Markus Öhler
Zwischen Elend und Elite
Paulinische Gemeinden in ökonomischer Perspektive
Abstract: The article deals with different reconstructions of the economic situation in the Roman Empire in early imperial times, specifically with the quest for
a “middling group” between the economic elite and the destitute and poor. On
this background it reflects first on the economic situation of members in voluntary associations and secondly in Pauline communities. The article shows that
the poor were hardly members in these groups and that Paul never considers
provisions for those in an economic calamity. Finally the developments in
Post-Pauline times are dealt with.
Keywords: Ancient Economy, Greco-Roman Associations, Paul, Charity, Poverty,
Collection.
Die ökonomische Situation der Mitglieder der paulinischen Gemeinden und deren
Einsatz für die Armen sind seit den Arbeiten von Adolf Deissmann und Adolf von
Harnack ein beständig wiederkehrendes Thema in Untersuchungen zur Geschichte des frühen Christentums.¹ Mit dem Aufkommen der sozialgeschichtlichen Forschung in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden diese
Fragestellungen erneut aufgenommen, wobei v. a. die Arbeiten von Edwin A.
Judge, Abraham J. Malherbe, Wayne A. Meeks und Gerd Theißen wegbereitend
waren.² In den vergangenen Jahren lässt sich allerdings ein erneutes Aufleben
dieser Fragestellungen feststellen.³ Vor allem die angloamerikanische Forschung
Adolf Deissmann, Paulus. Eine kultur- und religionsgeschichtliche Skizze (Tü bingen: J.C.B. Mohr,
1925), 35 – 37.186 – 188; Adolf Deissmann, Licht vom Osten. Das Neue Testament und die neuentdeckten Texte der hellenistisch-römischen Welt (Tübingen: J.C.B. Mohr, 41923), 6 f.247; Adolf von
Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten (Leipzig:
Hinrichs’sche Buchh., 41924), 170 – 220.
Edwin A. Judge, Christliche Gruppen in nichtchristlicher Gesellschaft. Die Sozialstruktur christlicher Gruppen im ersten Jahrhundert (Wuppertal: R. Brockhaus, 1964); Abraham J. Malherbe,
Social Aspects of Early Christianity (Philadelphia: Fortress Press, 21983); Wayne A. Meeks, Urchristentum und Stadtkultur. Die soziale Welt der paulinischen Gemeinden (Gü tersloh: Gütersloher
Verlagshaus, 1993); Gerd Theißen, Studien zur Soziologie der Jesusbewegung, WUNT 19 (Tübingen:
J.C.B. Mohr, 31989).
Steven J. Friesen, „Poverty in Pauline Studies. Beyond the So-called New Consensus,“ JSNT 26
(2004): 323 – 361; Peter Oakes, Reading Romans in Pompeii. Paul’s Letter at Ground Level (Min2
https://doi.org/10.1515/9783110533781-011
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hat grundlegende Arbeiten vorgelegt, die weit über die ntl. Perspektive hinausgehen und mit einer Intensivierung der Erforschung der antiken Wirtschaftsgeschichte zusammenfallen.⁴
Der folgende Beitrag stellt verschiedene Modelle der ökonomischen Situation
im Imperium Romanum der frühen Kaiserzeit vor, wobei der Schwerpunkt darauf
liegt, den neueren Rekonstruktionen einer „Mittelschicht“ nachzugehen. Davon
ausgehend werden die Paulusbriefe daraufhin durchgesehen, ob sich in diesen
Texten Spuren verschiedener ökonomischer Schichten finden und wie die Mitglieder der paulinischen Gemeinden innerhalb des ökonomischen Spektrums zu
verorten sind. Den Abschluss bilden schließlich Ausführungen zu den Entwicklungen in nachpaulinischer Zeit.
1 Die ökonomische Lage in der frühen Kaiserzeit
1.1 Forschungstraditionen und Grundannahmen
In der gegenwärtigen Diskussionslage innerhalb der Erforschung der Wirtschaftsgeschichte des Römischen Reiches besteht, grob gesprochen, weiterhin ein
Hiatus zwischen zwei Ansätzen⁵: Waren die ökonomischen Verhältnisse im Imperium vergleichbar mit denen der Moderne oder waren sie kategorial verschieden? Gab es ein stetiges Wirtschaftswachstum oder blieb die römische Wirtschaft
über die Jahrhunderte stabil? Handelte es sich um eine Wirtschaftsform, die
ähnlich dem modernen Kapitalismus durch Marktmechanismen gesteuert war,
oder um eine kulturell völlig anders geprägte Wirtschaft, die eigenen Regeln
folgte?
Schon die Kontroverse zwischen den Historikern Eduard Meyer und Karl
Bücher ab den 1890er Jahren zeigt die Spannung zwischen den beiden Polen auf:
Während Bücher die Wirtschaft der Antike als „geschlossene Hauswirtschaft“
neapolis [u. a.]: Fortress Press, 2009); Bruce W. Longenecker, Remember the Poor. Paul, Poverty,
and the Greco-Roman World (Grand Rapids, Mich. [u. a.]: Eerdmans, 2010); Stefan Alkier, Rainer
Kessler und Michael Rydryck, Wirtschaft und Geld, Lebenswelten der Bibel (Gü tersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2016).
Vgl. u. a. Walter Scheidel, The Cambridge Economic History of the Greco-Roman World (Cambridge: Cambridge University Press, 2013); Walter Scheidel und Steven J. Friesen, „The Size of the
Economy and the Distribution of Income in the Roman Empire,“ JRS 99 (2009): 61– 91; Peter
Temin, The Roman Market Economy, The Princeton Economic History of the Western World
(Princeton: Princeton University Press, 2012).
Vgl. Sitta von Reden, Antike Wirtschaft, Enzyklopädie der griechisch-römischen Antike 10
(Berlin, Boston: de Gruyter, 2015), 89 – 98.
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betrachtete,⁶ ging Meyer von einer mit modernen Formen vergleichbaren wirtschaftlichen Struktur aus.⁷ Diese Auseinandersetzung ging als Debatte zwischen
Primitivisten und Modernisten in die Forschungsgeschichte ein. Ihre Nachwirkungen sind bis heute zu erkennen.⁸
Die zweite Hälfte des 20. Jhd.s war in der Debatte um die Wirtschaft der Antike
davon geprägt, dass Karl Polanyi die These entwickelte, wonach „in vorkapitalistischen Gesellschaften wirtschaftliches Verhalten in soziale und politische Institutionen eingebettet“ war.⁹ Mit dem Ausdruck „eingebettet“ („embedded“) ist
gemeint, dass alle wirtschaftlichen Ziele und Mechanismen politischen und verwandtschaftlichen Interessen untergeordnet waren. Es sei um das soziale Überleben der Gemeinschaft gegangen. Dabei hätten die Prinzipien der Haushaltung,
der Reziprozität und der Redistribution leitend gewirkt.¹⁰ Weitergeführt wurde
diese Position von Moses I. Finley.¹¹ Finleys Rekonstruktion der antiken Wirtschaft lief darauf hinaus, sie als eine Subsistenzwirtschaft zu beschreiben, die auf
das Haus konzentriert war. Handel spielte darin nur eine geringe Rolle, da es an
einer entsprechenden Infrastruktur, den technischen Möglichkeiten und auch an
über den engeren sozialen Kontext hinausgehenden Interessen mangelte. Lediglich die zahlenmäßig sehr kleinen Eliten hätten von den Erträgen wirtschaftlichen
Karl Bü cher, Die Entstehung der Volkswirtschaft. Sechs Vorträ ge (Tü bingen: K. Laupp, 1893), 15.
Eduard Meyer, „Die wirtschaftliche Entwicklung des Altertums,“ in Kleine Schriften zur Geschichtstheorie und zur wirtschaftlichen und politischen Geschichte des Altertums, Hg. Ders. (Halle:
M. Niemeyer, 1910), 79 – 168.
Vgl. Helmuth Schneider, „Die Bücher-Meyer-Kontroverse,“ in Eduard Meyer. Leben und Leistung
eines Universalhistorikers, Hg. W.M. Calder und A. Demandt, Mnemosyne, Supplementum 112
(Leiden, Kö ln [u. a.]: Brill, 1990), 417– 445; Kai Ruffing, Hans-Joachim Drexhage und Heinrich
Konen, Die Wirtschaft des Rö mischen Reiches (1.–3. Jahrhundert). Eine Einfü hrung, Studienbü cher
Geschichte und Kultur der Alten Welt (Berlin: Akademie Verl., 2002), 19–21; Kai Ruffing, Wirtschaft
in der griechisch-rö mischen Antike, Geschichte kompakt (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2012), 8 – 14; Michael Sommer, Wirtschaftsgeschichte der Antike, Beck’sche Reihe 2788
(Mü nchen: C.H. Beck, 2013), 15 – 19; von Reden, Antike Wirtschaft (s. Anm. 5), 89 – 98. Sommer,
Wirtschaftsgeschichte (s. Anm. 8), 114, meint, dass diese Debatte durch eine Definition von Kapital
im Sinne Bourdieus überwindbar wäre; vgl. auch Alkier, Kessler und Rydryck, Wirtschaft (s. Anm.
3), 135 – 138.
So von Reden, Antike Wirtschaft (s. Anm. 5), 94; vgl. Karl Polanyi, The Great Transformation
(New York: Rinehart, 1944). Zur Vita des österreichisch-ungarischen Wirtschaftswissenschaftlers,
der 1933 emigrierte, vgl. jetzt Gareth Dale und Karl Polanyi, A Life on the Left (New York: Columbia
University Press, 2016).
Vgl. auch George N. Gotsis und Gerasimos Merianos, „Early Christian Representations of the
Economy. Evidence from New Testament Texts,“ History and Anthropology 23/4 (2012): 467– 505,
hier: 471– 476.
Vgl. u. a. Moses I. Finley, Die Antike Wirtschaft (München: Deutscher Taschenbuch Verlag,
1977), passim.
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Handelns profitiert, wobei deren Ausgaben dem Status- und Machterhalt gedient
hätten.¹²
Den Gegenpol zur Position von Polanyi und Finley bildeten die Arbeiten von
M. Keith Hopkins.¹³ Er konstatierte für die Zeit der römischen Herrschaft ab dem 2.
Jhd. v.Chr. ein substantielles Wirtschaftswachstum im griechisch-römischen
Raum und verwies dazu auf eine Reihe von Ursachen. Dazu gehören die deutlich
angestiegene agrarische Produktion, das Bevölkerungswachstum, der höhere
Anteil nicht auf dem Land arbeitender Menschen, der Anstieg der Produktivität
sowie die Umverteilung von Steuererträgen in schlechter entwickelte Teile des
Imperiums.
Die weitere Entwicklung der Wirtschaftsgeschichte der griech.-röm. Antike
wurde durch die verstärkte Einbeziehung archäologischer Ergebnisse, bioanthropologischer Untersuchungen sowie der Ökologie des Mittelmeerraums beschleunigt.¹⁴ Die Landschaften rund um das Mittelmeer und die Levante bildeten
zwar keinen einheitlichen Wirtschaftsraum, die einzelnen Gebiete waren aber,
und das gilt ganz besonders seit Augustus und der Etablierung der Pax Romana,
miteinander vernetzt, oft direkt, manchmal indirekt. Der Warenaustausch war in
lokaler Hinsicht sicherlich am stärksten ausgeprägt, doch der regionale Handel
wie der Fernhandel waren nicht ausschließlich wenigen Eliten vorbehalten,
sondern wurden von weiten Teilen der Bevölkerung genutzt. Mittels biochemischer Untersuchungen von menschlichen Knochen konnten Rückschlüsse über
das Ernährungsverhalten gewonnen werden. Dabei zeigte sich, dass Fleischkonsum unter der italischen Bevölkerung der späten Republik und der Kaiserzeit
deutlich häufiger war als zunächst angenommen.¹⁵ Auch im Blick auf die Ausgaben – man denke nur an die Bauprogramme und Militärausgaben der frühen
Kaiserzeit – lässt sich begründet annehmen, dass dafür die Ressourcen zur Verfügung gestanden haben mussten. So scheint sich in der gegenwärtigen wirtschaftsgeschichtlichen Forschung die Waage jener Position zuzuneigen, die einen
ökonomischen Aufschwung innerhalb eines marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystems konstatiert.
Vgl. von Reden, Antike Wirtschaft (s. Anm. 5), 95 – 97.
Vgl. u. a. K. Hopkins, „Economic Growth and Towns in Classical Antiquity,“ in Towns in Societies. Essays in Economic History and Historical Sociology, Hg. R. Abrams und E.A. Wrigley
(Cambridge: Cambridge University Presse, 1978), 35 – 79.
von Reden, Antike Wirtschaft (s. Anm. 5), 99 – 105.
von Reden, Antike Wirtschaft (s. Anm. 5), 145.Vgl. allerdings William V. Harris, Rome’s Imperial
Economy. Twelve Essays (Oxford [u. a.]: Oxford University Press, 2011), 49 f., der dies mit Verweis
auf die Forschungsdiskussion anders einschätzt.
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1.2 Die ökonomische Stratifizierung im Imperium Romanum
Auf eine gemeinsame Arbeit von Walter Scheidel und Steven J. Friesen aus dem
Jahr 2009 geht die Etablierung einer Einkommensskala („income scale“) für das
römische Reich zurück.¹⁶ In ihrer Studie berechnen sie die Größe der römischen
Wirtschaft und bestimmen die Verteilung des Einkommens innerhalb der Gesellschaft. Dabei spielen sowohl antike Befunde wie Vergleichsgrößen aus dem
Spätmittelalter bzw. der frühen Neuzeit eine wichtige Rolle.
Im Einzelnen wird das jährliche Bruttoinlandsprodukt des Römischen Reiches für die Mitte des 2.Jhd. n.Chr. auf 14 bis 23 Milliarden Sesterzen (HS) geschätzt, wobei der Weizenpreis die bestimmende Rolle spielt. Scheidel und Friesen rechnen eher mit einem Mittelmaß von etwa 17– 19 Milliarden HS. Bei einer
angenommenen Bevölkerungszahl von 70 Millionen ergibt das ein Prokopfeinkommen von etwa 260 HS, bei einem mittleren Weizenpreis von 2,5 HS per Modius
sind das 104 Modii pro Jahr/Kopf (680 kg).¹⁷ Für das Leben eines erwachsenen
Mannes – Frauen kamen mit etwas weniger aus – wird das Mindestmaß (barebones-level) von Scheidel und Friesen aufgrund ägyptischer Zeugnisse mit 390 kg
Weizen/Jahr berechnet (60 Modii), wofür ein Einkommen von 150 HS notwendig
wäre.Von diesem in Weizen umgerechneten Einkommen mussten neben Nahrung
auch Kleidung und eine einfache Unterkunft bezahlt werden. Für eine ordentliche
Versorgung (respectibility level), die noch nicht luxuriös war, wäre mehr als das
Dreifache nötig, nämlich 940 kg/Jahr (144 Modii; 361 HS).
Betrachtet man nun allerdings die Verteilung des Einkommens, wendet sich
das Bild, wobei im Folgenden die mittleren Werte angenommen werden. Zunächst
zur Elite: Aus den Angaben über die Zahl von Senatoren (600), jene der Ritter (um
die 20.000) und der Decurionen (um die 65.000), die zusammen die Elite des
Römischen Reiches ausmachten, schließen Scheidel und Friesen auf 1,2 – 1,7 %
der Bevölkerung. Unter Einschluss von weiteren Gruppierungen, wie vor allem der
Priesterkollegien der Augustalen, besaß die wirtschaftliche Elite 3 – 5 Milliarden
HS, was etwa 15 – 30 % des Gesamteinkommens ausmacht.¹⁸
Scheidel und Friesen, „Size“ (s. Anm. 4), passim.
Die Berechnung legt 6,5 kg/Modius für getrockneten Weizen fest, es könnte auch etwas mehr
sein; vgl. Travis B.Williams, Good Works in 1 Peter. Negotiating Social Conflict and Christian Identity
in the Greco-Roman World, WUNT 337 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2014), 282 (Anm. 9). Ein Modius
umfasst 8,6185 l.
