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Urbane Räume im Spannungsfeld der digitalen Entwicklung

Urbane Räume im Spannungsfeld der digitalen Entwicklung - Hausarbeit - Verfasser Rossano Della Ripa Wettersteinstr. 72, 90471 Nürnberg [email protected] Matrikel-Nr. 6505430 Studiengang Master Soziologie: Individualisierung und Sozialstruktur Modul Sozialstruktur und Individualisierung in der urbanen Welt (Modul 5a) Hochschule FernUniversität Hagen Prüfer Prof. Dr. Dr. Lothar Bertels Abgabetermin 09.04.2014 Urbane Räume im Spannungsfeld der digitalen Entwicklung Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung ................................................................................................ 3 2. Forschungsstand und theoretischer Rahmen........................................4 3. Der durch die Digitalisierung gefährdete urbane Raum……………. 7 3.1 Begriffliche Klärungen und Eingrenzungen……………………………. 7 3.2 Sennett meets Bytes – Der Verfall zweier moderner Hoffnungen……… 8 3.2.1 Urbane Räume zwischen Smart City und Überwachung…………… 9 3.2.2 Big Data – Landnahme der digitalen Überwachung………………..11 4. Emanzipation durch Raum und Netz……………………………….. 13 4.1 Die Wiedergewinnung des öffentlich-urbanen Raums…………………13 4.2 Urbane Räume – „Disorder“……………………………………………14 4.3 Wireless Revolution? – Empirische Aspekte zur urbanen Emanzipation………………………..15 4.3.1 Der digitale Raum als Wiederentdeckung des verlorenen Platzes…16 4.3.2 Mit der Vernetzung zur multiplen Raumgebundenheit.....................17 5. Resümee.................................................................................................. 19 6. Inhaltsverszeichnis............................................................................. 7. Erklärung..................................................................................................27 21 2 Urbane Räume im Spannungsfeld der digitalen Entwicklung „Auf der Karte deines Imperiums, o großer Khan, müssen ebenso das große Fedora aus Stein wie die kleinen Fedoras in den Glaskugeln Platz finden. Nicht weil sie alle gleich real, sondern weil sie alle nur angenommen sind. Das eine birgt das für notwendig Gehaltene, während es dies noch nicht ist; die anderen das als möglich Erdachte, was es eine Minute später nicht mehr ist.“ Calvino (2004), S. 39 1. Einleitung In den letzten Ausgaben der englischen Zeitschrift „The Economist“ wurden ganzseitige, wirtschaftsorientierte Werbungen für die Stadt Barcelona veröffentlicht. Neben den allgemeinen Vorzügen dieser aufstrebenden Stadt wird vor allem mit der dortigen technischen Entwicklung beworben. Diese soll laut der Werbeanzeige vor allem die neuen Medien und die digitale Ausrichtung der städtischen Modernisierung betreffen und aus der spanischen Metropole eine „one of the world’s top 10 ‚smart cities‘“ (The Economist 2014, S. 77) machen: „The installation of sensors and communication platforms enables leading-edge digital systems to cover traffic control, municipal bike lending, security cameras and other facilities. […] A digital identity system that allows citizens anywhere to identify themselves remotely and securely by means of a digital ID in their mobile phone.“ (ebd.) Auf der anderen Seite des Mittelmeers versucht der türkische Präsident Recep Erdoğan digitale Plattformen zu unterdrücken und deren Erreichung zu unterbinden: Die BenutzerInnen dürfen sich nicht über Youtube oder Twitter verbinden können. Sollen mit diesem Schritt neue, weitreichende Erhebungen verhindert werden, wie sie im Zuge des geplanten Abbaus eines Istanbuler Parks 2013 entstanden sind? Diese einleitenden Bilder sollen dazu dienen, die Möglichkeiten der digitalen Ausrichtung einer städtischen und urbanen Entwicklung zu verdeutlichen. Auf der einen Seite die wirtschaftliche „Urbarmachung“ eines sicherlich nicht für wenige noch bestehenden „Neulands“, auf der anderen Seite die Furcht vor einer von der Digitalisierung zumindest verstärkten, angenommenen Unkontrollierbarkeit kollektiver Handlungsstränge. Die folgende Studienarbeit möchte aus den obigen Beobachtungen heraus den Einfluss des digitalen Raums auf die urbane Entwicklung näher untersuchen. Die oben genannten Beispiele deuten bereits auf ein 3 Urbane Räume im Spannungsfeld der digitalen Entwicklung Spannungsfeld hin, welches aus der digitalen Technologisierung und deren Nutzung entsteht bzw. entstehen kann. Zuletzt hatten die Enthüllungen um die „NSA-Affäre“ und Edward Snowden einer breiten Öffentlichkeit aufgezeigt, wie brüchig die Verheißungen und Träume rund um das Internet sind. Von dieser Situation ausgehend wird, nach einem Überblick der Raumforschung, der Formulierung der Arbeitsthesen, der begrifflichen Eingrenzung und Bestimmung, Mithilfe einer Sennett’schen Theoriefolie dem zuvor dargestellten Spannungsfeld im urbanen Raum nachgegangen werden. Empirisch werden Prozesse und Technologien dargestellt, die die Verbindung des urbanen und digitalen Raums verdeutlichen sollen. 2. Forschungsstand und theoretischer Rahmen Urbane Räume, digitalisierte Räume – wie können diese Begriffe soziologisch erfasst werden? Müssen wir davon ausgehen, dass in ferner Zukunft der gesehene Beton in der Stadt genauso irreal ist wie eine soziale Plattform, in der zur Empörung und Demonstration aufgerufen wird? Vor über einem halben Jahrhundert mahnte Albert Einstein, den Begriff des Raums differenziert zu betrachten und nicht lediglich von einem absoluten Raum auszugehen, der als metaphysische, schon immer vorhandene „selbständige Ursache“ (Einstein 1960, S. XIV) fungiert: „Es hat schweren Ringens bedurft, um zu dem für die theoretische Entwicklung unentbehrlichen Begriff des selbständigen und absoluten Raumes zu gelangen. Und es hat nicht geringerer Anstrengung bedurft, um diesem Begriff nachträglich wieder zu überwinden – ein Prozeß, der wahrscheinlich noch keineswegs beendet ist.