ANALYSE · IRAN
Das Versagen
der Elite
Erst die Ermordung Qassem Soleimanis, dann der Abschuss von Flug
PS752: Wie es wirklich um die iranische Revolutionsgarde bestellt ist
und was das über den Zustand der Islamischen Republik aussagt
VON WALTER POSCH
A
ls Generalmajor Qassem Soleimani
gemeinsam mit acht weiteren Männern in
der Nacht auf den 3. Januar 2020 durch
eine amerikanische Drohne in Bagdad
getötet wurde, schien es kurzzeitig, als sei
die – gesellschaftlich und politisch – tief
gespaltene Islamische Republik Iran in
Trauer vereint. Generäle der Revolutionsgarde traten allenthalben öffentlich auf, um Soleimani als einen der Ihren zu
betrauern und damit etwas vom Glanz des Märtyrers auf sich
fallen zu lassen.
Am 8. Januar dann folgte der Gegenschlag – mit einem Raketenangriff auf eine US-Basis im Irak. Es hätte ein Triumph für
die Revolutionsgarde werden können, wäre nicht am Morgen
nach dem Angriff eine Boeing 737-800 der Ukrainian International Airlines (Flug PS752) versehentlich abgeschossen worden: von der Flugabwehr der Revolutionsgarde. Das eigene
Versagen wurde erst vier Tage später eingestanden und führte
zu landesweiten Protesten, die international großes Aufsehen
erregten und nicht zuletzt vom US-amerikanischen Präsidenten kommentiert wurden. Beide Vorfälle müssen vor dem Hintergrund der iranischen und irakischen Institutionsgeschichte
gelesen werden. Sie betreffen sowohl die iranische Revolutionsgarde als auch die irakischen Volksmobilisierungseinheiten (»Al-Hashd al-Sha’abi«). Die Entwicklung der genannten
Institutionen ist untrennbar mit dem regionalpolitischen
Engagement Irans im Nahen Osten verbunden.
Das im Deutschen als »Revolutionsgarde« bekannte »Korps
der Gardisten der Islamischen Revolution« (»Sepâh-e Pâsdârân-e Enqelâb-e Eslâmi«) verdankt seine Entstehung dem
Zusammenschluss verschiedener militanter schiitischer Netzwerke in Iran, von denen die meisten spontan in der Revolutionszeit entstanden waren. Ein kleinerer Teil kann seine
Geschichte jedoch auf radikale, international vernetzte Gruppen zurückführen, die seit den 1940er-Jahren im Untergrund
aktiv waren.
In der Frühzeit der 1979 gegründeten Islamischen Republik Iran übte die Revolutionsgarde polizeiliche und paramilitärische Funktionen aus – als bewaffneter Arm der landesweit
aktiven Revolutionskomitees, denen parallel zur Polizei und
Gendarmerie die innere Ordnung oblag, sowie als paramilitärische Infanterieeinheiten bei den Provinzgouverneuren, die
für die Niederschlagung kommunistischer und separatistischer Aufstände verantwortlich waren.
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Auf die Armee wollte sich Revolutionsführer Ayatollah Ruhol- dig sein sollte. Diese hochideologisierte Einheit glich ihre
lah Khomeini nicht verlassen. Sie galt ihm als Relikt der Kai- mangelnde nachrichtendienstliche Expertise mit der Unterserzeit und musste erst durch politische Säuberungen auf grunderfahrung ihrer Anführer aus der Zeit des Widerstands
Linie gebracht werden. Mit Beginn des Iran-Irak-Krieges gegen den Schah sowie einem hohen Grad an Aggressivität
1980 wurde die Revolutionsgarde ausgebaut. Der hohe Blut- und Gewalttätigkeit aus. Das Büro wurde unter anderem von
zoll, den sie in den ersten Kriegsjahren zahlte, erklärt sich Mohammad Montazeri gegründet, einem Sohn des ehemaliaus der Unerfahrenheit ihrer militärischen Führer. Sie gen Stellvertreters Khomeinis, und dem mit ihm befreundebetrachteten den Kampf weniger als Landesverteidigung, ten damaligen Botschafter Irans im Libanon und späteren
sondern als revolutionär-spirituelle Reinigung.