Scheidel und Friesen, „Size“ (s. Anm. 4), 75 – 82. Auch innerhalb dieser Gruppierungen gab es
selbstverständlich noch riesige Einkommensunterschiede.
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Diesem Einkommen der Elite stehen die Einkünfte der Nicht-Elite gegenüber,
die etwa 97 % der Bevölkerung ausmachte.¹⁹ Für diese blieben abzüglich der
Staatsausgaben von etwa 1 Milliarde zwischen 11 und 15 Milliarden HS übrig. Das
würde einer Pro-Kopf-Weizenmenge von 425 – 572 kg pro Jahr entsprechen (161–
220 HS). Doch auch innerhalb der Nicht-Elite gab es gewichtige ökonomische
Unterschiede, auch wenn sich dies nach Scheidel und Friesen nur mittels „guesswork“ und als „conjectures“ bestimmen lässt.²⁰ Als Grundannahme halten sie
fest, dass der Anteil von Menschen, die unterhalb des Existenzminimums lebten,
ausgesprochen groß gewesen sein muss. Dabei wird das Existenzminimum mit
491 kg Weizen bestimmt, also der bare-bones-level zuzüglich aller Kosten und
Steuern.²¹ Bei einem durchschnittlichen Preis von 2,5 HS pro Modius, der selbstverständlich lokal und zeitlich unterschiedlich sein konnte, ergibt das ein nötiges
Jahreseinkommen pro Person von etwa 188 HS. Ein Tageslohn betrug zwischen 3
und 4 HS.²² Sollte davon eine Familie erhalten werden, waren etwa 500 HS/Jahr
nötig. Für eine gegen Krisen abgesicherte Existenz bedurfte es allerdings deutlich
höherer Einkünfte.
In der folgenden Übersicht zu den verschiedenen Levels ist nun bedeutsam,
dass Level 0 – 5 die Nicht-Elite darstellen (97 % der Bevölkerung) und erst ab Level
6 die Eliten (1,5 %) beschrieben werden. Scheidel und Friesen verstehen die Gesellschaft also zunächst einmal zweigeteilt. Im Überblick sieht das dann so aus:²³
Level
Anteil an der Bevölkerung in %
(pessimistische Einschätzung des
Einkommens der Nicht-Eliten)
Anteil an der Bevölkerung in %
(optimistische Einschätzung des
Einkommens der Nicht-Eliten)
+
–
–
–
–
–
–
–
,
,
,
,
,
,
,
,
,
,
,
,
,
,
,
,
,
,
Das Militärpersonal einschließlich ihrer Familien machte etwa 1,5 % der Bevölkerung aus und
wird im Folgenden von der Berechnung ausgenommen.
Scheidel und Friesen, „Size“ (s. Anm. 4), 82.
Scheidel und Friesen, „Size“ (s. Anm. 4), 83.
Scheidel und Friesen, „Size“ (s. Anm. 4), 70; vgl. etwa Mt 20,2: Der dort genannte Tageslohn
von einem Denar entspricht vier Sesterzen.
Scheidel und Friesen, „Size“ (s. Anm. 4), 85 s. auch Anm. 19.
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Fortsetzung
Level
Anteil an der Bevölkerung in %
(pessimistische Einschätzung des
Einkommens der Nicht-Eliten)
Anteil an der Bevölkerung in %
(optimistische Einschätzung des
Einkommens der Nicht-Eliten)
, – ,
, – ,
, – ,
,
,
, (einschließlich Militär)
,
,
,
, (einschließlich Militär)
Level 1 stellt ein Einkommen zwischen 655 und 1310 kg Weizen dar (251– 503 HS)
dar und begründet einen nachhaltig gesicherten Lebensunterhalt, mit dem der
Aufwand für Nahrung, Kleidung, Wohnung, Arbeitsmittel, Tiere und Steuern abgedeckt ist. Die höheren Levels sind dann jeweils ein Vielfaches des Einkommens
auf Level 1.
Nach der Einschätzung von Scheidel und Friesen lebten mehr als 22 %
bzw. 10 % der Bevölkerung deutlich unter dem, was für die Lebenserhaltung nötig
war, dem bare-bones-level (bei ca. 0,6) von 390 kg (150 HS). 60 bzw. 55 % existierten am Existenzminimum (Level 0,5 – 0,74) oder knapp darüber, 8 bzw. 19 %
hatten einen relativ gesicherten Unterhalt (Level 0,75 – 0,99). Die Differenzen
zwischen pessimistischer und optimistischer Schätzung sind gerade in diesem
Bereich recht deutlich. Der Bevölkerungsanteil jener Personen von Level 1 bis
Level 5, deren Einkommen bereits deutlich über dem Existenzminimum lag, wird
zwischen 8,3 und 14,8 % angesetzt. Als „middling groups“ („Mittelschicht“) definieren Scheidel und Friesen jene, die ab dem ordentlichen Einkommen von 360
HS (940 kg Weizen) liegen, also ab etwa Level 1,44 bis Level 5. Deren Bevölkerungsanteil wird dementsprechend für das gesamte Imperium Romanum mit 6 bis
12 % berechnet (inkl. Militär). Aus grundsätzlichen Erwägungen, u. a. erhoben
durch den Vergleich mit frühneuzeitlichen Wirtschaftssystemen, kann der Anteil
der Mittellosen nicht zu groß gewesen sein, da die Gesellschaft sonst kollabiert
wäre.²⁴ Die Zahl der Vermögenden war außerdem sehr klein, um der großen Masse
genügend Kapital für das Überleben zu belassen. So liegt der Anteil der Mittelschicht, die weder arm noch reich war, bei ca. 10 %. Diese hatten einen hohen
Anteil am Handelsvolumen, je nach Szenario zwischen 10 und 20 %. Die hohe
Vgl. Scheidel und Friesen, „Size“ (s. Anm. 4), 88. Unterhalb des Levels 0,25 starben Menschen
an Hunger, zwischen 0,25 und 0,49 war ihre Lebenserwartung aufgrund der schlechten Versorgung niedrig.
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Zahl von Personen in dieser „middling group“ sowie jene 8 – 19 % knapp darunter
waren es, die für die Güterproduktion und -nachfrage sorgten. Sie erzeugten,
verkauften und kauften den größten Anteil an Fleisch,Wein, Öl, Metallwaren, Glas
und Textilien.
Gerade für diese mittlere Gruppe ist auch zu beachten, dass sie in Städten
konzentriert war, was noch viel mehr für den Osten des Reiches galt.²⁵ Der Bevölkerungsanteil dieser mittleren Gruppe in einer Stadt war also sicherlich um
einiges höher als im Gesamtdurchschnitt des Imperium Romanum. Scheidel und
Friesen gehen von bis zu 25 % aus, allerdings nicht höher,²⁶ da sonst der Anteil der
völlig Verarmten (0.25 – 0.49) zu groß wäre. Insgesamt ist das Modell also so gestrickt, dass weder die Zahl der Reichen noch jene der völlig Verarmten zu hoch
gewesen sein kann, vielmehr muss es einen sehr hohen Anteil an Menschen am
Existenzminimum gegeben haben sowie eine relativ große mittlere Einkommensgruppe. Die Existenz dieser ökonomischen „Mittelschicht“ hat sich in den
letzten Jahren auch in anderen Entwürfen durchgesetzt.²⁷ Die aus literarischen
Zeugnissen abgeleitete Trennung lediglich in Ober- und Unterschichten²⁸ lässt
sich angesichts dieses Befundes also nicht mehr halten.
Steven J. Friesen hatte sich bereits 2004 mit Armut im Imperium Romanum
und ihrer Bedeutung im frühen Christentum beschäftigt.²⁹ Seine missverständlich
als „Poverty Scale“ (PS) bezeichnete Skala ökonomischer Schichten hat sieben
Stufen.³⁰ Entscheidend für Friesen war bereits hier, dass der Anteil an Armen bei
etwa 68 % lag (PS 6 und 7). Weniger deutlich lässt sich die mittlere Einkom-
S.E. Aulock, „The Eastern Mediterranean,“ in The Cambridge Economic History of the GraecoRoman World, Hg. W. Scheidel, I. Morris und R.P. Saller (Cambridge: Cambridge University Press,
2007), 671– 697, hier: 677.
Scheidel und Friesen, „Size“ (s. Anm. 4), 90. Vgl. auch Walter Scheidel, „Stratification, deprivation and quality of life,“ in Poverty in the Roman World, Hg. E.M. Atkins und R. Osborne
(Cambridge: Cambridge University Press, 2006), 40 – 59, hier: 51– 54.
Vgl. z. B. Ruffing, Drexhage und Konen, Wirtschaft (s. Anm. 8), 172; Ruffing, Wirtschaft
(s. Anm. 8), 103; L.L. Welborn, „The Polis and the Poor. Reconstructing Social Relations from
Different Genres of Evidence,“ in The First Urban Churches 1. Methodological Foundations, Hg. J.R.
Harrison und L.L. Welborn, Writings from the Greco-Roman world. Supplement series 7 (Atlanta:
SBL Press, 2015), 189 – 243, hier: 196 f.
Géza Alfö ldy, Rö mische Sozialgeschichte (Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 42011), 204 f.; vgl.
auch Ekkehard W. Stegemann und Wolfgang Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte. Die
Anfänge im Judentum und die Christusgemeinden in der mediterranen Welt (Stuttgart [u. a.]:
W. Kohlhammer, 21997), 70 – 94; Justin J. Meggitt, Paul, Poverty and Survival, SNTW (Edinburgh:
T&T Clark, 1998).
Friesen, „Poverty“ (s. Anm. 3), 323 – 361. Friesen nahm damit die Untersuchung von Meggitt,
Paul (s. Anm. 28) auf.
Friesen, „Poverty“ (s. Anm. 3), 341.347.
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mensgruppe bestimmen: Wenigstens 7 % (PS 4) gehörten dazu, möglicherweise
auch Teile aus PS 5 (insgesamt 22 %), sodass maximal 29 % die „Mittelschicht“
bilden würden. Sie bestand nach Friesen v. a. aus Händlern und Handwerkern,
während die Armen Arbeiter und Tagelöhner, kleine Händler und Tavernenbesitzer, Witwen, Waise, Bettler und Behinderte waren.
Bruce W. Longenecker legte zunächst eine Revision der Poverty Scale von
Friesen vor,³¹ die er noch einmal aufgrund der Untersuchung von Scheidel und
Friesen überarbeitete.³² Longenecker bezeichnet seine ebenfalls siebenteilige
Skala als „Economy Scale“ (ES) und passte die Überlegungen von Scheidel und
Friesen an ein städtisches Milieu an.³³
Die Zahlen Longeneckers weichen v. a. im Blick auf die mittleren Gruppierungen von jenen von Scheidel und Friesen ab, was u. a. daran liegt, dass er die
Augustalen nicht zu den Eliten zählt. Nach Longenecker wären daher 55 % der
Bevölkerung als strukturell Arme zu bezeichnen. Die Orientierung am Existenzminimum war auch für jene, die in einer relativ gesicherten ökonomischen Lage
waren (27 %), weiterhin von Bedeutung, wobei konjunkturelle Schwankungen zu
bedenken sind. Abgesehen von den Eliten waren im städtischen Kontext lediglich
15 % in einer gesicherten ökonomischen Situation und verfügten über ausreichende Mittel, sich mehr als das Nötige leisten zu können.
Im Zusammenhang seiner Auslegung des Römerbriefs geht Peter Oakes von
einem anderen Ansatz aus: Er greift auf Statistiken zur Haushaltsgröße und
-verteilung in Pompeji zurück³⁴ und schließt daraus auf die ökonomische Situation in einer durchschnittlichen Stadt im Imperium Romanum der frühen Kaiserzeit.³⁵ Dabei zeigt sich, dass 34 % der Haushalte Wohnmöglichkeiten weniger
als 100 m2 zur Verfügung hatten, 22 % zwischen 100 und 200 m2 und nur eine
kleine Minderheit von etwa 5 % mehr als 1000 m2. Legt man allerdings die Zahl
der Bewohner und Bewohnerinnen der Wohnräume – Familien mit insgesamt vier
Personen – auf die ungefähre Bevölkerungszahl Pompejis um, zeigt sich, dass
Bruce W. Longenecker, „Exposing the Economic Middle. A Revised Economy Scale for the
Study of Early Urban Christianity,“ JSNT 31/3 (2009): 243 – 278.
Longenecker, Remember (s. Anm. 3), 36 – 59.
Friesen, „Poverty“ (s. Anm. 3), 337– 347 hatte dies ebenfalls schon versucht, Longenecker geht
allerdings von einem größeren Anteil der „Mittelschicht“ in den Städten aus; vgl. Longenecker,
„Exposing“ (s. Anm. 31), 251– 262.
V. a. auf Andrew Wallace-Hadrill, Houses and Society in Pompeii and Herculaneum (Princeton,
NJ: Princeton University Press, 1994).
Oakes, Reading Romans (s. Anm. 3), 46 – 68. Vgl. auch Peter Oakes, „Methodological Issues in
Using Economic Evidence in Interpretation of Early Christian Texts,“ in Engaging Economics. New
Testament Scenarios and Early Christian Reception, Hg. B.W. Longenecker und K.D. Liebengood
(Grand Rapids, MI, Cambridge: Eerdmans, 2009), 9 – 34.
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etwa 50 % der Einwohner und Einwohnerinnen der Stadt lediglich Mitbewohner
in Haushalten waren, v. a. Sklaven und Sklavinnen, aber auch andere abhängige
Personen (Verwandte, Freigelassene). Der Anteil der Obdachlosen lässt sich nicht
genauer bestimmen. Nach seiner Rechnung lebten etwa 67 % der Bevölkerung in
Unterkünften unter 100 m2, während 2,5 % mehr als 1000 m2 zur Verfügung hatten.
Ausgehend von diesen Überlegungen kommt Oakes zu einer ökonomischen
Gliederung der Gesellschaft Pompejis, die er auch für die meisten anderen Städte
des Imperiums veranschlagt (außer für Rom).³⁶ Das Ergebnis entspricht im Blick
auf den Anteil der Armen jenem aus Scheidels und Friesens Rekonstruktion, die
von einem Bevölkerungsanteil von 68 % ausgehen, der knapp am oder unter dem
Existenzminimum lebte. Oakes schätzt jene Haushalte, die zwischen 100 und
1000 m2 hatten, als jene ein, die zwar nicht zur Elite gehören, aber – auf sehr
unterschiedlichen Niveaus – die „Mittelschicht“ darstellen.³⁷
Im Blick auf mittlere Einkommensgruppen im städtischen Umfeld ergibt sich
aus den genannten Untersuchungen folgende Übersicht:
Anteil an der
Bevölkerung
Friesen
()³⁸
Scheidel/Friesen Scheidel/Friesen Longenecker
Oakes
()
()⁴¹
()³⁹ ()
pessimistisch⁴⁰ optimistisch
mind. %
, %
%
%
%
Deutlich ist, dass die Schätzung, wie groß die städtische Mittelschicht ist, von
unterschiedlichen Faktoren abhängt. Dazu gehören die Berücksichtigung des
sozialen Status, der Anteil der städtischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung des Imperium Romanum, sowie die Definition, ab welchem Einkommen
man von einer „Mittelschicht“ sprechen kann. Im städtischen Umfeld kann man
m. E. mit etwa 15 – 20 % Angehörigen der Mittelschicht rechnen, zu denen Händler
und selbständige Handwerker, Mitglieder der Verwaltung und des Kaiserhauses,
Oakes, Reading Romans (s. Anm. 3), 61.
Die Untergruppen sind Haushalte in Wohnräumen zwischen 100 und 199 m2 (11 %), 200 und
299 m2 (7 %), 300 und 399 m2 (4 %), 400 und 499 m2 (4 %) sowie 500 und 599 m2 (2,5 %).
Friesen, „Poverty“ (s. Anm. 3), 346. Friesen gibt allerdings zu bedenken, dass dieser Anteil
höher sein könnte, wenn Mitglieder aus dem Level PS 5 (stabil am Existenzminimum, 22 %)
hinzugerechnet werden.
