Academia.eduAcademia.edu

Der "aquatische Stier"

2017, Der "aquatische Stier". Eine mythische Synonymität zwischen Stier und Wasser und die Rolle des Wasserstieres im Schöpfungsgeschehen und im mythischen Weltbau

https://doi.org/10.3726/b10606

Eine mythische Synonymität zwischen Stier und Wasser und die Rolle des Wasserstieres im Schöpfungsgeschehen und im mythischen Weltbau

G ERALD U NTERBERGER Der „aquatische Stier“ Eine mythische Synonymität zwischen Stier und Wasser und die Rolle des Wasserstieres im Schöpfungsgeschehen und im mythischen Weltbau [Seite 31–59] in: S YMBOLON Gesellschaft für wissenschaftliche Symbolforschung e.V. Jahrbuch Band 20, Neue Folge Herausgegeben von HERMANN JUNG Frankfurt/Main 2017 Eingereichte Manuskriptfassung. Das Originalwerk kann unter dem folgenden Link aufgerufen werden: doi.org/10.3726/b10606. © Peter Lang Gmbh Internationaler Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 2017 Alle Rechte vorbehalten / All rights reserved ISBN (Print): 978-3-631-70554-4 E-ISBN: 978-3-631-70555-1 (E-PDF) E-ISBN: 978-3-631-70556-8 (EPUB) E-ISBN: 978-3-631-70557-5 (MOBI) Gerald Unterberger [-31-] 1. Die Gestalt des Wasserstieres in der deutschsprachigen Sagenwelt Nur wenige Kilometer von meinem Heimatort entfernt, in nördlicher Richtung jenseits des Pyhrn-Passes, befindet sich in der oberösterreichischen Gemeinde Spital am Pyhrn der Gleinkersee, dessen Entstehung in einer örtlichen Sage folgendermaßen beschrieben wird: Wo dieser kleine Alpensee heute liegt, waren einst nur herrliche Wiesen und Felder. Da traten auf einmal zwei riesige Prachtstiere von benachbarten Höfen gegeneinander zum Kampf an. Der eine Bulle tötete den anderen, woraufhin ein heftiger Streit zwischen den Bauern entbrannte. Dies endete damit, dass das ganze fruchtbare Weideland im Boden versank und von Wasser überflutet wurde, woraus der heutige See entstand. Im Gleinkersee aber lebt bis in unsre Tage der Stier in Gestalt eines Riesenfisches.1 Eine sehr ähnliche, ätiologische Sage handelt vom Plešné jezero (deutsch: Plöckensteiner See), einem kleinen Gletschersee im Böhmerwald in der tschechischen Gemeinde Nová Pec. Der im Gewässer lebende Fisch wird ‚einäugiger Stier‘ genannt, wobei die Einäugigkeit vermutlich eine Reminiszenz an die ‚zyklopische Gestalt‘ dieses Wasserwesens ist. Sagen von Stieren als Bewohner von Seen finden sich auch in der Sagenwelt Deutschlands häufig.2 Oft werden diese Wasserstiere als ‚wild, besonders brünstig, zügellos oder Unwesen treibend‘ beschrieben. Sie entsteigen von Zeit zu Zeit ihren Weihern, um mit anderen Stieren zu ringen und die im Umland weidenden Kühe zu decken. Manches Mal werden sie wundersam groß oder mit besonderer Färbung beschrieben. Nah der Stadt Scheunen in Niedersachsen soll es etwa ein Sumpfloch gegeben haben, das man ‚Stierloch‘ nannte. Zu gewissen Zeit stieg [-32-] daraus ein Stier empor und begattete die Kühe; zuvor kämpfte er mit dem herdenführenden Stier und ging jedes Mal als Sieger aus dem Gerangel hervor.3 Die sog. ‚Bullenkuhle‘, heute ein weitgehend vermoorter Kleinsee in der Nähe des Dorfes Bokel in der Lüneburger Heide, ist in der Sage als ‚Teich von unergründlicher Tiefe‘ geschildert, weshalb es auch kein Mensch je gewagt hätte, ihn zu vermessen. Er sei mit der Nordsee in geheimnisvoller Verbindung, was daran erkennbar sei, dass er mit der Ebbe und Flut steige. Wie der Name der morastigen Wassertiefe andeutet, soll darin ein von allen gefürchteter Stier leben. Er habe wunderliche Gestalt, und jedes Jahr, vornehmlich im Monat Mai, soll er aus den Untiefen entsteigen, um die Kühe in den Ställen des nah gelegenen Bokel zu befruchten. Die Kälber dieser Kühe zeichneten sich durch eine besondere Färbung, ungemeine Größe, Stärke und Wildheit aus, weshalb man sie auch schon vor dem Eintritt ins reife Alter schlachten müsse.4 Eine noch andere Sagenversion beschreibt, dass dort, wo heute die Bullenkuhle liegt, sich einst ein schöner Bauernhof befand, dessen Besitzer ein leidenschaftlicher Jäger war. Wochenlang war der Jägers1 Karl Haiding: Österreichs Sagenschatz, Wien 1965, S. 187 (Nr. 157); S. 30 (Nr. 12). Heinrich Bertsch: Weltanschauung, Volkssage und Volksbrauch, Dortmund 1910, S. 298–304, S. 310– 319. Bernhard Maier: „Beasts from the deep: The Water-Bull in Celtic, Germanic and Balto-Slavonic traditions”, in: Zeitschrift für celtische Philologie 51, Jg. 1999, S. 5–7. Hanns Bächtold-Stäubli (Hrsg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Berlin/New York 21987, Bd. 4, S. 482–484, Bd. 9, S. 665. 3 Hermann Harrys: Sagen, Märchen und Legenden Niedersachsens, Celle 1840, S. 79 (Nr. 47). 4 Adalbert Kuhn: Sagen, Gebräuche und Märchen aus Westfalen und einigen anderen, besonders den angrenzenden Gegenden Norddeutschlands. Erster Theil: Sagen, Leipzig 1859, S. 291 (Nr. 335 b). 2 Der „aquatische Stier“ mann schon hinter einem kapitalen Hirsch her, den er nicht zur Strecke bringen konnte. Da sagte er eines Tages zu seinem Hofgesinde und seiner Familie: „Wenn ick hüte keinen Hirsch scheite, schal min Hus un Hoff unnergahn!“ Als er nun abermals ohne Jagdbeute nach Hause gekommen war, erfüllte sich sein Fluch und der Hof samt Mensch und Tier versank im Erdboden, wo sich nun der Moorteich bildete. Allein der Deckbulle entging dem Unglück, der von nun an in Bokel herumgeisterte und eines Tages in der Bullenkuhle verschwand. Auch aus der Region nordwestlich von Hannover haben Adalbert Kuhn und Wilhelm Schwartz vom Muswillensee im Bissendorfer Moor eine Sage vom Wasserstier aufgenommen: [...] „der Muschwillensee, ein Waßerloch, etwa von der Größe eines Bauernhauses, aber von unergründlicher Tiefe [...] Ein Kuhhirt aus Wichendorf, deßen Heerde hier auf dem Moor ging, erhielt täglich sein Mittagessen von einem bunten Stier, der aus dem See heraufstieg [...] Dieser Stier mischte sich auch stets unter die Wichendorfer Kühe und belegte dieselben; als aber einmal eine Magd ihm aus Uebermuth mit dem Melkeimer auf den Hintern geschlagen, da hat er sich nicht wieder sehen laßen.“5 In dem 1669 erschienenen Barockroman Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch beschreibt der Autor Hans Jakob Christoph von Grimmelshausen den Mummelsee im nördlichen Schwarzwald. Seinem Helden Melchior Sternfels von Fuchshaim alias Simplicius wird von den Menschen dieser Gegend folgende Sage geschildert: [-33-] „Einer erzählte, dass auf ein Zeit, da etliche Hirten ihr Vieh bei dem See gehütet, ein brauner Stier herausgestiegen, welcher sich zu dem anderen Rindvieh gesellet, dem aber gleich ein kleines Männlein nachgefolgt, ihn wieder zurück in den See zu treiben, er hätte aber nicht parieren wollen, bis ihm das Männlein gewünscht hätte, es sollte ihn aller Menschen Leiden ankommen, wenn er nicht wieder zurückkehre! Auf welches Wort er und das Männlein sich wieder in den See begeben hätten.“6 Simplicius, der all die Sageleien um den Mummelsee vorerst für puren Plunder hält und nun das Gewässer selbst aufsucht, um seine Form und Tiefe zu vermessen, wird von einem heftigen Gewitter heimgesucht und die Steine, die er zur Auslotung in den See geworfen hat, werden von geheimnisvollen Wassergeistern wieder an die Oberfläche transportiert. Simplicius wird nun durch das Wasserreich der Sylphen in das ‚mittelste Centrum der Erden‘ zu einer Audienz mit dem König geführt. Auf der Reise erfährt er von seinem Geleiter, dass der Mummelsee von unergründlicher Tiefe sei und mit allen Gewässern der Erde in Verbindung stünde, auch mit dem ‚großen Oceanus‘. Die bisher vorgeführten Sagenversionen ähneln sich neben der zentralen Gestalt des Wasserstieres in verschiedenen Hinsichten: Meist wird der See, in dem der Stier weilt, als unergründlich tief – bis zum Erdmittelpunkt reichend – bzw. mit dem Meer in Verbindung beschrieben. Dort, wo die Sage auch einen ätiologischen Charakter trägt, wird die Entstehung dieses Gewässers 5 Adalbert Kuhn und Wilhelm Schwartz: Norddeutsche Sagen, Märchen und Gebräuche aus Mecklenburg, Pommern, der Mark, Sachsen, Thüringen, Braunschweig, Hannover, Oldenburg und Westfalen, Leipzig 1848, S. 255 (Nr. 288). 6 V. Buch, Kapitel 10. Die weiteren Schilderungen bis Kapitel 17. Gerald Unterberger meist mit einem Frevel oder einem Streit und daraus folgendem ‚lokalen Weltuntergang‘ in Zusammenhang gebracht. Die Gestalt bzw. der mythische Charakter des Stieres selbst ist vorerst nur vage zu umreißen: Zumeist ist er wild und kämpferisch, zuweilen aber auch segensreich, wie ihn die Sage vom Muswillensee beschreibt. Er zeichnet sich durch seine Brunst und besondere Paarungsbereitschaft aus, wie es in den meisten der bisher vorgebrachten Sagen ausdrücklich dargestellt wird. 2. Inselkeltische Überlieferungen Die Figur des Wasserstieres ist auch aus dem inselkeltischen Bereich mehrfach überliefert und war im irischen und schottischen Volksglauben einst wohl stark verhaftet. Im irisch- und schottisch-Gälischen wurde er Tarbh uisge genannt, [-34-] im Manx, der ehemaligen Sprache der Insel Man, Tarroo ushtey – beides heißt ‚Wasserstier‘.7 Der Tarroo ushtey wird in den gälischen Sagen oft klein an Gestalt beschrieben, mit kurzen Beinen, einem langen Körper und mit mausgrauem, glattem Otterfell, womit sein ‚aquatischer Charakter‘ also deutlich zum Ausdruck kommt. Seine Ohren sind gestutzt und er hat kurze Hörner. Er ist sehr kräftig, angriffslustig und kampfbereit. Zu bestimmten Anlässen steigt er aus seinem See oder aus dem Meer, frisst das frische Korn und mischt sich gerne unter die Herden, um die Kühe zu bespringen. Ein Mensch kann nur dann den Elbstier sehen, wenn er durch ein von Elfen gebohrtes Astloch oder durch eine von einem Elfenschuss durchbohrte Tierhaut blickt. Dies bezahlt er jedoch teuer, denn wenn er den geheimnisvollen Stier tatsächlich gesehen hat, bleibt er auf diesem Auge für immer blind. Aber auch in Namen von Gewässern ist das ‚Rind‘-Etymon enthalten, was auf eine altertümliche Verbindung zwischen dem nassen Element und dem bovinen Geschlecht schließen lässt. Der Altgermanist und Religionshistoriker Jan de Vries hat dazu geschrieben: „Flüsse wurden ebenfalls entsprechend benannt [d. h. nach dem ‚Stier‘] , z. B. in Schottland der Fluß Tarf. Das Wort bó, ‚Kuh‘, bildet ebenfalls ein Element irischer Flußnamen; die Boyne (aus *bó-vinda) bedeutet eigentlich ‚die weiße Kuh‘.