VORWORT
Der Theologe Walter Kasper vertritt in seinem Buch „Martin Luther. Eine ökumenische Perspektive“ nicht ohne Begeisterung die These, Luther habe Recht gehabt und die Kir-cheneinheit sei möglich. Während man Letzteres nur bejahen, begrüßen und wünschen kann, bleibt bei dem Ersteren die Frage offen, in welchen Punkten Luther Recht hatte. Hätte Luther in allen Punkten Recht gehabt, dann müsste heute, 500 Jahre nach der Re-formation, die Reformation in der katholischen Kirche nachgeholt werden. Ist die Fest-stellung Kaspers indessen nicht so gemeint, dann würde die Kircheneinheit „rebus sic stantibus“ nur dann hergestellt werden können, wenn entweder die Katholische Kirche ihre Identität aufgeben würde oder wenn die zahlreichen Gemeinschaften der Reforma-tion sich dazu entschließen würden, ihre Identitäten aufzugeben. Es sei denn, man würde widersprüchliche Deutungen der Offenbarung Gottes nebeneinander bestehen lassen. De facto ist es vielfach so, dass man in der Ökumene, auch in katholischen Kreisen, über die bestehenden Unterschiede hinwegsieht, ungeachtet dessen, dass sie nicht miteinander vereinbar sind, dass man teilweise aber auch das Ziel der Ökumene in der Toleranz der Verschiedenheiten sieht. Dazu brauchte es jedoch keine Ökumene. Denn das Gebot der Toleranz folgt aus dem Hauptgebot der Gottes- und Nächstenliebe und verpflichtet von vornherein alle, die sich Christen nennen, egal, welcher Denomination sie angehören. Andere sehen die Einheit in einem Vertrauensglauben, der über alle inhaltlichen Ele-mente des Glaubens hinwegsieht und sie für unbedeutend hält. Wieder andere sehen in den inhaltlichen Divergenzen nur Traditionen, verschiedene ohnmächtige Versuche, die geheimnisvolle Wirklichkeit Gottes zu beschreiben oder präsent zu machen. Auch für sie wäre das Ziel der Ökumene schon erreicht. Schon erreicht wäre das Ziel der Ökume-ne aber auch dann, wenn der Unglaube oder die Gleichgültigkeit gegenüber dem Glau-ben der gemeinsame Nenner der Ökumene wäre, was de facto heute nicht selten der Fall zu sein scheint.
In der vorliegenden Studie werden bedeutende Divergenzen im Glauben der Reforma-toren gegenüber dem Glauben der Mutterkirche artikuliert, die eben nicht einfach als verschiedene Traditionen verstanden werden dürfen und bislang auch nicht als solche verstanden wurden, sondern als verschiedene Deutungen der Heiligen Schrift und der Glaubensüberlieferung, als verschiedene Deutungen, denen jeweils verschiedene über-natürliche Realitäten entsprechen, die nicht kompatibel sind miteinander, ungeachtet de-ssen, dass es hier und da in der Ökumene Annäherungen geben kann oder Konsense oder gar die erfreuliche Erkenntnis, dass man mit verschiedenen Worten die gleiche Wirklichkeit gemeint hat.
Die Artikulierung bedeutender Divergenzen im Glauben der Reformatoren gegenüber dem Glauben der Mutterkirche erfolgt hier im Kontext einer vertiefenden „relecture“ der Tragödie der abendländischen „Kirchenspaltung“. Dabei wird deutlich, dass die Diffe-renzen im Glauben und in der Theologie, die um der Wahrhaftigkeit willen nicht über-spielt werden dürfen, ihre tiefste Wurzel im Verzicht der Reformatoren auf die Rationa-lität des Glaubens haben, in der Irrationalität der Reformer und in ihrem strukturellen Subjektivismus. Das eine wie das andere lag damals freilich in der Luft.
Die Schuldfrage, die man in diesem Zusammenhang immer wieder gestellt hat, wird hier nicht behandelt, so sehr wir davon ausgehen müssen, dass die hier behandelte Tragödie nicht einfach schicksalhaft ist. Sicher ist, dass ein schwacher Glaube, mangelnde Kennt-nisse hinsichtlich des Glaubens der Kirche sowie menschliche Rechthaberei den Kon-flikt Luthers und seiner Mitstreiter mit den Vertretern der Kirche zur Eskalation führten, weshalb aus dem Bemühen um eine Reform gleichsam über Nacht die Reformation wur-de. Eine Vertiefung des Glaubens auf beiden Seiten hätte möglicherweise die Einheit der abendländischen Christenheit gerettet. Indessen entstand eine neue Kirche oder besser: Es entstanden neue christliche Gemeinschaften, und zwar in wachsendem Maß, die sich an die Stelle der Mutterkirche stellten. Das geschah in einem Prozess, der bis heute fort-dauert.
Das alles thematisiert die vorliegende Studie, um nicht zuletzt noch die Folgen der ver-lorenen Einheit für die moderne Gesellschaft zu reflektieren.
Die Studie geht zurück auf ein Glaubens-Seminar, das der Autor im Juli 2017 in Mün-chen gehalten hat.
Freiburg i. Br., am 31. Oktober 2017
Joseph Schumacher
DAS GROSSE JUBILÄUM UND DER „ZEUGE DES EVANGELIUMS“
Wir unterscheiden die abendländische und die morgenländische Kirchenspaltung. Die morgenländische ist mit dem Jahr 1056 verbunden. Damals entstanden die orthodoxen Kirchen. Als abendländische Kirchenspaltung bezeichnet man jene, die mit dem Jahr 1517 begonnen hat. Sie verbindet sich mit der Reformation, sie hat eine Unmenge von christlichen Gemeinschaften hervorgebracht, und noch heute gehen weitere aus ihr her-vor. Wie die „Theologische Realenzyklopädie“ im Jahre 1991 feststellt, gibt es gegen-wärtig über 220 lutherische Kirchen in der Welt
Theologische Realenzyklopädie, Bd. 21, Berlin 1991 (Art. Lutherische Kirchen).. Hinzukommen die anderen aus der Reformation hervorgegangenen Gemeinschaften. Die World Christian Encyclopedia do-kumentiert im Jahre 2001 insgesamt 33 820 christliche Gemeinschaften
Vgl. http://www.philvaz.com/apologetics/a106.htm.
Die Reformation hat nicht die Kirche gespalten, wohl aber die Christenheit, das Chri-stentum und Europa. Die Kirche Christi kann nicht gespalten werden. Sie hat die Ver-heißung ihres Stifters, dass sie fortdauern wird bis zu seiner Wiederkunft. Die Kirche Christi ist nur eine. Von ihr aber gibt es Abspaltungen. Es können sich Teile trennen von dieser Kirche, welche „die Pforten der Hölle nicht überwältigen werden“ (Mt 16, 18), und es haben sich immer wieder Teile von ihr getrennt. Von Anfang an sind in der Ge-schichte der Kirche immer wieder neue schismatische und häretische christliche Ge-meinschaften entstanden
Bedauerlicherweise spricht auch der Weltkatechismus von einer Spaltung der Kirche. Das geschieht in der Nr. 1398. Wiederholt habe ich schon in früheren Publikationen darauf hingewiesen, dass die fal-sche oder ungenaue Begrifflichkeit das Kainszeichen der modernen Theologie wie auch der modernen Glaubensverkündigung ist und dass gerade sie es ist, die der Kirche zum Verhängnis wird..
Die Tragik der Spaltung der abendländischen Christenheit, die die Reformation herbei-geführt hat, hebt der Generalprior des Augustiner-Ordens, des Ordens, dem Martin Lu-ther († 1546) 15 Jahre angehört hat, der Spanier Alejandro Moral Antón (* 1955), in einer Stellungnahme zum Reformationsjubiläum hervor, wenn er feststellt, die Refor-mation sei das Fundament der Säkularisierung Europas und schon von daher gebe es hier keinen Grund zum Feiern
Es ist bemerkenswert in diesem Kontext, dass der Augustiner-Orden heute weltweit noch 3000 Mit-glieder hat.
http://www.katholisches.info/2017/10/es-gibt-fuer-den-augustiner-orden-keinen-grund-zum-feiern/ .
Kardinal Reinhard Marx (* 1953)
Matthias Mastussek: „ ... der pompöse Münchener Kardinal Marx ...“. freut sich hingegen darüber, dass Katholiken und Protestanten, wie er feststellt, gemeinsam das Reformationsjubiläum begehen. Er erklärt: „ ... mich freut, dass wir das Reformationsgedenken nicht gegeneinander veranstalten – das ist ja zum ersten Mal in 500 Jahren Geschichte so. Wir stellen gemeinsam Christus in die Mitte“
Interview: www.nordbayern.de vom 16. Januar 2017.. Er meint, Luther sei einer gewesen, der einen ganz frischen Blick auf das Neue Testament geworfen habe, er sei ein leidenschaftlicher Exeget gewesen, und er ha-be wie kein anderer gezeigt, dass wir uns nicht aus eigener Kraft erlösen könnten
Ebd..
Schwärmerisch erklärt Robert Barron (* 1959), Weihbischof in Los Angeles, im Zen-trum von Luthers Leben habe „eine überwältigende Erfahrung der Gnade“ gestanden und die religiöse Bewegung, die er ins Leben gerufen habe, sei eine „Liebesbeziehung“. Wörtlich heißt es da: „Luther war ein Mystiker der Gnade, jemand der sich vollständig verliebt hat“
https://www.gloria.tv/article/nVJ3YQjN2sny269V8pvtvLuST.
Nicht genug damit. Jesuiten bieten Exerzitien an „mit Ignatius und mit Luther als Glau-benszeugen“
https://www.katholisches.info/.../jesuiten-bieten-exerzitien-mit-luther-und-ignatius-als-....
Der „Glaubenszeuge“ Luther schafft indessen das Weihepriestertum ab und die heilige Messe und alle Sakramente bis auf die Taufe. Auf der einen Seite verfasst er die Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, auf der anderen Seite behauptet er, der Mensch habe keinen freien Willen.
Kardinal Marx will die „katholische Kirche und die protestantische“ untrennbar verbin-den. In einem Interview erklärt er der Katholischen Nachrichtenagentur im Umfeld des beginnenden Lutherjahres, das fünfhundertjährige Jubiläumsjahr sei nur dann ein Erfolg, wenn man wirklich sagen könne, „diese beiden Kirchen, die römisch-katholische und die evangelische, die bekommt ihr nicht mehr auseinander“
https://gloria.tv/article/wDFafr9y7PDv2veoCAKrLbw2T. Das sind kräftige Worte. Da möchte man fragen: Was versteht Kardinal Marx unter der evangelischen Kirche? An welche Denomination denkt er, wenn er von der evangelischen Kirche spricht? Die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) wird er kaum als die evangelische Kirche be-zeichnen können.
Die markigen Worte des Kardinals dürften einer Ökumene der Wahrheit nur im Wege stehen. Unsinnige Approximationen dieser Art können einer ehrlichen Ökumene nicht dienen. Nicht zuletzt wird in ihnen die Triebhaftigkeit des Reformators übersehen, über-sieht man in ihnen die groben Beschimpfungen vor allem des Papstes und der heiligen Messe, wie sie sich bei dem Reformator finden. Immerhin bezeichnet dieser die heilige Messe als „den größten und schrecklichsten Greuel“ von allen „päpstlichen Abgötterei-en“
https://www.gloria.tv/article/nVJ3YQjN2sny269V8pvtvLuST.
Wenn der schweizerische Bischof Charles Morerod (* 1961) anlässlich der Eröffnung des Schweizer Pavillons in der Lutherstadt Wittenberg am 23. Mai 2017 erklärt, das Verhältnis der Protestanten zu den Katholiken habe sich sichtlich verbessert, wenn er et-wa an seine Kindheit und Jugendzeit denke – wörtlich sagt er: „Die Beziehung zwischen den Protestanten und den Katholiken ist wirklich freundschaftlicher geworden“ –, so un-terlässt er den Hinweis darauf, dass der entscheidende Grund für diese Verbesserung, die im Grunde jedoch sehr differenziert zu bewerten ist, in der Tatsache zu suchen ist, dass auf beiden Seiten der Glaube weniger ernst genommen wird, dass man heute in der Öku-mene weithin so verhandelt wie in der Politik, was natürlich völlig unangemessen ist
Vgl. http://www.freiburger-nachrichten.ch/keine-navigation/fur-mich-war-dieser-tag-wittenberg-wie-eine-wallfahrt.
Ist man ehrlich, muss man zugeben, dass es in der Ökumene keine substantiellen Fort-schritte gibt. Atmosphärische Verbesserungen, die gibt es, ja, aber das ist alles. Substan-tielle Verbesserungen kann es aus der Sicht der Katholiken im Grunde gar nicht geben, weil man über die Wahrheit nicht verhandeln kann. Was die Protestanten in der Öku-mene von den Katholiken letzten Endes erwarten, das ist jener Indifferentismus, für den alle Konfessionen und schließlich auch alle Religionen gleich wahr und mithin auch gleich falsch sind, der freilich unterschwellig auch bei einem Großteil der Katholiken, ja, auch gar bei einem Großteil ihrer Hirten virulent zu sein scheint. Dafür spricht nicht zuletzt die verbreitete Praxis der Interkommunion.
Aus der Reform wurde die Reformation, ja, weniger noch, die Reformation wurde der Ausgangspunkt immer neuer Spaltungen. Der Reformator hat das subjektive Denken an die Stelle des objektiven Denkens gesetzt. Wo es keinen Papst mehr gibt, da vermehren sich die „Päpste“ zwangsläufig, und zwar in geometrischer Reihe.
Dennoch lobt man anlässlich des 500jährigen Jubiläums des Beginns der Reformation den Augustiner-Mönch, der die Reformation entscheidend initiiert hat, und die Refor-mation als solche in den höchsten Tönen. Vor allem katholische Vertreter sind hier be-müht, einander den Rang abzulaufen.
Nicht wenige katholische Theologen sehen in dem Reformator so etwas wie einen Kir-chenvater oder gar wie einen verhinderten Heiligen. Schule gemacht hat in katholischen Kreisen die Charakterisierung des Reformators als eines oder als des „Vaters im Glau-ben“ oder als eines oder als des „Vaters des Glaubens“.
„Vater im Glauben“ oder „Vater des Glaubens“, diese Ehrentitel, die die Lutheraner dem Reformator mehr oder weniger offiziell zuerkannt haben, kommen eigentlich Abra-ham zu, dem Stammvater des auserwählten Volkes, dem „Vater vieler Völker“ (Gen 17, 5). Die Tradition hat sie dann aber auch dem heiligen Joseph, dem Pflegevater Jesu, zu-erkannt, vor allem in der liturgischen Feier dieses Heiligen.
Der Kirchenhistoriker Peter Manns († 1991) erklärt in seinem Nachwort zur Neuausga-be der Lortzschen „Reformation in Deutschland. II. Teil“ unumwunden, Luther sei ein „Vater im Glauben“
Freiburg i. Br. 1962, 391.. Gemäß dem „Rheinischen Merkur“ hat er diese Behauptung auf einer Tagung der Katholischen Akademie Hamburg wiederholt
Rheinischer Merkur, 3. Dezember 1982, 27..
Will man Luther als „Vater im Glauben“ oder als „Vater des Glaubens“ bezeichnen, be-darf das angesichts der geschichtlichen Wirklichkeit besonderer Interpretationskünste.
Gern nennt man den Reformator heute katholischerseits auch einen „gemeinsamen Zeu-gen des Evangeliums“. Gerade das war er jedoch nicht. Bestenfalls war er der Zeuge eines verkürzten Evangeliums. Das aber war er nicht gemeinsam.
Der emeritierte Bischof von Würzburg, Paul Werner Scheele (* 1928), erklärt am 28. Ju-ni 1983 in Nürnberg: „Mit Nürnbergs großem Sohn Albrecht Dürer sehen wir wie Lu-ther einen ‚gottbegeisterten Menschen‘. Nach Jahrhunderten noch kann das Feuer seiner Gottergriffenheit ansteckend wirken“
Vgl. Deutsche Tagespost vom 28. Juni 1983..
Dann heißt es wiederum in katholisch-kirchlichen Verlautbarungen, Luther habe „die Bedeutung des Wortes Gottes, durch das Gott zu uns spricht … in rechter Weise hervor-gehoben“
Martin Luther aus römisch-katholischer Sicht, in: Schulinformationen, Hauptabteilung Schule/Hoch-schule, Köln 6. April 1983, 20: An dieser Stelle werden weitere so genannte Verdienste Luthers aufge-zählt, die letzten Endes wiederum äußerst haltlos sind..
Und immer wieder sprechen Bischöfe von dem „gemeinsamen Lehrer“
Vgl. Theologisches 29, 1999, 258.. Kardinal Jan Willebrands († 2006), zuletzt Kurienkardinal, erklärt in Leipzig, wir müssten das „theo-logische Erbe“ Luthers „erneut und zwar gemeinsam lesen“
Osservatore Romano, deutsche Wochenausgabe vom 9. Dezember 1983. Die Äußerung Willebrands erfolgte am 11. November 1983 in Leipzig.. Und der frühere katholi-sche Bischof von Kopenhagen, Hans Martensen († 2012), ein Jesuit, erklärt: „Letztlich und am meisten fühle ich … , dass die Lutherlesung mich geistig bereichert hat …“
Der Fels, Oktober 1984, 286: Andreas Schönberger, Jedem seinen Luther? Eine Nachlese zum Lu-therjahr, 284–287..
In solchen Äußerungen begegnet uns ein gewisses „Defizit an theologischer und histori-scher Bildung, das sich gelegentlich (gar) auch bei Hochschullehrern zeigt“
Ulrich Paul Lange, Gründe und Methoden der „Reformation“ in: Theologisches 31, 2001, 442., wenn es sich nicht gar um bewusste Falschaussagen, also um Aussagen wider besseres Wissen, handelt.
Die Zahl der haltlosen Freundlichkeiten, die man im Lutherjahr ausgetauscht hat, ist Le-gion gewesen. Auch Freundlichkeiten sollten indessen der Wahrheit verpflichtet sein
Vgl. Kath.Stern vom 17. Januar 2017..
Während katholische Theologen in der Gegenwart gern den „frommen Luther“ hervor-heben und ihn als existentiellen Gottsucher charakterisieren, heben die Protestanten eher – realistischer – die Gewissensnot des Reformators hervor und betonen, dieser habe von daher eine besondere Mission im Hinblick auf den Schutz der Freiheit des Gewissens in der modernen pluralistischen Demokratie. Auch solche Äußerungen können indessen bei näherer Prüfung vor der Wirklichkeit nicht bestehen.
Gern legen die Theologen den Finger auf die Toleranz des Reformators. Mit dieser ist es jedoch nicht weit her, wenn man sich etwa vor Augen hält, dass Luther an die Stelle des Lehramtes der Kirche sein persönliches Lehramt setzt und dass er seinen potentiellen und auch wirklichen Anhängern hartnäckig seine subjektiven Verzerrungen des Glau-bens der Kirche aufdrängt. Aus dem gleichen Geist gehen auch die groben Verunglimp-fungen hervor, mit denen der Reformator seine Gegner bedenkt
Von Toleranz, von Respekt gegenüber der Gewissensfreiheit im humanistischen und liberalen Sinn kann weder bei dem Reformator die Rede sein noch bei denen, die die neue Lehre etablierten, ganz zu schweigen von der Religionsfreiheit. Der Rekurs auf die Geistes- und Gewissensfreiheit bedeutete in den Augen der Reformatoren Freiheit von der Kirche und von Rom, die Freiheit, eine neue Kirche zu errichten (vgl. Gerhard Schuder. Das moderne katholische Lutherbild. Wird ganz Deutschland protes-tantisch? (Lutherstudien I), Selbstverlag (1998), 10 f; Hartmann Grisar, Luther zu Worms und die jüng-sten drei Jahrhundertfeste der Reformation, Freiburg i. Br. 1921, 3.. Nicht zuletzt ist er rechthaberisch und nicht bereit, einen Fehler oder einen Irrtum einzugestehen
http://www.katholisches.info/2017/10/es-gibt-fuer-den-augustiner-orden-keinen-grund-zum-feiern/ , während er sich gleichzeitig erstaunlich unterwürfig zeigt gegenüber den protestantischen Für-sten, die seine Sache betreiben
Ebd..
Was in der äußerst positiven Sicht des Reformators und auch der Reformation nicht deutlich gesehen wird, das ist die Tatsache, dass der Reformator innerlich zerrissen war und dass er sich gerade dadurch für eine Reform der Kirche als ungeeignet erwies.
Recht betrachtet war die Reformation eine Revolution. Revolutionen aber führen stets zu Bürgerkriegen und zu Völkerkriegen. Das gilt auch für die Reformation, für die vor al-lem Luther steht, sowohl auf dem europäischen Festland als auch in England. Heute erleben wir im Kontext der Ideologie der neuen Weltordnung die sexuelle Revolution. Für sie stehen die Bürgerkriege und Völkerkriege noch aus. Möglicherweise sind sie auch schon im Gang, partiell, ohne dass das recht registriert wird.
Luther hat eine Menge von Zeugnissen hinterlassen. Über keinen Menschen, der vor einem halben Jahrtausend gelebt hat, wissen wir so viel wie über den Reformator Martin Luther, über keinen gibt es allerdings auch so viele Legenden. Ganze Bibliotheksabtei-lungen könnte man füllen mit den Darstellungen und Deutungen dieser Persönlichkeit und all dessen, was das Werk und die Wirkung dieser Persönlichkeit angeht.
Es ist aufschlussreich für die gegenwärtige Situation der Kirche, dass der Dekan der evangelischen Kirche in Freiburg, Markus Engelhardt (* 1962), feststellt, dass Luther das Reformwerk des Papstes Franziskus, wie Engelhardt es nennt, unterstützen würde, dass er den Papst jedoch nicht unterstützen könne, sofern er an der hierarchischen Ge-stalt der Kirche festhalte. Gegen eine hierarchische Kirche würde die evangelische Kir-che nach wie vor zusammen mit Luther protestieren, da sie, die evangelische Kirche, demokratisch, ja, basisdemokratisch, aufgebaut sei und nicht davon ablassen könne
Klaus Riexinger – Toni Nachbar, „Luther hätte getwittert wie Trump“: Markus Engelhardt, Dekan der evangelischen Kirche in Freiburg. Über 500 Jahre Reformation und das Jubiläumsjahr, in: Der Sonntag vom 1. Januar 2017. .
Engelhardt bezeichnet Luther als eine große historische Persönlichkeit, die aber manche Schattenseiten aufweise, er sei ein großer Theologe und Lehrer gewesen. Und er fährt fort, der Reformator sei auch ein profunder Bibelkenner und Ausleger der Bibel sowie ein begnadeter Volksschriftsteller gewesen. Ihm sei es auf den Glauben des einzelnen Menschen angekommen, der die tröstliche Gottesgewissheit habe erfahren sollen, fernab eines Individuums, das von der Angst getrieben sei. Mit entwaffnender Ehrlichkeit er-klärt Engelhardt, Luther sei ein jähzorniger Mensch gewesen, der seiner Frau das Leben schwer gemacht habe. Und er sei nicht frei gewesen von dem, was man heute als Popu-lismus bezeichne
Ebd. Der Jähzorn des Reformators, verbunden mit der Gewalttätigkeit, war wohl ein Erbe seines Va-ters. . Und ein Heiliger sei er beileibe nicht gewesen, einen solchen könne man nicht, in keinem Fall, aus ihm machen
Ebd.. Besonders negativ bewertet Engelhardt die Tatsache, dass der Reformator das Christentum zersplittert habe
Ebd. Was Engelhardt hier nicht sagt, das ist der Umstand, dass die Zersplitterung des Christentums deshalb ein Wesensmoment der Reformation und des Protestantismus ist, weil der Subjektivismus des Reformators das Fundament der neuen Lehre ist. .
Der Kurienkardinal Kurt Koch (* 1950) erklärt Anfang dieses Jahres, Katholiken und Protestanten hätten gemeinsam Grund, Klage zu erheben und Buße zu tun für die Miss-verständnisse, Böswilligkeiten und Verletzungen (wörtlich), „die wir uns in den vergan-genen 500 Jahren angetan“ hätten. In begrifflicher Unklarheit spricht er dann auch von der Kirchenspaltung, die Luther herbeigeführt habe. Es fragt sich hier indessen vor al-lem, wie man Buße tun kann für Sünden, die andere getan haben.
Wenn Papst Franziskus (* 1936) meint, Luther habe nicht spalten, sondern nur erneuern wollen
http://www.kath.net/news/58224, so trifft das sicherlich nur für die anfängliche Phase seiner Protestbewegung zu. Es ist ein geschichtliches Faktum, dass in zunehmendem Maße aus dem Reformer der Reformator geworden ist.
Wo immer behauptet wird, die „Kirchenspaltung“ sei durch Missverständnisse entstan-den dank der verschiedenen Mentalität oder dank des verschiedenen Lebensstils der Völker, die dann zur Kirchenkrise ausgewachsen seien, da wird die Wirklichkeit ver-harmlost und die Neuheit des Protestantismus unterschlagen, wenngleich hier sicherlich auch Missverständnisse eine Rolle spielen.
Die Irrlehren Luthers des Jahres 1517 und der darauf folgenden Jahre – das sind nicht wenige, wenn man genauer hinschaut – können nicht 500 Jahre später richtig sein. Das gilt allerdings nur so lange, wie man davon ausgeht, dass Widersprüchliches nicht denk-möglich und auch nicht seinsmöglich ist, so lange, wie man also am Widerspruchsprin-zip festhält. Man sollte meinen, das sei doch selbstverständlich. Dem ist jedoch nicht so.
DIE ABFOLGE DER EREIGNISSE
Am Beginn des 16. Jahrhunderts herrschte, wie die Geschichtswissenschaft feststellt, in Deutschland noch weithin lebendige Religiosität und waren breite Massen der Kirche noch in treuer Anhänglichkeit ergeben. Gewiss, es gab es Verfallserscheinungen in der Kirche, aber neben ihnen entfaltete sich an vielen Orten geradezu blühendes kirchliches Leben, besonders seit der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts. Mit ihm koexistierten freilich Missstände in der Gestalt von veräußerlichten religiösen Übungen und abergläubischen Praktiken, speziell im Kontext der Reliquien- und der Heiligenverehrung. Immerhin gab es in dieser Zeit herrliche Kirchenbauten und zahlreiche karitative Stiftungen. Zudem begegnet uns im 14. und 15. Jahrhundert eine beträchtliche Zahl bedeutender Heiliger. Zu erinnern ist hier vor allem an Vinzenz Ferrer († 1419), Bernardin von Siena († 1444), Birgitta von Schweden († 1373) und Katharina von Siena († 1380).
In dem Jahrhundert vor der Reformation wirkten die Kartäuser äußerst segensreich. Ihnen traten zur Seite die Benediktiner, die Franziskaner und die Dominikaner.
Zudem gab es am Beginn des 16. Jahrhunderts ausgesprochene Reformbewegungen. Da-mals entstanden neue Ordenskongregationen und Bruderschaften, vor allem in Italien, in Spanien und auch in Böhmen. Sie begannen vor dem Beginn der Reformation und wur-den später weitergeführt. Erinnert sei hier vor allem auch an den heiligen Philipp Neri – er lebte von 1515–1595 – und an die Gründung des Oratoriums.
Schweres Ärgernis erregten allerdings in dieser Zeit einzelne Renaissance-Päpste sowie manche Kardinäle und Bischöfe. Das darf nicht verschwiegen werden.
Im Reich wurden die religiösen Missstände nicht zuletzt dadurch hervorgerufen, dass die Bischöfe und Äbte zugleich weltliche Fürsten waren und dass sie in ihrer Sorge um den weltlichen Besitz allzu oft ihre geistlichen Pflichten vernachlässigten, währenddessen die Seelsorge-Priester oftmals in großer Armut lebten. Es kommt hinzu, dass die religiö-se Formation sowie die wissenschaftliche Ausbildung der Seelsorge-Priester vielfach sehr zu wünschen übrig ließen. Unter diesem Aspekt hatte man nicht ohne Grund auf den Konzilien des 15. Jahrhunderts immer wieder eine „Reform der Kirche an Haupt und Gliedern“ gefordert und in der Kirche immer wieder die Forderung nach einer „durchgreifenden Reform“ erhoben
http://de.catholicnewsagency.com/story/luther-war-nicht-in-einer-kirche-die-kopf-stand-1712?utm_source=email&utm_medium=newsletter&utm_content=weekly_newsletter.
Es kommt hinzu, dass die Zeit des beginnenden 16. Jahrhunderts eine unruhige Zeit war: Neue Länder und Erdteile wurden entdeckt und neue Kulturen traten in den Gesichts-kreis der Europäer. Die überkommenen Ordnungen des Mittelalters gerieten ins Wan-ken. Die Idee des universalen Kaisertums wurde fragwürdig, die Nationen erstrebten die Selbständigkeit. Es entstanden National- und Territorialstaaten, und mit ihnen kam der der Gedanke der National- und Territorialkirchen auf. Die Städte strebten empor, und, während der Bauernstand verarmte, blühten der Handel und die Wirtschaft auf. Zudem wandte man sich nun der geistigen Welt des klassischen griechisch-römischen Altertums zu. Gerade die neue Hinwendung zur Antike aber setzte einen Prozess starker Verweltli-chung in Gang. Stolz, Eitelkeit und Genusssucht begleiteten diese Hinwendung zur An-tike, die man bald als Humanismus bezeichnete. Dabei wurde die Autorität der Kirche Grund auf in Frage gestellt. Der Mensch sollte den Platz Gottes einnehmen. Und in wachsendem Maße bestimmte nun der Subjektivismus das Lebensgefühl der Menschen. Kurzum: Man durchlebte eine Zeit des Übergangs, die ihrerseits von einer beinahe krankhaften Sucht nach dem Neuen geprägt war
Kleine deutsche Kirchengeschichte. Zum Besuch des Papstes, Freiburg i. Br. 1980, 53–56; Hermann Storz, Kirchengeschichtliche Charakterbilder, III. Teil: Die Kirche in der Neuzeit, Bonn 1967, 1–5..
Die spezifischen Ideen der Reformation waren nicht neu. Seit längerer Zeit lagen sie bereits gleichsam in der Luft. John Wiclif († 1384), seit 1361 Professor an der Universi-tät in Oxford, erklärte die Bibel für die einzige Glaubensquelle und lehrte, die Kirche sei die Gemeinschaft der für den Himmel bestimmten Menschen und sie sei infolgedessen unsichtbar. Er leugnete die göttliche Stiftung des Priestertums und die Sonderstellung des Papstes im Petrusamt. Er bekämpfte die Sakramente und das Ordenswesen und sprach der Kirche das Recht ab, weltlichen Besitz zu haben, während er den Fürsten das Recht zusprach, kirchliche Angelegenheiten zu regeln und die Kirchenämter zu beset-zen. Wiclif fand die Gunst des englischen Volkes und auch des Hofes. Erst als seine Wanderprediger durch die Anprangerung des reichen Besitzes der Kirche Bauernauf-stände hervorriefen, verurteilte eine Londoner Synode die Lehre Wiclifs als irrig und verbot der König Wiclif, weiterhin Vorlesungen zu halten. Als im Jahre 1381 der engli-sche König eine böhmische Prinzessin heiratete und sich ein reger Verkehr zwischen England und Böhmen entwickelte, kamen die Lehren Wiclifs nach Böhmen. Dort griff der Priester und Universitätslehrer Jan Hus († 1415) sie auf und verkündete sie an der Universität in Prag. Weil er volkstümlich sprach, hatte er großen Zulauf, aber auch des-halb, weil er für die nationaltschechischen Bestrebungen eintrat, die das Übergewicht der Deutschen in Böhmen zurückdrängen wollten. Der „Revolutionär“ Jan Hus wurde jedoch von dem Erzbischof von Prag mit dem Kirchenbann belegt und auf dem Konzil zu Konstanz im Jahre 1415 verurteilt, um als Irrlehrer auf dem Scheiterhaufen zu ster-ben
Hermann Storz, Kirchengeschichtliche Charakterbilder, III. Teil: Die Kirche in der Neuzeit, Bonn 1967, 3..
Nicht anders als Luther lehnten Wiclif und Hus das Lehramt der Kirche ab. Sie machten sich jedoch selber zum obersten Lehramt, auch wenn sie es nicht so nannten
Ulrich Paul Lange, Gründe und Methoden der „Reformation“, in: Theologisches 31, 2001, 439.. „Man be-rief sich auf die Heilige Schrift und bestimmte selbst, was von ihr gelten sollte und wie es gelten sollte“
Ebd., 439.. Naiv setzte man die Heilige Schrift als solche voraus, obwohl die Ta-sache, der Umfang und die Inspiration der Schrift erst durch die kirchliche Tradition und die Autorität der Kirche legitimiert waren
Ebd..
Martin Luther, der Exponent der Reformation, wird im Jahre 1483 am 10. November im heutigen Sachsen-Anhalt geboren. Dort stirbt er am 18. Februar 1546. Wenngleich er sich selber gern als Bauernsohn oder als Kind eines armen Hauers vorstellt, also eines Bergmanns, hat die neuere Lutherforschung herausgefunden, dass er eigentlich nicht aus ärmeren Verhältnissen kam, sondern aus gut gestellter Familie. Der Vater war Besitzer oder wenigstens Mitbesitzer eines Bergwerks. Die Familie des Reformators zählte also zu den angesehensten der Stadt. Für eine gut gestellte Familie spricht auch die Tatsache, dass der Reformator ein Jura-Studium aufnehmen kann. In den Jahren 1501 bis 1505 absolviert er das Grundstudium und schließt es 1505 ab mit dem Magister. Im gleichen Jahr beginnt er mit dem Jura-Studium, das er dann jedoch, nachdem er es soeben begon-nen hat, aufgibt, um Mönch zu werden. Die Geschichte von dem Blitzeinschlag verdan-ken wir den Tischreden des Reformators
Bei den Tischreden Luthers handelt es sich um Nachschriften von Äußerungen, die der Reformator bei Tisch gemacht hat. Sie bilden 6 Bände der Weimarer Ausgabe der Werke Luthers.. Demgemäß war er durch einen Blitzein-schlag zu Tode erschreckt worden und hatte dann ausgerufen: „Hilf, du heilige Anna, ich will ein Mönch werden“. Heute sind viele Forscher der Meinung, dass diese Ge-schichte nichts anderes ist als eine dramatisierende Bearbeitung der Lebensgeschichte des Reformators. Dafür spricht auch die Tatsache, dass jedermann weiß, dass ein solches Gelübde keinerlei Verbindlichkeit gehabt hätte.
