Handwerk
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Ortwin Renn und
A n d re a s K li n k e
K a ta s t ro p h e n u n d R i si k e n
Versuch einer Typologie
Die Öffentlichkeit will Orientierung, Forscher wägen ab,
und Politiker brauchen Instrumente, um Maßnahmen gegen drohende Katastrophen ergreifen zu können. Es bleibt
schwierig, die so unterschiedlichen Systeme zusammenzuführen, ohne dass die eine Seite mit verfälschenden Verkürzungen ihrer Forschungen und die andere mit praxisfernen
Theorien und Bedenken von der nötigen Kooperation abgehalten werden. Trotzdem muss es versucht werden.
Die in Stuttgart ansässige Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg beschäftigt sich seit
einigen Jahren mit den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen von Risikoanalyse und Risikomanagement. Zu ihren zentralen Aufgaben gehört die Vermittlung
zwischen Erkenntnissen der Wissenschaft und dem Handlungsbedarf der Politik. Die TA-Akademie versucht,
Instrumente zu entwickeln, die Einsichten der stets abwägenden Forscher mit dem Orientierungsbedarf der
Öffentlichkeit und dem Handlungsbedarf der Politiker
zusammenführen.
BSE und kein Ende …
BSE, Maul- und Klauenseuche, Klimawandel oder Bioterrorismus – die Öffentlichkeit wird einem Wechselbad
von Schreckensnachrichten, Katastrophenmeldungen,
technologischen Durchbrüchen, Entwarnungen, Dramatisierungen und Verharmlosungen, Weltuntergangsprophezeiungen und paradiesischen Verheißungen ausgesetzt. Die Folge dieses heillosen Durcheinanders ist
Verunsicherung. Nach Reaktorunfällen und Alarmrufen,
nach Klima- und Umweltkatastrophen suchen die meisten Menschen nach Orientierung im Wirrwarr widersprechender Einschätzungen, sensationslüsterner Berichterstattung und hilfloser Reaktionen aus Wirtschaft
und Politik. Kann die Gesellschaft sicherstellen, dass die
vielfältigen Regulierungsformen auch tatsächlich greifen?
Gibt es Möglichkeiten für Frühwarnsysteme, damit wir
keine weitere BSE-Welle und kein zusätzliches Ozonloch
erleben müssen?
Der Mythos von Prometheus
Das Phänomen ungewisser Bedrohungen und der
Wunsch nach vorbeugendem Risikomanagement ist so alt
wie die Menschheit. Gerade in Zeiten historischer Umbrüche wurde das Thema ›Umgang mit Risiken‹ in der
jeweiligen Sprache der Zeit aufgegriffen und zum bestimmenden Topos des gesellschaftlichen Diskurses.
Eine solche Umbruchsituation fand um 600 vor der
Zeitenwende im antiken Griechenland statt. In dieser
Epoche vollzog sich der allmähliche Wandel zu einer organisierten Landwirtschaft mit Ackerbau und Viehhaltung. Die Veränderungen haben sich in der Literatur der
Zeit niedergeschlagen. Vor allem Hesiods Genealogie der
Götter und sein Almanach für Bauern sind Zeugnisse
dieser Umbruchphase. Damals wurden die Risiken in
Form von mythologischen Bildern beschrieben. Inhalt
und Sinn solcher Bilder erschließen sich meist erst bei
näherem Hinsehen; es sind symbolische Botschaften, die
Gegenworte, 10. Heft Herbst 2002
entschlüsselt werden müssen. Mythische Vorstellungen
sind jedenfalls keine irrationalen Ausgeburten überschäumender Fantasie, sondern ganzheitliche Kommunikationsangebote mit indirekten Handlungsanweisungen.
Man muss sie allerdings zu deuten wissen.