“8 Der Keltologe Heinrich Wagner hat dazu noch weitere Beispiele angeführt: So leitet sich der Name der gallischen Heils-, Mutter- und Wassergöttin Damona vom altirischen Wort dam für ‚Ochse/Kuh‘ ab. Der Fluss Bandon im Südwesten Irlands hieß ursprünglich Loídge (aus: *Loigodēvā) und bedeutete ‚Kalbsgöttin‘; dazu stellt sich Loch Loíg, der ‚Kalbssee‘ als alte Bezeichnung für die Bucht von Belfast. Die inschriftlich bezeugte, keltische Göttin Verbeia hat vermutlich dem Fluss Wharfe in Yorkshire ihren Namen gegeben und ist auf altirisch ferb zurückzuführen: ‚Kuh‘.9 7 Verschiedene Sagenversionen (mit Quellangaben) in: Maier, Beasts, S. 6/7. Jan de Vries: Keltische Religion, Stuttgart 1961, S. 176. Eine weiße Kuh als Bachgeist erscheint auch in einer Sage aus Uttenweiler in Baden-Württemberg (Bertsch, Weltanschauung, S. 299). 9 Heinrich Wagner: „Origins of Pagan Irish Religion“, in: Zeitschrift für celtische Philologie 38, Jg. 1981, S. 5/6. 8 Der „aquatische Stier“ Bereits die Brüder Grimm haben im Jahr 1826 mit ihrer Übersetzung der Fairy legends and traditions of the South of Ireland von Thomas Crofton Croker Sagenversionen dieses ‚Elf- oder Elbstieres‘ aufgezeichnet bzw. ins Deutsche übersetzt und sowohl auf Übereinstimmungen mit der Mummelsee-Sage im Simplicissimus hingewiesen, als auch auf eine altnordische Parallele in der isländischen Eyrbyggja [-35-] Saga aus dem 13. Jhdt. aufmerksam gemacht10: Dort ist im 63. Kapitel ebenso von einem mysteriösen Stier die Rede ist, der im Meer lebt und von Zeit zu Zeit am Strand erscheint. Er paart sich mit einer Kuh, die im Winter trächtig wird und ein derart großes Stierkalb gebiert, dass sie beim Kalben umkommt. Das Stierkalb wird Glæsir getauft, der ‚Glänzende‘, und wächst zu einem Riesen heran. Als eines Tages eine blinde Hellseherin das gigantische Brüllen des Stieres vernimmt, rät sie, das Tier sofort zu töten, weil es nicht von dieser Welt sei sondern zu den Elben zähle. Weil der Stier aber so außergewöhnlich und so schön ist, will ihn der Bauer nicht schlachten. Im Gegenzug durchbohrt der Riesenstier seinen Herrn nach vier Jahren mit den Hörnern. Nach dem Geisterstier ist der Sumpf Glæsiskelda benannt: Ein für Mensch und Tier gefährlicher Ort, wohin der Stier nach seinem irdenen Verweilen entschwunden ist. Ganz ähnlich wie in der Eyrbyggja Saga wird in einer irischen Sagenversion eine Kuh von diesem Riesenstier gedeckt und wirft danach ein Stierkalb, das seinem Vater in Charakter und Gestalt gleicht. Als der Bauer die Kuh eines Tages schlachten wollte, brachen Mutter und Kalb aus, um über den Fluss zu jener Insel zu schwimmen, wo sie vom Elbstier befruchtet wurde. Seit jener Zeit waren sie nie wieder gesehen. Der Reiseschriftsteller Martin Martin hat im 17. Jhdt. eine Sage von den Einwohnern der Hebriden aufgezeichnet, der zufolge wilde Bullen, die aus dem Meer oder aus einem See entsteigen, sich mit Kühen paaren, die dann Kälber werfen, [...] „that have a slit in the top of their ears; and these the natives fancy to be the issue of a wild bull that comes from the sea or fresh lakes; and this calf is by them called corky-fyre”. 11 Bereits in der lateinischen Vita des irischen Heiligen Máedóc (13. Jhdt.) wird von einem wundersamen, gottgesandten Meerstier erzählt, der mit heftigem Gebrüll dreimal des Morgens zum Pflügen aus dem Meer kommt und abends wieder in sein Wasserreich zurückkehrt.12 Möglicherweise ist das Erzählmotiv vom ‚pflügenden Wasserstier‘ durch apokryphes Gedankengut in die Vita des heiligen Máedóc eingegangen. Tatsächlich findet sich nämlich ein womöglich artverwandtes Motiv in der Interrogatio Johannis13, einer apokryphen Schrift bogomilischer Herkunft, die der katharische [-36-] Bischof Nazarius im Jahr 1190 aus Bulgarien nach Südfrankreich gebracht hat. Katharer und Albigenser standen mit der Bogomilen-Bewegung Bulgariens in 10 Brüder Grimm: Irische Elfenmärchen (übersetzt), Leipzig 1826, S. XLVI, CXXI; S. 231 (Nr. 25). Martin Martin: A Description of the Western Islands of Scotland. Hrsg. Donald J. Macleod, Edinburgh 1994, S. 209. 12 Charles Plummer: Vitae Sanctorum Hiberniae, Bd. 2., Oxford 1910, S. 152/153. 13 Auch unter den Titeln Cena Secreta ‚Das geheime Abendmahl‘ oder Liber S. Joannis apocryphus ‚Das Buch des Evangelisten Johannes‘ bekannt. Edina Bozóky: Le livre secret des cathares. Interrogatio Iohannis. Apocryphe d’origine bogomile, Paris 1980, S. 46. In englischer Übersetzung: Walter Wakefield und Austin Evans: Heresies of the High Middle Ages, New York 1991, S. 458. Siehe auch in: Leopold Kretzenbacher: „Ein Fisch trägt die Erde. Von Erdbebenmythen der Völker“, in: Neue Chronik zur Geschichte und Volkskunde der innerösterreichischen Alpenländer, Nr. 20, Beilage zur Nr. 72 der SüdostTagespost, 28. März 1954, S. 2. 11 Gerald Unterberger Verbindung, und ihre häretischen Lehren verbreiteten sich im Laufe des 12. Jhdts. sehr rasch im gesamten mitteleuropäischen Raum bis England und Skandinavien. Jesus erzählt darin dem fragenden Johannes, dass Satan, nachdem ihm die Tore zum Meer-Reich durch einen Engel geöffnet wurden, zwei wie Pflugochsen aneinander gespannte Fische auf den Wassern liegend gesehen habe, die auf Gebot Gottes die Erde tragen müssen. Das in der Interrogatio vorgegebene, vertraute Gespräch des Apostels Johannes mit Jesus während des letzten Abendmahls enthält einerseits gnostisches Gedankengut, andererseits sind auch Mythenmotive des bulgarisch-slawischen Volksglaubens eingebaut – so womöglich auch jener Erzählstoff von den (pflügenden) Meerstieren (bzw. -‚fischen‘), denen hier erstmals auch eine mythisch-kosmologische Funktion zukommt: sind sie doch angehalten, die Erde zu tragen. Wir werden noch sehen, dass dieses Mythenmotiv im Volksglauben der balkan-slawischen Völker sehr verbreitet war. Zuvor sei aber noch auf den vorerst ältesten literarischen Stoff verwiesen, in dem ein stiergestaltiges Meerwesen auftritt: Die sog. Fredegar-Chronik (etwa Mitte des 7. Jhdts. entstanden) beinhaltet die Herkunftssage des Merowinger-Geschlechts und dessen gleichsam göttliche Legitimierung. Die Chronik berichtet vom fränkischen König Chlodio und seiner Frau. Als diese in der Nordsee baden ging, wurde sie von einem stiergestaltigen oder minotaurischen Seeungeheuer erfasst und geschwängert. Chlodios Frau gebar daraufhin einen Sohn: Merowech, den Ahnherrn und Namensgeber der Merowinger.14 Unter Einbeziehung der neuen Belege bestätigt sich bei einer zweiten Zwischenbilanz hinsichtlich des Charakters des Wasserstieres im Wesentlichen das, was bereits zuvor von ihm bekannt war: Einerseits erscheint er aggressiv, kämpferisch und von Riesengestalt, wie ihn die Eyrbyggja Saga und die irischen Sagenversionen geschildert haben, andererseits freundlich und segensreich, wie ihn die Vita des heiligen Máedóc als Pflugstier beschreibt und ihn schon die Sage vom Muswillensee als Bringer von Nahrung geschildert hat. Auch in den keltischen Sagen ist seine Brünstigkeit und Paarungsbereitschaft ein Charakteristikum, was in der Fredegar-Chronik mit Bezug auf die Königsgattin zutrifft. In einem ersten Ansatz kommt dieser Gestalt auch eine kosmologische Funktion zu, wenn die Interrogatio [-37-] Johannis die an den Pflug geschirrten Ochsen bzw. Fische als Welt- und Erdträger beschreibt. 3. Mythen vom Wasserstier in den Traditionen südslawischer, osteuropäischer, sibirischer und vorderasiatischer Ethnien In den Überlieferungen vieler Völker auf der Balkan-Halbinsel ist die Gestalt des Wasserstieres prominent vertreten. In seiner Geschichte der Serben stellt Konstantin Jireček einleitend fest: „Eine Mischung von Sagen über ausgestorbene Tiere, von Märchen über unheimliche, in stehenden Gewässern hausende Geschöpfe und von physikalischen Beobachtungen über das Geräusch, welches periodisch sich füllende und wieder entleerende Seen verursachen, ist die von Cvijic untersuchte Sage von dem Wasserstier (vodeni Vgl. Karl Hauck: „Lebensnormen und Kultmythen in germanischen Stammes- und Herrschergenealogien“, in: Saeculum 6, Jg. 1955, S. 186–223 sowie Karl Simrock: Handbuch der deutschen Mythologie mit Einschub der nordischen, Bonn 1869, S. 401. 14 Der „aquatische Stier“ bik), überall verbreitet bei Seen und Sümpfen in Bulgarien, Serbien, Montenegro, Bosnien und Dalmatien. Es soll ein schwarzes, drachenartiges Tier sein, das nachts am Ufer der Gewässer weidet, die Rinder der Ortseinwohner verfolgt und durch sein Brüllen die Umgebung erschreckt.“15 Sima Trojanović hat zu Beginn des 20. Jhdts. folgende Notiz hinterlassen: „Am tage des heiligen Georg und Elias geht das volk in Altserbien zum see Schare und Koraba und betet dort um regen. An dem brauch beteiligen sich ebenso christen wie muselmanen; dabei schlachten sie einen widder, dessen blut sie in den see lassen. Das volk glaubt nämlich, daß jeder große see seinen herren (stopanik) hat, in gestalt eines stieres.