“ (Einstein 1960, S. XIVf.) Diese Adresse ist an eine physikalische Abhandlung gerichtet – wie geht man nun für hiesige Belange in der Soziologie mit der Dimension des Raums um? Der Prozess eines weiterentwickelten Raumverständnisses scheint in der Tat, wie der schwäbische Nobelpreisträger für die Physik urteilte, für die Soziologie noch nicht abgeschlossen zu sein. So stellte Markus Schroer (2006, S. 17) vor acht Jahren noch fest: „Der Raum spielt traditionell in der soziologischen Theoriebildung keine wesentliche Rolle. Lässt man die einzelnen Theorieschulen Revue passieren, wird schnell deutlich, dass er allenfalls am Rande vorkommt“. Mittlerweile wird der „spatial turn“ – dieser füge sich nach Walter Siebel (vgl. 2013, S. 245) im sozialwissenschaftlichen Paradigma des „cultural 4 Urbane Räume im Spannungsfeld der digitalen Entwicklung turns“ ein – in den Sozialwissenschaften diskutiert, wie eine aktuelle Debatte zwischen Martina Löws „Darmstädter Schule“ und Walter Siebel1 zeigt. Der Paradigmenwechsel des „spatial turns“2 wendet sich gegen die ausschließliche Sicht eines „absolutistischen Behälter-Raumkonzepts“ (Schroer 2006, S. 174), der nicht nur „als selbständiges Ding neben den körperlichen Objekten eingeführt, sondern es wird ihm im ganzen kausalen Gefüge der Theorie eine absolute Rolle zugeschrieben. Absolut ist diese Rolle insofern, als er (als Inertialsystem) zwar auf alle körperlichen Objekte wirkt, ohne daß diese auf ihn eine Rückwirkung ausüben“. (Einstein 1960, S. XIV) Martina Löw geht als deutschsprachige Repräsentantin der aktuellen Raumperspektive3 von einer relationalen Strukturierung von Räumen aus. Ihr handlungstheoretisches Konzept lehne sich zunächst am Gidden’schen Topos der Dualität von Handeln und Strukturen (vgl. Löw et al. 2008, S. 63f) an. Diese Dualität soll den Raumkonzept insofern beschreiben, als Räume „nicht einfach nur existieren, sondern dass sie im Handeln geschaffen werden und als räumliche Strukturen, eingelagert in Institutionen, Handeln beeinflussen können“ (a.a.O., S. 63). Diese Dualität wird in ihrer Konzeption des spacings und der Syntheseleistung erkennbar. Durch Ersteres würde Raum durch Platzierungen von Menschen und (sozialen) Objekten konstituiert werden, Letzteres meine die notwendige Verknüpfung zu Wahrnehmungs- und Erinnerungsprozesse zum Zusammenfassen von Räumen (vgl. a.a.O., S. 64; s. auch Löw 2001, S. 158ff.). Diese Dualität wird im von Löw durchgängig benutzten Begriff der „(An)Ordnung“ (Löw 2001, S. 158) fokussiert: Die Anordnung als aktive Syntheseleistung, die Ordnung als – in Institutionen – kristallisiertes Platzierte. Dabei betont die Soziologin die prozesshafte und wechselwirkende Gleichzeitigkeit dieser Räume konstituierenden Ebenen. Markus Schroer setzt die Kritik an Löws Konzept an der Überwindung bzw. a priori Verneinung eines absoluten Raums. Dieser eigne sich weiterhin, um vor allem Macht- und Konfliktprozesse zu verorten: „Im Rahmen einer Container-Theorie kann eine Raumstelle nur von einem Objekt, Ding oder Mensch eingenommen werden, sodass die Einnahme ebendieser Raumstelle durch ein zweites Individuum nicht vonstatten gehen kann, ohne den früheren Besitzer dieser Raumstelle zu vertreiben, was zumeist nicht ohne Streit, Kampf und Gewaltanwendung abgeht.“ (Schroer 2006, S. 175) 1 S. hierzu den Schwerpunkt in der Zeitschrift Leviathan, Band 2/2013 mit Beiträgen von Sybille Frank et al. (2013), Helmut Berking (2013) und Walter Siebel (2013). 2 Im weiteren Verlauf bezieht sich diese „Raumwende“, wenn nicht anders genannt, auf die Soziologie. Dieser Perspektivenwechsel hat nicht nur die sozialen, sondern auch andere Wissenschaften wie die Geschichtswissenschaft und die Geographie erfasst. An dieser Stelle sei an das Kompendium von Jörg Döring und Tristan Thielmann (2008) hingewiesen. 3 So Döring (2010, S. 95) und Döring/Thielmann (2008, S. 10 Fn. 18). 5 Urbane Räume im Spannungsfeld der digitalen Entwicklung Schroer plädiert, vielfältige Raumkonzepte zu erhalten bzw. zu benutzen, und nicht den Blick auf ein einzig gültiges Paradigma zu versteifen. So könne sich im relationalen Raumbegriff einen „Raumvoluntarismus“ (ebd.) entwickeln, der den Einfluss des Raumes auf Handlungen und Kommunikationen unterschätzen würde: „Raum prägt unser Verhalten und drückt ihm seinen Stempel auf“ (a.a.O., S. 176). Allerdings muss hier gefragt werden, ob dieser Aspekt in Löws Dualität dennoch nicht implizit zum Tragen kommt4. Dafür spricht, dass Raum in diesem Verständnis eben deshalb absolut wirkt, da bereits Syntheseleistung und Platzierung bereits den Raum stabilisiert haben5. Dieses Spannungsfeld zwischen absolutem und relationalem Raum ist, wie bereits erwähnt, weiterhin Gegenstand der Diskussion, welche den Forschungsund Meinungsstand um den Raum bis heute prägt. Nach Löw et al. (2008, S. 51) lässt sich somit Raum als „eine Organisationsform des Nebeneinanders [beschreiben; d. Verf.], ebenso wie man mit dem Begriff der Zeit eine Formation des Nacheinanders benennt. Räume bezeichnen somit eine Relation zwischen gleichzeitigen Platzierungen. Dieses Platzierte (auch im Sinne von Gewachsenem, Gebautem, Gepflanztem) muss, um als Raum wahrgenommen zu werden, im Plural auftreten. Nicht das Objekt ist Raum, sondern Raum spannt sich zwischen Objekten auf. Raum ist also der Inbegriff der Gleichzeitigkeiten […]. Wer Räume analysiert, richtet das Augenmerk stets auf die Differenz, die gegenseitigen Verflechtungen und ihre Veränderungen.“ Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird auf den hier vorgestellten Begriff des relationalen Raums rekurriert. Es wird an dieser Stelle angenommen, dass sich die (An)Ordnung digitalisierter Prozesse und Techniken im urbanen Bereich im Spannungsfeld zwischen konstituierten Räumen und der Möglichkeit zur Schaffung bzw. Veränderung räumlicher Arrangements bewegt und zum Teil eng miteinander verflochten ist. So soll diese Arbeit die folgenden, leitenden Thesen nachprüfen, inwieweit die Digitalisierung in urbanen Räumen sowohl das Private als auch das Öffentliche gefährdet, diese aber im Gegenzug kompensatorisch einen von den Akteuren konstituierten (Handlungs-)Raum, eine „digitale Agora“, ermöglicht. 4 Ein etwas anderer, konstruktivistischer Ansatz ist die Raumdualität Manuel Castellsʼ der „spaces of flows, spaces of places“, welcher an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden kann. Dieser Ansatz scheint in der angelsächsischen Soziologie eine stärkere Rolle zu spielen, obwohl dieser als nicht mehr haltbar erachtet wird (vgl. Burrows/Beer 2013, S. 61). Der Schwerpunkt sollte hier in diesem begrenzten Rahmen auf die deutschsprachige Diskussion gesetzt werden. Für weitergehende Vertiefung s. Castells (2004) und Castells (1989). 