Im Mittelpunkt der Götterwelt des Hesiod steht Prometheus. Sein Name (der Vorhersehende) ist Programm:
Er hat die Gabe der Voraussicht. Gegen den Willen der
Götter verbündet er sich mit den Menschen, lässt sie an
seiner Gabe teilhaben und bringt ihnen das Feuer. Dafür
wird er von den Göttern hart bestraft: An einen Felsen
gekettet, wird ihm bei lebendigem Leib von einem Vogel
die Leber herausgerissen. Dies geschieht jeden Tag von
neuem, bis Herakles ihn schließlich befreit. Die Menschen übernehmen die Gabe des Prometheus und werden
zu Mitschöpfern ihrer Umwelt: Die Kontrolle über das
Feuer ist Bedingung für Handwerk und städtisches Leben, und die Fähigkeit vorauszuschauen ist nötig, um
Ackerbau und Viehzucht zu betreiben.
Die Entstehung eines Bewusstseins von den Folgen
menschlicher Handlungen wird einige Jahrhunderte
später in dem Drama von Aischylos Der gefesselte Prometheus beschrieben. Der Dichter lässt Prometheus erklären,
weshalb er das Feuer an die Menschen weitergegeben
hat:
Nur meiner Gaben gute Absicht deut ich aus
Sie, die zu Anfang Augen hatten, doch nicht sahen
Und Ohren, die nicht hörten, sondern wie Gebild
Von Träumen ihre lange Lebenszeit hindurch
Blind all in eines Wirren und nichts wussten von
Ziegelgewebten Häusern noch vom Zimmerwerk,
Sondern vergraben hausten wie die wimmelnden
Ameisen, im Geklüft von Höhlen, sonnenlos,
und wussten nichts: […]
Als Erster schirrt ich unters Joch das Wildgetier
Dass es im Pfluge frone, Lasten trag und so
Der schwersten Müh’n des Menschen manche nehme ab.
Die Götter aber zürnen über die neue Machtfülle der
Menschen. Sie schicken die schöne Pandora zu Prometheus, er aber weist sie in weiser Voraussicht der zu erwartenden Folgen ab. Sein Bruder Epimetheus jedoch
(dessen Name darauf verweist, dass er erst handelt und
dann an die Folgen denkt) lässt sich von Pandora blenden
und gewährt ihr Zutritt zu seinem Haus. Dort öffnet sie
ihre berühmte Büchse, aus der alle Übel dieser Welt he-
rausquellen und die Menschen nunmehr heimsuchen:
Krankheit, Siechtum, Unglück. Zuletzt bleibt als positive
Gabe nur die Hoffnung.
Das Bild einer Zwillingsbruderschaft von Prometheus
und Epimetheus, also zwischen der gestalterischen Kraft
der Vorausschau und achtloser Hinnahme von Risiken
auf der Basis von Blendwerk (in heutiger Terminologie
ließe es sich mit Antizipation oder Simulation übersetzen), wirkt erstaunlich aktuell. Alle Merkmale moderner
Risikokonflikte sind in dem Mythos enthalten. Auf der
einen Seite finden sich die prometheischen Gaben, Zukunft mithilfe von systematischem Wissen antizipieren
und gestalten zu wollen – einschließlich der Gefahr, die
eigenen Möglichkeiten zu überschätzen oder die ungewollten Nebenwirkungen zu ignorieren. Dies verbinden
wir bis heute mit dem griechischen Begriff der Hybris.
Auf der anderen Seite steht die epimetheische Eigenschaft, sich blenden zu lassen von den Verheißungen
der technischen Vernunft, ohne die damit verbundenen
Kosten zu sehen. All dies ist verdichtet in einigen wenigen Pinselstrichen der Mythologie, deren ›Publikum‹
Bauern und Handwerker waren, die zunehmend auf vorausschauende Planung angewiesen waren.