Innenminister, Seyyed Ali Akbar Mohtashamipur. MitglieSeit dieser Zeit aber haftet ihr im Westen das Image einer der des Büros waren in den 1980er-Jahren im Sudan aufseiTruppe von islamistischen Fanatikern an, wobei in der ten der islamistischen Regierung und in Afghanistan auf
Berichterstattung häufig verdrängt wird, dass sie trotz allem Seiten der Schiiten aktiv.
eine reguläre staatliche Streitmacht ist, bei der man beispielsVor allem aber unterstützte das Büro unter Federführung
weise seinen Militärdienst ableistet, und keine schiitische Mohtashamipurs eine Gruppe libanesischer und irakischer
Freiwilligenmiliz.
Schiiten beim Aufbau der libanesischen Hizbullah. In den
Die Revolutionsgarde wurde bereits im ersten Kriegsjahr 1980er-Jahren war das Büro in zahlreiche Terroranschläge
umgegliedert und unter Anleitung der
in der Golfregion, im Libanon und in
Armee insgesamt zwölf Infanterie-, späAfghanistan involviert. Allerdings
ter auch mechanisierte Divisionen auf
prägte es ein Eigenleben aus und war
landsmannschaftlicher Basis gegrünzudem in kriminelle Aktivitäten aller
det. Die als »Sâro-llâh – Rache Gottes«
Art verwickelt – darunter die Iran-Conbekannte 41. Mechanisierte Division der
tra-Affäre, die in Iran nach dem Namen
Revolutionsgarde bestand zum Beispiel
des damaligen Bürochefs als »MehAuf die Armee
aus Rekruten aus der Provinz Kerman,
di-Hashemi-Affäre« bekannt geworden
ist: Von 1985 bis 1987 hatten US-Gewas den Zusammenhalt und die Frontwollte sich
bewährung förderte. Auch ein gewisser
heimdienstler mit israelischer UnterRevolutionsführer
Qassem Soleimani gehörte dieser
stützung Waffen an Iran verkauft, um
Truppe an.
mit den Erlösen rechtsgerichtete RebelKhomeini nicht
len in Nicaragua zu finanzieren.
Im Laufe des Krieges gegen den Irak
setzte die militärische ProfessionalisieDas Büro wurde gewaltsam aufgelöst,
verlassen. Sie galt
rung der Revolutionsgarde ein. Diese
seiner bewaffneten Einheiten entblößt
ihm als Relikt der
beinhaltete die Einführung von Stabsund als einfaches Koordinationsbüro
schulen und anderen Bildungseinrichins Außenministerium transferiert.
Kaiserzeit
tungen sowie die Ergänzung um eine
Damit endet die Phase des unkontrollierten Revolutionsexports und iraniLuft- (Kleinflugzeuge, Drohnen und
scher Unterstützung für schiitische und
später Raketen) und eine Seekomponente (Schnellbote).
andere Extremisten zunächst.
Die Revolutionsgarde erhielt einen
Die militärischen und nachrichtendienstlichen Tätigkeiten des Büros wureigenen militärischen Nachrichtendienst, der vom späteren Admiral und
den von anderen Diensten übernommen.
Verteidigungsminister und jetzigen
Der Großteil dürfte jedoch auf die
Sekretär des Nationalen Sicherheitsrats Ali Shamkhani auf- Qods-Einheit übertragen worden sein, eine renommierte
gebaut und geleitet wurde. Dieser Dienst versuchte alle nach- Teilstreitkraft der Revolutionsgarde, die während des Kriegs
richtendienstlichen und staatspolizeiliche Funktionen gegen den Irak für Gefechtsfeldaufklärung hinter den iraki(Innen, Außen, Politik und Militärisches) an sich zu reißen schen Linien zuständig gewesen war und dort Tuchfühlung
und lieferte sich ein dramatisches Kräftemessen mit dem neu mit radikalen, schiitischen Gruppen aufgenommen hatte, die
gegründeten »Informationsministerium der Islamischen sie zum Teil ideologisch, nachrichtendienstlich und militäRepublik Iran«, dem eigentlichen Geheimdienst der Islami- risch ertüchtigte.
