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Wie männlich ist das Theatertreffen?

Vortrag am 19.05.2019, Burning Issues Meets Theatertreffen: Konferenz zu Gender(un)gleichheit

Achtung: nicht zitierbar / © Katharina Rost & Jenny Schrödl Wie männlich ist das Theatertreffen? Katharina Rost / Jenny Schrödl Wir wurden im Frühjahr 2019 vom leitenden Dramaturgen Daniel Richter angefragt, ob wir die zehn Inszenierungen des diesjährigen Theatertreffens sehen und auf die Frage hin einschätzen wollen, wie männlich das Theatertreffen sei. Als Theaterwissenschaftlerinnen und Geschlechterforscherinnen nahmen wir uns dieser Aufgabe sehr gern an – und hier sind nun unsere Ergebnisse, die wir im Rahmen von „Burning Issues Meets Theatertreffen. Konferenz zu Gender(un)gleichheit“ am 19. Mai 2019 als Keynote vorgetragen haben. Wie männlich ist also das Theatertreffen? – Nun, diese Frage ist ziemlich eindeutig und dennoch nicht einfach zu beantworten: viele der Inszenierungen des Theatertreffens, über die Hälfte nämlich, thematisieren offensiv und dominant Männlichkeit; es wurden sieben Regisseure, zwei Regisseurinnen und ein hauptsächlich weiblich besetztes Kollektiv mit ihren Arbeiten eingeladen. Es werden Stoffe und Werke hauptsächlich von männlichen Dramatikern und Autoren in Szene gesetzt. Und dennoch ist damit nicht gesagt, dass es sich dabei um primär männliche Werte, Welten oder Ästhetiken handelt; denn – wie schon bei der Debatte um weibliche Ästhetik in den 1980er Jahren herauskam: Es ist letztlich nicht nur die Biologie, die über bestimmte Zugänge zur Welt entscheidet; so können auch Frauen männlich inszenieren und sich als männlich verstandene Werte aneignen – und umgekehrt –, je nach dem, was eine Gesellschaft als je männlich und/oder weiblich versteht. Männlichkeit und Weiblichkeit sind in unserer Kultur allerdings nach wie vor keine austauschbaren oder gleichwertigen Kategorien, so bedauerlich dies ist; sie sind weiterhin in Form einer binären Opposition und damit ungleich sowie hierarchisch in einem Machtgefälle organisiert. Sich als Frau ‚Männlichkeit‘ anzueignen, geht größtenteils mit sozialer Aufwertung einher – und sich als Mann ‚Weiblichkeit‘ anzueignen hingegen mit sozialer Abwertung. Bei der in vielen Inszenierungen verhandelten Männlichkeit geht es nicht um Männlichkeit allgemein, sondern um eine bestimmte, wenn auch durchaus dominante oder hegemoniale Vorstellung von Männlichkeit. Diese ist durch Bürgerlichkeit, Weißsein, Heterosexualität und einen westlichen Wertekanon, inklusiver deutscher Sprache, geprägt. Gleichzeitig spielen in der 10er Auswahl aber auch andere Themen und Fragen um Geschlecht eine wichtige Rolle. Damit wir alle zehn Inszenierungen in unsere Überlegungen einbeziehen können, haben wir uns für eine Ausweitung der Fragestellung entschieden – es geht uns nicht nur um Männlichkeit, sondern generell um die Frage nach der Rolle und Bedeutung sowie Inszenierung von Geschlecht. 1 Achtung: nicht zitierbar / © Katharina Rost & Jenny Schrödl Toxische Männlichkeit In vielen der Inszenierungen (wie „Hotel Strindberg“, „Unendlicher Spaß“, „Erniedrigte und Beleidigte“, „Das Internat“, „Das große Heft“, „Tartuffe oder das Schwein der Weisen“) wird eine traditionelle Vorstellung von Männlichkeit in Szene gesetzt, die in jüngerer Zeit unter dem Begriff der ‚toxischen Männlichkeit‘ verhandelt wird. Verstanden werden darunter negative, eben ‚vergiftete‘ Eigenschaften wie ein extremes Leistungsdenken, die Vermeidung von Schwäche und Emotionen, eine hohe Risiko- und Gewaltbereitschaft sowie