5 Um eine Äußerung von Bruno Latour zu obigem Zwecke zu paraphrasieren: Räume sind stabilisierte Gesellschaft. 6 Urbane Räume im Spannungsfeld der digitalen Entwicklung 3. Der durch die Digitalisierung gefährdete urbane Raum In der Diskussion um die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien tauchen immer wieder dystopische wie utopische Bilder und Hoffnungen auf, was den Einfluss dieser Techniken auf die Alltagspraxis angeht. So konstatieren Hartmut Häußermann und Walter Siebel bereits 1987, dass die Digitalisierung den urbanen Raum noch mehr privatisiere und Exklusionen und Isolationen schaffe (vgl. Häußermann/Siebel 1987, S. 216). Andererseits wird den neuen, netzfähigen Technologien durchaus auch positives Entwicklungspotential für urbane Räume zugesprochen, welches einen erweiterten Handlungs- und Erfahrungsraum ermöglichen würde (vgl. Schroer 2006, S. 212). In diesem Kapitel soll im Rahmen der ersten Teilthese die Verflechtung zwischen Digitalisierung und urbanen Raum dargestellt werden, welche diesen tendenziell gefährdet und seiner Eigenschaften entmächtigt. 3.1 Begriffliche Klärungen und Eingrenzungen In Anlehnung an Hans-Paul Bahrdt bewegt sich nach Siebel (vgl. 2003, S. 14) die Lebensweise, die den urbanen Raum entscheidend mitkonstituiere, innerhalb der Polarität zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Allerdings kann man laut Löw et al. (2008, S. 19) diese Polarität nicht als dichotomisches „Entweder-Oder“ verstehen: „Öffentlichkeit und Privatheit sind – anders als z.B. in der antiken Polis – kein durchgreifendes Organisationsprinzip“. Und auch Bahrdt (1998, S. 36f.) konstatiert auf die Frage, „wo die Grenze zwischen privater und öffentlicher Sphäre divergierende Interessen bestehen. Hieraus entstehen nicht sondern auch ideologische Verunklärungen und, im Hinblick Struktur des städtischen Raums, objektiv >>unklare<< und Zonen.“ zu liegen hat, nur Konflikte, auf die soziale problematische Siebel schlägt demnach fünf untereinander oszillierenden Dimensionen vor, in denen man analytisch diese Polarität einordnen könne (vgl. Siebel 2003, S. 14): Eine soziale, funktionale, juristische, materiell/symbolische und normative Dimension. Diese Dimensionen sind mit der Definition von Öffentlichkeit kompatibel, nach der „ein Deutungsmuster verstanden [wird; d. Verf.], dass auf Räume bezogen wird, die interaktiv und kommunikativ profiliert sind eine soziale Durch-mischung fördern und Prozesse der Meinungsbildung vorantreiben“ (Löw et al. 2008, S. 22). Anhand dieser Dimensionen soll es 7 Urbane Räume im Spannungsfeld der digitalen Entwicklung möglich sein, die verschiedenen Räumen und sozialen Strukturen nachzuzeichnen, die wegen einer Verschränkung von Sphären und des Kontinuums Öffentlichkeit-Privatheit nicht nach reinen Polaritäten sezierbar sind. Anhand dieser konzeptionellen Verständnisse kann klar werden, dass es sowohl die Öffentlichkeit als auch die Privatheit nicht geben kann. Folgerichtig spricht Ernst Hubeli (2003 S. 49f.) von einem „Universum von Teilöffentlichkeiten“ 6. Wie kann nun unter diesen Prämissen ein gefährdeter und „verfallender“ öffentlicher Raum eingeordnet werden? 3.2 Sennett meets Bytes – Der Verfall zweier moderner Hoffnungen In seinem Werk „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“ zeigt Richard Sennett (1983) in einer erzählerischen Darlegung7, wie die urbanen, städtischen Räume im Zuge einer individuellen Einkehr nach Innen – „Der Narzißmus ist die protestantische Ethik von heute“ (a.a.O., S. 373) – zunehmend ihre definitorische Rolle durch den Öffentlichkeitscharakter verlieren: „Ich kehre hier gewissermaßen die Argumentation von David Riesmans Buch Die einsame Masse um. Riesman stellte der >>innen-geleiteten<< Gesellschaft, in der die Menschen handeln und Verpflichtungen eingehen, indem sie auf innere Strebungen und auf Gefühlsregungen eingehen, eine >>außen-geleitete<< Gesellschaft gegenüber, in der diese Regungen und Verpflichtungen davon abhängen, wie die Menschen die Einsichten der anderen einschätzen. […] Diese Reihenfolge müßte meiner These zufolge umgekehrt werden. Die westlichen Gesellschaften befinden sich auf dem Weg von in gewissem Sinne außengeleiteten zu innen-geleiteten Verhältnissen […].“ (a.a.O., S. 17) Diskurse und Darstellungen in der Öffentlichkeit werden nach Sennett zunehmend intimisiert und personalisiert. Dies führe dazu, dass dadurch ein öffentlicher Ausdruck zunehmend in Richtung der Privatheit verlagert wird und das urbane Gleichgewicht zwischen öffentlichen und privaten Räumen gestört wird (vgl. Schroer 2005, S. 252). Die verführende „Tyrannei der Intimität“ (Sennett 1983, S. 379) engt zunehmend die zwischenmenschlichen Beziehungen auf eine Perspektive und läuft auf die „Lokalisierung der menschlichen Erfahrung, ihre Beschränkung auf die nächste Umgebung hinaus […]“ (a.a.O, S. 380). Doch begünstigt diese Entwicklung die Bildung homogener Gemeinschaften, die dem Credo einer urbanen, öffentlichen Sphäre 6 Eine weitergehende Diskussion um den öffentlichen Raum kann an dieser Stelle aus Platzund Konzeptionsgründen nicht weitergeführt werden. Es sei aber an Jürgen Habermasʼ (2013) Werk über die bürgerliche Öffentlichkeit verwiesen, sowie die Rezeption und Diskussion seiner Ausführungen bei Lutz Wingert und Klaus Günther (2001). 7 So das Urteil von Schroer (2005, S. 263): „Richard Sennett ist ein Erzähler“. 8 Urbane Räume im Spannungsfeld der digitalen Entwicklung diametral entgegengesetzt sind und als Pol zu dieser fungieren könnten? Zwar entstünden als Pol tatsächlich Interesse geleitete Gemeinschaften, doch die Zentrierung persönlicher Inhalte im Austausch zerstöre zunehmend die Privatheit selbst (vgl. a.a.O., S. 19). Der öffentliche Raum, der zusätzlich durch den konsumorientierten-funktionellen Zwang der Durchquerung anstatt des sozialen Verweilens zugesetzt wird, stirbt ab – übrig bleibt lediglich ein Korpus Gemeinschaft bezogener Beziehungen, die ebenfalls die Privatheit nicht garantieren können. Zuletzt verlieren die Menschen, durch die Überwindung des öffentlichen und privaten Pols die politische Gestaltungsfähigkeit – in einer Welt zunehmender Vernetzung: „Wir wissen, daß Macht und Herrschaft mit nationalen und internationalen Interessen, mit ethnischen und Klassen-Gegensätzen, mit Konflikten zwischen Regionen und Religionen zu tun haben. Aber wir handeln nicht nach diesem Wissen.