schen Republik. Im Zuge der Neuordnung der SicherheitsAus dieser Zeit stammt auch die enge Zusammenarbeit
kräfte in den Jahren 1990 bis 1992 wurde dieser Dienst als mit der aus irakischen Kriegsgefangenen zusammengestell»Informations- und Abwehrorganisation der Revolutions- ten Badr-Einheit der Revolutionsgarde. Der Auftrag der
garde« neu strukturiert.
Qods-Einheit wurde 1989 von Revolutionsführer Ali KhameKurz nach ihrer Gründung hatten sich die Gardisten aber nei genauer formuliert: Die Qods-Einheit werde nur auf Einauch ein »Koordinationsbüro für Islamische Befreiungsbe- ladung ins Ausland geschickt, um dort ideologisch
wegungen« eingerichtet, welches für Auslandsoperationen, verlässliche Zellen zu identifizieren und militärisch fortzudarunter den »Export« der Islamischen Revolution, zustän- bilden. Im Prinzip wurden dieselben Aufgaben, die Qods
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Fotos: Farhad Babaei
Am 11. Februar 2020
stand der 41. Jahrestag
der Islamischen Revolution
ganz im Zeichen des
Todes von General Qassem
Soleimani. Neben der
Revolutionsgarde zeigten
auch Angehörige der
regulären Streitkräfte
Präsenz.
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Die Feierlichkeiten
ziehen auch Besucher
aus Ländern an, deren
linke Bewegungen seit
den 1980er-Jahren
gute Beziehungen zur
Islamischen Republik
pflegen, wie diese Touristen
aus Bolivien (l.) und
Nicaragua.
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schon während des Krieges wahrnahm, den neuen Gegeben- nister Adil Abdul-Mahdi wiederum behauptete, Soleimani
heiten im Nahen Osten angepasst. (Siehe zenith 04/2014, sei auf Einladung der irakischen Regierung in Bagdad gewe»Soleimanis Auftrag«)
sen, um die iranische Antwort auf einen saudischen DeeskaMit der Übernahme des Kommandos der Qods-Einheit lationsplan für die Region zu diskutieren.
1998 durch Soleimani begann eine neue Ära. Soleimani verDer Tod der beiden wichtigen schiitischen Akteure, Soleieinte alle Qualitäten eines Verteidigers der Islamischen Repu- mani und Muhandis, berührt vor allem die Reform des Sicherblik auf sich: Als Abkömmling eines Stammes der Volksgruppe heitssektors in Iran und Irak. Für den Irak werden die
der Luren, der im Iran-Irak-Krieg angeblich über 500 Kämp- Verhandlungen über das Verhältnis der paramilitärischen
fer gestellt hatte, hatte es ihn in seiner Jugend nach Kerman Volksmobilisierungseinheiten zur Armee nun schwieriger
gezogen, wo er sich der revolutionären Bewegung gegen den werden. Muhandis, der auch ein enger persönlicher Freund
Schah anschloss. Zu Beginn des Iran-Irak-Krieges 1980 stieß Soleimanis war, genoss Achtung und Gehör fast aller schiitier zur Revolutionsgarde. Damals soll er mehrere Bataillone schen Gruppen, konnte sich aber auch Respekt bei Armee
in Kerman ausgebildet haben, wobei im Dunkeln bleibt, wo und Politik verschaffen. Sein Nachfolger Hadi Al-Ameri von
er seine eigene militärische Ausbildung erhalten hatte. Er der Organisation Badr kann das nicht von sich behaupten. Er
wusste unter anderem mit Stämmen umzugehen, was ihm ist direkt in die Parteipolitik verwickelt und ist in den Augen
auch in seiner Rolle in Syrien und Irak Jahre später zugute- der Protestbewegung, die seit Herbst 2019 im Irak auf die
Straße geht, Teil der Elite, die für Korruption und Misswirtkam.
