Pieter Dirksen
Zum Umfang des erhaltenen Orgelwerks von
Wilhelm Friedemann Bach
Es gibt verschiedene Beschreibungen über das Orgelspiel Wilhelm Friedemann Bachs,
ganz im Gegensatz zu der äußerst mageren diesbezüglichen Berichterstattung über das
Spiel seines Vaters. Obwohl dies ohne Zweifel mit dem starken Aufkommen der deutschen Musikkritik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Beziehung steht, klingt
doch klar das Erstaunen über die hohe Orgelkunst des ältesten Bach-Sohns durch. Zum
Beispiel schreibt Christian Friedrich Daniel Schubart:
Er hat seinen Vater im Orgelspiel erreicht, wo nicht übertroffen. Er besitzt ein sehr
feuriges Genie, eine schöpferische Einbildungskraft, Originalität und Neuheit der
Gedanken, eine stürmende Geschwindigkeit und die magische Kraft, alle Herzen mit
seinem Orgelspiel zu bezaubern. Der Natur der Orgel hat er sich ganz bemächtiget;
sein Registerverständnis hat ihm noch niemand nachgemacht. Er mischt die Register,
ohne sein Spiel nur einen Augenblick zu unterbrechen – wie der Maler seine Farben
auf der Palette, und bringt dadurch ein bewundernswürdiges Ganzes hervor. Seine
Faust [Hand] ist eine Riesenfaust, die durch tagelanges Spielen nicht ermattet. Contrapunkt, Ligaturen, neue ungewöhnliche Ausweichungen, herrliche Harmonien und
äusserst schwere Sätze, die er mit der grössten Reinheit und Richtigkeit herausbringt,
herzerhebendes Pathos, und himmlische Anmut – all dies vereinigt Zauberer Bach in
sich und erregt dadurch das Erstaunen der Welt.1
Von besonderem Interesse für unser Thema ist Schubarts Mitteilung zur notierten Orgelmusik:
Schade, daß seine Orgelkompositionen kostbarer und seltener als Gold sind! Doch ist
es ein Trost für die Kunst, dass dieser erste Meister seine Orgelstücke selbst sammelt
und versprochen hat, sie nach seinem Tode herauszugeben.2
Sieht man von der recht merkwürdigen Formulierung zu einem „posthumen“ Weiterwirken ab, so bleibt doch festzuhalten, dass bei seinem Tode 1784 ein autographer Sammelband mit Orgelstücken vorhanden gewesen sein muss, der nicht nur aus begreiflichen
Gründen nicht gedruckt worden ist, sondern restlos verschollen scheint. Als ein seit
1
2
Christian Friedrich Daniel Schubart, Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, Berlin 1806, S. 89.
Ebenda, S. 96.
11
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1764 amtloser Musiker, der nicht zuletzt von Orgelkonzerten lebte, lag es offenbar nicht
in seinem Interesse, seine notierten Orgelwerken zur Abschrift freizugeben, wenigstens
nicht zu seinen Lebzeiten. Nach dem wenigen Überlieferten zu urteilen, mögen nur
Bruchstücke dieser Sammlung erhalten geblieben sein.
Aber nicht nur darum ist das Orgelwerk Friedemann Bachs zu einem wahren Problemfeld geworden. Einerseits setzt die Überlieferung im Vergleich zu den anderen
Werkbereichen auffallend spät ein, und Autographen fehlen fast ganz. Andererseits ist
Wilhelm Friedemann Bach wohl selbst für die unzureichende Rezeption seiner Orgelkompositionen verantwortlich zu machen, etwa durch die Fälschung der Vivaldi-Bearbeitung seines Vaters, des Konzerts d-Moll (BWV 596), denn gerade dieses Werk wurde
im 19. Jahrhundert prägend für das Bild nicht nur seiner Orgelmusik, sondern seiner
Musik insgesamt.3 Als sich herausstellte, dass das damals sowohl auf der Orgel als in
Bearbeitungen für Klavier ziemlich populäre Werk nicht von seiner Hand stammte, sondern von der des damals arg verpönten „Vielschreibers“ Vivaldi, war die Enttäuschung
natürlich groß – eine Enttäuschung, die die Rezeption seiner Musik bis zum heutigen
Tag negativ geprägt hat. Dennoch gab es nicht weniger als vier Versuche einer Gesamtausgabe der Orgelmusik von Wilhelm Friedemann Bach.4
Choralbearbeitungen und Manualiter-Fugen
Nur kurz erwähnt seien hier zwei Werksammlungen, die zwar keine Echtheitsprobleme
aufweisen, aber zugleich, im Lichte der Beschreibungen seines Orgelspiels, als nicht
besonders repräsentativ für Friedemann Bachs Orgelkunst angesehen werden müssen. Es
handelt sich hierbei um die Sieben Choräle (Fk 38/1 / BR-WFB A 93–99) sowie die Acht
Fugen (Fk 31 / BR-WFB A 81–88).
Die Sieben Choräle sind sämtlich als Choralricercare angelegt, eine Aneinanderreihung kurzer Fughetten über die einzelnen Choralzeilen in ruhiger, „motettischer“ Linienführung. Sie stellen wohl eher Unterrichtsmuster dar. Obwohl Gegenbeispiele dieser
Gattung in Friedemann Bachs Werk fehlen, gibt es keinen Grund, die Authentizität
dieser relativ gut überlieferten Sammlung in Frage zu stellen, zumal die Kontrapunktik
hier und da durchaus eigenwillige Züge zeigt. Ein ganz ähnliches Choralricercar, Durch
Adams Fall ist ganz verderbt (BWV 705), findet sich unter den zweifelhaften Stücken
der „Kirnberger-Sammlung“ und wurde deshalb mit Friedemann Bach in Beziehung
gebracht.5 Als mögliches weiteres Indiz in diese Richtung – mehr ist es wohlgemerkt
nicht – kann die Angabe „a Cappella“ in einigen Quellen zu diesem Stück gelten, die
auch in einer authentischen Orgelfuge Friedemanns (a-Moll) notiert wurde.
3
4
5
12
Vgl. dazu Max Schneider, Das sogenannte Orgelkonzert d-moll von Wilhelm Friedemann Bach, in: BachJahrbuch 8 (1911), S. 23–36.
Wilhelm Friedemann Bach, Complete Works for Organ, hrsg. von Edward Power Biggs und George B.
Weston, New York 1947; Wilhelm Friedemann Bach, Werken voor Orgel, 2 Bde., hrsg. von Hans Brandts
Buys, Hilversum o. J. [um 1955]; Wilhelm Friedemann Bach, Les Oeuvres pour Orgue, hrsg. von Carl de
Nys, Paris, o. J. [um 1960] (Orgue et Liturgie, Bd. 37); Wilhelm Friedemann Bach, Orgelwerke, 2 Bde., hrsg.
von Traugott Fedtke, Frankfurt am Main u. a. 1968.