Sicher ist, dass der Vater des Reformators nicht einverstanden gewesen ist mit dem Klo-stereintritt seines Sohnes, der seinerseits wohl auch darunter gelitten hat. Mehr noch hat er allerdings, eine Zeitlang jedenfalls, darunter gelitten, dass er meinte, als Sünder könne er keinerlei Rechtfertigung von Gott erlangen.
Nach seinem Eintritt in das Kloster der Augustiner-Eremiten kasteit Luther sich nun aufs Äußerste. Da erweist er sich als Eiferer, der zu Extremen neigt, als zwanghaft und selbstquälerisch. Allein, alles Fasten und Beten, alle Bußübungen und selbst der Schlaf-entzug können ihn nicht erlösen. Infolgedessen zweifelt an sich selber und auch an Gott und, mehr noch, gerät er gar in die Verzweiflung.
Die ersten Jahre Luthers im Kloster sind weithin noch unerforscht
Karl Heinrich Jürgens, Luther von seiner Geburt bis zum Ablaßstreit 1483–1517, 3 Bde, Leipzig 1841/1847, Bd 1, 553.. Seinen späteren Tischreden zufolge, muss er dort niedrige Arbeiten verrichten und wird er zudem durch die Mönche drangsaliert und daran gehindert, sich den Studien zu widmen
WA (Ti) 3, 580, 5; 5, 99, 21; 5, 452, 34; WA 44, 705, 39; 42, 641, 2 (Dr. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe, Weimar 1883 ff., zit. WA: Band, Seite., Zeile); vgl. Alma von Stockhausen, Der Glaube allein. Luthers Theologie – eine Autobiografie, Weilheim-Bierbronnen (Gustav-Siewerth-Akademie) 2016, 9 f..
Zeitlebens spielt der Teufel eine große Rolle im Leben des Reformators. Überall ist die-ser präsent für ihn, spürbar und mächtig. Die Angriffe des Teufels sind für den Refor-mator ein Hinweis darauf, dass er auf der Seite Gottes steht. Auf den Teufel führt der Reformator auch körperliche Beschwerden zurück, wie Kopfweh, Zahnweh oder Ohren-sausen. Er spricht von häufigen Teufelserscheinungen, die ihm zuteil geworden sind. Auch in seinem Exil auf der Wartburg will er eine Teufelserscheinung gehabt haben. Damals soll der Teufel ihn darüber belehrt haben, dass das Messelesen der Priester nichts anderes sei als Götzendienst
Winkelmess und Pfaffenweih, Wittenberg, Tom. VII, Fol. 443: WA 38..
Der Anlass für den Eintritt des lebensfrohen Studenten in das Kloster der Augustiner-Eremiten in Erfurt am 17. Juli 1505 – er ist damals 22 Jahre alt – ist neueren Forschun-gen zufolge ein von ihm kurze Zeit nach seinem Magister-Examen ausgetragenes Duell, bei dem er seinen Kontrahenten, Hieronymus Buntz aus Windsheim bei Regensburg, tödlich verletzt hat. Später bekennt der Reformator, er sei nicht freiwillig Mönch gewor-den, sondern, veranlasst „durch Schrecken und Entsetzen vor einem plötzlichen Tod“, habe er ein „gezwungenes und notgedrungenes“ Gelübde abgelegt
WA 8, 573, 32: „ ... terrore et agone mortis subitae circumvallatus vovi coactum et necessarium vo-tum“; vgl. auch WA 8, 574, 1. Schon vorher war er in ein Duell verwickelt gewesen und dabei selber verletzt worden. Somit war er schon früher mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Damals musste er die Erfurter Burse „Collegium Amplonianum“ verlassen und in die weniger angesehene Georgen-Burse umziehen (Dietrich Emma, Martin Luther. Seine Jugend- und Studentenzeit: 1483–1505, Regensburg 41986, 10. 143–149.. Deutlicher noch wird er, wenn er sodann in einer seiner Tischreden erklärt, er sei widerwillig ins Kloster gegangen, um einer Gefangennahme zu entgehen, sei er „zum Mönch gemacht worden“. Demnach hätte er, um der Strafe für die Tötung seines Mit-Duellanten zu entgehen, Asyl gesucht im Kloster
WA, Abt. Tischreden 1, 134, 32. Der Wahrheitswert der Tischreden wird zuweilen angezweifelt, weil es sich bei ihnen um Nachschriften von Tischgenossen handelt. Nach der „sententia communis“ kommt ihnen indessen ein Beweis-Wert wie primären Geschichtsquellen zu.. Nicht unmöglich scheint es auch zu sein, dass er im Zusammen-hang mit dem Tod seines Mit-Duellanten durch das Erfurter Generalgericht in ein Klo-ster etwa eingewiesen worden wäre. Derartige Strafen waren in damaliger Zeit nicht un-gewöhnlich
Georg May, Die geistliche Gerichtsbarkeit des Erzbischofs von Mainz im Thüringen des späten Mit-telalters. Das Generalgericht zu Erfurt, Leipzig 1956, 219. Vgl. auch Dietrich Emme, Martin Luther. Seine Jugend- und Studentenzeit 1483–1505, Regensburg 41986, 7. 224–227. 243 ff. 253 ff..
Die Stadt Erfurt hat heute 200 000 Einwohner, damals waren es 20 000. Erfurt war da-mals ein Stadtstaat mit einer Unzahl von Kirchen, Kapellen und Klöstern. Stadtherr von Erfurt war der Erzbischof von Mainz. Die Universität trug damals wesentlich bei zu der Bedeutung der Stadt. Berühmt war die juristische Fakultät dieser Universität. Innerhalb des Stadtstaates bildete die Universität mit ihren zahlreichen Behörden beinahe wieder einen eigenen Staat. Immerhin besaß sie gar auch die Gerichtsbarkeit
Hans-Viktor von Sury, Luther. Eine Kurzvita, in: Paulus Deusdedit, Hrsg, Luther. Wie er lebte, leibte und starb. Das andere ultimative Gesicht zum Lutherjahr, Lauerz 2017, 67–70..
In den Erfurter Jugendjahren muss der junge Mönch ein nicht besonders tugendhaftes Leben geführt haben. Gelegentlich charakterisiert er das damalige Studentenleben in Er-furt, wenn er die Stadt als „ein Hur- und Bierhaus“ bezeichnet. Zügellosigkeit und Ge-walttätigkeit sowie Unmäßigkeit im Essen und vor allem im Trinken waren an der Ta-gesordnung in dieser Stadt
Ebd. 68.. In seinen Tischreden erklärt der Reformator später, als Stu-dent der Rechte habe er in Erfurt ein „Lodderleben“ geführt
Alma von Stockhausen, Luthers Theologie – eine Autobiographie: https://www.youtube.com/watch?v=PO13MIejruQ. Darauf bezieht sich der Dichter Heinrich Heine († 1856), wenn er spöttisch feststellt, Luthers Wahlspruch sei in seiner Studentenzeit gewesen: „Wer nicht liebt Wein, Weiber und Gesang, der bleibt ein Narr sein Leben lang“. Heine bemerkt in diesem Zusammenhang, Luther habe etwas un-bezwingbar Dämonisches an sich gehabt
gutenberg.spiegel.de/buch/zur-geschichte-der-religion-und-philosophie-in-deutschland-378.1.
Im Kloster findet der angehende Mönch Zeit, über sein Leben nachzudenken. Und er fragt sich: Wer war eigentlich schuld an den Untaten des früheren Lebens? Die Antwort, die er sich gibt, lautet: Gott war es, der doch, wenn er wirklich Gott ist, alles bestimmt. Weil Gott alles bestimmt, so die Überlegung des Reformators, darum gibt es keine Frei-heit für den Menschen. Wie könnte Gott sie auch zulassen? Denn wäre der Mensch frei, wäre Gott nicht frei. Gott aber muss frei sein, denn wenn er nicht frei wäre, dann wäre er ein Götze. Auf Grund solcher Überlegungen wird die Alleinwirksamkeit Gottes zur ent-scheidenden Realität für den Reformator. Er erklärt: Es ist die Alleinwirksamkeit Got-tes, der Gott sein Gottsein verdankt. Gott muss uns, den Menschen, die Freiheit neh-men, damit er Gott bleibt. Die Alleinwirksamkeit Gottes wird somit für den Reformator ein Wesensmoment der Absolutheit Gottes. Er vertauscht auf diese Weise, so drückt es der englische Dramatiker William Shakespeare († 1616) aus, die herzbewegende Liebe Gottes mit dem kalten Willen seiner Alleinwirksamkeit
Alma von Stockhausen, Der Glaube allein. Luthers Theologie – eine Autobiografie, Weilheim-Bier-bronnen (Gustav-Siewerth-Akademie) 2016, 9 f..
In das Jahr 1515 fällt das Turmerlebnis
Von Turmerlebnis sprechen wir, weil dieses Erlebnis sich der Überlieferung nach im Turmzimmer des Augstiner-Klosters in Wittenberg zugetragen hat. des Reformators, in dem diesem die Erkenntnis zuteil wird, dass die Gerechtigkeit Gottes nicht menschliche Leistung, sondern Gnade Gottes ist. Der Mensch erlangt demnach die Gerechtigkeit allein durch die Gnade. Diese Erkenntnis ist das Fundament der Rechtfertigungslehre Luthers, die im Zentrum der neu-en Lehre stehen sollte, freilich in einer spezifischen Akzentuierung, denn neu war diese Lehre eigentlich nicht. Seit eh und je gehörte sie zum „depositum fidei“ der Kirche. Im-mer wieder ist darum auch von den Autoren darauf hingewiesen worden, dass das Turm-erlebnis nicht nur das Erlebnis des gnädigen Gottes gewesen ist, sondern auch und vor allem das „Erlebnis des abgrundtiefen Misstrauens und Verwerfens der Autorität der Kirche“ gewesen ist. Schon im Jahr darauf bezeichnet Luther den Papst als den Anti-christ
Ute Ranke-Heinemann, Der Protestantismus, Wesen und Werden, Essen 1965, 24..
1507 wird Luther zum Priester geweiht. Zwei Jahre zuvor ist er Mönch geworden. Die Primiz feiert er erst vier Wochen nach seiner Priesterweihe. Aufschlussreich sind die Angstzustände und die starken Gefühlsregungen, die er bei der ersten heiligen Messe er-lebt. Sie offenbaren zum einen ein fragwürdiges Gottesbild und zum anderen außerge-wöhnliche psychische Labilität. Schon bald beginnt der Reformator sodann mit den the-ologischen Vorlesungen an der neu gegründeten Wittenberger Universität. Zuvor und weiterhin gibt er sich mit Eifer dem Studium der Theologie hin. Durch Johannes von Staupitz († 1524), den Generalvikar seines Ordens, der eine besondere Stütze der neu gegründeten Universität ist, erfährt er außergewöhnliche Förderung. Ungeheuren Auf-trieb gibt ihm, dem jungen Gelehrten, sodann die feierliche Verleihung der theologi-schen Doktorwürde im Jahre 1512. Sie ist ein Höhepunkt in seinem Leben. Akademi-sche Titel und eine Professorenstelle zählten damals zu den höchsten Gütern dieser Erde
Hans-Viktor von Sury, Luther. Eine Kurzvita, in: Paulus Deusdedit, Hrsg, Luther. Wie er lebte, leibte und starb. Das andere ultimative Gesicht zum Lutherjahr, Lauerz 2017, 70. Von Sury weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der dänische Philosoph Kierkegaard († 1855) 300 Jahre später die De-generation des Christentums zu einer Religion der „Professoren“ statt der „Confessoren“ beklagt hat. .
Auf Betreiben des von Staupitz kann der junge Doktor nun an der Wittenberger Univer-sität mit seiner Vorlesungstätigkeit offiziell beginnen
In den Jahren 1512–1518 kommentiert er die Psalmen, den Römerbrief, den Galaterbrief und den Hebräerbrief.. Neben den Vorlesungen über-nimmt er in den folgenden Jahren eine Vielzahl von Aufgaben: Reisen, Visitationen, Predigen und Schriftstellern. Dabei bewältigt er ein gewaltiges Arbeitspensum. Er ge-steht, dass er in diesen Jahren mehrere Sekretäre hätte gleichzeitig beschäftigen können. Wenn das Stundengebet des Mönches dabei auf der Strecke bleibt, holt er es am Sams-tag in seiner Gänze nach, oft unter strengem Fasten.
Den Phasen der Hyperaktivität folgen in diesen Jahren Phasen mit Erschöpfungsdepre-ssionen. Der Reformator sucht dann täglich den Beichtstuhl auf, zuweilen auch mehrere Male am Tag, um von seinen Gewissensqualen und Anfechtungen befreit zu werden und den Seelenfrieden zu finden. Ihn findet er in dieser Situation schließlich, indem er sich ein Gottesbild zurechtschneidert, gemäß dem Gott es ist, der an allem Bösen schuld ist. Im Widerspruch dazu koexistiert mit dieser Vorstellung der Kampf mit dem Teufel als das eigentlich beherrschende Prinzip dieses unseres Lebens.
Es folgen dann die Verkündigung der Ablass-Thesen im Jahre 1517, der Disput mit Kar-dinal Cajetan († 1534) in Augsburg im Jahre 1518, die Verbrennung der Bannbulle im Jahre 1520 und die anschließende Exkommunikation und im Jahre 1521 der Auftritt vor dem Reichstag zu Worms mit der anschließenden Verhängung der Reichsacht über den Reformator. Daran schließt sich die fingierte Entführung des Reformators auf die Wart-burg an, auf der dieser als Junker Jörg in den Jahren 1521 und 1522 die Bibelüberset-zung erstellt
In 11 Wochen übersetzt Luther das Neue Testament aus dem Griechischen. Schon 1522 geht es in Druck. Es findet reißenden Absatz und wird zu einem Volksbuch. Es folgen dann immer wieder Teile des Alten Testamentes bis die Gesamtausgabe der Bibel im Jahre 1534 im Druck erscheinen kann.. Die Jahre 1524 und 1525 sind geprägt von dem Bauernkrieg. Im Jahr 1525 heiratet Luther. In diese Jahre fällt dann auch seine Auseinandersetzung über den freien Willen mit Erasmus von Rotterdam († 1536), den er gern für seine Sache gewon-nen hätte. Im Jahre 1546 stirbt Luther plötzlich und unerwartet. Als Todesursache wird heute allgemein ein Herzangst-Syndrom diagnostiziert
Albert Mock, Abschied von Luther. Psychologische und theologische Reflexionen zum Lutherjahr, Köln 1985, 67..
Wenn der Reformator am 3. Januar 1521 exkommuniziert wird, geschieht das vor allem wegen seiner Leugnung der Offenbarungsgemäßheit der sakramentalen Struktur der Kir-che. Diese Leugnung steht jedoch in engstem Zusammenhang mit seiner Rechtferti-gungslehre, die von Anfang an im Zentrum seiner Theologie steht. Charakteristischer-weise versteht er diese nicht mehr als eine essentielle. Das Konzil von Trient (1546–1563) beschreibt die Rechtfertigung des sündigen Menschen gemäß dem überkommenen Glauben der Kirche als „Überführung aus dem Stand, in dem der Mensch als Sohn des ersten Adam geboren wird, in den Stand der Gnade und der Annahme zum Gotteskind durch den zweiten Adam, Jesus Christus, unseren Heiland“
Denzinger / Schönmetzer, Nr. 1524 (Neuner/Roos, Nr. 794).. Ihr Wesen besteht daher, so das Konzil, nicht nur im „Nachlass der Sünden“, vor allem der Erbsünde, sondern auch in der „Heiligung und Erneuerung des inneren Menschen durch die freiwillige A-nahme der Gnade und der Gaben“, wodurch „der Mensch aus einem Ungerechten zu einem Gerechten“ wird
Denzinger / Schönmetzer, Nr. 1528 (Neuner/ Roos, Nr. 798)..
Wenn man sich mit den Lehren Luthers beschäftigt, steht man vor großen Schwierig-keiten, vor allem dann, wenn man genau wissen will, was der Reformator nun meint. Immer wieder kommt es bei ihm zu widersprüchlichen Aussagen
Albert Mock, Abschied von Luther, Psychologische und theologische Reflexionen zum Lutherjahr, Köln 1985, 75. „Denken und Fühlen finden bei ihm nicht zueinander, laufen auseinander ins Paradoxe, pendeln zwischen These und Antithese, ohne jedoch zur Synthese zu finden, die er (Luther) bewusst ganz entschieden zurückweist als Irrtum der Papisten“ (ebd.).. De facto ist der Re-formator in seinen Aussagen von einer grenzenlosen Widersprüchlichkeit geprägt, die keineswegs immer ungewollt ist. Das gilt, obwohl er selber in der Auseinandersetzung um seine Rechtgläubigkeit immer wieder die angebliche oder wirkliche Widersprüch-lichkeit seiner Gegner anprangert. Die Widersprüchlichkeit des Reformators entspricht ganz seinem Subjektivismus und der Irrationalität seines Denkens. Erklärtermaßen will er die scholastische Logik, die getragen ist von der überkommenen Analektik, durch die Dialektik ersetzen. Dabei scheut er sich nicht, die Widersprüchlichkeit auch noch auf Gott zu übertragen
Hans-Viktor von Sury, Luther. Eine Kurzvita, in: Paulus Deusdedit, Hrsg, Luther. Wie er lebte, leibte und starb. Das andere ultimative Gesicht zum Lutherjahr, Lauerz 2017, 67–71. Albert Mock hat auf „die grenzenlose Widersprüchlichkeit“ in den Aussagen des Reformators hingewiesen, zu denen dieser sich bekennt, wenn er seine Dialektik oder Paradoxie bewusst der scholastischen Logik gegenüberstellt. Mock stellt fest, nicht nur die Lehre des Reformators sei von Widersprüchen geprägt, sondern auch sei-ne Person (Albert Mock, Abschied von Luther, Psychologische und theologische Reflexionen zum Lu-therjahr, Köln 1985, 75). Heinrich Heine († 1856) amüsiert sich über die Widersprüchlichkeit des Re-formators, wenn er feststellt: „Luther glaubt nicht mehr an katholische Wunder, aber er glaubt noch an Teufelswesen. Seine Tischreden sind voll kurioser Geschichtchen von Satanskünsten, Kobolden und Hexen“ (Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, Erstes Buch: http://www.digbib.org/Heinrich_Heine_1797/Zur_Geschichte_der_Religion_und_Philosophie_in_Deutschland?k=Erstes+Buch)..
Konsequenterweise ist der Widerspruch das entscheidende Erkenntnisprinzip im Prote-stantismus, bestimmt er alle Bereiche des Denkens und des Lebens, ja, die gesamte Wirklichkeit des Menschen und seiner Welt. Seinen klassischen Ausdruck findet dieses Denken, das eigentlich kein Denken mehr ist, weil es auf die Logik verzichtet, in dem Axiom „simul peccator et iustus“ – „der Mensch ist zugleich ein Sünder und ein Ge-rechtfertigter“.
Das Lutherjahr 2017 verbindet sich mit dem Thesenanschlag des Reformators an der Schlosskirche zu Wittenberg am 31. Oktober 1517. Der Thesenanschlag hat jedoch, wie neuere Forschungen ergeben haben, nicht stattgefunden. Wie der Kirchengeschichtler Erwin Iserloh († 1996) im Jahre 1981 nachgewiesen hat, hat Luther am 31. Oktober des Jahres 1517 Briefe, in denen er Missstände in der Kirche angeprangert hat, an seine Vor-gesetzten geschrieben, und ihnen die 95 Thesen als Grundlage für eine Disputation bei-gelegt. Mit seinen Thesen will er zunächst zu einer akademisch-theologischen Diskussi-on einladen. Die Thesen betreffen den kirchlichen Ablasshandel, gemäß dem man sich mit Geld von seinen Sünden freikaufen konnte. Wie der Luther-Forscher Remigius Bäu-mer († 1998) festgestellt hat, trifft es nicht zu, dass, wie Luther später behauptet hat, in den Ablassbriefen auch „der Nachlass künftiger Sünden versprochen“ worden ist
Remigius Bäumer, Das Zeitalter der Glaubensspaltung, in: Bernhard Kötting, Hrsg., Kleine deutsche Kirchengeschichte. Zum Besuch des Papstes, Freiburg i. Br. 1980, 57.. Die 95 Thesen hatte Luther auf Latein geschrieben. Latein war dazumal die Sprache der Ge-bildeten. Deren Zahl war in dieser Zeit allerdings nicht sehr groß. Nur etwa zehn Pro-zent der Bevölkerung konnte überhaupt lesen und schreiben. Immerhin wurden die The-sen in kurzer Zeit ins Deutsche übertragen und an allen möglichen Orten gedruckt, ver-kauft und vertrieben. Überall fanden sie nun Anklang. Somit verbreitete sich die Ablass-Kritik des Reformators wie im Flug, zunächst in deutschen Landen, dann aber sehr bald auch im Ausland.
Luther wollte zunächst den Missbrauch des Ablasses anprangern. Dabei griff er jedoch indirekt den Papst an, sofern er dessen Autorität in Frage stellte. Das führte ihn notwen-dig zu einer neuen Ekklesiologie, zu einer neuen Auffassung von der Kirche und somit zu einer neuen Kirche. Später, in den Resolutionen zu den Ablass-Thesen vom Februar 1518, stellte er dann die Autorität des Papstes auch direkt in Frage und griff damit auch ausdrücklich die Struktur der Kirche an
Ebd., 59. „In seinen Kampfschriften von 1520 lehnte Luther das Lehramt des Papstes, die heilige Messe, die Lehre von der Wesensverwandlung ab, wenn er auch an der Gegenwart Christi im Sakra-ment festhielt“ (ebd.). .
Die Ablass-Kritik des Reformators setzte de facto eine Dynamik in Gang, die nicht mehr aufzuhalten war. Mit ihr verband sich sodann eine dramatische Verkettung von persönli-chen und politischen Interessen.
Der Anlass für den Protest Luthers war, wie gesagt, der Ablass bzw. die Verkündigung des Ablasses. Damals lief eine große Ablass-Kampagne. Im Auftrag des Papstes und des Magdeburger Erzbischofs war der Dominikaner Johannes Tetzel († 1519) in den Diöze-sen Magdeburg und Halberstadt unterwegs, um für den Bau des Petersdoms in Rom Gel-der einzutreiben. Gleichzeitig trieb er dabei auch Gelder ein für den Erzbischof Al-brecht von Mainz († 1545), der damit seine Schulden bei dem Bankhaus der Fugger in Augsburg begleichen wollte. Dass auch der Erzbischof von Mainz von dem Ablass-Geld profitierte, war nicht allgemein bekannt. Auch Luther wusste nicht davon. Tetzel machte den Menschen bei seiner Ablasspredigt „die Hölle heiß“, indem er die Qualen, welche die Gläubigen nach ihrem Tod im Fegefeuer erleiden würden oder die ihre verstorbenen Angehörigen in diesem Augenblick im Fegefeuer durchleiden müssten, in den schlimm-sten Farben ausmalte. Er versprach dabei den Nachlass der Sünden ohne Buße, ähnlich, wie das heute von nicht wenigen Amtsträgern im Kontext der „Ideologie“ der Barmher-zigkeit geschieht, ungeachtet dessen, dass es in Wirklichkeit im Ablass nicht um den Nachlass der Sünden, sondern um den Nachlass der Sündenstrafen geht. Die Situation war äußerst wirr geworden. Der Exponent dieser Entwicklung, Tetzel, war ein ober-flächlicher und unehrlicher Vertreter seines Ordens und des Priesterstandes.
Als die missbräuchliche Ablassverkündigung eskaliert und Luther seine Thesen ver-schickt, hat er bereits Karriere gemacht in seinem Orden, ist er als Vikar in die regionale Ordensleitung aufgestiegen, lehrt er Theologie an der neuen Wittenberger Universität und predigt er in der Stadtkirche.
Noch im Jahre 1517 zeigt Erzbischof Albrecht den Autor der Ablass–Thesen in Rom an und beschuldigt ihn der Ketzerei. Im darauf folgenden Jahr verhört ihn der päpstliche Gesandte Kardinal Cajetan in Augsburg, ohne ihn jedoch zum Widerruf bewegen zu können. Ein Jahr danach, 1519, disputiert Johannes Eck († 1543), ein glänzender Theo-loge, mit dem Reformator in Leipzig. Eck treibt den Reformator in die Enge und zwingt ihn, in der Konsequenz seiner Grundpositionen gar den Konzilien Irrtumsfähigkeit vor-zuwerfen.
Angeregt und herausgefordert durch diesen Vorgang veröffentlicht Luther im Jahre 1520 die drei Hauptschriften der Reformation: „An den christlichen Adel deutscher Nation“, „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche“ und „Von der Freiheit eines Chri-stenmenschen“. Die erstgenannte Schrift ist gegen das Amtspriestertum der Kirche ge-richtet, die zweite gegen die Sakramente und die dritte gegen die sichtbare Kirche und gegen das Papsttum. Die Grundthese der letztgenannten Schrift lautet: „Ein Christen-mensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan“. Im Widerspruch dazu behauptet der Reformator, alles, was der Mensch denke und tue, geschehe in absoluter Notwendigkeit.
Wenn heute immer wieder in der Ökumene gesagt wird, das Verbindende sei stärker als das Trennende, fällt es bereits angesichts dieser drei programmatischen Schriften schwer, dem seine Zustimmung zu geben.
Im Dezember des Jahres 1520 verbrennt der Reformator provokativ die päpstliche Bulle, durch die 41 Sätze seiner Lehre verurteilt werden und ihm der Bann angedroht wird, falls er nicht widerruft. Zusammen mit der päpstlichen Bulle verbrennt er ein Exemplar des kirchlichen Gesetzbuches in einem öffentlichen Szenario vor dem Elstertor zu Wit-tenberg. Damit macht er seinen Bruch mit Rom auch äußerlich erkennbar. Die nun fol-gende Bannung durch den Papst hat nach damaligem Recht das Einschreiten der Reichs-gewalt zur Folge. Der Kurfürst Friedrich von Sachsen, der Luther wohl gesonnen ist, er-reicht jedoch beim Kaiser, dass dem Reformator noch eine Frist gegeben wird, damit er sich im folgenden Jahr auf dem Reichstag in Worms verantworten kann.
Luther folgt der Aufforderung des Kaisers, sich in Worms zu verantworten, obwohl er weiß, dass ihm dort nach der Exkommunikation die Reichsacht droht. Das würde ihn dann auf den Scheiterhaufen bringen. Er fühlt sich jedoch sicher, weil er Friedrich von Sachsen im Rücken hat und inzwischen auch die Begeisterung vieler. Inzwischen hat er nicht wenige Freunde gewonnen. Darauf setzt er sein Vertrauen. Möglicherweise hat er auch, wenigstens eine Zeitlang, darauf vertraut, dass er sich in Worms verteidigen und seine Lehre dort darlegen kann. Da erfährt er nun sogleich bei seiner Ankunft in Worms, dass davon keine Rede sein kann, dass er hier lediglich auf die Frage antworten soll, ob er bereit ist zu widerrufen. Immerhin tritt er in Worms außerordentlich souverän und selbstbewusst auf. Dabei hat er anfänglich wohl noch eine Weile mit dem Gedanken ge-spielt, den von ihm erwarteten Widerruf zu leisten, um ihn dann jedoch schon bald mit Berufung auf sein Gewissen entschieden zurückzuweisen. Dank der „Reichsacht“, die er sich damit zugezogen hat, ist er nun „vogelfrei“. Um dem zu entgehen, begibt er sich in die Obhut des Kurfürsten von Sachsen, der ihn in den kommenden Monaten auf der Wartburg in Sicherheit bringt. Dort übersetzt er in 11 Wochen das Neue Testament aus dem Griechischen. 1522 geht die Übersetzung in Druck. Sie findet reißenden Absatz. Es folgen dann in den Jahren danach Teile des Alten Testamentes bis im Jahre 1534 die Ge-samtausgabe der Bibel vorliegt.
Mit der Verhängung der Reichsacht über Luther verbindet sich das Verbot der Lektüre und der Verbreitung der Schriften des Reformators, das so genannte Wormser Edikt, de-ssen Durchführung, die der Kaiser den jeweiligen Landesherren überlassen hat, jedoch im Sand verläuft
Ebd., 56–59..
Der Kaiser, Karl V. († 1558), kommentiert das Geschehen in Worms mit folgenden Worten: „Ein einfacher Mönch, geleitet von seinem privaten Urteil, hat sich erhoben ge-gen den Glauben, den alle Christen seit mehr als 1000 Jahren bewahrten, und er be-hauptet dreist, dass alle Christen sich bis heute geirrt hätten“
Wilhelm Brüggeboes, Geschichte der Kirche, Düsseldorf 1962, 16.. Das gilt auch heute noch, auch wenn gewisse Kreise bemüht sind, sich durch eine Quasi-Kanonisierung Luthers zu profilieren.
Der Subjektivismus im Glauben und in der Theologie, er ist das entscheidend Neue, das die Reformation hervorgebracht hat. In ihm tritt an die Stelle der objektiven Wahrheit die innere Überzeugung. Dieser Subjektivismus – im Grunde liegt er allen Neuerungen der Reformation zugrunde – eskaliert schon bald in der Gestalt der Schwarmgeisterei der Wiedertäufer, die ihn sozusagen ad absurdum führen. Der Reformator erkennt das. Des-halb bekämpft er die Schwarmgeister hartnäckig und unerbittlich.
Während der grausame Bauernkrieg tobt, heiratet Luther im Jahre 1525 die ehemalige Zisterzienser-Nonne Katharina von Bora († 1552) und macht ein aufwendiges Fest aus der Hochzeit. Der Reformator Melanchthon († 1560), der nicht teilgenommen hat an der Hochzeit, verargt seinem Freund die Heirat, vor allem aber verargt er ihm den Zeitpunkt der Hochzeit. Auch andere Freunde Luthers missbilligen die Hochzeit des Mönchs, zu-mindest den Zeitpunkt und den Aufwand, den dieser damit verbindet
Remigius Bäumer, Das Zeitalter der Glaubensspaltung, in: Bernhard Kötting, Hrsg., Kleine deutsche Kirchengeschichte. Zum Besuch des Papstes, Freiburg i. Br. 1980, 62. Bäumer: „Die Gegner Luthers sprachen von einer sakrilegischen Hochzeit, die durch Unzucht und Gelübde-Bruch befleckt und durch das Blut so viel tausend Ermordeter besudelt worden sei“ (ebd.)..
Luther war Melanchthon zugetan, wenngleich es auch Meinungsverschiedenheiten gab zwischen ihm und Melanchthon. Aufschlussreich ist der Ausspruch des Letzteren: „Ich würde lieber sterben als von diesem Manne getrennt zu sein“. Melanchthon war ein Uni-versitätskollege Luthers. Er stammte aus Bretten bei Karlsruhe. Während der Leipziger Disputation unterstützte er den Freund zum einen moralisch durch seine Anwesenheit, zum anderen durch Argumente, die er zu den Themen der Disputation beisteuerte. Nach dem Tod Luthers war es Melanchthon, der zum Wortführer der Reformation wurde
http://www.melanchthon.de/reform/reform2.html.
Luther ist nicht frei von Zynismus. Im Zusammenhang mit der Entführung der neun Zi-sterzienser-Nonnen durch den Ratsherrn Leonhard Koppe in der Osternacht des Jahres 1523 – unter ihnen ist auch die damals vierundzwanzigjährige Katharina von Bora – nennt er diesen in einem Dankesschreiben „einen seligen Räuber“ und vergleicht die Be-freiung der Nonnen mit der Erlösung, die der Menschheit durch den Tod und die Aufer-stehung Christi zuteil geworden ist
Hans-Viktor von Sury, Luther. Eine Kurzvita, in: Paulus Deusdedit, Hrsg, Luther. Wie er lebte, leibte und starb. Das andere ultimative Gesicht zum Lutherjahr, Lauerz 2017, 29..
Steht der Reformator zunächst auf Seiten der aufständischen Bauern – in seiner Schrift „Ermahnung zum Frieden“, hetzt er die Bauern auf gegen die Fürsten und verweist sie auf die „Freiheit des Christenmenschen“ –, so wechselt er bald die Position und animiert die Fürsten, die Bauern „zu erwürgen und totzuschlagen wie tolle Hunde“ und enthüllt damit seinen mangelnden Sinn für Gerechtigkeit, seine Untreue und seine Grausamkeit. Er schreibt in diesem Zusammenhang, ein Fürst könne nun mit Blutvergießen den Him-mel besser verdienen als mit Beten. De facto sind die Fürsten dieser Aufforderung scho-nungslos gefolgt. An die 100 000 Bauern haben sie erschlagen
Remigius Bäumer, Das Zeitalter der Glaubensspaltung, in: Bernhard Kötting, Hrsg., Kleine deutsche Kirchengeschichte. Zum Besuch des Papstes, Freiburg i. Br. 1980, 62. . Der Reformator rühmt sich dessen noch mit den Worten: „Ich ... habe im Aufruhr alle Bauern erschlagen, all ihr Blut ist auf meinem Hals. Aber ich weise auf unseren Herrn und Gott, der hat mir das zu reden befohlen“
Alma von Stockhausen, Der Glaube allein. Luthers Theologie – eine Autobiografie, Weilheim-Bier-bronnen (Gustav-Siewert-Akademie) 2016, 19..