Unter Soleimanis Führung der Qods-Einheit gelang es schaft verantwortlich ist.
Teheran, die eigene nachrichtendienstliche und militärische
Muhandis konnte auch verschiedene, als extremistisch
Präsenz in der Region zu stärken und auszubauen. Für die- einzuschätzende Milizenführer aus dem schiitischen Speksen Erfolg wurde Soleimani 2011 vom
trum disziplinieren, die selbst große
Revolutionsführer zum Generalmajor
politische Ambitionen verfolgen und
ernannt – damit unterstrich Khamenei
dabei auf eigene Rechnung die Unterstützung der Iraner suchen. Das
auch die direkte Unterstellung der Qods
unter seinen Befehl. Der breiten ÖffentG espa n n Mu h a nd i s- S olei m a n i
Die Revolutionsgarde
lichkeit in Iran und im Ausland wurde
gewährte diesen Kräften zwar gewisse
Soleimani aber erst nach dem Beginn
Freiräume und Unterstützung, hielt sie
ist eine reguläre
des Arabischen Frühlings als Kämpfer
aber auch im Zaum. Durch ihren Verlust
staatliche Streitmacht
etwa gegen den »Islamischen Staat«, mit
verschärft sich das Hauptproblem des
Al-Qaida verbündete Gruppen und
irakischen Sicherheitssektors: seine
und keine schiitische
andere Aufständische in Irak und Syrien
Vierteilung in eine schwache Armee,
bekannt.
einer ausgezeichneten, von den USA ausFreiwilligenmiliz
gebildeten Antiterrordivision, kurdiIrakische Milizionäre und Politiker,
Kurden wie Schiiten, berichten übereinsche Peschmerga-Milizen und die
stimmend davon, dass Soleimani in
Volksmobilisierung. Im schlimmsten
recht kurzer Zeit iranische WaffenliefeFall ist nun mit einer direkten Konfronrungen und Ausbildung für den Abwehrtation zwischen US- und iranisch-finankampf gegen den IS organisiert habe. Auch beim Aufbau der zierten Einheiten zu rechnen, wofür die Rhetorik der
paramilitärischen Volksmobilisierungseinheiten im Irak ab Trump-Regierung spricht, welche die Volksmobilisierungs2014 wirkte er mit: Die überwiegend schiitischen Milizen, einheiten gern in cumulo unter Terrorismusverdacht stellt.
die zunächst den Kern des Verbandes bildeten, entstammten
Sowohl für Iran als auch für Irak gilt, dass die Bevölkeder Zeit der schiitischen Aufstände gegen Saddam Hussein rung beider Staaten sich einen verantwortungsvollen und
oder der amerikanischen Besatzung. Sie unterhielten enge transparenten Staatsapparat wünscht. Hierzu bedarf es in
Beziehungen nach Iran, insbesondere zur Qods-Einheit.
beiden Fällen aus verschiedenen Gründen einer Reform des
Aus Sicht der Gegner des iranischen Engagements im Sicherheitssektors, die durch den Tod von Muhandis und
Nahen Osten, insbesondere aber der Trump-Regierung in Soleimani eher noch unwahrscheinlicher wird.
Washington, wurde Soleimani nicht nur das Gesicht, sonSoleimanis Tod rief in Iran tatsächlich große Bestürzung
dern auch der Dreh- und Angelpunkt iranischen Hegemoni- hervor und brachte Zehntausende auf die Straßen. Soleimani
alstrebens in der Region. Als Begründung für den Anschlag fand über die Grenzen der radikalen Schiiten hinaus in weiauf Soleimani, bei dem auch der Stabschef der irakischen ten Teilen der iranischen Gesellschaft Anerkennung. So war
Volksmobilisierungseinheiten, Abu Mahdi al-Muhandis, er bei Weitem nicht die finstere Person, als die er im Westen
getötet wurde, gaben die USA eine »unmittelbar drohende« gezeichnet wurde und auf die sich die radikalsten Elemente
Gefahr für amerikanische Diplomaten zu Protokoll. Solei- des iranischen politischen Systems zu berufen wünschten.
mani habe im Irak Anschläge gegen amerikanische Ziele pla- Bei mehreren Gelegenheiten verteidigte Soleimani sogar den
nen wollen. Belege blieb das Weiße Haus schuldig und als reformerisch geltenden Außenminister Javad Zarif gegen
verstrickte sich in Widersprüche. Der irakische Premiermi- unqualifizierte Angriffe von rechts.
