Jean-Pol Martin
Das Projekt „Lernen durch Lehren“ - eine vorläufige Bilanz
This contribution outlines the method of „Lernen durch Lehren“ (Learning by Teaching) and
Abstract.
shows the extent to which this approach meets essential requirements of forein language teaching, requirements
which habe been demanded for more than a decade. Central aspects of this approach are the following: the
increase of oral participation; the authenticity of communication; the orientation towards language tasks; the
learner's autonomy; a holistic model of learning; the orientation towards projects and toward the process of
learning; the acquisition of techniques of learning; and meta-cognitive strategies. I will also describe the network
of contacts which comprises 500 colleagues from all school types and combinations of subjects and which serves
to put the method into practice and to spread it; as far as research methods are concerned, the project of „Lernen
durch Lehren“ ist indebted to the action-research.
0.
Vorbemerkungen
Die Methode „Lernen durch Lehren“ (LdL) wurde in Fachzeitschriften wiederholt
dargestellt1, und sie erfreut sich in der Praxis einer hohen Bekanntheit2. Von der Didaktik als
Wissenschaft dagegen wird sie kaum rezipiert3. Letzteres erstaunt umso mehr, als seit der
Geburt dieser Methode in regelmäßigen Abständen „neue“ Begriffe in die Diskussion
eingebracht werden, die im wesentlichen dasselbe meinen, nämlich die
Handlungsorientierung, die seit 1983 in LdL bereits realisiert ist. Es sind u.a. die
„Lernerzentrierung“, die „Lernerautonomie“, der „ganzheitliche Unterricht“, der „offene
Unterricht“, der „Projektunterricht“ und neuerdings die „Prozeßorientierung“
(Gienow/Hellwig 1996) und die „konstruktivistische“, oder gar „radikal-konstruktivistische
Didaktik“ (Wolff 1993; Wendt 1996). In diesem Beitrag soll LdL nicht noch einmal
vorgestellt werden, sondern es wird eine Reflexion über die Merkmale geführt, die dessen
Erfolg als Methode für den Fremdsprachenunterricht begründen. Es wird auch aufgezeigt, daß
es sich bei LdL nicht lediglich um eine Unterrichtstechnik handelt, sondern um ein
didaktisches Gesamtkonzept, das einen Beitrag zum Paradigmenwechsel in weiten Bereichen
der Praxis liefert. Schließlich werden die Leistungen und die Perspektiven des um LdL
entstandenen, seit 1987 bestehenden Kontaktnetzes als Fortbildungs- und Forschungsstruktur
beschrieben.
1
Vgl. Martin (1985,1986,1988,1994), Graef (1990), Leitzgen (1991), Pfeiffer/Rusam (1992), Skinner
(1994), Kelchner (1994,1995).
2
Eine bundesweite Umfrage (Martin 1994) hat gezeigt, daß „Lernen durch Lehren“ in universitären
Didaktikseminaren, in der zweiten Phase der Lehrerausbildung, in Fortbildungsveranstaltungen und in
Fachsitzungen ausführlich thematisiert wird.
3
In der 3.Auflage des Handbuch Fremdsprachenunterricht (1995) findet die Methode nur an wenigen
Stellen Erwähnung (Christ/ Hüllen S. 3/5, Dietrich S. 257, Kerschhofer S. 490/492). Einer der wenigen
Wissenschaftler, die ausführlich in ihren Schriften auf die LdL-Methode eingehen, ist Michael Legutke (1988,
1991).
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Das Projekt „Lernen durch Lehren“ - eine vorläufige Bilanz
1.
71
„Lernen durch Lehren“ als Antwort auf traditionelle Probleme des
Fremdsprachenunterrichts
Damit der Stellenwert der Methode LdL und des mit ihr verbundenen Projektes in der
Didaktikdiskussion besser eingeschätzt werden kann, wird zunächst auf ihre
Entstehungsgeschichte eingegangen. Im Anschluß werden die Merkmale der Methode so
beschrieben, daß klar hervorgeht, inwiefern LdL Lösungen zu bestehenden Problemen des
Fremdsprachenunterrichts anbieten könnte.
1.1
Die Entstehungsgeschichte von „Lernen durch Lehren“
„Lernen durch Lehren“ bedeutet, daß ein Großteil der Lehrfunktionen in die Hand der
Schüler gegeben wird. Die Methode LdL, so wie sie in der Öffentlichkeit bekannt ist, hat sich
am Anfang der 80er Jahre aus der Praxis entwickelt. Zu diesem Zeitpunkt war die
Methodikdiskussion durch den kommunikativen Ansatz beherrscht, den Piepho (1979) in
Deutschland eingeführt hatte. Piephos Ansatz hatte didaktische Positionen abgelöst, die vom
Behaviorismus geprägt waren und Lernen über Imitation und Repetition erreichen wollten.
Ein Ziel der kommunikativen Didaktik war, die Sprechtätigkeit der Schüler anzuregen und
ihren Sprechanteil im Unterricht zu vergrößern. Dazu sollten im Unterricht Themen
angeboten werden, die die Lerner zum authentischen Sprechen motivierten. Da man aber die
Arbeit an der Sprache nicht zu den Schüler interessierenden Inhalten zählte, stand der Lehrer
vor dem Dilemma, entweder Themen anzubieten, die die Schüler zum Sprechen anregten,
dafür aber die Arbeit an der Sprache zu vernachlässigen, oder nach wie vor der Spracharbeit
viel Zeit zu widmen und den Schülern lediglich begrenzte Phasen zum aktiven, authentischen
Sprachgebrauch einzuräumen.
Zu diesem Zeitpunkt wurde Schifflers Interaktiver Fremdsprachenunterricht (1980)
veröffentlicht. In seiner Schrift knüpfte Schiffler an die Sozialpsychologie an und versuchte,
Techniken der Gruppenaktivation für den Fremdsprachenunterricht fruchtbar zu machen. In
diesem Zusammenhang erwähnte er Experimente, bei denen Schülern Lehraufgaben
übertragen wurden und zeigte auf, welche positiven Auswirkungen, insbesondere im
sozialpsychologischen Bereich, diese Maßnahme nach sich zog.