“ (Sennett 1983, S. 381) Somit verfallen nach Sennett die zwei großen Hoffnungen urbaner Entwicklung: Der Pol Öffentlichkeit-Privatsphäre und die emanzipative Kraft der städtischen Moderne. 3.2.1 Urbane Räume zwischen Smart City und Überwachung „In der Morgenstadt werden Personen zu Sensoren, weil sie durch ihr Handy jederzeit lokalisierbar sind. […] Das eröffnet ungeahnte Möglichkeiten, die heute noch kaum vorstellbar sind. Man kann die Informationen dazu nutzen, an jeder Ecke auf digitalen Werbeflächen die passenden Angebote einzuspielen, aber auch für die Planung der Infrastruktur oder für Aufgaben wie den Katastrophenschutz.“ (Bullinger/Röthlein 2012, S. 229) Die Informations- und Kommunikationstechnologien (kurz: IKT) werden in einer fiktiven „Morgenstadt“ eine „überragende Rolle“ spielen, so Hans-Jörg Bullinger und Brigitte Röthlein (ebd.) in einer populär-wissenschaftlichen Zusammenfassung eines Forschungsprojekts der Fraunhofer-Gesellschaft zur Zukunft der Stadt. Was steht nach den oben angedeuteten technologischen Möglichkeiten soziologisch auf dem Spiel? Nach Nigel Thrift und Shaun French (2002, S. 309) nichts Geringeres als „a new form of automated spatiality“, in welchem informatische Algorithmen zunehmend handlungswirksam werden. Die IKT entwickelt sich nach Roger Burrows und David Beer vom „augmented space“ über den „enacted space“ schließlich zum „transducted space“. Während erstes geprägt sei durch sichtbare elektronische Objekte und in dem sich physische mit virtuellen Objekte überlappten, verschmelzen im letzteren zunehmend die Grenzen menschlicher und technischer Wirksamkeit (vgl. Burrows/Beer 2013, S. 72ff.). Und weiter: 9 Urbane Räume im Spannungsfeld der digitalen Entwicklung „The result of this […] is the radical transformation of urban spaces as the mobility and connectivity of technologies pose unprecedented challenges and opportunities to humans moving within an intelligent and context-aware environment.“ (a.a.O., S. 74) Ausschlaggebende technische Entwicklungen, die diesen membranen Raum mitkonstituieren können, werden zunehmend unsichtbar bzw. miniaturisiert: Sensoren, RFID8, WLAN-Netztechnologien. Träger dieser Techniken sind nicht nur „urbane Empfänger“, sondern insbesondere die BenutzerInnen der modernen technischen Artefakte wie ein Smartphone. Folgerichtig sprechen Mike Crang und Stephen Graham (2007) aufgrund dieser ubiquitären, sich zunehmend selbststeuernden und das menschliche Verhalten aufzeichnenden Technik auch von „Sentient Cities“, fühlende Städte9. Unter dem Konzept der „Smart City“ versteht man die Bündelung und Errichtung „allgegenwärtiger, unsichtbarer Computernetze, die Funktionen der Stadt steuern sollen“ (Hatzelhoffer 2011, S. 52). Allerdings unterscheiden sich nach Neirotti et al. (2014) in einer aktuellen Studie die urbanen Konzeptionierungen und Herangehensweisen zum Teil erheblich. Deshalb kann man als gemeinsamen, definitorischen Nenner Smart Cities charakterisieren über „a pervasive use of Information and Communication Technologies (ICT), which, in various urban domains, help cities make better use of their resources. However, ICT-based solutions can be considered as just one of the various input resources […] that have the aim of improving the economic, social and environmental sustainability of a city.” (Neirotti et al. 2014, S. 25) Die italienische Forschergruppe zeigt nach der Analyse weltweiter Millionenstädte allerdings auf, dass die Installierung von IKT vor allem die „harten Faktoren“ des urbanen Lebens betreffen. So konzentrierten sich PlanerInnen vornehmlich auf die Nachhaltigkeit des Transport- und Logistikwesens, der Energieverteilung und Müllentsorgung (vgl. a.a.O., S. 26). 8 Radio Frequency Identification, hierbei handelt es sich um mittlerweile „beschreibbare“ Funkchips, die von Sensoren erkannt werden können. Eine alltägliche Nutzung findet sich z.B. in Bibliotheken, wo Leihmaterial damit gekennzeichnet wird, die Leihe per Automaten möglich macht und ein Diebstahlversuch die Alarmanlage beim Verlassen der Bibliothek ertönen lässt. 9 Ein ähnlicher Begriff ist die Ambient Intelligence. Darunter versteht man die unmittelbaren menschlichen Umwelten, die sich aufgrund einer technischen Vernetzung auf den eintretenden Menschen einstellen können, solang dieser über einen kompatiblen Datensender verfügt (Handy oder RFID z.B.). Ein alltägliches, wenn auch noch nicht so ausgereiftes Beispiel ist die Funktion des SmartHome, welche die meisten Router wie die Fritz!Box im Haushalt unterstützen. Hierüber kann man neben PCs oder Handys netzfähige Heizungen, Lampen oder Fernseher bündeln und zum Beispiel von außen über das Netzwerk remote-steuern oder aufeinander abstimmen. 10 Urbane Räume im Spannungsfeld der digitalen Entwicklung Vor allem südostasiatische Großstädte weisen nach ihnen einen sehr hohen Grad an ubiquitärer Netztechnik auf, der vor allem in den Bereichen Transport, Gebäude und Energie Spitzenwerte erreicht. Demgegenüber sind Entwicklungen in der politischen und sozialen Innovation dort am wenigsten ausgeprägt. Das Forcieren von technologischen Smart City-Konzepten10 bei gleichzeitiger Schwächung der Partizipationsmöglichkeiten sieht Lena Hatzelhoffer (2011, S. 55) vor allem im südostasiatischen Verständnis des Poles Öffentlichkeit-Privatheit verankert: „Vor dem Hintergrund der in Deutschland geführten Debatte um Sicherheit und Überwachung in öffentlichen Räumen ist die Umsetzung einer Vision, wie New Songdo sie repräsentiert, bisher unvorstellbar. […] Das Individuelle wird in Korea nicht über das kollektive Interesse und Wohl gestellt – das Opponieren gegen Entwicklungsmaßnahmen wie im Bereich der IKT, die dem Staat und dem öffentlichen Interesse dienen, ist in der koreanischen Gesellschaft nicht stark verankert. In der Öffentlichkeit koreanischer Städte wird wenig Privatheit erwartet.“ Neirotti et al. (2014, S. 34) resümieren generell: „Rather than reaching a good level of democracy and quality of life, these cities could turn into panoptical environments in which the citizens are persistently observed and scrutinized”. Das Konzept der digitalisierten, intelligenten Stadt zeigt also auf, dass das Organisationsprinzip entlang funktionalistischer11 Vorgaben Öffentlichkeit nicht stärken muss, sogar vielleicht ein partizipatives und diskursives Miteinander gar nicht vorsieht und zu Lasten der sozialen Sphäre der Privatheit und der politischen Dimension der Öffentlichkeit geht12. 