die Abwertung von Weiblichkeit (u.a.). Derartige Attribute und Männertypen tauchen in verschiedenen Inszenierungen auf: Zu denken ist hier etwa an die Männerfiguren im „Hotel Strindberg“, die Frauen verachten und gewalttätig werden; an die Figur des großen Bruders in „Unendlicher Spaß“, der Frauen nur ‚als Subjekte‘ anspricht und ausnutzt; an die Zwillinge in „Das große Heft“, die im Kontext von Krieg zu körperlich gestählten und gleichzeitig zu emotionslosen und amoralischen Männern werden; an den patriarchal über Ehefrau und Tochter verfügenden Familienvater in „Tartuffe oder das Schwein der Weisen“; an die Männer in „Erniedrigte und Beleidigte“, die mit den Frauen spielen, wie es ihnen beliebt; oder die Typen in „Das Internat“, die andere drangsalieren und quälen. Wie bei dieser Aufzählung bereits deutlich wird, ist das Bild ‚toxischer Männlichkeit‘ eng verbunden mit Gewalt: sei es als Gewalt gegenüber Frauen, wie in „Hotel Strindberg“, „Erniedrigte und Beleidigte“ und „Tartuffe oder das Schwein der Weisen“, als Gewalt gegenüber dem Einzelnen, der anders ist, wie in „Das Internat“ oder als Kampf zwischen Göttern und Menschen, wie in „Dionysos Stadt“. Auch Aspekte des Militärs und des Krieges, der Dressur und Kraft spielen dabei eine Rolle, wie etwa in „Das große Heft“, wo der männliche Körperpanzer re-inszeniert wird. Eine in sich geschlossene, feste, in militärischen Drill und Übung gebildete, starke, Schmerz unempfindliche Körperlichkeit, die ein sich im 1. Weltkrieg herausbildendes Männlichkeitsideal darstellt, „welches Soldaten zum Inbegriff deutscher Männlichkeit werden ließ“1 – und bis heute in kulturellen Vorstellungen und Erinnerungen von Männlichkeit virulent ist. Es ist diesbezüglich ebenfalls festzustellen, dass während des Theatertreffens kaum je andere Körperlichkeiten (sized, (dis-)abled o.a.) auf der Bühne präsent sind; „Oratorium“ ist hier als einzelne Ausnahme zu nennen. Ein in mehreren Arbeiten vorkommendes Thema ist „geschlechtsbezogene Gewalt“2, so in „Hotel Strindberg“, in dem ein depressiver Dramatiker über seine Exfrau herfällt, in „Dionysos Stadt“ nach Beendigung des Krieges, insofern die überlebenden Frauen als Sklavinnen unter den Siegern ausgelost werden und sich diesen Entscheidungen willenlos zu fügen haben, in „Das große Heft“, in dem ein Mädchen von einer Gruppe Jungen attackiert und dann erniedrigt wird, in „Tartuffe oder das 1 2 Martuschak, Jürgen/Stieglitz, Olaf: Geschichte der Männlichkeiten, Frankfurt/New York: Campus Verlag 2008, S. 126. http://www.genderinstitut-bremen.de/glossar/geschlechtsbezogene-gewalt.html 2 Achtung: nicht zitierbar / © Katharina Rost & Jenny Schrödl Schwein der Weisen“, wo Ehefrau und Tochter ungefragt an einen Sex-Guru verhökert werden sollen, oder in „Persona“, als die Pflegerin sich dem sie bedrängenden Ehemann der Gepflegten zunächst widersetzt, dann seine Berührungen zulässt und ihn schließlich doch schreiend verscheucht. Dabei wird in letzteren beiden Inszenierungen ein problematisches Muster aufgegriffen, das weibliche Sexualität stereotyp und äußerst fragwürdig beschreibt: auf die erste Abwehr und Verweigerung folgt ein Nachgeben und dann die vollständige Hingabe. Eine einfache, unkritische Wiederholung dieses Schemas ist bedenklich, da sie die Allgemeingültigkeit dieser Vorgänge für weibliche Sexualität postuliert. Immerhin aber geben beide Inszenierungen andeutungsweise eine kritische Haltung zu erkennen. Im Zuge der aktuellen #MeToo-Debatten, die sich auch auf Theater beziehen, ist die Präsenz dieses Themas nicht überraschend. Eine