“16 Ähnlich zu den gälischen und deutschsprachigen Sagenversionen wird der Wasserstier auch hier durch seine Wildheit und im Speziellen durch sein Brüllen charakterisiert. Zudem scheint er auch für den Regen bzw. die Fruchtbarkeit verantwortlich zu sein, weswegen man ihm in den See opfert, wozu sich ein aus dem Jahr 1599 aufgezeichneter Brauch aus dem Südosten Lettlands fügt, demzufolge die dortigen Menschen alljährlich einen (lebenden) Stier opferten, indem sie ihn von einer steilen Böschung in einen Fluss stießen, wodurch sie den stiergestaltigen Wassergott um gute Ernte anflehten. In den Sagenversionen vieler Ethnien des Balkans tritt nun aber ein neuer Aspekt hinzu, der schon in der bogomilischen Interrogatio angeklungen ist; ein archaisch anmutender, der diesem untergründigen Stier eine entscheidende Rolle in der mythischen Kosmologie zuschreibt: trägt dieser ‚Weltochse‘ doch die Erde oder sogar das ganze Universum. In Bosnien kannten die Bauern bei andauerndem und starkem Regen die Redensart, dass ‚alles bis zum Ochsen durchnässt sei‘. Dieser Spruch rührt von der Vorstellung her, dass sich unter der Erde ein riesiger Stier befindet, auf dem die [-38-] Erde ruht. Bei Dauerregen bekommt selbst dieser Weltochse von der Nässe des Himmels ab. Nach altem serbischen Volksglauben trägt ein Stier die Erde (daneben gab es die Vorstellung vom riesigen Fisch, auf dessen Rücken die Erde liegt). Neben dem einen Stier als Erdträger kommen auch noch zwei oder vier Ochsen vor, die durch ihre Bewegungen Erdbeben verursachen. Sie stehen an den Kardinalpunkten im kosmischen Karussell, stützen die Erdkalotte und tragen bezeichnenderweise jene kosmischen Farben, die den Himmelsrichtungen zugewiesen sind. Auch in der Herzegowina, in Dalmatien und Montenegro war weithin der Glaube verbreitet, dass ein Ochse die Welt trage.17 In gleichsam ‚mythisch-logischer‘ Konsequenz ist dieser in den feuchten Urtiefen des Universums stehende Stier nun auch in einen eschatologischen Prozess eingebaut: Er ist zwar einerseits für den Halt, die Stabilität und Sicherheit der Welt zuständig – Konstantin Jireček: Geschichte der Serben, Bd. 1, Amsterdam 1911, S. 16. In: Gerhard Gesemann: Regenzauber in Deutschland, Braunschweig 1913, S. 12. 17 Zu diesen Belegen (mit Quellangaben) siehe in: Milovan Gavazzi: „Der Weltochs in Südosteuropa“, in: Südosteuropäische Arbeiten 71, Dona Ethnologica, Beiträge zur vergleichenden Volkskunde, Jg. 1973, S. 47-52. 15 16 Gerald Unterberger trägt er diese doch auf seinem Kopf oder Rücken –, zeichnet aber andrerseits gerade deshalb auch für ihren Untergang verantwortlich. Nach herzegowinischem Glauben entstehen Erdbeben, wenn sich ein Haar dieses Riesenstieres bewegt; schüttelt er aber einmal sein Ohr, dann folgt das Jüngste Gericht und alles wird vernichtet werden. Ähnlich heißt es in einem albanischen Märchen, dass Gott das Weltall schuf und als großes Knäuel einem wilden Stier im Urgrund auf den Rücken legte. Alle sechs Jahre aber kommt eine Gelse und kriecht dem Stier ins Ohr. Dieser versucht nun, die Stechmücke von sich wegzujagen, indem er sein Bein bis zum Loch des Ohres hebt. Dabei aber erzittert das Universum in seinen Grundfesten, was die Menschen in Form der Erdbeben wahrnehmen.18 Im bulgarischen Volksglauben wird die Herkunft der Beben ähnlich erklärt: Es ist da einmal die Rede, dass ein riesiger Ochse im Urgewässer die Erde von einem Horn auf sein anderes überwirft, wobei die Erde erbebt und zittert. Ein anderes Mal heißt es, dass die Erde auf zwei Säulen und die Säulen auf zwei Stieren stehen. Schüttelt eines der beiden Tiere seinen Kopf, so erzittert die Erde. Man glaubte, diese Stiere würden ewig leben, weil sie jedes Jahr ihre Haut wechseln.19 Dieselben Vorstellungen waren einst auch bei verschiedenen osteuropäischen und sibirischen Völkern verbreitet. So dachten sich die finno-ugrischen Udmurten (Wotjaken) einen großen, schwarzen Stier, der die Erde hindert, in die Tiefe zu [-39-] fallen. Bewegt sich der Stier, so bebt die Erde. Nach noch anderer Überlieferung heißt es, dass dieser erdtragende Stier selbst auf einem Fisch steht. Die wolga-finnischen Mari (Tscheremissen) kannten einen Stier, der auf dem Rücken eines riesigen Meerkrebses steht und die Erde auf seinem Rücken trägt. Nach einer etwas anderen Version wird von einem Stier berichtet, dessen eines Horn wegen der Last der Erde schon gebrochen ist. Er hat sie auf sein anderes verlagert, und wenn auch dieses Horn knickt, dann wird die Erde untergehen. Auch die Überlieferungen der Krim-Tataren kennen den Stier, der auf einem Riesenfisch im Weltozean steht. Er trägt die Erde, und wenn er müde wird und sie von einem Horn auf das andere gibt, so entstehen Erdbeben. Irgendwann aber wird dieser Weltstier sterben; dann ist das Ende der Welt da und die Erde wird im Nichts versinken.20 Im Altaj dachten sich die turksprachigen Telёuten die Erde in Form eines Tellers, das vom kuppelförmigen Himmelsgewölbe bedeckt wird. Der Horizont ist der Erde Rand, unter der die vier blauen Stiere nach den Hauptrichtungen orientiert stehen und sie auf ihrem Rücken tragen. Regen sich die Füße der Tiere, so erfolgt ein Erdbeben. Im Glauben der Qirgizen stand ein dunkelgrauer Stier auf einem Stein im Weltmeer. Er trägt die Erde auf seinen Hörnern. Dieser ‚Graue Ochse‘ ist auch aus der Mongolei überliefert: Es heißt, an der Oberfläche eines Ozeans befindet sich ein Nebelmeer, auf dem sich ein Berg erhebt. Auf 18 Maximilian Lambertz: Albanische Märchen, Schriften der Balkankommission XII, Wien 1922, S. 162, Nr. 33. 19 Adolf Strauss: Die Bulgaren. Ethnographische Studien, Leipzig 1898, S. 36. 20 Uno Harva: Die religiösen Vorstellungen der altaischen Völker, Helsinki 1938, S. 30/31. Der „aquatische Stier“ diesem Berg wiederum steht der Graue Ochse mit seinen Vieren und trägt auf seinen Hörnern die Welt, auf der wir Menschen leben.21 Im Hannāme, einer im 17. Jhdt. vom usbekischen Autor Imāmī verfassten, legendären und mit mythischem Erzählgut durchsetzten Geschichte des türkischen Volkes, wird von einem riesenhaften Stier berichtet, der auf seinen Hörnern die Erdscheibe trägt. Es ist der im türkischen Mythos berühmte ‚Gelbe Stier‘; seine Hörner sind aus Rubin und er hat 70.000 Füße, wobei der Abstand zwischen je zwei Füßen Jahrtausende betragen soll. Der Stier steht auf einem Fisch, der auf einer Wasseroberfläche ruht.22 Im Hannāme wird weiters der Weltberg Karn ül-Bakar erwähnt, was in der Übersetzung ‚Stierhorn‘ bedeutet und sich vermutlich auf ein Horn des Gelben Weltstieres als Trägervertikale für die Erdscheibe bezieht (man [-40-] vergleiche dazu den bulgarischen Mythos von den beiden Stieren mit den Säulen der Erde auf ihrem Kopf). Der Mythos vom Riesenstier, der im Meer bzw. auf einem Fisch im Meer steht und dabei die Welt bzw. Erde trägt, im iranisch-sprachigen Bereich von Tadschikistan bis Kurdistan weit verbreitet und fand seinen mehrfachen Niederschlag auch in den heiligen Texten der Yeziden23. Auch die armenische Dichtung kennt den Urstier, auf dessen Hörner die Welt gebaut ist und der die Erdbeben verursacht, wenn er seinen Kopf schüttelt. Parallel dazu erscheint in der armenischen Mythologie die Gestalt des Wasserstieres sehr ähnlich zu den germanischen und inselkeltischen Überlieferungen, wonach ein wilder, dem Meer oder einem See entstiegener Stier sich gewaltvoll an die Herden macht und sich mit den Kühen paart, um sodann mit seiner Nachkommenschaft wieder im Wasser zu verschwinden. Die Menschen glaubten, das Brüllen dieses monströsen Seebullen allweil in ihren Dörfern hören zu können.24 Diese Überlieferungen stehen offensichtlich mit kosmologischen Vorstellungen in mehr oder weniger direktem Zusammenhang, wie sie auch die arabische Tradition kennt: Schehrezâd erzählt in der 496. Nacht von Sultan Bulûkija, der, inspiriert von Sehnsucht nach seinem Gott, sein irdisch-profanes Leben aufgibt und eine prophetische Reise in die Anderwelten beginnt. Dabei werden ihm die Grundmanifeste des Universums vorgeführt. Ein Engel erzählt ihm, dass die Welt aus sieben Schichten besteht und dass sie von einem von Allah eigens dafür geschaffenen Cherub auf dessen Nacken getragen wird. Dieser wiederum steht auf einem Berg, und diesen Berg trägt ein riesenhafter Stier – allein der Kopf des Tieres ist ‚drei Tagreisen lang‘. Der Stier seinerseits steht auf einem Riesenfisch, der sich auf den Fluten des Urmeeres befindet.25 Die Kosmologie vom untergründigen Stierwesen, das die Erde oder das ganze Universum trägt, ist auch in der jüdischen Mythologie vorhanden: Rahab ist der ‚Fürst des Meeres und der Fins- Grigori Potanin: „Folk-Lore in Mongolia”, in: Folk-Lore Journal, vol. III/1, Jg. 1885, S. 320/321. Pertev Boratav: Die türkische Mythologie. In: Wörterbuch der Mythologie. Götter und Mythen in Zentralasien und Nordeurasien, Bd. 7.1. Hrsg. Schmalzried und Haussig. Stuttgart 1999, S. 339, S. 360. 23 Philip Kreyenbroek und Khalil Rashow: God and Sheik Adi are perfekt. Sacred Poems and religious Narratives from the Yezidi Tradition, Wiesbaden 2005, S. 105. 24 Mardiros Ananikian: Armenian Mythology, New York 1964, S. 92, S. 396 (Anm. 62). 25 Enno Littmann: Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten. Nach dem arabischen Urtext übertragen, Frankfurt 21976, Bd. 3, S. 802–804. 21 22 Gerald Unterberger ternis‘. Er hütet die Wasser, muss die Welt tragen, und wie es weiter heißt, gleicht er einem Stier.26 In diesem Zusammenhang ist auf einen heiligen Ausstattungs-Gegenstand des Salomon-Tempels hinzuweisen, so wie er im Alten Testament beschrieben ist: Im 1. Buch der Könige 7,23–26 und im 2. Buch der Chronik 4,2–6 wird geschildert, dass König Salomon beim Bau seines Tempels einen phönikischen Bronzeschmied [-41-] aus Tyros beauftragte, das sog. Bronzene Meer für die rituellen Waschungen der Priester zu fertigen. Dabei soll es sich um ein kreisrundes Metallbecken mit zehn Ellen (über fünf Meter) im Durchmesser und fünf Ellen Höhe gehandelt haben. Es heißt, der untere Rand des Beckens wäre gesäumt von Rinder-Bildern gewesen und das ganze Meer getragen von zwölf mächtigen Bronze-Stieren: je drei in jeder Weltrichtung (vgl. die an den vier Kardinalpunkten stehenden Weltträger-Stiere der Serben und Telёuten) – nach 1 Könige 7,25: „Das Meer stand auf zwölf Rindern. Von ihnen schauten drei nach Norden, drei nach Westen, drei nach Süden und drei nach Osten. Das Meer ruhte oben auf den Rindern [...]