Die Idee zu „Lernen durch Lehren“ wurde in diesem Kontext Anfang der achtziger Jahre
geboren. In meinem Unterricht wurden die Schüler gebeten, Aufgaben, die traditionell vom
Lehrer erfüllt werden, zu übernehmen. Hier standen nicht so sehr - wie bei Schiffler sozialpsychologische Überlegungen im Vordergrund, sondern fremdsprachendidaktische. Im
Gegensatz zur Annahme der kommunikativen Didaktik, Schüler seien hauptsächlich an
Themen aus ihrer Lebenswelt interessiert, ging ich davon aus, daß die Arbeit an
Lehrwerktexten, an Grammatik und an Wortschatz ebenso geeignet sei, authentisches
Sprechen anzuregen, wenn die damit verbundenen Aktivitäten in die Regie der Schüler
übergeben
wird.
Dadurch
seien
auch
die
traditionellen
Probleme
des
Fremdsprachenunterrichts wie das Mißverhältnis zwischen dem Sprechanteil des Lehrers
(75%) und dem der Schüler (25%), die rezeptive Haltung der Lerner, der schnell eintretende
Motivationsverlust und das Mißverhältnis zwischen Aufwand (Stundenzahl) und Ertrag
(geringe Sprachkompetenz der Schüler) zu lösen.
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72
Das Projekt „Lernen durch Lehren“ - eine vorläufige Bilanz
1.2
LdL als Lösung aus sprach- und lerntheoretischer Sicht
Zwar lassen sich spracherwerbstheoretische und lerntheoretische Aspekte nicht scharf
voneinander trennen, dennoch kann unterschieden werden zwischen Aspekten, die allgemeine
Lernprozesse und solchen, die in besonderem Maße den Spracherwerb betreffen.
LdL als Lösung aus lerntheoretischer Sicht: Lerntheoretisch wurde die jüngere Geschichte
des Fremdsprachenunterrichts geprägt von der scheinbaren Opposition zwischen kognitiven
Verfahren, wie sie in der Grammatik-Übersetzungsmethode vertreten waren, und
behavioristischen Ansätzen, wie sie in den audiolingualen und audiovisuellen Methoden zur
Anwendung kamen. Kognitivierung auf der einen Seite und Habitualisierung auf der anderen
schienen sich zumindest methodisch auszuschließen. Verwendete man viel Zeit für die
kognitive Erfassung, so blieb wenig Zeit übrig für die Automatisierung und umgekehrt. Die
Ende der 70er Jahre einsetzende kommunikative Wende öffnete einen dritten Weg, der
ebenfalls nicht vereinbar mit den beiden anderen erschien, weil er sowohl Automatisierung als
auch Kognitivierung einzuschränken schien.
Die Übertragung von Lehrfunktionen auf Schüler löst das lerntheoretische Problem durch
die Integration der drei Stränge: Der Stoff - z.B. ein Grammatikkapitel - wird von den
Schülern zunächst in Einzel- oder Partnerarbeit kognitiv erfaßt bevor er im Plenum vermittelt
wird. Durch die Tatsache, daß die Schüler im Unterricht viel sprechen (75% des gesamten
Sprachumsatzes gegenüber 25% im traditionellen Unterricht), wird für Habitualisierung
gesorgt. Schließlich entsteht im Unterricht eine echte Kommunikation, denn die Schüler
sprechen als sich selbst und wollen mit ihren Äußerungen echte Sprechintentionen realisieren.
LdL als Lösung aus spracherwerbstheoretischer Sicht: Spracherwerbstheoretisch standen
sich ebenfalls unterschiedliche Positionen gegenüber. Zum einen die kognitivistische, die sich
vor allem mit dem intentionellen Lernen auf der Basis einer sehr aktiven und bewußten
Beteiligung des Lerners am Aufbau seiner Sprachkompetenz befaßte, zum anderen eine
behavioristische Position, die das inzidentelle Lernen in den Vordergrund stellte und Lernen
als unbewußten, von außen ganz gesteuerten Prozeß ansah. Da sowohl Lehrpläne als auch
Lehrwerke den Akzent auf das intentionelle Lernen legten, wurde das inzidentelle Lernen im
Fremdsprachenunterricht stark vernachlässigt. Nun erschienen im Bereich der
Zweitsprachenerwerbsforschung die Arbeiten von Wode (1981), von Felix (1982) sowie von
Krashen (1981) und zeigten, daß beim Lernen fremder Sprachen im Zielland, wie es
beispielsweise bei Migrantenkindern der Fall ist, inzidentelles Lernen eine erheblich größere
Rolle spielte als bisher vermutet. Im Alltagsgespräch werden kontinuierlich unbewußt
Hypothesen über Regelmäßigkeiten der Fremdsprache generiert, die ebenfalls unbewußt
geprüft und nach eventueller Verifikation in die Lernergrammatik integriert werden. Wollte
man diese wichtige Komponente beim Lernen berücksichtigen, so war es notwendig, im
Unterricht einen breiten Raum zu öffnen, in dem der Lerner mit unfiltrierter Sprache
konfrontiert wird, und selbst die Möglichkeit bekommt, zahlreiche Sprechakte und damit
natürlich auch zahlreiche Fehler hervorzubringen, um seine Hypothesen zu prüfen.
Durch „Lernen durch Lehren“ wurde das spracherwerbstheoretische Dilemma gelöst, denn
der Stoff (Texte, Grammatik, Wortschatz) wird intentionell erlernt, und gleichzeitig wird
durch die Öffnung des gesamten Unterrichtsdiskurses für die Schüler ein breites Feld für
inzidentelles Lernen angeboten.