Ratlose Berater
Von einem vernünftigen Umgang mit Risiken erwartet
man, dass auf der Basis wissenschaftlicher Methodik das
Ausmaß und die Wahrscheinlichkeit unterschiedlicher
Schadensmöglichkeiten berechnet und darauf aufbauend
Maßnahmen ergriffen werden, die das Risiko (verstanden
als Ausmaß des Schadens multipliziert mit der Eintrittswahrscheinlichkeit) auf einem noch gerade tolerablen
Maß (Restrisiko) halten. Diese generelle Vorgehensweise
ist typisch für die Bewertung und das Management von
Risiken weltweit. Es ist aber offensichtlich geworden,
dass diese Verfahrensweise nicht ausreicht, um Risiken
wie BSE, den Klimawandel oder auch gentechnische
Veränderungen in den Griff zu bekommen.
Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung
für Globale Umweltveränderungen (WBGU) überlegte
1988, welchen Rat für den Umgang mit den komplexen
Risiken der Moderne er der Bundesregierung guten
Gewissens geben könnte. In diesem Zusammenhang
suchte man auch nach Alternativen zum traditionellen
Ansatz der Risikobewertung. Die Arbeitsgruppe beschäftigte sich in diesem Kontext mit der Frage, ob es
andere, rational nachvollziehbare Kriterien gibt, nach
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denen die neuen, wenig vorhersehbaren Risiken besser
charakterisiert und damit auch begrenzt werden könnten.
Dies führte schließlich zur Beschäftigung mit Prometheus und den anderen Göttergestalten der Antike. Denn
in der griechischen Mythologie treten eine Reihe von
Göttern und Wesen (mit ›Leitbildcharakter‹) auf, die alle
eines gemeinsam haben: Sie personifizieren eine besondere Eigenschaft oder ein hervorstechendes Merkmal von
Risiko. Die Bilder mythischer Figuren sind historische
Antworten auf ein Grunddilemma: den Umstand, dass
mit der Zunahme des Wissens über die Zukunft paradoxerweise auch die Unsicherheit über die Folgen des eigenen Handelns wächst – was nicht nur technisch, sondern
auch mental bewältigt werden muss.
Physiker, Biologen, Ökonomen und Sozialwissenschaftler aus dem Beirat widmeten sich nun der Lektüre
von Hesiod und Aischylos, um eine Übersicht zu gewinnen, wie das in den Mythen verdichtete Erfahrungswissen über komplexe neuartige Risiken in die moderne
analytische Sprache überführt werden könnte. Die TAAkademie leistete Hebammendienste bei dem Versuch,
den historischen Kern der Risikoerfahrung, der in der
griechischen Mythologie steckt, mit aktuellen Analysen
und Vorschlägen aus der Fachliteratur über den Umgang
mit modernen Risiken zu einer sinnvollen Synthese zu
bringen. Das Ergebnis dieser Bemühungen ist eine Risi-
kotypologie: Auf der Basis von sieben Merkmalen wurde
eine Klassifikation in sechs Klassen mit eigenem Risikoprofil, später auch ein daraus abgeleiteter Maßnahmenkatalog zum Risikomanagement vorgenommen (vgl. Tabelle).
Wir haben also die Risiken in sechs Klassen eingeteilt,
ihre wesentlichen Merkmale beschrieben und sie mit
Fallbeispielen illustriert. Die sechs Klassen erhielten die
griechischen Namen aus der mythologischen Literatur,
um bei der Typisierung und Vermittlung von Risiken eine
Linie der Risikobetrachtung vom Altertum bis heute zu
skizzieren und nicht zuletzt um die Kraft dieser Bilder für
die Vermittlung von Risiken zu nutzen.
Vom Schwert des Damokles zur Medusa
Die griechische Mythologie berichtet, dass Damokles
einst zu einem Bankett bei seinem König eingeladen war.