3.2.2 Big Data – Landnahme der Überwachung In einer aktuellen Analyse in den „Blättern“ zeichnet der Politologe Elmar Altvater (2014, S. 83) ein äußerst dystopisches Zukunftsbild der Informationsgesellschaft: „Mit den Informationstechniken eines neuen Erdzeitalters nehmen die Geheimdienste Zugriff auf digitalisiertes Wissen, mit 10 Als ein „Paradebeispiel“ kann Songdo in Südkorea gelten, eine neuentstandene Stadt nach Smart City-Konzepten: www.songdo.com. Überblicksartig und mit interessanten Bildern wartet die Zeitschrift Bauwelt, Bd. 24, Jahr 2011, mit einem Schwerpunkt „Virtuelle Städte“ auf, in dem die vielfältigen Möglichkeiten der urbanen Digitalisierung dargestellt werden. 11 An dieser Stelle sei an die Siebelʼschen Dimensionen im Kapitel 3.1 erinnert. 12 Auch Michael Jaeckel und Karsten Bronnert (2013; hier v.a. Kap. 5.6) mahnen aus ökonomischer Sicht die Partitzipation der BürgerInnen an, um die Akzeptanz von urbanen IKTs zu stärken. Insgesamt legen die Autoren mit ihrem Band ein äußerst wirtschaftsorientiertes Smart City-Konzept vor, welches Überwachungs- und Gefährdungsmöglichkeiten bzw. deren Vorbeugung kaum thematisiert. Kritisch ist hierbei vor allem ihr eHealth-Konzept zu sehen. In der Vernetzung gesundheitsorientierter Dienste mit dem sensorisch festgestellten Verhalten und den Körpersignalen der vernetzten UserInnen werden letztendlich die Datenhoheit und die gesundheitlich gültigen Standards verschleiert (s. hierzu Kivits 2013) 11 Urbane Räume im Spannungsfeld der digitalen Entwicklung dem sie die Geschicke der Menschheit kontrollieren können“. Was Altvater umtreibt, ist der Umstand, dass beim Benutzen netzfähiger Gerätschaften die gesendeten Daten nicht nur gespeichert, sondern durch zum Teil relativ einfache Algorithmen wieder zusammengesetzt werden können: „Bei Big Data handelt es sich […] um eine Sammelbezeichnung für umfangreiche Datenbestände, die zumeist im Rahmen einer Zweitverwertung zusammengeführt, verfügbar gemacht und ausgewertet werden.“ (Weichert 2013, S. 133) Im Rahmen dieser Zweitverwertung bzw. Metadatenanalyse können Verhaltensweisen und Identitäten rekonstruiert oder sogar vorhergesagt werden. So konnten Kosinski et al. (2013) in einer Studie durch die Rückführbarkeit der gegebenen „Likes“ bei Facebook z.B. auf das politische Wahlverhalten oder der ethnischen Zugehörigkeit der Likes-GeberInnen nachweisen. Gerade die Entwicklung in Richtung eines „transducted space“ mit den vielfältigen technischen Möglichkeiten potenziert sogar die Fähigkeit zu einer prädiktiven Wahrscheinlichkeitsaussage13. Im Rahmen einer Überblicksstudie stellen Crang und Graham (2007) das US-Forschungsprojekt „New Manhattan Project“ zur Zusammenführung von städtischen Überwachungsdaten auch aus Sensoren und Empfängern im Rahmen von Smart City- und Ambient Intelligence-Projekten vor. Das Projekt, welches am militärischen Atomwaffenprojekt während des Zweiten Weltkrieges angelehnt ist – und sicherlich nicht zufällig den Namen eines der bekanntesten urbanen Räumen der Welt im Titel trägt –, benennt folgendes Ziel als prioritär für das laufende Jahrhundert: „The technological unveiling of cities and urban life“ (Crang/Graham 2007, S. 800). Das Projekt, welches dann zuerst in besetzten irakischen Städten mit dem Titel “Combat Zones that See” versucht wurde, „saw possibilities to exploit ubiquitous computing technologies in developing a massive, integrated system of surveillance, spanning the world, and tailored specifically to penetrating the increasing complexity or urban life“ (ebd.; s. hierzu ebenfalls Glaser 2013). In diesen Ausführungen zeigt sich nicht nur die Herausforderung, die die Digitalisierung dem Kontinuum Öffentlichkeit-Privatheit stellt, sondern auch wie verschiedene räumliche (An)Ordnungen aufeinander einwirken und 13 Im Rahmen von Big Data und der Metadatenanalyse werden zunehmend klassische Instrumente der Wissenschaftsforschung in Frage gestellt (s. Anderson 2013). So bekommt die Errechnung von Wahrscheinlichkeiten und Korrelationen verstärkt beweisenden und wissensproduzierenden Charakter. 12 Urbane Räume im Spannungsfeld der digitalen Entwicklung sowohl einen kontrollierten öffentlichen als auch einen ausgespähten privaten Raum ermöglichen: „Die Bürger werden zunehmend – gewollt oder ungewollt – zu eigenen Kontrollakteuren im Prozess der sozialen Kontrolle, indem sie selbst zu Produzenten und Distributoren von Überwachungsbildern werden. Neu daran ist nicht der Umstand selbst, sondern seine Dynamisierung. Diese Dynamisierung ergibt sich aus dem Zusammenspiel zwischen Bürgern und Medien, den neuen Distributionsmöglichkeiten und einer sich im öffentlichen Diskurs auftretenden Verdichtung hin zur Duldung und Akzeptanz von vielfältiger Kontrolle im Alltag.“ (Bidlo 2011, S. 45) 4. Emanzipation durch Raum und Netz Der Gründungsmythos der Stadt beinhalte das Topos der Emanzipation, mit der Moderne verbinde sich durch urbanes Leben zusätzlich die Hoffnung auf ein eigenständiges und selbstbestimmtes Subjekt, so Siebel (vgl. 2003, S. 15). Nun wird durch die technologische Entwicklung der letzten Jahrzehnte zusätzlich sowohl der Öffentliche als auch der private Raum zunehmend erodiert, wie in den obigen Kapiteln dargestellt. Ist die digitale Entwicklung tatsächlich nur auf die kulturpessimistischen Sennetʼschen Annahmen (s. oben) reduzierbar? Kann die Digitalisierung nicht dennoch Möglichkeiten eröffnen, die vielleicht erst in einem soziologischen Perspektivenwechsel erfassbar sind? 4.1 Die Wiedergewinnung des öffentlich-urbanen Raums Sennett (1983, S. 319) urteilt über die Medien apodiktisch: „Die elektronische Kommunikation ist einer der Faktoren, die das öffentliche Leben zum Erliegen gebracht hat“. Selbst wenn man diese Einschätzung, die sich auf das Radio und das Fernsehen bezieht, stehen ließe: Die Kommunikationsmedien haben sich seitdem verändert. Die „Einwegkommunikation“ (Hubeli 2003, S. 48) ist mittlerweile wesentlich interaktiver und durch PCs und mobilen Artefakten ubiquitär geworden. Räume werden nicht nur monodirektional durch das passive Konsumieren von Medien beeinflusst, sondern die Interaktion und Vernetzung eröffnen neue Räume der (An)Ordnung, die sich sowohl auf die Menschen selbst auswirken als auch von diesen verändert werden können: „Der Cyberspace [i.S. des digitalen Raums; d. Verf.] offeriert keine völlig neue Realität, in der die Gesetze der ‚realen‘ Welt ihre Gültigkeit verlieren, er ist aber auch kein bloßes Abbild der realen Welt. Zwar gibt es in unserer gewohnten Umwelt wohl kaum mehr etwas, wozu sich nicht im Datennetz ein virtuelles Pendant finden lassen würde. Insofern haben wir es mit einer Zunahme der Doppelexistenzen und dem Aufbau einer Parallelwelt zu tun, in auch die 13 Urbane Räume im Spannungsfeld der digitalen Entwicklung topographischen Vorstellungen politischer Öffentlichkeiten, wie etwa die Agora und das Forum, eine Renaissance erleben.