Händen derer mit dem falschen Bewußtsein (ausnahmsweise kann er Heidegger hier nicht meinen, denn der hat sich nie zu Eichendorff geäußert) muß die Scheinhaftigkeit jedweder Zuordnung seiner Gedichte zu Kategorien wie 'Ursprung', 'Zauber', 'Geborgenheit' oder 'Weltflucht' aufzeigen. Er muß die Relevanz der Gedichte auf andere Prinzipien und Erfahrungen gründen. Eichendorff ist ihm nicht „der Dichter der Heimat, sondern der des Heimwehs“ (S.73). Was bedeutet: Seine Gedichte sprechen nichts Unmittelbares aus („Heimat“), sondern sind Manifestationen einer Sehnsucht nach einer Welt vor oder jenseits unserer empirischen. Das ist zwar nicht gänzlich neu, aber immerhin rückt er damit Eichendorff in die Nähe der Frühromantik. Gleichwohl bleibt der Adlige politisch ein Konservativer. Aber einer, dessen Realitätssinn das Neue nicht apriorisch ablehnt, sondern die Notwendigkeit gesellschaftlicher Entwicklungen akzeptiert, sie also weder dämonisiert noch verklärt. Dem verschwistert, so Adornos Gedankengang, ist die spezifische Utopie Eichendorffs, eine umfassend erotische. Dies meint nicht sexuelles Glück in der Vereinigung, sondern ist die Sehnsucht nach dem Unendlichen im IrdischBegrenzten. Das Erotische wird so zur Allegorie des Glücks. Das Erotische erscheint als Liebe zur Welt und den Dingen, nicht nur als sinnlich-bejahende Erfahrung eines menschlichen Gegenüber. Die Affinität dieser Entgrenzung zum Strom der dichterischen Sprache, zur Transzendierung des Ich („Und ich mag mich nicht bewahren!“), sind evident. Das lyrische Ich in den Gedichten Eichendorffs ist ein seiner selbst vergessenes, lebenssüchtig und todesverfallen. Daß hier Adorno, versteckt hinter dem einfühlsamen Portait Eichendorffs und seiner Poesie, seine eigene persöhliche Utopie andeutend entfaltet, ist jedem deutlich, der andere literatur- und musikwissenschaftliche Texte von ihm kennt. Ich sagte ganz zu Beginn meiner Sätze über Adorno, daß die Erfahrung einer erfüllten, im besten Sinn behüteten Kindheit jene Zone der psychischen Unverwundbarkeit geschaffen haben dürfte, die ihn vor den schlimmsten Erschütterungen seines Selbstwertgefühls geschützt hat - und die, sublimiert und transportiert, in der Sphäre der Kunst, besonders der Musik, wiederkehrt. Eichendorffs in Kunst verwandeltes Heimweh, die Sehnsucht nach existentieller Nähe und Entgrenzung, scheint mir ein Analogon zu sein zu Adornos Idee von der Kunst als der vom Identitätszwang befreiten Sichselbstgleichheit (ÄT, S.190). Es ist eine gleichsam entkörperlichte Erotik, die das Ich vor der Zerstörung durch die Empirie bewahrt und ihm die Worte gibt, zu sagen, was es leidet. In Eichendorffs Verfahren erkennt Adorno sein eigenes Verhältnis zur Außenwelt wieder. Das eigentümlich Abstrakte der scheinbar so konkreten Lyrik steht in untergründiger Beziehung zur frühromantischen Identitätsphilosophie. In seinen Gedichten verleiht er den Dingen „die Kraft des Bedenkens“: Ihre Welt ist keine realistisch abgeschilderte, sondern eine symbolhaft-bedeutungsvolle. Zutiefst romantisch ist Eichendorff, weil in seiner Lyrik die Sprache keinen funktionalen Weltbezug herstellt, sondern Mensch und Ding beseelt und verzaubert. Dies ist eine Definition von Kunst: im Allgemeinen ein Besonderes und im Besonderen ein Allgemeines entstehen zu lassen. Eine Kunst, deren Autonomie sich von der Empirie getrennt hat und existiert als Ausdruck der perennierenden Suche nach dem Glück. So verstanden spricht Eichendorff von jenem Ursprung, der das Ziel allen romantischen Strebens ist, eine Rückkehr zu den paradiesischen Anfängen, die im Leben naturgemäß