Er musste sein Mahl jedoch unter einem scharf geschliffenen und an einem dünnen Faden aufgehängten Schwert
einnehmen. Das Schwert des Damokles wurde zum Sinnbild einer im Glück drohenden Gefahr. Der Mythos berichtet jedoch nicht, dass der Faden je gerissen und die
fatalen Konsequenzen eingetreten wären. Die Bedrohung
bestand in der Möglichkeit, dass sich das tödliche Ereignis für Damokles jederzeit hätte ereignen können, auch
wenn die Wahrscheinlichkeit äußerst gering war. Mo-
Risikotypen
Risikotyp
Charakterisierung
Beispiele
Schwert des Damokles
Sehr hohes Schadenspotenzial
Geringe Eintrittswahrscheinlichkeit
Kernkraftwerke, großchemische Anlagen,
Staudämme, Meteoriteneinschläge
Zyklop
Hohes Schadenspotenzial
Ungewisse Eintrittswahrscheinlichkeit
Erdbeben, Vulkanausbrüche, Überschwemmungen,
El Niño, Aids, ABC-Waffen
Pythia
Ungewisses Schadenspotenzial
Ungewisse Eintrittswahrscheinlichkeit
Gentechnik, BSE
Büchse der Pandora
Unbekanntes Schadenspotenzial
Ungewisse Eintrittswahrscheinlichkeit
Hohe Ubiquität, Persistenz und Irreversibilität
Chlororganische Schadstoffe
(z.B. FCKW, DDT)
Kassandra
Hohes Schadenspotenzial
Hohe Eintrittswahrscheinlichkeit
Hohe Verzögerungswirkung
Anthropogen verursachter Klimawandel
Verlust biologischer Vielfalt
Medusa
Geringes Schadenspotenzial
Geringe Eintrittswahrscheinlichkeit
Hohes Mobilisierungspotenzial
Elektromagnetische Felder
Gegenworte, 10. Heft Herbst 2002
In vielen Bereichen des angewandten Wissens gibt es keine gesicherte Wahrheit,
sondern nur Wahrscheinlichkeiten, bestehend aus gesicherten Erkenntnissen,
begründbaren Hypothesen und intelligenten Spekulationen.
(Aus: Im Supermarkt der Gutachten, in: Die Zeit vom 19. 9. 2002, S. 32)
derne Beispiele, die daran anschließen, sind technologische Risikopotenziale wie Kernenergie, großchemische
Anlagen und Staudämme, aber auch Meteoriteneinschläge. Dieser Risikotyp ist durch die Möglichkeit einer
verheerenden Katastrophe, aber gleichzeitig durch eine
geringe Wahrscheinlichkeit des Eintritts dieser Katastrophe gekennzeichnet. Das primäre Kennzeichen dieses
Risikotyps ist die Kombination aus geringer Eintrittswahrscheinlichkeit und sehr hohem Schadensausmaß.
Der zweite Risikotyp erhielt den Namen Zyklop. Die
antiken Griechen erzählen von mächtigen Riesen, die nur
ein einziges Auge hatten, weshalb sie Rundaugen oder
Zyklopen genannt wurden. Mit nur einem Auge kann die
Welt nur eindimensional wahrgenommen werden, die
mehrdimensionale Perspektive geht verloren. Zyklopen
versinnbildlichen Risiken, bei denen eine Seite bekannt
ist, die andere aber ungewiss bleibt. Das heißt für die Betrachtung von Risiken, dass nur eine Seite, nämlich das
Schadensausmaß, abgeschätzt werden kann, während die
andere Seite, die Eintrittswahrscheinlichkeit, ungewiss
bleibt. Eine Reihe von Naturkatastrophen wie Erdbeben,
Vulkanausbrüche und El Niño sind hier als typische Vertreter zu nennen. Bei Risiken des Typs Zyklop gibt es in
der Regel zu wenig Kenntnisse über kausale Zusammenhänge. In anderen Fällen beeinflusst menschliches Verhalten die Eintrittswahrscheinlichkeit, so dass Ungewissheit durch willentliche Entscheidungen hervorgerufen
wird. Am Beispiel von Aids wird dies deutlich: Die
WHO schätzte für das Jahr 1999, dass mehr als 34 Millionen Menschen an HIV erkrankt waren, was einer Zunahme von 5,4 Millionen gegenüber dem Vorjahr entsprach. Allein 1999 sind etwa 2,8 Millionen Menschen
an der Krankheit gestorben. Ein anderes Beispiel für den
Risikotyp, den wir Zyklop nennen, ist die kriegerische
und terroristische Verwendung von ABC-Waffen.