FLuL 25 (1996)
Das Projekt „Lernen durch Lehren“ - eine vorläufige Bilanz
1.3
73
Die Bewährung der Methode „Lernen durch Lehren“ in der Praxis
Das Experiment begann in einer 7.Klasse mit 5 Wochenstunden im Fach Französisch. Die
Übertragung von Lehrfunktionen wurde sehr behutsam vorgenommen. Zunächst wurden
Aufgaben wie das Aufrufen von Mitschülern zum Vorlesen eines Textes, die Fehlerkorrektur
und die Durchführung von Übungen in die Hand der Lerner gegeben. Als sie diese Funktionen
routemäßig beherrschten, wurden sie gebeten, den Wortschatz der neuen Lektion und bald
auch den Text vorzustellen. Die Inhalte stehen im Schülerbuch bereit, sie müssen nur
arbeitsteilig vorbereitet und im Anschluß nach und nach von den einzelnen Gruppen im
Plenum vermittelt werden. Als auch dies problemlos verlief, präsentierten Schüler schließlich
auch die neuen Grammatikkapitel.
Nach einem Jahr war klar, daß dieses neue Verfahren deutliche Vorteile aufwies: Der
Sprechanteil der Schüler war von traditionell 25% auf 75% gestiegen und ihre mündliche
Kompetenz war entsprechend hoch; ihre schriftlichen Leistungen blieben mit dem eines
konventionellen Unterrichts vergleichbar. Auffällig war die konstante Motivation und die
Konzentration im Unterricht. Da ich das Gefühl hatte, mit diesem Verfahren eine Antwort auf
die damals dringlichsten fremdsprachendidaktischen Fragen gefunden zu haben, beschloß ich,
das Experiment weiterzuführen, um festzustellen, wie die durch LdL eingeleiteten
Veränderungen sich in den weiteren Lernstufen auswirken würden. Darüber hinaus sollten die
Ergebnisse wissenschaftlich aufbereitet und einer breiten Fachöffentlichkeit vorgestellt
werden. In den Jahren 1983 bis 1994 entstanden eine Filmreihe (FWU 1983, 1984, 1987a,
1987b), zwei Monographien (Martin 1985, 1994) und einige Aufsätze (Martin 1986, 1988,
1989, 1992), in denen nicht nur LdL und der Anfangsunterricht, sondern auch die
Weiterführung des didaktischen Modells in der Mittelstufe und in der Oberstufe ausführlich
beschrieben wurden.
2.
Die Entwicklung von LdL zu einem didaktischen Gesamtkonzept
Es wurde dargestellt, daß LdL lern- und spracherwerbstheoretisch untermauert werden
konnte. Um allerdings den Anstieg der Motivation und der Konzentration im Unterricht zu
begründen, mußten aktivations- und bedürfnistheoretische Erkenntnisse einbezogen werden.
Es konnte aufgezeigt werden, daß die Aufgabe, den Lern-stoff aufzubereiten und den
Mitschülern zu vermitteln, einen Informationsverarbeitungszyklus in Gang setzte, der
bedeutsamen menschlichen Bedürfnissen entgegenkam und eine langfristige Motivation
sicherte (Martin 1985, 1986).
Für die Spracherwerbsphase waren also die Probleme, die in der der Fremdsprachendidaktik
erörtert wurden und als zentral galten, gelöst. Welches waren aber die Themen, die in der
Folge der von Piepho eingeleiteten kommunikativen Wende sonst noch zu diesem Zeitpunkt also in der Mitte der 80er Jahre - in der Diskussion standen? Das Gespräch war - wie z.T.
heute noch - von den Forderungen nach „Handlungsorientierung“, „Lernerorientierung“ und
„Lernerautonomie“ beherrscht. Daß LdL diesen Forderungen entspricht, liegt auf der Hand.
Sollte aber das LdL-Modell für die Mittel- und die Oberstufe weiterentwickelt werden, so
mußte die theoretische Basis erweitert werden. Zwar konnten durch LdL die
Lernerbedürfnisse in der Spracherwerbsphase be-friedigt werden, aber die Erwartungen an den
Fremdsprachenunterricht in der Mittel- und der Oberstufe veränderten sich doch. Hatte die in
der Fremdsprachendidaktik feststellbare Fokussierung auf den Lerner zu einem
operationalisierbaren Lernerbild geführt, auf dessen Grundlage ein Curriculum für die Mittelund die Oberstufe entwickelt werden konnte? Eine Durchsicht der Fachliteratur zeigte, daß
dies nicht der Fall war (Martin 1994). Da zum Aufstellen eines didaktisches Konzeptes, das
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Das Projekt „Lernen durch Lehren“ - eine vorläufige Bilanz
alle Stufen des Lernprozesses vom Anfangsunterricht bis zur Oberstufe umfaßt, ein
operationales „Lernerkonstrukt“ unabdingbar war, mußte ein solches entwickelt werden.
2.1
Das Lernerkonstrukt
Eine gute Grundlage zum Verständnis des Lerners boten die Bedürfnisforschung, die
Kognitionspsychologie und vor allem die Problemlösepsychologie. Gestützt insbesondere auf
Maslow (1981) Dörner [et al.] (1983) und Flammer (1990) konnte folgendes Modell
aufgestellt werden:
Lebewesen, auch Menschen, handeln, um sich selbst am Leben zu erhalten. Dazu gehört
auch, daß sie ihre Artgenossen bei ihren eigenen Bemühungen zur Lebenserhaltung
unterstützen, denn ohne Artgenossen wäre der einzelne nicht auf Dauer lebensfähig.
Lebensfähig sein heißt, den Lebensraum unter Kontrolle zu halten. Die Kontrolle ist somit der
Zustand, den jedes Lebewesen mit seinem Handeln anstrebt.
Unter dem Gesichtspunkt der Kontrolle lassen sich auch die von Maslow beschriebenen
Grundbedürfnisse beschreiben. Vereinfacht lassen sich menschliche Bedürfnisse in folgende
Kategorien einteilen4:
- physiologische Bedürfnisse (Hunger, Durst, Schlafen, Sexualität),
- Sicherheitsbedürfnisse,
- soziale Bindungsbedürfnisse,
- Selbstachtungsbedürfnisse,
- Selbstverwirklichungsbedürfnisse (auch Bedürfnis nach Verstehen und Einsicht),
- Bedürfnis nach Transzendenz (Bedürfnis, dem eigenen Handeln Sinn zu verleihen).