Den Wechsel seiner Position von den Bauern zu den Fürsten begründet Luther in seiner Schrift „Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“, wenn er dort kurzerhand erklärt, die Bauern hätten die von ihm verkündete „Freiheit des Christen-menschen“ falsch verstanden.
Die Hetzreden Luthers gegen die Bauern sind ein besonderer Schandfleck im Leben des Reformtors. Tatsächlich hat er den Bauernkrieg verraten, um seine persönlichen Ideen durchzusetzen. Von Solidarität mit den sozial Schwachen – sie hat man dem Reformator des Öfteren zuerkannt
Roman Herzog in Eisleben zum 450. Todestag des Reformators: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. Februar 1996. – kann da wirklich nicht mehr die Rede sein.
Mit seiner Agitation gegen die Bauern entfernt sich der Reformator weit vom Christen-tum. Aber nicht nur hier geschieht das. In ähnlicher Weise ist das der Fall, wenn er etwa empfiehlt, behinderte Kinder, die er in seinem Aberglauben als vom Teufel unterge-schoben betrachtet und die er als „Fleisch ohne Seele“ definiert, zu „ersäufen“
http://www.katholisches.info/2017/07/martin-luther-ueber-behinderte-die-man-ersaeufen-sollte/ : Tischreden Nr. 4513; Nr. 5207..
Ärger noch als gegen die Bauern treibt es der Reformator in seinen Hasstiraden gegen die Juden. In seiner frühen Schrift „Dass Christus ein geborener Jude sei“ aus dem Jahre 1523 hat er noch um die Juden geworben und sich gegen jede Form von Gewaltmission im Hinblick auf sie ausgesprochen. In seiner Psalmenvorlesung von 1513/1514 finden sich lediglich die gängigen Vorwürfe des christlichen Anti-Judaismus, wenn er da fest-stellt, die Juden seien hochmütig und verstockt, sie hätten den Messias nicht erkennen wollen und sie hätten ihn in ihrer Verstockung getötet. Deshalb sei der Zorn Gottes über sie gekommen. Dramatisch ist der Anti-Judaismus Luthers jedoch dann in der Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ aus dem Jahr 1543.
Drei Schriften hat der Reformator gegen die Juden verfasst. In ihnen hat er seinem ma-ssiven Judenhass freien Lauf gelassen. Unter ihnen sticht die genannte Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ aus dem Jahre 1543 in besonderer Weise hervor. Im Blick auf die drei genannten Schriften kann man Luther durchaus als „Hassprediger“, wie man das heute nennt, bezeichnen. In seiner Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ hat er ge-nau das gefordert, was Hitler († 1945) später verwirklicht hat, wenn er da die Nieder-brennung der Synagogen und der jüdischen Schulen fordert und die Enteignung und die Zerstörung der Häuser der Juden, wenn er für die Juden die „Bewerfung mit Saudreck“ sowie Schikanen und Zwangsarbeit fordert und sie als „rechte Teufel“ bezeichnet
Vgl. ww.theologe.de/martin_luther_juden.htm und
https://www.luther2017.de/kr/wiki/martin-luther-und-die-juden/martin-luther-und-die-juden-fragen-und-antworten/.
Als „Hassprediger" in diesem Sinne erweist Luther sich jedoch nicht nur gegenüber den Juden, sondern auch gegenüber den Türken, als diese im Jahre 1529 Wien belagern
http://www.theologiestudierende.de/2016/08/09/luther-und-die-tuerken/.
Allgemein ist festzuhalten: Nicht wenige Positionen des Reformators sind äußerst frag-würdig, ganz zu schweigen von seiner Diktion, die man allerdings im Grunde eher noch tolerieren kann als die neuen Inhalte, die er verkündet. Tatsächlich ist der Reformator von sarkastischer Polemik und von unglaublicher Grobheit und oft maßlos in seiner Dik-tion
Gottfried Fitzer, Was Luther wirklich sagte, Wien 1968, 34.. Besonders markant ist die Polemik des Reformators gegen das Messopfer, wenn er etwa feststellt: „Ich erkläre, dass alle Bordelle, Morde, Diebstähle, Mörder, Ehebre-cher weniger böse sind als diese Greuel der Papst-Messe“
Vgl. https://custos-sancto.blogspot.de/2016/09/antonio-sochi-klagt-erneut-papst.html. Der sprichwörtliche Grobia-nismus des Reformators betrifft nicht nur die Form seiner Aussagen, er betrifft auch die Inhalte
Auch die Gegner Luthers waren nicht wählerisch in ihrer Diktion. Nur ein Beispiel sei hier genannt. Für Thomas Morus († 1535) war Luther „ein lausiger kleiner Klosterbruder“ und „ein scheißender und beschissener Schuft“. Für ihn ist Luthers tiefschwarze Seele ein „Scheißhaus“, sind die Schriften Lu-thers eine Ansammlung von „Mist und Scheiße“, die dieser aus seinem Mund erbreche (Sabine Appel, König Heinz und Junker Jörg. Heinrich VIII. gegen Luther gegen Rom, Darmstadt 2016, vgl. Wissen-schaftliche Buchgesellschaft Darmstadt: Mitglieder Magazin, Januar 2017, 50. Das relativiert die Abar-tigkeit der Diktion des Reformators. Allein, dieser übertrifft seine Zeitgenossen in diesem Punkt um vieles. Das wird niemand im Ernst bestreiten. Zu bedenken ist hier auch, dass Thomas Morus weder Theologe war noch Ordensmann noch Priester. .
In allem neigt der Reformator zum Extrem. Am Anfang seines Ordenslebens übertreibt er die Askese, um später, nachdem er den Orden verlassen hat, sich wieder den Aus-schweifungen hinzugeben, die schon sein Leben vor dem Ordenseintritt geprägt haben. Dabei ist er äußerst selbstbewusst, hochmütig, stolz und herablassend und im Grunde unkorrigierbar. Maßlos in der Selbstüberschätzung, setzt er seine eigene Autorität gegen die überkommenen Autoritäten und verschließt er sich immer wieder den Argumenten, die man ihm entgegenhält. Sein hochmütiges und selbstbewusstes Auftreten auf dem Reichstag zu Worms wurde bereits erwähnt. In seinem nicht hinterfragbaren Sendungs-bewusstsein versteht er sich in seiner Person als der Lehrer und Richter der „Papisten“
Vgl. Laurentius von Brindisi, Lutheranismi Hypotyposis: https://gloria.tv/video/sfD2AZsp9NVK6qZZtGt2sQNWN.
Immer wieder hat man in dem Reformator einen Kämpfer für die Demokratie sehen wollen. Das entspricht jedoch in keiner Weise der Wirklichkeit. Denn der Reformator denkt nicht demokratisch, er denkt elitär oder einfach pragmatisch. In den Bauernkrie-gen stellt er sich, wie bereits erwähnt wurde, schon bald im Bund mit den Fürsten gegen die Bauern. Entlarvend für seine Gesinnung ist es, wenn er in seinen Tischreden er-klärt: „Die Herrschenden dieser Welt sind von Gott, das gemeine Volk aber ist vom Teufel (oder: des Teufels oder: das gemeine Volk ist der Satan)“ – „Principes mundi sunt Dei, vulgus est Satan”. Die Frage ist hier, ob Teufel oder Satan ein Nominativ ist oder ein Genitiv. Eine solche Aussage wäre im Mund eines katholischen Theologen, so-fern er seine Sinne noch beieinander hat, wohl kaum möglich
Erik von Kuehnelt-Leddihn, Kirche contra Zeitgeist, Graz 1997, 94: WA 1, 171, 79.. Deutlicher noch tritt das diesbezügliche Defizit des Reformators hervor, wenn er feststellt: „Der Esel will Schlä-ge haben, und der Pöbel will mit Gewalt regiert werden, das weiß Gott wohl“
Erik von Kuehnelt-Leddihn, Kirche contra Zeitgeist, Graz 1997, 94: Martin Luther, Sämmtliche Werke (Erlanger Ausgabe), Bd. 33, S. 389. Von Kuehnelt-Leddihn weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass im Jahre 1811 im protestantischen England über 6400 Menschen zum Tode verurteilt wurden, während im napoleonischen Frankreich bei einer damals mehr als doppelt so großen Bevölke-rungszahl es nur 392 Menschen waren, die zum Tode verurteilt wurden. Das ist eine Relation von 1 zu 42. Von Kuehnelt-Leddihn beruft sich bei dieser Feststellung auf: Graf Emmanuel Las Casas, Denk-würdigkeiten von St. Helena, Tübingen 1823, Bd. 1, S. 285..
Beim Aufbau des neuen Kirchentums übernehmen die lutherischen Fürsten gemäß dem Willen des Reformators die Leitung der kirchlichen Verhältnisse. Sie folgen dabei zwar ihren rein privaten Interessen, dienen aber dem erklärten Anliegen des Reformators. Zu-nächst versteht dieser deren Regiment nur als Notlösung, doch schon bald wird daraus eine Dauereinrichtung, die bis in die neueste Zeit hinein währt.
Als die lutherischen Fürsten und Städte auf dem Reichstag zu Speyer im Jahre 1529 ge-gen einen Beschluss protestieren, der ihnen nicht genehm ist, wird ihnen und mit ihnen allen Neugläubigen der Name „Protestanten“ gegeben, der sich durchgesetzt hat und noch heute gebräuchlich ist, obwohl er rein formaler Natur ist und somit nur wenig aus-sagekräftig.
Luther hatte außer jenen, die ihn und seine Sache unterstützten, Mitstreiter. Ohne sie wäre die Reformation nicht erfolgreich gewesen. Als solche sind vor allem der wieder-holt erwähnte Philipp Melanchthon († 1560), Johannes Bugenhagen († 1558), Georg Spalatin († 1545), Martin Bucer († 1551), der Reformator von Straßburg, und Johannes Brenz († 1570), der Reformator Württembergs, zu nennen.
Um seine Lehre zu fixieren und sie in der Katechese dem Volk einzuprägen, verfasst Luther im Jahre 1529 den „Großen Katechismus“ und den „Kleinen Katechismus“. Und für die Formung der neuen (lutherischen) Liturgie schafft er im Anschluss an die Psal-men zahlreiche deutsche Kirchenlieder.
Auf dem Augsburger Reichstag im Jahr 1530 reichen die Neugläubigen ihr Glaubensbe-kenntnis ein, das als die „Confessio Augustana“, als das „Augsburger Bekenntnis“ in die Geschichte eingeht. Sein Verfasser ist der Universitätskollege und Freund Luthers Phi-lipp Melanchthon, der mit diesem Bekenntnis eine Einigung mit den Altgläubigen er-hofft, weshalb er sein Bekenntnis äußerst irenisch abgefasst und in ihm vor allem das Gemeinsame betont hat. Luther billigt das Augsburger Bekenntnis, hält die Bemühun-gen um das Bekenntnis allerdings für aussichtslos, weshalb er im Jahre 1537 die „Schmalkaldener Artikel“ dagegen stellt, die bewusst das Neue wieder stärker heraus-stellen.
Im Jahre 1555 wird auf dem Reichstag zu Augsburg das Wormser Edikt aufgehoben und der so genannte Augsburger Religionsfriede geschlossen. Bei ihm handelt es sich um einen Kompromiss, der an sich in Glaubensfragen nicht angemessen ist, da es zwar in der Anwendung der Wahrheit Kompromisse geben kann, nicht jedoch in der Wahrheit als solcher. Der eigentliche Ort der Kompromisse ist die Politik.
Die wichtigsten Bestimmungen des Augsburger Religionsfriedens sind folgende: 1. Im Reich sind nur das katholische und das Augsburger Bekenntnis erlaubt und gleichbe-rechtigt. 2. Die Entscheidung über die Religion steht nicht dem Einzelnen zu, sondern den so genannten Reichsständen, das sind die Fürsten, Grafen, Ritter und der Rat der freien Städte. Nach dem Grundsatz „cuius regio eius religio” kann der Gebietsherr die Religion seiner Untertanen bestimmen, wer damit nicht einverstanden ist, kann auswan-dern. 3. Wenn ein geistlicher Fürst lutherisch wird, verliert er Amt und Land.
War die Lehre Luthers im Jahre 1521 in Worms verboten worden, stand sie nun, gut dreißig Jahre später, staatsrechtlich gleichberechtigt neben der Lehre der Altgläubigen. Somit war die Reformation politisch anerkannt und die bekenntnismäßige Zerrissenheit Deutschlands perfekt. Die innere Einheit der Nation, des „Heiligen römischen Reiches deutscher Nation“, war somit dahin.
Im Zuge der weiteren Organisation der Neugläubigen werden im Jahre 1580 alle lutheri-schen Bekenntnisformeln und Bekenntnisschriften zum so genannten Konkordienbuch vereinigt. Auf diesem Weg werden die lutherischen Kirchen bekenntnismäßig zusam-mengefasst, und ihr Bekenntnis wird von jenem der anderen reformatorischen Gemein-schaften abgegrenzt, speziell von dem Bekenntnis des Calvinismus. Bei den Calvinern sprechen wir im Allgemeinen von den reformierten Christen
Joseph Gottschalk, Kirchengeschichte für die Oberstufe höherer Lehranstalten, Teil I: Die Kirche der Neuzeit, Bonn 1953, 145–151. .
Noch heute ist das Konkordienbuch das entscheidende Referenzwerk des Luthertums, nicht zuletzt auch bei den Ordinationen. Als solches ist es zusammen mit der Heiligen Schrift die Grundlage der Verkündigung in den lutherischen Kirchen, sofern man sich danach richtet.
Eine einheitlich lutherische Kirche hat die Reformation nicht geschaffen. Das konnte und wollte sie auch gar nicht. Sie hat die verschiedenen Landeskirchen geschaffen, die sich dann ihrerseits mehr und mehr teilweise umfangreiche Kirchenordnungen gegeben haben. Zusammengehalten wurden sie durch die lutherische Rechtfertigungslehre, die Lutherbibel, die Confessio Augustana, also das Augsburger Bekenntnis, und das Kir-chenlied, und später, seit 1580, eben durch das Konkordienbuch.
In der Liturgie benutzte man fortan in den reformatorischen Gemeinschaften mehr und mehr in Ablösung von der überkommenen Messe die „Deutsche Messe“ Luthers von 1526. Immerhin verwendete man für eine gewisse Zeit noch die überkommene Messe und teilweise sogar auch die lateinische Sprache, sowohl bei der Messe als auch bei der Sakramenten-Spendung. Darüber hinaus behielt man in der Liturgie auch noch andere äußere Formen bei, die ihrerseits noch eine Weile über den Bruch mit der Vergangenheit hinwegtäuschten.
Die Lutheraner blieben näher bei dem ursprünglichen katholischen Glauben als die Cal-viner, die sich schneller und stärker von der katholischen Tradition getrennt haben. Bis heute ist der Graben zwischen den Calvinern und den Katholiken tiefer als der zwischen den Lutheranern und den Katholiken.
Die Stoßrichtung der Polemik Luthers geht, wie gesagt, auf den Papst und das Papsttum der Kirche. Dem Papst und dem Papsttum begegnet Luther mit unverhohlenem Hass. Mit den zahlreichen Ausfällen gegen den Papst und gegen das Papsttum verbinden sich bei dem Reformator die nicht weniger zahlreichen Ausfälle gegen die Kirche. Der Grund dafür ist nicht in den Zeitumständen gelegen, wie man immer wieder hat glauben machen wollen, sondern zu-nächst in der persönlichen Problematik des Reformators, dann aber auch in seinem Wesen. Luther schreibt: „Daher will ich frei sein und kein Ge-fangener einer Autorität, weder des Konzils noch des Staates noch der Universität. Nur das will ich vertrauensvoll bekennen, was ich als wahr erkannt habe“
Remigius Bäumer, Das Zeitalter der Glaubensspaltung, in: Bernhard Kötting, Hrsg., Kleine deutsche Kirchengeschichte, Zum Besuch des Papstes, Freiburg i. Br. 1980, 59..
Das letzte Werk, das Luther kurz vor seinem Tod im Jahre 1546 verfasst hat, trägt cha-rakteristischerweise den Titel „Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet“. Die Ausfälle Luthers gegen das Papsttum sind jedoch noch nicht die gehässigsten, gehässi-ger noch sind seine Ausfälle gegen das Messopfer
Hier ist vor allem an die informative Studie des Reformationsgeschichtlers Remigius Bäumer zu er-innern: Martin Luther und der Papst (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glau-bensspaltung, 30), Münster 41970.. Dabei verbindet der Reformator seinen Kampf gegen das Papsttum mit dem Kampf gegen die heilige Messe. Er schreibt: „Wo die Messe fällt, da fällt das Papsttum“
WA 50, 204.. Das wissen jene nicht, wollen vielleicht auch jene nicht wissen, die leichtfertig die Interkommunion verlangen oder gar prakti-zieren.
Der Kölner Psychologe Albert Mock schreibt in diesem Zusammenhang: „Luthers Aver-sion gegen das Papsttum mag wohl nach außen als eine seiner stärksten erscheinen; im Vergleich zu seinem unvorstellbaren Hass gegen den ,Greuel` des Messopfers könnte man jedoch noch schlicht von einer Abneigung sprechen”
Albert Mock, Abschied von Luther, Psychologische und theologische Reflexionen, Köln 41985, 96.. Mock bemerkt mit Recht, das Urteil Luthers über die Messe treffe den gläubigen Katholiken, wenn es ernst ge-nommen werde, am empfindlichsten, denn für den gläubigen Katholiken sei das Mess-opfer zu allen Zeiten „Lebensquelle und Herzstück seines christlichen Glaubens und Le-bens“. Nicht weniger gilt das indessen für die orthodoxen Christen
Ebd..
Mock schreibt: „Luther hat sehr klar erkannt, dass er damit (mit seiner Kritik am Mess-opfer) den Lebensnerv der Kirche treffen würde. Er sagt selbst: ,Wenn es mir gelingt, die Messe abzuschaffen, dann glaube ich den Papst gänzlich besiegt zu haben. Auf die Messe wie auf einen Felsen stützt sich ja das ganze Papsttum mit seinen Klöstern, Bi-stümern Kollegien, Altären, Diensten und Lehren … Fällt der sakrilegische und fluch-würdige Messgebrauch, dann muss alles stürzen. Durch mich hat Christus begonnen, den Greuel, der am heiligen Ort steht (Dan 9, 27) zu enthüllen und jenen zu vernichten, der da durch des Teufels Hilfe unter falschen Wundern und trügerischen Zeichen ge-kommen ist“
WA 10, 2, 220: Albert Mock, Abschied von Luther, Psychologische und theologische Reflexionen, Köln 41985, 96.. Angesichts dieser Position des Reformators kann man sich nur wundern, wie leichtfertig die Interkommunion heute gefordert wird und praktiziert wird.
Betrachtet man das Verhältnis, das viele Priester heute zum heiligen Messopfer haben, dann versteht man die verbreitete Tendenz zu ökumenischer Verbrüderung und die häufige Abstinenz der Priester von der Werktagsmesse. Mit dem Verlust des Glaubens an das Geheimnis der Transsubstantiation bei nicht wenigen Priestern ist heute, wenn noch nicht das ganze Glaubensgebäude zusammengestürzt ist, so doch ein großer Teil des „depositum fidei“ irrelevant geworden. Wenn dem so ist, dann ist es kein Problem, jedem die heilige Kommunion zu geben, der sie haben will.
Die ursprüngliche Idee des Reformators war die: Er wollte durch ausschließliche Orien-tierung an Jesus Christus als dem fleischgewordenen Wort Gottes die Fehlentwicklun-gen in der Kirche beseitigen. Als seine Entdeckung der Gnade Gottes, seine Predigten und seine Schriften, besonders seine Bibel, eine breite Wirkung entfalteten, wurde inde-ssen schon bald deutlich, dass er ein anderes Kirchenbild hatte. Damit aber wurde aus der Reform die Reformation. Die Fürsten benutzten die Reformation dann dazu, die Zentralmächte, den Papst und den Kaiser, zurückzudrängen und ihre eigenen Interessen zu verfolgen, ihre Macht, ihre Ehre und ihren Besitz zu vermehren. Es kam so zur Tra-gödie der Spaltung des abendländischen Christentums und der abendländischen Chri-stenheit. Durch sie wurde die mittelalterliche Gesellschaft nachhaltig verändert.
Zunächst entstanden nun unter dem Regiment der Fürsten die evangelischen Landeskir-chen. Allein, allzu bald gab es dann gemäß dem Grundansatz des Reformators eine un-zählbare Fülle von weiteren Konfessionen und neuen Glaubensgemeinschaften.
Noch immer streiten sich die Geister darüber, wo nun genau und an welcher Stelle die Heterodoxie des Reformators ihren Anfang genommen hat. Zur Spaltung der abendlän-dischen Christenheit kam es de facto vor allem unter dem Einfluss der Fürstentümer, wenngleich nicht zu leugnen ist, dass auch Luther sie betrieb, aktiv, und zwar in wach-sendem Maß. Von welchem Zeitpunkt an, darüber gehen die Meinungen auseinander.
Wenn Luther die Sakramente auf zwei reduziert, ist nicht die Reduktion als solche das Bahnbrechende oder das entscheidend Neue, sondern die neue Auffassung von den Sa-kramenten, gemäß der Luther die Sakramente dem Wort unterordnet. Er sieht nämlich in den Sakramenten nicht mehr gnadenwirkende Zeichen oder göttliche Gnadenmittel, son-dern nichts anderes als sichtbare Zeichen der göttlichen Verheißung. Die Sakramente veranschaulichen für den Reformator die Wortverkündigung, ohne dass sie ihr auch nur etwas hinzuzufügen. Hier verläuft die eigentliche Grenzlinie zwischen dem protestanti-schen und dem katholischen Sakraments- und Kirchenverständnis. Im Hinblick auf das Sakraments- und Kirchenverständnis unterscheiden sich die Protestanten allerdings auch wesentlich von den Orthodoxen und von den Alt-Orientalen.
In diesem Zusammenhang sei noch ein Blick auf die Stellung Luthers zur Frau und zur Ehe geworfen. Der Reformator denkt äußerst negativ über die Frau. Für ihn ist sie da zur Befriedigung des Mannes. Er bezeichnet sie einmal als „tolles Tier“. Für ihn gibt es kein Sakrament der Ehe, in dem Mann und Frau in der Liebe Gottes geeint werden. Der Ehe-bruch ist für ihn keine Sünde. Und der Mann hat für ihn gar das Recht auf viele Frauen. Dabei räumt er allerdings der Frau das Recht ein, sexuelle Befriedigung mit einem anderen Mann als dem Ehemann zu haben
Vgl. Alma von Stockhausen, Der Glaube allein. Luthers Theologie – eine Autobiographie, Weil-heim-Bierbronnen 2016, 11 f . 198–200. Dort finden sich auch die Belege im Einzelnen.. Er erklärt einmal selbstbewusst: „Drei Frauen habe ich zugleich gehabt, die dritte, Katharina von Bora, halte ich kaum im lin-ken Arm“
De Wette, Luthers Briefe, Berlin 2010 (Nabu Press Verlag), 646; vgl. Alma von Stockhausen, Der Glaube allein. Luthers Theologie – eine Autobiografie, Weilheim-Bierbronnen 2016, 12.. Dem Landgrafen Philipp von Hessen, einem der bedeutendsten Landesfür-sten und einem mächtigen politischen Führer im Zeitalter der Glaubensspaltung, erlaubt er eine Doppelehe, legt ihm dabei aber deren Geheimhaltung auf, damit sich, wie er fest-stellt, die „groben Bauern“ daran kein Beispiel nehmen
http://www.schmalkalden.com/geschichte-fuehrungen/persoenlichkeiten/landgraf-philipp-von-hessen.html;
http://www.spiegel.de/spiegelgeschichte/unter-todesstrafe-philipp-von-hessen-und-die-bigamie-a-1065512.html.
Da die Ehe für Luther ein „weltlich Ding“ ist, unterliegt sie für ihn dem Wandel der Le-bensweisen und der rechtlichen Vorstellungen. Weithin gilt das im Protestantismus auch heute noch. Wie das freilich zu vereinbaren ist mit den unmissverständlichen Worten Jesu, wie sie uns die Evangelien berichten, das steht in den Sternen. Zu erinnern ist hier vor allem an Kapitel 19 des Matthäus-Evangeliums. Da heißt es: „Habt ihr nicht gelesen, dass der, der am Anfang den Menschen geschaffen hat, ihn als Mann und Frau geschaf-fen hat und gesagt hat: ,Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau, und die beiden werden ein Leib sein. So sind sie nicht mehr zwei Einzelne, sondern ein Ganzes’. Darum: Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden“ (Mt 19, 4–6).
Summa summarum: Der Reformator dachte niedrig über die Frau und über die Sexuali-tät, Letztere beschränkte sich bei ihm keineswegs auf die Ehe. Man wird bei ihm zu-weilen an den Hass erinnert, welcher der Frau in den islamischen Ländern entgegenge-bracht wird
Vgl. Udink, Betsy, Allah & Eva. Der Islam und die Frauen, Beck Verlag München 2007 (aus dem Holländischen von Anna Berger)..
Eine essentielle Moral gibt es nicht für den Reformator. Es ist bezeichnend für seine Ab-wendung von ihr, wenn er die Lüge, die Notlüge, nicht nur für erlaubt, sondern gar für geboten hält, wenn es etwa um die höheren Interessen des Evangeliums geht
Hans-Viktor von Sury, Luther. Eine Kurzvita, in: Paulus Deusdedit, Hrsg, Luther. Wie er lebte, leibte und starb. Das andere ultimative Gesicht zum Lutherjahr, Lauerz 2017, 70..
In den skandinavischen Ländern vollzogen sich die Einführung der Reformation und der Aufbau des neuen Kirchenwesens mehr noch und auch direkter noch unter dem Druck der politischen Kräfte als das in Mitteleuropa der Fall war
Joseph Lortz, Erwin Iserloh, Kleine Reformationsgeschichte (Herder-Bücherei Nr. 242/43), Freiburg i. Br. 1969, 221.. Das gilt speziell für Schwe-den
Ebd. 221.. In Dänemark erklärte der Reichstag von 1536 „das Luthertum zur alleinigen Staatsreligion. Die Bischöfe wurden verhaftet und durch Superintendenten ersetzt, und die Kirchengüter wurden zugunsten der Krone eingezogen“
Ebd. 223.. König Christian IV., der von 1588–1643 regierte, verbot katholischen Priestern gar unter Androhung der Todes-strafe das Betreten dänischen Bodens
Ebd. 224.. In Norwegen wurde die Reformation ganz nach dänischem Vorbild ohne Rückhalt im Volk durchgeführt
Ebd. 225.. Die Folge war, dass sich bei der Landbevölkerung der katholische Glaube noch bis weit über das 16. Jahrhundert hin-aus hielt, etwa in der Gestalt von Wallfahrten oder in der Gestalt der Verehrung der Got-tesmutter und der Verehrung des heiligen Königs Olaf
Ebd.. In Island, das wie Norwegen unter der dänischen Krone war, verfuhr man nicht anders. Die Bischöfe wurden abge-setzt und das Kirchenklostergut wurde für die Krone von Dänemark bestimmt. Auch in Island dauerte es lange, bis das Luthertum „den Zugang zum Herzen des Volkes fand“
Ebd. 226..
In Schweden, das sich von Dänemark löste, war es Gustav Vasa, der 1523 zum König gewählt worden war, der zwar unauffällig, aber doch zielbewusst den Ausbau der Lu-therischen Kirche durchführte. Dabei bemächtigte auch er sich, nicht anders als die an-deren Herrscher, der Kirchengüter. Mehr noch als in anderen Ländern blieben in Schwe-den indessen die äußeren Einrichtungen der Kirche bestehen. Davon erhoffte man sich, dass man die Bevölkerung, speziell die Landbevölkerung, so leichter für den neuen Glauben werde gewinnen können. In Finnland wurde die Reformation dank der Ab-hängigkeit des Landes von Schweden nach dem gleichen Muster eingeführt
Ebd. 226–228..
Man sprach stets von Reform und Reformation, meinte aber einen neuen Glauben. In al-len Fällen wurde er gewaltsam eingeführt
Ebd. 229..
Das gilt nicht allein für die skandinavischen Länder. Die Quellen sprechen hier eine andere Sprache als die allgemeine Meinung. In der Kirchengeschichte von August Schu-chert aus dem Jahr 1956 etwa lesen wir: „Zunächst führte der Kurfürst von Sachsen, Lu-thers Landesfürst, gewaltsam die neue Lehre mit neuem Kult in der Landessprache ein. Ihm folgte der Landgraf Philipp von Hessen, der in seinem Land den katholischen Got-tesdienst verbot. Die Stifte und Klöster wurden säkularisiert, das heißt als Staatseigen-tum erklärt. Katholiken, die standhaft blieben, mussten das Land verlassen“
August Schuchert, Kirchengeschichte II, Bonn 1956, 664.. Weiter heißt es dann: „Nach dem Vorbild von Hessen wurde auch in Braunschweig, Lüneburg, Mecklenburg, Liegnitz, Brieg, Brandenburg, Kulmbach, Ostfriesland und in den Reichs-städten Nürnberg, Celle, Braunschweig, Goslar, Hamburg und anderen die neue Lehre mit Zwang eingeführt … Katholische Pfarrer, die sich nicht fügten, wurden abgesetzt. Ordensleute, die ihren Gelübden treu blieben, kamen in Sammelklöster und erhielten eine Pension. Die Messe wurde nach Luthers Vorschriften in deutscher Sprache gefeiert. Dabei wahrte man äußerlich den Messritus, sogar die Erhebung der Hostie und des Kel-ches blieben, um das katholische Volk zu täuschen, denn den Messkanon und die Wand-lung, das Herzstück der katholischen Messfeier, hatte man als papistisch stillschweigend beseitigt. Vielfach setzte sich das katholische Volk zur Bewahrung seines Glaubens hef-tig zur Wehr. Am bekanntesten ist durch die erhaltenen Tagebuchaufzeichnungen der heldenmütige Kampf der Äbtissin Caritas Pirkheimer und ihrer Klarissen in Nürnberg, die bis zum Tod der letzten Schwester im Jahre 1596 ohne Gottesdienst und ohne geistli-chen Zuspruch in Treue zum katholischen Glauben standen“
Ebd.; vgl. auch Religiöse Quellenschriften, Düsseldorf 1926, Heft 31: Denkwürdigkeiten der Äbti-ssin Caritas Pirkheimer. .
Besonders unduldsam verfuhr man mit den Katholiken im Deutschordensland Preußen, das dank des Übertritts des Hochmeisters Albrecht von Brandenburg-Ansbach (1490 – 1568) in ein weltliches Fürstentum umgewandelt wurde
Joseph Lortz, Erwin Iserloh, Kleine Reformationsgeschichte (Herder-Bücherei Nr. 242/43), Frei-burg i. Br. 1969, 233.. Albrecht hatte an Luther ge-schrieben, aus „menschlichen Fallstricken befreit“ und „zum Licht der wahren Erkennt-nis“ gekommen, habe er den weltlichen Stand angenommen. „Die Priester und Ordens-leute mussten lutherisch predigen und entsprechend lutherische Zeremonien verrichten. Taten sie es nicht, wurden sie ihrer Einkünfte beraubt und aus ihrer Wohnung vertrieben und vor die Wahl gestellt, entweder abzufallen vom katholischen Glauben oder auszu-wandern. Es wurden damals auch die Erinnerungen an den alten Glauben vernichtet, et-wa die Kreuze und die Heiligenbilder auf den Landstraßen, und der Besuch einer be-sonders ehrwürdigen Wallfahrtsstelle wurde gar mit der Todesstrafe geahndet“
Johannes Janssen, Geschichte des deutschen Volkes, Bd. 3 (18. Auflage besorgt von Ludwig Pa-stor), Freiburg i. Br. 1899, 84..
Luther zeigte am Ende seines Lebens einen recht kritischen Schmerz über sein Werk. Darüber berichtet uns Ignaz Döllinger († 1890) in seinem dreibändigen Werk: Die Re-formation, ihre innere Entwicklung und ihre Wirkungen im Umfange des Lutherischen Bekenntnisses
Bd. I, Regensburg 1846, 303 ff.. Schon früh schrieb der Reformator in einem Brief an Zwingli († 1531): „Es ist erschreckend, feststellen zu müssen, dass dort, wo einst alles ruhig und still war und überall der Friede regierte, jetzt im ganzen Land aufrührerische Sekten ent-stehen. Ich muss gestehen, dass meine Lehren viele Skandale hervorgerufen haben. Ja, ich kann es nicht bestreiten: oft erschreckt es mich, besonders wenn mich mein Gewi-ssen daran erinnert, dass ich den ehemaligen Zustand der Kirche zerstört habe, die so ru-hig und friedlich unter dem Papsttum war“
Meinrad Bader, Lehrbuch der Kirchengeschichte zum Gebrauch in Schulen und zum Selbstun-ter-richt, Innsbruck 61906, 200; vgl. Deusdedit (Hrsg.), Luther – wie er lebte, leibte und starb, Lauerz 52017, 50 f; Viktor von Sury, Luther. Eine Kurzvita, in: Deusdedit ..., 76; Remigius Bäumer, Das Zeit-alter der Glaubensspaltung, in: Bernhard Kötting, Hrsg., Kleine deutsche Kirchengeschichte. Zum Be-such des Papstes, Freiburg i. Br. 1980, 68.. Der Luther-Forscher Paul Hacker († 1979) schreibt, der Reformator habe sich gar zeitlebens schwere Vorwürfe gemacht we-gen der neuen Lehre und der von ihm herbeigeführten „Spaltung der Kirche“
Paul Hacker, Das Ich im Glauben bei Martin Luther, Graz 1966, 335. .