“27 Dieses Bronzene Meer des alten Bundes findet seine literarische Fortsetzung in der Offenbarung des Johannes in Form des ‚gläsernen oder kristallenen Meeres‘ (4,6–7; 15,2). Es ist das Firmament des Himmels mit dem Gottesthron. Ezechiel umschreibt es in seinem Prophetenbuch (1) als ‚gehämmerte Platte aus Kristall‘, worauf das himmlische Wasser rauscht und welches von vier englischen Wesen getragen wird; jene Cherubim, die mit den Evangelisten assoziiert wurden und die Antlitze eines Löwen, eines Stieres (nota bene!), eines Menschen und eines Adlers tragen (Offb. 4,7). Die jüdische Mythologie hat den Gedanken bewahrt, dass Gott die verschiedenen Welt- und Himmelsgewölbe so geschaffen hat, dass er die Wasser erstarren ließ, die jedoch anfangs noch feucht blieben28. In allem liegt hier also das mythische Bild vom Stier vor – bzw. von mehreren Stieren oder mehreren Wesen, worunter auch der Stier ist –, der eine himmlische oder irdische Weltschicht trägt, die sich aus Wasser gebildet hat bzw. den Urozean an sich versinnbildlicht. 4. Wasser und Stier in der griechischen Mythologie: Poseidon und Acheloos Die griechische Mythologie hat die Idee vom göttlichen Stier, der mit dem Meer, dem Süß- oder Grundwasser und dem unterirdischen Bereich in enger Beziehung steht, bildlich wie literarisch in verschiedenen Formen bewahrt. Zuallererst fällt dabei natürlich der Mythos von Zeus und Europe auf. Dass sich der Himmelsgott in einen Stier verwandelt, ist innerhalb des griechischen Mythos nur ein einziges Mal belegt: Zeus mischt sich in der bekannten Geschichte am Gestade von Tyros in die Gruppe spielender Mädchen und entführt dabei als Stier seine Europe, mit der er über das Meer schwimmt, um sich mit ihr in Kreta zu vermählen. 26 Micha Josef Bin-Gorion: Die Sagen der Juden. Von der Urzeit, Frankfurt, 21919, S. 6. 27 Nach diesem Vorbild ist etwa auch das bronzene Taufbecken des Meisters Renier de Huy in Lüttich (Saint-Barthélemy) aus dem frühen 12. Jahrhundert geschaffen worden. 28 Bin-Gorion, Sagen der Juden, S. 5. Der „aquatische Stier“ Der göttliche Meerstier erscheint gleichsam eine Generation tiefer noch einmal: Der seit Homer als Gott des grauen Meeres literarisch verewigte Poseidon schickt [-42-] einen göttlichen Stier aus den Meerestiefen zu Pasiphae, Frau des Kreterkönigs Minos, der selbst Kind aus der Verbindung des Zeus-Stieres mit Europe war. Pasiphae gab sich dem Stier des Poseidon hin – oder ist jener Stier nicht vielmehr eine Erscheinungsform des Gottes selbst?, wie Ovid in den Metamorphosen von ihm schreibt: [...] „verwandelt zum wilden Jungstier“ (6,115). Pasiphae gebar ihrem Stiergemahl das Ungeheuer Minotaurus, ein Wesen halb Mensch, halb Stier. Der Name Poseidon (in verschiedenen Formen überliefert, z. B. dorisch: Poteidãn; Linear B: pose-da-o) leitet sich von Pósis-Dā her: ‚Gatte (pósis) der Dā (< Dā-mátēr/Dē-métēr = Erd-/ Fruchtbarkeits-/Korngöttin)‘; also etwa: ‚Gemahl der (Mutter) Erde‘.29 Poseidon war ursprünglich also nicht dem Meer zugetan, sondern vielmehr der Erde, dem Erdinneren mit seinen süßen Gewässern und Quellen, wozu sich auch die Etymologie von Michael Janda fügt, der den Namen der Göttin Dā auf ein idg. Wurzelnomen *dáh2- ‚(Süß-) Wasser‘ zurückführt und die Göttin sowie ihren Gemahl damit in ein genuin-ideelles Verhältnis zum feuchten Element bringt, welches sich aber im Unterschied zur salzigen Meermasse auf die süßen, fruchtbringenden und fließenden Gewässer bezieht. 30 Der Gott steht nachweislich in engem Kontakt zum Erdinneren, zu den daraus hervorgehenden Quellen sowie den Fließgewässern, wozu passt, dass Poseidon nach verschiedenen lokalen Anschauungen auch als Liebhaber von Quellnymphen und anderen weiblichen Wasserwesen auftritt.31 Als Gott des Untergrundes und der Erdtiefen ist Poseidon aber auch ‚Erderschütterer‘ und ‚Erdbeweger‘ (ενοσίγαιος bzw. γαιήοχος), wie er in der homerischen Ilias durchgehend genannt wird. In Theben wurde Poseidon vor allem auch als Taúreos Ennosígaios verehrt: der ‚stierische [oder] stiergestaltige Erderschütterer‘ (Hesiod, Scutum 104), was ihn nun sehr deutlich in die Sphäre jener Stiergestalten der balkan-slawischen und osteuropäischen bis sibirischen Mythen bringt, die ihren untergründigen Stier als den Verursacher von Beben beschreiben. Wie diese tauromorphen Erzeuger der Erderschütterungen aber auch gleichzeitig die Träger der Erde sind, ist auch Poseidon in gleichsam wechselseitiger Entsprechung just für [-43-] die Stabilität (der Erde) zuständig, weswegen er auch der ist, der den ‚Grundstein bildet‘ bzw. die ‚Grundmanifeste aufrecht erhält‘: θεμελιουχος. Gerade aus diesem Grunde wurde dem Erderschütterer auch der Bau von festen und standhaften Mauern zugesprochen, besonders jene um die Stadt Troja (Ilias, 7,445-449; 21,446). Bei Erdbeben erhob man einen Gesang auf Poseidon und rief ihn flehend und beschwörend als den ‚Standfesten‘ Aσφάλειος an.32 29 Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike. Hrsg. Ziegler und Sontheimer. München 1979, Bd. 4, S. 1076. Herbert Hunger: Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Wien 81988, S. 439. 30 Michael Janda: Die Musik nach dem Chaos. Der Schöpfungsmythos der europäischen Vorzeit, Innsbruck 2010, S. 62. Clarence Scott Littleton: „Poseidon as a Reflex of the Indo-European ‘Source of Waters’ God”, in: The Journal of Indo-European Studies 1, Jg. 1973, S. 423–440. Marina Milićević Bradač: „Greek mythological horses and the world’s boundary”, in: Opuscula Archaeologica 27, Jg. 2003, S. 379/380. Leonhard Palmer: Mycenaeans and Minoans, London 1961, S. 127. 31 Fritz Schachermeyr: Poseidon und die Entstehung des griechischen Götterglaubens, Salzburg 1950, S. 41, 141. 32 Pauly, Bd. 4, S. 1077. Schachermeyr, Poseidon, S. 18, 26, 29, 44/45. Walter Burkert: Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, Stuttgart 1977, S. 217. Gerald Unterberger Es ist bekannt, dass Poseidon eine enge Beziehung zu den Pferden hatte, was neben seiner menschlichen Gestalt auch eine hippomorphe Erscheinungsform des Gottes vermuten lässt. Seine Beziehung zum Stier ist höchstwahrscheinlich aber die archaischere, was Karl Kerényi deutlich ausspricht, indem er sagt, dass die „Annahme eines rossgestaltigen Ur-Poseidon“ falsch und die „Priorität des Stieres, des Tauromorphismus vor dem Hippomorphismus im Poseidonkult“ als gesichert zu nehmen sei.33 Für eine ursprüngliche Beziehung Poseidons zum Stier sprechen mehrere Indizien: Als seismischer Gott hieß der thebanische Poseidon wie oben schon erwähnt Taúreos Ennosígaios. Für ihn wurde im ionisch-kleinasiatischen Raum das Stier-Fest Taúria abgehalten, wo es Stieropfer und Stierspiele gab. Selbst die Opferdiener dieses Stier-Poseidons hießen Taûroi und nach der Festlichkeit wurde sogar ein Monat des Jahres benannt: Taureon.34 Die ionischen Städte opferten dem Poseidon Helikonios auch im Panionion-Heiligtum im Mykale-Gebirge einen Stier, wie überhaupt zu bemerken ist, dass für Poseidon auch im griechischen Stammland Versenkungsopfer mehrfach bezeugt sind: Gleichsam ‚in Quellen hinein‘, in Flüsse oder ins Meer wurden ihm Pferde, vor allem aber auch Stiere dargebracht.35 Acheloos war als vergöttlichte Personifikation allen Süßwassers vor allem als Flussgott im ganzen griechischen Stammland und in den italischen Kolonien bekannt und wurde in Stiergestalt oder halb anthropomorph, halb tauromorph dargestellt. Als Sohn des Okeanos und der Tethys war Acheloos für den griechischen Geist einst wahrscheinlich ein mächtiger Wassergott (sein Name konnte synonym für ‚Wasser‘ gebraucht werden), [-44-] Der tauromorphe Flussgott wenngleich über seinen ursprünglichen Mythos oder Kult nur ‚mit dem feuchten Bart‘. Acheloos auf einer Drachme-Münze des 6. wenig bekannt ist. Jhdts. v. Chr. aus Rhegion. [-44-] Poseidons Charakternähe zu Acheloos – sein aquatisches Typisch mit Stierleib und bärtiWesen und sein affines Verhältnis zum Stier – mag dazu beige- gem Männerkopf dargestellt. tragen haben, dass aus dem Nebeneinander beider Poseidon sein Foto des Verfassers. ehemals angestammtes Gebiet verlassen und sein Reich ins Meer verlagern musste. Wie jedoch oben bereits erwähnt, ist in Poseidon ursprünglich eine Gottheit zu sehen, die mit dem wässrigen Urgrund der Welt in Beziehung steht und dort im feuchten Untergrund lebt. Als ‚Herr und Begründer von Quellen‘ befruchtet er seine Gemahlin Erde und ist damit auch ein Gott der Fruchtbarkeit. Neben diesem Charakter ist er aber auch ein kosmologischer Gott, denn er gibt der Erde einerseits ihren Halt und lässt sie andrerseits erbeben. In seiner Stiernatur gleicht er sich somit den Gestalten der balkan-slawischen Mythen an, die einen im untergründigen Weltozean stehenden Stier die Erde tragen lassen, der ihr damit Halt und Stabilität gibt und sie gleichzeitig durch seine Bewegungen erschüttern lässt. 33 Karl Kerényi: Zeus und Hera. Urbild des Vaters, des Gatten und der Frau, Leiden 1972, S. 60. Burkert, Griechische Religion, S. 217. Pauly, Bd. 5, S. 540. Schachermeyr, Poseidon, S. 45. 35 Burkert, Griechische Religion, S. 219. Schachermeyr, Poseidon, S. 33, 39. 34 Der „aquatische Stier“ 5. Indische Mythologie. Der göttliche Stierheld und der Wasserdrache: Kosmogonische Schauspieler und Elemente der Kosmologie Das älteste an uns überkommene Literaturwerk Indiens, der ]gveda (etwa zwischen 1.500 und 1.000 v. Chr. entstanden), geht in seinen Themen auf die gemein-indoiranische Zeit (um 2.000 v. Chr.) und bisweilen sogar auf die indogermanische Vorzeit zurück. In seinen Hymnen schildert der ]gveda vor allem den einen hervorragenden Gott Indra, der sich durch besondere Eigenschaften und mythische Großtaten auszeichnet. Indra wird als riesengroß, übermächtig und von ganz besonderer Kraft und Stärke beschrieben. Er ist der Gott des Soma und wird als der erste und mächtigste Trinker dieses heiligen Rauschtrankes geschildert, welcher ihm seine außergewöhnliche Kraft verleiht. Indra und Soma (bzw. die daraus emanierte Gottheit) stehen in teils so inniger Begegnung, dass ihre Gestalten und ihr Wesen ineinander fließen. Ein Charakteristikum Indras ist seine bovine Natur bzw. seine Beziehung zum Stier. Er wird als ‚Kuhgeborener‘ beschrieben und in den Hymnen so oft als ‚Bulle, Stier oder Stier der Völker‘ bezeichnet bzw. mit [-45-] Eigenschaften wie ‚stierhaft, bullenkräftig oder bullenmutig‘ beschrieben, dass an seiner engen Verbindung zu diesem Tier bzw. an seiner zumindest teilweise gedachten Tauromorphie keine Zweifel bestehen. Der ]gveda schildert Indra aber vor allem als den wichtigsten Akteur im kosmogonischen Geschehen, welches von zwei seiner großen Heldentaten entscheidend beeinflusst und gestaltet wird36. 