Aus dieser Aufzählung läßt sich unschwer herauslesen, daß, was mental als „Bedürfnis“
dekodiert wird, nur als Signal wirkt für den Grad der Kontrolle des Organismus in der
jeweiligen Situation. Das Gefühl einer Befriedigung der physiologischen Bedürfnisse
signalisiert Kontrolle über den Organismus selbst; das Sicherheitsgefühl signalisiert, daß von
der Umwelt keine Gefahr ausgeht, daß diese also unter Kontrolle steht. Ähnlich verhält es sich
mit der sozialen Bindung und der Selbstachtung. Durch Verstehen und Einsicht wird
kognitive Kontrolle über Ereignisse der Umwelt und über das eigene Handeln gewonnen.
Zur Erhöhung der kognitiven Kontrolle über des eigene Leben zu gewinnen ist es günstig,
wenn der Mensch sich Klarheit über die Mechanismen verschafft, die ihn selbst steuern. Diese
sind einmal die hier beschriebenen Grundbedürfnisse. Zum anderen kann festgestellt werden,
daß das Leben sich im Spannungsfeld antinomischer Tendenzen dialektisch fortbewegt5. Hier
seien die zum Verständnis der eigenen Konstitution wichtigsten Gegensatzpaare aufgezählt:
Ordnung/Chaos
Klarheit/Unbestimmtheit
Einfachheit/Komplexität
Integration/Differenzierung - Individuum/Gesellschaft - Egoismus/Altruismus Konkretion/Abstraktion - Kognition/Emotion - Zwang/Freiheit .
4
Nach Maslow sind diese Grundbedürfnisse hierarchisch angeordnet, so daß die Bedürfnisse der
untersten Kategorie befriedigt werden müssen, bevor der Mensch an die Befriedigung der nächsthöheren Ebene
geht. Dieses Modell wurde von verschiedenen Autoren in Frage gestellt (vgl.Hondrich 1983). Da diese
Diskussion für unser Anliegen keine Rolle spielt, wird sie hier nicht weiterverfolgt.
5
Dieses Modell wird in Martin (1994) detailliert erläutert. Es läßt sich am besten systemtheoretisch und
mit Hilfe homöostatischer Regelungstheorien begründen.
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Das Projekt „Lernen durch Lehren“ - eine vorläufige Bilanz
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Geht man davon aus, daß Menschen stets Kontrolle über sich selbst und die Umwelt
anstreben, so ist die Versuchung groß, zu meinen, daß sie sich nur in der Ordnung, der
Klarheit, der Einfachheit etc. wohl fühlen. Würden sie aber nur in entsprechenden
Umgebungen leben, so würden Lebewesen schnell die Fähigkeit verlieren, sich im Chaos, in
der Unbestimmtheit, in der Komplexität zu behaupten. Lebewesen sind deshalb so
programmiert, daß sie nach einer Ruhephase immer wieder die Unbestimmtheit, die
Unordnung, die Komplexität aufsuchen, um diese zu reduzieren. Kennzeichen für das Leben
ist also nicht der Endzustand der Klarheit, sondern das Aufsuchen von Unklarheit, um aus ihr
Klarheit zu schaffen. Was aus dem Leben ein dynamischer Prozeß macht, ist eben dieses
permanente Handeln, um das Lebensfeld kontrollierbar zu machen.
Als letzter Baustein zum Verständnis menschlichen Handelns und zum Aufstellen eines
Lernerkonstruktes wurden Erkenntnisse aus der Problemlösepsychologie herangezogen. Nach
Dörner [et al.] (1983) läßt sich das Profil eines „erfolgreichen Problemlösers“ folgendermaßen
beschreiben:
Erfolgreiche Problemlöser verhalten sich explorativ und begeben sich in Felder, mit denen
sie nicht vertraut sind. Jede auf diese Weise gewonnene Erfahrung wird zu einem abstrakten,
kognitiven Schema verarbeitet. Je mehr Erfahrungen, desto mehr Schemata, desto breiter die
kognitive Landkarte. Eine breite kognitive Landkarte sichert Kontrolle über mehr Bereiche,
sie ermöglicht eine schnellere Verarbeitung neuer Eindrücke und schützt vor emotionalen
Einbrüchen. Sie sichert, daß neue Situationen erfolgreich bewältigt werden. Das Gefühl der
Kontrolle festigt sich, das Selbstbewußtsein wächst und dadurch die Bereitschaft, unbekannte
Bereiche anzugehen, also sich erneut explorativ zu verhalten. Durch exploratives Verhalten
wird also eine positive, dynamische Spirale in Gang gesetzt, die zu einer größeren
Problemlösefähigkeit, Lebenskompetenz und Kontrolle auf seiten des Individuums führt.
Die drei Bausteine - Grundbedürfnisse, Raster antinomischer Tendenzen und Profil eines
erfolgreichen Problemlösers - lassen sich zum einem Lernerkonstrukt integrieren, welches das
Streben nach Kontrolle als oberstes Ziel ansetzt. Dies führt zu präskriptiven Aussagen. Wenn
Unterricht zum Ziele hat, die Lebenskompetenz des Schülers, also seine Kontrolle zu sichern,
so scheint der Aufbau einer explorativen Haltung eine herausragende Bedeutung
einzunehmen. Nun ist Exploration auf einen Gegenstand bezogen. Die Frage, die sich also
stellt, betrifft die im Fremdsprachenunterricht anzubietenden Explorationsfelder, d.h. die
Inhalte.
2.2
Die Unterrichtsinhalte
In der gegenwärtigen Diskussion um den Fremdsprachenunterricht werden die bereits
erwähnten und im LdL-Modell seit längerer Zeit integrierten Aspekte der
Handlungsorientierung, der Lernerautonomie und neuerdings auch der Inhalte thematisiert.
Letzteres geschieht beispielsweise im Zusammenhang mit der Diskussion um den
Konstruktivismus und der Frage, wie Menschen Wissen aufbauen (vgl. Wolff 1994; Wendt
1996). Nun lassen sich Inhalte, die ein fremdsprachliches Curriculum vom Anfangsunterricht
bis zur Oberstufe begründen, erst auf der Basis eines expliziten anthropologischen Modells
bestimmen. In dem vorliegenden Modell wird der Paradigmenwechsel, der in den letzten
fünfzehn Jahren eine Fokussierung auf den Lerner bewirkt hat, in aller Konsequenz vollzogen,
denn die Aufstellung eines Lernerkonstruktes leitet wiederum eine Rückfokussierung auf die
Inhalte ein, die nun neu bestimmt werden müssen.