Die Enttäuschung des Reformators bezieht sich sowohl auf die Entfaltung der neuen Lehre und des neuen Kirchentums als auch auf die Trennung von der Mutterkirche, die damit verbunden war, also auf die Spaltung der abendländischen Christenheit. Der Re-formator hat es eingesehen und sich eingestanden, dass die Reformation die Verhältnisse allgemein zum Schlechteren gewandelt und in keiner Weise einen moralischen Fort-schritt gebracht hat
Ebd., 335. 267..
Kritisch bemerkt der Philosoph Friedrich Nitzsche († 1900) im Hinblick auf die Refor-mation: „Er (Luther) gab dem Priester das Weib zurück; aber dreiviertel der Ehrfurcht, deren das Volk, vor allem das Weib aus dem Volke fähig ist, ruht auf dem Glauben, dass ein Ausnahmemensch in diesem Punkte auch in anderen Punkten eine Ausnahme sein wird – hier gerade hat der Volksglaube an etwas Übermenschliches im Menschen, an das Wunder, an den erlösenden Gott im Menschen, seinen feinsten und verfänglichsten Anwalt. Luther musste dem Priester, nachdem er ihm das Weib gegeben hatte, die Ohrenbeichte nehmen, das war psychologisch richtig: aber damit war im Grunde der christliche Priester selbst abgeschafft, dessen tiefste Nützlichkeit immer die gewesen ist, ein heiliges Ohr, ein verschwiegener Brunnen, ein Grab für Geheimnisse zu sein. ,Jeder-mann sein eigener Priester’ – hinter solchen Formeln und ihrer bäurischen Verschlagen-heit versteckte sich bei Luther der abgründliche Hass auf den ,höheren Menschen’ und die Herrschaft des ,höheren Menschen’, wie ihn die Kirche konzipiert hatte: – er zer-schlug ein Ideal, das er nicht zu erreichen wusste, während er die Entartung dieses Ideals zu bekämpfen und zu verabscheuen schien. Tatsächlich stieß er, der unmögliche Mönch, die Herrschaft der homines religiosi von sich; er machte also gerade das selber innerhalb der kirchlichen Gesellschaftsordnung, was er in Hinsicht auf die bürgerliche Ordnung so unduldsam bekämpfte – einen ,Bauernaufstand’“
Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Nr. 358..
DIE RECHTFERTIGUNGSLEHRE LUTHERS UND DIE DARAUF BERUHENDEN SONDELEHREN DES REFORMATORS
Luther bekennt sich als Gefangener des Teufels und als auferweckter Teufel. Er erklärt, dass er das tut, was der Teufel ihm eingibt, und dass er nichts anderes tun kann als das. Angesichts dieser Situation fragt er sich: Was ist da zu machen? Die Antwort, die er sich gibt, lautet: Der Glaube allein macht mich selig ohne meine Mitwirkung. Was nun aber den Glauben angeht, ist der Reformator der Meinung, dass dieser allein durch Gott in ihm gewirkt wird, dass Gott es ist, der ihn ergreift und dass er selber dabei nichts zu tun braucht. Der Reformator lehrt, dass der rettende Glaube an die Verdienste Christi im Menschen allein durch Gott gewirkt wird und dass er keinerlei Mitwirkung des Men-schen zur Voraussetzung hat. Reue und Buße sind für ihn von daher nichts anderes als Eingebungen des Teufels. Nur eine einzige Sünde kennt der Reformator, das ist die Sün-de des Unglaubens. Allein, auch der Unglaube kann eigentlich keine Sünde sein für den Reformator, leugnet er doch kategorisch den freien Willen des Menschen. Wenn er aber für die Mitwirkung des Menschen an seinem Heil keinen Raum lässt, dann kann er konsequenter Weise auch keinen Raum lassen für die Mitwirkung des Menschen an sei-ner Verwerfung. Die fehlende Logik ist hier offenkundig. Allein, sie ist ein Struktur-prinzip dieses Glaubens und dieser Theologie. Immerhin ist das, wenn man solche Ge-danken ernst nimmt, die bequemste Religion, die es je gegeben hat
https://www.youtube.com/watch?v=PO13MIejruQ .
Wollte der Reformator zunächst Fehlentwicklungen in der Kirche beseitigen und die Kirche konsequent an Jesus Christus orientieren, verschoben sich hier schon gleich am Anfang die Perspektiven, sofern an die Stelle der Objektivität der Mysterien, die es zu glauben galt, die Subjektivität der „Glaubenserfahrung“ trat. Der Glaube wurde somit in erster Linie als Vertrauen verstanden. An die Stelle des akkusativischen Glaubens trat der dativische Glaube.
Hatte man die offizielle Kirche und mit ihr das objektive Prinzip des Glaubens verla-ssen, musste es zwangsläufig zu immer neuen Gemeinschaften kommen. Auf dieses Ge-setz hatten schon die Kirchenväter immer wieder hingewiesen.
Im Zusammenhang mit der Leugnung des freien Willens behauptet der Reformator die Alleinwirksamkeit Gottes. Sie tritt bei ihm an die Stelle der Allwirksamkeit Gottes, wie sie die überkommene Philosophie und Theologie gelehrt hatten.
Für Luther gibt es den freien Willen nicht. Er meint, wenn Gott dem Menschen einen freien Willen gegeben habe, dann sei er ein Götze, der richtige Gott sei hingegen allein wirksam. Somit sei Gott allein verantwortlich für das Böse. Konsequenterweise wirke er auch allein die Rechtfertigung des Menschen. Man möchte an dieser Stelle jedoch fra-gen, was denn die Rechtfertigung soll, wenn es den Sünder gar nicht gibt, wenn Gott allein verantwortlich ist für das Böse.
Kategorisch bestreitet Luther den freien Willen des Menschen. Dabei lehrt er einen will-kürlichen und strafenden Gott. Mit seiner Lehre von der Alleinwirksamkeit Gottes kämpft er in jedem Fall hartnäckig gegen die Vernunft.
Für Luther gilt also: 1. Gott ist allein verantwortlich für das Böse, und 2. Gott wirkt al-lein die Rechtfertigung des Menschen. Auch da stellt der Reformator die überkommene Philosophie und die überkommene Theologie auf den Kopf. Noch einmal geschieht das, wenn er die Meinung vertritt, dass sich der Mensch zum einen nicht frei entscheiden und dass er zum anderen auch die Wahrheit nicht erkennen kann.
1520 hatte Luther noch einmal in seiner Schrift „De servo arbitrio“ („Über den geknech-teten Willen“) seinen Standpunkt bekräftigt, dass der freie Wille nur ein Name sei, ein Name ohne Sache, da niemand Gutes oder Böses denken könne und alles in absoluter Notwendigkeit geschehe, weshalb der geknechtete Wille nur das ausführen könne, was Gott in ihm bewirke. Wie sehr Luther daran festhält, geht aus einem Brief hervor, den er an seinen Freund Erasmus von Rotterdam († 1536) schreibt, der in diesem Punkt anders denkt als er. In diesem Brief stellt er fest: Nicht um Fegefeuer, Ablasshandel und Papst-tum geht es mir, in allem geht es mir um den geknechteten Willen des Menschen. Für den Reformator gilt also: Gott hat den Menschen zur Perseität des Bösen geschaffen, und der Mensch ist das substanzhafte Böse. Als Geschöpf des bösen Gottes kann er im-mer nur Böses tun. Er ist geschaffen von dem bösen Gott, und die Sünde ist seine Na-tur
Für Luther ist Gott auch böse gegen seinen Sohn, sofern er ihn schon im Himmel getötet hat und dann ein zweites Mal auf Golgotha. .
Für den Reformator ist die Natur, näherhin die Triebnatur, des Menschen die Sünde. Der Reformator identifiziert die Sünde mit der Triebnatur des Menschen. Mehr als einmal finden wir bei ihm sodann die merkwürdige Behauptung: Gott muss Teufel werden, be-vor er überhaupt richtig Gott werden kann
WA 18, 785. 786. 618 f; WA 2, 490, 13–15; WA 40, I, 240; WA 40, II, 417; vgl. Alma von Stock-hausen, Der Glaube allein. Luthers Theologie – eine Autobiographie, Weilheim-Bierbronnen 2016, 9–11..
Entgegen der ganzen christlichen Tradition, die den Menschen immer als Abbild Gottes verstanden hat, versteht Luther den Menschen als Abbild des Teufels. Für ihn gilt: Durch die Ursünde ist die Natur des Menschen der totalen Verderbnis anheimgefallen, durch sie ist der Mensch ein „Reittier des Teufels“ geworden
WA 42, 47, 21..
Es fragt sich, wie der Reformator solche Gedanken begründen will. Mit der Heiligen Schrift kann er das jedenfalls nicht.
Gelegentlich unterscheidet der Reformator zwischen der Entscheidungsfreiheit des Men-schen gegenüber Gott und seiner Gnade im Heilsprozess und der Entscheidungsfreiheit, die Gott dem Menschen für die niedere Schöpfung als „donum“ geschenkt habe
Alma von Stockhausen, Der Glaube allein. Luthers Theologie – eine Autobiographie, Weilheim-Bierbronnen 2016, 9–11.. Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre von 1999 greift diesen Gedanken auf, wenn sie feststellt, der Mensch sei nicht frei auf sein Heil hin. Diese Position ist inde-ssen nicht weniger willkürlich als jene, gemäß welcher die Freiheit des Willens grund-sätzlich nicht gegeben ist.
Wenn nun aber der Mensch gegenüber Gut und Böse keine Entscheidungsfreiheit hat und bloß wie ein Lasttier von Gott oder vom Teufel geritten wird, dann ist er in jedem Fall nicht mehr schuldig, schuldig ist dann allein Gott, der in seiner Allmacht die guten wie auch die bösen Taten des Menschen bewirkt. Das Böse wird dann in Gott hinein-projiziert. Schuld, Reue und Umkehr werden dann gegenstandslos für den Menschen
Ebd.; Hans-Viktor von Sury, Luther. Eine Kurzvita, in: Paulus Deusdedit, Hrsg, Luther. Wie er leb-te, leibte und starb. Das andere ultimative Gesicht zum Lutherjahr, Lauerz 2017, 74 f..
Die Leugnung des freien Willens ist schlichtweg absurd, so absurd wie die Behauptung, der Mensch sei ein hoch entwickeltes Tier. Der freie Wille ist zusammen mit dem Intel-lekt das, was den Menschen zum Menschen macht, was ihn vom Tier unterscheidet. Der freie Wille und der Intellekt, sie sind die entscheidenden Kräfte des menschlichen Gei-stes. Als geistige Gegebenheiten sind sie unseren Sinnen nicht zugänglich sind, wir er-schließen sie jedoch aus ihren Wirkungen.
Auch die Lehre von der Alleinwirksamkeit Gottes ist gegen die Vernunft. Der Vernunft entspricht die Lehre von der Allwirksamkeit Gottes. Sie erhält ihre Bestätigung durch den Glauben bzw. durch die Offenbarung Gottes. Dabei ist das Zusammenwirken Gottes und des Menschen nicht so zu denken, dass Gott und der Mensch sich den „Kuchen tei-len“. Vielmehr ist es so, dass das Wirken des Menschen gänzlich umfangen ist von dem Wirken Gottes.
Stets wirken Gott und der Mensch zusammen. Das gilt auch für die Rechtfertigung des Menschen. Nachdrücklich stellt das Konzil von Trient fest, dass der Mensch mitwirkt bei seiner Rechtfertigung, dass er bei ihr in seiner Freiheit geradezu gefordert ist
Denzinger – Schönmetzer, Nr. 1559..
Was die Rechtfertigung angeht, betont Luther, die Bosheit der Menschen sei so sehr un-überwindlich, dass der Mensch auch als Gerechtfertigter ein Sünder bleibe. Gerechtfer-tigt sei er nur insofern, als Gott bei dem Gerechtfertigten nicht mehr hinschaue und die Sünde nicht mehr anrechne, dass er die Sünde zudecke. Wir sprechen hier von der foren-sischen Gerechtigkeit. Demgegenüber ist die katholische Position und die Position der Christen in den 1500 vorausgehenden Jahren die, dass die Sünde getilgt wird durch die Vergebung, weshalb die Rechtfertigung als seinshafte Umwandlung des Sünders ver-standen werden muss
Alma von Stockhausen, Der Glaube allein. Luthers Theologie – eine Autobiographie, Weilheim-Bierbronnen 2016, 9–11; Hans-Viktor von Sury, Luther. Eine Kurzvita, in: Paulus Deusdedit, Hrsg, Luther. Wie er lebte, leibte und starb. Das andere ultimative Gesicht zum Lutherjahr, Lauerz 2017, 74 f.. Im Unterschied dazu der schreibt Reformator: „Sündigen mü-ssen wir, solange wir hier sind. Das Lamm, welches die Sünden der Welt hinwegnimmt, von diesem wird uns die Sünde nicht losreißen, wenn wir auch tausendmal in einem Tag Unzucht treiben oder totschlagen“
Martin Luther, Epistula ad Jacobum: Johannes Aurifaber, Vol. I, Jena 1556, t. I, p. 545; vgl. De captivitate Babylonica, t. II, p. 284.. An anderer Stelle schreibt er: „Pecca fortiter, sed crede fortius“ – „sündige tapfer, aber glaube noch tapferer“
Joseph Lortz, Die Reformation in Deutschland, Bd. I, Freiburg i. Br. 1939, 294; Hartmann Grisar, Luther, Freiburg i. Br. 1911, 158. Der Satz steht in einem Brief Luthers an Melanchthon vom 1. August 1521. Der vollständige Brief ist nicht erhalten. Der bekannte Teil ist veröffentlicht bei Johannes Auri-faber in dem 1556 zu Jena erschienenen 1. Band von Briefen Luthers auf S. 343 unter dem Titel: Frag-mentum epistulae D. M. Lutheri ad Philippum Melanchthon ex Patmo scriptae, anno MDXXI, reper-tum in Bibliotheca Georgii Palatini. So zitiert bei Hartmann Grisar..
Im Jahre 1521 bezeichnet Luther die Ordensgelübde als „gotteslästerisch, gottlos und abgöttisch“, lehnt er sie ab als gottwidrige Versuche der Selbstrechtfertigung
So in seiner Schrift „Themata de votis“: WA 8, 324, 28 f; 8, 324, 30; 8, 325, 3; vgl. Harm Klüting, „Solch gotteslästerliches, gottloses, abgöttisches Gelübde wird den Teufeln gelobt“, in: Forum Katho-lische Theologie 33, 2017, 258 f. und rechtfertigt somit seine bald darauf erfolgende formelle Distanzierung von den eigenen Gelübden.
Nach protestantischer Auffassung wird der Mensch in der Rechtfertigung gerecht er-klärt, während er nach katholischer Auffassung gerecht gemacht wird. Die Konsequenz der protestantischen Auffassung ist die, dass der Gerechtfertigte „simul peccator et iu-stus“ ist, dass er gleichzeitig ein Sünder ist und ein Gerechtfertigter. Das aber ist wider-sprüchlich, paradox, das kann die Vernunft nicht nachvollziehen. Gerechtfertigt ist der Gerechtfertigte im protestantischen Verständnis allerdings nur insofern, als die Sünde ihm nicht angerechnet, insofern als sie nur zugedeckt wird. Die Rechtfertigung ist also nur deklaratorisch. Demgegenüber ist die Rechtfertigung des Sünders im katholischen Verständnis ontologischer Natur. „Ex iniusto fit iustus“ – „aus dem Ungerechten wird ein Gerechter“ sagt das Konzil von Trient in Frontstellung gegen die widersprüchliche Position der Reformatoren
Denzinger – Schönmetzer, Nr. 1528. .
Abgesehen davon, dass die Formel „simul peccator et iustus“ in sich widersprüchlich ist, kann auch Gott nicht jemanden als gerecht und heilig erklären, der in Wahrheit ein Sün-der ist. Eine solche Erklärung wäre nicht nur widersprüchlich, sie wäre auch mit der Wahrhaftigkeit Gottes nicht vereinbar, und sie würde schließlich auch seine Vollkom-menheit und seine Heiligkeit verletzen
Vgl. Norbert Clasen, Ist eine „Neubewertung Martin Luthers als Zeuge des Glaubens aus katholi-scher Sicht“ möglich?, in: Una Voce Korrespondenz, 47. Jg., 2. Quartal, 2017, 255 f..
Die Gemeinsame Erklärung des Lutherischen Weltbundes und der Katholischen Kirche zur Rechtfertigungslehre von 1999 übersieht nicht zuletzt, dass das protestantische Ver-ständnis der Sünde ein anderes ist als das katholische. Dazu stellt der emeritierte Kir-chenrechtler von Mainz, Georg May (* 1926), fest: „Für den Protestantismus ist ... die Konkupiszenz, also die Neigung zur Sünde, die im Gerechtfertigten bleibt, eine Sünde. Aber die Neigung zur Sünde ist eben, richtig verstanden, keine Sünde. Sie stammt zwar aus der Sünde, aus der Ur- und Erbsünde, aber sie ist keine Sünde, keine aktuelle Sünde. Eine aktuelle Sünde ist immer nur eine Verletzung des Willens Gottes in einer bestimm-ten Sache. Hier wird die Konkupiszenz zur Sünde gestempelt, im Gegensatz zum Kon-zil von Trient, das eigens erklärt: Die Konkupiszenz ist dem Menschen zum Kampfe be-lassen, aber sie ist keine Sünde
Denzinger – Schönmetzer, Nr. 1515.. Die Akzeptierung der odiosen Formel ,simul iustus et peccator’ (zugleich Gerechter und Sünder)
In der Gemeinsamen Erklärung von 1999. ist eine schwere Verletzung des Glaubens des Konzils von Trient“
http://www.glaubenswahrheit.org/predigten/chrono/1999/19991101/.. Zu Recht kritisiert Georg May an dieser Stelle die Gemein-same Erklärung, sofern sie die Formel „simul peccator et iustus“ für vereinbar hält mit dem katholischen Glauben
Ebd. Es ist geradezu kurios, dass die Gemeinsame Erklärung, auf die man große Hoffnung gesetzt hat, gleich am Anfang durch 200 evangelische Theologen öffentlich abgelehnt wurde. Auf katholi-scher Seite war die Zustimmung beinahe ungeteilt, obwohl die römische Glaubenskongregation eine Reihe von Korrekturen gefordert hatte. De facto ist sie ohne Fundament, die Gemeinsame Erklärung. Einer fundierten Kritik hat sie der spätere Kardinal Leo Scheffczyk zusammen mit dem Fundamental-theologen François Reckinger unterzogen (François Reckinger, Leo Scheffczyk, Teilkonsens mit vielen Fragezeichen. Zur Gemeinsamen Erklärung über die Rechtfertigungslehre und ihrem Nachtrag, St. Ot-tilien 1999). Selbstverständlich hat die Gemeinsame Erklärung weder die Garantie der Rechtgläubig-keit von Seiten des Lehramtes der Kirche, noch hat sie für den Katholiken rechtliche oder dogmatische Verbindlichkeit. . De facto tritt auch hier eine Ökumene der Gefälligkeit an die Stelle einer Ökumene der Wahrheit.
Nach protestantischer Auffassung rechtfertigt den Sünder allein der Glaube, der Glaube, verstanden als Vertrauen. Es ist die Barmherzigkeit Gottes, die den Sünder bei bleiben-der Sündigkeit rettet. Wir sprechen hier von dem Fiduzialglauben, von dem Vertrauens-glauben
Der Fiduzialglaube hebt einseitig das Vertrauensmoment im Glaubensakt hervor. Der katholische Glaubensbegriff ist demgegenüber ausgeglichener, wenn er beim Glaubensakt zwischen der Glaubens-zustimmung, dem Vertrauensmoment, und dem Glaubensinhalt unterscheidet, zwischen dem dativi-schen und dem akkusativischen Moment im Glaubensakt oder dem „Du-Glauben“ und dem „Dass-Glauben“. Der Dativ bestimmt den Glaubensakt formal, der Akkusativ material.. Nach katholischer Auffassung hingegen setzt die Erlangung der Barmherzig-keit Gottes die Abkehr von der Sünde voraus. Zudem ist im katholischen Verständnis auch der Glaubensinhalt relevant für den rechtfertigenden Glauben. Und schließlich ist der rechtfertigende Glaube nach katholischer Auffassung notwendigerweise mit der Hoffnung und mit der Liebe verbunden. Denn nur dann kann der Glaube den Sünder rechtfertigen, wenn er wirksam ist in der Hoffnung und in der Liebe, in der Hoffnung auf Gottes Verzeihung und in der Liebe zu dem gnädigen Gott. Wir sprechen hier von dem Glauben, der in der Liebe Gestalt angenommen hat, von der „fides caritate forma-ta“. Gerechtfertigt wird der Sünder durch den durch die Liebe durchwalteten und beleb-ten Glauben
Denzinger – Schönmetzer, Nr. 1578.- Zudem hat der rechtfertigende Glaube nach katholischer Auffassung im-mer auch einen Inhalt, immer ist er auch Bekenntnisglaube, sofern er all das bejaht, was Gott uns geoffenbart hat. Mit anderen Worten: Der rechtfertigende Glaube ist nach kat-holischer Auffassung zugleich Vertrauensglaube und Bekenntnisglaube.
Rechtfertigung allein aus Gnade, das gilt nur für die erste Rechtfertigung, die Verset-zung aus dem Zustand der Todsünde oder auch der Ursünde in den Zustand der Gnade. Was die erste Rechtfertigung angeht, ist der Mensch in der Tat unfähig, das Heil durch Werke des Gesetzes zu erwerben. Hier ist Gott der entscheidend Wirksame, aber eben nur der entscheidend Wirksame, jedenfalls im Fall der Erwachsenentaufe, denn wenn der Mensch zum Gebrauch des Verstandes gekommen ist, kann auch die erste Rechtfer-tigung ihm nicht zuteil werden ohne seine freie Zustimmung. Die zweite Rechtfertigung, die beim persönlichen Gericht oder beim Endgericht erfolgt, setzt aber voraus, dass der Mensch Werke aufzuweisen hat. Sie setzt notwendig die Werke voraus als Bedingung des Heils, wie es das 25. Kapitel des Matthäus-Evangeliums deutlich macht.
Nach katholischer Lehre sind die guten Werke, die der Rechtfertigung nachfolgen, also die Früchte der Rechtfertigung, verdienstlich für den Gerechtfertigten. Auch das würde der Reformator nicht geltem lassen. Es ist bezeichnend, dass das Wort „Verdienstlich-keit“ in der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre von 1999 in Anführungs-zeichen gesetzt ist. Der Protestant kann diesen Begriff in der Tat nur im uneigentlichen Sinn verwenden.
Die Konsequenz der reformatorischen Rechtfertigungslehre ist die Gewissheit des Heils. Luther meint, im Vertrauen auf die Zusage Gottes könne der Mensch sich seines Heils gewiss sein. Anderes sagt hier indessen der katholische Glaube. Nach katholischer Lehre gibt es sie nicht, die Heilsgewissheit. Der Mensch kann das ewige Heil erhoffen, und er kann darauf vertrauen, dass es ihm zuteil wird, aber eine Gewissheit, dass er im Gna-denstand ist, also eine Gewissheit, dass er in den Himmel kommen wird, die gibt es nicht. Ausdrücklich ist sie durch das Konzil von Trient zurückgewiesen worden
Ebd., Nr.Nr. 1534. 1540. 1565. 1566.. Ge-wiss, glauben heißt, sich ganz Gott anvertrauen, aber dieses Sich-Gott-Anvertrauen ist nicht eine Garantie dafür, dass man gerettet ist. Immerhin gilt, dass wir das, was wir er-hoffen, noch nicht erreicht haben
http://www.glaubenswahrheit.org/predigten/chrono/1999/19991101/. Angesichts der reformatorischen Gewissheit des Heils ist die Ewigkeit der Hölle letzten Endes nur noch rein deklamatorisch, obwohl die Sprache der Schrift auch eine andere ist.
Von daher ist der moderne Heilsoptimismus und im Grunde auch die so genannte Apo-katastasis-Lehre eines Origenes († 254), auf die sich der katholische Theologe Hans Urs von Balthasar († 1988)
Vgl. Hans Urs von Balthasar, Kleiner Diskurs über die Hölle – Apokatastasis (Neue Kriterien, 1), 52013. beruft, dem Protestantismus gleichsam systemimmanent. Da wird die Sünde schließlich nicht mehr ernst genommen, weder die Sünde noch der Heilswille Gottes.
Bereits das protestantische „es gibt in Wirklichkeit keine Sünde mehr, weil Christus sie auf seinen Leib genommen hat“, was ursprünglich anders gedacht war, führt konsequent zu dem modernen „Nicht-mehr-ernst-nehmen“ von Sünde und Erlösung
Vgl. Röm 8, 19: Theobald Beer, Der fröhliche Wechsel und Streit. Grundzüge der Theologie Martin Luthers, Einsiedeln 1980, 187. Im Protestantismus ist sie zentral, die Heilsgewissheit. Daran halten die Protestanten im Allgemeinen fest, auch wenn sie sonst nicht kleinlich sind in der Aufgabe von Heilsin-halten bzw. Glaubensinhalten. .
Der Philosoph Robert Spaemann (* 1927) stellt in diesem Zusammenhang fest: Wo die Gefahr nicht real ist, die Gefahr der Verwerfung, da ist auch die Rettung nicht real, da wird das Christentum trivial
Vgl. Robert Spaemann, Was ist Fortschritt? Ein Essay und ein Interview (Schriftenreihe der Christ-königsjugend, 2), 17 f (Hrsg. und Bezugsadresse: Michael Erhardt, Emsring 12, Herne 1). .
Die Behauptung der Heilssicherheit oder auch des Heils für alle ist im Grunde frivol. Ja, bereits die Hinnahme dieser Konsequenz ist es. Letzten Endes widerspricht sie jeder ge-sunden Vernunft, ganz zu schweigen von den diesbezüglichen klaren Aussagen der Hei-ligen Schrift
Bei dem Propheten Jeremia heißt es einmal: „Immerzu sagen sie denen, die das Wort des Herrn ver-achten: Das Heil ist euch sicher, und jedem, der dem Trieb seines Herzens folgt, versprechen sie: Kein Unheil kommt über euch“ (Jer 23, 17). Und bei Ezechiel heißt es: „Sie führen mein Volk in die Irre und verkünden Heil, wo kein Heil ist, und, wenn das Volk eine Mauer aufrichtet, dann übertünchen sie sie“ (Ez 13, 10). Die Mauern, das sind die Fakten, die von den Menschen gesetzt werden und wie eine Wand dastehen, so z. B. das Zusammenleben vor der Ehe oder ohne Ehe, die Wiederverheiratung nach einer zivilen Scheidung und was sonst noch gang und gäbe ist heute. Nicht wenige Priester über-tünchen diese Mauer gar mit ihrem Segen, an dessen Wirksamkeit sie indessen wahrscheinlich selber schon lange nicht mehr glauben. Mit dem Segen machen sie Politik..
Die Rechtfertigungslehre ist das Zentraldogma der reformatorischen Christen. Von ihm her beurteilen sie alles, was in der Kirche geglaubt und getan wird. Jedenfalls in der Theorie. Natürlich sieht die Praxis hier oftmals ganz anders aus.
Würde die katholische Kirche die protestantische Rechtfertigungslehre übernehmen, wie es die Gemeinsame Erklärung von 1999 zumindest nahelegt, dann müsste sie konse-quenterweise all jene protestantischen Forderungen übernehmen, die im Anschluss an die Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung laut wurden. Sie müsste dann den Ab-lass abschaffen und die „Abendmahlsgemeinschaft“ herstellen oder akzeptieren. Ja, sie müsste gar das hierarchische System der Kirche als solches abschaffen. Denn wenn wir das Heil allein durch Glauben erlangen, dann hat weder das Bußsakrament noch einen Sinn noch das Priestertum noch das Messopfer. Dann erübrigen sich alle Sakramente, dann ist im Grunde die gesamte Ekklesiologie Makulatur geworden und noch vieles an-dere. Der Subjektivismus ist dann perfekt und mit ihm das Denken im Widerspruch
http://www.glaubenswahrheit.org/predigten/chrono/1999/19991101/. Wenn Papst Benedikt XVI. in seinem Pontifikat die Diktatur des Relativismus immer wieder anprangert, so meint er im Grunde diese Gestalt des Denkens, die sich als ein Denken darstellt, in dem sich das Denken selber aufhebt.
Wenn der Reformator der Meinung ist, das Zentraldogma der Reformation, die Recht-fertigungslehre, werde durch die Heilige Schrift bezeugt, die Heilige Schrift bezeuge dieses „Dogma“ eindeutig, sie bezeuge eindeutig, dass der Mensch nicht durch eigenes Zutun gerecht werde, sondern allein durch den Glauben, so ist es ein Leichtes, zu zeigen, dass diese Auffassung nicht haltbar ist.
Liest man etwa die Briefe des Apostels Paulus im Zusammenhang und vergleicht sie mit den übrigen Schriften des Neuen Testamentes, muss man feststellen, dass da nirgendwo die Meinung vertreten wird, dass der Mensch ohne eigenes Zutun gerecht wird. Das „al-lein aus dem Glauben“ ist eine Erfindung des Reformators, der die relevante Stelle des Römerbriefes, Kapitel 3, Vers 28, im Sinne seiner besonderen Rechtfertigungslehre hat verstehen wollen und deshalb die Rechtfertigung „aus dem Glauben“ durch die Hinzufü-gung des Wörtchens „allein“ ergänzt hat. Diesen Zusatz kann er jedoch mit keiner alten Bibelhandschrift belegen.
Zu bedenken ist hier auch, dass der uns bei Paulus häufig begegnende Gegensatz von „Glaube und Werke“ sich zunächst nicht auf die Glaubenspflichten der Christen bezieht, sondern auf die Gesetzesreligion des Alten Bundes.
Was die Notwendigkeit der Werke für die Rechtfertigung angeht, erklärt Georg May: „Paulus warnt uns vor jedem Versuch der Selbsterlösung nach dem Motto: Gott muss mich in den Himmel lassen, weil ich so gut bin. Aber er warnt uns ebenso davor, auf Gottes Erlösungswirken unsere menschliche Antwort zu verweigern“
Ebd..
Zudem: Wenn allein der Glaube rechtfertigt, wenn der Glaube allein genügt für das See-lenheil des Menschen, warum hat Gott dann dem Mose die 10 Gebote gegeben? Und warum Jesus dann die Bergpredigt gehalten? Wiederholt erklärt Jesus, dass das Tun ent-scheidend ist für das Heil des Menschen. Immer wieder verweist er auf das rechte Tun des Menschen als Bedingung für das Heil. Hier sei nur an zwei Stellen erinnert: Im 7. Kapitel des Matthäus-Evangeliums heißt es: „Nicht jeder, der zu mir ,Herr Herr’ sagt, wird in das Himmelreich eingehen, sondern wer den Willen meines Vaters tut, der im Himmel ist“ (Mt 7, 21). Und im 10. Kapitel der Lukas-Evangeliums heißt es: „Da trat ein Gesetzeslehrer an Jesus heran und fragte ihn: Was muss ich tun, um das ewige Leben zu erlangen ... “ (Lk 10, 25). Ihm gibt Jesus die Antwort: „Halte die Gebote!“ In ähnli-cher Weise erklärt er dem reichen Jüngling, der ihn fragt, wie er das ewige Leben ge-winnen kann: „Willst du zum Leben eingehen, so halte die Gebote“ (Mt 19, 17).
Allgemein ist festzuhalten, dass gerade der Apostel Paulus großen Wert gelegt hat auch auf die guten Werke. Ohne Zweifel hat er sie als heilsnotwendig angesehen. An nicht wenigen Stellen spricht er ausdrücklich über deren Bedeutung
Nur auf folgende Stellen sei hier verwiesen: Röm 2,7. 13; 13, 11–14; Kol 1, 10; Tit 3, 8. 14. ,, thematisiert er die Be-ziehung, die zwischen dem Glauben und den guten Werken besteht
So etwa: Röm 3, 20. 28; 4, 2; 9, 32; 11, 6; Gal 3, 2. 5; Eph 2, 8 f. Tit 3, 5; vgl. Andreas Theurer, Warum werden wir nicht katholisch? Denkanstöße eines evangelisch-lutherischen Pfarrers, Augsburg 52013, 83 f..
Wir müssen das Gute tun und das Böse lassen. Das ist eine Grundaussage des ganzen Neuen Testamentes, ja, eine Grundaussage der Bibel überhaupt.
Der Weltkatechismus zitiert in diesem Zusammenhang das Augustinus-Wort: „Gott hat uns erschaffen ohne uns, er wollte uns aber nicht retten ohne uns“
Weltkatechismus, Nr. 1847: Augustinus, Sermo 169, 11, 13..
Die Lehre Luthers ist hier fragmentarisch und in vielfacher Hinsicht gegen die Vernunft, ja, widersprüchlich. Das zeigt sich allerdings nicht nur hier. Immer wieder machen wir die gleiche Erfahrung, wenn wir nur genauer hinschauen.
Der hoch gebildete Humanist Erasmus von Rotterdam († 1536) fragt Luther in seinem Traktat „De libero arbitrio“: „Wie kann die Verachtung des Gebotes zugerechnet wer-den, wo kein freier Wille ist? Wie kann Gott zur Buße locken, da er der Urheber der Un-bußfertigkeit ist? Wie kann die Verdammnis gerecht sein, wo der Richter zur Übeltat zwingt?“
Vgl. http://www.glaubensstimme.de/doku.php?id=autoren:l:luther:v:vom_unfreien_willen_2: Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften, Bd. IV, Darmstadt 1969, 69 ff. Sodann stellt er fest: „Weder die Natur noch die Notwendigkeit haben ein Verdienst”
Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften, Bd. IV, Darmstadt 1969, 75.. Und er weist darauf hin, dass doch die Menschen danach beurteilt werden, ob ihnen ein Verdienst zukommt oder nicht, ob sie, anders gesagt, gut sind oder böse. Und schließlich fragt er noch einmal: „Wie kann ein Mensch Böses wirken, wenn er nichts frei gewollt, sondern alles mit Notwendigkeit tut?“
Ebd., 83. 81–83.