Frage, die sich hier allerdings stellt, ist, wie Repräsentation funktionieren kann, ohne zugleich bestehende Machtverhältnisse oder stereotype Gender-Muster auf der Bühne zu reproduzieren und damit weiter zu verfestigen. Insgesamt beschäftigen sich die Inszenierungen auf unterschiedliche Weise mit Fragen nach der Darstellbarkeit dieses Themas. Während „Das große Heft“ ohnehin ein über weite Strecken erzähltes Theater ist, bei dem das Geschehen aus einer beobachtenden Perspektive berichtet wird, bringt „Hotel Strindberg“ eine Vergewaltigung durch Ausagieren drastisch zur Anschauung. Demgegenüber wird die Auslosungsszene in „Dionysos Stadt“ mit Komik ironisiert und in ihrer frauenverachtenden Dimension explizit ausgestellt. Die Thematisierung von ‚toxischer Männlichkeit‘ scheint im Augenblick sehr präsent, im Theater und weit darüber hinaus: So veranstaltete erst jüngst das Berliner Ensemble einen Thementag zu „Patriachat und Macht“ mit einem Workshop zur ‚toxischen Männlichkeit‘. Die New York Times schreibt am 22. Januar 2019, dass das Thema ‚toxische Männlichkeit‘ plötzlich überall sei. Das vormalige Macho-Bild kehrt im Zuge von Donald Trump, Rechtspopulismus, Nationalismus und Konservatismus mit veränderter Begrifflichkeit zurück; es steht gleichermaßen im Zusammenhang mit #metoo-Bewegungen, mit feministischen Kämpfen für die Quote und Gleichberechtigung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt, die inzwischen ja auch die Stadt- und Staatstheater erreicht hat. Die Bewertungen und Einschätzungen gegenüber diesem ‚toxischen‘ Männlichkeitsbild sind in den Inszenierungen des Theatertreffens allerdings sehr unterschiedlich. Es wird dabei nicht immer deutlich, wie die Inszenierung sich zur toxischen Männlichkeit verhält – kritisch oder affirmierend? So hat man in „Hotel Strindberg“ den Eindruck, der als Untergang markierte Männlichkeitstypus wird beweint und betrauert und vorwiegend als Verlust empfunden; in „Unendlicher Spaß“ wird er ironisiert, zum Teil parodistisch überzogen, aber nicht eindeutig kritisiert; mit „Das große Heft“ wird zwar einerseits durch die Romanvorlage von Agota Kristof eine Kriegskritik auf die Bühne gebracht, 3 Achtung: nicht zitierbar / © Katharina Rost & Jenny Schrödl andererseits inszeniert der Regisseur eine Faszination und Affirmation viriler Kraft und gestählter, jugendlicher, gesunder Männerkörper. Damit erscheint das Theater – aus der Perspektive einiger Theatertreffen-Inszenierungen – als Ort der affirmativen (Re-)Inszenierung traditioneller Männlichkeits- und ebenfalls Weiblichkeitsbilder. Theater vermag so Vorstellungen von Geschlecht zu tradieren und zu erhalten. Zum Teil erscheint das Theater dabei regelrecht als Refugium bürgerlicher Werte und Kultur. So wird toxische Männlichkeit zwar ausgestellt, manchmal hinterfragt, gar in der Krise gezeigt, aber eben auch bejaht. Und worauf es dabei ankommt, ist das Wie dieses Zeigens. In welchen Beziehungen befindet sich diese Figur, wie geht sie mit ihnen um und wie positioniert sich die Inszenierung deutlich gegenüber der männlichen Verunsicherung. Kaum andere Männlichkeiten Diese traditionelle Vorstellung von Männlichkeit wird zwar in vielen Inszenierungen verhandelt, ist aber nicht die einzige Vorstellung von Männlichkeit, die zur Debatte steht: es kommen auch empathische, hochbegabte Jungen („Unendlicher Spaß“), schwule Männer („Oratorium“), nichtweiße Männer und Männer aus anderen Kulturen („Dionysos Stadt“) u.a. vor. Der Fokus der Inszenierungen liegt allerdings nicht auf der Heterogenität und Diversität