“ (Schroer 2006, S. 212) Durch die Entstehung dieser Doppelexistenzen sei die Etablierung neuer Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Handlungsräume möglich (vgl. ebd.). Diese Einschätzung spiegelt sich auch in der Analyse von Ernst Hubeli wider. Er teilt zwar die Beobachtung von Sennett – und Habermas –, dass die Pole Öffentlichkeit und Privatheit in ihrer Dichotomie nicht mehr aufrechterhalten werden können. Doch gerade die Versteifung auf diese nicht konzilierbare Paarbildung verschließe die Beobachtung neuer Raumkonstitutionen, die nicht mit einem Verfall eines Öffentlichkeitsprinzips „als Kollektivsingular für eine soziale Allgemeinheit ihr Transparenz und politische Diskussion einforderndes Publizitätsprinzip gegenüber staatlichen und anderen Herrschaftsbereichen“ (Hubeli 2003, S. 49) gleichzusetzen sei. Aus dem Wandel der genannten Pole entsteht ein „Universum von Teilöffentlichkeiten“, das „transitorisch, reflexiv und vielgestaltig“ (a.a.O., S. 49f.) ist. Gerade aber weil diese Teiluniversen – besser: Räume – von einem bisherigen bürgerlich gedachten, heterogenen Öffentlichkeitsdiskurs nicht mehr zusammengehalten werden können, scheint, „dass sich vermehrt Öffentlichkeiten bilden, die anstelle pädagogischer Kommunikationsmuster partizipatorische Deutungsspielräume öffnen“ (a.a.O., S. 50). Der Zusammenbruch des homogenen Pols der Öffentlichkeit muss als dessen Erneuerung gesehen werden14. 4.2 Urbane Räume – „Disorder“ Richard Sennett formuliert bereits in seiner Frühschrift „The Uses of Disorder“ eine dezidierte Kritik an einer homogenen, konfliktfreien Stadtgemeinschaft. Aus einem sozialisationstheoretischen Ansatz mit psychoanalytischem Einfluss entspinnt er die Auseinandersetzung mit einer „gereinigten“ Stadt, in der Heranwachsende mit zunehmendem Wohlstand und Rückzug in die Intimität der familiären Gemeinschaft ihre Freiheit verspielen. Stadtplaner übernehmen die Gestaltung urbaner Räume nach homogenen, harmonischen Vorgaben und Ziele, die eine Vermischung der verschiedenen Gemeinschaften immer schwieriger mache und Gewaltstrukturen erzeuge: „The essence of the purification mechanism is a fear of losing control. Real disorder is a problem, planners think […]. They are dreaming of a beautiful city 14 Konzepte spiegeln sich nicht selten linguistisch wider: In der Abfassung dieser Arbeit wurde das Wort „Öffentlichkeiten“ vom Schreibprogramm als fehlerhaftes Wort rot gekennzeichnet. Ein Blick in den Duden klärt auf: Das Wort kommt im Plural eigentlich gar nicht vor. 14 Urbane Räume im Spannungsfeld der digitalen Entwicklung that exists somewhere other than in the present, a beautiful city where people fit together in peace and harmony […].” (Sennett 1996, S. 98) In einer solchen Stadt sei es nicht nur unmöglich Erfahrungen zu sammeln, sondern jedes „Nicht-Funktionieren“ eines von den Stadtplanern geplanten Elements führe zu einer verstärkten „Reparaturpolitik“ des geplanten Vorhabens (vgl. a.a.O., S. 99f.). Interessant an den Ausführungen von Sennett, die die Entwicklung der modernen Kommunikationstechnik nicht enthalten konnten, ist die frappierende Formulierung konflikthafter15, ungleicher urbaner Räume, in denen die verschiedenen „Communities“ – und hier kann man durchaus ergänzen, ob Sennett diese nicht auch Öffentlichkeiten nennen würde – um die Planung ihrer Räume ringen und partizipieren, ohne ein Amalgam zu bilden: „Decentralization, as the idea is used here, would have the effect of necessitating multiple social contacts for survival, without leading to community cohesion“ (a.a.O., S. 153f.). In diesem Sinne werden hier die sehr synthetisch wiedergegebenen Ideen Sennetts als kompatible Vorläufer eines sich verändernden Öffentlichkeitsprinzips, wie oben dargestellt, gesehen. Gerade eine planerische Überformung urbaner Räume, sei es architektonischen als auch überwachungstechnischen Ursprungs, in denen die BewohnerInnen keine Einsicht haben bzw. haben können, widerspricht den Möglichkeitsräumen, die Hubeli et al. (vgl. 2013, S. 11) für urbane Räume in Anspruch nehmen. Die Digitalisierung kann diese Möglichkeitsräume der Aneignung durchaus offerieren. Wenn daraus Konflikte entstehen, die Neues generieren, so wären diese im Sennettʼschen Sinne. 4.3. Wireless Revolution? – Empirische Aspekte zur urbanen Emanzipation Bislang wurden Möglichkeitsräume aus einer theoretischen Perspektive diskutiert. Gibt es diese in einem digitalen Sinne wirklich? Wie kann die Existenz eines digitalen Handlungsraums begriffen werden, vor allem nach den Enthüllungen Edward Snowdens, die das Subjekt weit handlungsunfähiger erscheinen lassen, als sich manche Apologeten des Cyberspace in den Anfängen gedacht hatten? Bei genauerer Betrachtung sind, wie die folgenden Ausführungen zeigen sollen, im Großen wie im Kleinen sehr wohl partizipative Möglichkeitsräume fassbar, die an der Verschränkung „realer“ wie digitaler 15 Sennett bedient sich durchaus auch der Konfliktsoziologie Lewis Cosers, der Konflikte für ein gesellschaftliches Miteinander als positiv einstuft. 15 Urbane Räume im Spannungsfeld der digitalen Entwicklung Räume erinnern und deren gegenseitige Durchdringung konstituieren. Hierbei können die Pole Öffentlichkeit-Privatheit auf den Dimensionen des Sozialen und Politischen neu angeeignet werden. 