Erasmus erinnert auch daran, dass die Bibel den Gehorsam der Gläubigen lobt. Das aber wäre sinnlos, so stellt er fest, „wenn wir für Gott zu den guten und in gleicher Weise zu den bösen Werken nur ein solches Spielzeug“ wären, „wie (etwa) die Axt für den Zim-mermann”
Ebd., 89. Zur Auseinandersetzung Luthers mit Erasmus von Rotterdam über „De libero arbitrio“ vgl. Artikel von Otto Kuss „Über die Klarheit der Schrift. Historische und hermeneutische Überlegun-gen zu der Kontroverse des Erasmus und des Luther über den freien oder versklavten Willen, in: Jo-sef Ernst, Schriftauslegung. Beiträge zur Hermeneutik des Neuen Testamentes und im Neuen Testa-ment, München 1972 89–149..
Die Freiheit des Menschen ist durch die Erbsünde verletzt. Das ist nicht zu leugnen. Und der Mensch ist infolge der Erbsünde zum Bösen geneigt. Die Erbsünde hat ihm jedoch nicht die Freiheit genommen. Nach wie vor kann er sein Heil wirken, freilich im Zu-sammenwirken mit der göttlichen Gnade. Das sagt uns der Glaube. Das sagt uns aber auch schon, wenn wir tiefer nachdenken, die Vernunft.
Schon deswegen muss an der menschlichen Freiheit festgehalten werden, weil sonst ein willkürlicher Gott die einen zum ewigen Heil und die anderen zur ewigen Verdammnis bestimmt hätte oder bestimmen würde, es sei denn Gott würde alle zur Vollendung füh-ren, unabhängig von ihrem Tun und Lassen. Welchen Sinn hätten aber dann die Menschwerdung Gottes und die Erlösung gehabt?
Was der Reformator in seiner Rechtfertigungslehre nicht berücksichtigt, das ist die Tat-sache, dass der Mensch zwar ohne Gott nichts Gutes tun kann, dass er das Gute jedoch tun und sich frei dafür entscheiden kann, wenn Gott ihm zu Hilfe kommt. Genau das sa-gen die Glaubensurkunden der Kirche, das Alte und das Neue Testament. Zudem be-lohnt Gott die guten Werke, ohne dass der Mensch einen Anspruch daraus ableiten kann, wie es das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20, 1–16) zum Ausdruck bringt. In der Theologie sprechen wir hier von dem „meritum de condigno“ und dem „meritum de congruo“, von dem Verdienst des Anspruchs und der Angemessenheit. Das eine gibt es nicht im Verhältnis des Menschen zu Gott, wohl jedoch das andere.
Der Katholik geht davon aus, dass der Mensch der Gnade Gottes bedarf, um das Gute tun zu können. Ehern ist das Christus-Wort: „ ... ohne mich könnt ihr nichts tun“ (Joh 15, 5. 16). Der Katholik setzt jedoch an die Stelle der reformatorischen Lehre von der Alleinwirksamkeit Gottes die überlieferte Lehre von der Allwirksamkeit Gottes. Letztere meint das Zusammenwirken Gottes mit dem Menschen, das in je verschiedener Weise im Bereich des Übernatürlichen wie auch im Bereich des Natürlichen seine Gültigkeit hat, von dem im übrigen auch die Reformatoren über 1500 Jahre hin überzeugt gewesen sind.
Schon die natürliche Vernunft sagt uns, dass nur ein in der Liebe wirksamer Glaube uns retten kann. Wenn der Stammvater des auserwählten Volkes, Abraham, in der Schrift als gerecht bezeichnet wird, bezieht sich das nicht allein auf den Glauben, in dem er Gott begegnet ist. Ein wesentliches Element seiner Gerechtigkeit ist der Gehorsam, in dem er sich dem Willen Gottes unterwirft. Der aber ist wiederum ein wesentliches Element des Glaubens. Im Glaubensgehorsam verlässt Abraham seine Heimat und begibt sich in eine ungewisse Zukunft. Ausdrücklich erklärt der Jakobusbrief schließlich, dass der Glaube tot ist ohne die Werke (Jak 2, 20).
Wenn der Reformator auch die Heilsnotwendigkeit der Kirche leugnet, muss das allein als Konsequenz seiner verfehlten Rechtfertigungslehre verstanden werden. Hier ist es die Gottunmittelbarkeit des Menschen, die jede Form der Heilsvermittlung überflüssig macht für ihn. Der Reformator erklärt: Ich brauche kein Lehramt, keine Sakramente und keinen Papst. Alle sind wir Priester! Darum kann seiner Meinung nach jeder über die Rechtheit der Lehre urteilen. Den Papst nimmt er allerdings davon aus, wenn er ihn den größten Esel nennt, weil er seiner Meinung nach die Schrift nicht kennt
Hans-Viktor von Sury, Luther. Eine Kurzvita, in: Paulus Deusdedit, Hrsg, Luther. Wie er lebte, leib-te und starb. Das andere ultimative Gesicht zum Lutherjahr, Lauerz 2017, 71 ff..
Auch das Bußsakrament braucht Luther eigentlich nicht mehr, zum einen deshalb, weil der Glaube allein die Rechtfertigung des Menschen vollbringt für ihn, und zum anderen deshalb, weil die Sünde für ihn nicht unsere Tat ist. Und die Eucharistie ist nichts ande-res für ihn als die Erinnerung an den Tod Jesu. Desgleichen hält er nicht mehr fest an der überkommenen Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, sofern er die Seele als Gras be-schreibt, das verdorrt. Der einzige Glaubenssatz, an dem der Reformator noch festhält, ist schließlich die Unfreiheit des Willens. Zumindest ist sie einer der wenigen Glaubens-sätze, auf denen das neue System, wenn man hier überhaupt noch von einem System sprechen kann, aufbaut
Ebd.. Die Praxis ist hier allerdings eine andere.
Wie kann man da sagen, dass das uns, die Protestanten und die Katholiken, Verbindende größer ist als das Trennende? Das wird jedoch immer wieder vor allem von den katholi-schen Vertretern vorgebracht. Auch Papst Franziskus bediente sich kürzlich dieses To-pos bei seinem Besuch in Lund
https://www.tagesschau.de/ausland/reformation-lund-105.html. Anders hingegen sagen es renommierte evangelische Theologen wie Adolf von Harnack († 1930) und Karl Heussi († 1961), wenn sie den Protestantismus als eine neue Form des Christentums bezeichnen, wenn sie betonen, dass die Reformation einen neuen Glauben gebracht hat
Vgl. Ulrich Paul Lange, Gründe und Methoden der „Reformation“, in: Theologisches 10, 2001, 435.. Genau das ist die Wahrheit. Wird das nicht mehr gesehen und verschließt man die Augen vor den wirklichen Unter-schieden im Glauben oder spielt man sie herunter, dann verfällt man einem Ökumenis-mus der Unehrlichkeit. Für ihn sind schließlich alle Konfessionen und gar auch alle Re-ligionen gleich wahr, was natürlich auch gegen die Vernunft ist. Ein solcher Ökumenis-mus stellt einfach Widersprüche nebeneinander und macht sich somit überflüssig. Mit ihm verfällt man jenem Indifferentismus, den die Kirche seit eh und je entschieden zu-rückgewiesen hat.
Kritiker haben gemeint, was am Ende für den Reformator noch übrig bleibe vom über-kommenen Christentum, das sei der gigantische Kampf zwischen Gott und dem Men-schen, ein Kampf, in dem der böse Gott mit dem bösen Menschen kämpfe. In ihm sehe der Reformator letzten Endes die entscheidende Wahrheit des Seins
Hans-Viktor von Sury, Luther. Eine Kurzvita, in: Paulus Deusdedit, Hrsg, Luther. Wie er lebte, leibte und starb. Das andere ultimative Gesicht zum Lutherjahr, Lauerz 2017, 74 f..
Philipp Melanchthon, der Freund und Gefährte Luthers, ist es gewesen, der die wider-sprüchliche und eigentlich nicht nachvollziehbare reine Lehre des Reformators auf ein menschlich und theologisch vertretbares Maß zurückgeschraubt hat. Er hat das vor allem als Schöpfer des Augsburger Bekenntnisses von 1530 getan, in dem er sich deutlich dem katholischen Glauben wieder angenähert hat. Allein, diese Richtung, auch das Augsbur-ger Bekenntnis, hat sich nicht durchgesetzt
Ebd..
Der Reformator hebt die fundamentale Bedeutung der Bibel für den Glauben hervor und rückt die Autorität der Bibel ins Licht. Das muss anerkannt werden. Er vertritt damit ein durchaus katholisches Anliegen. Gegen den katholischen Glauben verfehlt er sich je-doch, wenn er sich in seiner Person über die Autorität der Bibel erhebt, wenn er für sich in Anspruch nimmt, letzte Urteile über die Inhalte der Bibel abzugeben und die Bibel verbindlich auszulegen. De facto etabliert er sich als ein neues Lehramt, stellt er das Lehramt seiner Person gegen das Lehramt der Kirche und erhebt er den Anspruch, in seiner Person der von Gott gesandte Interpret der Schrift zu sein, der zu sein, der den wahren Sinn der Schrift frei legt. Im Hinblick auf den Glauben beansprucht er das Wahrheitsmonopol, weshalb er jedem, der eine Schriftstelle anders deutet als er, mit un-versöhnlichem Zorn begegnet
Vgl. Erwin Iserloh, Johannes Eck (1486–1543), Münster i. W. 1981, 39 f; Remigius Bäumer, Johan-nes Cochläus (1479–1552), Münster i. W. 1980, 32; Ulrich Paul Lange, Gründe und Methoden der „Reformation“, in: Theologisches, 10, 2001, 444. Der Luther-Forscher Joseph Lortz spricht in diesem Zusammenhang von einem „massiven Selbstwiderspruch“, der dadurch nicht geringer werde, dass die protestantische Forschung dem kaum Beachtung schenke (vgl. Joseph Lortz, Erwin Iserloh, Kleine Re-formationsgeschichte, Freiburg i. Br. 1969, 233)..
Das hat zur Folge, dass er in nicht wenigen Fällen die Heilige Schrift nachweislich ent-sprechend seinen Vorentscheiden deutet. Der Luther-Forscher Theobald Beer († 2000) hat anhand einer Vielzahl von Belegen gezeigt, dass der Reformator sich immer dann souverän über den Text der Schrift hinwegsetzt, wenn er mit seiner eigenen vorgefassten Meinung nicht übereinstimmt
Theobald Beer, Der fröhliche Wechsel und Streit. Grundzüge der Theologie Martin Luthers, Einsie-deln 1980. Verwiesen sei hier auch auf das Buch von Paul Hacker, Das Ich im Glauben bei Martin Lu-ther, Graz 1966.. Auf dieses Factum hatte allerdings schon früher der Luther-Forscher Joseph Lortz († 1975) hingewiesen
Joseph Lortz, Die Reformation in Deutschland, Bd. II, Freiburg i. Br. 1939, 293.. An nicht wenigen Stellen assi-miliert und vergewaltigt der Reformator den Text der Heiligen Schrift und passt ihn seinem Verständnis und seinen Bedürfnissen an. Mit Vorliebe zitiert er Paulus als seinen Gewährsmann. Das hindert ihn jedoch nicht daran, auch bei den Paulusbriefen zu selektieren und sie gegebenenfalls auf die eigenen Bedürfnisse zuzuschneiden.
Durchgängig hat der Reformator „die biblischen Mehrzahlausdrücke – vielleicht ohne darüber besonders nachzudenken, aber durchgängig und konsequent – in Einzelaus-drücke umgesetzt“. So wird beispielsweise aus dem Paulus-Wort Röm 8, 31: „Wenn Gott für uns ist, wer könnte gegen uns sein“ bei ihm: „Wenn Gott für mich ist, wer kann gegen mich sein”
Paul Hacker, Das Ich im Glauben bei Martin Luther, Graz 1966, 87..
Wenn Luther auf der einen Seite die fundamentale Bedeutung der Bibel für den Glauben hervorgehoben und die Autorität der Bibel ins Licht gerückt hat, auf der anderen Seite aber sich selbst in seiner Person über die Autorität der Bibel erhoben hat, so ist auch das widersprüchlich, gleichzeitig aber wiederum auch bezeichnend
Albert Mock, Abschied von Luther, Psychologische und theologische Reflexionen zum Lutherjahr, Köln 1985, 76 f. .
Ein weiterer Gedanke sei hier angefügt: Wenn immer wieder festgestellt wird, Luther habe als Erster die Bibel übersetzt, so entspricht das nicht ganz der Wahrheit. Tatsäch-lich waren vor Luther bereits 130 deutsche Bibelübersetzungen im Druck erschienen. Davon waren 14 vollständige oberdeutsche Bibelübersetzungen und 4 niederdeutsche. Hinzukommen etwa 100 Drucke von Postillen, also Episteln und Evangelien in deut-scher Sprache mit Erklärungen
Joseph Gottschalk, Kirchengeschichte, Bonn 71968, 114.. In der Nachfolge Christi des Thomas von Kempen († 1471) lesen wir lange vor Luther: „Der Leib Christi und die Heilige Schrift tun der gläu-bigen Seele sehr not“
Thomas von Kempen, Nachfolge Christi, 4. Buch, 11. Kapitel.. Bei Thomas von Kempen, ist die Rede von zwei Tischen, dem Tisch des Wortes und dem Tisch des Allerheiligsten Altarssakramentes. Dennoch muss zugegeben werden, dass die Bibelübersetzung Luthers zu einer enormen Verbreitung der Bibel geführt hat, ja, dass die Bibel in diesem Kontext zu einem wahren Volksbuch ge-worden ist. Die Übersetzung Luthers war jedoch – das wird vielfach nicht gesagt – „zu-gleich eine Interpretation des Textes im Sinne seiner theologischen Ansichten“
Remigius Bäumer, Das Zeitalter der Glaubensspaltung, in: Bernhard Kötting, Hrsg., Kleine deut-sche Kirchengeschichte. Zum Besuch des Papstes, Freiburg i. Br. 1980, 60..
Dank der exzessiven Erbsündenlehre Luthers besteht im Protestantismus übergroße Skepsis gegenüber der Vernunft. An die Stelle der Vernunft treten in der protestanti-schen Theologie und in der protestantischen Glaubensverkündigung das Gefühl, das subjektive Erleben und das Denken in Widersprüchen. Demgemäß ist in der protestanti-schen Theologie und in der protestantischen Glaubensverkündigung immer wieder die Rede vom Paradox. Allein, das Paradoxe können wir weder denken, noch kann es exi-stieren. Was nicht vernünftig ist, was der Vernunft widerstreitet, kann weder gedacht werden noch kann es existent sein. Das ist evident. Widersprüchliches kann nicht existent sein, weder im Erkennen noch im Sein, weder in der Ordnung des Erkennens noch in der Ordnung des Seins. Ein hölzernes Eisen können wir nicht denken, und es kann auch nicht existieren. Das gilt in gleicher Weise für einen quadratischen Kreis. Dass Paradoxes weder denkmöglich ist noch seinsmöglich, das ist evident, so evident wie die Tatsache, dass die Summe von zwei und zwei gleich vier und nicht gleich fünf ist. Das der Vernunft Widersprechende ist nicht denkmöglich und nicht seinsmöglich. Wohl aber können wir et-was denken, das die Vernunft des Menschen übersteigt. Und solches kann durchaus auch existent sein. Denn nicht die menschliche Vernunft ist das Maß, sondern die göttliche. Die menschliche Vernunft ist jedoch ein unvollkommenes Abbild der göttlichen Vernunft. Wir müssen hier unterscheiden zwischen „contra ratio-nem hominis“ „gegen die Vernunft des Menschen“ und „supra rationem hominis“ – „die menschliche Vernunft des übersteigend“. Rationalistisch würden wir denken, wenn wir die menschliche Vernunft als das Maß aller Dinge ansehen würden. Rational denken je-doch jene, die zwar nicht die menschliche Vernunft als das Maß aller Dinge ansehen, wohl aber die göttliche Vernunft.
Gemäß dem katholischen Denken kann es im Glauben nichts geben und ist auch theolo-gisch nichts haltbar, was gegen die Vernunft ist, wohl aber kann es etwas geben und ist auch etwas theologisch haltbar, das die Vernunft übersteigt oder transzendiert. Das gilt in jedem Fall für die Glaubensmysterien im eigentlichen Sinn. Sie transzendieren die Vernunft nämlich „per definitionem“, die Vernunft des Menschen, nicht jedoch die Ver-nunft Gottes, denn in ihr, in der Vernunft oder im Intellekt Gottes, haben sie ihre Exi-stenz, nicht anders als das ganze Universum seine Existenz und den Grund seiner Exi-stenz im Intellekt Gottes hat.
Die katholische Theologie und der katholische Glaube verstehen sich rational, die prote-stantische Theologie und der protestantische Glaube verstehen sich demgegenüber irra-tional, jedenfalls im Grundansatz. Die Skepsis gegenüber der „ratio“ gründet im Prote-stantismus im reformatorischen Verständnis der Erbsünde und ihrer Folgen. Dem irratio-nalen Verständnis des Glaubens und der Theologie entsprechen in ihm der Subjektivis-mus und die häufige Rede von der Paradoxie des Glaubens. Heute gelten das irrationale Verständnis des Glaubens und der mit ihm verbundene Subjektivismus freilich nicht viel weniger auch für den Katholizismus in der Verkündigung wie auch in der Theologie.
Dass alles Sein rational und nicht irrational ist, das gehört zum verbindlichen Glauben der katholischen Kirche. Das heißt: Es handelt sich hier um eine philosophische Wahr-heit, die gleichzeitig als ein Dogma angesehen werden muss, als eine Wahrheit, die defi-nitiv zum Glaubensgut der Kirche gehört, wie das beispielsweise auch bei der natürli-chen Gotteserkenntnis der Fall ist, die im Übrigen diese Sicht aller Wirklichkeit zur Vor-aussetzung hat. Thomas von Aquin († 1274), der universale Lehrer der Kirche, spricht hier von der Intellegibilität aller Wirklichkeit
Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae I, 12. 79; ders., Summa contra gentiles II, 46. 55..
Wenn alles Seiende rational ist, dann kann es nichts geben, was gegen die Vernunft ist. Stets haben die Menschen die Rationalität der Universums, die Rationalität all dessen, was existiert, unreflektiert vorausgesetzt, denn stets sind sie an die Wirklichkeit heran-gegangen mit der Warum-Frage, und so tun sie es noch heute. Ja, schon das Kind quält seine Eltern unermüdlich mit der Warum-Frage. Stets setzten und setzen die Menschen voraus, dass es nichts gibt, das keinen Grund hat für seine Existenz, dass es nichts gibt, das nicht verstehbar ist, dass also alles, was wirklich ist, intelligibel ist. Das findet seine letzte Begründung darin, dass alle Wirklichkeit aus dem Geist Gottes hervorgegangen ist und in ihm ihren Bestand hat.
Nach katholischem Verständnis ruht der Glaube im Wissen um seine Glaubwürdigkeit, nach protestantischem Verständnis ruht er in sich selbst. Für den Protestanten gilt, dass der Glaube nicht begründet werden kann und dass er auch keiner Begründung bedarf. Darum gibt es im evangelischen Raum nicht die theologische Disziplin der Fundamen-taltheologie. Die Aufgabe dieser Disziplin ist es, den Glauben vor der Vernunft zu recht-fertigen. Im evangelischen Verständnis ist der Glaube wie ein „Sprung ins kalte Wa-sser“. Da gilt: „Credo quia credo“ – „ich glaube, weil ich glaube“. Das ist jedoch unver-nünftig, um nicht zu sagen absurd.
Die Rationalität des Glaubens und der Theologie hat eine lehramtliche Definition erhal-ten durch das Erste Vatikanische Konzil, sofern das Konzil die natürliche Gotteserkennt-nis, also eine philosophische Wahrheit, dogmatisiert und das Verhältnis von Glaube und Wissen definitiv festgelegt hat
Denzinger – Schönmetzer Nr.Nr. 3004. 3026. 3015–3020. 3041–3043..
Das Drama der Moderne beginnt im Grunde damit, dass die Vernunft und auch das Recht sich von Gott losreißen. Papst Pius XII. († 1958) erklärte einst seinem Ge-sprächspartner Max Planck († 1947): Die Theologie ist in ihrer Stringenz und in ihrer Konsequenz eine andere Form der Mathematik. Von dieser Theologie haben sich heute allzu viele Theologen verabschiedet.
Das katholische Denken ist rational, das protestantische ist irrational. Zumindest domi-nant irrational ist auch das moderne profane Denken. Darum erfährt der Protestantismus gegenwärtig deutlich mehr Sympathie in der Öffentlichkeit als der Katholizismus. Da-rum favorisieren aber auch viele katholische Theologen und Amtsträger heute prote-stantische Positionen oder machen sich diese gar zu Eigen. Man kann davon ausgehen, dass die gegenwärtigen chaotischen Verhältnisse in Kirche und Welt hier ihren eigentli-chen Ursprung haben, in der Missachtung der Vernunft und im Verzicht auf sie, in der Hinwendung zum Irrationalen und mit ihm zum Subjektivismus und zur Beliebigkeit.
Im reformatorischen Christentum, der irrationalen Version des Christentums, ist das lo-gische Denken nicht mehr der Maßstab für wahr und falsch. In dieser Gedankenwelt gibt es Raum für Widersprüche und Widersprüchliches, prinzipiell. Immer wieder ist in ihr die Rede von Paradoxien. Darauf wurde an dieser Stelle schon früher hingewiesen. Diese „Logik der Paradoxien“ machen sich seit geraumer Zeit auch nicht wenige katho-lische Theologen zu Eigen und erklären sie als Weiterentwicklung des Glaubens oder der Theologie. Indessen täuschen sie sich und ihre Gesprächspartner. Denn es gibt nur eine Logik, weil es nur eine Vernunft gibt, nämlich die göttliche Vernunft. An ihr aber hat die menschliche Vernunft Anteil, wenn auch in unvollkommener Weise. Jedenfalls ist die göttliche Vernunft der Maßstab für das Erkennen der menschlichen Vernunft.
Um das protestantische Denken in Widersprüchen zu veranschaulichen: Der protestan-tische Theologe Rudolf Bultmann († 1976) schreibt: „Die christliche Hoffnung weiß, dass sie hofft, sie weiß aber nicht, was sie hofft“
Rudolf Bultmann, Die christliche Hoffnung und das Problem der Entmythologisierung, Stuttgart 1954, 58.. Wer wollte bestreiten, dass eine in-haltslose Hoffnung widersprüchlich ist?
Das Denken in Widersprüchen gilt auch weitgehend für die das Apostolische Schreiben „Amoris laetitia“ vom 19. März 2016. Das neue Paradigma, wenn man denn von einem solchen sprechen kann, besteht hier im Verzicht auf die Rationalität. An ihre Stelle tritt die Irrationalität. Sie dominiert in diesem Schreiben. Sie ist bestimmt von Gefühlen, sie ist subjektiv und beliebig, und letztlich vernimmt sie die Wirklichkeit nicht, sondern konstruiert sie. Diesem Denken entspricht das so genannte autonome Gewissen, das sich heute auch innerhalb der Kirche mehr und mehr Raum verschafft.
Wenn „Geschiedene zivil Wiederverheiratete“ die heilige Kommunion empfangen, ist das gegen die Vernunft, leben sie doch in der neuen Verbindung im permanenten Ehe-bruch. Der Ehebruch aber zählt seit den Ur-Tagen der Kirche zu den Kapitalsünden, die mit dem Empfang des eucharistischen Sakramentes nicht vereinbar sind. Deshalb ist im Fall der „Geschiedenen zivil Wiederverheirateten“, wenn sie an den ihnen nicht erlaub-ten ehelichen Akten festhalten, der Empfang der heiligen Kommunion nur unter Ver-zicht auf die Vernunft möglich. Allein, die Vernunft ist die Wahrheit. Würden die „Ge-schiedenen zivil Wiederverheirateten“ die Versöhnung mit Gott im Sakrament der Buße suchen, müssten sie umkehren und den sündhaften Zustand aufgeben, denn Vergebung ohne Umkehr ist ebenso gegen die Vernunft, somit widersprüchlich. Immer ist die Um-kehr die Voraussetzung für die Vergebung. Das gilt schon im natürlichen Bereich, liegt es doch in der Natur der Sache. Zur Umkehr gehört wesenhaft der Vorsatz, die Sünde in Zukunft zu meiden. Die Fortsetzung des sündhaften Lebens ist nicht vereinbar mit der Umkehr, sie ist ebenso widersprüchlich wie der Empfang der heiligen Kommunion im Zustand der fortgesetzten schweren Sünde. Zu allen Zeiten wurde der Empfang der hei-ligen Kommunion im Zustand der schweren Sünde in der Kirche als Sakrileg, als Got-tesraub, angesehen. Und niemals hat man einem Pönitenten die Vergebung gewährt, ohne dass er die Reue und den guten Vorsatz bekundete. Der gute Vorsatz ist ein we-sentliches Moment der Reue. Nichts anderes hat er zum Inhalt als die Umkehr, die man freilich nicht nur mit Worten vollziehen kann.
Der Empfang der heiligen Kommunion durch gültig verheiratete Katholiken, die nach einer zivilen Scheidung zivil wiedergeheiratet haben, die nicht bereit sind, sich der ehe-lichen Akte zu enthalten, die ihnen gemäß dem 6. Gebot des Dekalogs untersagt sind, ist weder mit der Lehre von der Unauflöslichkeit der Ehe zu vereinbaren noch mit der Leh-re von der Eucharistie. Nicht einmal Gott könnte diese Paradoxie übersteigen, denn auch für ihn ist Widersprüchliches denkunmöglich und seinsunmöglich.
Selbst wenn die zivil wiederverheirateten Geschiedenen behaupten würden, die Ehe, die sie verlassen hätten, sei eine ungültige gewesen, was freilich auch nur eine Behauptung wäre, wenn man nicht in einem ordentlichen Verfahren vor dem kirchlichen Ehegericht die Annullierung der Ehe herbeigeführt hätte, würden sie sich in der neuen Verbindung des außerehelichen Sexualverkehrs schuldig machen. Dieser aber wird seit den Ur-Ta-gen der Kirche als Unzucht zu den Kapitalsünden gerechnet, nicht anders als der Ehe-bruch. Selbst wenn in diesem Fall die erste Ehe ungültig wäre, wäre die zivil geschlo-ssene ebenfalls ungültig, solange sie nicht kirchlich geschlossen worden wäre, denn für den Katholiken ist hinsichtlich der Eheschließung die Formpflicht nach wie vor eine Gültigkeitsbedingung.
Wenn die Betroffenen die Feststellung der Ungültigkeit ihrer Ehe selber treffen könnten, könnte man sich den Aufwand der kirchlichen Ehegerichte ersparen. Die Ehegerichte würden überflüssig, wenn es grundsätzlich möglich wäre, dass die Annullierung einer Ehe von den Betroffenen selbst vorgenommen würde. Würde man sich hier auf Einzel-fälle zurückziehen, müsste man sich klar machen, dass „in concreto“ jeder Fall ein Ein-zelfall ist oder dass sich dann schließlich jeder Fall als Einzelfall verstehen könnte und auch so verstehen würde. Aber auch dann, wenn die Betroffenen entscheiden würden, die erste Ehe sei ungültig gewesen, müssten sie entweder kirchlich getraut oder durch die entsprechende kirchliche Autorität von der Formpflicht dispensiert werden.
Dass zivil wiederverheiratete Geschiedene das Bußsakrament und das eucharistische Sa-krament ohne Umkehr empfangen, also ohne die Reue und ohne den guten Vorsatz, egal ob nur in Einzelfällen oder allgemein, ist widersprüchlich, wider die Vernunft. Daran geht kein Weg vorbei.
Wenn indessen das Paradigma der Irrationalität in der katholischen Kirche an die Stelle der Rationalität tritt, dann können im Grunde auch die Protestanten die Eucharistie emp-fangen, obwohl sie nicht die Realität der Eucharistie glauben und obwohl sie das zentra-le Sakrament der Kirche grundsätzlich anders verstehen als die Katholiken und sich ge-gebenenfalls nicht durch das Bußsakrament auf den Empfang der heiligen Kommunion vorbereitet haben. Auch die Angehörigen anderer Religionen können dann die Euchari-stie empfangen und schließlich gar auch die Atheisten. Dann ist schließlich alles mög-lich. Jeder kann dann glauben, was er will. Dann bedarf es am Ende nicht einmal mehr der Offenbarung Gottes. Offenbarung, Glaube und Theologie werden zu menschlicher Fiktion und lösen sich schließlich auf in ihrem Anspruch. Dann verschwimmt alles im Subjektivismus, dann wird alles Objektive zur Makulatur, und die Kirche verliert am Ende ihr Fundament.
Würde man hier nun auf eine höhere Logik Gottes rekurrieren, um den Verzicht auf die Vernunft zu rechtfertigen und ihren Verfall zu legitimieren, kann man darauf nur ant-worten, dass es bei Gott keinen Widerspruch gibt, dass Gott sich nicht selber wider-sprechen kann. Das ist sowohl seinsunmöglich als auch denkunmöglich. Gott kann sich nicht selber abschaffen oder annihilieren, und er kann auch nicht einen zweiten Gott her-vorbringen. Das ist nicht eine Begrenzung seiner Allmacht, das ist einfach absurd. Das Widerspruchsprinzip, das Erste der letzten Denk- und Seinsprinzipien, ist gewisser-maßen identisch mit Gott, sofern Gott das Sein schlechthin ist
Das Widerspruchsprinzip: Sein ist nicht Nichtsein, etwas kann nicht zugleich sein und nicht sein. Im Widerspruchsprinzip gründet u. a. auch das Kausalprinzip, auf dem faktisch alle Wissenschaften basie-ren. In ihnen wird unreflektiert die Rationalität oder die Intellegibilität von allem, was existiert, voraus-gesetzt..
Auf eine höhere Logik scheint hier der römische Jesuit Antonio Spadaro (* 1966), der Herausgeber der römischen Jesuiten-Zeitschrift „Civiltà Cattolica“, zu rekurrieren, wenn er erklärt, das Widerspruchsprinzip gelte nicht mehr für die Theologie. Wörtlich stellt er auf Twitter fest: „Theologie ist nicht Mathematik. Zwei und zwei kann in der Theologie fünf ergeben, weil sie mit Gott zu tun hat und mit dem realen Leben von Menschen“. Mit Recht antwortet ihm darauf ein Weihbischof aus Australien: „Ich habe den Glauben immer als Licht verstanden, das den menschlichen Verstand übersteigt, aber ihm nicht widerspricht
Internet vom 7. Januar 2017: www.gloria tv.
In einer Auseinandersetzung mit Kardinal Gerhard Ludwig Müller (* 1947) setzt Spada-ro noch einmal nach, indem er feststellt, in der Theologie könne die Summe 2 + 2 durch-aus auch einmal 5 ergeben
http://www.katholisches.info/2017/05/kardinal-mueller-an-die-bischofskonferenzen-2-2-kann-nie-5-ergeben-amoris-laetitia-ist-im-kontext-der-vollstaendigen-katholischen-tradition-zu-lesen/. Genau das ist irrationale Theologie. Der Glaube der Kir-che wird da der Willkür des Subjektes überantwortet.
Bei den Glaubenswahrheiten ist die Kontinuität konstitutiv. Was gestern wahr gewesen ist, muss auch heute wahr sein, andernfalls ist es auch heute nicht wahr. Die Kontinuität ist ein bedeutendes Wahrheitskriterium für die katholische Theologie. Auch das wird eine irrationale Theologie nicht verstehen können und auch nicht wahrhaben wollen.
Die Barmherzigkeit wird missbraucht, wenn man mit ihr die Logik des Glaubens aushe-belt und den Abschied von der Vernunft rechtfertigt. Bereits Thomas von Aquin hat dar-auf hingewiesen, dass gefühlte Barmherzigkeit ohne rationale Gerechtigkeit nicht christ-lich legitimierbar ist
Thomas von Aquin, Summa Theologiae I/II, 59, 1 ad 3; II/II, 30, 3 c.. Zudem ist Barmherzigkeit ohne Umkehr ein Verstoß gegen die Wahrheit bzw. gegen die Wahrhaftigkeit.
Missverstanden oder missbraucht wird die Barmherzigkeit, wenn man mit ihr an den Geboten Gottes rüttelt oder wenn man die Gebote Gottes mit ihr relativiert oder gar mit Berufung auf sie von den Geboten Gottes dispensiert. Zudem drängt sich hier die Frage auf, wozu es noch Barmherzigkeit braucht, wenn das, was Sünde ist, nicht mehr Sünde ist.
Neuerdings spricht man hinsichtlich der Lehre von „Amoris Laetitia“, speziell hinsicht-lich des Empfangs der heiligen Kommunion durch zivil Geschiedene und zivil Wieder-verheiratete von einer Weiterentwicklung der Lehre von „Familiaris consortio“
Vgl. https://wir-sind-kirche.de/?id=128&id_entry=6499&out=pdf. Das ist jedoch nicht haltbar, denn von Weiterentwicklung kann man nur sprechen, wenn die-se logisch erfolgt, wenn sie sich als Vertiefung des bisher Geglaubten ausweist, wenn sie in innerer Kontinuität zu dem bisher Geglaubten steht, es sei denn, man verzichtet auf die Logik oder beruft sich auf eine höhere Logik, die es indessen nicht geben kann, wie bereits gezeigt wurde. Von Entwicklung kann man nicht sprechen, wenn etwas völlig Neues entsteht, vor allem, wenn das Neue das Alte völlig negiert, wenn es im Wider-spruch zu ihm steht. Hier gilt: Was gestern wahr gewesen ist, kann heute nicht falsch sein. Die hier anstehende Frage ist ein Testfall für eine rationale Theologie, für eine Theologie, die keinen Widerspruch zulässt.