5.1. Der primordiale Gott als Drachentöter Nachdem sich Indra ausgiebig gestärkt hat – er trinkt drei Seen voll Soma und isst 300 Büffel (V,29,8) – tötet er mit seinem Blitz- und Donnerkeil Vájra, der ‚hundertkantigen Wurfkeule‘ den Ahi-Vƒtra, den Schlangendämon, der als Steindrache alles fruchtbare Wasser sowie die Sonne und das Licht in sich geborgen hält und nicht frei gibt, es gleichsam versperrt, darauf liegt bzw. mit seinem Körper verhüllt (vgl. sanskrit: vƒtrá- ‚Umhüllung‘). Nachdem Indra das Ungeheuer getötet hat, können alle Gewässer und Ströme fließen und die erste Grundlage für eine neue, bewohnbare Welt bilden. Der ]gveda schildert diese Heldentat fast unzählige Male in verschiedenen Metaphern oder variierenden Darstellungen. Der Drache wird etwa gerne als Fels bezeichnet, den Indra sprengt, zerschmettert oder wegschiebt und die eingeschlossenen (roten) Kühe aus der Höhle befreit (etwa VI,17,5), oder wie in VIII,6,16-17 erzählt wird: „Der sich breitmachend die großen Gewässer umlagerte [= Vƒtra] der diese beiden großen Welten [= Himmel und Erde] vereint umschlossen hielt, den versenktest du in der Finsternis, o Indra.“ 36 Die folgenden ]gveda-Passagen nach: Karl Friedrich Geldner: Der Rig-Veda. Aus dem Sanskrit übersetzt und mit einem laufenden Kommentar versehen, Harvard University Press 22003 sowie Michael Witzel und Toshifumi Gotō: Rig-Veda. Das heilige Wissen. Erster und Zweiter Liederkreis, Frankfurt/Leipzig 2007. Gerald Unterberger Aus der tödlichen Umklammerung werden also die Wasser frei und das Licht geboren: in Form der Sonne oder der Morgenröte. Es ist die Göttin USas, die befreit wird: die ‚Morgenröte‘, die als lieblich reizvolle Frauengestalt jeden Tag ihre Herrlichkeit ausbreitet und von rötlich-weißen Stieren gefahren wird (VI,64,3) oder auch auf einem von sieben Kühen gezogenen Himmelswagen dargestellt wird. Die Kühe symbolisieren die im ]gveda mehrfach erwähnten sieben Wasserströme, die von Vƒtra eingeschlossen waren und mit denen sich der siegreiche Heldengott Indra nach ihrer Befreiung in seiner Stiernatur vereinte: [...] „zerschlug Indra mit dem Vajra den schnaubenden Vƒtra. Die Ströme, die wie Kühe eingeschlossen waren, befreite er“ (I,61,10). „Der Stier, der der jungen Kuh Sohn ist [= Indra], hat sich mit den Kühen vereinigt“ (X,111,2). [-46-] 5.2. Indra als Weltenbauer und Himmelsstützer Bevor diese elementaren Zeugungskräfte – Licht und Wasser – aber wirksam werden konnten, musste Indra seine zweite Großtat vollbringen, die im ]gveda wiederum häufig geschildert wird: Der heldenhafte Gott hat aus dem erschlagenen Vƒtra-Drachen Erde und Himmel gebaut, wie es öfters heißt: ‚ausgebreitet und gefestigt‘, um sodann als zentralen Akt den Himmel von der Erde empor zu heben und zu tragen (bzw. die Welten gegeneinander abzustützen). Diese Tat der Himmel-Erde-Trennung wird wieder unterschiedlich beschreiben: Indra stemmt etwa die Hälfte des ehemaligen Steindrachen (den Himmel) mit einem Baum hoch, mit einer Stütze oder Pfeilern bzw. in Gestalt seiner selbst – besonders plastisch ist die Gleichung von den beiden ‚Wagenrädern‘ Himmel und Erde, die Indra wie mit einer Achse gegeneinander stützt (X,89,4)37. Jetzt erst ist der Schöpfungsakt vollendet – Polaritäten sind geboren und der zuvor eingeschlossene Raum ist von nun an für alles künftige Werden geschaffen. Indras Werk ist damit abgeschlossen und aus seiner schöpferischen Dynamik wird Statik. Er ist nun der verehrte Herr jener Elemente, die durch ihn frei wurden, vor allem des Wassers, wie er eigenlöblich von sich selber sagt: „Ich, der Bulle, erhalte die Ströme, die auf Erden laufenden Gewässer. Ich, der Einsichtsvolle, durchschreite die Fluten“ (X,49,9). Indra ist nicht nur der Stiergott der tiefen Gewässer, sondern auch in die obere Sphäre gekehrt, wie es der ]gveda klar aussagt: „Du bist der Riese des Himmels, der Bulle der Erde, der Riese der Flüsse, der Bulle der stehenden Gewässer“ (VI,44,21). Und weiter: „Indra soll alsbald vom Himmel, von der Erde kommen, vom Meere oder vom Urquell“ [...] (IV,21,3). 37 Siehe auch: Leopold von Schröder: Herakles und Indra. Eine mythenvergleichende Untersuchung, Wien 1914, S. 72–74. Der „aquatische Stier“ Als nunmehr kosmologischer Gott, und dies scheinbar besonders in seinem stierischen Wesen, steht er in den tiefen Gewässern und ragt in seiner Funktion als Weltsäulen-Gott in den Himmel, um diesen zu stützen bzw. das ganze Weltgefüge zu festigen: [...] „Indra, der mit kühner Kraft als der riesige Bulle durch seine Stiereigenschaft beide Welten zwingt“ (I,54,2). „Du Indra, hast die gütige, eifrige, große, unbegrenzte Erde an ihren Platz gesetzt. Er stützt den Himmel, der Bulle, den Luftraum“ (III,30,9). „Dieser Große hat mit großer Stütze den Himmel emporgerichtet, der Bulle in Begleitung der Maruts“ (VI,47,5). [-47-] Die Maruts sind Sturmgötter, die Indra im Kampf gegen den Drachen unterstützt haben. Sie selbst wurden, wohl nach Vorbild des großen Heldengottes, tauromorph gedacht (vgl. I,64,2; I,85,3; I,165,1). In gleichem Sinne wie ihr Herr üben sie nach ihrem kosmogonischen Sieg eine kosmologische Funktion aus. Der folgende Vers ist wahrscheinlich auf die Maruts bezogen: „Hundert weiße Stiere glänzen wie Sterne am Himmel. Durch ihre Größe stützen sie den Himmel“ (VIII,55,2). 6. Drachenkampf und Wasserstier: Indogermanische Mythologeme Die ƒgvedische Überlieferung gibt also ein relativ geschlossenes Bild von den kosmogonischen Vorgängen und kosmologischen Verhältnissen, in denen der tauromorphe Gott die entscheidende Rolle spielt: zuerst als Überwinder und Öffner des Wasser- und Licht haltenden Steindrachen und dann als Gründer und Stabilisator bzw. Befestiger der Welt, indem er die beiden Teile des getöteten Ungeheuers ausbreitet, daraus Himmel und Erde baut und personhaft oder mittels Weltbaum bzw. Pfeiler den Himmel emporstemmt und gegen die Erde abstützt. In dieser Weise steht der Weltstier in den tiefen Urgewässern, die aus dem Drachen entronnen sind und reicht bis in den Himmel – ein Gott des Untergrunds also gleichermaßen wie vom Himmel stammend, wie ihn die Verse beschreiben, weil Indra als Axis mundi just beide Welten verbindet und somit der oberen wie der unteren Sphäre zu gleichen Teilen angehört. Dieses kosmologische Motiv kann bei verschiedenen Kulturen gedankenmäßig und literarisch unterschiedlich rezipiert werden: Der tauromorphe Gott kann aufgrund seiner Größe die Welten durchragen und in seiner eigenen Gestalt der Atlas sein, er kann als Emanation des Weltbaumes oder Weltpfeilers erscheinen oder etwa auch, so wie im bulgarischen Mythos überliefert, die ‚alter ego-hafte Weltsäule‘ auf seinem Kopf oder Rücken tragen (und was läge dabei näher, ein Horn dieses Stieres als Welt tragende Vertikale zu betrachten, wie es aus etlichen Überlieferungen bereits hervorgegangen ist). Neben diesen Funktionen im Rahmen des Weltschöpfungs- und Weltbau-Mythos haftet an dem Wesen ein noch grundsätzlich anderer Charakter, den schon die vedische Überlieferung gekannt hat und der seine mannigfaltigen Fortsetzer gefunden hat: Als Befreier der lebensnotwendigen Prinzipien Licht und Wasser ist Indra auch der segensreiche Bringer aller Fruchtbarkeit auf Erden, was der ]gveda in jener Form deutlich zum Ausdruck bringt, dass sich der tauromorphe Gerald Unterberger Gott mit den als Kühen personifiziert gedachten Strömen verbindet und für Nachkommenschaft sorgt – ein Motiv, das uns noch in der iranischen Mythologie erscheinen wird und welches in verschiedenen Variationen bereits begegnet ist: Die besondere [-48-] Paarungsbereitschaft des Wasserstieres, wie sie in den deutschen und inselkeltischen Sagen allenthalben prominent erwähnt wird, rührt zuletzt wohl aus diesen mythischen Vorlagen. In gleichsam ‚dynastischem Gepräge‘ ist diese Heilige Hochzeit auch in der Fredegar-Chronik rezipiert worden. Nach einer göttlichen Vorgabe begründet die vom Wasserstier geschwängerte Gemahlin des Frankenkönigs mit ihrer ‚taurischen Nachkommenschaft‘ ein künftiges Herrscher- und Menschengeschlecht. Auch der griechisch-minoische Meerstier zeugte mit Europe Minos, den späteren König und Stammvater der Kreter. 6.1. Griechische Mythologie Die einzelnen Mythenmotive der indogermanischen Kosmogonie und Kosmologie vom Drachentöter, Himmel-Erde-Trenner, Weltenbauer und Wasserstier sind im Unterschied zur ƒgvedischen Überlieferung in der griechischen Mythologie in keinem gerahmten Werk oder in geschlossener Form tradiert, sondern zeigen sich in verschiedenen Literaturwerken und sind auf unterschiedliche Gestalten aufgeteilt oder fokussiert. Das Kampf-Motiv des Gottes oder göttlichen Helden gegen das zumal drachenartige Ungeheuer ist mit unterschiedlicher Prägnanz mehrfach überliefert: In der Theogonie des Hesiod ist es Zeus, der den fürchterlichen und weltbedrohenden Drachen Typhoeus mit seinem Blitz erschlägt, in den Hades wirft und den Ätna auf ihn stellt (820–870). Apollodorus lässt im Zuge des Gigantenkampfes Poseidon ähnlich tun wie sein Bruder Zeus gegen Typhoeus agiert: Poseidon jagt den Giganten Polybotes übers Meer, und bricht mit der Dreizack-Waffe einen Felsen der Insel Kos, den er auf Polybotes wirft; oder er schmeißt die ganze Insel Nisyros auf den Giganten, der seither darunter begraben liegt (Bibliothek I,6,2). Diese Szene mag residual noch das Motiv eines ehemaligen Drachenkampfes andeuten, in den auch Poseidon verstrickt war. Dieser ‚taurische Gewässergott‘ wird im griechischen Mythos zwar nirgends explizit als Drachenkämpfer beschrieben, es wird aber geschildert, dass Poseidon mit seinem Dreizack Felsmassen sprengt und das Meer ins Wogen bringt.38 So wurde ihm etwa nachgesagt, dass er die Meeresstraßen zwischen Lesbos und Kleinasien sowie zwischen Euböa und Mittelgriechenland aufgerissen hat oder dass er die Inselgruppe der Kykladen