Oakes, Reading Romans (s. Anm. 3), 66, wobei dies Haushalte in Wohnräumen zwischen 100
und 1000 m2 umfasst.
Scheidel und Friesen, „Size“ (s. Anm. 4), 90. Für das gesamte Imperium Romanum rechnen
Scheidel und Friesen mit einem Anteil der „Mittelschicht“ zwischen 6 und 12 %.
Longenecker, Remember (s. Anm. 3), 52.55.
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die Augustalen und einige Sklaven gehörten. Gerade in Provinzhauptstädten wie
Korinth oder Thessalonich mit viel Verwaltungspersonal, in Handelsstädten und
Kolonien ist mit einem entsprechend höheren Prozentsatz zu rechnen.
Einig sind sich alle Entwürfe darin, dass die große Mehrheit der Bevölkerung
einer Stadt zu den Armen gehörte, die am oder unterhalb des Existenzminimums
lebten und deren Bestreitung der Lebenshaltungskosten (Essen, Kleidung, Wohnung, Steuern) stets gefährdet war. Krankheit, die Geburt von Kindern,⁴² der Tod
von arbeitenden Angehörigen, Phasen von Nahrungsmittelknappheit oder Naturkatastrophen stellten diese Bevölkerungsgruppe vor große Herausforderungen. Sie war nicht in der Lage, ausreichend vorzusorgen bzw. Mittel für zusätzliche Ausgaben aufzubringen.⁴³ Zwischen 55 und 65 % der Bevölkerung fielen in
diese Kategorie, wobei ca. 25 % in keiner Weise abgesichert waren. Sie waren
abhängig von der Versorgung durch Angehörige, durch seltene und auf Bürger
beschränkte Stiftungen von Nahrungsmitteln und Almosen der Bevölkerung.
Arbeitsfähige Personen konnten als Tagelöhner beschäftigt werden, verbunden
mit einer dementsprechend unsicheren Situation.
Bei alledem ist allerdings zu berücksichtigen, dass der soziale Status nicht
notwendig mit der ökonomischen Situation verbunden war. Zwar waren die gesellschaftlichen Eliten zum überwiegenden Teil auch jene Gruppen, die über teils
gewaltige finanzielle Mittel verfügten, doch finden sich auch unter ihnen bereits
Freigelassene, vor allem jene aus dem Haushalt des Kaisers.⁴⁴ Nicht alle alleinstehenden Frauen oder Zugewanderten ohne Bürgerrecht waren arm und umgekehrt schützte der Status als Freier nicht vor Armut.
Vgl. zur Aussetzung von Kindern als Hinweis auf drückende Armut Harris, Economy (s. Anm.
15), 50.
Vgl. zur Armut in Imperium Romanum u. a. Harris, Economy (s. Anm. 15), 27– 54; Ruffing,
Drexhage und Konen, Wirtschaft (s. Anm. 8), 172– 176; Welborn, „Polis“ (s. Anm. 27), passim. Der
Befund, wenigstens aus Ägypten, wird anders interpretiert von Dominic Rathbone, „Poverty and
Population in Roman Egypt,“ in Poverty in the Roman World, Hg. E.M. Atkins und R. Osborne
(Cambridge: Cambridge University Press, 2006), 100 – 114.
Als Beispiel sei hier Narcissus angeführt, ein Freigelassener des Caligula oder Claudius,
dessen Macht und Reichtum unter Claudius legendär war. Er soll laut Cass. Dio 61,34,4 ein Vermögen von 400 Millionen HS besessen haben. Erwogen wird manchmal, dass es sich dabei um
jenen Narcissus handelt, zu dessen Haushalt Christusgläubige der römischen Gemeinde gehörten
(Röm 16,11).
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2 Griechisch-römische Vereinigungen unter einer
ökonomischen Perspektive
Zur besseren Einordnung der paulinischen Gemeinden in das ökonomische
Spektrum werden im Folgenden Beispiele aus der vielfältigen Welt der griechischrömischen Vereinigungen herangezogen, die die ökonomische Bandbreite dieser
Gemeinschaften illustrieren.⁴⁵ Dabei wird deutlich werden, dass zwischen den
Vereinigungen große Unterschiede hinsichtlich der ökonomischen Situation ihrer
Mitglieder bestanden. Das lässt sich aus den Beiträgen für Sammlungen, Mähler
und andere Aktivitäten gut erkennen.
2.1 Eine Sammlung für ein Heiligtum
In dem ersten Beispiel handelt es sich um eine Mysterienvereinigung von der
Westküste Kleinasiens (IKyme 37 = GRA II 105, 1. Jhd. v./n.Chr.). Kyme war in der
frühen Kaiserzeit eine durchaus wohlhabende Stadt, Belege für vier Vereinigungen sind erhalten (IKyme 17, 37, 39; IJO II 36).
Die Inschrift besteht aus einem Bericht über den Ankauf eines Heiligtums und
seiner Nebengebäude sowie einer Liste von Spendern und Spenderinnen. Die
Mysten organisierten die Finanzierung dieses Kaufs so, dass jedes Mitglied einen
entsprechenden Betrag leistete.⁴⁶ Dieser wurde festgesetzt mit 103 Denaren (412
HS) und von eigens bestimmten Personen gesammelt. Für Angehörige der unteren
Einkommensgruppen war dies nicht zu finanzieren, zumal ja auch noch monatliche Mitgliedsbeiträge, deren Höhe uns nicht bekannt ist, anfielen. Die Mitglieder
waren also zum größten Teil Angehörige der ‚Mittelschicht‘, die über ein Einkommen von deutlich mehr als 90 Denare (360 HS) verfügten. Hinsichtlich der
zahlenden Mitglieder ist auffällig, dass die angefügte Liste von mindestens 39
Zu finanziellen Praktiken innerhalb von Vereinigungen vgl. Philip A. Harland, „Associations
and the Economics of Group Life. A Preliminar Case study of Asia Minor and the Aegean Islands,“
SEÅ 80 (2015): 1– 37; John S. Kloppenborg, „Epigraphy, Papyrology and the Interpretation of the
New Testament. Member Contributions to the Eucharist,“ in Epigraphik und Neues Testament, Hg.
T. Corsten, M. Öhler und J. Verheyden, WUNT 365 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2016), 129 – 153, hier:
135– 150; Richard Last und Sarah E. Rollens, „Accounting Practices in P.Tebt. III-2 894 and Pauline
Groups,“ EC 5 (2014): 441– 474.
Zu Sammlungen von Vereinigungen für bestimmte vereinsinterne Zwecke, sg. ἐπιδόσεις, vgl.
Harland, „Associations“ (s. Anm. 45), 16 – 19; John S. Kloppenborg, „Fiscal Aspects of Paul’s
Collection for Jerusalem,“ EC 8 (2017): 153– 198, hier: 180 – 187.
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Spendern 27 Frauen nennt. Alle Personen waren wahrscheinlich keine römischen
Bürger, da nur ihre Vornamen genannt werden. Einer der Sammler namens Eukarpos wird als δημόσιος bezeichnet, war also offenbar ein Verwaltungsbeamter.
Der Name Ergastikos, „Arbeitsamer“, klingt nach einem (früheren) Sklaven.
2.2 Aufwendungen der Funktionäre
Im Zusammenhang des Kaiserkults waren sicherlich eher Angehörige der Eliten
tätig, wie auch eine Inschrift über die finanziellen Anforderungen einer Vereinigung von Hymnoden aus Pergamon zeigt (IPergamon 374 = GRA II 111; 129 – 138
n.Chr.).⁴⁷ In dieser Inschrift werden Vorgaben gemacht, wie viel für die Festivitäten an den verschiedenen Festtagen durch Funktionäre einzubringen ist. Während für Kleinigkeiten wie Räucherwerk und anderes 15 Drachmen (ca. 12 Denare)
festgesetzt wurden, waren die Aufwendungen für die gemeinsamen Feiern bzw.
die zu zahlenden Beiträge von neuen Mitgliedern oder Funktionsträgern deutlich
höher: So war anlässlich der zahlreichen Feiertage durch den Eukosmos mehrmals im Jahr eine Mina zu spenden. Rechnet man eine Mina mit 100 Drachmen
(ca. 75 Denare/300 HS),⁴⁸ sind bei 4– 5 Festen pro Jahr 400 – 500 Drachmen
aufzuwenden, zuzüglich weiterer Aufwendungen für Brot und Wein. Für die Opfer
an den Kaiser und Roma soll der dafür bestimmte Sänger 100 Denare stiften (400
HS), zudem jedem Mitglied 15 Denare (60 HS) geben und deren Söhne eine halbe
Mina (150 HS). Daraus wird erkennbar, dass die Hymnoden zu den ökonomisch
gut gestellten Gruppen der Stadt gehörten. Das wird auch durch die Mitgliederliste
wahrscheinlich gemacht, die zumeist dreigliedrige Namen sowie einige Angehörige prominenter Familien nennt. Aber auch die Personen mit einfachen Namen
mussten sich die entsprechenden Beträge erst leisten können.⁴⁹ Diese Vereinigung war selbst für Mitglieder der „Mittelschicht“ finanziell aufreibend, zumindest für die leitenden Funktionäre. Um in dieser Vereinigung eine Funktion zu
übernehmen, musste man zur ökonomischen Elite gehören.
Aus Pergamon sind etwa 20 Vereinigungen belegt; vgl. Philip A. Harland, Greco-Roman Associations. Texts. Translations and Commentary. North Coast of the Black Sea, Asia Minor, BZWN
204 (Berlin: de Gruyter, 2014), 120. Zur gesellschaftlichen Stellung der Hymnoden vgl. Eckhard
Stephan, Honoratioren, Griechen, Polisbürger. Kollektive Identitäten innerhalb der Oberschicht des
kaiserzeitlichen Kleinasiens, Hypomnemata 143 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2002), 229 f.
Es gibt zum Umfang einer Mina unterschiedliche Angaben; vgl. K. Hitzl, Art. Mina, DNP 8
(2000): 208.
Für eine ausführliche Diskussion der Inschrift vgl. Harland, GRA II (s. Anm. 47), 128 – 140.
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2.3 Kleine und große Spenden
Eine Sammlung für die Finanzierung eines Zollhauses für Fischfang und -handel in
Ephesus belegt ganz unterschiedliche Spendenhöhen (IEph 20 = GRA II 127; 54– 59
n.Chr.). Es handelt sich dabei um eine Liste von ca. 100 Menschen, die den Bau des
Gebäudes, das auch als Handelsplatz dienen sollte, finanziell bzw. durch Stiftung
von Bauteilen unterstützten. Die Geldbeträge reichen von 5 – 50 Denaren (20 – 200
HS), mehr war für die Finanzierung von Bauteilen aufzuwenden. Etwa die Hälfte
der Genannten waren römische Bürger, max. ein Zehntel Sklaven. Eine Beteiligung
in der Höhe von 5 Denaren scheint nun in der Tat nicht außergewöhnlich hoch und
war wohl auch einfachen Fischern und Fischhändlern möglich, die nicht zur
„Mittelschicht“ gehörten. Zudem ist anzunehmen, dass es aufgrund der Bedeutung des Zollhauses für den lokalen Fischmarkt wohl auch so etwas wie einen
Zwang gab, bei diesem Unternehmen mitzumachen. Möglicherweise gehörten
auch nicht alle Beitragenden überhaupt zu der Berufsvereinigung.⁵⁰
2.4 Erbschaften
Eine Vereinigung von Dionysiasten aus Magnesia am Mäander hielt im frühen 2.
Jhd. n.Chr. in einer Inschrift fest, welche Beträge verstorbene Mitglieder ihnen
hinterlassen hatten (IMagnMai 117 = IDionysosJ 147).⁵¹ Die genannten Summen
waren allerdings nicht besonders hoch: Der Leiter der Vereinigung hinterließ 18
Denare (52 HS), die Priesterin 25 (100 HS), der Hierophant 18 (52 HS) usw. In
Relation zu den Ausgaben der oben erwähnten Hymnoden aus Pergamon sind das
niedrige Summen, die m. E. einen Hinweis darauf zulassen, dass es sich um eine
Vereinigung von Personen der niedrigeren „Mittelschicht“ handelte. Offenbar
waren die jeweiligen Hinterlassenschaften nicht besonders groß, sodass die in
den Testamenten festgesetzten Stiftungen demensprechend gering ausfielen.
Dennoch wurden sie in einer Inschrift festgehalten, die u. a. auch darauf abzielte,
lebende Mitglieder dazu anzuregen, in ihren Testamenten ebenfalls entsprechende Summen festzusetzen. Diese relativ geringen Summen waren aber offenbar schon groß genug, um vermerkt zu werden. Unter den Mitgliedern und Erblassern waren übrigens einige Frauen. Eine davon war römische Bürgerin, alle
anderen Mitglieder hatten kein römisches Bürgerrecht.
Diskussion und Literatur bei Harland, GRA II (s. Anm. 47), 249 – 260; Kloppenborg, „Aspects“
(s. Anm. 46), 169.
Vgl. auch Harland, GRA II (s. Anm. 47), 349.
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2.5 Strafzahlungen
Ebenfalls eine Dionysos-Vereinigung des 2. Jhd. n.Chr., diesmal aus Physkos in
Zentralgriechenland (IG IX/12 670 = GRA I 61), erwähnt in einer Inschrift Mitgliedsbeiträge mit 14 Obolen, wobei allerdings die Frequenz unklar bleibt. Es
handelt sich an sich schon um einen ausgesprochen niedrigen Betrag, denn 6
Obolen ergeben eine Drachme (3 HS), und dennoch wird hinzugesetzt: μὴ ἔλασον
„nicht weniger“ (l.6). Die Finanzierung dieser geringen Summen war auch Angehörigen niedriger Einkommensschichten nicht unmöglich. Die Strafen für
Streitigkeiten sowie für das Fernbleiben von Versammlungen und Kultfeiern waren ebenfalls nicht sehr hoch: 4 bzw. 5 Drachmen (12– 15 HS) fallen dafür an.
Allerdings zeigt ein Vergleich, dass auch in einer elitären Vereinigung niedrige
Strafen vorkamen: Die Athener Iobakchen (GRA I 51; 164/65 n.Chr.) erhoben
Strafen in der Höhe von 25 – 30 leichten Drachmen (Obolen; 12– 15 HS) für geringere Vergehen, allerdings bis zu 25 Denare für Prügeleien (100 HS).⁵² Die Höhe
der Strafen gibt also keinen Einblick in die finanziellen Verhältnisse der Mitglieder einer Vereinigung.
2.6 Der Aufwand für Mähler
In seiner ausführlichen Untersuchung zur ökonomischen Situation der korinthischen Gemeinde geht Richard Last auf zwei Vereinigungen aus Ägypten ein.⁵³ Sie
sind in zwei Papyri aus dem Fayum dokumentiert, einer aus Philadelphia (SB III
7182; nach 173 v.Chr.) und einer aus Tebtunis (P.Tebt. III/2 894; um 114 v.Chr.). Die
beiden Texte beschäftigen sich in erster Linie mit Mitgliedsbeiträgen, Ausgaben
für Essen, Versammlungsorten und Belohnungen für Funktionsträger. Für ein
Treffen der Vereinigung in Philadelphia, die im Übrigen aus Sklaven bestand,
fallen z. B. Kosten in der Höhe von 1590 Drachmen an. Es handelt sich allerdings
um Kupferdrachmen, deren Gesamtwert in etwa 3 Silberdrachmen entsprach (8
Vgl. dazu Eva Ebel, Die Attraktivität früher christlicher Gemeinden. Die Gemeinde von Korinth im
Spiegel griechisch-römischer Vereine, WUNT 2/178 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2004), 115 f. Die Höhe
des Mitgliedsbeitrags bei den Iobakchen ist allerdings unbekannt, der Eintrittsbeitrag lag bei 50
Denaren (200 HS). Die Heraklesvereinigung von Liopesi (GRA I 50; ca. 90 – 110 n.Chr.) verlangte
für Prügelei 10 Drachmen (30 HS); weitere Beispiele bei Harland, „Associations“ (s. Anm. 45),
10 – 16.