von Männlichkeit. Oftmals sind diese Männerrollen und Bilder eher hintergründig oder beiläufig. So fokussieren einige der ausgewählten Inszenierungen auch gar nicht primär auf Geschlecht bzw. nur punktuell, wie bei „Girl from the Fog Machine Factory“, in der Frau und Mann nur in Form einer kleinen Romanze mit als Mann und als Frau markiert werden; oder in „Oratorium“, in denen die Geschlechtlichkeit der Personen wiederholt Erwähnung findet, ohne als Thema permanent vordergründig zu sein. Geschlecht wird hier als eine prozessuale Größe erkennbar, das im Aufmerksamkeitsfeld auftaucht und wieder verschwindet, ganz im Sinne der Prozesse des Doing und Undoing Gender. Auffällig ist, dass bei diesem Theatertreffen vielfach – und zwar in über der Hälfte der Arbeiten – männliche Nacktheit zu erleben und häufiger von männlichen Geschlechtsteilen die Rede war (Vielfach zu hören war: „Schwanz“, „Penis“, „Pimmel“, „Kapitalpenis“, vom „Ausstülpen“ und „Hineinstoßen“) – von den nackten Männern in „Persona“, „Unendlicher Spaß“, „Hotel Strindberg“, „Tartuffe oder das Schwein der Weisen“, „Erniedrigte und Beleidigte“ und „Dionysos Stadt“ über die künstlichen Phalli in den letztgenannten beiden Stücken bis hin zu den Nacktheit suggerierenden Ganzkörperkostümen und dem nahezu durchgängig nackten rebellischen Internatszögling in „Das Internat“. Solcherart ausgestellte männliche Nacktheit kann als trotzige Behauptung einer biologischessentialistischen Fundierung des Männlichen und gegen ein performatives Verständnis von Gender aufgefasst werden; sie kann aber hinsichtlich der Verhandlung und Neu-Bestimmung von Männlichkeit auch etwas anderes meinen, nämlich die Hervorhebung von männlicher Verletzlichkeit, 4 Achtung: nicht zitierbar / © Katharina Rost & Jenny Schrödl Fragilität, Hilflosigkeit und Vergänglichkeit, die z.B. in „Unendlicher Spaß“ im inneren Monolog des schwer verwundeten, nackten und bewegungsunfähigen Ex-Drogenabhängigen verdeutlicht wird. Hiermit hängt ebenfalls die in manchen der eingeladenen Inszenierungen thematisierte Männlichkeitim-Werden bzw. die Perspektive von Jungen zusammen, die insbesondere mit der Schilderung aus Sicht des kriegsgebeutelten Zwillingspaares in „Das große Heft“, den aufbegehrenden, aber die Gewaltspirale nur wieder von Neuem beginnenden Schülern in „Das Internat“, dem depressiven und drogenabhängigen Tennisprofi-Nachwuchs in „Unendlicher Spaß“ sowie in Ansätzen auch mit dem nur auf Videobildern auftauchenden Sohn der Schauspielerin in „Persona“ gezeigt wird. Die Thematisierung in mehreren Arbeiten beim diesjährigen Theatertreffen steht in Resonanz zu aktuellen gesellschaftlichen Debatten, in denen seit einigen Jahren Fragen nach der angemessenen Erziehung von Jungen in den Fokus gerückt wurde. Alte Bilder von Frauen und Weiblichkeit Eine zentrale Thematik in den Inszenierungen sind ebenfalls Bilder von Frauen und Weiblichkeit. Vor allem „Persona“ sticht hier heraus: Die Inszenierung stellt eine verstummte, wahrscheinlich an Depression erkrankte sehr berühmte Schauspielerin in den Mittelpunkt, die mit ihrer Pflegerin in ein Haus am Meer verreist, um zu genesen. Die Pflegerin redet immer mehr und gibt Persönliches preis, während die andere zuhört und schweigt; es entsteht ein Bund und Solidarität zwischen den Frauen, ebenso Konflikt und Zerwürfnis, Verdoppelung und Verwechslung – bis am Ende die Schauspielerin über ihre nichtausgefüllte und gehasste Mutterrolle spricht, die sie höchstwahrscheinlich erkranken ließ. Die Inszenierung thematisiert damit den Konflikt zwischen individuellen