Reinmar Emans, Einzeln überlieferte Choralbearbeitungen – ein Werkausschnitt voller Probleme, in: Bachs
Klavier- und Orgelwerke. Das Handbuch, hrsg. von Siegbert Rampe, Laaber 2008, S. 552 (nach einem
Hinweis von Jean-Claude Zehnder).
Zum Umfang des erhaltenen Orgelwerks von Wilhelm Friedemann Bach
An dieser Stelle sei eine Spekulation zu dem bei Martin Falck als verloren geltenden
Choraltrio Allein Gott in der Höh sei Ehr (Fk 38/2 / BR-WFB A 100) gestattet. Es ist nicht
klar, welche Quelle Falck für diesen Titel vorlag. Gotthold Frotscher verzeichnet einen
Druck aus der Mitte des 19. Jahrhunderts von Gotthilf Wilhelm Körner,6 jedoch hat sich
ein Exemplar dieser Veröffentlichung bisher nicht auftreiben lassen. Möglicherweise ist
das gesuchte Werk aber mit jener Bearbeitung BWV 716 identisch, die heute nicht mehr
als authentisches Werk Johann Sebastian Bachs betrachtet wird. Jean-Claude Zehnder
datiert das Werk auf „um 1740/1750“.7 Das Notenbild mit Vierteln als kürzesten und
dominierenden Notenwerten entspricht jenem der Sieben Choräle. Die Form ist jedoch
eine ganz andere, nämlich eine Kombination von Choralfuge und abschließendem
Pedal-Cantus-firmus. Es handelt sich zugleich (was bisher noch in keiner Edition umgesetzt wurde) aber eindeutig um ein Trio für zwei Manuale und Pedal. Es ist offensichtlich
nach dem Formmuster von BWV 664 gebildet, jedoch in modernisiertem Gewand. Der
kurz notierte Vorhalt im Wert einer halben Note (T. 13) weist klar auf die Generation
Wilhelm Friedemann Bachs hin. Die einzige aus dem 18. Jahrhundert stammende Quelle
ist ein umfangreicher, um 1770–1780 entstandener Sammelband mit 53 Orgelchorälen,
welche auf der Titelseite pauschal Johann Sebastian Bach zugeschrieben sind.8 Neben
einer Reihe von Chorälen aus dem Orgelbüchlein enthält die Sammlung eine Reihe weitere Dubiosa wie BWV 692, 693, 707, 741, 748 sowie auch die schon erwähnte Choralbearbeitung BWV 705. Die Autorschaft Friedemann Bachs und damit die mögliche
Identifizierung von Fk 38/2 / BR-WFB A 100 mit dem überaus gehaltvollen Choraltrio
BWV 716 sei hier in aller Vorsicht zur Diskussion gestellt.
Noch weit besser überliefert (darunter auch in einem Konzeptautograph) als die Sieben Choräle ist die in seiner letzten, Berliner Zeit komponierte oder zusammengetragene
und 1778 Anna Amalia von Preußen gewidmete Sammlung von Huit Fugues pour le
Clavecin ou l’Orgue (Fk 31 / BR-WFB A 81–88). Sie war offensichtlich ziemlich verbreitet9 und hat zusammen mit den Zwölf Polonaisen (Fk 12 / BR-WFB A 27–38) das Bild
des Komponisten bis weit in das 19. Jahrhundert geprägt. Hiermit stellt sich Wilhelm
Friedemann Bach in eine in Berlin während der 1770er Jahre offenbar geläufige Tradition von kleinen Sammlungen von Fugen ohne Pedal, die sowohl auf dem Cembalo
als auch auf der Orgel gespielt werden können. Vergleichbare Sammlungen gibt es u.
a. von Carl Philipp Emanuel Bach, Johann Christoph Kellner, Friedrich Wilhelm Marpurg, Johann Philipp Kirnberger und Johann Georg Albrechtsberger.10 In Anbetracht
der Beschreibungen von Wilhelm Friedemann Bachs Orgelspiel sowie besonders auch
6
Gotthold Frotscher, Geschichte des Orgelspiels und der Orgelkomposition, Berlin 1934/35, S. 1078, gibt
als Fundort Körners Orgel-Virtuos, Heft 163 (1847) an. Ein Exemplar dieses Druckes konnte bislang nicht
gefunden werden.
7 Jean-Claude Zehnder, Die frühen Werke Johann Sebastian Bachs. Stil – Chronologie – Satztechnik, Basel
2009 (Schola Cantorum Basiliensis Scripta, Bd. 1), S. 528.
8 D-B: Mus. Ms. Bach P 1160.
9 Zur Quellenlage vgl. Peter Wollny, Studies in the Music of Wilhelm Friedemann Bach: Sources and Style,
Diss. Harvard University, Cambridge MA 1993, S. 216–223.
10 Carl Philipp Emanuel Bach, VI Fugen vor die Orgel, wie auch vor das Clavier, Abschrift datiert 1756;
Johann Christoph Kellner, Six Fugues pour les orgues ou le clavecin, Berlin o. J. [um 1770]; Friedrich Wilhelm Marpurg, Fughe e Capricci per clavicembalo ò per l’organo, Berlin 1777; Johann Philipp Kirnberger,
Huit Fugues pour le clavecin ou l’orgue, Berlin 1777; Johann Georg Albrechtsberger, Douze Fugues Pour
le Clavecin ou l’Orgue, Berlin 1780.
13
Pieter Dirksen
von Johann Nikolaus Forkels Bemerkungen dazu in seiner Bach-Biographie erscheint es
kein Zufall, dass Friedemann in seiner Titelformulierung an erster Stelle das Cembalo
erwähnt. Forkel schrieb:
Wenn ich Wilhelm Friedemann auf dem Clavier hörte, war alles zierlich, fein und
angenehm. Hörte ich ihn auf der Orgel, so überfiel mich ein heiliger Schauder. Dort
war alles niedlich, hier alles groß und feyerlich.11
Im Lichte dieser klaren stilistischen Trennung,12 die wegen des Epochewandels bei Friedemann wohl viel ausgeprägter in Erscheinung trat als bei seinem Vater, besteht kein
Zweifel, dass die acht überwiegend „zierlichen“ und „niedlichen“ Fugen primär für das
besaitete Tasteninstrument gedacht sind. Das gleiche gilt wohl für zwei einzelstehende
Manualiter-Fugen F-Dur (Fk 33 / BR-WFB A 90)) und c-Moll (Fk 32 / BR-WFB A 89).
Im letzteren Stück, das in seiner rhythmischen Schärfe als ein ausgesprochenes Cembalostück betrachtet werden muss, wird zudem der nicht-orgelmäßige Ton Kontra-B
gefordert.