4.3.1 Der digitale Raum als Wiederentdeckung des verlorenen Platzes Wenn man bedeutende Manifestationen einer Teilöffentlichkeit Revue passieren lässt, dann hat diese nicht nur oft von der „Straße“ oder einem „Platz“ ihren Ausgang genommen, sondern auch die Inhalte waren oft auf einer symbolischen Ebene „raumgebunden“, auch wenn die Ursachen und die Hintergründe letztendlich andere waren: die Massendemonstrationen gegen die Stationierung von Pershings; die Besetzungen gegen die Errichtung einer atomaren Wiederaufbereitungsanlage oder einer Atommülllagerung; die verstörenden Bilder von Gewalt gegen den Bau eines Prestigebahnhofs Demonstrierender; die millionenfache Erhebungswelle, ausgegangen von schikanösen Polizeikontrollen Jugendlicher auf einem öffentlichen Platz; die Proteste gegen die Schließung und Abtragung eines eigentlich übersichtlichen Stadtparks; die Ausschreitungen auf einem Platz um die Entscheidung: Osten oder Westen? Zunächst scheint die elektronische Vernetzung keine Bedeutung zu spielen: Die „Anti-AKWlerInnen“ der 1980er Jahre haben den Raum genauso beansprucht wie die Menschen auf dem Taksim-Platz 2013, denn: „Occupied spaces have played a major role in the history of social change“ (Castells 2012, S. 10). Doch was die Erhebungen der sog. Arabellion, der Indignados-Bewegung oder Stuttgart 21 gemeinsam haben, ist nicht nur die mediatische Auflösung eines interaktiv gestalteten Sinnraums, der als ein hybrider Raum zwischen den jeweiligen sozialen Netzwerken und dem physisch besetzten Ort bezeichnet werden könne (vgl. a.a.O., S. 11)16. Der zentrale Punkt nach Castells (ebd.) ist „that this new public space, the networked space between the digital space and the urban space, is a space of autonomous communication. The autonomy of communication is the essence of social movements because it is what allows the movement to be formed, and what enables the movement to relate to society at large beyond control of the power holders over communication power.” Auch wenn hier früher oder später die Frage nach der demokratischen Legitimation einer Bewegung auftaucht, so wie sich diese in der italienischen 16 Und es sei hingewiesen, dass diese sowohl physisch als auch digital konstituierten Handlungsräume, zum Teil tragischen (Syrien), greifbaren Ergebnissen mitbewirkt haben: Diktatorenstürze, autonom-alternative kommunale Bewegungen in Spanien, Regierungswechsel im „Ländle“. 16 Urbane Räume im Spannungsfeld der digitalen Entwicklung Anti-Partei “Movimento 5 Stelle” stellt, die ebenfalls ihren Ausgang im Internet hat, beharren ebenfalls Nezar AlSayyad und Muna Guvenc in einer aktuellen Überblicksstudie über die unterschiedlichen Protestentstehungen des „Arabischen Frühlings“ auf die Wechselwirkung zwischen den klassischen und den interaktiven Medien und dem urbanen Raum: “To understand these uprisings, it is necessary to analyze how insurgent networks were formed both in social media and in cities and analyze the role played by mainstream media coverage of the ensuing events. It is in these circuits that the mutually constitutive relationship between these components can be discovered.” (AlSayyad/Guvenc 2013, S. 11) Dass die untersuchten Revolutionen nicht im Internet ausgefochten wurden, sondern dort “nur” ihren Beginn hatten, schmälert weder den digitalen noch den physischen Raum: „It is mainly in urban space that the uprisings of the Arab world unfolded“ (a.a.O., S. 13). Die Beobachtung der Wechselwirkung zwischen der politischen und sozialen Konstitution eines digitalen und physischen Raum im Rahmen kollektiver Handlungen wird auch von Elena Pavan in einer quantitaven Netzwerkanalyse zu Protesten gegen Frauengewalt bestätigt. In dieser kommt sie zum Schluss, dass die Vernetzung nicht nur einer breiten Organisation kollektiver Handlung, sondern selbst als Raum des Austauschs und der Konstruktion eines symbolischen Raums diene, der dann wiederum dazu benutzt wird, die Aktionen in einem weiteren Kontext und mit weiteren Akteuren abzustimmen (vgl. Pavan 2014, S. 23). In diesen Ausführungen zeigt sich nicht nur, dass relationale Raumanordnungen durch die Digitalisierung verstärkt provoziert werden. Die Erosion der dichotomischen Pole Öffentlichkeit-Privatheit in einer fragmentierten, „unordentlichen“ Vermengung von Teilöffentlichkeiten und möglichen neuen Vergemeinschaftungsprozessen ist evident. 4.3.2 Mit der Vernetzung zur multiplen Raumgebundenheit Die Diskussion um die digitale Vernetzung und dem Benutzen der elektronischen Medien wird nicht selten mit Enträumlichung, Entbettung und Vereinzelung des Subjekts konnotiert: Ein modernes „Online-Subjekt“, das weder in der Öffentlichkeit agiert noch in privaten Beziehungen seinen Platz findet. Doch die Ausführungen zum vorherigen Teilkapitel implizieren eine andere Perspektive. Wenn Interaktionen und kollektives Handeln durch das Web autonom konstituiert werden, so kann die subjektive Autonomie nur im 17 Urbane Räume im Spannungsfeld der digitalen Entwicklung Zusammenspiel mit Vergemeinschaftungsprozessen gedacht werden. So macht Castells (2012, S. 230f.), hier in einem längeren Zitat, deutlich: „Autonomy refers to the capacity of a social actor to become a subject defining its action around projects constructed independently of the institutions of society, according to the values and interests of the social actor. The transition from individuation to autonomy is operated through networking, which allows individual actors to build their network with likeminded people in their networks of their choice. […] People build networks to be with others, and to be with others they want to be with, on the basis of criteria that include those people who they already know or those they would like to know.” Solch ein Vergemeinschaftungsprozess ist nicht mit einer von Sennett befürchteten Verinselung zu fassen, da diese Vernetzung durch ihre Offenheit an den jeweiligen Enden zu höherer Kontingenz fähig ist als eine homogene Gemeinschaft. Dass Castells Darlegungen die nicht sichtbaren Algorithmen und Interessen hinter einer sozialen Plattform wie Facebook verklärt, liegt in der oben geäußerten Apodiktik nahe. Und dennoch weist David Lyon, dass die Analyse neuer Medien möglicherweise zu neuen soziologischen Konzepten führen könnten (vgl. Lyon 2013, S. 100). Es mache keinen Sinn, Gemeinschaft lediglich mit stabilen, langanhaltenden und vertrauensvollen Beziehungen außerhalb hegemonialer Machträume zu beschreiben und diese auf die neuen sozialen Medien anzuwenden. Es gibt empirische Beobachtungen, die eine