Moderne evangelische Theologen stellen heute fest, Gott existiere nicht unabhängig vom Menschen, es gebe nicht das An-sich-Sein Gottes, vielmehr gebe es Gott nur im Sich-Ereignen. Sie können sich dabei auf Luther berufen und dessen Hinwendung von einer objektiven Theologie und von einem objektiven Glauben zu einer subjektiven The-ologie und zu einem subjektiven Glauben, wenngleich dieser nicht so weit gegangen ist. Diese Position herrscht heute auch bei nicht wenigen katholischen Theologen. Stolz be-rufen sie sich in diesem Kontext auf den Philosophen Immanuel Kant († 1804) und erklären kategorisch: Es gibt kein Zurück hinter Kant. „Gott als Seiender ist ein ,Götze’” schreibt Gotthold Hasenhüttl (* 1933), ein Schüler Karl Rahners († 1984), der bis zum Jahre 2002 Theologie lehren konnte in Saarbrücken, inzwischen aber aus der Kirche ausgetreten ist. Sein Glaubensbekenntnis lautet: „Die Wahrheit des Glaubens ist nur in Relation auf einen Menschen gültig“
Gotthold Hasenhüttl, Kritische Dogmatik, Graz 1979, 25; vgl. auch https://kirchfahrter.wordpress.com/2017/06/24/wie-theologen-den-glauben-verkuerzen-die-tagespost-de/.
Für Luther gibt es nur das allgemeine Priestertum, das besondere hält er für nicht schrift-gemäß. Für ihn gilt: „Der Glaube muss alles tun, er ist allein das rechte priesterliche Amt ... Darum sind alle christlichen Männer Priester und alle Frauen Priesterinnen, ob jung oder alt, ob Herr oder Knecht, Frau oder Magd, ob Gelehrter oder Laie. Hier gibt es keinen Unterschied, außer es wäre der Glaube ungleich. Umgekehrt alle, die diesen Glauben nicht haben, sondern sich vermessen, die Messe als ein Opfer zuwege zu brin-gen und ihren eigenen Messedienst Gott darzubieten, das sind Ölgötzen ... „
WA 6, 370, 24 ff. Vgl. Uta Ranke-Heinemann, Der Protestantismus. Wesen und Werden, Essen 21965, 68 f..
Der Abbau der priesterlichen und hierarchischen Ordnung der Kirche vollzog sich in der Zeit der Reformation stufenweise, in einem Prozess, „der nicht nur von theologischen, schon vorher ausgereiften und konzipierten Ideen, sondern auch vom äußeren Verlauf der Ereignisse bestimmt wurde“
Gottfried Hoffmann, Das geistliche Amt im Protestantismus, in: Die Anregung, 21. Jg., Heft 6 vom 1. Juni 1969, 233.. Zunächst begannen die Reformatoren, die Mehrstu-figkeit der hierarchischen Ordnung aufzuheben, gemäß der man bislang das Bischofsamt vom Priesteramt unterschieden hatte. Damit wurde das Bischofsamt als besonderes, zur Spendung der Priesterweihe notwendiges Amt preisgegeben. Es gab dann nur noch das von dem Stifter der Kirche begründete Hirtenamt. Diesen Prozess legitimierte man, in-dem man behauptete, das Bischofsamt sei gegenüber dem Priesteramt nur rechtlicher Natur. Somit konnte man sich mit der presbyterialen Sukzession begnügen. Von ihr ist die Rede in den Schmalkaldischen Artikeln, obschon sie dort noch lediglich als Notrecht verstanden wird. Theologisch begründete man die presbyteriale Sukzession jedoch schon bald mit dem Gedanken, dass man das, was man selber besitze, auch an andere weitergeben könne. Man übersah dabei indessen, dass die Priesterweihe seit eh und je als außerordentliche Vollmacht verstanden wurde, wie es auch sonst im Leben Voll-machten gibt, die nur von höchster Stelle übertragen werden können. So kann etwa ein bevollmächtigter Botschafter niemals von sich aus einen anderen zum Botschafter ma-chen, in jedem Fall muss er das der Staatsführung überlassen, also jener Stelle, der er selber seine Bevollmächtigung verdankt.
In Konkurrenz zu der hier beschriebenen Auffassung, in der man das priesterliche Amt immerhin noch als konstitutiv ansah für die Gemeinde Jesu, trat dann mehr und mehr die Lehre vom allgemeinen Priestertum so sehr hervor, dass man das besondere Priestertum schließlich für überflüssig hielt. In dieser Form ist die Lehre vom allgemeinen Priester-tum im Protestantismus, wenn man einmal von den Altlutheranern absieht, bis heute be-stimmend, wenngleich sie sich nicht überall durchgesetzt hat. Zur Begründung dieser Position beruft man sich vor allem auf die Stelle 1 Petrus 2, 9: „Ihr seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, ein heiliges Volk, ein Volk, das er sich zum Eigentums erworben, damit ihr die Machttaten dessen verkündigt, der euch aus der Fin-sternis in sein wunderbares Licht gerufen hat“. Dann braucht man nicht mehr den Ge-danken einer „von Person zu Person sich vollziehenden Weihesukzession“, gemäß dem die letzte Verantwortung für die Gemeinde und für die Bewahrung des Glaubens dem geweihten Hirten zukommt. Die Leitung der Gemeinde und die unversehrte Glaubens-überlieferung sind dann nicht mehr an „privilegierte Personen“ gebunden, vielmehr werden sie dann „verantwortlich getragen“ durch das „in der Gemeinde des Gott gehei-ligten allgemeinen Priestertums“
Gottfried Hoffmann, Das geistliche Amt im Protestantismus, in: Die Anregung, 21. Jg., Heft 6, 1969, 235.. Der Pfarrer ist zum Funktionär der Gemeinde ge-worden, und es ist die Gemeinde, die ihre generelle Verantwortung jeweils auf die Per-son des Pfarrers oder des Predigers überträgt.
Diese Auffassung hat sich indessen, wie gesagt, in den lutherischen Gemeinden bis heu-te nicht gänzlich durchgesetzt, sofern man den Pfarrer dort auch heute noch, zum Teil auch offiziell, als eine Person versteht, die im Namen und im Auftrag Gottes und in Stellvertretung Jesu Christi handelt, nicht im Namen und im Auftrag und in Stellvertre-tung der Gemeinde. Da leitet der Pfarrer dann seine Vollmacht nicht von einer von den Gläubigen getroffenen Anordnung her, vielmehr versieht er sein Amt da in göttlicher Autorität. In diesem Verständnis ist er also nicht lediglich ein beauftragtes Glied der Ge-meinde, sondern steht er der Gemeinde im Auftrag Gottes und als Vertreter Gottes ge-genüber. Sein Wort ist demnach nicht nur das Wort eines Menschen, „sondern Gottes eigene Stimme, die vom Himmel herab ertönt“
Ebd., 236..
Ist auch bei diesem Amtsverständnis die Nähe zum katholischen Amtsverständnis unver-kennbar, so bleiben doch fundamentale Differenzen. Denn die besondere Vollmacht und Würde des geistlichen Amtes ist in diesem Verständnis „nicht von einer Weihe oder sa-kramentalen Handlung abzuleiten, die dem Träger dann einen besonderen, womöglich unverlierbaren Charakter“ verliehen hätte, vielmehr beruht sie in diesem Verständnis einzig und allein auf „der göttlich gestifteten Institution der Gnadenmittelverwaltung“. Dementsprechend ist die Ordination hier „lediglich Entsendung in das von Christus ge-stiftete Amt und Segnung für die Ausrichtung dieses Amtes unter der Fürbitte der Ge-meinde“
Ebd.. Keineswegs handelt es sich hier also um die sakramentale Übertragung eines priesterlichen Amtscharismas, wie das im katholischen Verständnis bei der Prie-sterweihe der Fall ist. Die Übertragung eines priesterlichen Amtscharismas würde man hier als überflüssig ansehen, denn im Verständnis der Reformatoren besitzt der Berufene das priesterliche Amtscharisma bereits von der Taufe her, sind doch gemäß der Lehre Luthers alle Getauften Priester
Ebd.. Mit anderen Worten: In diesem Verständnis ist das Amt als solches göttlichen Rechtes, ist die Art und Weise, wie der Einzelne in dieses Amt berufen wird, jedoch menschlichen Rechtes
Ebd..
Grundsätzlich anders ist die Situation in den reformierten Gemeinden. Sie kennen nur die Selbstleitung der Gemeinde und lassen kein Amt persönlicher Autorität gelten. In ihnen haben wir eine Verfassung nach rein demokratischem Vorbild, sofern das Presby-terium die Gemeinde leitet und der alleinige Träger der geistlichen Vollmacht ist. Es wählt und entlässt den Pfarrer, der sich in einigen Kirchenkreisen gar alle acht Jahre zur Wiederwahl stellen muss und dem die Kündigung blüht, wenn er sich in der letzten Amtsperiode unbeliebt gemacht hat. Diese Form der Leitung der Gemeinde hat sich auch in den Unionskirchen des 19. Jahrhunderts durchgesetzt, nicht jedoch bei den Lu-theranern. Deren Amtsverständnis blieb näher bei dem katholischen, wie sich auch sonst die Lutheraner in den Glaubensinhalten weniger weit von der Mutterkirche entfernt ha-ben als die Reformierten. Bei den Reformierten und wohl auch bei den Kirchen der Uni-on gibt es entsprechend dem Amtsverständnis auch Abendmahlsfeiern, die von Laien gehalten werden, ohne dass ein ordinierter Pfarrer hinzugezogen wird. Durch diese Pra-xis will man die Rechte des allgemeinen Priestertums hervorheben. Dem gleichen Ziel dient auch die gelegentliche Wortverkündigung durch Gemeindeglieder bei den Refor-mierten, die dann gar im Talar von der Kanzel aus predigen
Ebd..
Das geistliche Amt als solches haben jedoch nicht nur die Calviner verloren, auch die Lutheraner. Die einen wie die anderen haben eine Ekklesiologie oder eine Kirche ge-schaffen, in der es keinen wesentlichen Unterschied mehr gibt zwischen dem Amtsprie-stertum oder dem besonderen Priestertum und dem allgemeinen Priestertum. Kurzum: Sie haben das Sakrament der Priesterweihe verloren. Deshalb spricht die römische Kir-che bei ihnen nicht mehr von Kirchen, sondern von kirchlichen oder besser: kirchen-artigen Gemeinschaften („communitates ecclesiales“)
II. Vatikanisches Konzil: Erklärung über den Ökumenismus „Unitatis redintegratio“, Art. 22; vgl. auch die Erklärung der Glaubenskongregation „Dominus Jesus“ vom 6. August 2000.. Dementsprechend haben sie auch die apostolische Nachfolge aufgegeben, durch die gemäß dem Glauben der Kirche von Anfang an das geistliche Amt weitergegeben worden ist. Daraus folgt, dass sie auch das zentrale Sakrament der Eucharistie verloren haben und mit ihm das Bußsakrament, die Firmung und die Krankensalbung, also jene Sakramente, die die Priesterweihe zur Voraussetzung haben.
Die legitime Weitergabe des apostolischen Amtes erfolgt seit den Tagen der Apostel durch die apostolische Sukzession, durch die apostolische Amtsnachfolge. Von Anfang an herrschte in der Kirche Christi die Überzeugung, dass nur Bischöfe vermittels Hand-auflegung Bischöfe einsetzen können. Diese altkirchliche Glaubenslehre spielt, wie ge-zeigt wurde, bei den Reformatoren im Allgemeinen keine Rolle mehr, da bei ihnen das besondere Priestertum durch das allgemeine Priestertum verdrängt wurde. Es gibt jedoch protestantische Richtungen, die wenigstens verbal an der apostolischen Sukzession fest-halten. Das ist beispielsweise der Fall bei den Anglikanern. Das gilt aber auch für die Lutherische Kirche Schwedens. Die schwedischen Bischöfe hegen im Allgemeinen die Überzeugung, dass sie seit der Reformation ausnahmslos von Bischöfen eingesetzt wor-den sind, die in der apostolischen Sukzession standen. Darum legen sie heute noch Wert darauf, dass die Pfarrer durch Bischöfe eingesetzt werden, die in der ununterbrochenen bischöflichen Segenskette von den Aposteln her stehen. Nicht anders ist die Überzeu-gung bei den Anglikanern, jedenfalls weitgehend
Andreas Theurer, Warum werden wir nicht katholisch? Denkanstöße eine evangelisch-lutherischen Pfarrers, Augsburg 52013, 46 f.. Die apostolische Sukzession der schwedischen und der anglikanischen Bischöfe ist jedoch geschichtlich nicht nachweis-bar. Eher ist das Gegenteil der Fall. Infolgedessen werden die schwedischen und die anglikanischen Bischofs- und Priesterweihen von der römischen Kirche nicht anerkannt. Hier ist vor allem auch darauf hinzuweisen, dass Luther, der kein Bischof war, zu einer Zeit, als er noch nicht das besondere Priestertum aufgegeben hatte, Priester geweiht hat. Ganz abgesehen davon, dass er schon früh nicht mehr unterschieden hat zwischen Bi-schof und Priester. Sehr bald hat er dann die Bischöfe durch „Ordinarien“ und „Superin-tendenten“ ersetzt und damit das Prinzip der apostolischen Sukzession auch formell auf-gegeben
Vgl. ebd., 47..
Die den reformatorischen Christen fehlende apostolische Sukzession ist ein bedeutendes Hindernis für die Einigung der katholischen Kirche mit diesen. Darauf verweist mit Nachdruck Andreas Theurer, ein ehemals evangelischer Pfarrer, der zum katholischen Glauben übergetreten ist, wenn er schreibt: „Wenn die evangelischen Kirchen sich dazu durchringen könnten, zuzugeben, dass sie bisher mit ihrer Ablehnung der apostolischen Sukzession im Irrtum waren und sie energische Schritte unternähmen, um diesen Man-gel zu heilen, dann wäre ein wesentliches Hindernis beseitigt, das die Katholiken und Orthodoxen bisher davon abhält, die evangelischen Kirchen als Kirchen anzuerken-nen“
Ebd.. Dem kann man seine Zustimmung nicht versagen. Allein, bedeutendere Hin-dernisse, die vorher noch ausgeräumt werden müssten, sind hier das Amtsverständnis der Reformatoren allgemein sowie die Aufgabe des Amtspriestertums in den reforma-torischen Gemeinschaften.
Mit der Priesterweihe haben die Reformatoren das eucharistische Sakrament verloren. Sie haben das Abendmahl. Gewiss, das ist jedoch etwas anderes als die Eucharistie. Sie ist die sakramentale Vergegenwärtigung des Kreuzesopfers. Schon von daher ist die im-mer wieder geforderte Abendmahlsgemeinschaft im Grunde genommen absurd.
Im Weltkatechismus heißt es: „Die aus der Reformation hervorgegangenen, von der kat-holischen Kirche getrennten kirchlichen Gemeinschaften haben‚ vor allem wegen des Fehlens des Weihesakraments, die ursprüngliche und vollständige Wirklichkeit des eucharistischen Mysteriums nicht bewahrt. Aus diesem Grund ist für die katholische Kirche die eucharistische Interkommunion mit diesen Gemeinschaften nicht mög-lich“
Weltkatechismus, Nr. 1400.. Das hindert Walter Kasper (* 1933), den früheren Präsidenten des Päpstlichen Rates für die Einheit der Christen, nicht daran, aber nicht nur ihn, die Interkommunion zu erhoffen, und zwar als Mindestergebnis des Luther-Jubiläums, wie er feststellt, jene Interkommunion, die de facto bereits landauf und landab geübt wird. Wenn Kasper neu-erdings behauptet, es gebe keine wesentlichen Unterschiede mehr zwischen den Katholi-ken und den Christen der Reformation
gloria.tv/article/69AQMdUxAoV31gWC492GbUbWU, zeigt das, wie sehr er mit einer ehrlichen Ök-mene auf Kriegsfuß steht.
Nicht nur die Tatsache, dass das Weiheamt in den Gemeinschaften der Reformation nicht bewahrt worden ist, steht der immer wieder geforderten und in wachsendem Maß geübten Interkommunion im Weg, sondern auch die Tatsache, dass das Abendmahl et-was gänzlich anderes ist als die Feier der heiligen Messe, wenngleich man fälschlicher-weise immer wieder von gemeinsamen Abendmahlsfeiern spricht, vor allem dann, wenn etwa katholische Priester in Missachtung der kirchlichen Ordnung und ungeachtet der Widersinnigkeit solchen Tuns, mit protestantischen Pastoren und Pastorinnen „konzele-brieren“.
Sofern man sich im ökumenischen Dialog noch theologische Gedanken macht über die Interkommunion, also in der Theorie, sagen die einen, die „gemeinsame Abendmahls-feier“ sei ein Weg zur Einheit, und die anderen, die „gemeinsame Abendmahlsfeier“ sei das Ziel der Einheit. Letzteres ist die offizielle Meinung, jedenfalls der katholischen Kir-che. Die Protestanten denken in der Regel anders darüber, auch offiziell. Durchweg for-dern sie, oftmals lautstark, die Interkommunion, die sie im Allgemeinen in begrifflicher Unklarheit als Abendmahlsgemeinschaft bezeichnen, unabhängig von der Einheit im Glauben. Sie tun das dann vielmals ohne Rücksicht auf die Katholiken, deren andere Auffassung ihnen nicht unbekannt ist, und ohne Rücksicht auf das ökumenische Ge-spräch, dem sie durch ihren Alleingang schaden.
Bereits die natürliche Vernunft kann erkennen, dass es widersinnig ist und unehrlich, dort die Einheit sakramental zu feiern, wo sie noch nicht vorhanden ist. Unehrlich ist auch die Rede vom gemeinsamen Abendmahl, weil die heilige Messe oder die Euchari-stie, wie bereits betont wurde, nicht das Abendmahl ist, jedenfalls nicht gemäß dem offi-ziellen Glauben der Kirche. Allein eine irrationale Theologie vermag solches Tun und solche Rede zu rechtfertigen.
Im katholischen Verständnis bedeutet die erstrebte Einheit die Übereinstimmung im Glauben, in den Sakramenten und in der Kirchengemeinschaft. Wir sprechen hier mit dem Jesuiten-Theologen Robert Bellarmin († 1621) von dem dreifachen Band der Ein-heit, dem „vinculum symbolicum”, dem „vinculum liturgicum” und dem „vinculum hie-rarchicum”. Durch dieses dreifache Band wird auch heute noch die Kirchenmitglied-schaft im engeren Sinn begründet. Das „vinculum symbolicum” ist das Band des Glau-bens oder des Bekenntnisses, das „vinculum liturgicum” ist das Band der Heiligungs-mittel oder der Sakramente, und das „vinculum hierarchicum” ist das Band der Autorität oder der Leitung.
Falsche Begrifflichkeit oder Ungenauigkeit in den Begriffen ist ein wesentliches Grava-men im ökumenischen Gespräch. Zuweilen scheint sie heute allerdings beabsichtigt zu sein.
In Einzelfällen ist der Empfang der Eucharistie durch Nichtkatholiken, die das Sakra-ment der Taufe empfangen haben, möglich, wie Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyk-lika „Ecclesia de Eucharistia“ feststellt. In diesem Fall geht es darum, so stellt der Papst fest, dass „einem schwerwiegenden geistlichen Bedürfnis im Hinblick auf das ewige Heil einzelner Gläubiger“ entsprochen wird. Das darf jedoch nicht als Interkommunion verstanden werden, so der Papst, denn diese bleibt unmöglich für ihn, „solange die sicht-baren Bande der kirchlichen Gemeinschaft nicht vollständig geknüpft sind“
Papst Johannes Paul II, Enzyklika „Ecclesia de Eucharistia“, Nr. 45.. Der Papst steht mit dieser Regelung voll und ganz in der Tradition der Kirche.
Die Bedingungen dafür, dass ein evangelischer Christ die Eucharistie empfangen darf, sind gemäß der Liturgie-Instruktion „Redemptionis Sacramentum“ vom 25. März 2004 und dem kirchlichen Rechtsbuch folgende: 1. Der evangelische Christ muss sich in To-desgefahr oder einer anderen schweren Notlage befinden. 2. Es muss feststehen, dass in der Todesgefahr oder einer anderen schweren Notlage kein Spender aus der eigenen kirchlichen Gemeinschaft zur Verfügung steht. 3. Es muss der Fall gegeben sein, dass der evangelische Christ in der Todesgefahr oder in einer anderen schweren Notlage von sich aus den katholischen Spender um den Empfang der heiligen Kommunion bittet. 4. Er muss in der Todesgefahr oder in einer anderen schweren Notlage bezüglich der heili-gen Eucharistie den katholischen Glauben bekunden. 5. Er muss in der Todesgefahr oder in einer anderen schweren Notlage in rechter Weise disponiert sein für den Empfang der heiligen Kommunion. Die rechte Disposition meint vor allem den Gnadenstand, der durch die schwere Sünde verloren geht. Wichtig ist hier, dass alle fünf Bedingungen gleichzeitig erfüllt sein müssen
Gottessdienst-Kongregation: Liturgie-Instruktion „Redemptionis Sacramentum" vom 25. März 2004, Nr. 85. . Zu bestimmen, was eine Notsituation ist, kommt ge-mäß dem Rechtsbuch der Kirche der jeweiligen Bischofskonferenz zu. Dabei weist das Rechtsbuch ausdrücklich darauf hin, dass eine konfessionsverschiedene Ehe keine Notsi-tuation ist
CIC 844 § 4; vgl. Liturgie-Instruktion „Redemptionis sacramentum“, Nr. 85..
Was den Glauben an die Eucharistie angeht, bestimmt Johannes Paul II. in der Enzykli-ka „Ecclesia de Eucharistia“, dass der evangelische Christ 1. die wahre und dauerhafte Gegenwart des Leibes und des Blutes Christi unter den Gestalten von Brot und Wein glauben muss, dass er 2. an den Opfercharakter der heiligen Messe glauben muss und dass er 3. an die Notwendigkeit eines Zelebranten mit gültiger Bischofs- oder Priester-weihe als Bedingung für die Gültigkeit der Eucharistiefeier glauben muss
Enzyklika „Ecclesia de eucharistia“, Nr. 46.. Erfüllt der evangelische Christ diese drei Bedingungen wirklich, müsste er, wenn er konsequent wäre, zur katholischen Kirche konvertieren. Die Bestimmungen des Empfangs der heili-gen Kommunion für evangelische Christen würden dann gegenstandslos.
Am 22. September 2004 veröffentlichten die deutschen Bischöfe eine „Orientierungs-hilfe zu Schwerpunkten der Instruktion ,Redemptionis Sacramentum’. Darin nehmen sie Stellung auch zum Empfang der heiligen Kommunion durch Nichtkatholiken. Sie tun das mit folgenden Worten: „ ... Bei allem Verständnis für die Sehnsucht nach der Ge-meinschaft am Tisch des Herrn ist diese doch kein geeignetes Mittel auf dem Weg zur Kirchengemeinschaft. Deshalb müssen um der Wahrheit des eucharistischen Glaubens und um der wirklichen Einheit der Kirche willen die Bestimmungen der Kirche hin-sichtlich der Spendung der Sakramente, insbesondere der Eucharistie, an Nichtkatholi-ken exakt beobachtet werden. Jede Gefahr einer möglichen Relativierung des euchari-stischen Geheimnisses oder des kirchlichen Selbstverständnisses muss vermieden wer-den“
Orientierungshilfe zu Schwerpunkten der Instruktion „Redemptionis Sacramentum“ der Gottes-dienstkongregation vom 25. März 2004, Nr. 4..
Nicht nur im Hinblick auf die einzelnen Sakramente, auf ihre Zahl und ihr Wesen, spe-ziell auch im Hinblick auf die Priesterweihe und die Eucharistie, sind die Unterschiede im Glauben der Katholiken und der Protestanten menschlich gesprochen unüberwind-lich, sondern auch im Verständnis der Sakramente als solche.
In der lateinisch abgefassten Schrift „Über die Babylonische Gefangenschaft der Kir-che“ („De captivitate Babylonica ecclesiae“) behandelt der Reformator die Sakramente und reduziert sie unter Berufung auf die Einsetzung durch Jesus Christus als wesentli-ches Element der Sakramente von sieben auf drei, auf die Taufe, das Abendmahl und die Buße (Beichte). Da er bei der Buße in der Frage der „Materie“, nicht in der Frage der Einsetzung durch Jesus Christus, unsicher ist, spricht er von zwei Sakramenten und einem sakramentalen Zeichen. In diesem Zusammenhang ist jedoch das Bahnbrechende nicht die Reduktion der Sakramente von sieben auf drei oder zwei, sondern die neue Auffassung von dem Wesen der Sakramente, in welcher der Reformator die Sakramente dem Wort unterordnet. Er sieht nämlich im Sakrament nicht mehr das göttliche Gna-denmittel, sondern nur noch das sichtbare Zeichen der göttlichen Verheißung. Somit ver-anschaulichen die Sakramente für ihn die Wortverkündigung, hinzufügen tun sie ihr je-doch nichts.
Um es genauer zu sagen: Im lutherischen Verständnis bewirkt das Sakrament nicht die Gnade, sondern zeigt es diese an. Wenn also etwa im Bußsakrament der Priester die Ab-solutionsformel spricht, verkündet er die Lossprechung durch Christus und zeigt sie an. Daher ist es nicht mehr das Sakrament, das rechtfertigt, sondern der Glaube. Das gilt nicht weniger für die Taufe. Wörtlich sagt Luther, der zunächst ja noch an der Beichte festgehalten hat: „Die Lossprechung ist wirksam, nicht weil sie geschieht – von wem auch immer sie gespendet werden mag, mag er irren oder nicht –, sondern weil sie ge-glaubt wird“
WA 1, 595, MA 1, 244; vgl. Paul Hacker Das Ich im Glauben bei Martin Luther, Graz 1966, 204–207. Von der Beichte sagt Luther, sie könne zwar nicht aus der Schrift bewiesen werden, sie sei jedoch „nützlich, ja notwendig“ (WA 6, 546).. Demnach hat der eigentliche Vollzug des Sakramentes es nur mit der Bewusstseinsrealisierung der bereits geschehenen Vergebung zu tun. Daher bewirkt die Lossprechung des Priesters im Grunde nichts anderes als den „Frieden des Gewissens“, als „Tröstung“ und „Gewissheit“, aber das auch nur, sofern der Beichtende glaubt, dass ihm durch die Lossprechung des Priesters auf Grund der Verheißung Christi die Sünden nachgelassen wurden
Paul Hacker, Das Ich im Glauben bei Martin Luther, Graz 1966, 208..
Eine bedeutende Differenz, die hier noch der Erwähnung bedarf, konstituiert die Be-hauptung des Reformators, dass die Sünden nicht nachgelassen, sondern nur zugedeckt werden. Daraus ergibt sich für den Reformator die widersprüchliche Formel „simul pec-cator et iustus“ („zugleich Sünder und Gerechter“), von der bereits die Rede war im Zu-sammenhang mit der reformatorischen Rechtfertigungslehre
Siehe oben S. 45 f..
Die neue Auffassung des Reformators von dem Sakramenten, die nunmehr dem Wort untergeordnet werden, wird auch deutlich, wenn dieser erklärt: „Die Taufe rechtfertigt niemanden und nützt niemanden, sondern der Glaube an das Verheißungswort, dem die Taufe hinzugefügt wird; dieser nämlich rechtfertigt und erfüllt, was die Taufe bedeu-tet“
WA 6, 532 f; vgl. Paul Hacker, Das Ich im Glauben bei Martin Luther, Graz 1966, 214 f. . Ein wenig variiert der Reformator diese These, wenn er im Kleinen Katechismus von 1529 sagt: „Sie (die Taufe) wirket Vergebung der Sünden ... allen, die es glauben ...“, und wenn er im Großen Katechismus feststellt, dass die Taufe „uns den Teufel aus dem Hals reißet“
WA 30, 1, 222.. Der Große Katechismus spricht gar von der Taufe als Wiedergeburt und Erneuerung
WA 40, 1, 540; Paul Hacker, Das Ich im Glauben bei Martin Luther, Graz 1966, 214 f.. Wenn der Reformator der Taufe hier schließlich doch noch objekti-vistische Züge zuerkennt, tut er das vor allem in Abgrenzung von den Schwärmern. Aufs Ganze gesehen ist die „Wirkung“ der Taufe jedoch für ihn nichts anderes, als ein dauerndes Geschehen, das erst durch den Glauben aktualisiert wird
Paul Hacker, Das Ich im Glauben bei Martin Luther, Graz 1966, 215.. Von der Heiligen Schrift her lässt sich auch diese Auffassung jedoch nicht rechtfertigen.
Vielfach kämpfte Luther gegen vermeintliche Lehren der Kirche. So verwechselte er beispielsweise die böse Begierde, die Konkupiszenz, mit der Sünde und wunderte sich, dass er sie nicht durch das Bußsakrament niederringen konnte
Joseph Lortz, Die Reformation in Deutschland, Bd. I, Freiburg i. Br. 1939, 163.. Der Reformationsge-schichtler Joseph Lortz schreibt: „Luther rang in sich selbst einen Katholizismus nieder, der nicht katholisch war“
Ebd., 176.. Gewiss bedingen nicht wenige Missverständnisse die Diffe-renzen, aber es bleiben grundlegende Divergenzen.
Leidenschaftliche Ablehnung finden im Protestantismus noch heute der Ablass und das Fegefeuer. Der Ablass war einer der Gründe für den Beginn der Reformation, und die Lehre vom Ablass hängt aufs innigste mit der Lehre vom Fegefeuer zusammen. Aller-dings erklärt sich auch hier manches als Missverständnis.
Das Wesen des Ablasses verstehen wir nur dann, wenn wir uns klar machen, dass die katholische Lehre zwischen den Sünden, den zeitlichen Sündenstrafen und den ewigen Sündenstrafen unterscheidet. Im Bußsakrament wird, vorausgesetzt, dass echte Reue vorhanden ist, die Sündenschuld vergeben und die ewige Strafe nachgelassen. Von den zeitlichen Sündenstrafen wird im Bußsakrament jedoch nur ein Teil nachgelassen. Ein Teil der Strafen bleibt zurück, in der Regel. Diese werden entweder in diesem Leben durch Leiden und durch Werke der Buße gesühnt oder im Leben nach dem Tod durch das Fegefeuer. Gegebenenfalls können sie aber auch infolge eines besonderen Gnaden-aktes Gottes und der Kirche durch den Ablass gesühnt werden.
Die Unterscheidung von Sünden und Sündenstrafen ist dem Protestanten fremd. Bereits Luther hat sie schließlich aufgegeben. Sie ist uns jedoch schon aus dem Alltagsleben vertraut. Wenn etwa jemand im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss einen Unfall ver-ursacht und dabei das Delikt fahrlässige Tötung begangen hat, dann können die Hinter-bliebenen ihm seine Schuld vergeben, wenn er sie etwa darum bittet, die Vergebung der Schuld dispensiert ihn dann jedoch nicht von der Strafe. Trotz der Vergebung der Schuld muss er gegebenenfalls die Strafe im Gefängnis absitzen. Oder: Eltern werden etwa dem ungehorsamen Kind das Fehlverhalten vergeben, ihm also die Sünde erlassen, wenn es sein Vergehen bereut, nicht jedoch die Strafe. Das ist deshalb so, weil das Unrecht ge-sühnt werden muss. Der griechische Philosoph Platon († 347 v. Chr.) wusste bereits, dass die Sünde in der Seele Wunden hinterlässt, die der Heilung bedürfen, und dass die Heilung durch die Sühne erfolgt. „Sühne“ ist ein anderes Wort für Buße. Thomas von Aquin unterscheidet im Anschluss an Platon den schuldhaften Akt und die „macula“, die Schuldhaftigkeit, das, was den schuldhaften Akt überdauert. Die „macula“ versteht er als Verwundung der Seele, als „Verlust von etwas, das nicht fehlen sollte“
Josef Pieper, Über den Begriff der Sünde, München 1977, 107. 106 ff..
Im Ablass erfolgt der Nachlass der zeitlichen Sündenstrafen gemäß dem Glauben der Kirche aufgrund des „Kirchenschatzes”, in dem die Verdienste Jesu Christi und der Hei-ligen aufbewahrt sind. „Diese sozusagen ,überschüssigen’ Verdienste Jesu Christi und der Heiligen bilden einen riesigen Schatz im Himmel, aus dem die Kirche an Bedürftige austeilen darf. Das geschieht, indem sie für bestimmte Gebete, Frömmigkeitsübungen und gute Taten ,Ablass’ verspricht, also den Nachlass von Fegefeuerstrafen“
Vgl. Andreas Theurer, Warum werden wir nicht katholisch? Denkanstöße eines evangelisch-luthe-rischen Pfarrers, Augsburg 52013, 88., sofern der Ablass für die Verstorbenen gewonnen wird. Man kann ihn unter bestimmten Um-ständen aber auch für die Lebenden oder auch für sich selbst gewinnen. Dann geht es um die zeitlichen Sündenstrafen, die entweder teilweise oder gänzlich nachgelassen werden. In jedem Fall verweist uns der Ablass auf die solidarische Gemeinschaft der triumphie-renden, der leidenden und der streitenden Kirche.
Wir sprechen hier von gewinnen, um zum Ausdruck zu bringen, dass die Initiative hier bei Gott liegt und dass es hier keinen Automatismus gibt.