Wenn es stimmt, daß der Unterricht dem Schüler helfen soll, sein Lebensfeld unter
Kontrolle zu bekommen, so müssen die zur Reflexion und zur Verinnerlichung angebotenen
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Das Projekt „Lernen durch Lehren“ - eine vorläufige Bilanz
Inhalte aus diesem Lebensfeld stammen. Nun besteht das Lebensfeld im Unterricht zunächst
aus der Person des Schülers selbst; dann aus dem Lehrer und aus den Mitschülern; als
nächstes ist das vom Lehrer angebotene Unterrichtsarrangement (Methode, Sozialformen) zu
nennen und schließlich das in den Lehrmaterialien verdichtete deklarative Wissen.
Zum Lebensfeld gehört also die eigene Person. Es gilt, durch einen Prozeß der
Selbstreflexion diesen wichtigen Faktor kognitiv zu erfassen. Dies läßt sich am besten über
eine Analyse menschlicher Bedürfnisse und Funktionsweisen erreichen, wie sie im
Lernerkonstrukt zusammengefaßt sind. Ergänzend ist hervorzuheben, daß wenn im
Zusammenhang mit der Aufstellung des Lernerkonstruktes Gewinnung von Kontrolle als
Zielsetzung menschlichen Handelns definiert wurde, die Frage sich stellt, auf welche Weise,
zu wessen Nutzen und zu wessen Schaden Kontrolle gewonnen wird. Es handelt sich hier um
Wertreflexion und es ist Aufgabe des Unterrichts, ein Feld anzubieten, das eine solche
Wertreflexion ermöglicht.
Je nach Lernstufe nimmt ein Aspekt der angegebenen Tria eine besondere Bedeutung ein. So
liegt im Anfangsunterricht der Akzent auf dem Aufbau der Klassenraumkompetenz,
insbesondere der Interaktionsfähigkeit, in der Mittelstufe wird das Gewicht im
Zusammenhang mit dem Aufbau einer interkulturellen Kompetenz auf die anthropologische
Reflexion gelegt, und in der Oberstufe steht schließlich auf dem Hintergrund einer
Beschäftigung mit der Geistesgeschichte die Entwicklung von Wertorientierungen im
Mittelpunkt.
2.2.1 Die Inhalte in der Spracherwerbsphase
Die Inhalte in der Spracherwerbsphase werden im wesentlichen durch die Lehrmaterialien
bestimmt. Hier soll nur auf den Aspekt eingegangen werden, der zusätzlich ins Zentrum der
Aufmerksamkeit gerückt wird und die Originalität des LdL-Modells ausmacht, also der
Aufbau einer Klassenraumkompetenz und der Interaktions-fähigkeit im Klassenzimmer.
Bei LdL ist die Definitionsmacht, die jeder Schüler über andere gewinnt, wesentlich höher
als im lehrerzentrierten Unterricht. Da Lehrhandlungen von den Schülern durchgeführt
werden, kommen sie stets in die Lage, offen oder verdeckt Bewertungen ihrer Mitschüler
vorzunehmen. Deshalb ist es besonders wichtig, daß sie lernen, freundlich und höflich
miteinander umzugehen, und zwar nicht punktuell, sondern durchgängig während der
gesamten Unterrichtszeit, also sowohl im Plenum bei der Stoffdarstellung als auch in
Kleingruppen- oder Partnerarbeit. Sie müssen sich auch wirklich mit den Lernfortschritten
ihrer Mitschüler befassen und sowohl intellektuell als auch emotional Empathie üben.
Insofern zählen die hier genannten Eigenschaften zu den bewußt anzusteuernden Lernzielen
der Spracherwerbsphase in einem nach LdL geführten Unterricht.
Darüber hinaus sind die Fähigkeit, einen Stoff verständlich darzustellen, Techniken zu deren
Veranschaulichung anzuwenden, einen selbstbewußten Auftritt zu gestalten ebenfalls als
Lerninhalte zu betrachten. Ferner sollen die Schüler als Teil ihrer didaktischen Kompetenzen
spüren lernen, wann ein Wechsel der Darstellungsform oder des Sozialarrangements sich
positiv auf die Aufnahmefähigkeit der Mitschüler auswirkt. Schließlich wird im
Anfangsunterricht die Fähigkeit angestrebt, Verfahren zur Evaluation des Lernfortschrittes zu
entwickeln und anzuwenden (z.B.Testblätter).
Diese Lernziele sind insofern wertorientiert, als sie explizit und implizit eine altruistische,
sozialorientierte Haltung aufbauen, ohne diese Haltung als verpflichtend vorzuschreiben.
Diese Haltung wird nicht aus moralischen Gründen eingefordert; sie ist lediglich Teil eines
Bündels von Techniken, mit Hilfe derer das Lernen in der Gruppe erleichtert wird. Das
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Lernziel ist die Erkenntnis, daß Handeln stets wertorientiert erfolgt. Die Werte selbst werden
diskursiv ausgehandelt und als Handlungsempfehlungen festgehalten, die jederzeit neu
aushandelbar sind. Da Werte auf der Grundlage von Selbstreflexion entstehen, kann diese
bereits in der Spracherwerbsstufe gewagt werden, indem auf die Grundbedürfnisse des
Menschen, auf das Spannungsfeld zwischen antinomischen Tendenzen und auf die Vorteile
eines explorativen Verhaltens eingegangen wird.
2.2.2 Die Inhalte in der Mittelstufe
Auch hier soll nicht auf die Frage der deklarativen Inhalte in der Mittelstufe eingegangen
werden, sondern auf die Aspekte, die die Originalität des LdL-Modells für die Mittelstufe
ausmachen, also die Förderung einer anthropologischen Reflexion.