Richard Last, The Pauline Church and the Corinthian Ekklesia. Greco-Roman Associations in
Comparative Context, SNTS.MS 164 (Cambridge: Cambridge University Press, 2016), 96 – 112.
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HS).⁵⁴ Die Beiträge der Gemeinschaft in Tebtunis summierten sich auf 2200
Kupferdrachmen, also etwa 5 Drachmen bei 23 Personen (15 HS).⁵⁵ Setzt man diese
Beiträge in den gesamtwirtschaftlichen Kontext Ägyptens, wird allerdings deutlich: Selbst diese an sich geringen Beiträge machten schon etwa 10 % des monatlichen Einkommens eines einfachen Arbeiters aus.⁵⁶
Dass es sich bei diesen beiden Vereinigungen um jene aus schwachen Einkommensgruppen handelt, wird u. a. aus dem Speiseplan der Bankette deutlich:
Unfermentierter Wein, Kohl, Bohnen und Bier waren deutlich günstiger als
richtiger Wein oder Fleisch. Auch die Versammlungsorte – ein Lagerhaus, ein
Stall, der Nebenraum eines Tempels (Philadelphia) bzw. auch private Unterkünfte
(Tebtunis) – entsprechen diesem ökonomischen Level. Die Wechsel der Örtlichkeiten zeigen an, dass die ökonomische Situation der Vereinigung eine dauerhafte
Anmietung oder gar ein eigenes Gebäude nicht zuließen. Auch die Ehrungen innerhalb dieser Gruppen waren dementsprechend billig: Kränze anstelle von Ehreninschriften waren das Mittel der Wahl.
Diese beiden Vereinigungen sind daher als Beispiele dafür anzusehen, dass
es auch unterhalb der ökonomisch Abgesicherten Vereinigungen gab, die auf
einfachere und günstigere Weise ein Vereinsleben entwickelten. Man wird hier mit
Gruppen rechnen dürfen, die auf einem stabilen Niveau ihre wirtschaftliche
Existenz gerade so am Existenzminimum halten konnten, möglicherweise auch
ökonomisch schwächere Personen. Die Überlieferungslage gerade für solche
Gruppierungen ist allerdings schwierig, da sie mangels Aufstellungsort keine
Inschriften hinterließen und so nur einige papyrologische Zeugnisse aus Ägypten
erhalten sind.
Ein Zwischenergebnis
Die unterschiedlichen Rekonstruktionen der ökonomischen Verhältnisse im Imperium Romanum der frühen Kaiserzeit lassen sich doch so weit auf einen Nenner
bringen, dass von einem sehr großen Anteil von Menschen am bzw. unterhalb des
Existenzminimums, einer gewichtigen Gruppe mit einer gesicherten Existenz,
einer ebenso großen Gruppe von Menschen, die man einer „Mittelschicht“ zuordnen würde, sowie einer sehr kleinen Minderheit mit großem bzw. sehr großem
Vermögen auszugehen ist. Die Übergänge waren dabei selbstverständlich flie-
Vgl. Kloppenborg, „Epigraphy“ (s. Anm. 45), 149 f.; Last, Pauline Church (s. Anm. 53), 97 f.
Funktionäre zahlten teilweise mehr als normale Mitglieder, manchmal auch weniger.
Vgl. Last, Pauline Church (s. Anm. 53), 100 f.
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ßend, sodass die Zahlen abhängig von lokalen und zeitlichen Bedingungen
schwankten. Die Verteilung der entsprechenden Bevölkerungsanteile in den
Städten lässt sich ungefähr so abschätzen, dass man von etwa 15 % Angehörigen
der mittleren ökonomischen Gruppe ausgehen kann, von ca. 27 %, deren Existenz
gut abgesichert war, von 30 %, die den notwendigen Lebensunterhalt gerade so
finanzieren konnten, von 25 %, deren Lebenserwartung aufgrund von Armut stark
gefährdet war, während 3 % über große finanzielle Mittel verfügten.⁵⁷ Eine Zuordnung dieser ökonomischen Schichten zu einzelnen Berufsgruppen bzw. Rängen innerhalb der Gesellschaft ist nur eingeschränkt möglich, ist aber zugleich
auch ein Hilfsmittel, gerade im Blick auf die vermögenden Schichten.
Mitgliedschaft in einer Vereinigung war eine mehr oder weniger finanziell
aufwendige Angelegenheit, die allen ökonomischen Gruppen offenstand, außer
jenen, die nicht einmal ihren Lebensunterhalt finanzieren konnten. Weder Eintrittsgelder noch Mitgliedsbeiträge, geschweige denn die finanziellen Anforderungen an Funktionsträger waren dieser unteren ökonomischen Schicht möglich.
Zu rechnen ist allerdings mit Vereinigungen, in denen ausschließlich oder wenigstens teilweise Personen Mitglieder waren, die am Existenzminimum lebten,
wobei deren Beiträge gering bleiben mussten. Die überwiegende Anzahl der
Vereinigungen waren nach den Quellen aber Gruppen, die aus Mitgliedern der
ökonomischen Eliten, der „Mittelschicht“ oder der Personengruppe mit einer
abgesicherten Existenz bestanden.
Die folgende Diskussion der ökonomischen Situation der paulinischen Gemeinden geht zunächst einmal davon aus, dass die Verhältnisse in den Versammlungen von Christusgläubigen nicht kategorial verschieden von denen in
anderen Gemeinschaften waren. An den in den Paulusbriefen bzw. der Apostelgeschichte relativ spärlich enthaltenen Informationen über die wirtschaftliche
Lage der jeweiligen Gemeinden bzw. ihrer Mitglieder muss sich diese Annahme im
Folgenden bewähren.
Diese prozentuelle Aufteilung entspricht Longenecker, Remember (s. Anm. 3), 53. Die Gefahr
des Schemas von sieben Stufen ist allerdings, dass die Grenzen zu scharf verstanden werden. Das
ist der Vorteil der Tabelle von Scheidel und Friesen, „Size“ (s. Anm. 4), 85.
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3 Die wirtschaftliche Lage in den paulinischen
Gemeinden
Es hat sich in der Forschung bewährt, die paulinischen Gemeinden nicht als eine
Einheit zu fassen, sondern in ihrem je individuellen Profil zu betrachten, was
auch im Blick auf deren ökonomische Situation sinnvoll ist.
3.1 Antiochien
Antiochien ist zwar keine paulinische Gründung, aber die dortige Ekklesia war
möglicherweise das prägende Vorbild für das, was sich Paulus unter einer Gemeinschaft von Christusgläubigen vorstellte. Einige wenige Hinweise lassen erkennen, dass die ökonomische Situation dieser „Versammlung“ nicht schlecht
gewesen sein dürfte. So findet sich in der Gruppe der fünf Leitfiguren (Apg 13,1)
neben Barnabas und Paulus mit Manaën, dem σύντροφος des Herodes Antipas,
ein Klient des Herodianischen Hauses, der möglicherweise sogar zur ökonomischen Elite gehörte.
Die wirtschaftliche Lage der aus Jerusalem geflohenen Diasporajuden ist
weniger eindeutig (Apg 11,19 f.). In Jerusalem hatten sie sehr wahrscheinlich eine
gesicherte wirtschaftliche Existenz gehabt und gehörten zur Mittelschicht.⁵⁸ Wie
weit sie ihre ökonomischen Ressourcen nach Antiochien bringen und sich dort
wieder wirtschaftlich etablieren konnten, muss offenbleiben. Es ließ sich allerdings über Mittelsmänner wohl auch nach der Flucht noch manches transferieren. Insofern waren auch die aus Jerusalem geflüchteten Hellenisten wahrscheinlich nicht mittellos. Dafür spricht auch der Bericht über Barnabas, der in
Jerusalem den Ertrag eines Grundstückverkaufs gespendet hatte (Apg 4,36 f.) und
während seiner Verkündigungstätigkeit nicht auf Versorgung durch die Gemeinden angewiesen war (1 Kor 9,6).⁵⁹ Auf eine Unterstützung durch die antiochenische Gemeinde könnte die Aussendung der Verkündiger Barnabas und Paulus
hinweisen (Apg 13,2 f.), was zugleich aber auch eine wirtschaftliche Potenz der
Christusgläubigen erkennen lässt.
Vgl. insgesamt zu griechischsprachigen Judäern in Palästina Michael Zugmann, „Hellenisten“
in der Apostelgeschichte. Historische und exegetische Untersuchungen zu Apg 6,1; 9,29; 11,20,WUNT
2/264 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2009), 205 – 294.
Vgl. Markus Öhler, Barnabas. Die historische Person und ihre Rezeption in der Apostelgeschichte, WUNT 156 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2003), 15 – 24.173 – 186.
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Nach Apg 11,27– 30; 12,25 veranstalteten die Mitglieder der antiochenischen
Gemeinde eine Sammlung für die von einer Hungersnot bedrohten Jerusalemer
Christusgläubigen. Die Höhe dieser Unterstützung muss so substantiell gewesen
sein, dass sie Teil der kollektiven Erinnerung blieb. Zudem war sie Vorbild für die
spätere Kollekte, die beim Jerusalemer Apostelkonvent vereinbart wurde (Gal
2,10). Die Mitglieder der antiochenischen Gemeinde waren offenbar zur Finanzierung einer solchen Unterstützung fähig. Der Streit über Speisevorschriften der
Tora (Gal 2,11– 14) rückt hingegen die gemeinsamen Mahlzeiten in den Mittelpunkt. Dies wird auch im Aposteldekret thematisiert (Apg 15,20.29; 21,25), wenn
dieses tatsächlich eine Reaktion auf den Antiochenischen Zwischenfall darstellte.⁶⁰ Die Auseinandersetzung setzt voraus, dass die Mahlzeiten u. a. Fleisch enthielten, das im Kontext von Speisevorschriften besonders relevant war. Fleisch
gehörte allerdings nicht zum Speiseplan ärmerer Vereinigungen (s.o.).
Gab es Arme und Bedürftige in der Gemeinde von Antiochien?⁶¹ Sie werden an
keiner Stelle in der Apostelgeschichte im Zusammenhang mit Antiochien erwähnt, vielmehr zeigen die angesprochenen Belege, dass von einer gesicherten
wirtschaftlichen Existenz der Gemeindeglieder auszugehen ist. Nichts deutet auf
einzelne Vermögende hin, denen eine verarmte Mehrheit gegenübergestanden
wäre.
3.2 Galatien
Der Galaterbrief gibt uns kaum Einblicke in die ökonomische Situation der Gemeinden.⁶² Paulus erwähnt immerhin die Kollekte für die Jerusalemer (Gal 2,10),
auch wenn die Adressaten nicht direkt aufgefordert werden, sich daran zu betei-
Vgl. die Beiträge in Aposteldekret und antikes Vereinswesen. Gemeinschaft und ihre Ordnung,
Hg. Markus Öhler, WUNT 280 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2011). Zu erwägen wäre auch, ob die
Benennung als Christianoi durch die römischen Behörden, so sie tatsächlich in Antiochien das
erste Mal erfolgte (Apg 11,26), auf einen höheren gesellschaftlichen Status der Gemeinschaft
verweist.
Zu den sprachlichen Formen zur Beschreibung von Armut vgl. zuletzt D.J. Armitage, Theories
of Poverty in the World of the New Testament, WUNT 2/423 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2016), 37– 47.
Der Vf. des lukanischen Doppelwerks verwendet πτωχός κτλ. ausschließlich im Evangelium (Lk
4,18 u.ö.), während er in der Apostelgeschichte ἐνδεής gebraucht (Apg 4,34) bzw. von „Not“
(χρεία) schreibt (2,45; 4,35); vgl. zu diesem Wechsel Öhler, Barnabas (s. Anm. 59), 99 – 103.
Die Frage, ob die galatischen Gemeinden im Süden oder Norden der Provinz Galatien lagen,
kann hier offenbleiben. Auch der Bericht in Apg 13 f. gibt keine eindeutigen Hinweise auf die
wirtschaftliche Situation der Christusgläubigen.
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ligen. Im Brief selbst vermeidet der Apostel dies, da es seinem Argumentationsziel,
die Galater von der Beschneidung und der Unterwerfung unter die Tora abzuhalten,
eher geschadet als genützt hätte, Geld von ihnen zu fordern. Seine Bemerkung in
1 Kor 16,1 macht aber deutlich, dass die Kollekte selbstverständlich auch in den
galatischen Gemeinden organisiert werden sollte: „… wie ich den Versammlungen
Galatiens angeordnet habe …“ (ὥσπερ διέταξα ταῖς ἐκκλησίαις τῆς Γαλατίας). Mit
dieser für Paulus so wichtigen Kollekte für Jerusalem haben wir einen analogen Fall
zu den oben erwähnten Sammlungen von Vereinigungen vor uns, allerdings mit der
Differenz, dass das Geld an einen anderen Ort und eine andere Ekklesia geht.⁶³ Im
Blick auf die wirtschaftliche Situation der Gemeinden ist eindeutig, dass die Finanzierung einer Kollekte eine ökonomische Situation am oder über dem Existenzminimum verlangte. Menschen, die ihren eigenen Lebensunterhalt nicht finanzieren konnten, waren nicht dazu in der Lage, wöchentlich Geldbeträge beiseite
zu legen (1 Kor 16,2). Paulus nennt zwar keine Summen, sondern überließ es den
Einzelnen, den Betrag für sich selbst zu bestimmen, setzt aber voraus, dass sich
jeder Haushalt bzw. jede Einzelperson daran beteiligte.
Gab es denn überhaupt Arme und Bedürftige in den galatischen Gemeinden?
Paulus lässt davon nichts erkennen. Bruce Longenecker hat nun allerdings –
ausgehend von der frühpatristischen Exegese – die Ansicht stark gemacht, dass
Paulus in Gal 2,10 bei den πτωχοί nicht an die Jerusalemer Armen denken würde,
sondern grundsätzlich an die Armen, die von allen Gemeinden versorgt werden
sollten.⁶⁴ Die Kollekte für Jerusalem sei eine von Paulus erst 53 n.Chr., also nach
Abfassung des Galaterbriefs, aufgebrachte Idee gewesen.⁶⁵
Gegen Longeneckers Versuch, in Gal 2,10 eine allgemeine Praxis der Armenfürsorge in den paulinischen Gemeinden zu sehen, spricht zum einen Röm 15,26,
und zwar unabhängig davon, ob die Jerusalemer Gemeinde als Ganze als „die Armen“ eingeschätzt wird oder nur eine Gruppe.⁶⁶ Paulus beschreibt die Sammlung
Vgl. zuletzt dazu Kloppenborg, „Aspects“ (s. Anm. 46), passim, der einen Überblick zu den
bisherigen Forschungsansätzen bietet und selbst ausführlicher die Verbindung zu den Sammlungen von Vereinigungen aufzeigt.
Longenecker, Remember (s. Anm. 3), 157– 183. Vgl. auch Bruce W. Longenecker, „The Poor in
Galatians 2:10: The Interpretive Paradigm of the First Centuries,“ in Engaging Economics. New
Testament Scenarios and Early Christian Reception, Hg. B.W. Longenecker und K.D. Liebengood
(Grand Rapids, MI, Cambridge: Eerdmans, 2009), 205 – 221; aufgenommen u. a. von Armitage,
Poverty (s. Anm. 61), 232– 234.
Longenecker, Remember (s. Anm. 3), 338 – 344.
Letzteres scheint mit wahrscheinlicher zu sein; vgl. u. a. Ulrich Wilckens, Der Brief an die
Römer (Röm 12 – 16), EKK VI (Neukirchen-Vluyn: Neukrichnener; Einsiedeln: Benziger, 31993), 125;
anders etwa Heinrich Schlier, Der Römerbrief, HThK 6 (Freiburg im Breisgau,Wien: Herder, 31987),
436.