durch Zerschlagen einer festen Landmasse entstehen ließ39. Herodot berichtet, dass Poseidon nach thessalischer Überlieferung das Tempe-Tal zwischen Olymp und Ossa durchbrochen hat, damit der See im Peneios-Fluss abrinnen konnte, der einst Thessalien wie ein Meer bedeckt hielt (Historien 7,129). [-49-] Diese poseidonischen Taten von der Zertrümmerung von Felsmassen können vielleicht als kryptisch gehaltene Umschreibungen für das Motiv der ‚Zerschmetterung des Drachen‘ verstanden werden, der auch in der vedischen Tradition als steinernes Geschöpf beschrieben wird. Poseidon schlägt die Landmassen auseinan- 38 39 Burkert, Griechische Religion, S. 216/217. Schachermeyr, Poseidon, S. 160. Der „aquatische Stier“ der, auf dass Wasser sie durchströme oder Wassermassen abfließen können – so wie aus dem zertrümmerten Stein-Drachen das Wasser freigegeben wird und aus bzw. durch ihn rinnt. Der griechische Denker Pherekydes bewahrt das vielleicht noch sehr altertümlichere Bild von Kronos, der den ‚Schlangen- oder Drachenmann‘ Ophioneus tötet und in den Okeanos wirft. Auch Perseus‘ Kampf gegen das Meerungeheuer oder Heraklês‘ ‚zweite Arbeit‘ ist diesem Mythenbild nachempfunden: An der lernäischen Quelle lauert die neunköpfige Hydra unter einer Platane. Diese Wasserschlange ist eine Landplage für die Bewohner der Argolis, denn sie trinkt alles Wasser und verursacht Dürre (vgl. den Wasser haltenden Drachen). Heraklês und sein Neffe Ioalaos töten das Ungetüm durch Pfeilschüsse und Abbrennen seiner Köpfe. Das Bild von der Platane, an der die Hydra wohnt, mag eine dunkle Erinnerung an den Weltbaum darstellen, der nach diesem ursprünglich kosmogonischen Tötungsakt zur Einrichtung für das neue Weltgebäude dient.40 Das Motiv der Himmel-Erde-Trennung erscheint im Rahmen des sog. ‚Sukzessionsmythos‘: Ouranos, der eifersüchtige Himmelsgott, schließt in seiner Allgewalt seine Erdgattin Gaia mitsamt ihrer göttlichen Kinder in eine unbewegliche Starre ein, die kein weiteres Leben und keine Entfaltung zulässt – eine Lage, die dem weltanfänglichen Zustand vedischer Tradition entspricht, in welcher Ahi-Vƒtra alles Wasser und Licht in sich hüllt und nicht frei gibt. Der junge Götterspross Kronos trennt nun seinen Vater Ouranos durch Kastration mit einer Sichel aus der engen Umschlingung mit der Erde (Hesiod, Theogonie 154–210). Ouranos erhebt sich als Himmel nach oben und die neuen Götter werden endlich befreit. Die Kernpunkte dieser Geschichte wiederholen sich eine Generation tiefer. Denn auch Kronos verbirgt seine Kinder im Inneren, indem er sie verschlingt, bis der jüngste Sohn Zeus seinen Vater besiegt und seine Geschwister frei treten können. Zwei dieser befreiten Gottheiten repräsentieren entsprechend dem ƒgvedischen Mythos das Wasser und das Licht: Aphrodite ist aus den im Meer treibenden Geschlechtsteilen ihres Vaters Ouranos geboren und als ‚die aus der Gischt des Meeres Strahlende‘ wohl Göttin der Morgenröte (vgl. die vedische USas). Demeter ist, wie weiter [-50-] oben schon erwähnt, ursprünglich eine Gewässergöttin (vgl. Dē-métēr/Dā-mátēr < idg.*dáh2- ‚Wasser‘). Hesiod bewahrt natürlich auch das Motiv der himmeltragenden Weltsäule: Der Titanensohn Atlas stemmt und trägt den Himmel (Theogonie 517–519), und dass seine Mutter Klymene als Tochter des Okeanos dem Meer angehört, ist vermutlich kein Zufall, sondern mag noch vage andeuten, dass auch Atlas aus dem Weltmeer ragend das Firmament schultert, wenngleich ihm in uns bekannten Überlieferungen keine Tauromorphie anhaftet. Apropos Okeanos: Dieses um die Erde herumgeschlungene Weltmeer wird auf drei schwarzfigurigen Vasen der archaischen Zeit noch als personifiziertes Drachengeschöpf mit einem schlangenförmigen Schwanz und Hörnern dargestellt, gewiss ein Relikt der alten Vorstellung vom Wasserdrachen, der, einst vom heldenhaften Gott getötet, nun am Rand der Oikumene oder in den Tiefen des Universums in erstarrter Form fortan existiert. 40 Zu weiteren Variationen der Drachenkampf-Thematik in den griechischen Überlieferungen siehe in: Calvert Watkins: How to kill a Dragon. Aspects of Indo-European Poetics. New York/Oxford 1995, S. 357–390. Janda, Musik nach dem Chaos, S. 71, S. 351–353. Gerald Unterberger Noch ein Gedanke zum ‚taurischen Weltträger‘: Wie oben bereits erwähnt, sprengt Poseidon im Rahmen von Ursprungsmythen über die Entstehung von Landschaften mit der ‚Blitz- und Donnerwaffe Dreizack‘ Felsmassen (*den Steindrachen). In dieser Funktion ist er aber nicht der Beben-Gott, der aus dem Untergrund mit seinem Dreizack die Erde periodisch erzittern lässt, sondern gleicht vielmehr seinem zornigen Bruder Zeus, der vom Himmel aus mit der gleichen Blitzwaffe auf seine Gegner zuschlägt. Zwar hat Herodot nach seiner persönlichen Erwägung Poseidons Durchschlagen der Tempe-Schlucht mit seinem seismischen Charakter in Verbindung gebracht, doch nennt schon Homer just im Gegensatz zu Zeus‘ Donnern ‚von oben‘ Poseidons Erde-Erschüttern ‚von unten‘ (Ilias 20,57). Poseidons Charakter als ‚Erderschütterer‘ mag sich in der Folge eben gerade nicht auf dieses ‚Zerschmettern von Bergen und Landmassen‘ beziehen, sondern vielmehr auf sein untergründiges, zumal tauromorphes Wesen als Erzeuger von Erdbeben, so wie er in wechselseitiger Entsprechung als θεμελιοχος und Aσφάλειος ja auch für die Stabilität der Erde zuständig war. Für beide Tätigkeiten – der Zerschmetterung und ‚Flüssigmachung‘ der Landmassen (~ des *‚wässrigen Steindrachen‘) sowie das Halten und Schütteln der Erde – gebraucht er den Dreizack: zuerst als Waffe und im „stierischen Ambiente“ sodann vielleicht in der Art einer stabilisierenden Weltsäule (vgl. dazu Poseidon in seiner literarischen Bezeugung als Taúreos Ennosígaios). Womöglich ist Poseidon ursprünglich also in eine dem vedischen Indra ähnliche, literarisch jedoch nicht so deutlich überlieferte Sphäre des Drachen tötenden Heldengottes und Weltsäulen-Errichters (Weltstabilisators versus Bebenerzeugers) zu bringen. 6.2. Germanische Überlieferungen Den Mythos vom Drachenkampf schildert die Edda noch ansatzweise, wo in Gylfaginning sogar zweimal davon erzählt wird: Es heißt, Thor sei zur Ochsenherde [-51-] des Riesen Ymir gegangen und habe sich das größte Tier daraus genommen: Dieser Stier hieß Himinbriótr ‚Himmelsbrecher’. Thor riss dem Ochsen den Kopf ab und hing ihn als Köder an die Angelschnur, mit der er die riesige Seeschlange Miðgarðsormr fangen wollte – das Unternehmen misslang jedoch (48). Später wird noch einmal von der Auseinandersetzung des Gottes mit dem Ungeheuer erzählt. Thor kann im Endzeitkampf die Midgardschlange mit seinem bumerangartigen Zauberhammer Mjöllnir töten (eine Entsprechung der Vájra-Wurfkeule Indras); kaum aber war er neun Schritte davongegangen, so starb er vom Gift, das die Schlange auf ihn gespien hatte (51). Die Midgardschlange befindet sich in Ouroboros-Gestalt um die bewohnte Erde geschlungen im Kreismeer bzw. ist die Personifikation des Weltozeans und entspricht damit dem griechischen Okeanos. Die beinah humoristisch wirkende Episode mit dem Stierkopf als Thors Köder mag den alten Gedanken in sich wahren, wonach anstatt des Gottes einst der Riesenstier selbst den Kampf gegen das Seemonster aufnahm – oder vielleicht sogar Thor in Gestalt des Stieres? Immerhin ist Iörmunr ‚Stier‘ auch ein Beiname des Gottes Odin und bedeutet in der belegten Form Iörmunrekr vielleicht so viel wie ‚Weltemporrecker‘, wie es Helmut Birkhan rekonstruiert hat.41 Damit 41 Helmut Birkhan: Germanen und Kelten bis zum Ausgang der Römerzeit. Der Aussagewert von Wörtern und Sachen für die frühesten keltisch-germanischen Kulturbeziehungen, Wien 1970, S. 284. Gerald Unterberger: Der Stier mit der Weltsäule. Ein archaisches Mythenbild vom Bau der Welt, Wien 2011, S. 268–278. Der „aquatische Stier“ wäre auch in der germanischen Mythologie die Gestalt des göttlichen Stieres als Himmelträger und Welterhalter nachgewiesen. Die kosmologische Idee des (aus dem Wasser ragenden) ‚Stierberges‘ ist vielleicht noch aus einer anderen Quelle zu erschließen, die vermutlich aus dem keltischen Bereich stammt: Im massaliotischen Periplus, einer nautischen Länder- und Küstenbeschreibung aus dem 6. Jhdt. v. Chr., wird von einem Felsen oder Berg berichtet, aus dem die Rhône entspringt und der Columna solis genannt wird42, also ‚Sonnensäule/(~ Weltsäule)‘. Dieser höchste Gipfel in den Urner Alpen (Kanton Uri) heißt ‚Damastock‘. Nach Helmut Birkhan könnte das erste Glied dieses Begriffes dem keltische Wort *damos ‚Rind‘ (> altir.: dam ‚Ochse‘) gleichstehen43, womit der *‚Stierberg‘ als Himmel bzw. Sonne tragende Felsensäule belegt wäre. Das Kampfmotiv zwischen dem göttlichen Stier und dem Ungeheuer findet sich in verschiedenen Versionen auch in Sagenüberlieferungen aus Dänemark, wo ein roter Stier oder Ochse gegen den Lindwurm kämpft. Dieser rote Ochse ist in [-52-] vielen dänischen Sagen auch in einen eschatologischen Kontext eingebunden. Es heißt in verschiedenen, nur leicht voneinander divergierenden Sagen-Varianten, dass er am Ende der Zeiten im Meer daher geschwommen käme. Wenn dieser dann durch die Schalllöcher des Kirchturmes blickt, dann wird die Welt vergehen. Der Stier im Meer ist hier also eine Art ‚Weltuntergangs-Anzeiger‘ – wenn das Land vom Meer so hoch geflutet wird, dass der Kirchturm darin versinkt, ist das Ende der Welt gekommen. Axel Olrik bemerkt dazu: „Dieser Ochse oder ‚rote Ochse‘ scheint nicht ein gewöhnliches Tier zu sein, da er über die ungeheure Meeresfläche geschwommen kommt; er muß dem Meere selbst angehören. Also eine alte mythische Vorstellung, zu der man die Sage von dem Stier vergleichen mag, der aus dem Meere kam und mit den Hörnern ein Sandtreiben erregte. Dieser mythische Zug und die plastische Sagenform selbst deuten auf hohes Alter [...].