verloren gehen und nur in der Phantasie, in der Kunst rekonstruierbar sind. So endet Adornos Vortrag mit einer Interpretation von Robert Schumanns Lieder nach Gedichten Eichendorffs, op.39. Es ist eine Interpretation in zweierlei Bedeutungen: im deutenden Wort und als Vergegenwärtigung der musikalischen Notation. So findet zusammen, was in der romantischen Theorie ungeschieden war und nur schuldhaft im Prozeß der menschlichen Subjektwerdung getrennt wurde - Sprache und Musik, das Wort und die Bedeutung, Unmittelbarkeit und Reflexivität. So wird die Lyrik Eichendorffs zum Paradigma nicht einfach nur der Wort-Kunst, sondern der einzig vorstellbaren innerweltlichen Utopie: einer Glücks-Erfüllung ohne Schuld und Trauer. Ich versuche eine Zusammenfassung der Adornoschen Kunst-Theorien, anhand der schon erwähnten Texte, aber auch der Ästhetischen Theorie, 1970. Es geht dabei um ein Ineinander von transhistorischen Einsichten und zeitbedingten Frontstellungen. Adornos zentrales Theorem von der Autonomie der Kunst bedarf denn doch einer näheren Erläuterung. Entgegen dem ersten Anschein. Denn schon die romantische Genie-Ästhetik, kulminierend in der KunstPhilosophie Schopenhauers, hatte das Kunstwerk aus den jahrhundertealten normativen Vorschriften befreit und an die Logik der je eigenen Form gebunden. Die Regeln bilden sich nun im einzelnen Werk, nicht in der Folge tradierter Systeme und Autoritäten. Der dadurch entstehende Innovations-Druck (jedes Kunstwerk muß ein neues sein) spitzt sich dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts immens zu. Jede künstlerische Arbeit wird zu einer Gratwanderung zwischen Gelingen und Scheitern. Gleichzeitig wird dieses Autonomie-Postulat attackiert von den totalitären Polit- und Gedanken-Systemen. Ihr Ideal der Kunst ist gebunden an eine vorgängige Ideologie und an übergeordnete Prinzipien. Und schließlich an staatliche oder quasi-staatliche Macht-Institutionen. Zuwiderhandlungen werden sanktioniert, in nicht wenigen Fällen mit dem Tod. Was zwar für die Kraft der Kunst spricht, aber doch nicht in dem Sinne, den sich die Künstler wünschen. Adornos Insistenz auf der Autonomie der Kunst richtet sich also gegen politische Bevormundung durch Marxismus und Nationalsozialismus, aber auch gegen das reflexionslose Tradieren vertrauter Formen und Inhalte. Autonomie heißt bei ihm gleichfalls: Einsicht in den Stand der ästhetischen Entwicklung, Bejahung des Fortschritts und der Modernität. Über das Fragwürdige des Fortschritts-Begriffs habe ich bereits gesprochen. Das Autonomie-Postulat ist darüberhinaus zu begreifen als künstlerischer Einspruch gegen die prinzipielle Übermacht der gesellschaftlich-empirischen Faktizität. Die Nähe Adornos zu Heidegger in diesem Punkt ist besonders bemerkenswert. Heideggers Diagnose der Gegenwart als der Epoche der Götterferne und der Seinsvergessenheit siedelt in einem Purgatorium zwischen säkularisierter Sündenverfallenheit und weltimmanenter Hoffnung. Hoffnung auf eine, nur von außen kommende, Transzendierung dieser Verfallenheit an das Seiende. Bei Adorno klingt das natürlich anders, aber sein Sprechen vom Verblendungszusammenhang, dem Verschwinden des Individuums, der geschichtlich vermittelten Erfahrung der Apokalypse (Auschwitz) visiert in ähnlicher Weise eine Metaphysik des Verfalls und der schuldhaften Verfallenheit an die Empirie an. Das Ganze ist das Unwahre - so Adorno in Umkehrung Hegels. In dieser gnostischen Total-Verdammnis der gesellschaftlichen Faktizität, in dieser Metaphysik der Dunkelheit konvergieren Heidegger und Adorno. Und beiden ist die Kunst, im