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Dazu kam, dass er offensichtlich selbst davon überzeugt war,
die Ausrichtung Irans in der Region diene objektiven Interessen des Landes, vor allem dem Kampf gegen den IS und andere
dschihadistische, schiitenfeindliche Gruppierungen. Dieses
Argument wurde auch von säkularen Iranern weitgehend
akzeptiert. Die Logik: Den IS außerhalb Irans bekämpfen,
anstatt sich mit ihm im Lande selbst herumschlagen zu müssen. Für den Kampf gegen den IS wurde er 2019 mit dem höchsten militärischen Orden der Islamischen Republik
ausgezeichnet. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich,
dass das Regime sich seiner (oder seines Todes) zum Zwecke
der Legitimation bediente.
Doch der Versuch, seinen Tod für eine Propagandashow zu
nutzen, scheiterte. Besonders peinlich für jene radikalen
Kreise, die ihn zum Helden des Antiamerikanismus und Antizionismus hochstilisierten: Iranische Passanten weigerten
sich zum Teil, auf die an prominenten Stellen ausgelegten amerikanischen und israelischen Flaggen zu trampeln. Selbst
Moscheebesucher verweigerten ein derartig anachronistisches
und eher peinliches Schauspiel. Damit setzten iranische Bürger ein Zeichen, das seit Jahrzehnten von den Machthabern
überhört wird: Die Bevölkerung ist durchaus bereit, jenen
Staatsdienern Respekt zu zollen, die, wie Soleimani, ihrer
Ansicht nach ihren Interessen dienen, lässt sich aber nicht
durch billige Feindbilder einlullen oder emotional hochpeitschen. Damit hinterlässt Soleimani seinem Nachfolger Ismael
Qaani als Chef der Qods-Einheit eine Hypothek: Zwar lassen
sich Soleimanis nachrichtendienstliche und militärische
Fähigkeiten leicht ersetzen, doch mit Rückhalt in der Bevölkerung, den Soleimani ja vor allem wegen des Kampfes gegen
den IS erhielt, kann Qaani nicht ohne Weiteres rechnen.
Die Revolutionsgarde steckt heute in einer größeren Legitimationskrise, die sich seit Jahren abgezeichnet hat. Abgesehen von der Glorifizierung des »Märtyrers« Soleimani haben
die Gardisten zuletzt einiges unternommen, um ihr Image in
der Öffentlichkeit aufzupolieren – etwa als Macher und Helfer während der Flutkatastrophe 2019 in den nicht persischen,
sunnitischen und besonders schlecht entwickelten Wüstengebieten Sistans und Belutschistans. Allerdings scheint ihnen
das kaum zu gelingen. Eine Streitmacht, die ihre Existenz der
schiitisch-revolutionären Natur des Staates verdankt, der sunnitische Muslime diskriminiert, indem er ihnen beispielsweise
die Offizierslaufbahn verwehrt, kann bei dieser Bevölkerung
wenig punkten.
Diese derzeitige Misere könnte sich noch verschärfen: In
der Regel ist die Islamische Republik Iran im Umgang mit
Demonstrationen sehr erfahren. Nicht nur Gewalt, sondern
exakte soziologische Analysen und ein Netzwerk überlappender Nachrichten- und Aufklärungsdienste sorgten bisher
dafür, dass sich in Iran bislang keine landesweit organisierte
Protestbewegung etablieren konnte. Heikler ist es, wenn sich
Forderungen seitens ethnischer Minderheiten mit den Zielen
einer landesweiten sozialen Protestbewegung überschneiden.