Die Pedaliter-Fugen
Martin Falck erwähnt in seiner richtungsweisenden Monographie von 1913 nur zwei
Orgelfugen mit Pedal von Wilhelm Friedemann Bach, ein kleines Werk in g-Moll (Fk
37 / BR-WFB A 92) und eine umfangreichere Komposition in F-Dur (Fk 36 / BR-WFB
A 91).13 Beide Stücke sind relativ gut, zum Teil sogar gemeinsam überliefert, wobei die
meisten Quellen auf den „letzten“ Bach-Schüler Johann Christian Kittel und dessen
Kreis zurückzuführen sind. (Auch die erhaltenen Quellen der Sieben Choräle entstammen diesem Kreis.) Das gilt vielleicht auch für die Falck noch verschlossene Sammlung
von IV Fugen für die Orgel mit zwey Clavieren und Pedal14 von unbekannter Hand, aber
aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in der die meisterliche F-Dur-Fuge (Fk 36
/ BR-WFB A 91) das Eröffnungsstück bildet. Wichtig für die Zuschreibung dieser eher
peripher überlieferten Sammlung ist die Tatsache, dass sie 1781 und 1782 mit identischem Titel in zwei Katalogen des Hamburger Musikalienhändlers Johann Christoph
Westphal erscheint, also noch zu Lebzeiten des Komponisten (auch im Kittel-Nachlass
11 Johann Nikolaus Forkel, Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke, Leipzig 1802, S. 18.
12 Dies trotz der diese Beobachtung Forkels relativierenden Anmerkungen von Carl Friedrich Zelter; vgl.
Johann Nikolaus Forkel, Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke (Leipzig 1802).
Edition – Quellen – Materialien, hrsg. von Christoph Wolff und Michael Maul, Kassel u. a. 2008 (BachDokumente, Bd. 7), S. 155.
13 Martin Falck, Wilhelm Friedemann Bach – Sein Leben und seine Werke, Leipzig 1913, S. 92–94. – Der
jüngst erhobene Echtheitszweifel an Fk 36 / BR-WFB A 91 und 37 / BR-WFB A 92 (David Schulenberg,
The Music of Wilhelm Friedemann Bach, Rochester 2010, S. 117f. – die drei Fugen Fk n.v. 39–41 / BRWFB YA 149–151 werden überhaupt nicht diskutiert oder miteinbezogen) basiert auf einer m. E. viel zu
pejorativen Beurteilung von deren Qualität, besonders hinsichtlich Fk 36. Es gibt zudem keinen wirklichen
Grund, an der einstimmigen Zuschreibung dieser Fugen – wie auch der Sieben Choräle Fk 38/1 / BR-WFB
A 93–99 – an Wilhelm Friedemann Bach in der (Kittel-)Überlieferung zu zweifeln; Schulenberg trennt die
Autorschaftsfrage der fünf betreffenden Pedaliter-Fugen nicht klar von denen der weit problematischeren
in D-Dur (vgl. Anm. 39) und der zweifellos unechten in c-Moll (vgl. Anm. 40).
14 D-B: Mus. Ms. Bach P 990.
14
Zum Umfang des erhaltenen Orgelwerks von Wilhelm Friedemann Bach
von 1809 ist sie verzeichnet).15 Die vier Fugen bilden stilistisch eine einheitliche Gruppe,
vor allem die drei ersten, und die Anwesenheit der auch anderswo unter Friedemann
Bachs Namen überlieferten F-Dur-Fuge bietet somit ein weiteres Element zur Authentifizierung der drei hier singulär vorhandenen Fugen. Diese vier großangelegten Werke
stellen Studien mit zwei oder drei obligaten Kontrasubjekten und Sequenztechniken dar,
mit ziemlich gelockerter Dissonanzbehandlung und komplexen Vorhaltstechniken. Dabei
werden strenge Fugennormen bewusst vermieden, und der Komponist strebt neue, dissonanzreiche Klänge an. Das Schlüsselwerk einer weiteren stilistischen Verifizierung des
Autors bildet das d-Moll-Konzert (BWV 596). Wilhelm Friedemann Bach war offenbar
besonders fasziniert von den Vivaldi-Orgelbearbeitungen seines Vaters, wie nicht nur
durch die Abschrift von BWV 596, sondern auch durch die (fragmentarisch erhaltene)
Kopie des großen Konzerts nach Vivaldi in C-Dur (BWV 594) belegt wird.16 Im d-MollKonzert war es wohl vor allem die Fuge (3. Satz), welche sein Interesse genoss, denn
das hier begegnende fallende thematische Sequenzmodell mit mehrfach umkehrbarem
Kontrapunkt (Beispiel la), wird in sämtlichen der IV Fugen weiterentwickelt (Beispiel
lb-e). In den drei ersten Fugen, die in ihrem Bewegungsmuster der Vivaldi-Fuge weitgehend entsprechen, wird ein vierfach umkehrbarer Kontrapunkt verwirklicht. (Auch die
Sequenzen in der zweite Hälfte der g-Moll-Fuge [Fk 37 / BR-WFB A 92] können diesem
Experimentierbereich zugerechnet werden, Beispiel 1f). Und wie die Vivaldi-Fuge kulminieren alle vier Fugen gegen Ende in einem langen Orgelpunkt auf der Dominante,
worüber die thematischen Sequenzen auf höchst dissonante Weise weitergeführt werden
–besonders „rücksichtslos“ in der F-Dur Fuge.
Bsp. 1a: Antonio Vivaldi, Johann Sebastian Bach, Fuge d-Moll (BWV 596/3), T. 14–15.
Bsp. 1b: Wilhelm Friedemann Bach, Fuge F-Dur (Fk 36 / BR-WFB A 91), T. 7–9.
15 Vgl. Wollny, Studies in the Music of Wilhelm Friedemann Bach (wie Anm. 9), S. 525 (Westphal) und 510
(Kittel).
16 D-LEu: Ms. N.I. 5138. Vgl. dazu auch die Einleitung zu Johann Sebastian Bach, Sonaten, Trios, Konzerte,
hrsg. von Pieter Dirksen, Wiesbaden 2010 (Sämtliche Orgelwerke, Bd. 5), S. 14f.
15
Pieter Dirksen
Bsp. 1c: Wilhelm Friedemann Bach, Fuge c-Moll (Fk n.v. 39 / BR-WFB YA 149), T. 16–18.
Bsp. 1d: Wilhelm Friedemann Bach, Fuge B-Dur (Fk n.v. 40 / BR-WFB YA 150), T. 15–16.
Bsp. 1e: Wilhelm Friedemann Bach, Fuge a-Moll (Fk n.v. 41 / BR-WFB YA 151), T. 26–31.
Bsp. 1f: Wilhelm Friedemann Bach, Fuge g-Moll (Fk 37 / BR-WFB A 92), T. 29–30.