Gefolge Schopenhauers und Nietzsches, neben der Philosophie, der einzige Ort der Rettung. Ihre, der Kunst, Logik des Abstandes zur Realität der Welt, ihr Sein als Emanation des Nicht-Identischen gewährt die Erfahrung des Bruches mit der falschen Empirie. Somit bedeutet Autonomie der Kunst nicht nur Distanz zur Geschichte im allgemeinen und zur künstlerischen Vergangenheit im besonderen, sondern ist im emphatischen Sinn die Gewißheit einer Existenz, die in der Welt ist, aber nicht von dieser Welt. Große Worte, auch dies. Säkularisiert religiöse zudem. Aber vielleicht läßt sich Kunst nicht anders legitimieren, will man sie überhaupt legitimieren und nicht nur als ein Phänomen unter vielen anderen beschreiben. Es ist daher verständlich, daß Adorno durchgängig einer vulgären Soziologisierung der Kunst eine kategorische Absage erteilt. Alle die Fragen nach dem Standort der Kunst in der Gesellschaft sind an sich legitim, aber dem Wesen der Kunst nicht adäquat. Autonomie der Kunst meint nicht Autarkie, sondern die Freiheit von heterogenen Gesetzen. Mithin verfehlt das Wesen der Kunst, wer sie anderem zu- oder unterordnet. Gerade die Lyrik zeigt dies. Ihre Freiheit ist eine von der Gesellschaft; ihre Beziehung zur Gesellschaft ist das Resultat ihrer monadologischen Homologie. Das bedeutet: Im Kunstwerk wiederholt sich die Welt in ihrem Wesen und in ihren Formen, aber eben auf ihre Weise, in ihrer Logik und in ihrer Bildlichkeit. Also nicht in naturalistischer Mimesis (wie es auch die Lukacssche Widerspiegelungstheorie gefordert hatte als Kombination von Oberflächenrichtigkeit und ideologischer Gesinnung), sondern geleitet von ihrem künstlerischen Formgesetz. Eine so verstandene Kunst läßt sich nicht in diskursiver Sprache darstellen. Darum spricht Adorno an vielen Stellen seines Oeuvres vom „Rätselcharakter der Kunst“. Natürlich bedeutet das nicht, man könne gar nicht über Kunst reden. Aber ein Sprechen von der Kunst, also die Ästhetik, darf nicht vorgeben, das Kunstwerk de-chiffriert zu haben. Dann wäre es überflüssig. Das über alles Begreifen Hinausgehende entzieht sich dem begrifflichen Verstehen. Dieses Nicht-Identische der Kunst führt, um es jetzt mit Heidegger zu sagen, auf jene Lichtung des Seins, auf der wir in einer anderen Sphäre sind als sonst. Beider Ästhetik ist durchaus eine Feier der Kunst. Sie rückt damit nicht nur in eine privilegierte Erkenntnis-Position, sondern auch und in erster Linie in die Nähe der emphatischen Vorstellung Hölderlins vom „Fest“ als des Eingedenkens und der sinnlichen Erfahrung eines höheren Zustandes, der erinnert an die Epiphanie des Göttlichen. Adorno scheut zurück vor solchem oder ähnlichem Vokabular. Aber seine Konzeption einer Ästhetik der Negation, die negative Theologie, die sich dahinter unausgesprochen verbirgt, verweist, eben durch die Figur der Verneinung und des Schweigens, auf eine Position, in der die Kunst als Statthalterin des Wahren vorausdeutet auf eine gesellschaftliche Utopie dessen, was Adorno „das richtige Leben“ nennt und das er in der falschen Totalität des modernen Verblendungszusammenhangs nicht erkennen konnte. Ähnlich wie bei Schopenhauer und Nietzsche ist es die Musik, die als sprachlose Kunst besonders intensiv vom Wesen des Menschen kündet und von einer Sphäre jenseits dieser Welt. Vielleicht auch darum fällt Adorno überaus harte, von heutiger Position aus: ungerechte, Urteile über viele Komponisten, vor allem des 20. Jahrhunderts, über die sogenannte U-Musik und über alles, was er der Kulturindustrie zuschlagen zu müssen glaubte (Jazz, Beatles!). Eine Musik, die nicht