Wünschen und Vorstellungen einer Frau einerseits und den gesellschaftlichen Rollenanforderungen, Normen und Konventionen für Frauen und Weiblichkeit andererseits. Tochter, Ehefrau, Mutter, Geliebte – sind die vier Frauenrollen, die nicht nur in „Persona“ aufgerufen und wieder einmal zur Debatte gestellt werden. Die diesjährig eingeladenen Inszenierungen gehen ambivalent mit starken Frauenfiguren um. Sie kommen zwar vor, aber nur in wenigen Arbeiten: in „Hotel Strindberg“ stellen sie als dominante Ehefrauen, willensstarke Geliebte und unabhängige Töchter das Umkehrbild der verunsicherten Männer dar, wodurch es den Anschein hat, als wäre das Eine nur durch das Andere zu haben und könne immer nur in Umkehrbewegungen, nie im Gleichgewicht befindlich sein; in „Dionysos Stadt“ gehören die großen tragischen Frauenfiguren (Hekabe, Andromache, Kassandra) dem im Krieg unterlegenen Lager an und müssen sich fortan gefasst trauernd mit dieser Situation und dem Machtverlust zurechtfinden. 5 Achtung: nicht zitierbar / © Katharina Rost & Jenny Schrödl Würde man denken, dass im Zuge der feministischen Bewegungen und Veränderungen gesellschaftlicher Rollen- und Weiblichkeitsvorstellungen der letzten Jahrzehnte die Vorstellungen von Frauen und weiblichen Identitäten vielfältiger geworden sind, so lässt sich anhand einiger Inszenierungen des Theatertreffens die immer noch vorherrschende Virulenz bestimmter, weniger Rollenbilder und Geschlechtervorstellungen konstatieren. Tochter, Mädchen, Ehefrau, Mutter, Geliebte scheinen immer noch die zentralen, alten Bilder im Theater, an denen sich festmacht und messen muss, was es heißt, Frau und weiblich zu sein – und man kommt kaum umhin zu fragen, warum eigentlich und vor allem: warum nur diese Bilder und weiblichen Existenzweisen? Wo sind die Powerfrauen, die Dekaninen und Präsidentinnen, wo die reichen Rentnerinnen, wo die taktisch versierten Politikerinnen und Aktivistinnen, wo die migrantischen Frauen oder Frauen of Colour, wo die Queerfeministinnen, Lesben und Trans*frauen, wo die Frauen mit Behinderung oder die Studentinnen und so weiter? Einzig „Oratorium“ spiegelt eine gewisse Vielfalt dieser zeitgenössischen Frauen- und Weiblichkeitsvorstellungen (und Männlichkeitsvorstellungen) wieder. Damit eng verbunden ist die Frage des Repertoires – schließlich werden eine Vielzahl an Vorlagen aus dem 19. und 20. Jahrhundert aufgeführt, die eben diese klassischen Frauen- und Rollenbilder thematisieren, so das oft geäußerte Argument. Bloß lässt sich auch hier fragen: warum eigentlich wiederholen? Warum den ewigen Kanon an männlichen Autoren und Dramatikern – die Molieres, Strindbergs, Dostojewskis, Bergmanns etc. – immer wieder aufführen und immer wieder in einer Weise aufführen, die im Wesentlichen klassische Geschlechtervorstellungen perpetuiert und Frauenals auch Männerverachtung fortschreibt? Wie z.B. die Beschreibung zu „Hotel Strindberg“ auf der Burgtheater-Website, die ohne weitere Rahmung mit den Worten beginnt: „August Strindberg, der Frauenhasser“? Wen genau interessiert das, welches Publikum wird damit ein- und welches ausgeschlossen? Dabei geht es in erster Linie um die Frage nach der Wahl der Stoffe, der Narrative und der Art der Charaktere, die mit diesen Stoffen verbunden sind. Obgleich mit dem Bezug auf Literatur, Film oder neuere Theatertexte die Möglichkeit eröffnet wird, eine Vielfalt aktuell denkbarer Weiblichkeiten und Männlichkeiten zu verhandeln, verbleiben die eingeladenen Produktionen in Bezug auf GenderEntwürfe und Lebensweisen von Sexualität weitgehend bei