“44 Dem Ganzen liegt wohl die Kataklysmus-Vorstellung inne, wie sie schon in der Völuspá geschrieben steht – „Schwarz wird die Sonne, die Erde sinkt ins Meer“ (56) – und auch in einer Reihe von Skaldengedichten begegnet, wonach die Erde am Ende der Zeit in die tiefe See hinabgleiten wird, weil die Stützpfeiler gebrochen sind, die sie bis dahin über dem Meer emporgehoben haben. Dieser Weltträger aber ist der Stier; und es scheint, dass sich die oben erwähnte Gestalt des ‚Erdträger und Erdbeben-Ochsen‘ und jene des dänischen ‚Flut-Ochsen‘ einander bedingen – anders gesagt: zwei Seiten desselben mythischen Wesens darstellen, welchem vorerst die Atlas-Bürde auferlegt ist, den drohenden Kataklysmus durch seine Bewegungen und den daraus entstehenden Beben ankündigt, um am Ende eines Äons sich seiner Last zu entledigen, woraufhin die Erde birst und im Weltmeer versinken muss, in welchem just dieser Stier jetzt schwimmt. Richard Heuberger: „Die Anfänge des Wissens von den Alpen“, in: Zeitschrift für Schweizerische Geschichte, 30. Jg., Zürich 1950, S. 338–352. 43 Helmut Birkhan: „Der Name der Tauern“, in: 10. Internat. Kongress für Namenforschung, Bd. I., Wien 1969, S. 351/352. Vgl. dazu auch: Birkhan, Germanen und Kelten, S. 440–448. 44 Axel Olrik: Ragnarök. Die Sagen vom Weltuntergang, Berlin/Leipzig 1922, S. 22–24, S. 26 (Zitat). 42 Gerald Unterberger Es scheint also, dass dem besagten Sintflut-Szenario eine logische Vorstellung über die Kosmologie vorausgeht, wonach ein Stier oder ein stiergestaltiges Wesen in der untergründigen Weltschicht gedacht wurde, welches in persona für die Stabilität der Welt verantwortlich zeichnet – sei es nun in dieser Form, dass es die Erde direkt auf seinem Rücken, Kopf oder Hörnern trägt oder in jener Weise, dass dieses Stierwesen eine Weltsäule trägt. Das Kampfmotiv zwischen dem göttlichen Stier und dem Ungeheuer findet sich neben den dänischen Mythen auch deutlich in dem alpenländischen Sagenkreis vom Uri-Stier (bzw. den PilatusSagen)45: Der silberweiße Riesenstier tötet das finstere Ungeheuer mit Blitz und Donner. Danach erscheint die Sonne und nachdem der heldenhafte Stier aus dem nach ihm benannten ‚Stierenbach‘ getrunken hat, [-53-] stirbt er wenige Schritte später vor Anstrengung (vgl. Thors Tod nach wenigen Schritten, nachdem er die Midgardschlange getötet hat). Recht deutlich zeigt sich das Motiv von der Freigabe des Lichtes (nach dem Kampf erscheint die Sonne) und des Wassers (aus dem der Stier nun trinken kann und der nach ihm benannt wurde). In der Schweizer Sage scheint auch noch das eddische Motiv zu wirken, wonach der Held zwar siegt, aber nach wenigen Schritten selber stirbt. 6.3. Iranische und armenische Überlieferungen Wie die vedische Überlieferung Indra als Stier oder Stier reitenden Gott als Bekämpfer des Drachen beschreibt, so erscheint auch der iranische θraētaona (> Farīdūn) auf seinem weißen Stier reitend und mit der Stierkopf-Keule bewaffnet als Bekämpfer des Schlangendrachen Aži Dahāka (~ vedisch Ahi-Vƒtra), wie in den avestischen Quellen beschrieben wird (Yasna 9,8; Yašt 14,40). Nach seinem Sieg befreit θraētaona die beiden wunderbaren Frauen des Drachen (Yašt 5,34). Ähnlich wie Zeus auf den Drachen Typhoeus den Ätna stellt, wirft und fesselt θraētaona in späteren Pahlavi-Texten den tödlichen Schlangendämon unter den Berg Dēmavend (Gr. Bundahišn 29,9). Der Drachenkampf wiederholt sich am Ende der Zeiten: Der unter dem Berg gebundene Aži Dahāka wird dann aus dem Untergrund erscheinen und endgültig von einem göttlichen Helden mit dessen Wurfkeule getötet werden, der nun unter dem Namen Kərəsāspa (> Krišāsp) auftritt.46 Diese beiden iranischen Drachentöter-Figuren (θraētaona und Kərəsāspa) sind vermutlich einer älteren Gestalt entsprungen, die in der iranischen Mythologie als selbstständige Gottheit jedoch verblasst ist: Vərəθragna ‚Widerstands-Brecher > Sieg-Gott‘ tritt neben noch anderen Erscheinungen auch als goldhörniger Stier auf und ist mit seinem Namen die lautgesetzliche Entsprechung zu einem alles sagenden Beiwort des indischen Drachentöters Indra: Vƒtrahan ‚der VƒtraSchlagende‘. Der Drachenkampf war als ein bestimmendes Element in der iranischen Kosmogonie omnipräsent und zeigt hinsichtlich der einzelnen Motivgruppen teils große Übereinstimmungen zum vedischen Mythos: Nach der Herrschaft des Drachen, der Dürre verursacht (weil er alle Wasser 45 Nach: Hans Herzog: Schweizersagen. Für Jung und Alt dargestellt, Aarau 1871, S. 170–172. Theodor Vernaleken: Alpensagen, Wien 1858, S. 6–8. Meinrad Lienert: Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915. Johann Adolf Heyl: Volkssagen aus Tirol, 1897. 46 Vergleiche dazu auch das endzeitliche Erscheinen der apokalyptischen Drachendämonen aus dem Meer und aus der Erde: Offb. 13,1–13. Der „aquatische Stier“ in sich hält), wird dieser vom Heldengott mit seiner Blitzkeule zerschlagen, woraufhin die Gewässer befreit werden, die auffällig mit ‚Frauen‘ und ‚Kühen‘ verglichen bzw. gleichgesetzt werden. Der in seinen zeitweiligen Erscheinungen auch tauromorph gedachte Heldengott ehelicht die befreiten Frauen bzw. Kühe: eine Heilige Hochzeit, die den Regen verursacht und Fruchtbarkeit bringt. [-54-] Neben Vərəθragna (> θraētaona und Kərəsāspa) erscheint in avestischer Überlieferung (Yašt 8) auch der Sterngott Tištrya ‚der zum Dreigestirn Gehörige‘ als wohl eine urindogermanische Gestalt des Drachentöters. Tištrya tritt neben der Gestalt eines machtvollen Jünglings und eines weißen Pferdes mit goldenen Ohren wie Vərəθragna auch als goldgehörnter Stier auf (Yašt 8,6,16; im Vidēvdād 19,37 wird er als Stier mit goldenen Hufen zum Kampf gerufen). Im See Vourukaša, dem mythischen Weltozean, schlägt er nach zweimaligem Anlauf schließlich den für die Dürre verantwortlichen Wasserdämon Apaoša, woraufhin sich der segensvolle Regen ergießt (Yašt 8,18–29)47. Der See Vourukaša wogt nun und kocht über, Dämpfe erheben sich entlang des in der Mitte des Wassers stehenden Weltberges Ušindu, der, wie es scheint, mit der Gestalt Tištryas in Identifikation steht (Yašt 8,32). Womöglich ist die Erscheinung des Weltberges im Ozean die etwas verdeckt gehaltene literarische Gestaltung des Motives, wonach laut indogermanischem Mythos der Heldengott nach der Tötung des Ungeheuers den Himmel emporgehoben hat. In der armenischen Überlieferung ist Višap der große Gewitterdrachen, der dem heldenhaften Licht- und Schöpfergott Vahagn im Kampf erliegt. Ähnlich dem vedischen Indra, der als VƒtraTöter beschrieben wird, ist Vahagns Beiname Višapakał: ‚Višap-Töter‘.48 Starke Gewitter wurden im armenischen Volksglauben bis ins 20. Jhdt. mit dem Begriff Višap hanel bezeichnet: die ‚Drachen-Emporhebung‘. Schon der armenische Kirchenvater Eznik von Kołb schreibt im 5. Jhdt., dass der Drache Višap durch Ochsen in den Himmel gehoben wurde.49 Dieser mythischen Metapher für die furchteinflößenden Sturm- und Wetterphänomene dürfte aber auch der alte kosmogonische Gedanke inne liegen, wonach der tauromorphe Drachen-Töter nach seinem Sieg einen Teil des erlegten Ungeheuers als Himmel in die Höhe stemmt – die armenische Tradition hat diese ‚Drachen-Emporhebung‘ jedoch nicht im Kontext einer weltschöpferischen Aktivität überliefert sondern in ein atmosphärisches Ambiente übertragen. [-55-] 6.4. Slawische Überlieferungen Die Bilder vom kosmischen Wasserstier mit seiner Funktion des Erde- bzw. Welttragens wurde bei vielen balkan-slawischen Ethnien bereits erwähnt. Was sowohl die balto-slawischen wie auch balkan-slawischen Traditionen aber in weiterer Weise besonders mit den indo-iranischen Überlieferungen verbindet, ist der Mythos vom Drachenkampf. Gemeinhin ist es der slawische 47 Vgl. CarstenColpe et al.: Altiranische und zoroastrische Mythologie. In: Wörterbuch der Mythologie. Götter und Mythen der kaukasischen und iranischen Völker, Bd. 4. Hrsg. Haussig. Stuttgart 1986, S. 446/447. Albert Carnoy: Iranian Mythology, Boston 1917, S. 265–269. 48 K. Ishkol-Kerovpian: Mythologie der vorchristlichen Armenier. In: Wörterbuch der Mythologie. Götter und Mythen der kaukasischen und iranischen Völker, Bd. 4. Hrsg. Haussig. Stuttgart 1986, S. 149–151. Ananikian, Armenian Mythology, S. 43, 78. 49 Ananikian, Armenian Mythology, S. 77, 80 f. Ishkol-Kerovpian, Mythologie Armenier S. 155–157. Gerald Unterberger Donnergott Perun (litauisch: Perkūnas, lettisch: Pērkons)50, der seinen bösen Opponenten in Gestalt einer Schlange oder eines Drachen tötet. Charakteristisch für den slawischen Mythos ist weiters, dass der Drachenkämpfer im Himmel wohnt, auf dem Weltberg oder Weltbaum und mit diesem offensichtlich auch in Beziehung steht. Von dort stürzt er hernieder, um mit seiner Donner- und Blitzwaffe den Drachen Veles (baltisch: Velnias) zu töten oder zu begraben, der sich in einer tiefen Berghöhle oder in seiner untergründigen Wasserresidenz versteckt. Nach seinem Sieg befreit er die in der Höhle festgehaltenen Kühe, woraufhin es endlich regnen kann.51 Wie anderes kaum zu erwarten, sind für das oppositionelle Paar Perun : Veles auch andere Figuren in den unterschiedlichen slawischen Überlieferungen eingetreten. In slowenischen Mythen ist Gott Kresnik der Drachenkämpfer, der am Weltberg lebt, wo auch der Weltbaum mit goldenen Äpfeln an einer Quelle wächst, die Unsterblichkeit verleihen.52 Kresnik tritt im Kampf auch in Gestalt eines roten Stieres auf (vgl. dazu den roten Stier der dänischen Sagen, welcher gegen den Lindwurm kämpft). Wie also schon die indo-iranischen Kampfgötter gegen den Drachen in Gestalt eines (weißen bzw. goldgehörnten) Stieres oder auf einem Bullen reitend auftraten (Indra; Tištrya /Vərəθragna/θraētaona), so auch der slowenische Blitz- und Donnergott. Der enge Bezug zwischen dem slawischen Himmelsgott und dem Stier wird schon von Prokopius im 6. Jhdt. n. Chr. in De bello Gothico angedeutet, wo Stieropfer an den höchsten Gott der Slawen, welcher über die Blitze gebietet, erwähnt werden (III,14). Dazu stimmt weiters, dass auch dem heiligen Elias, slawischer Donnerheiliger und ‚christlicher Nachfolger‘ Peruns bzw. Kresniks, am Balkan noch bis ins 20. Jhdt. Stiere geopfert wurden.53 Wir erinnern uns dazu an Sima Trojanovićs [-56-] Bericht, wonach die alten Serben just am Tag des heiligen Georg oder Elias (Drachenkämpfer, Donnerheilige!) um Regen beteten, indem sie in den See, wo sie ihren Stiergott vermuteten, ein Opfer brachten. Aus Trojanovićs Notiz wird deutlich, dass diesem Wasserstier der Charakter des Regen und Fruchtbarkeit bringenden Gottes anhaftet, der einst seinen erfolgreichen Kampf gegen das ‚Wasser verbergende‘ Ungeheuer gefochten hat und deshalb auch im Ritual als aktualisierendes Schauspiel der mythischen Vorlage als der Regenbringer schlechthin verehrt wurde. Ebenso in diesen Kreis zu stellen ist wohl das aus Lettland überlieferte Stieropfer an den Stiergott im Fluss sowie die vielfach bezeugten Versenkungsopfer von Pferden und Stieren für Poseidon. 