den strengsten Ansprüchen zu genügen schien, hatte sozusagen kein Existenzrecht. Innerhalb der Literatur ist es die Lyrik, die den Kern der Kunst ausmacht oder ihm am nächsten kommt, weil sie am weitesten von der Empirie entfernt ist. Die Ferne zum Faktischen bedeutet freilich nicht, daß die Lyrik außerhalb aller Beziehungen zur Gesellschaft steht. Das Gesellschaftliche an ihr ist gerade das Pathos der Distanz zur Welt als des Ausdruck des Verblendungszusammenhangs. Dagegen entfaltet die Lyrik ihren Anspruch, Moment eines „Unentstellten“ (S.50) zu sein. Adorno nähert sich hier der Position Stefan Georges, dessen aristokratische Resistenz gegenüber allem Trivialen und Mehrheitsfähigen nicht sehr entfernt ist von Adornos Idee des „Authentischen“. Gerade weil Lyrik frei ist von Handlung (von der Mischform der Ballade abgesehen), ist sie in der Lage, dem Falschen dieser Welt eine andere Seinsform entgegenzuhalten. Der Bruch zwischen lyrischem Ich und Empirie wird von Adorno nicht beklagt, sondern verstanden als Signum einer Möglichkeit, aus dem falschen Leben auszubrechen und die Ahnung eines Anderen zu erfahren. Somit ist nicht Agitprop, der „sozialistische Realismus“, der wahre Protest gegen die schlechten Verhältnisse, sondern der insistente Wille zur Form und zur freien Aussprache des Ich. Lyrik ist also ein unwillkürlicher und geformter Indikator, ein Ausdruck gesellschaftlicher Zustände. (Man kann den Eindruck daher nicht abschütteln, daß ihm besagter Stefan George sein Leben lang näher gestanden hat als Bertolt Brecht.) Auch Adornos Ästhetik beruht auf einem Mythos der Sprache (Heidegger: „Sprache ist das Haus des Seins“). Er will zwar nicht zu den Ursprüngen zurück, wohl aber begreift er das Kunstwerk als eine von dem Schuldzusammenhang zwar berührte, aber nicht befleckte Sphäre der Sprache. Kunst kann sich davon nicht gänzlich befreien, ihn aber zum Bewußtsein bringen und Vorschein sein eines Besseren. Gerade die hermetischen Kunstwerke des 20. Jahrhunderts sind, vermöge ihres gesteigerten Rätselcharakters, Paradigmen für Kunst schlechthin. In ihrer Verstörung erblickte er nicht bloß ein sym-pathetisches Nach-Zittern der großen gesellschaftlich-politischen Katastrophen, sondern ein In-Erscheinung-Treten des Prozesses der Ent-Subjektivierung, den er als Signum der Gegenwart begriff, ein Zeichen, das die Apokalypse des 20. Jahrhunderts sowohl präfigurierte wie ihr elementar opponierte. Dieser Gedankengang steht auch im Zentrum seiner Überlegungen zu Samuel Becketts Endspiel, denen ich mich abschließend zuwende. Samuel Beckett „Versuch, das Endspiel zu verstehen“ Theodor W. Adornos Essay stammt aus dem Jahr 1961. Er gehört zu den ersten ernsthaften akademischen Auseinandersetzungen mit dem Werk Samuel Becketts. Stärken und - vor allem - Schwächen von Adornos literaturkritischem Verfahren treten hier deutlicher hervor als in den Texten über die romantischen Autoren. Beckett ist für Adorno einer der herausragenden Repräsentanten der „Moderne“, eine Ikone der „Avantgarde“. Fragwürdig daran ist nicht die qualitative Einordnung Becketts, wohl aber das terminologische Pathos von „Moderne“ und „Avantgarde“ (bekanntlich ein Terminus aus dem Militärischen). Warum Beckett so zentral ist für Adorno ergibt sich aus seiner Theorie der Kunst des 20. Jahrhunderts. Literatur ist für Adorno unverstellter Ausdruck einer tiefgreifenden Krise des bürgerlichen Subjekts, ja der „Liquidation des Subjekts“ (S.287), der „Endgeschichte des Subjekts“ (S.316). Kunst ist die Parodie der jeweils gängigen philosophischen Diskurse, hier des französischen Existentialismus