Sind die Komponenten Wahrscheinlichkeit und Ausmaß ungewiss, bewegen wir uns in der Risikoklasse der
Pythia. Die alten Griechen konsultierten in zweifelhaften
und ungewissen Fällen eines ihrer Orakel. Das berühmteste war wohl das Orakel von Delphi mit der blinden
Seherin Pythia. Sie benebelte ihre Sinne mit Gasen, um
in Trance Vorhersagen machen und Ratschläge für die
Zukunft geben zu können. Pythias Weissagungen blieben
jedoch immer mehrdeutig. Für die Risikobewertung bedeutet dies, dass sowohl die Eintrittswahrscheinlichkeit
als auch die Dimension eines möglichen Schadens unsicher bleiben. Die Ungewissheit ist also hoch. Beispiele
für diesen Typ wären menschliche Eingriffe in Ökosysteme, gentechnologische Innovationen in der Landwirtschaft und in der Lebensmittelproduktion. Zudem gehört
das eingangs erwähnte Risiko von BSE-Seuchen in diese
Kategorie.
Verwandt mit den Risiken der Pythia sind Risiken der
Klasse Büchse der Pandora. Viele Übel und Missstände
werden in der griechischen Antike mit dem Mythos der
Büchse der Pandora erklärt, auf die bereits hingewiesen
wurde. Solange die Büchse der Pandora geschlossen
bleibt, ist nichts zu befürchten. Wird die Büchse geöffnet, so setzt sie alle Übel und Krankheiten der Welt frei,
die weit reichende, beständige und irreversible Schäden
verursachen. Ähnlich wie beim Risikotyp Pythia sind
auch hier Eintrittswahrscheinlichkeit und möglicher
Schaden ungewiss. Die Experten sind sich jedoch einig,
dass die möglichen Risikoschäden dieses Typs regionale
Grenzen überschreiten und sogar globale Auswirkungen
haben können. Sie sind zeitlich sehr stabil, das heißt, sie
sind oftmals über mehrere Generationen hinweg wirksam, und in der Regel sind die Folgen irreversibel. Typische Vertreter sind persistente organische Schadstoffe
(POP), Endokrine und Veränderungen im Biosystem, die
über lange Zeiträume stabil bleiben. Ein eindrucksvolles
historisches Beispiel ist die Zerstörung der Ozonschicht
durch FCKW.
Neben der zeitlichen und örtlichen Komponente spielen bei vielen Risiken auch noch andere Merkmale eine
wichtige Rolle, so etwa die Verzögerungswirkung des
Schadens. Hier wurde auf die Geschichte der Kassandra
zurückgegriffen. Kassandra, eine Seherin der alten Trojaner, hatte nicht das Problem der Ungewissheit, sondern
der Glaubwürdigkeit ihrer Vorhersagen, obwohl sie richtig waren. Sie sagte die Gefahr eines griechischen Sieges
sicher und korrekt voraus, aber ihre Landsleute schenkten
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ihr keinen Glauben. Risiken des Typs Kassandra sind nur
dann relevant, wenn das Schadenspotenzial und die Eintrittswahrscheinlichkeit hoch sind. Deshalb ist diese
Risikoklasse auch besonders dramatisch in ihren Auswirkungen. Bei den Risiken dieses Typs wird die Wahrscheinlichkeit katastrophaler Folgen von den Experten als
sehr groß eingeschätzt. Zwischen dem auslösenden Ereignis und dem Eintritt der katastrophalen Folgen liegt
jedoch eine erhebliche Verzögerung vor. Das führt zu der
Situation, dass solche Risiken von Politik und Öffentlichkeit ignoriert werden. Der anthropogen verursachte Klimawandel und der weltweite Verlust biologischer Vielfalt
können als solche Risikophänomene beschrieben werden.