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(κοινωνία) in Röm 15,26 ausdrücklich als eine für die „Armen der Heiligen, die in
Jerusalem (sind)“ (εἰς τοὺς πτωχοὺς τῶν ἁγίων τῶν ἐν Ἰερουσαλήμ). Es ist nicht
plausibel, dass er im Galaterbrief im Kontext des Berichts über seine Verhandlungen mit den Jerusalemern (2,1– 9) andere πτωχοί meinen würde.⁶⁷
Weiters ist die Erwähnung der Kollekte in 1 Kor 16,1– 4, wo Galatien explizit
genannt wird (16,1), Hinweis genug, um zu verstehen, dass die Sammlung für die
Heiligen (ἡ λογεία ἡ εἰς τοὺς ἁγίους) bzw. die Gabe (ἡ χάρις) nichts anderes war
als das, was beim Konvent mit den Jerusalemern vereinbart worden war.⁶⁸ Dass die
patristische Exegese Gal 2,10 zum Teil als eine generelle Maxime verstand, hat mit
der großen Bedeutung von Armenfürsorge in den Gemeinden seit der 2. Hälfte des
2. Jahrhunderts zu tun, in der ein solcher Satz durch den Apostel Paulus besonderes Gewicht hatte.⁶⁹
Einzig Gal 6,9 f. könnte auf eine Armenfürsorge verweisen.⁷⁰ Allerdings sind
die dort formulierten Aufforderungen „Lasst uns das Rechte tun“ (τὸ δὲ καλὸν
ποιοῦντες) und „Lasst uns das Gute tun gegenüber allen“ (ἐργαζώμεθα τὸ ἀγαθὸν
πρὸς πάντας) zu allgemein. Liest man sie als Aufforderungen auch zu ökonomischer Hilfe, sagen sie zugleich aus, dass die Adressaten diese wirtschaftlichen
Möglichkeiten hatten, nicht aber, dass es unter ihnen welche gab, die selbst bedürftig waren. Mit πρὸς πάντας wird vielmehr der Blick nach außen gerichtet.
3.3 Thessalonich
Die Gemeinde von Thessalonich war zwar in einer gesellschaftlichen Drucksituation (1 Thess 2,14; 3,3 f.), deren wirtschaftlichen Auswirkungen widmet sich
Paulus allerdings nicht ausführlich. Zugleich fällt auf, dass der Apostel auf das
Anders Longenecker, Remember (s. Anm. 3), 184– 189. Der Umstand, dass Galatien in Röm
15,26 nicht genannt wird, könnte als Hinweis dafür gewertet werden, dass Paulus zur Zeit der
Abfassung nicht sicher war, ob sich die galatischen Gemeinden überhaupt noch an der Sammlung
beteiligen würden.
Auch die Verwendung des Aorist ἐσπούδασα in Gal 2,10 lässt nicht daran denken, dass Paulus
den Galatern im Zusammenhang der Verkündigung des Evangeliums die Armenfürsorge plausibel
gemacht hätte, sondern dass dahinter der Beginn des Bemühens stand, die Vereinbarung in Jerusalem zu erfüllen. Im Gegenteil verweist dies darauf, dass die Galater um die paulinische Bemühung wissen, da er auch bei ihnen bereits dafür geworben hatte.
Longenecker, Remember (s. Anm. 3), 161– 170, nennt Tertullian (Adv. Marc. 5.3), Origenes
(Comm. in Matt. 16.6.165 – 180), Athanasius (Hist. Arian. 61.1.3) sowie Aphrahat (Dem. 20). Die
Belege sind alle kombiniert mit allgemeinen Erörterungen zur Armenfürsorge. M. E. deuten diese
Zeugnisse darauf hin, dass eine spezifische Aussage generalisiert wurde.
Vgl. Longenecker, Remember (s. Anm. 3), 141 f. mit einigen Literaturhinweisen.
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Thema Arbeit wiederholt zu sprechen kommt. Seine eigene Tätigkeit sei Zeichen
dafür, dass er die Mitglieder der Ekklesia nicht ausgenutzt habe und ihnen nicht
zur Last gefallen sei (1 Thess 2,7.9). Das kann in zwei Richtungen verstanden
werden: Entweder die Thessalonicher hatten gar nicht die Möglichkeit, Paulus zu
unterstützen.⁷¹ Worin wäre dann aber das Besondere des apostolischen Verzichts
gelegen? Laut Phil 4,16 unterstützten die Philipper Paulus während eines Aufenthaltes in Thessalonich wenigstens zweimal. Das sollte m. E. allerdings nicht
vorschnell auf die allgemeine ökonomische Situation der Thessalonicher zurückgeführt werden, da Paulus ausschließlich von den Philippern Geld annahm
(Phil 4,15).⁷² Wahrscheinlicher war, dass Paulus die Möglichkeit einer Unterstützung durch die Thessalonicher nicht nützte, um sich so von kynischen oder anderen Wanderlehrern zu unterscheiden.⁷³ Die Mitglieder der Gemeinde von
Thessalonich hätten also durchaus die finanzielle Potenz gehabt, Paulus und
seinen Begleitern Silvanus und Timotheus Gastfreundschaft und finanzielle
Förderung zu gewähren, diese verzichteten aber darauf, um die Verkündigung
nicht zu gefährden.
Auf die ökonomische Lage der Mitglieder der Gemeinde in Thessalonich
deutet die Anweisung hin, einen Bruder nicht in geschäftlichen Angelegenheiten
zu übervorteilen (1 Thess 4,6a). Art und Umfang der genannten πράγματα werden
zwar nicht spezifiziert, es ist aber auffallend, dass unter den Mitgliedern der
Ekklesia offenbar Geschäfte gemacht wurden.⁷⁴ Da die Mehrzahl der Händler und
Handwerker zu jener ökonomischen Gruppe gehörte, die am oder knapp über dem
Existenzminimum lebte, und in 1 Thess 4,11 auf Handarbeit Bezug genommen
wird (ἐργάζεσθαι ταῖς χερσὶν ὑμῶν), gehörten die Mitglieder der Gemeinde von
So etwa Richard S. Ascough, Paul’s Macedonian Associations. The Social Context of Philippians
and 1 Thessalonians, WUNT 2/161 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2003), 166.
Anders etwa Ascough, Associations (s. Anm. 71), 166 f. Allerdings verwendet Paulus in 2 Kor
11,8 f. den Plural „andere Gemeinden“, um dann zu explizieren, dass Brüder aus Makedonien ihm
aushalfen. Diese können aus Philippi (s.u.), aber auch aus Thessalonich oder Beröa gekommen
sein.
Christoph vom Brocke, Thessaloniki, Stadt des Kassander und Gemeinde des Paulus. Eine frühe
christliche Gemeinde in ihrer heidnischen Umwelt, WUNT 2/125 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2001),
151; Christine Gerber, Paulus und seine „Kinder“. Studien zur Beziehungsmetaphorik der paulinischen Briefe, BZNW 136 (Berlin [u. a.]: de Gruyter, 2005), 279 – 282.
1 Thess 4,6 wird übrigens weitgehend ignoriert in der Frage nach der wirtschaftlichen Situation der Gemeinde, da es auf sexuelle Handlungen hin interpretiert wird; vgl. Ascough, Associations (s. Anm. 71), 67; zutreffend hingegen Stefan Schreiber, Der erste Brief an die Thessalonicher, ÖTK 13/1 (Gü tersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2014), 220 f.
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Zwischen Elend und Elite
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Thessalonich sehr wahrscheinlich zu dieser Schicht.⁷⁵ Wenig wahrscheinlich erscheint mir eine Deutung der θλίψις der Thessalonicher auf „Armut“ (1 Thess 1,6;
3,3.7), wenngleich die Bedrängnis durch die Umgebungsgesellschaft sehr wahrscheinlich auch ökonomische Folgen hatte.⁷⁶ Dies gilt umso mehr als Paulus trotz
der zahlreichen Mahnungen in seinem Schreiben an die Thessalonicher (v. a.
1 Thess, 5,12– 22) keine finanziellen Unterstützungen für arme Mitglieder oder
generell alle Armen anspricht. Für eine ökonomisch günstige Lage wenigstens
eines Mitglieds der Gemeinde in Thessalonich spricht hingegen Apg 17,5 – 9: Die
Bürgschaft, die Jason als Gewährleistung für das Wohlverhalten bzw. die Abreise
von Paulus und Silvanus hinterlegte, kann nicht gering gewesen sein, wenn sie
ihren Zweck erfüllen sollte.
Gab es Arme und Bedürftige in der Gemeinde von Thessalonich? Ein positiver
Nachweis lässt sich dafür m. E. nicht finden. Man mag vielleicht überlegenswert
finden, ob die Schwachen (ἀσθενοῖ 1 Thess 5,14) wirtschaftlich Schwache im Sinne
von Menschen unterhalb des Existenzminimums waren, doch der Kontext der
Ermahnung widerrät dieser Interpretation: Neben den Schwachen werden nämlich die Unordentlichen und Kleinmütigen genannt.⁷⁷
All dem gegenüber steht die Aussage in 2 Kor 8,2 f.: Paulus formuliert dort im
Zusammenhang der Kollektenaufforderung, dass die makedonischen Gemeinden – d. h. zumindest Thessalonich, Philippi und wohl auch Beröa – aus ihrer
tiefsten Armut heraus (κατὰ βάθους πτωχεία αὐτῶν) über ihr Vermögen (παρὰ
δύναμιν) zur Kollekte für Jerusalem beigetragen hätten. Für die Rekonstruktion
der wirtschaftlichen Verhältnisse dieser Gemeinden ist nun aber wichtig, den
rhetorischen Charakter der Formulierungen zu berücksichtigen. Der tiefsten Armut wird nämlich das Übermaß ihrer Gnade (ἡ περισσεία τῆς χαρᾶς αὐτῶν) gegenübergestellt. Paulus präsentiert die Beteiligung der Gemeinden Makedoniens
so, als würde er nur wider Willen ihre Gaben annehmen, um damit die Korinther
zu einer intensiveren Teilnahme an der Sammlung zu motivieren.⁷⁸ Auch der
folgende Verweis auf die „Freiwilligkeit“ (αὐθαίρετοι) ist angesichts des massiven
Drängens in 2 Kor 8 f. und der Angabe, Paulus habe die Kollekte in Galatien an-
Vgl. zuletzt Schreiber, 1Thess (s. Anm. 74), 55 f. Nicht plausibel erscheint mir, aus diesem Text
einen ökonomischen Level von „ES5 (or so)“ zu rekonstruieren (Longenecker, Remember [s. Anm.
3], 257), da Handwerker auch dem Level ES6 angehörten. Paulus selbst beschreibt sich als
Handarbeiter in 1 Kor 4,12 (vgl. Apg 20,34; Eph 4,28).
So aber Ascough, Associations (s. Anm. 71), 167 f.; Schreiber, 1Thess (s. Anm. 74), 56.
Anders etwa Armitage, Poverty (s. Anm. 61), 230 f. Mit ἀσθενής bezeichnet Paulus Krankheit
(Phil 2,26 f.; Gal 4,13), die irdische Existenz (2 Kor 13,3 f.) und geistliche Schwäche (Röm 14,1), aber
auch niedrigen sozialen Status (1 Kor 1,25.27).
Mit παρὰ δύναμιν überspitzt Paulus das zuvor verwendete κατὰ δὐναμιν.
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geordnet (1 Kor 16,1) als rhetorische Überspitzung zu erkennen. All dies soll dazu
beitragen, die Korinther für die Kollekte zu begeistern, indem er die Sache als
einen Wettstreit zwischen Makedonien und Korinth gestaltet. Die Versammlungen
von Christusgläubigen in Makedonien waren also wohl nicht in tiefster Armut,⁷⁹
wenngleich ebenso gilt: Sie waren ärmer als jene von Korinth. Umso lobenswerter
ist ihr Beitrag und umso größer muss jener der Korinther ausfallen.⁸⁰
3.4 Philippi
Schon der Bericht über die Entstehung der Gemeinde in Philippi hinterlässt den
Eindruck, dass es sich wenigstens bei Lydia und ihrem Haushalt um einen ökonomisch besser gestellten Kern der dortigen Ekklesia handelte (Apg
16,13 – 15.25 – 34).⁸¹ Die Purpurhändlerin Lydia gehörte sehr wahrscheinlich zur
gehobenen Mittelschicht,⁸² der namenlose Gefängnisaufseher hatte einen städtischen Beruf mit gesichertem Einkommen.
Vor allem die Paulusbriefe sind ein deutlicher Hinweis auf eine gesicherte
wirtschaftliche Situation der philippischen Gemeinde: Paulus empfing mehrfach
finanzielle Unterstützung von den Philippern, zweimal während eines Aufenthalts in Thessalonich (Phil 4,16) und dann auch am Ort der Abfassung des Philipperbriefes (4,10 – 20). „Andere Gemeinden habe ich beraubt“, schreibt er in
2 Kor 8,8, und meint möglicherweise eine weitere Versorgungsleistung der Philipper, die ihn in Korinth erreichte (2 Kor 8,9). Während sich Paulus als bedürftig
und hungernd stilisiert (Phil 4,12), bezeichnet er die Gabe der Philipper, mit der sie
seine Evangeliumsverkündigung erwidern, übertreibend als „Überfluss“ (Phil
4,18).⁸³ Dazu kommt, dass der Philipperbrief Reisen zwischen Philippi und dem
Vgl. Longenecker, Remember (s. Anm. 3), 257: „Another instance of Paul constructing an
economic location of ES7“.
Thomas Schmeller, Der zweite Brief an die Korinther. 2Kor 7,5 – 13,13, EKK VIII/2 (NeukirchenVluyn: Neukirchener Theologie, 2015), 46 f.
Vgl. Jean-Pierre Sterck-Degueldre, Eine Frau namens Lydia. Zu Geschichte und Komposition in
Apostelgeschichte 16,11 – 15.40, WUNT 2/176 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2004), 235 – 243; Eva Ebel,
Lydia und Berenike. Zwei selbständige Frauen bei Lukas, BG 20 (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 22012), 21– 76.
Vgl. u. a. Longenecker, Remember (s. Anm. 3), 251.
Nach der Deutung von Julien M. Ogereau, Paul’s Koinonia with the Philippians. A Socio-Historical Investigation of a Pauline Economic Partnership, WUNT 2/377 (Tü bingen: Mohr Siebeck,
2014) handelt es sich bei dem Verhältnis zwischen Paulus und den Philippern um eine dauerhafte
Partnerschaft, in der Paulus die Verkündigung des Evangeliums betrieb und von den Philippern
dabei unterstützt wurde.
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Zwischen Elend und Elite
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Abfassungsort erkennen lässt, die durch die Gemeinde bzw. vermögende Mitglieder finanziert worden sein müssen, wenn nicht Epaphras selbst die Reisekosten aufbrachte.⁸⁴ Entgegen der Aussage in 2 Kor 8,2 f. lässt sich zumindest für
Philippi eindeutig festmachen, dass diese Gemeinschaft keinesfalls arm im Sinne
von mittellos war. Dazu passt, dass der Philipperbrief keinen Hinweis darauf
enthält, dass es in der Gemeinde Menschen gab, deren wirtschaftliche Existenz
nachhaltig gefährdet war und die auf Unterstützung durch Mitglieder der Gemeinschaft angewiesen waren. Vielmehr ist damit zu rechnen, dass sie zur Mittelschicht der Stadt gehörten.
3.5 Ephesus
Die Informationen zur paulinischen Tätigkeit in Ephesus sind ausgesprochen
dünn. Die Anmietung eines Lehrsaals (Apg 19,9) weist auf gewisse finanzielle
Mittel der Gemeinschaft um Paulus hin.⁸⁵ Ob sich Ephesus an der Kollekte beteiligte, wird aus den Paulusbriefen nicht deutlich, ist aber aufgrund der Anwesenheit des Ephesers Trophimus bei der Kollektenreise durchaus wahrscheinlich
(Apg 20,4). Die einzige Passage der Apostelgeschichte, in der Paulus als Wohltäter
erscheint, findet sich in der Abschiedsrede an die Ältesten von Ephesus (Apg
20,33 – 35): Paulus habe die Bedürfnisse (χρείαι) seiner Mitarbeiter mittels seiner
handwerklichen Tätigkeit erfüllt und damit gezeigt, dass man sich der Schwachen
annehmen müsse (δεῖ ἀντιλαμβάνεσθαι τῶν ἀσθενούντων).⁸⁶ Die deutlich lukanische Prägung der Rede sollte uns aber von einer Rückprojektion dieser Aussagen in das Wirken des ‚historischen‘ Paulus abhalten.⁸⁷
Die Mahnung in Röm 12,13, sich der Nöte der Heiligen anzunehmen und Gastfreundschaft zu
gewähren, bekommt vor dem Hintergrund der paulinischen Reisepläne eine ökonomische Dimension, obwohl die Nöte wahrscheinlich darüber hinausgehen. Last, Pauline Church (s. Anm.