a la Sartre. Sartres Hochschätzung Heideggers macht ihn schon allein deswegen hochgradig suspekt. Eine Parodie der Philosophie nicht in Begriffen, sondern in literarischen Konstellationen. Die Radikalität Becketts beweist sich durch seine unversöhnliche Negativität. Sie ist negative Theologie und negative Ontologie in einem. Becketts ständige Rekurse auf Schopenhauer sieht Adorno wohl als erster; dieser Bezug wird durchaus positiv gewertet. Das Endspiel, französisch Fin de Partie, englisch Endgame (1957) (nur im Englischen wird der Bezug zum Schachspiel deutlich) ist das zweite der Theaterstücke, mit denen Samuel Beckett weltberühmt wurde, nach Warten auf Godot (1952). Samuel Beckett wurde am 13. April 1906 als Sohn wohlhabender irischer Protestanten in Dublin (damals noch Teil Großbritanniens) geboren. Er besuchte einige berühmte Privatschulen und studierte von 1923 – 1927 am Trinity College Dublin, in erster Linie Literatur (romanische Sprachen) und Philosophie. Im November 1928 beginnt er eine zweijährige Tätigkeit als Lektor in Paris, an der berühmten Ecole Normale Superieure. 1930 beendet er seine akademische Tätigkeit und lebt von da an freier Schriftsteller in Paris, zunächst total erfolglos. Die Bücher, die jetzt erscheinen, naturgemäß zunächst in englischer Sprache, machen ihn zwar in Intellektuellen-Zirkeln von Paris, Dublin und London bekannt, aber davon kann er nicht leben (wohl aber vom Vermögen der Familie, wahrscheinlich bis in die fünfziger Jahre). Es werden veröffentliche ein Gedichtband namens Whoroscope, Paris 1930, zwei längere Esays über Dante ... Bruno, Vico ... Joyce, 1929, und Proust, 1931; und zwei Romane. Murphy, 1938, und Watt, geschrieben 1944, veröffentlicht erst 1953. Nebenbei arbeitet er als eine Art Sekretär von James Joyce, aber das ist nur sehr temporär und bringt finanziell nichts ein. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs kehrt er von Irland, wo er sich bei seiner Familie zufällig aufgehalten hatte, nach Paris zurück. „Frankreich im Krieg ist mir lieber als Irland im Frieden.“ Unter der deutschen Besatzung flieht er 1940 mit seiner Lebensgefährtin Suzanne Deschevaux-Dumesnil, einer Französin, die er erst am 25. März 1961 in England (wegen der minimalen bürokratischen Aufwände) förmlich heiratet, aus Paris in den unbesetzten Süden des Landes, in den Ort Roussillon in der Provence, Department Vaucluse, etwa 50 Kilometer östlich von Avignon, wo er bis zum Ende der deutschen Besatzung 1944 bleibt. Die Gründe für die überstürzte Flucht aus Paris und das Versteck im tiefen Süden sind erst in den 80er Jahren bekannt geworden. Als neutraler irischer Staatsbürger (was er bis zu seinem Lebensende blieb) und Nicht-Jude hatte er an sich wenig zu befürchten; die deutsche Besatzung von Paris war zudem relativ liberal - Sartre und Camus haben ihre ersten Bücher, nur mäßig behindert von der Zensur, 1942 – 1944 in Paris publiziert. Beckett mußte deshalb aus Paris fliehen, weil er für die Resistance und den britischen Geheimdienst gearbeitet hat, als Übersetzer und Kopf einer vornehmlich aus Franzosen bestehenden Zelle, die nach relativ kurzer Zeit aufflog - Beckett und seine Lebensgefährtin gelang, offenbar mit viel Glück, gerade noch die Flucht. Alle anderen Mitglieder der Zelle, die angeblich von einem katholischen Priester als Doppelagent verraten wurden, wurden verhaftet. 