Doch auch in diesen Fällen konnte das Regime sich bisher in
Sicherheit wiegen und die Proteste als »Stresstest« für den
Sicherheitsapparat und die politische Führung betrachten.
Der auf Fehlbedienung zurückzuführende Abschuss des ukrainischen Fluges PS752 ist nun allerdings Beleg für eine gesamtstaatliche Systemkrise.
Diese Krise betrifft die politische und die professionelle
Ebene, die Generalität der Revolutionsgarde ist dabei auf beiden Ebenen für das Unglück verantwortlich. Zunächst zur professionellen Ebene: Das komplizierte System der iranischen
Luftabwehr wird von einem eigenen Kommando (»Châtamo
l-Anbiyâ«, nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Wirtschaftseinheit der Revolutionsgarde) koordiniert. Unter seinem Dach koexistieren – sprich konkurrieren – jedoch die
»Luftraumkräfte« (»niruhâ-ye havâfażâyi«) der Revolutionsgarde mit der »Luftabwehr der Armee« (»niru-ye padâfand-e
havâyi-e Arteş«).
Die Revolutionsgarde bestand darauf, im Rahmen der Luftraumkräfte neben den prestigeträchtigen ballistischen Raketen auch eine eigene Luftabwehr zu betreiben, obwohl dies
militärisch im Grunde nicht zu rechtfertigen war. Vor allem
dann nicht, wenn man in Betracht zieht, dass die Flugabwehr
der Luftwaffe im Jahre 2008 auf Befehl des Revolutionsführers zur eigenen selbstständigen Teilstreitkraft (»niru«) der
Armee erhoben wurde. Als solche verfügt sie über die notwendigen Ausbildungs- und Übungseinrichtungen, genügend institutionelle Erfahrung und vor allem ausreichend qualifizierte
Infrastruktur für die Luftabwehr. Die Luftraumkräfte der
Revolutionsgarde konzentrierten sich hingegen vor allem auf
die strategische Raketenwaffe und scheinen nicht in gleichem
Maß für die Luftabwehr qualifiziert.
Davon abgesehen tragen Mitglieder aus den Reihen der militärischen Führung der Revolutionsgarde eine Mitschuld an
dem Unglück: Etwa der Generalsekretär des Hohen Nationalen Sicherheitsrates, Admiral Ali Shamkhani, der den Luftraum für Passagierflugzeuge nicht rechtzeitig sperren ließ,
obwohl durch den iranischen Raketenbeschuss auf eine
US-Basis in derselben Nacht mit einem erhöhten Risiko zu
rechnen war. Auch General Amir-Ali Hajizadeh ist mitverantwortlich. Der Kommandant der Luftraumkräfte der Revolutionsgarde hat nach tagelanger Verzögerung nie wirklich die
Verantwortung für das Unglück übernommen. Er sprach lediglich davon, dass er lieber »gestorben wäre« als Zeuge dieses
Unglücks zu werden, was aber als rhetorische Floskel abgetan
werden kann. Zum Rücktritt sah sich Hajizadeh jedenfalls
nicht veranlasst.
Damit verdeutlicht sich ein Kernproblem der Islamischen
Republik: die Straffreiheit und Allmacht der Generalität der
Revolutionsgarde. Auch die Unmutsbekundungen und Rücktrittsdrohungen Präsident Hassan Ruhanis offenbarte, wie
schwer es ist, die Generalität der Revolutionsgarde zur Verantwortung zu ziehen. Erst auf Druck Ruhanis und nach heftigen
internen Auseinandersetzungen wurde der angeblich Verantwortliche, ein Offizier mittleren Ranges, der den Abschuss getätigt hatte, ins Gefängnis gesteckt. Ein Bauernopfer. Es ist
unwahrscheinlich, dass die Hierarchie der Revolutionsgarde,
die sich noch immer als Elite der Islamischen Revolution
betrachtet, tatsächlich begriffen hat, wie tief ihr Ansehensverlust wirklich ist.
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