53), 135 f., bietet Parallelen für den Ersatz von Reisekosten in Vereinszeugnissen.
Zu Priska und Aquila und ihrer Hausgemeinde s.u.
Andreas Lindemann, „Paulus und die Rede in Milet (Apg 20,17– 38),“ in Reception of Paulinism
in Acts, Hg. D. Marguerat, BEThL 229 (Leuven: Peeters, 2009), 175 – 205, hier: 198, verweist auf
Bezüge zu 1 Kor 4,12, und bezeichnet die Ausführungen als „typischen idealisierten Topos in
nachpaulinischer Zeit.“
Longenecker, Remember (s. Anm. 3), 152, versteht die Rede als Porträt des Paulus, das mit den
Angaben der Briefe und nachpln. Traditionen vollkommen übereinstimmt; vgl. dagegen Lindemann, „Paulus“ (s. Anm. 86), 203; Manfred Lang, Die Kunst des christlichen Lebens. Rezeptionsästhetische Studien zum lukanischen Paulusbild, ABG 29 (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt,
2008), 328 – 335.
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3.6 Korinth
Die Gemeinde von Korinth ist jene, zu deren ökonomischer Situation wir die
meisten Nachrichten aus der paulinischen Korrespondenz haben. Sie steht daher
seit jeher im Fokus entsprechender Erörterungen. Im Folgenden werden zunächst
einzelne Texte auf ihre ökonomische Dimension hin betrachtet, bevor wir uns der
Kollekte noch einmal ausführlicher zuwenden und schließlich auf einzelne Personen aus der korinthischen Gemeinde eingehen.
3.6.1 Einzelne Abschnitte aus den Korintherbriefen
Ein für die Argumentation im Blick auf die Versorgung von Bedürftigen in der
Gemeinschaft zentrale Passage findet sich in den Ausführungen zu den von
Paulus kritisierten Vorkommnissen beim Herrenmahl (1 Kor 11,21– 22b):⁸⁸
„Denn jeder nimmt sein eigenes Mahl (vorweg)⁸⁹ beim Essen, und der eine hungert, der
andere ist betrunken. Habt ihr denn etwa nicht Häuser um zu essen und zu trinken? Oder
verachtet ihr die Versammlung Gottes und beschämt die, die nicht haben?“⁹⁰
Bruce Longenecker geht in seiner Monographie, die zum Ziel hat, die Versorgung
Bedürftiger als wichtiges Element der Evangeliumsverkündigung sowie der Praxis
der Gemeinden darzustellen, auf 1 Kor 11,22 leider nur sehr knapp ein: „I interpret
τοὺς μὴ ἔχοντας in 1Cor 11:22 in absolute terms as ‘those who have nothing‘.“⁹¹
Nun sind allerdings im Zusammenhang der pln. Erörterungen der Mahlkontext
Einen knappen Überblick zur sozialgeschichtlichen Deutung dieses Abschnittes bietet jetzt
Paul Duff, „Alone Together. Celebrating the Lord’s Supper in Corinth (1Cor 11:17– 34),“ in The
Eucharist. Its Orgins and Contexts, Hg. D. Hellholm und D. Sänger, WUNT 376 (Tübingen: Mohr
Siebeck, 2017), 555 – 578, hier: 557– 563.
Die Diskussion, ob προλαμβάνειν hier „vorwegnehmen“ oder „einnehmen“ meint, muss hier
übergangen werden; vgl. dazu etwa Matthias Klinghardt, Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft. Soziologie und Liturgie frühchristlicher Mahlfeiern, TANZ 13 (Tübingen: Francke Verlag,
1996), 281– 291; Dieter Zeller, Der erste Brief an die Korinther, KEK 5 (Göttingen: Vandenhoeck &
Ruprecht, 2010), 367; Duff, „Alone“ (s. Anm. 88), 565 f.
1 Kor 11,21– 22b: ἕκαστος γὰρ τὸ ἴδιον δεῖπνον προλαμβάνει ἐν τῷ φαγεῖν, καὶ ὃς μὲν πεινᾷ ὃς
δὲ μεθύει. μὴ γὰρ οἰκίας οὐκ ἔχετε εἰς τὸ ἐσθίειν καὶ πίνειν; ἢ τῆς ἐκκλησίας τοῦ θεοῦ καταφρονεῖτε, καὶ καταισχύνετε τοὺς μὴ ἔχοντας.
Longenecker, Remember (s. Anm. 3), 232 (Anm. 41); vgl. schon Gerd Theißen, „Soziale
Schichtung in der korinthischen Gemeinde,“ in Studien zur Soziologie des Urchristentums, Hg.
Ders.,WUNT 19 (Tübingen: J.C.B. Mohr, 1989), 231– 271, hier: 257; Meeks, Urchristentum (s. Anm. 2),
146; Friesen, „Poverty“ (s. Anm. 3), 349.
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und die zugespitzte Gestalt zu berücksichtigen. So ist deutlich, dass es Paulus um
eine Polarisierung von Hunger oder Trunkenheit geht, nicht um grundsätzliche
Aussagen über Reiche und Arme.⁹² Paulus rückt Extreme in den Blick. Der genannte Hunger betrifft auch nur das Gemeinschaftsmahl, nicht die grundsätzliche
wirtschaftliche Situation einzelner Mitglieder. Es sind ja auch die Betrunkenen
nicht immer betrunken, sondern nur beim Bankett in der Ekklesia. Das schließt
auch die ein, die wörtlich „nicht haben“⁹³: Sie haben nur beim Gemeinschaftsmahl nichts, und das liegt nicht daran, dass sie grundsätzlich nichts haben,
sondern dass ihnen nur noch wenig übriggelassen wird.⁹⁴ Aber bringt denn nicht
jeder etwas mit beim Mahl, sodass „die, die nicht haben“ doch völlig mittellos
waren, weil sie selbst nichts zur Verfügung stellen konnten? Das würde freilich
voraussetzen, dass die Gemeinschaftsmähler nach einem Eranos-Prinzip funktionierten, das sich allerdings in den ntl. Texten nicht nachweisen lässt.⁹⁵ Viel
eher ist doch anzunehmen, dass wie in allen anderen religiösen Gemeinschaften
der frühen Kaiserzeit die Bankette aus einer gemeinsamen Kasse bzw. durch die
Unterstützung einiger weniger Wohltäter und Funktionäre finanziert wurden.
Schließlich ist auch die Formulierung des Paulus, wonach „die, die nicht
haben“, beschämt werden, m. E. so zu interpretieren, dass die Satten und Be-
Andreas Lindemann, Der erste Korintherbrief, HNT 9/I (Tübingen: Mohr Siebeck, 2000), 251 f.
verweist zu Recht darauf, dass Paulus Individuen und deren Verhalten im Blick hat, nicht
Gruppen; ähnlich auch Duff, „Alone“ (s. Anm. 88), 565.
Das Objekt muss hier ergänzt werden, was zu den verschiedensten Deutungen entscheidend
beiträgt. Relativ neutral übersetzt Zeller, 1Kor (s. Anm. 89), 364: „die (so etwas) nicht haben“, noch
besser Lindemann, 1Kor (s. Anm. 92), 247: „die Nicht-Habenden“. Die Absolutsetzung von μή im
Sinne von μηδέν beruht darauf, dass 2 Kor 6,10 in den Text eingetragen wird, wo sich Paulus selbst
als einer, der nichts hat und arm ist (πρωχός), bezeichnet. Paulus hätte also, wenn er tatsächlich
„nichts“ gemeint hätte, μηδέν geschrieben.
Vgl. zuletzt auch wieder Last, Pauline Church (s. Anm. 53), 205: „‘Those with nothing’ (οἱ μὴ
ἔχοντες) were members who had nothing at the Corinthian Christ group’s recent banquet rather
than those who had nothing to their name in their whole life.“ So auch schon Meggitt, Paul (s.
Anm. 28), 120. David J. Downs, „Is God Paul’s Patron? The Economy of Patronage in Pauline
Theology,“ in Engaging Economics. New Testament Scenarios and Early Christian Reception (Patron), Hg. B.W. Longenecker und K.D. Liebengood (Grand Rapids, MI, Cambridge: Eerdmans,
2009), 129 – 156, verweist darauf, dass die von Paulus kritisierte Praxis auf die Behandlung von
Klienten durch ihre Patrone zurückgeht (151).
Der Ansatz geht zurück auf Peter Lampe, „Das korinthische Herrenmahl im Schnittpunkt
hellenistisch-römischer Mahlpraxis und paulinischer Theologia Crucis (1Kor 11,17– 34),“ ZNW 82
(1991): 183 – 213, hier: 192– 198, und wird u. a. vorausgesetzt bei Friesen, „Poverty“ (s. Anm. 3), 349;
Duff, „Alone“ (s. Anm. 88), 562. Vgl. dagegen die kritischen Bemerkungen bei Kloppenborg,
„Epigraphy“ (s. Anm. 45), 152 f., der dies angesichts fehlender Parallelen in der griech.-röm.
Antike für wenig wahrscheinlich hält.
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trunkenen den Zu-Spät-Gekommenen (vgl. 1 Kor 11,33) die Schuld dafür geben,
dass sie „hungrig“ bleiben. Es geht nicht um einen generellen Spott über deren
wirtschaftliche Situation und es ist auch nicht zulässig, die Gründe für das ZuSpät-Kommen allein in der sozialen Situation zu vermuten.⁹⁶ Zwar wird es für
Sklaven bzw. Sklavinnen und Frauen nicht immer einfach gewesen sein, rechtzeitig am Abend wegzugehen, das kann aber auch völlig andere Gründe gehabt
haben. Umgekehrt ist anzunehmen, dass die völlig Mittellosen, die nicht einmal
Arbeit hatten, davon ja nicht betroffen gewesen wären. So schließt Paulus diese
Erörterung ja auch allgemeingültig ab: „Wenn jemand Hunger hat, soll er zu
Hause essen.“ (1 Kor 11,34). Das ist nicht nur auf wenige „Reiche“ hin gesprochen,
sondern auf alle, die das Gemeinschaftsmahl nur dazu verwenden wollten, ohne
Rücksicht auf andere zu feiern.⁹⁷ Paulus deutet nicht an, dass das immer dieselben Personen waren, noch, dass dahinter sozial-ökonomische Spannungen lagen.
Neben 1 Kor 11,17– 34 könnten sich auch weitere Passagen der Korintherbriefe
auf die ökonomische Situation der Christusgläubigen beziehen:
– 1 Kor 1,26 – „nicht viele Weise, nicht viele Mächtige, nicht viele Wohlgeborene“ – gibt Auskunft darüber, dass die Zahl der Angehörigen der Eliten gering war. Am Beispiel des Erastus werden wir das noch zu klären haben (s.u.).
1 Kor 1,28 – „das Niedriggeborene, das Verachtete hat Gott erwählt“ – rückt
die Nicht-Eliten in den Blick, wobei die absolute Formulierung den Gegensatz
von Gottes Heilshandeln und dem sozialen Stand der Korinther betont. Eine
ökonomische Auswertung ist nur sehr begrenzt sinnvoll, da die Gegenüberstellung von Elite und Nicht-Elite wenig über die wirtschaftlichen Verhältnisse aussagt.⁹⁸ Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, dass einige der Mitglieder der korinthischen Gemeinde vermögend waren, damit erhöht. Ob
unter den Nicht-Eliten Personen unterhalb des Existenzminimums waren, ist
damit nicht gesagt.
– 1 Kor 6,1– 8: Rechtsstreitigkeiten zwischen Gemeindegliedern verweisen
darauf, dass es offenbar kein Problem damit gab, sich einen Prozess leisten zu
können.⁹⁹ Auch die Formulierung, wonach einer den anderen durch die
Prozesse beraube (ἀποστερεῖν 6,7 f.; vgl. Lev 19,13), lässt darauf schließen,
So allerdings etwa Wolfgang Schrage, Der erste Brief an die Korinther. 1Kor 11,17 – 14,40, EKK
VII/2 (Zürich [u. a.]: Benziger [u. a.], 1999), 24.
Das ist im Übrigen auch ein Problem, mit dem zahlreiche Vereinigungen zu kämpfen hatten:
vgl. dazu u. a. Last, Pauline Church (s. Anm. 53), 206 – 208.
Anders Welborn, „Polis“ (s. Anm. 27), 227, der bedauerlicherweise soziale und ökonomische
Aussagen gleichsetzt.
So etwa auch Theißen, „Schichtung“ (s. Anm. 91), 258.
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dass es um finanzielle Entschädigungen ginge. Die Situation könnte daher
ähnlich jener in Thessalonich sein (s.o.).¹⁰⁰
1 Kor 6,9b–10: Der Lasterkatalog erwähnt Habsüchtige, Diebe und Räuber.
Unbarmherzigkeit, mangelnde Hilfsbereitschaft usw. werden nicht erwähnt,
allerdings handelt es sich in der Liste auch um Handlungsvergehen, nicht um
„Unterlassungssünden“.¹⁰¹
1 Kor 6,16 – 18; vgl. 1 Kor 10,8: Handelt es sich bei der „Unzucht“, die hier
jeweils genannt wird, um eine Metapher für die Verehrung paganer Gottheiten? Falls wenigstens 1 Kor 6,18 auch den realen Umgang mit Prostituierten im
Blick hat, was wahrscheinlich ist, wären hier auch ökonomische Überlegungen am Platz.¹⁰²
1 Kor 7,21 f.: Die Erwähnung von Sklaven ist an sich keine Aussage über den
ökonomischen Status der betreffenden Personen. Zum einen waren Sklaven
nicht automatisch verarmt, vielmehr konnten auch sie (wenn auch selten) bis
in hohe Einkommens- und Einflusssphären kommen (s.o.). Zum anderen
partizipierten Sklaven und Sklavinnen an den Einkommensverhältnissen
ihrer Besitzer, da sie als schützenswertes Eigentum auch entsprechend versorgt werden sollten. Schließlich lässt sich aus der paulinischen Formulierung erkennen, dass der Apostel an Sklaven und Sklavinnen denkt, die sich
durch Ansparen kleiner Beträge selbst die Möglichkeit geschaffen hatten, sich
frei zu kaufen.¹⁰³ Sie konnten sich daher auch an der Kollektensammlung
beteiligen.
1 Kor 8; 10,25 – 31: Die Ausführungen zum Götzenopferfleisch bzw. zum Einkauf im Makellon setzten gewisse ökonomische Möglichkeiten voraus.¹⁰⁴ Bei
Einladungen oder bei Banketten in Tempeln (im Rahmen von Vereinigungen)
dabei zu sein, schließt ein, dass die Christusgläubigen in Korinth eine gute
Wenig ergibt sich über die ökonomische Situation aus der paulinischen Nennung des Kaufens bzw. der Nutzung der Welt (1 Kor 7,30 f.).
Unbarmherzige (ἀνελεημόναι) werden übrigens in Röm 1,31 genannt.
Vgl. zu Kosten für Prostitution u. a. Philodem v. Gadara, Anthol. Pal. 5,126; Lukian, Hetärendialoge. Die Preise schwanken zwischen wenigen Drachmen und sehr großen Summen.