1945 kehrt er nach Paris zurück. Die Mutter stirbt 1950 in Irland; danach hält ihn nichts mehr in der Heimat, er richtet sich auf Dauer in Paris ein. Bei einem der zahlreichen Krankenbesuche bei seiner Mutter in Dublin erfährt er 1947 jene „Erleuchtung“, die in Krapp's Last Tape das Zentrum der Erinnerungen des alten Krapp bildet und worüber sich Beckett sonst ausgeschwiegen hat - eine mystische Erfahrung, die ihm den Weg gewiesen zu haben scheint als Künstler. In diesen Jahren 1947 – 1952 schreibt Beckett wie manisch, abwechselnd auf französisch und englisch, die Theaterstücke überwiegend französich, die Prosa überwiegend englisch. Es entstehen nicht nur die drei Romane Molloy, Malone Dies, The Unnamable, sondern auch En attendent Godot / Warten auf Godot, das nach langen vergeblichen Versuchen, ein Theater und einen Regisseur zu finden, endlich am 5. Januar 1953 in Paris uraufgeführt wird. Von da an wächst Becketts Ruhm kontinuierlich; 1957 erscheint Fin de partie, 1958 Krapp's Last Tape, 1961 Happy Days, 1966 Bing, 1970 Le Depeupleur und andere immer kürzer, komprimierter und rätselhafter werdende Texte. Beckett stirbt in Paris am 22. Dezember 1989. (Biographie von James Knowlson: Samuel Beckett, 1996; dt. Übersetzung Suhrkamp Verlag 2001.) Zu den persönlichen Beziehungen Adorno – Beckett kann ich nur das sagen, was bei Knowlson zu lesen ist (S.601f). Begegnet sind sie sich im Februar 1961 in Frankfurt a.M. bei einer Einladung des Suhrkamp-Chefs Siegfried Unseld. (Zu Adornos Widmung seines Endspiel-Essays „To S.B. In memory of Paris, Fall 1958“ kann ich nichts sagen. Eine solche Begegnung ist jedenfalls bei Knowlson nicht erwähnt.) Dort las Adorno Teile seines Endspiel-Essays vor. Am gleichen Tag waren Unseld, Adorno und Beckett zum Essen versammelt, und in kleinem Kreis entwickelte Adorno nochmals seine Namens-Theorie im Endspiel, also Hamm - Hamlet usw. Beckett soll geantwortet haben: „Tut mir leid, Professor, aber an Hamlet habe ich nie gedacht, als ich den Namen erfand.“ Adorno soll auf seiner Herleitung insistiert haben; Beckett war angeblich verschnupft. Nachdem er den ganzen Text gelesen hatte, später, soll er einem Bekannten gesagt haben: „Das ist der Fortschritt der Wissenschaft, daß die Professoren mit ihren Irrtümern weitermachen können!“ (S.601f) Nun, auch wenn der Eindruck entstehen könnte, daß ein Professor dem anderen kein Auge aushackt: Adorno hat natürlich insofern recht, als eine Herleitung des Namens einer fiktiven Figur nicht vom Wohlwollen oder gar der Zustimmung des Verfassers abhängt. Entweder es ist plausibel oder nicht; was der Autor dazu sagt, ist irrelevant. Zu Adornos Essay. Zu Beginn konstatiert er, zu Recht, daß der Dramentext starke, unübersehbare Beziehungen aufweist zum damals gerade modischen Pariser Existentialismus. Aber im Sinne einer Aufkündigung oder Parodie. Denn die Erkenntnis einer elementaren Sinnlosigkeit der Welt-Verhältnisse (Adorno vermeidet auffälligerweise den Terminus „Nihilismus“, um nicht in die Nähe Heideggers zu gelangen) fordert auch und gerade vom Kunstwerk die Absenz eines inhaltlich Positiven. Die Sinnlosigkeit ist das Resultat der Katastrophe, der die Figuren gerade entkommen sind - und der Autor (von der expliziten Gefährdung Becketts in der Resistance dürfte Adorno nichts gewußt haben). Sie stellt sich dar als momentaner Ruhepunkt zwischen Trümmerhaufen und einer finalen Atom-Katastrophe. Vielleicht spielt das Stück aber auch schon nach dem Atom-Krieg. Vor diesem Hintergrund vollzieht sich die schon erwähnte „Liquidation/Endgeschichte des Subjekts“ (S.287/316). Begriffe, deren metaphysischer und geschichtsphilosophischer Charakter einer näheren Betrachtung bedürfen. Sie sind nicht Teil einer empirischen Zustandsbeschreibung oder einer empirisch unterfütterten Theorie. Sie beziehen ihre