Ein wesentliches Element des Ablasses ist die vollständige Abkehr dessen, der den Ab-lass gewinnen möchte, von der Sünde. Wenn sie nicht gegeben ist, ist der Ablass nicht gültig bzw. hat man ihn nicht gewonnen. Die Voraussetzung für die Gewinnung des Ab-lasses ist also in jedem Fall die Reue zusammen mit dem festen Vorsatz, nicht mehr zu sündigen. Nur dann verstehen wir den Ablass recht, wenn wir ihn als ein exzellentes Bußwerk verstehen
Ebd., 87 f..
In engem Zusammenhang mit der Lehre vom Ablass steht im Glauben der Kirche die Lehre vom Fegefeuer. Auch sie hat der Reformator geleugnet. Nicht weniger als die Lehre vom Ablass unterlag und unterliegt auch sie allerdings manchen Missverständni-ssen. Missverstanden wird sie, wenn man das Fegefeuer als Vorstufe der Hölle versteht. Das Fegefeuer ist im Glauben der Kirche nicht eine Vorstufe der Hölle, sondern eine Vorstufe des Himmels.
Der ehemals evangelische Pfarrer Andreas Theurer hebt den positiven Aspekt des Fege-feuers hervor, wenn er in der Apologie seiner Konversion schreibt: „Ins Fegefeuer kom-men nach katholischer Lehre nicht die, die nicht ganz so schlimm waren, dass sie in die Hölle müssen, sondern diejenigen, die bei ihrem Tod noch nicht den Grad an Heiligkeit erreicht haben, dass sie im Himmel die verzehrende Heiligkeit Gottes sehen und ertra-gen können. Das Fegefeuer stellt man sich (im Glauben der Kirche) vor als einen Reini-gungsort, in dem aus den prinzipiell geretteten Menschen die Reste an Sünde und Schlechtigkeit gleichsam herausgebrannt werden, wie die Schlacken aus dem edlen Me-tall. Die Zeit im Fegefeuer ist grundsätzlich begrenzt … Irgendwann kommt jeder, der im Fegefeuer ist, in den Himmel. Die Hölle ist dagegen ewig“
Ebd., 86 bzw. 85 f. Vgl. auch http://www.augsburger-allgemeine.de/bayern/Andreas-Theurer-Ein-evangelischer-Pfarrer-wird-katholisch-id23003801.html. Die Schriftstellen, die hier relevant sind, sind 1 Kor 3, 13–15 und 2 Makk 12, 43–45. Die Stelle 1 Kor 3, 13–15 hat den folgenden Wortlaut: „ ... wie beschaffen das Werk des Einzelnen ist, das Feuer wird es erproben ... er selbst wird jedoch gerettet werden, doch so wie durch Feuer hin-durch“. Die Stelle 2 Makk 12, 43–45 spricht von den Gebeten für die Verstorbenen und von den Sühnopfern, die wir für sie darbringen können. Im Fegefeuer werden jene zeit-lichen Sündenstrafen abgebüßt, die im irdischen Leben nicht durch Werke der Buße und durch die Leiden des Alltags abgebüßt und auch nicht durch den Ablass nachgelassen worden sind
Andreas Theurer, Warum werden wir nicht katholisch? Denkanstöße eines evangelisch-lutheri-schen Pfarrers, Augsburg 52013, 87..
Seit eh und je ist für die Protestanten das Papsttum bzw. das Papstamt so etwas wie ein rotes Tuch. Vielfach sieht man auch heute noch im Protestantismus, wie einst der Refor-mator es getan hat, den Papst als den Antichristen an. Während die Katholiken das Papstamt als Amt der Einheit verstehen, betrachten die evangelischen, aber auch die or-thodoxen Christen es als wesentlichen Grund für die Genesis und die Fortdauer der „Spaltung“ der Kirche
Ebd., 48. 52..
Ein besonderer Stein des Anstoßes ist für sie der mit dem Papsttum verbundene Unfehl-barkeitsanspruch. Gerade hier wird es besonders deutlich, wie sehr Missverständnisse der Grund sind für den Protest der Reformatoren gegen überkommene Glaubenswahr-heiten. Natürlich hat der Papst nicht die Vollmacht, irgendwelche Privatmeinungen oder private Ideen, „die ihm persönlich einleuchtend erscheinen zur allgemeinen Kirchenleh-re”
Ebd., 54. zu erheben. Nur das kann der Papst allgemein zur Kirchenlehre erheben, was be-reits immer, überall und von allen wenigstens implizit geglaubt worden ist. Wenn die Päpste im Jahre 1854 die unbefleckte Empfängnis der Jungfrau Maria und im Jahre 1950 ihre leibliche Aufnahme in den Himmel dogmatisiert haben, gehen sie davon aus, dass diese Lehren bereits keimhaft im Glaubensgut der Urkirche angelegt sind und dass sie schon immer implizit geglaubt wurden
Ebd., 54 f..
Im Unfehlbarkeitsdogma geht es der Kirche nicht darum, dass sie „einen Menschen zum Tyrannen über die Gewissen der Gläubigen“ erhebt, vielmehr darum, dass durch das Papsttum der Glaubensschatz der Kirche „gegenüber der Beliebigkeit des Zeitgeistes“ gehütet wird. Niemals kann der Papst neue Lehren verkünden. Seine Aufgabe ist es, die göttliche Offenbarung, das Wort der Heiligen Schrift und die apostolische Überliefe-rung, zu schützen und zu bewahren
Ebd., 55.. Das Charisma der Unfehlbarkeit ist ihm eine Hil-fe dazu, dass er ein „Fels in der Brandung“ des Zeitgeistes sein kann
Ebd., 56. .
Zugleich mit der Unfehlbarkeit des Papstes wurde auf dem Ersten Vatikanischen Konzil der Jurisdiktionsprimat des Papstes dogmatisiert. Damit ist gemeint, dass der Papst die oberste Leitungsgewalt über die ganze Kirche innehat und dass er diese jederzeit frei und ungehindert ausüben kann. Das darf nicht dazu führen, dass die Kirche völlig zen-triert wird auf das Papstamt oder dass die Bischöfe zu Vollzugsbeamten des Papstes werden. Die Vollmacht der Bischöfe ist nicht aus der Vollmacht des Papstes abgeleitet. Der Papst ernennt die Bischöfe zwar, ihr Amt erhalten sie aber durch Christus. Dennoch ist der Papst gemäß dem Glauben der Kirche nicht der „primus inter pares“, der Erste unter Gleichen, sondern das Haupt des Bischofskollegiums. Die Kardinäle haben ihn ge-wählt, im Konklave, in sein Amt eingesetzt wurde er jedoch durch Christus. Äußerlich ist das geschehen durch die Zustimmung, die er zu seiner Wahl gegeben hat.
In der katholischen Kirche gibt es zwei oberste Leitungsorgane: Zum einen den Papst al-lein und zum anderen das Bischofskollegium zusammen mit und unter dem Papst, so-fern der Papst das Haupt des Bischofskollegiums ist. Gemäß dem Glauben der Kirche kann der Papst frei wählen, ob er die Leitungsgewalt allein ausüben will oder gemein-sam mit den Bischöfen. In den letzten Jahrzehnten hat die Kirche sich darum bemüht, eine stärkere Einordnung des Papstamtes in das Kollegium der Bischöfe zu vollziehen. Sie hat das vor allem durch die Bischofssynoden getan, die von Zeit zu Zeit einberufen wurden. Im Dienst der Idee einer stärkeren Einordnung des Papstamtes in das Kollegium der Bischöfe steht auch eine gewisse Dezentralisierung. Sie findet etwa darin ihren Aus-druck, dass nur noch wenige Amtshandlungen der Bischöfe dem Papst und der römi-schen Kurie vorbehalten sind und die Bischöfe nur noch in wenigen Fällen nach Rom re-kurrieren müssen, um bestimmte Amtshandlungen durchführen zu können
Ebd., 56 f.. Wie weit die Dezentralisierung, die möglicherweise noch weitere Früchte zeitigen wird, der Ein-heit der Kirche dienlich ist, darüber kann man freilich geteilter Meinung sein.
Anstoß erregt bei den Protestanten seit eh und je auch die katholische Heiligenverehrung und da wiederum in besonderer Weise die Marienverehrung, ein bedeutendes Erbe der Reformation. Das gilt allgemein, von Ausnahmen abgesehen. So erklärt man etwa: 1. Über die Heiligenverehrung und die Marienverehrung steht nichts in der Bibel, 2. die Heiligenverehrung und die Marienverehrung schieben den alleinigen Erlöser Jesus Chri-stus an den Rand, 3. in der Marienverehrung wird die Mutter Jesu faktisch als Göttin verehrt, und 4. in der Anrufung von Heiligen lebt der heidnische Polytheismus fort, und die Anrufung der Heiligen fördert den Aberglauben, wenn man sie nicht gar als eine Form der Esoterik verstehen muss.
Der protestantischen Kritik an der Heiligenverehrung dürften in erster Linie wiederum Missverständnisse zugrunde liegen. Das ist das eine. Zum anderen bezieht sich die pro-testantische Kritik an der Heiligenverehrung nicht selten auf deren Fehlformen, speziell auf deren magische Verfremdung. Hier gilt jedoch „abusus non tollit usum“ – „der Miss-brauch hebt den guten Gebrauch nicht auf“
Ebd., 58 f..
Ursprünglich wurden alle, die in der heiligmachenden Gnade, die also als Getaufte leb-ten, als Heilige bezeichnet. Diese Terminologie verwendet noch der Apostel Paulus. Von daher sah man dann die Märtyrer als die Heiligen katexochen an. Hatten sie doch ihr Leben hingegeben für den Glauben. Bald wurden dann jedoch auch andere, die ein heiligmäßiges Leben geführt hatten, als Heilige verstanden. So etwa die gottgeweihten Jungfrauen und die Bekenner. Da fasste man dann den Begriff des Heiligen wieder en-ger, sofern man nun das vorbildliche Leben als Kriterium der Heiligkeit betrachtete. Diese Heiligen konnten dann auch Gegenstand der Verehrung werden. Zunächst ge-schah das spontan, später kam es dann zu öffentlichen Selig- und Heiligsprechungen. Heute konzediert man den Heiligen, dass sie nicht unbedingt fehlerlos und vollkommen gewesen sind, etwa in den Beatifikations- und den Kanonisationsverfahren, wenn sie nur „den guten Kampf gekämpft“ (1 Tim 6, 12; 2 Tim 4, 7) und schließlich einen heroischen Tugendgrad erreicht haben.
Die Heiligenverehrung ist die Konsequenz des Glaubens an die Gemeinschaft der Heili-gen. Wie wir in der menschlichen Gesellschaft, in den kleinen und großen Gemeinschaf-ten, einander zu Hilfe kommen und auch unsere Mitmenschen um Hilfe bitten, vor al-lem, wenn sie uns nahe stehen, so ist es konsequent, also folgerichtig, dass wir auch die Verstorbenen, deren Seelen weiterleben, einbeziehen in unser Bittgebet, sei es, dass sie im Fegefeuer sind oder dass sie schon vollendet, also in der Anschauung Gottes sind.
Die Heiligen werden nicht angebetet, sie können nichts anderes für uns tun, als Gott um seine Hilfe bitten für uns. Sofern sie das tun, haben sie uns, die wir sie verehren und bit-tend vor sie hintreten, im Grunde nichts voraus, denn auch wir können füreinander bit-tend vor Gott hintreten. Voraus haben sie uns, dass sie näher bei Gott sind. Wenn wir die Heiligen verehren und anrufen, geht es nicht darum, dass sie, die Heiligen, uns direkt zu Hilfe kommen. Ihre Hilfe besteht dann vielmehr darin, dass sie unsere Bitten vor Gott hintragen. Auch können sie keine Wunder wirken, die Heiligen. Sie können jedoch Gott darum bitten, dass er Wunder wirkt. Auch das haben sie mit uns gemeinsam.
Die Verehrung der Heiligen ist missbräuchlich, wenn sie magische Züge annimmt oder wenn man bei ihrer Verehrung vergisst, dass sie Geschöpfe sind. Dann gleitet sie ab in den Aberglauben, dann verfälscht sie den Glauben der Kirche. Des Öfteren geschieht das im Zusammenhang mit angeblichen Privatoffenbarungen, speziell in der Gestalt von Voraussagen für die Zukunft, und mit der Reliquienverehrung. Da bilden sich zuweilen seltsame Glaubensvorstellungen und Glaubenspraktiken. Dabei geschieht es immer wie-der, dass sich ihnen Einzelne oder auch ganze Gruppen verschreiben, die gelegentlich zu regelrechten Sekten auswachsen. Sie unterlaufen den Glauben der Kirche durch neue „Offenbarungen“ und durch esoterisches Gedankengut und okkulte und magische Prak-tiken. Zuweilen wird in diesen Kreisen die Parapsychologie zur Religion und verdrängt die Reste des Christentums oder konterkariert die gesamte Pastoral bzw. das Leben in der Gemeinde. Nicht selten wird die genuine Pastoral heute aber auch von der Esoterik und von der Psychologie überrollt. Man will sehen und erleben. Und man will den Glau-ben erfahren. Da sind die Hirten gefordert, deren primäre Aufgabe es ist, über die Rein-heit des Glaubens und des Kultes zu wachen..
Vor einigen Jahrzehnten hat das Hirtenamt der Kirche das Engelwerk, das auf dem Fun-dament der so genannten Offenbarungen der Gabriele Bitterlich († 1978) entstanden war, die stark von esoterischen Gedanken geprägt waren und die Gnosis der frühen Kir-che zu neuen Ehren zu führen versuchten, verboten bzw. diszipliniert. Die Sache wurde seinerzeit geordnet und mündete aus in der Gründung des Kreuz-Ordens – genauer ge-sagt in der Wiederbegründung dieses Ordens –, der die guten Gedanken der Engel-werk-Bewegung weiterführen sollte. Es blieb jedoch auch hier, wie es nicht selten geht in solchen Fällen, eine kleine Gruppe von Besserwissern, die sich dem Urteil der Kirche nicht beugten oder nur äußere Loyalität bekundeten.
Dem Protestantismus fehlt nicht nur das Verständnis für die Heiligen, sondern auch für das Heilige, für das Sakrale. Das hängt zusammen mit dem mangelnden Verständnis der Christen der Reformation für die Anbetung Gottes und für die Sichtbarkeit des Heils, wie sie uns in den Sakramenten begegnet, und schließlich gar in dem zentralen Glau-bensgeheimnis der Menschwerdung Gottes. Auch das ist ein Erbe der Reformation, nicht zuletzt auch des Exponenten der Reformation. Erst in der Gegenwart gibt es im Protestantismus wieder kontemplative Orden, die auch die Anbetung pflegen, und eine neue wenn auch nur zögernde Hinwendung zum sakramentalen Prinzip und zur Sicht-barkeit des Heils.
Ganz fremd ist die Heiligenverehrung dem Protestantismus indessen schon immer nicht gewesen. In der Apologie zum Augsburger Bekenntnis, zur „Confessio Augustana“, wird die Fürbitte der Heiligen für die irdische Kirche, speziell die Fürbitte der Märtyrer, ausdrücklich erwähnt, wenngleich ihre Anrufung dort nicht empfohlen wird
Art. 21: Bekenntnisschriften der evangelisch–lutherischen Kirche (BSLK), Göttingen 1930, 317; vgl. Andreas Theurer, Warum werden wir nicht katholisch? Denkanstöße eines evangelisch-lutheri-schen Pfarrers, Augsburg 52013, 59.. Die Hei-ligen, die nicht Märtyrer gewesen sind, werden in der „Confessio Augustana“ nur als Vorbilder verehrt, nicht als Fürsprecher. Im Übrigen gibt es heute noch Heiligenkalen-der in protestantischen Kirchen und werden die Heiligen in ihnen heute noch teilweise an ihren Gedenktagen verehrt. Den Vorrang haben jedoch die Märtyrer, die seit den Ta-gen der Urkirche stets auch um ihre Fürbitte angerufen wurden
Andreas Theurer, Warum werden wir nicht katholisch? Denkanstöße eine evangelisch-lutherischen Pfarrers, Augsburg 52013, 59.. Durchgehalten hat sich die Heiligenverehrung sodann in den lutherischen Kirchen Skandinaviens und Ame-rikas sowie in der anglikanischen Kirche. Dabei beobachten wir gegenwärtig gerade auch im deutschen Protestantismus ein gewisses Wiederaufleben der Heiligenvereh-rung
Gisbert Kranz, Plädoyer für Heiligenleben, Kisslegg 2006, 30..
Es drängt sich an dieser Stelle die Frage auf, wie die Protestanten nun ihren Bruch mit der Kirche am Beginn der Neuzeit begründen. Sie tun das mit Hilfe der Dekadenz-Theo-rie. So sagt man etwa, im Hochmittelalter sei die Kirche vom christlichen Pfad abgeirrt und zum Katholizismus degeneriert, zwei Jahrhunderte später, am Beginn der Neuzeit hätten die Protestanten dann die wahre Urkirche wieder entdeckt und wieder aufgegrif-fen. Andere schoben und schieben das Datum der Entstehung des Katholizismus weiter zurück, bis zur konstantinischen Wende im Jahre 313. Nach diesem Zeitpunkt habe sich, so sagen sie, die Kirche dem römischen Staat angedient und ihre ursprüngliche Gestalt verlassen. Noch weiter zurück geht der einflussreiche evangelische Theologe Adolf von Harnack († 1930), wenn er lehrt, zu Anfang des 2. Jahrhunderts sei in der Auseinander-setzung mit dem Gnostizismus aus der Urkirche die katholische Lehr- und Gesetzeskir-che geworden. Andere gehen einen weiteren Schritt zurück und behaupten, schon inner-halb des Neuen Testamentes sei der Ursprung verfälscht worden, in der Gestalt des Frühkatholizismus, der seinerseits das Ergebnis des Aufhörens der Naherwartung sei, welche die Kirche bis dahin geprägt habe. Nicht genug damit, machen wieder andere Je-sus selbst verantwortlich für die angebliche Verfälschung der ursprünglichen Botschaft, sofern er die Offenbarung vom Vatergott in definierte Inhalte, in eine sprachlich fixierte Botschaft und in eine von seiner Umwelt entlehnten Darstellungsform übersetzt habe
Vgl. Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums, Tübingen 2005, 110 ff..
UNLAUTERE ÖKUMENE
Der Benediktiner Anselm Grün (* 1945) und der frühere Ratsvorsitzende der EKD, Prä-ses Nikolaus Schneider (* 1947), haben unlängst ein Buch herausgebracht, das den Titel trägt „Luther gemeinsam betrachtet. Reformatorische Impulse für heute“. Es handelt sich bei diesem Buch um ein Interview
Münsterschwarzach 2017.. Für die zwei Autoren sind die Gegensätze zwischen der katholischen Glaubenslehre und der katholischen Sakramenten-Ordnung und der Reformation nur eine Frage der Perspektiven. Die Perspektiven aber sind beliebig veränderbar für sie.
In der besagten Publikation erklärt Grün, er sehe in der Einladung aller zur Kommunion kein Problem, obwohl er doch wissen müsste, das Luther die heilige Messe als Götzen-dienst geschmäht hat, als Götzendienst, der vom Teufel eingeflüstert worden ist
Winkelmess und Pfaffenweih, Wittenberg, Tom VII, Fol 443: WA 38; siehe oben Fußnote 39.. Auch müsste er wissen, dass den Protestanten das Weihesakrament fehlt sowie das Altarssa-krament und das Bußsakrament. Weder die Verwerfung des Weihesakraments noch des Altarssakrament und des Bußsakraments durch die Reformatoren sind dem Pater inde-ssen ein Problem. Auch weiß er nicht oder will er nicht wissen, dass der Gnadenstand die Voraussetzung ist für den Empfang der Eucharistie: „Wer unwürdig isst und trinkt, der isst und trinkt sich das Gericht“, schreibt der Apostel Paulus (1 Kor 11, 29). Gleich-gültig ist dem Pater auch die Tatsache, dass es gemäß den Normen der Kirche keine In-terkommunion gibt und geben kann, wie auch an dieser Stelle gezeigt wurde
Siehe oben S. 68–72.. Da drängt sich der Gedanke auf, dass er den katholischen Glauben nicht mehr kennt oder dass er ihn nicht mehr bejaht. Mit solcher Distanzierung von der katholischen Wahrheit erweist sich der Pater letztlich als Prophet der Gesetzlosigkeit, dient er der Auflösung der Kirche und dem Aufbau der „neuen Weltordnung“ im Dienst der „sanften Ver-schwörung des Wassermannes“. Das ist heute einfach und folgenlos, weil jene, die den Glauben und die Rechtsordnung der Kirche garantieren sollen, angesichts der massiven Ablehnung jeder Autorität weithin schweigen, wenn sie sich nicht gar zur „Lebenswirk-lichkeit“ des modernen Menschen bekehrt haben und darin gar eine neue Offenbarungs-quelle entdeckt haben.
Grün lädt „alle ausdrücklich“ zur Kommunion ein. Dass er das nicht darf, ist ihm gleich-gültig. Das Ganze ist für ihn keine Frage des Glaubens mehr, sondern der Politik. Damit steht er freilich nicht allein, und hinter ihm stehen vor allem die Massenmedien. Konse-quenterweise folgt da nach der politischen „Ehe für alle“ die kirchliche „Kommunion für alle“.
Die Frage, die sich hier aufdrängt, ist die: Wie muss es in dem Konvent zugehen, dem dieser Pater angehört und in dem er schon deshalb eine große Rolle spielt, weil er dem Orden durch seine Auftritte und durch seine Publikationen Unsummen von Geld ver-schafft? Welchen Stellenwert mag da noch die Regel des heiligen Benedikt († 547) ha-ben?
Die Marienlehre liquidiert der Pater in seinem Luther-Buch, indem er die Prärogativen Mariens einfach auf alle überträgt. Maria wird dann zum Typus des erlösten Menschen, so dass das, was von ihr gesagt wird, für uns alle gilt, für einen jeden von uns. Die unbe-fleckte Empfängnis der Gottesmutter bedeutet dann nichts anderes als dass wir alle von Anbeginn der Welt in Christus auserwählt sind, heilig und makellos zu sein. Maria ist dann in keiner Weise mehr etwas Besonderes. Genau das möchte der Pater zeigen, der so ein bedeutendes Hindernis für die Einigung der Christen meint beseitigen zu kön-nen
Vgl. katholisch.de vom 17. Juli 2017..
Das ist eine Ökumene der dogmatischen Reduktion, eine Ökumene der Subtraktion, wenn nicht gar des Verzichtes auf die Glaubensgeheimnisse in ihrer Gesamtheit, eine Ökumene, die unwahrhaftig ist und unehrlich, die sich schließlich selber den Boden un-ter den Füßen wegzieht. In dieser Gestalt begegnet sie, die Ökumene, uns indessen häu-figer in der Gegenwart, wenn nicht gar durchweg. Das entscheidende Problem ist da der Glaubensverlust auf beiden Seiten. Man nimmt den Glauben nicht mehr ernst, er ist einem gleichgültig geworden. Der gemeinsame Nenner ist hier der Unglaube oder auch der Indifferentismus, der ohnehin in der Nachbarschaft des verlorenen Glaubens ange-siedelt ist.
Selbst da, wo man dem Glauben noch eine gewisse Bedeutung beimisst in der Ökumene, geht man weithin nicht mehr von der Realität der Glaubensmysterien aus, von ihrer me-taphysischen Realität. Ein Großteil der Theologen versteht heute die theologischen Aus-sagen über die Glaubenswahrheiten, nachdem sie sich von der Analogie des Seins, von der „analogia entis“ verabschiedet haben, nur noch metaphorisch. Daher sieht man in den Glaubensunterschieden, die die Trennung der Protestanten von der Kirche Roms aufrechterhalten und tatsächlich auch rechtfertigen, nur noch verschiedene Traditionen, wenn nicht gar nur noch verschiedene religiöse Erfahrungen, die man nebeneinander aufreihen kann, die alle die gleiche Relevanz, die gleiche Gültigkeit haben
Das gilt für die verschiedenen christlichen Konfessionen nicht weniger als für die verschiedenen Re-ligionen. Da ist dann der Relativismus perfekt. Papst Benedikt XVI. weist im Jahre 2003, damals noch Kardinal Ratzinger, auf die innere Spaltung der Kirche hin, wenn er feststellt: „Wir sind mit Ökume-nismus beschäftigt und vergessen dabei, dass sich die Kirche in ihrem Inneren gespalten hat und dass das bis in die Familien und Gemeinden hineinreicht“. Heute, 14 Jahre später, gilt das weit mehr noch als damals (Joseph Kardinal Ratzinger in einem Interview mit Guido Horst, vgl. Die Tagespost vom 3. Oktober 2003.. Das, was die „überfällige“ allgemeine Fusion der Konfessionen verhindert, ist in der Sicht dieser Ökumeniker dann lediglich die Macht der Mächtigen in der Kirche oder auch in den Kirchen.
Nach wie vor gilt jedoch, dass das Heil des Menschen bedingt ist durch die Annahme der vollständigen Offenbarung Gottes und durch die Annahme der ganzen Wahrheit, speziell der geoffenbarten Wahrheit, die für Gott steht und für die Gott steht. Gemäß Mk 16, 16 wird der gerettet, der glaubt und sich taufen lässt, wird derjenige hingegen, der den Glauben und die Taufe ablehnt, explizit oder implizit, verdammt werden. Es ist der Glaube, der den Menschen rechtfertigt, allerdings nicht der Glaube allein, sondern der Glaube, der in der Liebe seine Gestalt findet und gefunden hat. Die Rechtfertigung allein durch den Glauben, die bequemere Version, bestimmt heute auch das Denken vieler Katholiken, sofern sie überhaupt noch an der Rechtfertigung interessiert sind. Immerhin zeigt sich auch hier ein massiver Einbruch des Protestantismus in die katholische Kir-che.
Nicht weniger zeigt er sich darin, dass man heute de facto auf katholischer Seite weithin eine Theologie der Paradoxie vertritt, wenn da überhaupt noch von Theologie die Rede sein kann. Faktisch denkt man heute auch auf katholischer Seite weithin protestantisch, also irrational, und relativiert man von daher die katholischen Sonderlehren. Damit wird der ökumenische Dialog, wie bereits festgestellt wurde, im Grunde genommen gegen-standslos.
Katholiken wie Protestanten haben jeweils auf ihre Art weithin den Glauben verloren. Besonders stark ist der Glaubensschwund bei den Protestanten, wie ja auch deren Bin-dung an die Kirche um ein Vielfältiges geringer ist, als das bei den Katholiken der Fall ist. Zudem kennen die reformatorischen Christen und selbst deren Theologen den kat-holischen Glauben nur sehr oberflächlich. Heute allerdings gilt Letzteres jedoch in wachsendem Maße auch für die Katholiken und für die katholischen Theologen. Auf katholischer Seite bezieht sich diese Ignoranz nicht zuletzt auf die entscheidende Gestalt der Reformation, auf den ehemaligen Augustiner-Eremiten Martin Luther. Eine Blüte solcher Unkenntnis ist das Bestreben katholischer Theologen und auch katholischer Amtsträger, den Reformator zu kanonisieren, ihn also heiligzusprechen, wie das im Jahr des Reformationsjubiläums immer wieder geschehen ist, den „Lehrer des Evangeliums“, den „Vater im Glauben“ oder den „Vater des Glaubens“.
Im Kontext der Ökumene gibt es heute immer wieder feierliche Bußrituale. De facto handelt es sich bei ihnen um unsinnige Demonstrationen. Es ist gegen die Vernunft, für die Schuld von Menschen, die vor Jahrhunderten schuldig geworden sind, um Verzei-hung zu bitten. Überhaupt ist es gegen die Vernunft, für einen anderen um Verzeihung zu bitten. Die Bitte um Verzeihung kommt allein dem zu, der schuldig geworden ist. „Im Ernst kann niemand anstelle von Tätern früherer Jahrhunderte für begangene Schuld um Vergebung bitten und niemand hat die Vollmacht, anstelle von Opfern Vergebung zu gewähren. Sünden vergeben kann zudem nur Gott allein“, schreibt der evangelische Theologe Ulrich Heinz Jürgen Körtner (* 1957)
„idea“–Nachrichten vom 11. März 2017.. Man kann Sühne leisten für die Sün-den anderer oder für andere, die schuldig geworden sind. Dann muss man jedoch wissen, wer der Schuldige ist, und was die Schuld ist. Darüber hinaus kann man auch dafür beten, dass schuldig Gewordene ihre Schuld erkennen, sie bereuen, um Verzeihung bit-ten und umkehren.
Was in der Ökumene bedacht werden muss, jedoch kaum bedacht wird, das ist, dass sich unsere protestantischen Gesprächspartner radikal dem Zeitgeist ausgeliefert haben und diesem gar in seiner immer mehr hervortretenden diktatorischen Gestalt weithin zuvor-kommen. Das gilt für die Homosexualität wie für den Genderismus, die Definition der Ehe, die Abtreibung, die Euthanasie, die Gentechnik, die Organtransplantation und die übrigen Fragen der medizinischen Ethik und der Bioethik und nicht zuletzt auch für die Sexualisierung des öffentlichen Lebens, Fragen und Pänomene, die allesamt im Dienst der hypothetischen neuen Weltordnung stehen, die sich als Welteinheitsreligion und als Welteinheitsstaat versteht, die das höchste Glück aller herbeiführen sollen. Heute folgen ihnen darin allerdings nicht wenige Vertreter der katholischen Kirche.
Am 10. November haben 126 Synodale der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) einstimmig ein neues Pfarrerdienstgesetz beschlossen, nach Aussage von Landesbischof Ulrich Fischer (* 1949) ein „epochales Werk“. In ihm heißt es im Paragraph 39, dass Pfarrerinnen und Pfarrer auch lesbische und schwule Verbindungen leben dürfen. In dem „epochalen Werk“ wird dann auch die Familie neu definiert, wenn man sie schon dann als existent ansieht, wenn mindestens zwei Menschen eine Gemeinschaft auf Dauer geschlossen haben
https://www.ekd.de/pm288_synode_pfarrdienstgesetz.htm . Das hat zur Folge, dass etwa Pfarrer und Pfarrerinnen, die in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft leben, als Familie angesehen werden müssen.
Im Jahre 2012 erklärte der evangelische Theologie-Professor Peter Zimmerling (* 1958) beim Deutschland-Treffen der Geistlichen Gemeinde-Erneuerung in Leipzig, die mei-sten Aussagen im christlichen Glaubensbekenntnis seien heute innerhalb der evangelis-chen Kirche umstritten. Das gilt inzwischen nicht weniger für die katholische Kirche. Im Einzelnen erinnerte Zimmerling daran, dass die Vateranrede Gottes in Frage gestellt werde, ebenso die Allmacht Gottes, die Wiederkunft Christi und die Auferstehung der Toten
Kath.net vom 6. November 2012.. Was übrig bleibt bei solchem Kahlschlag, wenn überhaupt noch etwas übrig bleibt von diesem Christentum, ist dann, um mit Friedrich Schleiermacher († 1834), dem (evangelischen) Kirchenvater des 19. Jahrhunderts, zu reden, das Gefühl der schlecht-hinnigen Abhängigkeit
http://www.deutschlandfunk.de/schleiermacher-und-der-beginn-der-liberalen-theologie-im.886.de.html?dram:article_id=235056 .
Der damalige Vorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Präses Schneider, erklärte im Jahre 2012, er wolle im Ernstfall auch einen Suizid begleiten und mithelfen, ihn durchzuführen. Sein Geständnis: „Wenn ein Mensch intensiv darum bittet, dann ma-che ich mir nach der reinen Lehre auch die Hände schmutzig“
Kath.net vom 5. November 2012..
Zwar haben die Gemeinschaften der Reformation viele christliche Wahrheiten, aber es fehlen ihnen aber auch viele, und es kommt noch eine Reihe von Irrtümern hinzu. Das gilt besonders heute, da sich viele reformatorische Christen faktisch immer mehr von ihrem reformatorischen Erbe und der Heiligen Schrift entfernen.
Kardinal Müller erklärte unlängst in einem Interview: „Die protestantische Reform darf nicht einfach als Reform einiger moralischer Missbräuche verstanden werden, sondern man muss erkennen, dass sie den Kern des katholischen Offenbarungsglaubens berührt“. Er stellt dann fest, es gebe bei den Protestanten „dogmatische Irrtümer, die wir nie ak-zeptieren“ könnten. So bestehe etwa das, was die Protestanten von den Katholiken tren-ne, „nicht nur in der Zahl der Sakramente, sondern auch in deren Bedeutung“
Vgl. Guido Horst, „Müller schließt Kommunionempfang wiederverheirateter Geschiedener aus, in: Die Tagespost vom 6. Februar 2017 (Kardinal Müller: Interview zu „Amoris laetitia“ und zur Reforma-tion vom 1. Februar 2017)..
Der Niedergang des Protestantismus ist neuerdings wieder deutlich hervorgetreten auf dem Kirchentag in Berlin. Mit Recht schreiben Kritiker, die Evangelische Kirche habe kein Problem mit Gott, sie brauche Gott nicht mehr, sie habe „Götzen und Propheten wie Obama und Käßmann, die selbst für banalste Aussagen frenetisch bejubelt“ würden. Es erfülle sich da, was der frühere Bundesverteidigungsminister Hans Apel († 2011) von der SPD in seinem Buch „Volkskirche ohne Volk“ über den Niedergang des deutschen Protestantismus aufgeschrieben habe, „von Pastoren, die nicht an Gott glauben, von Geistlichen, die Kirchen mit Anti-Nato-Gottesdiensten und schrägen Klampfenklängen” entweihen würden“
https://www.gloria.tv/article/atkcLQv3b6TC69epdSUAF2u7D .