An Freikauf durch die Gemeinde, wie es für das beginnende 2. Jhd. belegt ist (vgl. 1 Clem
55,2), ist hier nicht zu denken, da die Formulierung auf individuelle Überlegungen verweist, nicht
auf Aktionen der Gemeinde. Eine Interpretation, wonach Sklaven und Sklavinnen das Angebot
ihrer Herren ausschlagen sollten, frei gelassen zu werden, ist unrealistisch. M. E. rät Paulus in
1 Kor 7,21, die Möglichkeit der Freiheit zu ergreifen; vgl. James Albert Harrill, The Manumission of
Slaves in Early Christianity, HUT 32 (Tübingen: J.C.B. Mohr, 1995), 68 – 128.
Gerd Theißen, „Die Starken und die Schwachen in Korinth,“ in Studien zur Soziologie des
Urchristentums, Hg. Ders., WUNT 19 (Tübingen: J.C.B. Mohr, 31989), 272– 289, hier: 277.
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Verankerung in der Umgebungsgesellschaft hatten.¹⁰⁵ Völlig Mittellose wurden zu solchen Feiern mit einiger Gewissheit nicht geladen bzw. konnten sie
nicht mitfinanzieren.¹⁰⁶ In seinen Erörterungen zum Götzenopferfleisch bedenkt Paulus allerdings nur religiöse Gründe, keine ökonomischen. Eine
Gruppe von Personen, die zu arm waren, um Fleisch kaufen zu können, ist
nicht im Blick.
1 Kor 9,3 – 18: Die Ausführungen über das Recht zur Versorgung durch die
Gemeinden, das Paulus auch für sich und Barnabas reklamiert, aber nicht in
Anspruch nimmt, lässt erkennen: Die Christusgläubigen in Korinth hätten das
Potential gehabt, den Lebensunterhalt des Paulus zu finanzieren (vgl. auch
2 Kor 8,9; 12,14– 18). Sie taten es möglicherweise für andere, wie Apollos oder
später die Gegner des Paulus.
Im Blick auf die zahlreichen Schriftzitate in den Korintherbriefen lässt sich
m. E. begründet vermuten, dass zumindest einige Schriftrollen – Tora, Jesaja
und Psalmen – in der Gemeinde vorhanden waren.¹⁰⁷ Dies setzt nicht nur
einiges ökonomisches Potential voraus, sondern auch eine gemeinsame
Kasse, aus der dies finanziert wurde, bzw. entsprechende Sponsoren.¹⁰⁸ Erwägungen, wonach der ehemalige Archisynagogos Krispus diese eingebracht
hätte, würden wenigstens ihn selbst einer höheren Einkommensgruppe zuordnen.
1 Kor 12: Unter den Funktionen innerhalb der korinthischen Gemeinde, die
Paulus anführt, ist keine, die eine soziale Dimension erkennen ließe. Das
hap.leg. ἀντίλημψις (1 Kor 12,28) meint sehr allgemein Hilfestellung und hat
keinen spezifisch sozialen Hintergrund, wenngleich dies selbstverständlich
Vgl. John M.G. Barclay, „Thessalonica and Corinth. Social Contrasts in Pauline Christianity,“
JSNT 47 (1992): 49 – 74, hier: 57– 60.
Fleisch vom Markt war nicht billig: Nach dem Preisedikt des Diocletian war der Preis von
Schweine- oder Lammfleisch mit höchstens 12 HS für eine Libra (327,45 Gramm) festgesetzt, für
Rindfleisch mit 8 HS. Auch wenn es sich hier um Höchstpreise aus dem Jahr 301 n.Chr. handelt
und zudem lokale Unterschiede veranschlagt werden müssen, ist damit zu rechnen, dass sich
Menschen aus den unteren Einkommensschichten Fleisch kaum leisten konnten.
Zur Schriftverwendung in den Korintherbriefen und dessen historischem Hintergrund vgl.
Florian Wilk, „Bezüge auf „die Schriften“, in den Korintherbriefen,“ in Paulinische Schriftrezeption. Grundlagen – Ausprägungen – Wirkungen – Wertungen, Hg. F.Wilk und M. Öhler, FRLANT 268
(Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2017), 149 – 173.
Vgl. dazu Brian J. Abasciano, „Diamonds in the Rough: A Reply to Christopher Stanley
Concerning the Reader Competency of Paul’s Original Audiences,“ NT 49/2 (2007): 153– 183, hier:
156 – 161.
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nicht auszuschließen ist.¹⁰⁹ Allerdings ist damit nicht gesagt, dass an die
Unterstützung für Menschen unterhalb des Existenzminimums gedacht wäre,
da gegenseitige Hilfestellungen auch unter ökonomisch Gleichgestellten Inbegriff des sozialen Zusammenhalts waren.¹¹⁰
1 Kor 13,3: „Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe“ übersetzte Luther
κἂν ψωμίσω πάντα τὰ ὑπάρχοντά μου, obwohl von Armen gar keine Rede
ist.¹¹¹ Im Zusammenhang der Erörterungen des 1. Korintherbriefs, die sich mit
den Abläufen in der Gemeinde beschäftigen, ist darin eher eine Anspielung
auf die Kultfeiern zu erkennen, sodass zu paraphrasieren ist: „Wenn ich
meinen gesamten Besitz verfüttern würde, und wenn ich meinen Leib gäbe,
damit ich gerühmt werde,¹¹² und täte es nicht aus Liebe, würde es zu nichts
nütze sein.“¹¹³ Damit wird neben dem Reden in Engelszungen (1 Kor 13,1), der
Prophetie und der Erkenntnis (1 Kor 13,2) mit dem Gemeinschaftsmahl ein
weiterer wichtiger Aspekt der Feier genannt und festgehalten, dass auch die
völlige Gabe des gesamten Besitzes nicht gelten würde, wenn sie nicht aus der
Agape, sondern aus dem Streben nach Ehre kommen würde. Die folgende
Beschreibung der Agape nennt dementsprechend keinerlei Elemente, die an
Armenfürsorge oder sozialen Ausgleich erinnern.
1 Kor 15: Die Warnung, sich nicht auf den Genuss von Essen und Trinken zu
beschränken (vv.32b–34; vgl. Jes 22,13), sondern nüchtern zu sein, lässt sich
auch als Warnung vor Luxusgenuss verstehen. Immerhin ist es Paulus wert,
die Adressaten und Adressatinnen davor zu warnen, woraus sich möglicherweise ergibt, dass dies eine reale Gefahr darstellte.
1 Kor 16,10 f.: Die Empfehlung des Timotheus ist – unausgesprochen – die
Bitte, ihn als Gast aufzunehmen; dasselbe lässt sich über Titus sagen (2 Kor
7,14; 8,6.14). Beides ist Hinweis darauf, dass die Möglichkeit bestand, Gastfreundschaft zu gewähren.
Vgl. Apg 20,35. Die Bedeutung „Hilfe“ findet sich u. a. in Sir 11,12; 51,7, dort in der Tat verbunden mit πτωχεία (Sir 11,12; 13,22).
Zahlreiche Vereinigungen vergaben Kredite an Vereinsmitglieder; vgl. z. B. SEG 31,122 (= GRA
I 50; Liopesi, um 100 n.Chr.); PGrenf I 31 (Pathyris, 101/100 v.Chr.) Plinius, epist. X 93; vgl. dazu
auch Harland, „Associations“ (s. Anm. 45), 26 – 31.
Auch die neueste Version der Lutherübersetzung hat diese Formulierung unkommentiert
beibehalten. Der einzige weitere Beleg bei Paulus für ψωμίζω in Röm 12,20 findet sich in einem
Zitat aus Prov 25,21.
Zu den beiden Varianten καυθήσομαι bzw. καυχήσομαι vgl. den Exkurs bei Lindemann, 1Kor
(s. Anm. 92), 285 f.
Eine Verbindung zu Mt 19,21 („Verkauf deinen Besitz und gib ihn den Armen!“) hält auch
Longenecker, Remember (s. Anm. 3), 137, zu Recht für unplausibel. Er sieht in 1 Kor 13,3 eine
Polemik gegen antike Wohltäterschaft (Longenecker, Remember [s. Anm. 3], 95 [Anm. 102].)
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Markus Öhler
1 Kor 16,15.17: Der Dienst der Haushaltsangehörigen des Stephanas ist unbestimmt und keinesfalls auf Fürsorge o. ä. zu interpretieren.¹¹⁴ Dass Stephanas
sowie Fortunatus und Achaikus zu Paulus nach Ephesus reisen konnten, ist
aber zumindest Ausweis ihrer finanziellen Möglichkeiten.¹¹⁵ Dasselbe gilt
auch für die „Leute der Chloe“ (1 Kor 1,11).
2 Kor 2,17 (vgl. 11,13): Es mag sich um eine polemische Unterstellung handeln,
aber die Formulierung, wonach es Leute gäbe, die mit dem Wort Gottes Geschäfte machen (καπελεύοντες), birgt zumindest die Möglichkeit in sich, dass
bei den Korinthern etwas zu holen war.
Der Überblick über Zeugnisse zur ökonomischen Lage der Mitglieder der Gemeinde von Korinth macht wahrscheinlich, dass zu ihr keine Personen gehörten,
die unter dem Existenzminimum lebten und von der Versorgung durch vermögende Gemeindeglieder abhängig waren. Zwar lassen sich Hinweise auf gegenseitige Unterstützung finden, diese berechtigen aber nicht dazu, die Versorgung
von Armen in- und außerhalb der Gemeinde als spezifische christliche Grundhaltung anzusehen. Im Gegenteil: Paulus betont selbst, dass er im Vergleich zu
den Adressaten seiner Briefe an die Korinther der Arme und Bedürftige war.¹¹⁶
Dieser Befund lässt sich durch die paulinischen Ausführungen zur Kollekte für
Jerusalem noch ergänzen.
3.6.2 Die Kollekte
Sowohl die Anweisungen in 1 Kor 16 wie die zahlreichen Bemerkungen dazu im
2. Korintherbrief (1,16; 8 f.) und im Römerbrief (15,25 – 28) sind Hinweise darauf,
dass Paulus fest davon ausging, dass sich die Gemeinde von Korinth mit einer
substantiellen Gabe an der Kollekte beteiligte.¹¹⁷ Auch die Funktion des Titus war
Vgl. Anni Hentschel, Diakonia im Neuen Testament. Studien zur Semantik unter besonderer
Berücksichtigung der Rolle von Frauen, WUNT 2/226 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2007), 163 – 167, die
den konkreten Dienst in der Finanzierung der Reisekosten für Stephanas, Achaikus und Fortunatus sieht.
Nach Longenecker, Remember (s. Anm. 3), 245, gehörte Stephanas zumindest zu ES 5 (stabil
an der Grenze des Existenzminimums).
Vgl. Longenecker, Remember (s. Anm. 3), 254. Dabei ist wichtig, dass Paulus dies als
Selbsterniedrigung versteht, sich also eigentlich – wohl von seiner Herkunft und seinem sozialen
Status her – für etwas Besseres hält (vgl. 2 Kor 11,7).
Friesen, „Poverty“ (s. Anm. 3), 351 interpretiert die Ausführungen völlig anders: Die Kollekte
war eine zusätzliche finanzielle Belastung für ohnehin arme Leute, das Ergebnis dementspre-
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darauf ausgerichtet, die Geldspenden einzumahnen (2 Kor 8,6.17 f; vgl. 9,3). Die
Größe der Sammlung lässt sich m. E. daran erkennen, dass die Begleitgruppe
(2 Kor 8,23) ziemlich groß war, laut Apg 20,4 sieben Männer, doch fehlen in dieser
Liste Personen aus Philippi, Thessalonich und Korinth völlig. Mit seinen (2 Kor 9)
Anweisungen, wie das Geld gesammelt werden sollte (1 Kor 16,1 f.), wollte Paulus
ebenfalls sicherstellen, dass der Betrag, den er den Jerusalemern übergeben
wollte, dementsprechend groß war und den nötigen Effekt hatte.¹¹⁸
Wichtig scheint mir in dem Zusammenhang auch, dass Paulus nicht darauf
eingeht, dass es in den Gemeinden, auch nicht in Korinth, Arme gab, die die
Gaben doch genauso brauchen würden. Dieser Einspruch hätte ja durchaus nahe
gelegen, doch Paulus muss lediglich begründen, dass die Sammlung an eine
andere Gemeinde geht. Das ist m. E. als Hinweis darauf zu lesen, dass die finanziellen Mittel der Gemeinden nicht gesammelt wurden, um eigene Notleidende zu unterstützen.
Auch 2 Kor 9,13 spricht nicht gegen diese Ansicht: Paulus formuliert dort
erstens, dass die Jerusalemer Gott wegen des Dienstes, den die Korinther ihnen
durch die Kollekte leisten, loben werden (διὰ τῆς δοκιμῆς τῆς διακονίας ταύτης
δοξάζοντες τὸν θεὸν).¹¹⁹ Zweitens verweist Paulus darauf, dass die Korinther
damit ihren Gehorsam des Bekenntnisses zum Evangelium demonstrieren (ἐπὶ τῇ
ὑποταγῇ τῆς ὁμολογίας ὑμῶν εἰς τὸ εὐαγγέλιον τοῦ Χριστοῦ). Und drittens rückt
Paulus die Einstellung der Korinther in den Vordergrund: καὶ ἁπλότητι τῆς κοινωνίας εἰς αὐτοὺς καὶ εἰς πάντας. Mit ἁπλότης könnte auch hier erneut die Freigebigkeit gemeint sein (vgl. 2 Kor 8,2; 9,11), sodass damit ausgedrückt würde, dass
die Korinther nicht nur gegenüber den Jerusalemern, sondern weit darüber hinaus
(εἰς πάντας) freigebig waren.¹²⁰ Allerdings rückt die Zusammenstellung von
ἁπλότης mit ὑποταγή in 9,13 den Begriff mehr in die Richtung einer inneren
Einstellung, die als „Schlichtheit“ oder „Einfalt“ zu übersetzen wäre (2 Kor 1,12;
Röm 12,8).¹²¹ Auch meint εἰς πάντας nicht alle Menschen, sondern alle Mitchristen. Paulus will zum Ausdruck bringen, dass die durch die Kollekte demonstrierte
Gemeinschaft der Korinther mit den Jerusalemern exemplarisch dafür steht, dass
chend gering. 2 Kor 8,2 wird von ihm trotz Beachtung des rhetorischen Charakters als „accurate
portraits of financial means“ eingeschätzt.
Vgl. Kloppenborg, „Aspects“ (s. Anm. 46), 193 – 197.
Kloppenborg, „Aspects“ (s. Anm. 46), 175, erwägt, dass Paulus möglicherweise eine Liste der
Spender und Spenderinnen nach Jerusalem mitbrachte, sodass auch sie – ebenso wie der Vermittler Paulus – geehrt würden.
So deutet es u. a. Longenecker, Remember (s. Anm. 3), 141.
So zuletzt wieder Schmeller, 2Kor II (s. Anm. 80), 101 f.
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Markus Öhler
alle Christusgläubigen aus den Völkern im Glaubensgehorsam und in der Einfalt
mit den Glaubenden in Jerusalem verbunden sind.
3.6.3 Erastus, Gaius, Phoebe und Hausbesitzer
Ein weiterer wichtiger Punkt im Blick auf die ökonomische Situation der Gemeinde ist die soziale Stellung von Einzelpersonen, denen im Folgenden allerdings nur eine knappe Erörterung gewidmet werden kann.¹²²
– Erastus (Röm 16,23): Alexander Weiß hat zuletzt Argumente dafür vorgebracht, dass Erastus ein Ädil der Polis Korinth war.¹²³ Trifft dies zu, haben wir
hier einen Angehörigen aus dem Stand der Decurionen vor uns, also tatsächlich jemanden aus der Elite Korinths und des Römischen Reiches, dessen
wirtschaftliche Situation ausgesprochen gut war. Kaum wahrscheinlich ist,
dass Erastus nicht zu den Christusgläubigen in Korinth gehörte, da er ihn
sonst nicht unter den Grüßenden nennen würde.¹²⁴
– Gaius (Röm 16,23): Falls Gaius tatsächlich als Gastgeber (ξένος) der Ekklesia
von Korinth und des Paulus fungierte, könnte dies auf eine bessere ökonomische Situation hinweisen. Vorausgesetzt wird dafür, dass es sich bei ihm
um den Besitzer eines Hauses handelte, das groß genug war, um die ganze
Gemeinde (ὅλης τῆς ἐκκλησίας) aufzunehmen.¹²⁵ Nun hat allerdings der
Friesen, „Poverty“ (s. Anm. 3), 352– 358 rückt diesen Aspekt ebenfalls in seiner Untersuchung in den Vordergrund und kommt zu dem Ergebnis, dass nur für wenige Personen überhaupt
eine abgesicherte wirtschaftliche Existenz in Frage kommt: Gaius, Chloe (?), Priska und Aquila,
Erastus, Phoebe und Philemon.