Dignität aus einer metaphysischen Theorie des Verfalls, die der Marxschen Geschichts-Philosophie vom notwendigen Untergang des kapitalbesitzenden Bürgertums und der Heraufkunft der klassenlosen Gesellschaft zwar korreliert, mit ihr aber nicht identisch ist. Eher ist sie in ihrem Kern, der weder verifizierbar noch falsifizierbar, also metaphysisch ist, verwandt der DekadenzPhilosophie Nietzsches. Das „Subjekt“ erscheint als Figur des Verschwindens, betritt nur die Bühne der Gegenwart um sie sofort wieder zu verlassen, substanzlos und ziellos. Man könnte auch sagen: Die Subjekte sind Personifikationen des Nietzsche'schen Nihilismus, also keine Antwort mehr zu haben auf die große Frage nach dem Warum? und Wozu? von allem. Insofern sind die Figuren Becketts tatsächlich Momente einer fundamentalen DePersonifikation, sind Spuren eines metaphysischen Verschwindens. Ob Beckett dies intendiert hat, muß offen bleiben, ist auch letztlich unwichtig. Eher ist er ein zeitgenössischer Schüler Schopenhauers (was auch Adorno schließlich auffällt, freilich erst im Zusammenhang mit der Verneinung des Willens, S.315). Dessen Willens-Metaphysik tritt krass und gleichsam nackt hervor, in Reduktionen auf das Wesentliche. Insofern erfahren wir keine „Liquidation des Subjekts“, sondern seine Reduktion aufs Elementare. Daß Becketts Drama die Differenz von Hohem und Niedrigem nicht bloß einebnet, sondern negiert, macht einen Aspekt des Beklemmenden des Bühnengeschehens aus, „trübselige Einzelheiten“ (S.293). Ihre Dominanz protestiert nicht nur gegen Tragik und Pathos idealistischer Konstruktionen, sondern schafft einen neuen Raum bedeutungslos-bedeutender Dinge (also etwa das Leinentuch Hamms, die Mülltonnen, der Blick aus dem Fenster, die Geschichten, die im Nichts versanden etc.). Daß dazu auch ein sehr spezifischer, oft obszöner und körperbezogener Humor gehört („irisch“), ist unüberhörbar, wird aber leider von Adorno konsequent ignoriert. Daß Humor und Lachen parodiert werden, wie Adorno meint, scheint mir eine professorale Fehldeutung zu sein. Wo immer in einem literarischen Text Witz, Humor, Satire auftauchen, ist Adorno hörbar irritiert, ja unangenehm berührt. Das ist nicht seine Welt. Wohl aber die Beckett, den er auf diesem Feld gänzlich verfehlt. Prinzipiell ist diese Beckett-Interpretation, nicht anders als die Auslegungen Hölderlins und Eichendorffs, ein teils scharfsinniger, teils forcierter Versuch, das eigene Denken im Schreiben Becketts wiederzufinden. Es ist eine philosophische anstelle einer literaturwissenschaftlichen Deutung. Bemerkenswert ist, daß ihm der Text deshalb so oft entgleitet, weil er ihn nicht wirklich in Begriffen fassen kann - im Unterschied zu Eichendorffs Lyrik, die, als Sprache des Heimwehs und der erotischen Sehnsucht verstanden, sich dem Leser öffnet. Die Apercus zum Endspiel bleiben blaß und beliebig. Gerade hier, wo es um eine Legitimation der „Moderne“ zu tun ist, bewegt sich seine Sprache am Rande des Unverständlichen und nähert sich oft der unfreiwilligen SelbstParodie, dank weitestgehend auch dem akademischen Leser unbekannter, preziös-erlesen-grotesker Fremdwörter: Äquivokationen, Gedanken sans phrase, degout, nausea der Übersättigung, taedium des Geistes an sich selber, homo homini sapienti sat, vaguement, der Weltuntergang ist diskontiert, der messianische Myschkin, die Vereinfachung des Sozialprozesses relegiert sie zu dem faux frais, das ästhetische principium stilisationis, phonyness, und so weiter, und so weiter … Ach, wer da mitreisen dürfte durch die Begriffswüste des Philosophen ... Bei aller Kritik: Adornos