16
Zum Umfang des erhaltenen Orgelwerks von Wilhelm Friedemann Bach
Aus der Perspektive dieser herausragenden Merkmale der IV Fugen sollte eine weitere
in a-Moll stehende Fuge, die unter der BWV-Nummer 897/2 verzeichnete Komposition,
betrachtet werden. Das Stück wird Johann Sebastian Bach zwar längst abgesprochen,
aber die Diskussion um die Zuschreibung wurde offenbar bisher durch die Assoziation
mit einem Präludium (BWV 897/1) verunklart. Dieses Präludium ist schon seit langem als eine Arbeit des Nürnberger Organisten Cornelius Heinrich Dretzel (1697–1755)
identifiziert worden.17 In der kleinen Ausgabe des Bach-Werke-Verzeichnisses von 1998
sowie in der zweiten Ausgabe der Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart
wird deshalb auch die Fuge mit Dretzel in Verbindung gebracht.18 Die einzigen Zeugen
dieser Kopplung sowie der Zuschreibung an Johann Sebastian Bach sind zwei Quellenbereiche, die nicht gerade als besonders zuverlässig bekannt sind, nämlich die Sammlungen Scholz und Schelble-Gleichauf. Merkwürdigerweise wird aber bis in den jüngsten
Band der Neuen Bach-Ausgabe (NBA) hinein die klare Zuschreibung der Einzelüberlieferung der Fuge an „W. F. Bach“ in einer weiteren Quelle ignoriert. Diese von Hans
Georg Nägeli geschriebene Quelle19 stammt zwar aus dem 19. Jahrhundert, wurde aber
angeblich direkt nach einer auf 1766 datierten Vorlage kopiert.20 Im Kritischen Bericht
des betreffenden NBA-Bandes heißt es sogar, dass „die Fuge nur unter dem Namen J. S.
Bachs überliefert“ sei, sowie „die Frage, von wem die vorliegende Fuge komponiert worden sein könnte, wird wohl so schnell nicht beantwortet werden können, es sei denn,
es fände sich eine neue Quelle mit glaubwürdiger Zuschreibung“21 – eine erstaunliche
Feststellung, denn auch hier ist die Zürcher Quelle samt ihrer Zuschreibung aufgelistet.
In diesem Werk, in dem – wie in der B-Dur-Fuge (Fk n.v. 40 / BR-WFB YA 150) –
„punktuelle“ statt obligate Pedalanwendung gefordert wird, finden sich wiederum die
für Friedemann Bachs Orgelstil charakteristischen fallenden „Vivaldi-Sequenzen“ in
mehrfach umkehrbarem Kontrapunkt (Beispiel 2a) sowie ein ausgedehnter DominantOrgelpunkt gegen Ende. Überdies werden die Sequenzen, wie in der c-Moll-Fuge (Fk n.v.
39 / BR-WFB YA 149), auch auf experimentelle Weise gespiegelt, was in beiden Fällen zu
einer kühnen, neuartigen Polyphonie führt (Beispiel 2b-c). Die Verwandtschaft zwischen
beiden Fugen geht aber noch weiter, vor allem in ein prägnantes Zwischenspielmotiv
(Beispiel 2d-e). Der Themenkopf der a-Moll-Fuge (Beispiel 2f) ist offenbar einem
bekannten Soggetto Georg Friedrich Händels entlehnt (Beispiel 2g). Dies erinnert
daran, dass Friedemann Bach eine Orchesterfuge dieses Komponisten für Cembalo
bearbeitet hat, wenn wir deren einziger Quelle glauben schenken dürfen: Es handelt
sich um die Fuge B-Dur (Fk 34 / BR-WFB YA 147), welche sich in einer Kopie des 19.
Jahrhunderts zusammen mit zwei der Huit Fugues (Fk 31 / BR-WFB A 81–88) erhalten
hat.22 Das Thema dieser Fuge beginnt mit dem gleichen nachdrücklichen Quintfall wie
17 Isolde Ahlgrimm, Cornelius Heinrich Dretzel, der Autor des J. S. Bach zugeschriebenen Klavierwerkes
BWV 897, in: Bach-Jahrbuch 55 (1969), S. 67–77.
18 Bach-Werke Verzeichnis – Kleine Ausgabe, nach der von Wolfgang Schmieder vorgelegten 2. Ausgabe
hrsg. von Alfred Dürr und Yoshitake Kobayashi, Wiesbaden u. a. 1998, S. 464; Werner Breig, Johann
Sebastian Bach, in: MGG2, Personenteil, Bd. 1, Kassel u. a. 1999, Sp. 1397–1535, hier Sp. 1467.
19 CH-Zz: Ms. Car XV 245(33):3.
20 Raymond Meylan, Neues zum Musikaliennachlaß von Hans Georg Nägeli, in: Bach-Jahrbuch 82 (1996),
S. 23–47, hier S. 46.
21 Johann Sebastian Bach, Werke zweifelhafter Echtheit für Tasteninstrument. Kritischer Bericht, hrsg. von
Ulrich Bartels und Frieder Rempp, Kassel u. a. 2006 (Neue Bach-Ausgabe, Serie V, Bd. 12), S. 222.
22 A-Wn: Ms. 18784.
17
Pieter Dirksen
BWV 897/2; es findet sich übrigens auch in einer der Kontrasubjekte der F-Dur-Fuge.
Das Oktavunisono, mit der diese a-Moll-Fuge endet, erinnert wiederum stark an den
Abschluss der Fantasie e-Moll (Fk 20 / BR-WFB A 23). Insgesamt erscheint das Stück
fest eingebunden in Friedemann Bachs Stil; es gibt keinen Grund, die Zuschreibung in
der Schweizer Quelle anzuzweifeln.
Bsp. 2a: Fuge a-Moll (BWV 897/2), T. 22–24.
Bsp. 2b: Fuge c-Moll (Fk n.v. 39 / BR-WFB YA 149), T. 93–95.
Bsp. 2c: Fuge a-Moll (BWV 897/2), T. 80–82.
Bsp. 2d: Fuge c-Moll (Fk n.v. 39 / BR-WFB YA 149), T. 111–114.
18
Zum Umfang des erhaltenen Orgelwerks von Wilhelm Friedemann Bach
Bsp. 2e: Fuge a-Moll (BWV 897/2), T. 38–40.
Bsp. 2f: Fuge a-Moll (BWV 897/2), Thema.
Bsp. 2g: Georg Friedrich Händel, Fuge fis-Moll (HWV 431/3), Thema.
Verschiedene Einzelwerke
Die zuletzt genannte Fantasie e-Moll (Fk 20 / BR-WFB A 23) ist auch in anderer Hinsicht von Interesse. Obwohl dieses Stück bisher immer unter Wilhelm Friedemann Bachs
Werken für besaitete Tasteninstrumente eingeordnet wurde, hat es eindeutig etwas mit
dem Bereich der Orgel zu tun. Es begegnen nämlich einige triomäßige Stellen, die nicht
manualiter spielbar sind und offenbar mit Pedalbeteiligung rechnen (Beispiel 3a) bzw.
viel besser mit Pedal ausgeführt werden können (Beispiel 3b). Jedoch ist das Pedal lediglich punktuell als „Aushilfe“ notwendig, und die Fantasie endet (wie schon erwähnt)
mit einer Unisono-Passage, die nur manualiter ausführbar ist. Dies könnte auf eine
Bestimmung für besaitetes Tasteninstrument mit Pedal hindeuten. Jedoch sei zugleich
festgehalten, dass die e-Moll-Fantasie – auch abgesehen vom Aspekt des Pedaleinsatzes
– die einzige unter Friedemann Bachs neun erhaltenen Fantasien (Fk 14–23 / BR-WFB
A 17–26) darstellt, die sich klanglich befriedigend auf der Orgel darstellen lässt.