Alexander Weiß, Soziale Elite und Christentum. Studien zu ordo-Angehörigen unter den frühen
Christen, Millenium-Studien 52 (Berlin, Boston: de Gruyter, 2015), 106 – 145; vgl. zur Diskussion in
den vergangenen Jahren auch Steven J. Friesen, „The Wrong Erastus. Ideology, Archaeology, and
Exegesis,“ in Corinth in Context. Comparative Studies on Religion and Society, Hg. S.J. Friesen, D.N.
Schowalter und J.C. Walters (Leiden, Boston: Brill, 2010), 231– 256; John K. Goodrich, „Erastus of
Corinth (Romans 16.23). Responding to Recent Proposals on his Rank, Status, and Faith,“ NTS 57/4
(2011): 583 – 593; Timothy A. Brookins, Corinthian Wisdom, Stoic Philosophy, and the Ancient
Economy, SNTS.MS 159 (Cambridge: Cambridge University Press, 2014), 109 – 118. Für eine hohe
Bedeutung der Funktion eines οἰκονόμος spricht, dass Paulus dies als Identitätsmarker des
Erastus nennt, der ihn von anderen Personen signifikant unterscheidet. Die Verbindung des
Apostels mit einem Amtsträger der niedrigeren Elite diente zudem dem Interesse der Grußliste,
das Ansehen des Paulus bei wichtigen Christusgläubigen zu demonstrieren.
So allerdings Friesen, „Erastus“ (s. Anm. 123), 249 – 255; vgl. hingegen Goodrich, „Erastus“
(s. Anm. 123), 587 f., der zu Recht darauf verweist, dass Paulus selbstverständlich nicht verpflichtet ist, alle Christusgläubigen als solche zu kennzeichnen.
Vgl. z. B. Longenecker, Remember (s. Anm. 3), 239.
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Terminus ξένος viel eher die Bedeutung „Gast“. Darauf hat schon Johannes
Chrysostomos hingewiesen,¹²⁶ und zuletzt zeigte Richard Last dies mit zahlreichen papyrologischen Belegen.¹²⁷ Gaius war also nicht Gastgeber, sondern
Gast der ganzen Gemeinde von Korinth und des Paulus. Das passt sehr gut
dazu, dass laut Apg 20,4 ein Gaius aus Derbe Begleiter des Paulus während
der Kollektenreise nach Jerusalem war.¹²⁸
Phöbe (Röm 16,1 f.): Die wirtschaftliche Einordnung von Phöbe, die sich in
Kenchreä als Diakonin der Ekklesia und als προστάτις von Paulus und anderen verdient gemacht hatte, hängt u. a. davon ab, wie man προστάτις versteht: War sie „bloß“ Beistand¹²⁹ oder eine Patronin, die auch über gesellschaftliche Stellung und finanzielle Möglichkeiten verfügte?¹³⁰ Wenigstens
wirtschaftlich war Phöbe möglicherweise nicht so gut gestellt, meint doch
Paulus, um ihre gastfreundliche Aufnahme in Rom bitten zu müssen.¹³¹ Allerdings war Gastfreundschaft auch unter Eliten wichtig. So lässt sich die
ökonomische Situation dieser für Paulus offenbar wichtigen Frau nur mit
großer Unsicherheit in den Bereich der oberen oder unteren „Mittelschicht“
einordnen.
Hausbesitzer: Aquila und Priska stellten in Ephesus (1 Kor 16,19) und Rom
(Röm 16,5) und wahrscheinlich auch in Korinth (Apg 18,3) einer Gruppe von
Christusgläubigen ihr Haus bzw. ihre Wohnung oder Werkstatt zur Verfügung.
Die ökonomische Situation des Paares lässt sich zwar nicht genau bestimmen, allerdings macht ihre zunächst erzwungene bzw. dann auch freiwillige
Mobilität wahrscheinlich, dass sie über Mittel verfügten, die ihnen ermöglichten, an den jeweiligen Orten rasch eine neue Existenz aufzubauen. Unterhalb des Existenzminimums war das sicherlich nicht möglich, eher wird
Johannes Chrysostomos, Hom. Rom. 32 (ΜPG 60, 677): τὸν γὰρ ξένον ἐνταῦθα τὸν ξενοδόχον
φησίν. Die Deutung des Gajus als Gastgeber findet sich zuerst bei Origenes, Comm. Rom. (zu Röm
16,23), allerdings in lateinischer Übersetzung.
Vgl. Last, Pauline Church (s. Anm. 53), 62– 71; Markus Öhler und Verena Fugger, „Häusliche
Religion in Ephesos. Christliche und nicht-christliche Befunde vom 1. bis zum 6. Jahrhundert
n.Chr.,“ EC 7 (2016): 313 – 345, hier: 317 f.
Das setzt voraus, dass der in Röm 16,23 genannte Gaius nicht identisch mit jenem aus 1 Kor
1,14 ist.
Vgl. Friesen, „Poverty“ (s. Anm. 3), 355.
Vgl. etwa Meeks, Urchristentum (s. Anm. 2), 130 f.; Longenecker, Remember (s. Anm. 3), 241–
244.
Vgl. Friesen, „Poverty“ (s. Anm. 3), 355, der sie auf seiner „poverty scale“ Stufe 5 zuordnet,
allerdings ohne Begründung.
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Markus Öhler
man sie als Handwerker zur ‚Mittelschicht‘ zählen müssen.¹³² Die anderen
‚Hausbesitzer‘ sind bei näherem Hinsehen ökonomisch nicht näher einzuordnen: das Haus des Stephanas (1 Kor 1,16; 16,15) und des Krispus (1 Kor 1,14;
vgl. Apg 18,8) sind keine Häuser, sondern Haushalte.Von vier Personen bis zu
einem Elitenhaushalt mit mehreren Dutzend, wobei der Großteil Sklaven und
Sklavinnen gewesen wären, ist die Bandbreite daher unbestimmbar groß. Ob
diese Personen Häuser im eigentlichen Sinn besaßen,¹³³ in denen sich die
Gemeinde oder ein Teil davon versammelte, ist nicht zu bestimmen. Es
scheint mir deutlich plausibler, dass die Versammlungsorte der Christusgläubigen nicht in erster Linie private Unterkünfte waren, was auch in der
Welt der Vereinigungen relativ selten der Fall gewesen zu sein scheint,¹³⁴
sondern gemietete Räume in Tavernen, Säle, die an Tempel angeschlossen
waren, Schuppen oder auch Gärten.
Wenn wir also oben festgestellt haben, dass die Menschen unterhalb des Existenzminimums nicht Teil der Gemeinde von Korinth waren, ist hier deutlich
festzuhalten: Mit der möglichen Ausnahme des Erastus ist die Beleglage für
Vermögende ebenfalls schlecht. So bleibt festzuhalten, dass die Christusgläubigen in Korinth ausreichend wirtschaftliche Mittel hatten, um neben Gemeinschaftsaktivitäten und möglicherweise sogar Mitgliedsbeiträgen¹³⁵ auch noch die
So auch Longenecker, Remember (s. Anm. 3), 248 f. P. Oakes bezeichnet das Ehepaar als
„craftworking house-church hosts“ (Oakes, Reading Romans [s. Anm. 3], 45) und vergleicht ihre
Situation mit jener der Bewohner der Casa del Fabbro in Pompeji (I.10.7; Oakes, Reading Romans
[s. Anm. 3], 15 – 33). Diese Anlage hatte ca. 310 m2, sodass der Besitzer bzw. Mieter zur „Mittelschicht“ Pompejis gehörte.
Vgl. zu diesen Überlegungen Jerome Murphy-O’Connor, St. Paul‘s Corinth. Texts and Archaeology (Collegeville: Liturgical Press, 32002); David Horrell, „Domestic Space and Christian
Meetings at Corinth. Imagining New Contexts and the Buildings East of the Theatre,“ NTS 50
(2004): 349 – 369; Robert Jewett, „Tenement Churches and Communal Meals in the Early Church.
The Implications of a Form-Critical Analysis of 2 Thessalonians 3:10,“ BR 38 (1993): 23 – 43; Bradly
S. Billings, „From House Church to Tenement Church. Domestic Space and the Development of
Early Urban Christianity: The Example of Ephesus,“ JThS 62 (2011): 541– 569; Edward Adams, The
Earliest Christian Meeting Places. Almost Exclusively Houses? LNTS 450 (London: Bloomsbury,
2
2016).
Markus Öhler, „Meeting at Home. Greco-Roman Associations and Pauline Communities,“ in
Scribal Practices and Social Structures Among Jesus Adherents. Essays in Honour of John. S.
Kloppenborg, Hg. W.E. Arnal, R.S. Ascough, R.A. Derrenbacker und P.A. Harland, BEThL 285
(Leuven: Peeters, 2016), 517– 545.
Das hat Last, Pauline Church (s. Anm. 53), 137– 147, versucht nachzuweisen; anders etwa
Ebel, Attraktivität (s. Anm. 52), 217, die das Fehlen von Beitritts- und Mitgliedsgebühren als Element der Attraktivität der paulinischen Gemeinden im Vergleich mit Vereinigungen betont.
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Zwischen Elend und Elite
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Kollekte für Jerusalem zu finanzieren.¹³⁶ Das macht m. E. sehr wahrscheinlich,
dass es sich überwiegend um Personen handelte, die zu jenen Einkommensgruppen gehörten, die gesichert über dem Existenzminimum lebten oder sogar
besser gestellt waren, also zur Mittelschicht.
4 Rückblick und Ausblick
Zwischen Elend und Elite lag die Mittelschicht und meiner Ansicht nach gehörten
auch die Christusgläubigen in den von Paulus mitgeprägten bzw. gegründeten
Gemeinden zu dieser etwa 15 – 20 % der Stadtbevölkerung umfassenden ökonomischen Gruppe. Sie hatten gewisse finanzielle Ressourcen für die Gemeinschaftsaktivitäten, für die Förderung der Verkündigung des Evangeliums und für
die Sammlung von Unterstützung für die Armen der Jerusalemer Gemeinde.¹³⁷
Diese wirtschaftlich abgesicherte Situation aller Christusgläubigen in den paulinischen Gemeinden erklärt auch, warum die Unterstützung von Armen bzw. Almosentätigkeit in der uns erhaltenen paulinischen Korrespondenz keine Rolle
spielt.
Die weitere Verbreitung des christlichen Glaubens führte in der Folge zu einem Ansteigen des Anteils vermögender Mitglieder in den Gemeinden (vgl. 1 Tim
2,9; 1 Petr 3,3; Hebr 10,34), zugleich wurden nun aber auch Bedürftige bewusst in
den Blick genommen. Aus den mehrfachen Mahnungen, freigebig zu sein (1 Tim
6,18; vgl. Mt 6,2– 4; Lk 12,33), lässt sich erkennen, dass sich die soziale Schichtung
so weit verändert hatte, dass sich nun auch jene, die unterhalb des Existenzminimums lebten, den christlichen Gemeinden anschlossen.¹³⁸ Das nicht unrealistische Beispiel in Jak 2,1– 3 zeigt, welche Probleme damit verbunden waren:
Vermögende waren in den Gemeinden angesehen, da sie Sozialprestige und
ökonomische Unterstützung für die Gemeinschaft einbrachten, Arme hingegen
standen am Rand, da sie nichts beitragen konnten. Aber nur wer tatsächlich
helfend eingreift, so Jak 2,15 – 17, könne von sich behaupten, wirklich zu glauben.
Dementsprechend finden sich in jenen Texten, die auf die zweite und dritte Ge-
Last, Pauline Church (s. Anm. 53), 137, führt eine Liste von – teilweise spekulativen – Ausgaben der korinthischen Ekklesia an.
Die Armut von Teilen der Jerusalemer Gemeindeglieder liegt wahrscheinlich darin begründet, dass jene, die sich aus einer gesicherten wirtschaftlichen Existenz heraus der Nachfolgebewegung Jesu angeschlossen und alles verlassen hatten, in Jerusalem keine Arbeitsmöglichkeiten, Betriebsmittel oder familiären Netzwerke hatten.
Für den 1. Petrusbrief vgl. dazu David G. Horrell, Becoming Christian. Essays on 1 Peter and
the Making of Christian Identity, LNTS 394 (London [u. a.]: Bloomsbury, 2015), 130 f.
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neration zurückgehen, zahlreiche Mahnungen an vermögende Mitglieder (vgl.
1 Tim 6,3 – 19).¹³⁹ Diese werden mitunter auch scharfer Kritik unterzogen (z. B. Jak
4,13 – 5,6).¹⁴⁰ Neben dem Jakobusbrief findet sich dieses Anliegen verstärkt im
lukanischen Doppelwerk, aus dem etwa die deuteropaulinische Maxime „Geben
ist seliger als Nehmen“ stammt (Apg 20,35) und in dem sich die Erzählung vom
Reichen und Lazarus findet (Lk 16,19 – 31). Die Endzeitrede im Matthäusevangelium rückt die Werke der Barmherzigkeit in den Vordergrund, durch die elementare Nöte behoben werden sollen (Mt 25,31– 46). Die aus demselben Kontext
stammende Didache verwirft Unbarmherzigkeit gegenüber den Armen (Did 5,2)
und weist an, aus den Spenden Arme zu versorgen (Did 13,4).¹⁴¹ In 1 Tim 5,3 – 16
widmet sich der Verfasser einer Gruppe, deren ökonomische Situation besonders
gefährdet sein konnte: Ältere Witwen, die nicht für sich selbst sorgen können,
sollen in eine Liste eingetragen werden, um durch die Gemeinde versorgt zu
werden (vgl. auch Apg 6,1). Dies alles zeigt, dass anders als in den Anfängen das
Christentum der zweiten und dritten Generation nun auch Gruppen umfasste, die
auf ökonomische Unterstützung angewiesen waren. Was bei Paulus mit der Kollekte begonnen hatte, hatte sich im 2. Jahrhundert, wohl im Anschluss an das
jüdische Erbe und die Jesustradition, zu einem allgemeinen Spezifikum des
Christentums entwickelt.
Vgl. Reggie M. Kidd, Wealth and Beneficence in the Pastoral Epistles. A „Bourgeois“ Form of
Early Christianity?, SBL.DS 122 (Atlanta, Ga.: Scholars Press, 1990), 195 – 197, der die Adressaten
der Pastoralbriefe als „middle class“ versteht, denen der Verfasser die Fürsorge für die Armen vor
Augen führt; vgl. auch Peter Dschulnigg, „Warnung vor Reichtum und Ermahnung der Reichen.
1Tim 6,6 – 10.17– 19 im Rahmen des Schlußteils 6,3 – 21,“ BZ 37 (1993): 60 – 77.
Matthias Konradt, Christliche Existenz nach dem Jakobusbrief eine Studie zu seiner soteriologischen und ethischen Konzeption, StUNT 22 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1998), 123 –
161.
Verantwortlich für die Verwaltung dieses sozialen Ausgleichs waren zumindest in Rom die
Diakone (Hermas, sim. 9,26,2). Zur Entwicklung im 2. Jhd. vgl. auch Denise Kimber Buell, „‚Be Not
One Who Stretches Out Hands To Receive But Shuts Them When It Comes To Giving‘. Envisioning
Christian Charity when Both Donors and Recipients Are Poor,“ in Wealth and Poverty in Early
Church and Society, Hg. S.R. Holman, Holy Cross Studies (Grand Rapids, MI: Baker Academic,
2008), 37– 47.
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