Legitimation der Literatur der Klassischen Moderne, mit den zentralen Namen Franz Kafka, Thomas Mann, James Joyce, Marcel Proust und eben Samuel Beckett (die Namen Vladimir Nabokov und Jorge Luis Borges vermißt man), der Versuch, Literatur und Musik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht als Dekadenzphänomene oder Sackgassen oder Experimente ohne Beziehung zu unserer Lebenswelt abzuwerten, sondern sie zu lesen als notwendigen Ausdruck einer verstörten und komplexen Epoche, dies mag heute schon historisch anmuten, auch gelegentlich pathetisch und humorlos, undistanziert, intolerant und teleologisch. Aber es war dies doch eine Leistung sui generis, zu Beginn der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts. Das Endspiel erscheint als Summe von Chiffren, die, im einzelnen rätselhaft, doch im ganzen einen höheren Realismus ergeben. Auf dem Grund des einfachen Spiels liegt eine vorbildlose „Harmonie von Verzweiflung“ (S.310), deren theatralische Realisation von singulärer Richtigkeit und Schönheit ist. Auch die Kunst der Moderne kann ohne Kategorien wie „Schönheit“ und „Richtigkeit“ nicht beschrieben werden. Insofern ist auch diese „Avantgarde“, die Vorhut zur Erstürmung ästhetischen Neulands, Teil einer Tradition. Wir sehen dies heute deutlicher als vor 50 Jahren. Damals wurden literarische Schlachten geschlagen, Vorurteile bekämpft und dem Neuen eine Gasse gebahnt. Aggressive, ja martialische Metaphern. Man muß ihnen zugute halten, daß sie zusammengehen mit den gesellschaftlichen Revolutionen und den apokalyptischen Katastrophen von 1914 bis 1950 samt ihren Nachbeben, von denen das letzte, das symbolhafte Jahr 1968, das Ende dieser Periode bezeichnet. Diese ästhetischen Kämpfe und gesellschaftlichen Revolutionen zittern in Adornos Schriften zur Kunst noch nach. In Kunst und Kunst-Theorie geht es immer um Alles. Das kann aber nie adäquat ausgesprochen werden. So entsteht eine negative Ästhetik als Moment einer nur als negative Theologie zu bezeichnenden Denkbewegung. So wie der Gott der modernen Theologen nur im Nichts eines mystischen Abgrunds erfahren und umkreist werden kann, so, mutatis mutandis, die moderne Kunst. Ihre Epiphanie ist das einzig vorstellbare Erscheinen des Absoluten. Daher der immense Ernst der Sprache Heideggers und Adornos. In einer Welt der metaphysischen Verdüsterung und beispielloser existentieller Gefährdung erscheint die Kunst, erscheinen Musik, Literatur uns Malerei als jene Lichtung, auf der wir uns von der Macht und Übermacht des Seienden temporär befreien und zu jenem unerklärbaren Sein vorstoßen, von dem wir einmal ausgegangen sind und dessen Erfahrung des Ursprungs unser Ziel ist oder sein sollte. Kunst ist jene Epiphanie der Wahrheit, die im Rätsel des NichtIdentischen beschlossen liegt und sich im authentischen Werk offenbart. Jenseits des kontingenten Seienden, eben des Verblendungszusammenhangs, erfährt der Rezipient eine Wahrheit, die ihn aus der Empirie herausführt, ohne daß diese Erfahrung beliebig reproduziert werden könnte. Kunst bleibt ein Rätsel ohne Lösung, eine Seinsweise, deren Rätselcharakter zu einer Wahrheit führt, die nicht substituierbar ist. Das ist das Gemeinsame des ästhetischen Denkens von Schopenhauer und Nietzsche, von Heidegger und Adorno, über alle Unterschiede hinweg. So wird man annehmen können, daß sich in ihrer aller Kunst-Reflexion eine Wahrheit ausspricht, die es uns, den Nachgeborenen, ein wenig leichter macht, die Erfahrung des Kunst-Werkes in Begriffen und Bildern nachzuzeichnen, die nicht elementar hinter dem Erleben der Kunst zurückbleiben.