In der katholischen Kirche ist die Situation freilich nicht sehr viel besser. Der Kurien-Kardinal Robert Sarah (* 1945) sprach kürzlich im Anschluss an Friedrich Nietzsche († 1900) von den Kirchen als den Gräbern Gottes. Er erklärte: „Im Westen ist Gott gestor-ben und wir sind jene, die ihn getötet haben. Wir sind seine Mörder. Unsere Kirchen sind die Gräber Gottes. Viele Gläubige besuchen sie nicht mehr, um dem Geruch der Fäulnis Gottes aus dem Weg zu gehen“
https://www.gloria.tv/article/NqDSDBQfuw4p4WUv9pDPnZojE ; vgl. Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 1887, III. Buch, Nr. 125. .
RÜCKBLICK
Wie der selige John Henry Newman († 1890), der (katholische) Kirchenvater des 19. Jahrhunderts feststellt, hat die Reformation vor allem die Idee der Kirche aus den Her-zen der Menschen gerissen
John Henry Newman, Discussions and Arguments on Various Subjects, London 1872, 5. 24; ders., Zur Philosophie und Theologie des Glaubens (Ausgewählte Werke, VI), Mainz 1964, 58.. Schon in seiner anglikanischen Zeit kritisiert er die anti-kirchliche Haltung der kontinentalen Reformation
Ders., Discussions and Arguments on Various Subjects, London 1878, 24. und deren Gesetzlosigkeit
Ders., Apologia pro vita sua (Ausgewählte Werke, I), Mainz 1951, 225; ders., Zur Philosophie und Theologie des Glaubens (Ausgewählte Werke, V), Mainz 1964, 36. 78. 95. 100. 105., Gra-vamina, die er in der anglikanischen Reformation so nicht zu finden vermeint. Er er-klärt, die kontinentale Reformation habe die Kirche selbst verworfen und die Autorität der Schrift nicht auf die Kirche, sondern auf die (menschliche) Vernunft gegründet
Ders., Zur Philosophie und Theologie des Glaubens (Ausgewählte Werke, V), Mainz 1964, 58 f.. Der sich darin bekundende Subjektivismus ist nicht peripher, verändert er doch im Grunde alle Wahrheiten des Glaubens und selbst den Wahrheitsbegriff, wie das negative Vorzeichen vor der Klammer in der Mathematik alle Faktoren in der Klammer verän-dert. Da fragt man sich, wie der katholische Christ noch meinen kann, dass uns mehr verbindet als uns trennt. Eine solche Position ist entweder unüberlegt, oder sie ist ein Anzeichen dafür, dass der katholische Glaube nur noch auf Sparflamme brennt oder dass man die bestehenden Glaubensunterschiede nicht mehr ernst nimmt. Newman sieht darüber hinaus in der Reformation den Geist der Gesetzlosigkeit am Werk, von dem der 2. Thessalonicher-Brief spricht (2 Thess 2, 3), also das Wirken des Antichrist, dessen er-ster Spross, wie Newman feststellt, der Liberalismus ist. Diesem Liberalismus setzt Newman das dogmatische Prinzip als katholisches Proprium entgegen
Ders., Apologia pro vita sua (Ausgewählte Werke, I), Mainz 1951, 225..
In seiner „Apologia pro vita sua“ schreibt er: „Wenn man mich fragt, wie ein Mensch dazu komme, von einer kirchlichen Gemeinschaft, die so alt, so weit verbreitet und so fruchtbar an Heiligen ist, solche Ansichten zu haben und dieselben sogar öffentlich aus-zusprechen, so antworte ich, dass ich mir damals (vor der Konversion) sagte: ‚Ich spre-che nicht aus mir selbst, sondern folge nur dem fast übereinstimmenden Urteil der Got-tesgelehrten meiner Kirche. Sogar die Begabtesten und Gelehrtesten unter ihnen haben sich in schärfsten Worten gegen Rom ausgelassen. Ich schließe mich ihrem System an. Solange ich nichts anderes sage als sie, bin ich meiner Sache sicher. Solche Ansichten sind zudem für unsere Stellung notwendig‘. Doch habe ich Grund, zu befürchten, dass diese Sprache in nicht geringem Maße auf ein ungezügeltes Temperament, auf die Hoff-nung, mich verehrten Persönlichkeiten zu empfehlen, und auf den Wunsch, die Anklage der Sympathie für Rom zu widerlegen, zurückzuführen ist … Der anglikanische Stand-punkt konnte nicht in befriedigender Weise vertreten werden, ohne den römischen anzu-greifen. In dieser wie in allen Streitfragen war der eine oder der andere Teil im Recht, nicht beide; und die beste Verteidigung war der Angriff. Ist dies nicht fast ein Gemein-platz in der Auseinandersetzung mit Rom? Sagt das nicht jeder, der davon überhaupt spricht? Wird ein ernster Mann die römische Kirche beschimpfen, bloß um sie zu be-schimpfen, oder weil diese Beschimpfung seinen eigenen religiösen Standpunkt recht-fertigt?“
Ebd., 235–237.
Ein entscheidendes Argument für die Wahrheit des katholischen Glaubens ist für New-man die Tatsache, dass es die katholische Religion lange vor der Reformation gegeben hat, genauer gesagt: „schon immer“, seitdem es das Christentum gibt. Das ist ein Argu-ment, das heute noch gültig ist und auch heute noch überzeugen kann
John Henry Newman, Briefe und Tagebücher aus der katholischen Zeit (Ausgewählte Werke, II/III), Mainz 1957, 92..
Schaut man kritisch auf die Genesis der Reformation und ihre weitere Entwicklung in der Geschichte, gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten, entweder die Konversion zum Glauben der Mutterkirche oder die gänzliche Abwendung vom Christentum. Der selige John Henry Newman betont nachdrücklich, dass ihn die Kenntnis der Geschichte der alten Kirche zur katholischen Kirche geführt hat. Dankbar bekennt er: „Die Väter haben mich katholisch gemacht“
Ders., Brief an E. P. Pusey zu seinem jüngst veröffentlichten Eirenikon, in: John Henry Newman, Polemische Schriften (Ausgewählte Werke, IV), Mainz 1959, 19; vgl. ders., Letters and Diaries, Vol. XXV, Oxford 1973, 353.. Diese Erkenntnis kann man wohl auch auf die Ge-schichte der Reformation anwenden. Auch sie, die Geschichte der Reformation, müsste den vorurteilsfreien Betrachter eigentlich zur Rückkehr zur Mutterkirche bewegen.
In dem noch heute lesenswerten Jugendbuch des isländischen Schriftstellers Jón Sven-sson (Sveinsson), eines Konvertiten der Gesellschaft Jesu, „Wie Nonni das Glück fand“ trifft der evangelische Pfarrer Magnussohn die Feststellung: „Es ist schwer für einen Protestanten, längere Zeit unter frommen, eifrigen Katholiken zu leben, ohne selbst kat-holisch zu werden“. Er fährt dann fort: „Wir dürfen nicht vergessen, dass die katholische Kirche die Mutterkirche ist, und dass wir all das Gute, dass wir überhaupt besitzen, von ihr bekommen haben. Zur Zeit Luthers waren viele Missbräuche in den katholischen Ländern, doch die katholische Kirche hat diese Missbräuche nach und nach abgeschafft und das Reformationswerk selber durchgeführt“
Jón Svensson, Wie Nonni das Glück fand, Neusäß 2011 (Lizenzausgabe Herder Freiburg 1935), 47. Svensson kommt auch auf die vielen Missverständnisse der Protestanten hinsichtlich dessen, was kat-holisch ist, zu sprechen. Er erklärt, immer wieder würden die Protestanten behaupten, die Katholiken hätten die Heilige Schrift verworfen und sie würden die Bibel gar nicht kennen, die Katholiken würden die Jungfrau Maria und den Papst anbeten, die Jesuiten seien eine gefährliche katholische Sekte, es ge-be aber bei den Katholiken noch weitere Sekten dieser Art. Die Mitglieder dieser Gruppierungen seien gottlos und schlecht. Zudem sei der katholische Gottesdienst lächerlich, in ihm würde immer mit Glocken und Schellen geläutet (49). Interessant ist hier noch, dass die Mutter des Nonni ihrem Sohn bei seinem Abschied erklärt: „ ... ich glaube, dass du deine Unschuld leichter bewahren wirst, wenn du als Katholik unter der Leitung von katholische Geistlichen stehst. Bei guten Katholiken werden die Kinder mit größter Sorgfalt erzogen. In dieser Beziehung wendet die katholische Kirche ausgezeichnete Mit-tel an“ (51). Solches kann man heute nur noch mit Wehmut vernehmen..
EPILOG
Das Christentum befindet sich heute in einer grundlegenden Existenzkrise. Das gilt für die Volkskirchen, im Grunde aber auch wohl für die Freikirchen. Das Merkwürdige ist nun, dass jene, die vom Christentum leben, zum allergrößten Teil dieses Faktum nicht wahrhaben wollen und den Abbruch als Aufbruch bezeichnen oder das, was vorher war, als unvergleichlich schlimmer deklarieren. Warum tun sie das? Weil die Wahrheit ihre Existenz unmittelbar bedrohen würde. Darum auch die exponierte Sorge, dass das äuße-re System nicht angetastet und dass die Institution in keiner Weise in Frage gestellt wird, obwohl sie sich sagen müssten, dass da Selbstzerstörung betrieben wird. Allein, soweit sie wirklich eine Ahnung davon haben, trösten sie sich wohl mit der Devise „nach uns die Sintflut“. Das liegt nahe, da der exzessive Egoismus ohnehin die letzte Ursache ist für all das, was hier beklagt wird. Das Nicht-erkennen oder Nicht-erkennen-Wollen der verhängnisvollen Situation gehört wohl auch sonst zum Phänomen des Niedergangs von Kulturen.
Die entscheidende Lösung der Frage nach dem Grund dafür, dass die guten Früchte des Konzils ausgeblieben sind, ist die, dass heute in der Theologie, auch in der katholischen, vielfach ein oberflächlicher Agnostizismus oder Positivismus dominiert, dass heute viele katholische Theologen lehren, es gebe keine Wahrheit in der Theologie, zumindest kön-ne sie nicht erkannt werden, in der Theologie gebe es nur Meinungen und Argumente für diese Meinungen, Argumente, die sich jedoch morgen als falsch erweisen könnten. Sie sprechen hier von Überzeugungen, bedenken dabei jedoch nicht, dass Überzeugun-gen, von denen man annimmt, dass sie sich morgen als falsch erweisen können, logi-scherweise keine Überzeugungen sind oder sein können. Die Dogmen werden in der Theologie und auch in der Verkündigung weithin nicht mehr als Aussagen über überna-türliche Realitäten verstanden, sondern als spezifisch getönte Betroffenheit, als subjekti-ves Angesprochenwerden, als persönliche Widerfahrnisse und religiöse Erlebnisse, als Ausdruck des vom Menschen gewonnenen Bewusstseins seiner Beziehung zu Gott, als Symbol des Göttlichen. Seit dem „Tod der Metaphysik“, zu dem sich allzu viele Theo-logen bekennen, gibt es im Denken vieler keine Möglichkeit mehr, Weltjenseitiges zu erkennen und in Worte zu fassen, hat der Glaube weithin keinen realen Wert mehr, son-dern nur noch einen psychologischen. Konsequenterweise werden dann die Sakramente nur noch als Rituale betrachtet.
Die vielfache Klage gegen die Intellektualisierung des Glaubens, der man heute landauf landab begegnet, hat weder Hand noch Fuß. Gewiss, man hat das Erlebnis vielfach aus dem Glauben eliminiert, besser: aus der Glaubenspraxis, die Alternative ist hier jedoch nicht Einsicht, sondern Pseudo-Einsicht. Echte Intellektualität wäre ein grundlegendes Prinzip des Glaubens, und sie würde sich immer den Raum des Erlebnisses schaffen. Der christliche Glaube reklamiert im katholischen Verständnis die Vernunft des Men-schen, und zwar naturgemäß. Die Klage über eine „Theologie im Zeichen der schwa-chen Vernunft“ muss die Klage über den Glauben im Zeichen der schwachen Vernunft einbeziehen. Die Frage ist dabei jedoch die, welche Vernunft hier gemeint ist. Es kann hier natürlich nur um den gesunden Menschenverstand gehen. Papst Benedikt XVI. ver-bindet die entsprechende Forderung mit der „gereinigten“ Vernunft, mit der Vernunft, die frei ist von jedem relativierenden Subjektivismus, die die Wirklichkeit vernimmt ohne Vorurteile und ohne Vorentscheidungen
Vgl. Papst Benedikt XVI., Enzyklika „Deus caritas est“ vom 25. Dezember 2005.. Wahre Intellektualität ist jedenfalls im-mer fruchtbar, weil sie allein der Wirklichkeit gerecht wird.
Die Rationalität des Glaubens und der Theologie hat eine lehramtliche Definition erhal-ten durch das Erste Vatikanische Konzil, wenn das Konzil die natürliche Gotteserkennt-nis, also eine philosophische Wahrheit, dogmatisiert und das Verhältnis von Glaube und Wissen definitiv festgelegt hat
Denzinger – Schönmetzer, Nr.Nr. 3004. 3026. 3015–3020. 3041–3043..
Eine kontaminierte Theologie ist heute in den Dienst vielfältiger Interessen getreten, persönlicher wie auch gesellschaftlicher und politischer Art. Immer geht es dabei um Macht und Einfluss oder einfach um Rechthaberei. Das ist verhängnisvoll vor allem auch angesichts der Tatsache, dass ethische Bedenken weithin keine Rolle mehr spielen oder kaum noch, und dass man sich vielfach ohne Bedenken mit dem Bösen solidari-siert, dessen Existenz man gleichzeitig leugnet.
Vor zwei Jahrzehnten hieß es in einer theologischen Zeitschrift. in der lutherischen Kir-che in Schweden gebe es zwei Hauptdogmen, nämlich das Frauenpriestertum und die Erlaubtheit der homosexuellen Lebensweise. Danach würden alle, die sich um das Bi-schofsamt bewürben, gefragt und beurteilt. Niemand, der sich dagegen stelle, werde die Ernennung durch die Regierung erhalten. Am Sonntag, dem 5. Oktober 1997 wurde Christina Odenberg, geboren 1940, in der mittelalterlichen Kathedrale von Uppsala zum „Bischof“ geweiht und sechs Tage danach, am 11. Oktober, wurde sie im romanischen Dom in Lund „inthronisiert“. Christina Odenberg ist eine Bischöfin der schwedischen Staatskirche
Theologisches 10, 1997, 395..
Erinnert sei an dieser Stelle auch an jene falsche Ökumene, die die eigene Position rela-tiviert, in der man nur noch von Glaubenstraditionen statt von Glaubenswahrheiten spricht und die Unterschiede verwischt. Da ist die Erklärung der Glaubenskongregation „Dominus Jesus. Über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kir-che“ vom 6. August 2000, die sowohl den Absolutheitsanspruch des Christentums als auch den Absolutheitsanspruch der Kirche ins Gedächtnis zurückruft, de facto Makula-tur geworden. Die Theologie des Memorandums der Theologen von 2011
http://www.kath-info.de/memorandum.html, die hier maßgebend ist, lässt in ihrer agnostizistischen Prägung keine wesentlichen Unterschiede mehr erkennen zwischen dem katholischen und dem evangelischen Glauben, zwischen der katholischen und der evangelischen Theologie, weshalb eine Fusion der evangelisch-theologischen und der katholisch-theologischen Fakultäten und auch der Kirchen oder zumindest ihre gegenseitige Anerkennung eigentlich konsequent wäre. Die falsche The-ologie multipliziert sich in den Gemeinden und in zahllosen Gläubigen. Heute wird sie gar in wachsendem Maß von den Amtsträgern vertreten.
Nicht nur die Unterschiede zwischen den Konfessionen, sondern auch die zwischen den Religionen werden im Kontext des Verzichtes auf den Wahrheitsanspruch des Christen-tums und der Kirche und auf die Wahrheitserkenntnis überhaupt verflüchtigt und nur noch als verschiedene religiöse Traditionen verstanden, so dass man im Grunde auch die Religionen fusionieren könnte. Daraus folgt, dass es gleichgültig ist, welcher Konfession oder welcher Religion man angehört. Die Missionsgesellschaften und die Missionswerke der Kirche haben schon lange den Absolutheitsanspruch des Christentums und der Kir-che aufgegeben, in der Regel, zumindest in Deutschland, und sich damit den Boden un-ter den Füßen weggezogen. Aus dem interreligiösen Dialog haben sie einen unverbind-lichen Dialog gemacht, einfach ein Sich-Kennen-lernen. Und die Verschiedenheiten der Religionen verstehen sie verbaliter schlicht und einfach als gegenseitige Bereicherung. Damit haben sie de facto den Missionsauftrag Christi verraten und ihr Fundament zer-stört, weshalb sie auf der Stelle treten und in finanzieller wie auch in personeller Hin-sicht nur noch wenig oder keine Unterstützung mehr finden bei den Gläubigen.
Der Unglaube, die Disziplinlosigkeit und die Unmoral breiten sich in erschreckendem Maß aus in der Kirche. Das soeben erwähnte Memorandum der Theologen macht das Ausmaß des Verfalls überdeutlich. In meiner Replik auf das Memorandum schrieb ich damals: „Wenn das Memorandum darüber jammert, dass der Glaube mehr und mehr zu-rückgeht, so sollte man seine Architekten daran erinnern, dass an dieser Verdunstung des Glaubens gerade jene Theologie schuld ist, wie sie und ihre Mitstreiter sie Jahrzehn-te hindurch gelehrt haben. Das war eine Theologie der Willkür, eine Theologie, die sich subjektivistisch verfremdet und so den Boden unter den Füßen verloren hat, die im Grunde nur noch von ihrer finanziellen Dotation lebt“. Und: „Seit Jahrzehnten vertreten nicht wenige Theologie-Professoren eine anthropologische Wende in der Theologie und sehen in der Distanz von der Kirche und in zynischen Bemerkungen über die Amtsträger der Kirche, speziell über den Träger des Petrusamtes, ein Qualitätssiegel der akademi-schen Theologie. Zugleich wollten sie mit dieser Praxis die Freiheit ihrer Wissenschaft dokumentieren, die in nicht wenigen Fällen schon lange zur Ideologie degeneriert war“
Joseph Schumacher, Ein Kommentar zu dem Memorandum der 224 Theologen vom 3. Februar 2011: theologie-heute.de.
In dem Memorandum heißt es: „ ... wir schweigen nicht länger“. Es ist nicht wahr, dass sie geschwiegen haben, die Theologen. Mehr als eine Generation von Priesteramtskandi-daten und angehenden Religionslehrern und Pastoralhelfern haben sie nicht im Glauben der Kirche unterrichtet und den Glauben der Kirche, soweit er noch vorhanden war, zer-stört. Vor allem haben sie immerfort agitiert und ihre Kirchendistanz auf niedrigstem Niveau artikuliert, jedenfalls ein Großteil von ihnen.
Wenn man heute an den theologischen Hochschulen und Fakultäten in Deutschland stu-diert, kann man im Grunde genommen den Glauben der Kirche nicht mehr kennen ler-nen, und man kann ihn hier, wenn man sich ihn angeeignet und ihn bis dahin gepflegt hat, nur kaum noch bewahren. Die Konsequenzen daraus zu ziehen, ist natürlich schwer für die Verantwortlichen in der Kirche. Aber sie müssten es. Wenn es nicht geschieht, kann man immerhin noch darauf seine Hoffnung setzen, dass die Wirklichkeit des Le-bens nicht immer in den Bahnen der Konsequenz verläuft. Dabei muss man allerdings auch sehen, dass es heute an den theologischen Hochschulen und Fakultäten dankens-werterweise immer einzelne Lehrer gibt, die sich als Bollwerke gegen eine ideologische Verfremdung der Theologie erweisen. Sie werden zwar marginalisiert, aber immer wie-der finden junge Menschen, von der Gnade Gottes geführt, zu ihnen. Für gewöhnlich hat die Gnade die Natur zur Voraussetzung. Zuweilen aber wirkt sie gar gegen die Natur und überwindet die natürlichen Widerstände. Für diese Lehrer müssen jene, die die Si-tuation der Kirche erkennen, beten, dass sie liebenswürdig die Wahrheit des Glaubens vertreten und verkünden, unermüdlich und in Beharrlichkeit, dass sie nicht unsicher werden und nicht resignieren und dass sie Gesinnungsgenossen und Nachfolger finden.
Ein wichtiger Gedanke sei hier noch angefügt: Die Kirche und die Theologie sind heute in verhängnisvoller Weise unterwandert durch esoterisches Denken und Handeln. Dar-auf wurde schon früher hingewiesen
Siehe oben S.79 f.. Die Esoterik strömt in das Vakuum einer hohlen Verkündigung und einer oberflächlichen Frömmigkeitspraxis. Der Exponent der Esote-rik ist seit einigen Jahrzehnten, seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, das New Age. Dieses artikuliert sich in der „sanften Verschwörung des Wassermannes“, die überall latent am Werk ist. Von ihr sind im Grunde auch die allermeisten intellektu-ellen und moralischen Probleme der Kirche und des Christentums gesteuert, wenn nicht gar verursacht. Jene, die darin involviert sind, das aber nicht wahrhaben wollen, oder die es vielleicht nicht einmal wissen, dass sie gesteuert sind, bezeichnen jene, die das ideo-logische Denken und Handeln entlarven, als naiv und simpel. Oder sie bezeichnen sie abfällig als Verschwörungstheoretiker.
Das esoterische Denken und die daraus hervorgehende Gnosis finden sich heute in allen Traktaten der Theologie, wie sie an den Universitäten und an den theologischen Hoch-schulen gelehrt wird, zunächst in der Trinitätslehre, in der Christologie und in der Eschatologie, dann aber auch in den anderen Traktaten der Theologie. Es ist nicht schwer, das im Einzelnen aufzuzeigen.
Nach dem Verzicht auf eine Wesensphilosophie wird die Theologie heute weithin gno-stisch konzipiert, also „scheinrational“ und subjektivistisch oder einfach irrational, wo-mit ihr wissenschaftlicher Charakter de facto unterlaufen wird.
Ein Erbe der Esoterik oder der Gnosis ist vor allem auch ein völlig unbiblischer Heils-optimismus, der auf die Rettung aller geht und die Heilsfrage, die stets ein bedeutendes Stimulans war für eine gewissenhafte Pastoral und für ein konsequentes Christenleben, gegenstandslos macht. Besonders deutlich wird das bei dem Theologen Hans Küng (* 1928), der zwar schon vor Jahrzehnten mit dem Lehramt der Kirche in Konflikt gekom-men ist, dem damals die Lehrerlaubnis entzogen wurde, dessen Gedankengut aber in be-sonderer Weise bei der „Kirche von unten“ eine Heimat gefunden hat und von vielen seiner ehemaligen Kollegen weitergeführt wird, bewusst oder unbewusst. In signifikan-ter Weise dient Küng dem Programm des New Age mit seiner Einebnung des Christen-tums in einer Art von Welteinheitsreligion unter dem Stichwort „Weltethos“
http://www.weltethos.org/hans%20küngs%20„projekt%20weltethos“/.
In der Esoterik tritt die Konstruktion des menschlichen Geistes an die Stelle der Annah-me der verpflichtenden Offenbarung. Sie leitet die übernatürliche Offenbarung aus der Vernunft ab, aus der Vernunft, wie sie sie versteht, und macht die Offenbarung so zu einem menschlichen Konstrukt. Sie ist extrem subjektivistisch, und sie unterstützt den wachsenden Subjektivismus in der Theologie und macht sich zum Anwalt einer gänzlich ungebundenen Glaubensverkündigung.
Typisch esoterisch ist die Dominanz der Kategorie der Erfahrung in der Theologie und in der Pastoral, die Reduzierung des Glaubens auf das, was man von ihm erfährt. Damit verbindet sich die Wertschätzung der fernöstlichen Meditation und des synthetischen Denkens. Man sympathisiert mit der Psychologie und der Parapsychologie, mit einer stark gnostisch gefärbten feministischen Theologie, mit der Seelenwanderung, mit dem Spiritismus und mit der Astrologie. Und der Gedanke der Selbsterlösung und die magi-sche Verfremdung der Sakramente finden heute wachsende Akzeptanz im Leben vieler Gemeinden. Damit verbindet sich eine außergewöhnliche Wertschätzung von „Privatof-fenbarungen“. Esoterisches Denken und esoterisches Tun begegnet uns endlich in nicht wenigen obskuren, kirchlich nicht anerkannten Wallfahrtsorten, die, würden sie admini-strativ verboten, sogleich zu Zentren von Sekten würden, wenn sie es nicht schon ge-worden sind.
Besonders deutlich tritt die esoterische Überfremdung des Glaubens und der Pastoral in den Bildungseinrichtungen der Diözesen und der Ordensgemeinschaften zutage. Und schließlich sind heute weithin auch die Religionsbücher auf das New Age getrimmt. Das gilt nicht weniger für den Religionsunterricht, wie er sich faktisch darstellt.
Im Dienst des New Age stehen auch jene, die, bewusst oder unbewusst, die überkomme-ne Sexualethik der Kirche anklagen und ihre totale Umkehrung fordern und auf diesem Wege den moralischen Zusammenbruch unserer Gesellschaft ideologisch zu rechtferti-en suchen. Die Propagierung sexueller Permissivität, speziell auch der Homosexualität, ist seit eh und je ein bedeutender Programmpunkt des New Age. Das Gleiche gilt für den Genderismus. Hinter der „globalen sexuellen Revolution“ steht eine Strategie, eine zer-störerische Ideologie, in deren Dienst sich allzu viele stellen, viele vielleicht unbewusst, nicht wenige aber auch bewusst. Im New Age avanciert die isolierte sexuelle Lust, wie immer sie sich darstellt, zum höchsten existentiellen Wert. De facto füllt sie heute in der Gesellschaft, aber weithin auch in der Kirche, das religiöse Vakuum aus, tritt sie an die Stelle der religiösen Überzeugung, ersetzt sie geradezu die christliche Glaubenstheorie und die christliche Glaubenspraxis. Was die innerkirchliche Situation unter diesem Aspekt betrifft, sind hier die „Sex-Skandale“ in der Kirche entlarvend, die seit geraumer Zeit die Öffentlichkeit erschüttern, speziell in der Gestalt des Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen. Bekannt wurden sie zuerst in den Vereinigten Staaten, dann aber auch in den europäischen Ländern. Heute wissen wir, dass sie sich auch in vielen Ländern der Dritten Welt zugetragen haben. Nicht zuletzt sind sie die Konsequenz der Entwicklung der Theologie hin zu einem Agnostizismus, der bestenfalls noch ein wenig christlich ge-färbt ist, in dem die überkommene Sexualmoral und im Grunde jede objektive Moral Makulatur geworden ist
Die Demontage des Naturrechtes hat alle moralischen Normen relativiert und zur reinen Konven-tion gemacht. . Wenn die Öffentlichkeit Anstoß nimmt an den Skandalen, ist das freilich nicht ehrlich. Im Grunde interessieren sie die Öffentlichkeit auch nur inso-weit, als sie damit die Kirche bloßstellen und ihr schaden kann. Auch hier kann man nicht absehen von der Strategie der „sanften Verschwörung des Wassermannes“.
Der totalen Sexualisierung des öffentlichen Lebens, wie sie heute vor allem von den Me-dien vorangetrieben wird und auch in den Schulen in der Gestalt der so genannten Sexu-alerziehung, die sich als ein wesentliches Moment der Propagierung des New Age dar-stellt, müsste die Kirche und müsste auch die Theologie akzentuierter entgegentreten. Man müsste in der Kirche erkennen, dass hier „die sanfte Verschwörung des Wasser-mannes“ am Werk ist und dass man hier nicht zuletzt das Christentum als solches treffen will, speziell das katholische, das dank seiner zentralen Leitung in der Gestalt des Pe-trusamtes nicht so leicht der Versuchung erliegt, sich dem Zeitgeist anzupassen, und das ohnehin nuancierter ist als die anderen christlichen Denominationen und auch von grö-ßerer Plausibilität als diese.
Die Kirche wird von der Sexualisierung der Öffentlichkeit in dem Maße infiziert, in dem sie ihre innere Substanz verliert, in dem der Glaube zerfällt oder zusammenbricht. Wo immer die sexuelle Unmoral sich breit macht, da geschieht das deshalb, weil es um den religiösen Glauben geschehen ist, speziell um den Glauben der Kirche. Bohrt man tiefer, so wird man erkennen, dass dem verlorenen Glauben die Negation Gottes oder zumin-dest die Infragestellung seiner Existenz vorausgeht, die ihren letzten Grund in dem Misstrauen gegenüber der Vernunft hat, der „gereinigten“ Vernunft
Joseph Schumacher, Esoterik. Die Religion des Übersinnlichen. Eine Orientierungshilfe nicht nur für Christen, Saarbrücken 22012, 12–15..
Ein wesentliches Element der „sanften Verschwörung des Wassermannes“ ist gegen-wärtig die „moderne Völkerwanderung“, die Masseninvasion asiatischer und afrikani-scher Flüchtlinge in Mitteleuropa, die gesteuert ist. Sie muss als Anwendung der Ideolo-gie der Globalisierung verstanden werden, die ganz im Dienst jener „neuen Weltord-nung“ steht, die allen Menschen das höchste Glück bringen soll. Auch sie ist wesentlich gegen das Christentum gerichtet, was im Allgemeinen nicht erkannt wird von den Ver-antwortlichen in der Kirche.
Was heute notwendig ist, das ist, um es mit den Worten des „Papa emeritus“ Benedikt XVI. zu sagen, eine geistige Erneuerung der Kirche und eine Stärkung ihrer Sendung: Die Kirche verbürgt den Menschen das wahre Glück, die wahre Freiheit und die Erfül-lung ihrer tiefsten Wünsche
Besuch in den USA im April 2008; Homilie am 17. April 2008: w2vatican.va/content/benedictXVI/de/speeches ; www.theologie-heute.de/DORTMUNDVORTRAG.docx. Diese Erkenntnis muss sie den Menschen vermitteln. Darüber hinaus sind die entscheidenden Aufgaben der Kirche heute die folgenden: Wi-derstand gegen eine säkularisierte und materialisierte Welt, Mut und Treue, Unterwei-sung im Glauben, religiöse Vertiefung und eine genuin katholische intellektuelle Kultur auf der Basis der Harmonie von Glaube und Vernunft
www.theologie-heute.de/DORTMUNDVORTRAG.docx.
Falsch wäre es, angesichts der Tatsache, dass wir vergeblich auf die Früchte des Zweiten Vatikanischen Konzils warten und dass die Nachkonzilszeit viele faule Früchte hervor-gebracht hat und weiterhin hervorbringt, zu resignieren. Zum einen reifen die guten Früchte im Stillen, zum anderen sind wir alle angesprochen durch die gegenwärtige Si-tuation der Kirche, sie fordert uns dazu auf, dass wir konsequent unserer christlichen Berufung folgen und die Kirche lieben und dass wir für die Erneuerung der Kirche im Sinne ihrer Entweltlichung beten und opfern
www.kath.net/news/52191; www.kath.net/news/39263. In der Schrift heißt es: „Gott kann dem Abraham aus den Steinen Kinder erwecken“ (Mt 3, 9; Lk 3, 8). Wir können ihn dazu be-wegen. Auch heute wirkt Gott Wunder, wo immer wir einen starken Glauben haben und großes Vertrauen. Im Anschluss an Mt 17, 20 sprechen wir von einem bergeversetzen-den Glauben.
Der Religionswissenschaftler Paul Hacker hat gezeigt, dass niemand „so klar gesagt“ hat, „was Luther in den entscheidungsvollen Jahren 1518 – 1520 als Christ hätte tun und lassen müssen, wie er selber es gesagt hat“, dass niemand die Trennung des Reformators „von der Kirche so scharf verurteilt“ hat, wie dieser selber es getan hat „ehe er sich trennte”
Paul Hacker, Das Ich im Glauben bei Martin Luther, Graz 1966, 238.. Hacker hat überzeugend dargelegt, „dass Luther genau wusste, dass ein Ver-halten, wie er es seit 1520 an den Tag legte, unbiblisch war“
Ebd., 249..
Die Reformation ist ein Mysterium, wenn nicht ein übernatürliches, so doch ein natürli-ches. In der Perspektive des Glaubens kann man sie letzten Endes nicht anders verstehen denn als eine Geißel Gottes.
Die Kirche Christi muss ihre Identität zurückgewinnen und dort, wo sie sie noch nicht verloren hat, bewahren. Das ist zweifellos ein schwieriger Prozess, weil man lange nicht den Anfängen gewehrt hat. Unermüdlich, aber auch liebenswürdig, muss die Kirche die christlichen Werte in der Öffentlichkeit anmahnen, die heute zu einer Existenzfrage ge-worden sind für alle. Sie darf angesichts der Säkularisierung innerhalb der Kirche und innerhalb des Christentums sowie in der modernen Welt nicht resignieren. So etwa äußerte sich vor einigen Jahren der Bischof von Eisenstadt, Bischof Zsifkovics (* 1963)
Vgl. Kath.net am 7. November 2012..
In schwerer Zeit rief einst der heilige Niklaus von Flüe († 1487) seinen Landsleuten zu: „Seid beständig im Glauben eurer Väter, denn es wird sich ein großer Aufruhr erheben in der Christenheit. Alsdann hütet euch, dass ihr durch Neuerung und Listigkeit des Teu-fels nicht betrogen werdet. Haltet zusammen, bleibt in den Fußstapfen eurer frommen Väter, behaltet und befolgt ihre Lehre. Alsdann mögen euch Anschläge und Stürme nicht schaden“
http://kath-zdw.ch/maria/bruder.klaus.html. Unverkennbar ist die Aktualität dieser Worte.
INHALT
Das große Jubiläum und der „Zeuge des Evangeliums“ .................................... 7
Die Abfolge der Ereignisse ................................................................................ 15
Die Rechtfertigungslehre Luthers und die darauf beruhenden Sonderlehren
des Reformators ................................................................................................... 42
Unlautere Ökumene ............................................................................................. 83
Rückblick ............................................................................................................. 89
Epilog ................................................................................................................... 92
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