Schüler der Mittelstufe, altersmäßig etwa 14- bis 16jährig, sehen nach Oerter (1987:279) die
persönliche Kontrolle über sich und die Umwelt als das zentrale Ziel des Erwachsenenalters
an. Desweiteren heben sie hervor, „daß es wichtig ist, sich so zu akzeptieren, wie man ist“
(a.a.O.:279). Oerter fügt hinzu: „Die gesteigerte Selbstreflexion führt zu dem Ergebnis, daß
man selbst nahezu unbegrenzte Möglichkeiten der Selbstverwirklichung in seiner Umgebung
erblickt“ (a.a.O.).
In der Mittelstufe, in der die Schüler beim Aufbau von Wertmaßstäben einer starken
Außensteuerung ausgesetzt werden, ist es besonders angebracht, Hilfen zur Selbsterkenntnis
bereitzuhalten. Gerade in einer Phase, in der auch vom Stoff her eine Begegnung mit der
Realität des Ziellandes angesteuert wird, ist es günstig, wenn beispielsweise xenophobe
Reaktionen, die im Menschen angelegt sind, nicht als individuelles, schuldinduzierendes
Verhalten angeprangert wird. Xenophobe Reaktionen sollen auf dem Hintergrund
anthropologischer Erkenntnisse als normal beschrieben werden. Die Überwindung solcher
Reaktionen ist Aufgabe eines mit den Schülern geführten Diskurses. Auf diese Weise wird
eine rationale Verarbeitung der damit verbundenen Probleme erleichtert.
Ferner steht als Ziel der Mittelstufe im Vordergrund, daß auf der Grundlage eines
projektorientierten Unterrichts die Schüler in die Lage versetzt werden, Inhaltsbereiche, die
sie besonders interessieren, zu erkennen, projektartig zu erforschen und das Ergebnis ihrer
Recherchen didaktisiert vorzustellen (vgl. LdL-Kontaktbrief Nr.60, 1994). Ein solches
Vorgehen fördert die selbstreflexive Auseinandersetzung der Schüler mit ihren schon
erkannten oder aber noch nicht erkannten Interessen, führt sie also zu einer Präzisierung ihrer
eigenen Identität. Nach Oerter (1987:279) erfolgt ebenfalls auf dieser Alterstufe eine
Reflexion über die Beziehung zwischen Ich und Umwelt. So erkennen die Jugendlichen „ihre
Abhängigkeit von der umgebenden Kultur“ (279). Die Auseinandersetzung mit dieser PersonUmwelt-Beziehung zielt darauf ab, ein Gleichgewicht bei Aufrechterhaltung von
widersprüchlichen Sachverhalten und Umweltbeziehungen herzustellen. Insofern bietet die
Thematisierung des anthropologischen Modells im Unterricht die Möglichkeit, auf die
prinzipielle Spannung zwischen Ich-Ansprüchen und Umwelt-Ansprüchen hinzuweisen und
auch hier auf eine entkulpabilisierte, rationalisierende Haltung hinzuarbeiten. Insbesondere
wird im Zusammenhang mit Auslandserkundungen der Akzent auf den Aufbau einer stabilen
kognitiven Landkarte gelegt (deklaratives Wissen über die Zielkultur), so daß im Feld
emotional Einbrüche besser aufgefangen werden und kognitiv konzeptgesteuerte
Informationsverarbeitung ermöglicht wird. Eine solche kognitive Ausstattung ist besonders in
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Das Projekt „Lernen durch Lehren“ - eine vorläufige Bilanz
Situationen interkulturellen Lernens von großer Bedeutung (Urteile und Vorurteile,
Xenophobie, individuelle und kollektive Merkmale, usw.)6 (7).
2.2.3 Die Inhalte in der Oberstufe
Für die Oberstufe gilt es, das anthropologische Modell nicht nur als Instrument zur
Selbstreflexion einzusetzen, sondern auch zum Verständnis der Geistesgeschichte und der
Literatur des Ziellandes. Gleichzeitig erfolgt eine intensivierte Wertreflexion, wobei die
Möglichkeit genützt wird, die Entwicklung der Werte innerhalb der Zielkultur vom Mittelalter
bis zur Gegenwart (Phylogenese) mit der Entwicklung des einzelnen (Ontogenese) zu
parallelisieren.7
2.2.4 Zusammenfassende Bemerkungen zu den Inhalten in den drei Lernstufen
Zentral in den drei Lernstufen ist die Frage nach dem Sinn. Eher implizit in der
Anfangsstufe, wird im Zusammenhang mit der Einführung des anthropologischen Modells die
Sinnfrage immer expliziter. Im Anfangsunterricht orientiert sich die Wertebildung um das
Lernprojekt im Klassenzimmer. Die Schüler lernen, wie man als Gruppe eine Fremdsprache
erwirbt und wie die Kommunikation zwischen den Lernern im Hinblick auf ein solches
Projektes zu gestalten ist (bis hin zu einem freundlichen, höflichen Verhalten). In der
Mittelstufe werden die Schüler mit den Grundbedürfnissen des Menschen und der eigenen
dialektisch angeordneten Struktur vertraut gemacht. Auf diese Weise bauen sie eine
projektbezogene Organisationskompetenz auf. Schließlich werden in der Oberstufe
Sinnfragen als solche kenntlich gemacht und auf dem Hintergrund eines immer klarer
werdenden anthropologischen Modells für die eigenen Lebensgestaltung nutzbar gemacht.
Durchgängig wird die Kontrolle über das Selbst und über die Umwelt angestrebt, wobei
exploratives Verhalten als förderlich für den Ausbau von Kontrollkompetenzen empfohlen
wird.
3.
Die Rezeption und die Verbreitung
Der doppelte Perspektivenwechsel vom Stoff zum Lerner, und - nach dessen
anthropologischer Neubestimmung - vom Lerner zum Stoff leitet einen Paradigmenwechsel
im Unterricht ein mit grundlegenden Konsequenzen auch für den Lehrer. Die Übernahme der
Schülerperspektive und die Neubestimmung des Stoffes zwingt ihn zu einer Revision seiner
Rolle. Eine so grundlegende Veränderung verlangt eine längere - vielleicht sogar lebenslange
Begleitung und die Kontaktaufnahme mit Lehrern, die einen ähnlichen Wechsel in ihrer
Praxis vornehmen wollen. Darauf sind die bestehenden Fortbildungsinstitutionen mit ihren
meist kurzfristigen Maßnahmen und ihrem Trichtermodell als didaktischem Konzept nicht
vorbereitet. Ferner verlangt ein solcher Paradigmenwechsel nicht nur eine Neuorientierung der
Lehrer, sondern eine neue Reflexion über die Inhalte.