50 Åke Ström und Haralds Biezais: Germanische und Baltische Religion, Stuttgart 1975, S. 345. Radoslav Katičić: Nachlese zum urslawischen Mythos vom Zweikampf des Donnergottes mit dem Drachen. In: Wiener Slavistisches Jahrbuch 34, Jg. 1988, S. 57–75. Monika Kropej: Cosmology and Deities in Slovene Folk Narrative and Song Tradition. In: Studia Mythologica Slavica VI., Jg. 2003, S. 126–128, 131–133. 52 Zmago Šmitek: Kresnik: An attempt at a mythological reconstruction. In: Studia Mythologica Slavica I., Jg. 1998, S. 97–99, 100, 106. 53 Norbert Reiter: Mythologie der alten Slaven. In: Wörterbuch der Mythologie. Götter und Mythen im alten Europa, Bd. 2. Hrsg. Haussig. Stuttgart 1973, S. 190. 51 Der „aquatische Stier“ 7. Schluss und Zusammenfassung Die Gestalten des Wasserstieres wie auch der Wasserkuh erscheinen im indogermanischen Kontext als ein Ergebnis des kosmogonischen Drachenkampf-Mythos. - Der Held tritt vorwiegend tauromorph bzw. in affiner Beziehung zum Stier auf. - Er bestreitet den Kampf, tötet den Drachen, der damit das Wasser und das Licht frei lässt: Elemente, die personifiziert zur göttlichen Frau bzw. göttlichen Kuh werden, mit denen sich der Sieger anschließend zur Heiligen Hochzeit findet. - Daraus entsteht die segensreiche Nachkommenschaft, die gedanklich und literarisch den jeweiligen Umständen entsprechend so formuliert werden kann, dass es sich dabei um den fruchtbaren Regen handelt oder auch um eine charismatisch-heilbringende HerrscherPersönlichkeit, die künftigen Segen für alle bringen soll (vgl. Merowech als Begründer der Merowinger oder Minos als ersten König der Kreter). Dass es just Licht und Wasser sind, die in Gestalt dieser anthropomorphen wie theriomorphen Göttinen erscheinen, findet auch darin seinen Ausdruck, dass diese Wasserkühe gerne in den Farben des strahlend-rötlichen Lichts oder als ‚weiße Kuh‘ geschildert werden, wie die inselkeltische Wassergöttin *Bóvinda. Der Stiersieger ist als Bringer dieser Elemente in den gleichen Farben beschrieben: weiß, silbern, golden oder rot – im genauen Gegensatz zu seinem Gegner, der allenthalben als Schwarzer, Brauner oder Dunkler auftritt – und erscheint in seinem zweifachen Charakter als aggressiver Kämpfer und anschließend als wohltuender Fruchtbarkeitsbringer. Neben diesen Aspekten ist ihm nach dem Drachensieg aber auch eine kosmologische Funktion eigen: Denn er erschafft eine lebenswerte Atmosphäre, indem er die Welt baut, den Himmel stemmt und damit jenen Raum schafft, wo die Elemente Licht und Wasser wirken können. In dieser Funktion wird er zur ‚taurischen Weltsäule‘, die vom untergründigen Wasser in den Himmel reicht und diesen stützt. [-57-] Als Weltträger und -stabilisator kann der Wasserstier im Weiteren nun auch dann zum Erzeuger der Erdbeben oder sogar Verursacher des Kataklysmus werden, wenn er die Erde mittels seiner eigenen Gestalt oder der Weltsäule schüttelt. Aus dem ursprünglich im kosmogonischen Prozess aktiv wirkenden Stierhelden, Drachenkämpfer und Weltbauer wird der mehr oder weniger statische Atlant der untergründigen Sphären – im Übrigen nicht unähnlich zu seinem Gegner, der nach seinem Tod gleichsam nur noch das Substrat seines einstigen Selbst in Gestalt des relativ unwirksamen Okeanos darstellt. Die in den deutschen und inselkeltischen Sagen allenthalben erwähnte Aggressivität und besondere Paarungsbereitschaft des Wasserstieres mag zuletzt aus jenen Urmotiven herrühren, die der indogermanischen Gestalt eigen sind: Als tauromorpher Drachenkämpfer zeichnet sich etwa Indra durch Kampfeswut und Kampfeslust par excellence aus. Danach aber findet er sich zur Heiligen Hochzeit, die er nach seinem Sieg mit der oder den befreiten Frau/en ~ Kuh/Kühen eingeht. In diesem Sinne bringt er die fruchtbaren Wasser in die Welt, weshalb er auch mit dem Gewitter in Verbindung gebracht oder sogar als Regenbringer angefleht wurde – Simplicius wurde von einem Regensturm heimgesucht, als er das Reich des Stieres, den Mummelsee, vermessen wollte. Gerald Unterberger Der wiederholt aufgefallene Hinweis in den europäischen Sagen, dass die Seen, in denen die mythischen Stiere wohnen, entweder von unergründlicher Tiefe seien, bis an den Erdmittelpunkt reichten oder mit dem Ozean in Verbindung stünden, ist möglicherweise ein später und in dieser Form doch bewahrter Fortsetzer der mythischen Idee vom erduntergründigen Urozean, in dem sich dieser kosmologische Stier befindet. Auf den Seiten zuvor wurde versucht, dieses mythologische Grundthema mit seinen Splittungen und teils recht komplizierten und komplexen Verwobenheiten dort nachzuweisen, wo es anhand von literarischen und kultischen Überlieferungen aufzufinden war: vor allem in den indoiranischen und der griechischen Kultur sowie bei den Germanen, Kelten und Slawen als europäische Nachfolger des indogermanischen Kreises mit ihren anhaltenden Mythen- und Sagenüberlieferungen bis in die jüngste Zeit. Vor allem mit Hinsicht auf die teils großen zeitlichen wie räumlichen Klaffungen ist dabei nichts anderes zu erwarten, als dass in den Überlieferungen einzelner kultureller Traditionen manches in Vergessenheit geraten musste, dafür anderes wieder besonders fokussiert dargestellt und tradiert wurde oder Charaktereigenschaften, die ursprünglich eine Gottheit in sich vereinte, auf verschiedene göttliche Gestalten aufgeteilt wurden. Und natürlich mussten sich im Laufe von Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden Weiterentwicklungen dieses mythischen Themas bzw. Kontaminationen mit anderen Mythenmotiven ergeben – all das vor dem Hintergrund teils völlig unterschiedlicher gesellschaftlicher oder geistiger Ordnungen, innerhalb [-58-] welcher der besagte Mythos bei den unterschiedlichen Kulturen lange fortgelebt hat. Trotz allem scheint der kosmogonische Drachenkampfmythos und der wohl genuin damit in Zusammenhang stehende kosmologische Mythos vom Wasserstier mit ihren teils signifikanten Übereinstimmungen seit Jahrtausenden bei den indogermanischen Nachfolge-Kulturen als religiös-geistiges und kultisches Erbgut bewahrt worden zu sein. In diesem Sinne – mit Bezug auf die mythische Gestalt des Wasserstieres – zieht etwa Helmut Birkhan unter Anbetracht der mannigfaltigen literarisch-mythologischen Überlieferungen, der Wortgleichungen zwischen Stier und Fluss sowie archäologischer Indizien den Schluss: „Deutlich greifbar sind auch die in indogermanische Zeit zurückführbaren Beziehungen des Stiers zum Wasser; sie drücken sich in taurophoren Flußnamen aus: z. B. Tarf in Schottland, [...] Weiters in der ir. Gestalt des ‚Wasserstieres‘ tarbh uisge.“54 In ähnlicher Erwägung äußert sich auch Bernhard Maier zum Thema, wenn er schreibt: „Sollten die inselkeltischen Sagen vom ‚Wasserstier‘ letzten Endes auf mythologische Vorstellungen zurückgehen, die im Zusammenhang mit der Neolithisierung vom Vorderen Orient nach Europa gelangten?“55 Natürlich ist dabei auch festzuhalten, dass nicht in allen Überlieferungen, wo Gestalten des Mythos, einzelne Motive oder Fragmente davon in Erscheinung treten, diese gleichsam automatisch 54 55 Birkhan, Germanen und Kelten, S. 280 (Anm. 599). Bernhard Maier: Die Religion der Kelten. Götter–Mythen–Weltbild, München 22004, S. 102. Der „aquatische Stier“ oder apodiktisch als ‚indogermanisches Erbgut‘ zu betrachten wären. Mit Gewissheit sind solche Parallelen auch auf Entlehnungen zurückzuführen, die vermutlich auf verschiedenen Wegen und aus zuweilen sehr unterschiedlichen Epochen stammend sich wahrscheinlich auch mehrfach überkreuzt und verschnitten haben. Zmago Šmitek sieht etwa mit Hinsicht auf den slawischen Mythos einen „Indo-European prototype“ in der Gestalt des slowenischen Kresnik: [...] „illustrated by Yima of Old Iran and by Yama, his double from Old India, and later – to a certain degree – also Mithra […].”56 Aufgrund der seiner Ansicht nach teils besonders signifikanten Übereinstimmungen zwischen dem altiranischen und slawischen Mythos vermutet er zuletzt aber eher eine direkte Beeinflussung: „In principle Kresnik could also be the result of an independent derivation from Proto-Indo-European heritage, but words for important religious notions in Slovene, which were borrowed from Iranian, indicate direct cultural influences from that area. There are hypotheses about a close connection between Scytho-Iranian tribes along the Volga river and Eastern [-59-] Iran, the homeland of the Avesta. Max Vasmer established that the etymology of numerous place names in southern Russia was Iranian. According to him the predominantly Iranian population settled the southern Russian steppes at least between the 8th century B.C. and the 4th century A.D. Aside from some Slavic tribes there were also other mediators and transmitters of Iranian cultural elements, i.e. Scythians, Sarmathians, Alans, and Eastern Goths.”57 Über eine solche iranisch-slawische Vermittlung können Mythen- und Sagenmotive über längere Zeiträume auch in die mittel- und westeuropäischen Länder gedrungen sein. Mit weiterem Augenmerk auf die Möglichkeiten verschiedener Entlehnungen ist wie im Falle der Interrogatio Johannis aber natürlich auch an mittelalterliche Texte zu denken, die östliches Gedankengut in den zentraleuropäischen Raum brachten, wo es sich in Form von Legenden oder Sagen manifestieren konnte. 56 57 Šmitek, Kresnik, S. 100. Šmitek, Kresnik, S. 115.