Die katastrophalen Schäden werden sich mit großer
Wahrscheinlichkeit ereignen, aber die hohe Verzögerungswirkung führt dazu, dass niemand bereit ist, diese
Bedrohungen als solche anzuerkennen.
Als letzte Klasse verbleiben die Risiken der Medusa:
Die mythologische Welt der antiken Griechen war voll
von Gefahren, denen die Menschen, Helden und sogar
die olympischen Götter ausgesetzt waren. Die imaginären
Gorgonen taten sich dabei besonders hervor. Medusa war
eine von drei Gorgonenschwestern, die allen Griechen
Furcht einjagte, weil allein ihr Anblick den Betrachter zu
Stein erstarren ließ. Ähnlich wie die Gorgonen Angst
und Schrecken verbreiteten, lösen manche moderne Phänomene bei den Menschen durch psychische Mechanismen Schrecken aus. Manche Innovationen werden aufgrund der subjektiven Risikowahrnehmung abgelehnt,
obwohl sie wissenschaftlich kaum als Bedrohung eingeschätzt werden können. Die Gefahr geht nicht vom realen Risiko aus, sondern von Merkmalen, die individuell
Angst einjagen oder sozial unerwünscht sind. Solche
Phänomene haben ein hohes Mobilisierungspotenzial in
der Öffentlichkeit. Diese Risikoklasse ist aber nur von
Interesse, wenn zwischen der Risikowahrnehmung der
Laien und der Risikoanalyse der Experten eine besonders
große Differenz besteht. Elektromagnetische Felder, in
der Umgangssprache oft ›Elektrosmog‹ genannt, sind ein
typisches Beispiel dafür.
Es ist hier nicht der Platz, um die Vorschläge für das Management der Risiken im Einzelnen zu erläutern.2 Die
Kategorisierungen sind jedenfalls von inländischen und
ausländischen Institutionen des Risikomanagements
übernommen worden. Aber bei aller Kunstfertigkeit und
Subtilität der neuen Werkzeuge zur Erfassung und Be-
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wältigung moderner systemischer Risiken sollte die
Grundbotschaft des Prometheus-Mythos nicht untergehen: Die Zukunft wird zwar von uns ›gemacht‹, sie ist
aber nicht machbar. Wir können vielleicht die Bedingungen unseres künftigen Lebens gestalten, dennoch beherrschen wir unsere Zukunft nicht. Bloßes Machen führt
zwangsweise in die Hybris, bloßes Erdulden dagegen ins
Elend. Verantwortbares Risikomanagement bedeutet, die
Chancen der technischen Entwicklung zu nutzen und
dabei die Verwundbarkeiten, die den technischen und sozialen Wandel begleiten, so einzugrenzen, dass wir die
Chancen eines menschengerechten Lebens für alle vergrößern. Auch dies hat Aischylos beschrieben, in seinem
Dialog mit der Chorführerin denkt Prometheus darüber
nach:
Chorführerin: Bist du nicht doch zu weit gegangen?
Prometheus: Den Sterblichen nahm ich vorzuwissen
ihren Tod
Chorführerin: Für solches Leid, welch Heilmittel
fandest du?
Prometheus: Ich siedelte in ihnen Hoffnung an.
Chorführerin: Gar große Wohltat für das sterbliche
Geschlecht!
1 vgl. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU): Welt im Wandel: Der Umgang mit globalen Umweltrisiken. Berlin
1999; O. Renn und A. Klinke: Wer schließt die Büchse der Pandora? Kriterien für Risikomanagement, in: Bild der Wissenschaft 8, 2002, S. 80-86
2 vgl. A. Klinke, O. Renn und H. J. Schellnhuber: Zentrale Handlungsempfehlungen
des WBGU zur Umweltrisikopolitik, in: Zeitschrift für Angewandte Umweltforschung 3,
1999, S. 297-303