Die bisherige Bestimmung der Inhalte war in erster Linie Aufgabe der Fachdidaktik als
Wissenschaft. Der beschriebene methodische Paradigmenwechsel ist weitgehend aus der
6
Hier kann sich auch die von Hunfeld (1991) eingebrachte Position der „Normalität des Fremden“ als
hilfreich erweisen.
7
Ein konkreter und ausführlicher Vorschlag für Inhalte, die in der Oberstufe behandelt werden könnten,
ist in Martin (1994) zu finden.
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Das Projekt „Lernen durch Lehren“ - eine vorläufige Bilanz
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Praxis heraus entstanden, mit geringer Unterstützung der traditionellen Wissenschaft. Der
Mangel an Unterstützung dürfte an dem Umstand liegen, daß in den Jahren, in denen das
Projekt entwickelt und durchgeführt wurde, die Fachdidaktik als Wissenschaft sich
vorwiegend mit Theorie befaßte und die tatsächlichen Probleme der Praxis kaum wahrnahm.
Die Vorläufer und deren Rezeption in der Praxis: Eine Beschäftigung mit den Wurzeln
des LdL-Gedankens deckt auf, daß in der Geschichte der Pädagogik insgesamt und des
Fremdsprachenunterrichts insbesondere es immer wieder Versuche gegeben hat, ein solches
Konzept umzusetzen. Allen Versuchen ist gemeinsam, daß sie keinen breiten Eingang in die
institutionell getragene Praxis gefunden haben. An dieser Stelle sollen lediglich einige
Ansätze erwähnt werden, die in jüngerer Zeit das „Learning through teaching“-Prinzip explizit
zum Thema gemacht und wissenschaftlich aufgearbeitet haben.
Zu nennen ist als erstes das von A.Gartner [et al.] durchgeführte und 1971 abgeschlossene
Projekt „Children Teach Children - Learning by Teaching“. Es scheint, daß dieses Projekt
trotz vorzeigbarer Erfolge nicht weiter verfolgt wurde. Weitere Anregungen in die Richtung
von LdL wurden von Schiffler (1980) geliefert, der über ein LdL-ähnliches Experiment in
einer 8. Klasse im Fach Französisch berichtet. Trotz positiver Ergebnisse wurde auch dieser
Versuch nicht weiterverfolgt. Dies trifft ebenfalls für Kaufmanns mehrmonatiges Experiment,
das 1977 durchgeführt wurde. 1985 erschien von Steinig „Schüler machen
Fremdsprachenunterricht“, der ebenfalls enge Berührungen mit LdL aufweist. In seinem Werk
beschreibt Steinig die Effekte eines Fremdsprachenunterrichts in Zweierschaft. Der
Unterschied zu dem hier vorgestellten Projekt liegt in dem Umstand, daß es sich bei Steinig
nicht um einen durchgängigen Klassenunterricht handelt, sondern um dafür vorgesehene
klassenstufenübergreifende Zusatzphasen, in denen ein fortgeschrittenerer Partner einen
weniger Fortgeschrittenen unterrichtet.
3.1
Die Entstehung des LdL-Kontaktnetzes
Nachdem ich das LdL-Verfahren theoretisch untermauert, in einer Langzeitstudie praktisch
erprobt und die Ergebnisse ausführlich publizistisch dokumentiert hatte, blieb diese Arbeit
fast ohne Echo in der Fachdidaktik als Wissenschaft. Sehr stark war dagegen das Interesse
unter den in der Praxis tätigen Kollegen, die auf Fortbildungsveranstaltungen mit dem
Konzept bekanntgemacht wurden. Da die Methode den Lehrern zwar auf Anhieb verständlich
war, ihre Anwendung aber in der Anfangsphase mit einer Reihe von Problemen verbunden
war, entschloß ich mich, den anwendungswilligen Kollegen auf Anfrage didaktische Briefe zu
verschicken, die eine konkrete Beschreibung der Anfangsschritte enthielt. Da ich ferner die
Umsetzung durch die Kollegen auch langfristig verfolgen wollte, wurden regelmäßige Treffen
veranstaltet, auf denen Erfahrungen mit LdL ausgetauscht wurden. Darüber hinaus sollten
Berichte von den einzelnen Lehrern verfaßt und an die anderen Teilnehmer verschickt werden.
Auf diese Weise entwickelte sich allmählich von Eichstätt aus ein Kontaktnetz mit
Kontaktbriefen alle zwei Monate, einem jährlichen Bundestreffen und bundesweiten
Regionaltreffen. Motor des gesamten LdL-Projektes ist heute noch eine Kerngruppe von 20
besonders aktiven Lehrern, die auf Fortbildungen als Referenten auftreten, selbst
Fortbildungen organisieren und Aufsätze in Fachzeitschriften veröffentlichen.
3.2
Das Kontaktnetz als Fortbildungsstruktur
Die Anlage der Methode LdL und die Fortbildungsstruktur sind homomorph: So wie die
Lerner sich den Stoff gegenseitig beibringen und dadurch den Erwerb zahlreicher
überfachlicher Qualifikationen ansteuern, so vermitteln Lehrer, die LdL erfolgreich
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Das Projekt „Lernen durch Lehren“ - eine vorläufige Bilanz
praktizieren, diese Methode weiteren Kollegen und erwerben dabei eine Reihe von weiteren
Schlüsselqualifikationen bis hin zu Forschungsqualifikationen. Besonders günstig ist im
Gegensatz zur institutionalisierten Lehrerfortbildung, die in der Regel nur punktuell
stattfindet, daß es sich hier um eine langfristig angelegte Struktur mit regelmäßigen Treffen
und regem Erfahrungsaustausch handelt.