Gegennarrative zum isolierten, räumlich entbetteten Webuser nahelegen. So zeigt Jeffrey Kidder anhand einer ethnographischen Studie der Chicagoer Parkour-Szene17, wie sich eine an sich relativ homogene Gemeinschaft in einem dialektischen Verhältnis zum digitalen und – natürlich – zum physisch-urbanen Raum konstituiert und für andere Szenen halböffentlich und somit ansprechbar wird: „Thus, traceurs are not naively escaping into a virtual world disconnected from their physical selves and their material environments. To the contrary, parkour represents a visceral engagement with reality. Its joys and its pains are not simulations of action. […] Thus, in certain ways, our virtual lives can actually enhance our engagement with the real world. In particular, by studying traceurs we see how re-imaginings of the city can arise out of and feedback into the virtual domain.” (Kidder 2012, S. 249) Der digitale Wahrnehmungs- und Handlungsraum ist weder vom „realen“ urbanen Raum abgekoppelt noch produziert er notgedrungen „einsame Seelen“. Die Überlappung relationaler Räume muss aber auch nicht zwanghaft fragmentierte Räume generieren. In einer qualitativen Studie über mobile 17 Parkour ist eine Sportart, häufig mit akrobatischen Stilelementen versetzt, in der man (eckige oder sperrige) Bauten oder Teile von Bauten wie Treppengehäuse oder Zaunanlagen „im Fluss“, also im Rennen oder schnellen Gehen ohne zu bremsen und mit runden Bewegungen, umgeht oder bestenfalls für den Schwung der Bewegungen nutzt. 18 Urbane Räume im Spannungsfeld der digitalen Entwicklung Vernetzung kommt Mary Chayko zum Fazit, dass das Eintreten in und Pflegen von digitalen Netzwerken, die weder ganz öffentlich noch ganz privat seien, die Möglichkeit ließe, von einer neuen organischen Solidarität im Durkheimʼschen Sinne zu sprechen: „Portable communities may be perfectly placed to contribute to the form of organic solidarity. As they are not the province of any one state or physical region, they are situated to help highly differentiated, urbanized societies to structurally cohere and their members to become more fully integrated into them.“ (Chayko 2008, S. 158) 5. Resümee In dieser Arbeit wird das Spannungsfeld diskutiert, welches die digitale und vernetzte Technologisierung in urbanen Räumen erzeugen kann. Ausgehend von einem Verständnis des Raums als relational wurden die urbanen Räume entlang der Begriffe Öffentlichkeit-Privatheit analysiert. Die forschungsleitenden Thesen, dass die Digitalisierung sowohl die öffentlichen als auch die privaten Räume gefährden, sie aber gleichzeitig neue, partizipative und emanzipative Aneignungen des urbanen Raums erschließen kann, können mit der vorliegenden Analyse mit Einschränkungen bestätigt werden. Mit Einschränkungen deshalb, weil die Ausführungen zeigen, dass man von einem dichotomen Öffentlichkeit-Privatheitsverständnis nicht ohne weiteres ausgehen kann. Gerade das Auftauchen neuer Technologien, die sowohl die Interaktion zwischen den Subjekten, aber zunehmend durch eine technikinduzierte Autonomisierung ermöglichen, drängen zu veränderten bzw. veränderbaren Begrifflichkeiten und Analysekonzepten. Hierbei könnte ein oszillierendes Begriffsmodell zu Öffentlichkeit und Privatheit, wie von Walter Siebel vorgeschlagen, die Erkenntnisgewinnung beeinflussen. Klassische Konzepte wie das Sennettʼsche verlieren sonst möglicherweise an Erkenntniswert, wenn diese nicht an die entwickelte Diskussion angepasst werden – dies zeigt sich umso dringlicher, wenn in dieser Arbeit dargestellt wird, dass Annahmen wie von Sennett formuliert durchaus forschungsleitend und aktuell sein können. Möglicherweise muss aber die soziologische Wissenschaft, wenn man die Diskussion um die Stadtsoziologie betrachtet, eher mit gleichberechtigten Paradigmen arbeiten als ein Paradigmenwechsel zu forcieren, wie immer wieder von Markus Schroer nicht nur als Schlichtungsversuch eingebracht. 19 Urbane Räume im Spannungsfeld der digitalen Entwicklung In diesem Sinne kann die Diskussion um die Digitalisierung urbaner Räume ohne weiteres mit klassischen Konzepten wie die der sozialen Ungleichheit kombiniert werden. Solche Ansätze wurden und konnten hier nicht mit diskutiert werden, auch wenn Beobachtungen nicht unwichtig sind, dass eine hohe Internetnutzung mit sozio-ökonomisch integrierten Räumen korreliert (Ellison/Burrows 2007). Auch die Frage nach den OnlineCommunities scheint nicht ganz geklärt zu sein, auch wenn die Literatur zu diesem Sujet unübersichtlich ist. Als Ersatz zu herkömmlichen Diskursen über Gemeinschaftsprozesse könnte hier ein Maffesoliʼscher Ansatz des Tribalismus von Erkenntnis sein. Nach Literatursichtung sind auch keine Ansätze der Critical Urban Studies, wie sie von Peter Marcuse vertreten werden, zum Thema aufgefallen. Ganz bestimmt könnten aber praxeologische Konzepte wie die Akteur-Netzwerk-Theorie interessant sein, da diese gerade die Nivellierung von Handlungsebenen zwischen Technik und Subjekt thematisieren, und die Materialität der zunehmend sich autonom regulierenden Digitaltechnik stärker in das Blickfeld rücken könnten. Der Ausgangspunkt dieser quantitativ zu begrenzenden Hausarbeit war jedoch die Thematisierung der möglichen Auswirkung der digitalen Technik auf letztendlich unseren Lebensraum, der zunehmend urbanisiert wird. Dass es im Rahmen einer zunehmenden Fragmentierung „der“ Öffentlichkeit und einer stärkeren Membranisierung des Pols Öffentlichkeit-Privatheit in diesem Spannungsfeld sowohl Räume der dystopischen Beobachtung und funktionalen Vermarktung als auch Räume eines autonomen oder zumindest einer teilnehmenden Raumkonstitution gibt, das wollte diese Arbeit aufzeigen. Wohin „das Pendel“ ausschlägt – oder: ausgeschlagen wird – liegt wahrscheinlich außerhalb einer soziologischen Einflussmöglichkeit. Die Soziologie könnte aber möglicherweise aufzeigen, dass es gar kein Pendel gibt – das eine wäre dann ohne das andere gar nicht denkbar. 20 Urbane Räume im Spannungsfeld der digitalen Entwicklung 6. Literaturverzeichnis AlSayyad, Nezar/ Guvenc, Muna (2013): Virtual Uprisings: On the Interaction of New Social Media, Traditional Media Coverage and Urban Space during the “Arab Springs”. In: Urban Studies, ohne Jg. und Heft, Onlineausgabe, S. 1-17 [Elektr. 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