Innerhalb dieser Werkgruppe findet sich die Fantasie a-Moll (Fk 23 / BR-WFB A 26),
deren abschließendes Prestissimo von einer Sequenz eröffnet wird, die sich wörtlich
in einem längst angezweifelten freien Orgelwerk von Johann Sebastian Bach befindet
(Beispiel 4c-d). Dieses Stück, das Präludium G-Dur (BWV 568), obwohl von der NBA
kanonisiert,23 wurde vor allem in jüngerer Zeit sowohl überlieferungsgeschichtlich als
23 Johann Sebastian Bach, Präludien, Toccaten, Fantasien und Fugen, Bd. 2, hrsg. von Dietrich Kilian, Kassel
u. a. 1964 (Neue Bach-Ausgabe, Serie IV, Bd. 6).
19
Pieter Dirksen
Bsp. 3a: Fantasie e-Moll (Fk 20 / BR-WFB A 23), T. 55–56.
Bsp. 3b: Fantasie e-Moll (Fk 20 / BR-WFB A 23), T. 34–35.
Bsp. 3c: Fantasia a-Moll (Fk 23 / BR-WFB A 26), Anfang des Prestissimo.
Bsp. 3d: Präludium G-Dur (BWV 568), T. 29–31.
20
Zum Umfang des erhaltenen Orgelwerks von Wilhelm Friedemann Bach
auch stilistisch als ein höchst problematisches Werk erkannt.24 Als Komposition Johann
Sebastian Bachs betrachtet, ergibt sich eine unüberbrückbare Kluft zwischen der ziemlich unkontrollierten konzertmäßigen Form und der undefinierten Thematik einerseits
sowie der weitgespannten Modulationen und „galanten“ Einzelzüge, wie die Wendung
in T. 33, die mit Vorhalten versehene Sequenz in T. 41–43 und der mit einem langen
dissonanten Mehrfachvorhalt versehene Schlussakkord andererseits. Hinzu kommt, dass
das Werk strenggenommen anonym überliefert worden ist; nur im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde es Johann Sebastian Bach zugeschrieben. Es gibt zudem einen interessanten Überlieferungszusammenhang in einem Sammelband aus der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts,25 der mit BWV 568 eröffnet wird, direkt gefolgt von Friedemann
Bachs d-Moll-Fantasie (Fk 18 / BR-WFB A 21) und anschließend daran das möglicherweise gleichfalls vom Sohn komponierte Präludium h-Moll (BWV 923).
Die einzige aus dem 18. Jahrhundert stammende Quelle26 sowie einige weitere
Abschriften aus dem frühen 19. Jahrhundert überliefern das Präludium anonym. Dabei
fällt die wiederholte gepaarte Überlieferung mit dem Kleinen Harmonischen Labyrinth
C-Dur (BWV 591) auf. In den fünf betreffenden Quellen geht das Präludium jeweils
dem Labyrinth, das durchweg Johann Sebastian Bach zugeschrieben ist, voran, was die
Zuschreibung auch dieses Werkes in den jüngeren Abschriften erklären helfen mag.
Jedoch ist auch die Autorschaft Johann Sebastian Bachs für das Kleine Harmonische
Labyrinth höchst zweifelhaft.27 Es begegnet hier eine vergleichbare Dichotomie wie beim
Präludium: Das Stück passt stilistisch in keine Phase von Johann Sebastian Bachs kompositorischer Entwicklung. Zudem wäre eine solch explizite und zugleich kompositorisch nicht ganz souverän gemeisterte Demonstration von Chromatik und Enharmonik
bei ihm undenkbar. Insgesamt erscheint trotz verschiedener rezenter Rehabilitationsversuche28 seine Autorschaft wenig plausibel. Wegen der paarweisen Überlieferung und
verschiedener stilistischer Berührungspunkte und nicht zuletzt auch wegen des gemeinschaftlichen Themas „Modulation“ stammen Präludium und Labyrinth möglicherweise
von gleicher Hand. Sie stellen wohl improvisatorisch niedergeworfene Studien im „alten
Stil“ dar – BWV 568 das norddeutsche Präludium mit virtuoser Pedalstimme, BWV 591
das barocke Labyrinth –, wobei der Komponist sein gegenüber dem großen, vertrauten
24 George Stauffer, The Organ Preludes of Johann Sebastian Bach, Ann Arbor 1980 (Studies in Musicology,
Bd. 27), S. 55–57; Peter Williams, The Organ Music of J. S. Bach, Bd. 1, Cambridge 1980, S. 228; Werner
Breig, Freie Orgelwerke, in: Bach-Handbuch, hrsg. von Konrad Küster, Kassel u. a. 1999, S. 614–712, hier
S. 631; David Humphreys, Towards a revised canon for the organ works of J. S. Bach, in: British Institute
of Organ Studies Journal 27 (2003), S. 6–18, hier S. 15.
25 D-B: Mus. Ms. Bach P 301.
26 D-B: Mus. Ms. Bach P 1107.
27 Williams, The Organ Music of J. S. Bach (wie Anm. 24), S. 281f.; Bach-Werke Verzeichnis (wie Anm. 18),
S. 462; Zehnder, Die frühen Werke Johann Sebastian Bachs (wie Anm. 7), S. 527.
28 Craig Wright, Bachs ‚Kleines harmonisches Labyrinth‘ (BWV 591) – Echtheitsfragen und theologischer
Hintergrund, in: Bach-Jahrbuch 86 (2000), S. 51–65; Thomas Synofzik, „Fili Ariadnaei“: Entwicklungslinien zum Wohltemperierten Klavier, in: Bach. Das Wohltemperierte Klavier I: Tradition, Entstehung,
Funktion, Analyse. Ulrich Siegele zum 70. Geburtstag, hrsg. von Siegbert Rampe, München und Salzburg
2002, S. 109–146, hier S. 111–113; Johann Sebastian Bach, Freie Orgelwerke und Choralpartiten aus
unterschiedlicher Überlieferung. Kritischer Bericht, hrsg. von Ulrich Bartels und Peter Wollny, Kassel u. a.
2003 (Neue Bach-Ausgabe, Serie IV, Bd. 11), S. 77–80; Bachs Klavier- und Orgelwerke. Das Handbuch,
hrsg. von Siegbert Rampe, Laaber 2008, S. 121 (hier wird in altvertrauter Weise versucht, BWV 591 als
angebliches Frühwerk zu „retten“).
21
Pieter Dirksen
Bsp. 4a: Kleines Harmonisches Labyrinth C-Dur (BWV 591), T. 33–34.
Bsp. 4b: Polonaise es-moll (Fk 12/6 / BR-WFB A 32), T. 9–10.
Bsp. 4c: Kleines Harmonisches Labyrinth C-Dur (BWV 591), T. 28–29.
Bsp. 4d: Fantasie d-Moll (Fk 19 / BR-WFB A 22), T. 123–126.