3.3
Das Kontaktnetz als Unterrichtsforschungsstruktur
Im Laufe der Zeit - das Kontaktnetz besteht seit 1987 - sind die von den Teilnehmern
verfaßten Erfahrungsberichte immer präziser, teilweise auch wissenschaftlicher geworden.
Darüber hinaus werden auch in zahlreichen Lehrerseminaren Referendararbeiten über LdL
verfaßt. Insgesamt lassen sich die im Rahmen des Kontaktnetzes entstehenden
Untersuchungen in zwei Kategorien einteilen. Einmal sind es Arbeiten, in denen bewußt
versucht wird, wissenschaftliche Kriterien zu erfüllen. In diese Kategorie fallen die Arbeiten,
die von Referendaren im Rahmen ihrer Seminarausbildung angefertigt werden. Inhaltlich
zeigt sich, daß die Nähe zur Wissenschaft die Untersuchung von fachspezifischen Aspekten
induziert. So wird beispielsweise die syntaktische Komplexität der Schüleräußerungen
erforscht, aber auch der Sprechanteil der Lerner ermittelt oder der Grad der Authentizität der
Mitteilungen.
wird
diskursanalytisch
vorgegangen:
Es
werden
Methodisch
Unterrichtssequenzen auf Tonband aufgenommen und analysiert. In diese Kategorie fallen
ebenfalls kleine Untersuchungen, die wissenschaftlich qualifizierte Kollegen spontan
durchführen. So beispielsweise Vergleiche zwischen „Lernen durch Lehren“ und anderen
„alternativen“ Ansätzen wie der Suggestopädie.
Die zweite Kategorie betrifft Berichte von Praktikern, die spontan und ohne Anspruch auf
Wissenschaftlichkeit verfaßt werden. Nun bemühen sich auch diese Lehrer um Systematik: sie
führen schriftliche Befragungen und Interviews durch, sie machen sorgfältige Aufzeichnungen
und halten Tagebücher. Implizit benutzen sie also Verfahren, die in der qualitativen
Sozialforschung Anwendung finden. Inhaltlich richtet sich ihr Interesse z.T. auch auf
fachspezifische Auswirkungen der Methode, wie z.B. die Qualität von Stoffpräsentationen
durch Schüler. Vorwiegend stehen aber bei den Lehrern dieser Kategorie, also bei denen, die
in ihren Berichten keinen wissenschaftlichen Anspruch erheben, die pädagogischen Effekte
der Methode im Vordergrund, wie die Motivation der Schüler, ihre
Kommunikationsbereitschaft und ihre Selbständigkeit.
Grundsätzlich zeigt sich also, daß unabhängig von der Bewußtheit, mit der ein Bezug zur
Wissenschaft gesucht wird, die am Projekt beteiligten Lehrer sich um Systematik bei der
Untersuchung ihres Unterrichts bemühen und eine forschungsorientierte Haltung einnehmen.
Je bewußter ihr Bezug zur Wissenschaft, desto fachspezifischer die von Ihnen
herausgesuchten Untersuchungsfragen.
3.4
Veröffentlichungen im Rahmen des LdL-Kontaktnetzes zum Einsatz dieser
Methode im Fremdsprachenunterricht
Über meine eigenen Beiträge hinaus wurden eine Reihe von Aufsätzen von den Mitgliedern
des Kontaktnetzes über den Einsatz der Methode im Fremdsprachenunterricht veröffentlicht.
So von R. Graef (1990) über die Anfangsschritte beim Einstieg in die Methode im
Französischunterricht, von G. Leitzgen (1993) über seine Arbeit in einer 11. Klasse ebenfalls
im Fach Französisch, von R. Kelchner (1994) über LdL im Anfangsunterricht Englisch und
(1995) über Lyrik im Französischunterricht.
FLuL 25 (1996)
Das Projekt „Lernen durch Lehren“ - eine vorläufige Bilanz
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Spezifisch über den Einsatz von LdL an der Universität sind zu nennen: Pfeiffer/Rusam
(1992, 1994) über den Einsatz von LdL in Deutschkursen für ausländische Studenten, Skinner
(1993, 1994) über LdL in Sprachkursen für Anglisten, Meyer (1994) über Literaturseminare
für Anglistikstudenten.
4.
Zusammenfassende Bemerkungen: Perspektive und Probleme des
LdL-Projektes
Es wurde aufgezeigt, wie - ausgehend von einer methodischen Innovation, die die neuesten
Forderungen der Fremdsprachendidaktik erfüllt - in der Praxis tätige Lehrer sich mobilisieren,
um die Methode zu testen, zu verbessern und zu propagieren. Durch ihren Einsatz wurde die
Methode bekannt. Eine Rezeption der Methode „Lernen durch Lehren“ durch die
Fremdsprachendidaktik als Wissenschaft steht allerdings noch aus. Innovativ ist nicht nur die
Methode, sondern auch das Kontaktnetz, das um sie herum entstanden ist und als GrasrootBewegung in Erscheinung tritt. Als stabile, selbstgetragene, lehreraktivierende
Fortbildungsstruktur fängt das Kontaktnetz Defizite der institutionellen Fortbildung auf. Als
praxisorientierte, von den Lehrern getragene Forschungsstruktur8 bietet sie eine Alternative
zur etablierten, allzuoft praxisfernen fachdidaktischen Forschung. Allerdings lastet auf dem
Projekt eine Gefahr: Den Teilnehmern des Kontaktnetzes, die ja alles selbst finanzieren und
das Projekt in permanenter Selbstausbeutung betreiben, könnte in Ermangelung jeder
offizieller Unterstützung die Energie ausgehen. Der vorliegende Aufsatz sollte dazu beitragen,
daß von seiten der Wissenschaft das Projekt etwas mehr Aufmerksamkeit erfährt.
8
Auf den Forschungsaspekt wurde ein größerer Akzent gelegt, seitdem ich durch Michael Legutke auf die
Lehrerforschung nach Altrichter (Altrichter/Posch 1990) aufmerksam gemacht wurde.
FLuL 25 (1996)
82
Das Projekt „Lernen durch Lehren“ - eine vorläufige Bilanz
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