traditionellen Motiven und Topoi. Cross-Dressing und Hetero-Beziehungskisten Ein ganz anderer Aspekt der Theatertreffen-Inszenierungen in Bezug auf Geschlecht ist der Einsatz des Geschlechtertauschs, der Travestie. In „Unendlicher Spaß“ ist die Hauptfigur eine Hosenrolle, in „Das Internat“ spielen Frauen ebenso männliche Rollen und in „Oratorium“ werden männliche Rollen durch Frauen und weibliche Rollen männlich besetzt. Mit dem Geschlechtertausch ist stark die 6 Achtung: nicht zitierbar / © Katharina Rost & Jenny Schrödl Vorstellung einer Konstruktion von Geschlecht verbunden – spezifische Rollen, Eigenschaften, Körperlichkeiten oder Looks sind nicht einem Geschlecht quasi natürlich eingeschrieben oder angeboren, sondern beruhen auf gesellschaftlichen Konventionen und Normen, die historisch und kulturell variabel sind. Dem Cross-Dressing wird vor diesem Hintergrund eine subversive Kraft zugesprochen, gleichzeitig kann es aber auch normbestärkend wirken. In Form der Karikatur oder Parodie kann es misogyne oder männerfeindliche, homo- oder transphobe Züge tragen, es rekurriert oftmals auf ethnische und soziale Stereotypen, die so verfestigt werden können. Die bloße Umkehrung ist also nicht schon selbst Kritik an den Verhältnissen. Bei einigen der gezeigten Arbeiten scheint es, als würden sie behaupten wollen, die wesentlichen Fragen der Gegenwart kreisten um weiße, bürgerliche Hetero-„Beziehungskisten“. Sex, Treuebruch, Eifersucht, gewollte oder ungewollte bzw. gewünschte und körperlich nicht-mögliche Schwangerschaften, fortgesetzte oder geschiedene Ehen, Vaterschaftsfragen, persönliche Lebenslügen – all das bestimmt maßgeblich den Tenor in „Hotel Strindberg“, aber trifft ebenso auf „Persona“, „Tartuffe oder das Schwein der Weisen“ und „Unendlicher Spaß“ zu. Und selbst in „Girl From the Fog Machine Factory“ gipfelt der antikapitalistische Verweigerungsnebeltraum in der paarmäßigen Vereinigung von junger Frau und jungem Mann. Es scheint, als zöge sich der Blick scheuklappenartig auf den privaten Kosmos Ehe und Familie zurück. Das Paar wird als Universum gedeutet, Treuebruch als dessen Außengrenze und Polyamorie als radikalstes Liebeskonzept in dieser gutbürgerlichen, im Grunde behüteten Welt. Die Gesellschaft, die hier abgebildet wird, ist trotz all der Konflikte homogen; sie lässt keinen Raum für andere sexuelle Orientierungen, ethnische Zugehörigkeiten oder kulturelle Herkünfte. So sind auch Momente von Queerness sehr selten. Jenseits der angedeuteten lesbischen Sexkampfszene in „Persona“ und der verblendet-entflammten Begeisterung des einen Mannes für den anderen in „Tartuffe oder das Schwein der Weisen“ ist es nur eine kurze Szene in „Dionysos Stadt“, die herausfällt, weil die Abschiedsszene der Krieger*innen, die gen Troja ziehen, ganz selbstverständlich hetero- sowie homosexuelle Küsse zeigt. Apokalyptische Szenarien Was in vielen Inszenierungen hervortritt, sind düstere, teils apokalyptische Szenarien und pessimistische Perspektiven auf die Welt. „Hotel Strindberg“ endet mit einem schreienden, jammernden und wahnsinnig gewordenen Schriftsteller; „Das große Heft“ stellt die düstere Vorstellung vom Verlust menschlicher Gefühle und den Prozess einer Entmenschlichung im Kontext des Krieges dar; „Unendlicher Spaß“ thematisiert den Niedergang einer Familie und im Drogen-, Entzugs- und Verfallszirkel gefangene Menschen; „Persona“ macht das Leiden und die Krankheit 7 Achtung: nicht zitierbar / © Katharina Rost & Jenny Schrödl einer Frau zum Thema, die an ihrer Rollenanforderung als Mutter zerbricht. Das