22
Zum Umfang des erhaltenen Orgelwerks von Wilhelm Friedemann Bach
Vorbild Johann Sebastian Bach niedrigeres Alter hier und da nicht verleugnen kann:
Neben den schon angeführten Stellen im Präludium weist auch das Kleine Harmonische
Labyrinth ein solch galantes „Steinmetzzeichen“ auf (Beispiel 4a); dieses Modell findet
sich öfters in Friedemann Bachs Claviermusik (Beispiele 3b und 4b). Eine weitere bemerkenswerte Parallele ist zwischen der chromatisch verästelten Schreibweise im kontrapunktischen Zentrum (Beispiel 4c) und dem Ende der zweite „Fuga“ aus der Fantasie
d-Moll (Fk 19 / BR-WFB A 22) zu erkennen (Beispiel 4d). Auch das Adjektiv „kleines“
hat eine Parallele bei ihm, und zwar in Ein kleines Presto (Fk 25/2a / BR-WFB A 49a).29
Erinnert sei zudem an eine gewisse Dresdner Tradition für solche Stücke, wie Friedrich
Suppigs Labyrinthus musicus von 1722 und dem Un poco allegro in Johann David Heinichens Der General-Bass in der Composition von 1728;30 Wilhelm Friedemann Bach
war von 1733 bis 1746 in Dresden tätig. Es liegt somit auf der Hand, dass nicht nur das
Präludium, sondern auch das Kleine Harmonische Labyrinth mit Wilhelm Friedemann
Bach in Beziehung zu bringen ist.
Praeludium und Fuge f-Moll
Es gibt noch ein drittes, Johann Sebastian Bach zugeschriebenes Orgelwerk, das sich
einer sinnvollen Einordnung in dessen Œuvre entzieht und stattdessen mit Wilhelm
Friedemann in Verbindung gebracht werden kann: Präludium und Fuge f-Moll (BWV
534). Stilistisch weist es eindeutig Züge von Johann Sebastian Bachs Leipziger Orgelstil
auf, aber hinsichtlich formaler Gestaltung, Stimmführung, Anwendung der PedaliterTextur und (in der Fuge) Einsatzschema gibt es zahlreiche Widersprüche zu Johann
Sebastian Bachs (reifen) Stil, dass dieses nur in wenigen aus dem 19. Jahrhundert stammenden Quellen greifbare Werk ihm entschieden abgesprochen werden muss. David
Humphreys hat das im Bach-Jahr 1985 zum ersten Mal klar gezeigt,31 und Werner Breig
hat es von der Perspektive seiner Analyse der thematischen Einsatzfolge in den Orgelfugen Johann Sebastian Bachs bestätigt.32 Er zeigt, dass hier das Bachsche vierphasige
Fugenmodell angewendet worden ist, dabei aber zu viele Themen auf der Tonika- und
vor allem auf der Dominante auftreten, wogegen lediglich zwei „fremde“ Einsätze (beide
auf der Mediante) stehen. In der Schlussphase gibt es zudem nur zwei Tonika-Themen
und nicht weniger als fünf Dominantthemen, einschließlich der beiden letzten. So etwas
ist bei Johann Sebastian Bach einfach undenkbar.
29 Diese Aufschrift ist zuverlässig überliefert in der Abschrift von Fk 25/2A / BR-WFB A 49a von der Hand
Carl Philipp Emanuel Bachs in D-B: Mus. Ms. P 283 (um 1734).
30 Friedrich Suppig, Fantasia, in: Labyrinthus musicus, Calculus Musicus. Facsimile of the manuscripts
Paris, Bibliotheque du Conservatoire Res. F 211–212 (Dated Dresden, 24 June 1722), hrsg. von Rudolf
Rasch, Utrecht 1990, S. 60–126; Johann David Heinichen, Un poco allegro, mà cantabile, in: Der GeneralBass in der Composition, Dresden 1728, S. 885–889.
31 David Humphreys, Did J. S. Bach Compose the F minor Prelude and Fugue BWV 534?, in: Bach, Handel,
Scarlatti – Tercenteneray Essays, hrsg. von Peter Williams, Cambridge 1985, S. 173–184. Vgl. auch David
Humphreys, Further on the authenticity of Bach’s fugues in A major and F minor, in: Organ Yearbook 38
(2009), S. 95–105, hier S. 102–105.
32 Werner Breig, Formprobleme in Bachs frühen Orgelfugen, in: Bach-Jahrbuch 78 (1992), S. 7–21, hier
S. 17–19; vgl. auch Breig, Freie Orgelwerke (wie Anm. 24), S. 677.
23
Pieter Dirksen
Es bleibt aber die Frage, wer der Autor dieses dennoch überaus gehaltvollen Orgelwerks war. Humphreys neigt aufgrund der Überlieferung dazu, es Kittel zuzuschreiben.
Vor einigen Jahren habe ich mich gleichfalls mit dieser Autorschaftsfrage auseinandergesetzt und kam zum Schluss, dass aller Wahrscheinlichkeit nach Wilhelm Friedemann
Bach der Komponist dieses bekannten Orgelwerks war.33 Die wichtigsten Punkte dieser
damals nur in holländischer Sprache veröffentlichten Hypothese seien hier rekapituliert.
Überliefert ist das Werk lediglich in einer Abschrift des Kittel-Schülers Johann
Andreas Dröbs (1784–1825)34 sowie in einem Frühdruck von Gotthilf Wilhelm Körner
(1809–1865), der laut eigener Angabe gleichfalls auf einer Vorlage von Kittel basiert –
wohl die gleiche, die Dröbs benutzte. Erinnert sei daran, wie dominierend Kittel und sein
Kreis in den Quellen des Orgelwerks Wilhelm Friedemann Bachs sind. Dröbs ist außerdem der Schreiber der wichtigsten erhaltenen Quelle zu den Sieben Choräle,35 während
Körner in seiner Editionsreihe Der Orgelvirtuos nicht nur BWV 534 (als Werk Johann
Sebastian Bachs), sondern auch zwei Wilhelm Friedemann Bach zugeschriebene Orgelwerke aufgenommen hat: die Fuge g-Moll (Fk 37 / BR-WFB A 92) sowie das schon referierte, rätselhafte Trio über Allein Gott in der Höh sei Ehr (Fk 38/2 / BR-WFB A 100).
Angesichts dieser späten und isolierten Überlieferung ist es durchaus denkbar, dass eine
Kopie von BWV 534 in der Kittel-Sammlung nur einen nicht näher bezeichneten „Bach“
zugeschrieben war und dass seine Schule im 19. Jahrhundert diese eindrucksvolle zweiteilige Arbeit Johann Sebastian Bach zugeschrieben hat, dessen Ruhm damals nicht
zuletzt von ähnlichen zweiteiligen Orgelwerken bestimmt wurde. Während wichtige
Einflüsse der Musik des Vaters klar erkennbar sind, bilden Präludium und Fuge f-Moll
nicht eine eindeutig identifizierbare Kopie eines bestimmten Werkes des Meisters, wie
es etwa bei den meisten großen Orgelwerken von Johann Ludwig Krebs der Fall ist. Es
nimmt vielmehr eine unabhängige Position ein und zeigt einen kreativen Ansatz, sich
von den strengen Prinzipien des polyphonen Stils Johann Sebastian Bachs zu befreien.
Diese Haltung ist typisch für Wilhelm Friedemann Bach.
Obwohl die verminderte Septime des Fugenthemas (Beispiel 5a) ein fester Barocktopos war, fällt trotzdem auf, wie häufig dieser Thementyp innerhalb des relativ schmalen
Œuvres Friedemann Bachs vertreten ist (Beispiel 5b). Humphreys weist mit Recht darauf
hin, dass die Platzierung der verminderte Septime auf der erhöhten vierten Stufe statt
auf der siebenten wie in der f-Moll-Fuge bei Johann Sebastian Bach nicht auftritt, sondern auf eine etwas spätere Epoche hinweist. In der bereits zitierten Sonate f-Moll (!) für
zwei Flöten von Friedemann weist das Thema des letzten Teils jene erhöhte vierte Stufe
an prominenter Stelle auf (Beispiel 5c).
Bsp. 5a: Johann Sebastian Bach, Fuge f-Moll (BWV 534/2).
33
Pieter Dirksen, Het auteurschap van Praeludium en fuga in f (BWV 534), in: Het Orgel 96/5 (2000), S.
5–14.
34 D-LEm: Slg. Becker 111.8.21.
35 D-BNms: Slg. Klein Ec. 252.10.
24
Zum Umfang des erhaltenen Orgelwerks von Wilhelm Friedemann Bach
Bsp. 5b: Wilhelm Friedemann Bach, Fugenthemen
Fantasie d-Moll (Fk 19 / BR-WFB A 22), T. 33–35
Fuge c-Moll (Fk 31/2 / BR-WFB A 82)
Fuge e-Moll (Fk 31/6 / BR-WFB A 86)
Fuge c-Moll (Fk 32 / BR-WFB A 89)
Trio für zwei Flöten und Continuo a-Moll (Fk 49 / BR-WFB B 15), Allegro
Duett für zwei Flöten f-Moll (Fk 58 / BR-WFB B 6), Un poco allegro
Duett für zwei Bratschen g-Moll (Fk 62 / BR-WFB B 9), Alla breve
Sinfonie für Streicher d-Moll (Fk 65 / BR-WFB C 7), Allegro e forte
Bsp. 5c: Duett für zwei Flöten f-moll (Fk 58 / BR-WFB B 6), Vivace.
25
Pieter Dirksen
Die weitgespannten Dreiklangsbrechungen, die im Präludium eine so wichtige Rolle
spielen, finden sich in Friedemanns Tastenmusik überaus häufig (Beispiel 6a), und auch
in der Fuge ist dieses Phänomen (T. 18, 27 und 57) zu beobachten. Ein Sequenzmodell
aus dem Präludium findet sich in der schon erwähnte Fantasie a-Moll (Fk 23 / BR-WFB
A 26) wieder (Beispiel 6b). Besonders auffällig ist die Verwandtschaft der letzten freien
Manualiter-Sequenz in der f-Moll-Fuge mit einer gleichfalls gegen Satzende eingesetzten Sequenz in der Cembalofuge c-Moll (Fk 32 / BR-WFB A 89, Beispiel 6c).
Bsp. 6a:
Präludium f-Moll (BWV 534/1), T. 8–9.
Sonate G-Dur (Fk 7 / BR-WFB A 14), Allegro di molto, T. 11–13.
Sonate B-Dur (Fk 9 / BR-WFB A 16), Allegro di molto, T. 51–52.
Fantasie C-Dur (Fk 14 / BR-WFB A 17), T. 15–17.
26
Zum Umfang des erhaltenen Orgelwerks von Wilhelm Friedemann Bach
Bsp. 6b:
Präludium f-Moll (BWV 534/1), T. 43–45.
Fantasie a-Moll (Fk 23 / BR-WFB A 26), T. 26–27.
Concerto F-Dur, 1. Satz (Fk 10 / BR-WFB A 12), T. 8–9.
Bsp. 6c:
Fuge f-Moll (BWV 534/2), T. 113–115
Fuge c-Moll (Fk 32 / BR-WFB A 89), T. 102–104
27
Pieter Dirksen
Die Verteilung der Stimmen auf Manual und Pedal in den Präludien und Fugen von
Johann Sebastian Bach ist immer durch einen hohen Grad an polyphoner Klarheit
gekennzeichnet, getreu dem Grundsatz: je höher die Stimme, desto weniger der Abstand
zur nächsten Stimme. Somit sind Sopran und Alt einander durchschnittlich näher als
Tenor und Bass, was Bachs Pedallinien ihren charakteristisch breiten Spielraum verleiht.
In BWV 534 (vor allem in der Fuge) fehlt diese Transparenz, die (vier) Manualstimmen
sind nach unten verschoben und die unterste Manualstimme liegt meist sehr nahe zum
Bass (Beispiel 7a gibt ein klares Beispiel). Dieser Zug ist auch in den einzelstehenden Orgelfugen Wilhelm Friedemann Bachs zu beobachten. In BWV 534 ist die durchschnittliche Lage des Pedals dann auch ausgesprochen tief und erreicht als höchste Ton
nur das c1; in der zweiten Hälfte (T. 32–76) des Präludiums wird sogar nur noch die
unterste Oktave des Pedals verwendet. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert,
dass Wilhelm Friedemann Bach von 1733 bis 1746 in der Dresdner Sophienkirche eine
Orgel von Gottfried Silbermann zur Verfügung stand, deren Pedal nur bis c1 (statt wie
sonst üblich bis d1) reichte. In der großen F-Dur-Fuge (Fk 36 / BR-WFB A 91) ist das
Pedal sogar nur bis b geführt. Eine frei gehandhabte Fünfstimmigkeit hat dieses Werk
überdies mit der f-Moll-Fuge gemein.
Rüdiger Wilhelm weist darauf hin, dass in den meisten Fugen Wilhelm Friedemann
Bachs, also sowohl manualiter als pedaliter, „der Bewegungsfluss kurz vor Schluss
abrupt durch eine Generalpause unterbrochen wird. Diese kompositorische Eigenart
scheint ein unverwechselbares Merkmal der Fugen des ältesten Bach-Sohnes zu sein.“36
Diese Eigenart findet sich nicht nur in der Fuge, sondern auch im Präludium (Beispiel 7b-c). In verschiedenen Orgelfugen ist zudem gleichfalls eine daran anschließende
Schlusskadenzformel mit erhöhter vierter Stufe anzutreffen (Beispiel 7c). Nicht zuletzt
am Ende der f-Moll-Fuge zeigt sich der meisterliche Improvisator: Hier wird auf subtile
Weise der Themenkopf auf der Grundstufe versteckt (vgl. in Beispiel 7c die Angaben
x und y), was als Ersatz für den fehlenden, realen abschließenden Tonika-Einsatz des
Themas betrachtet werden kann (die letzten beiden entsprechenden Themen sind, wie
schon erwähnt, ganz irregulär auf der Dominante gesetzt). Humphreys weist darauf hin,
dass diese Coda gleichzeitig auf den Anfang des Präludium e-Moll (BWV 548/1) Bezug
nimmt;37 ich höre hier aber auch eindeutig „Echos“ auf die Fantasie g-Moll (BWV 542/1)
sowie auf den Anfang des vorangehenden Präludiums. Solche subtile Bezüge stehen auf
einer anderen Ebene als z. B. die umfassende Zugrundelegung eines bestimmten BachWerkes für das Konzept einer Neukomposition bei Krebs.