nebulöse Halbdunkel, in dem die Personen in „Erniedrigte und Beleidigte“ herumgeistern, weicht keinem Tageslicht; verstärkt durch die melancholische Musik u.a. von Jóhann Jóhannsson bleibt die Stimmung durchweg finster. „Das Internat“ stellt den Zirkel der Gewalt nicht nur in Internaten und homosozialen Bünden anschaulich aus, in denen Opfer und Täter durchaus austauschbar sind, aber die Rollen selbst ebenso wie die Gewalt bestehen bleiben. „Tartuffe oder das Schwein der Weisen“ zeigt Scheinhaftigkeit als Grundprinzip einer künstlich-übersteigerten Pseudo-Barockwelt, in der schamanenhafte Heilsversprecher und neureligiöse Gurus Lösungen in Workshop-Format verkaufen. „Dionysos Stadt“ stellt große philosophische Fragen nach dem Fehl der Menschen schlechthin und antwortet mit melancholischen Reflexionen zur Wertigkeit des Moments. Diese düsteren, teilweise in den Inszenierungen in dunklen oder halbdunklen Räumen dargestellten, Szenarien wirken sich auch auf die Darstellung von Geschlecht, von Männlichkeit und Weiblichkeit sowie auf die zwischenmenschlichen Beziehungen aus. Gezeigt werden gewaltsame und gewalterfahrene, erkrankte, kaputte, leidende Gestalten – Spaß und Spiel gibt es höchstens gepaart mit Ironie; Optimismus und Gestaltungswille nur in wenigen Inszenierungen oder sogar nur in einzelnen Momenten. Lichtblicke finden sich in „Oratorium“, die den Widrigkeiten des Lebens – am Beispiel der Wohnungssituation in deutschen Städten und der ungleichen Verteilung von Gütern – nicht mit Untergangsphantasien begegnen, sondern mit Dialog und Kritik; in „Dionysos Stadt“, wo das kriegerische und rächende Morden am Ende von einem gewaltigen Sonnenaufgang hoffnungsvoll überstrahlt wird; und in „Girl from The Fog Machine Factory“, deren dargestellte Nebelfabrik sich Kapitalismus und Leistungsdenken entzieht, wobei das märchenhaft Poetische dieser Nebelfabrikwelt offenbar nur auf der Basis weltabgewandten Rückzugs zu erlangen ist. Dies ist sicher im Kontext unserer Zeit zu verorten, in der von Spaßgesellschaft kaum mehr die Rede sein kann. Zahlreiche düstere Zukunftsprognosen überschatten hingegen den Alltag: Wohnungsnot und steigende Mieten, Umwelt- und Naturkatastrophen, rechte Politik und Nationalismen. Gesamtgesellschaftlich scheint es einen Backlasch in verschiedenen Bereichen zu geben, auch was Geschlechterrollen und -vorstellungen betrifft. Gleichzeitig ist dieses Bild, das durch die Auswahl der zehn „bemerkenswertesten Inszenierungen der Saison“, wie es im Programmheft heißt, getroffen wurde aber nur ein Bild unserer Gegenwart und Zukunft durch den Blickwinkel von Künstlerinnen und Künstlern. In vielen anderen Inszenierungen der Saison, auf den großen Bühnen ebenso wie auf den Hinter- und Nebenbühnen, in der Freien Szene, im Tanz, Performance oder New Circus werden andere Formen des Umgangs miteinander sowie der geschlechtlich-sexuellen Existenz dargestellt und präsentiert, die nicht im Strudel der Finsternis, Krankheiten, Zerstörung und Pessimismus untergehen. Künstler*innen und Kollektive wie Antonia Baehr, Bastian Kraft, Billinger&Schulz, Simone Dede 8 Achtung: nicht zitierbar / © Katharina Rost & Jenny Schrödl Ayivi, deufert&plischke, Fräulein Wunder AG, hannsjana, Henrieke Iglesias, Vanessa Stern u.v.a. zeigen in ihren Inszenierungen, was eine Auseinandersetzung mit Geschlechtlichkeit in unserer Gegenwart bedeuten und wie Zukunft produktiv gestaltet werden kann – ohne auf traditionelle Rollenbilder, hegemoniale Geschlechtervorstellungen, Gewalt und hierarchisch gedachte Beziehungen zurückzufallen. 9