Die bei kritischer Betrachtung unvermeidliche Loskopplung von Präludium und
Fuge f-Moll aus dem Orgelwerk Johann Sebastian Bachs und die mögliche Zuweisung
an dessen ältesten Sohn erlauben eine revidierte Sicht des Werkes. Obwohl die große
Ausdruckskraft dieser Komposition stets anerkannt worden ist, bestand im Lichte der
Maßstäbe der zweifelsfrei echten freien Werke des Vaters immer ein gewisses kritisches
Unbehagen. Als Komposition Wilhelm Friedemann Bachs betrachtet, erscheinen solche
Interpretationsprobleme nicht länger relevant, denn die vielen kompositionstechnischen
„Lizenzen“ und der improvisatorische Zugriff fügen sich, neben einer Vielzahl stili36 Rüdiger Wilhelm, Noch einmal zu einigen Orgelfugen von Wilhelm Friedemann Bach, in: Musik und Kirche 55 (1985), S. 136f.
37 Humphreys, Did J. S. Bach Compose the F minor Prelude and Fugue (wie Anm. 31), S. 103.
28
Zum Umfang des erhaltenen Orgelwerks von Wilhelm Friedemann Bach
stischer Einzelzüge, harmonisch in das Gesamtbild seiner Musik. Damit bekommt BWV
534 mit seinem „herzerhebenden Pathos“ (nach Schubart) eine neue Dimension und
könnte als das bedeutendste erhaltene Orgelwerk des größten Organisten seiner Zeit
rehabilitiert werden.
Bsp. 7a: Fuge f-Moll (BWV 534/2), T. 77–80.
Bsp. 7b: Praeludium f-Moll (BWV 534/1), T. 74–76.
Bsp. 7c: Fuge f-Moll (BWV 534/2), T. 130–138.
29
Pieter Dirksen
Bsp. 7d:
Fuge F-Dur (Fk 36 / BR-WFB A 91), T. 85–86.
Fuge f-Moll (Fk 37 / BR-WFB A 92), T. 34–35.
Fuge c-Moll (Fk n.v. 39 / BR-WFB YA 149), T. 141–142.
Fuge a-Moll (Fk n.v. 41 / BR-WFB YA 151), T. 181–183.
30
Zum Umfang des erhaltenen Orgelwerks von Wilhelm Friedemann Bach
Übersicht der Orgelwerke Wilhelm Friedemann Bachs38
1. Zugeschriebene und (höchstwahrscheinlich) authentische Werke:
Fk
BR WFB
Fuge F-Dur (aus: IV Fugen)
36
A 91
Fuge c-Moll (aus: IV Fugen)
n.v. 39
Fuge B-Dur (aus: IV Fugen)
n.v. 40
Fuge a-Moll (aus: IV Fugen)
n.v. 41
Fuge g-Moll
37
A 92
Fuge a-Moll
897/2
Fuge C-Dur (autographes Fragment)
35
I6
Fantasie e-Moll (oder Pedal-Cembalo bzw. -Clavichord?)
20
A 23
Sieben Choräle
38/1
A 93–99
Fk
BR WFB
2. Werke zweifelhafter bzw. möglicher Zuschreibung:
BWV
39
BWV
39
Fuge D-Dur
Präludium und Fuge f-Moll
534
Präludium G-Dur
568
Kleines harmonisches Labyrinth
591
Fuge [Trio] super Allein Gott in der Höh sei Ehr
Durch Adams Fall ist ganz verderbt
38/2 ?
716
705
38
Ausgeschlossen sind hier die wohl primär für besaitete Claviere bestimmten Manualiter-Fugen Fk 31–33
/ BR-WFB A 81–90.
39 Die Echtheit dieser nur in der Ausgabe von Traugott Fedtke (vgl. Anm. 4) neu edierten Pedaliter-Fuge ist
nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen. Überliefert ist diese singulär in Gotthilf Wilhelm Körners Der
neue Organist. Eine Mustersammlung von 329 Original-Compositionen älterer u. neuerer Zeit berühmter
Meister, op. 40, Leipzig 1874/75, 3. Teil, S. 49 (Nr. 35), mit einer Zuschreibung an „Fr. W. Bach“. Rüdiger
Wilhelm weist darauf hin, dass diese Veröffentlichung auch noch den langsamen Satz aus BWV 596 (als
Nr. 17) enthält, und zwar mit einer identischen Zuschreibung (mit „Fr. W.“ statt „W. Fr.“). Körner hatte
also tatsächlich in beiden Fällen Wilhelm Friedemann Bach im Sinne, und für seine Autorität spricht
seine Herausgabe einiger weiterer authentischer Werke W. F. Bachs: Fk 36, 37 und 38/2 (BWV 596 galt
damals noch als Werk von ihm). Stilistisch bietet die D-Dur-Fuge aber keinerlei entsprechende Anknüpfungspunkte, auch nicht zu den fünf authentischen Pedaliter-Fugen; sie scheint eher der Zeit nach 1800
anzugehören. – Ich danke Herrn Rüdiger Wilhelm für seine Beobachtungen und für die Kopien aus dem
Körner-Druck.
31
Pieter Dirksen
3. Unechte Werke:
404142
Fk
BR WFB
BWV
Fuge c-Moll (von Johann Peter Kellner)40
Fantasie a-Moll41
42
Concerto Es-Dur
561
597
40 Enthalten in den Editionen von Hans Brandts Buys und Traugott Fedtke (vgl. Anm. 4). Zur Überlieferung
und Zuschreibungsfrage vgl. zusammenfassend Ulrich Bartels in Bach, Freie Orgelwerke. Kritischer Berich
(wie Anm. 28), S. 117–120.
41 Die Zuschreibung dieser problematischen Komposition an Wilhelm Friedemann Bach von Gotthold Frotscher, Geschichte des Orgelspiels (wie Anm. 6), S. 856, hat keine Resonanz gefunden, und stilistische
Anhaltspunkte dazu fehlen ganz.
42 Als Identifizierung des „Mons: Bach“ in der singulären Quelle dieses Stückes (D-LEm: Ms. 7/15) hat Hermann Keller, Unechte Orgelwerke Bachs, in: Bach-Jahrbuch 34 (1937), S. 59–82, hier S. 66, Friedemann
Bach vorgeschlagen, jedoch fehlt auch hier jegliche stilistische Plausibilität; vgl. zusammenfassend Ulrich
Bartels Bach, Freie Orgelwerke. Kritischer Bericht (wie Anm. 28), S. 141f.
32