Die Nacht
(Bleistiftzeichnung nach ? Max Beckmann)
Die Nacht, Bleistift auf Papier, Kopie nach Max Beckmann, ca. 27 x 31 cm
„Max Beckmann Die Nacht
Wir werden Zeugen eines Überfalls. Strolche sind in eine Dachkammer eingedrungen und
malträtieren eine Familie. Sie haben sie offenbar beim Abendessen überrascht und überwältigt. Der
Blick durchs Fenster geht auf tiefe Dunkelheit. Es ist ein enger, verwinkelter Mansardenraum, der
keine vollständige Übersicht über das Geschehen erlaubt.
Alles ist in Unordnung geraten. Im Kampfgetümmel sind die Dinge - das Mobiliar, das Geschirr, die
Kerzen – durcheinander gestürzt. Teller liegen herum, das Grammophon ist zu Boden gefallen,
daneben liegt ein Messer. Zwei der Schinder (von denen einer selbst lädiert ist - er trägt einen
Kopfverband) haben einen Mann auf den Tisch gezerrt. Einer stranguliert ihn, während der andere
seinen Arm ausrenkt. Neben ihm heult ein Hund. Der dritte Eindringling, der das Kind der Familie
wegzuschleppen versucht, scheint sich an der Gardine festhalten oder sie herab reißen zu wollen.
Vor dem Tisch, mit dem Rücken zum Betrachter, sehen wir eine Frau, die Beine gespreizt, die
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Hände an den offenen Fensterflügel gebunden.
Max Beckmann hat die überfallene Familie mit der eigenen identifiziert. Der Strangulierte auf dem
Tisch trägt die gleichen Züge, wie wir sie von Selbstbildnissen dieser Zeit kennen, zum Beispiel
dem „Selbstbildnis als Clown“ von 1921, das hier auch in der die eigene Verletzung vorweisenden
Handbewegung präfiguriert erscheint. Dem von einem der Eindringlinge gepackten Kind hat
Beckmann Porträtzüge seines damals zehn Jahre alten Sohns Peter gegeben.
Beckmann hat in der „Nacht“ das Zerbrechen einer vertrauten Welt am Beispiel der Zerstörung
einer kleinen Familie dargestellt. Er selbst sagte, man solle bei seinem Bild ȟber dem
Gegenständlichen das Metaphysische nicht vergessen« . Das Verstörende an seiner „Nacht“ ist, dass
sich das Geschehen wie zwangsläufig, wie von einer unheimlichen Mechanik getrieben, vollzieht
Der fluchtende Bretterboden lässt uns an eine Bühne denken, und auch die Figuren, die
Mörderbande gleichermaßen wie ihre Opfer, agieren, als wären sie Marionetten - und irgendeine
Schinder in Beckmanns Gemälde ihrem Tun so teilnahmslos nachgehen, als erledigten sie eine
Pflicht, als wären sie nur Werkzeug einer fernen Instanz. Es scheint sinnlos, sich gegen sie
aufzulehnen. W. S.“1
Max Beckmann, Die Nacht2
Es ist, als wenn Wieland Schmidt unsere Bleistiftzeichnung beschrieben hätte. Denn er erklärte und
interpretierte dieses Sujet ohne die letzte im Hintergrund stehende, aber auf unserer Zeichnung
1 Schmied, Wieland (Hg.): Harenberg Museum der Malerei. Dortmund: Harenberg Verlag, 1999, S. 874.
2 Kunstsammlung NRW, Anette Kruszynski, Max Beckmann Die Nacht, Hatje, 1997, Seite 61
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tatsächlich fehlende Figur. Denn auf dem Originalgemälde gibt es noch dieses eine Porträt mehr,
das von ihm mit keinem Wort erwähnte, welches aber dringend nach Erklärung schreit.
Ich denke, dass ich bei diesem Gemälde nicht darum herum kommen werde etwas zu Max
Beckmann zu schreiben. Da mir selbst aber dazu das nötige Wissen fehlt, bediene ich mich einer
Stelle des Internets:
Max Beckmann wurde am 12. Februar 1884 in Leipzig geboren und verbrachte nach dem Tod des
Vaters 1894 einen Teil seiner Kindheit in Braunschweig. 1900 bis 1903 studierte er an der
Kunstakademie in Weimar, wo er 1902 seine spätere Frau Minna Tube kennen lernte. 1903 hielt er
sich längere Zeit in Paris auf, wo er vor allem die Impressionisten studierte. Im selben Jahr noch
ließ er sich in Berlin nieder.
Vom Einfluss der impressionistischen Malweise zeugt sein frühestes erhaltenes Gemälde „Junge
Männer am Meer“ (1905, Weimar). 1906 heiratete er Minna Tube. Im selben Jahr beteiligte er sich
an einer Ausstellung der Berliner Sezession, einer jener um 1900 gegründeten
Künstlervereinigungen, deren Mitglied er 1907 wurde. 1906 erhielt er den Villa-Romana-Preis und
verbrachte mit einem Stipendium sechs Monate in Florenz. Nach der Rückkehr 1907 nach Berlin
entstanden zahlreiche Gemälde. Beckmann war an mehreren Ausstellungen beteiligt; 1913 hatte er
bei Paul Cassirer in Berlin seine erste Einzelausstellung. 1914 meldete sich Beckmann freiwillig als
Sanitäter zum Militärdienst, wurde aber nach einem Nervenzusammenbruch bereits 1915 wieder
entlassen.
Beckmann zog nach Frankfurt am Main. 1925 wurde er Professor an der dortigen Städelschule und
nahm an der berühmten Ausstellung "Neue Sachlichkeit" in der Mannheimer Kunsthalle teil. Er ließ
sich von Minna Tube scheiden und heiratete Mathilde von Kaulbach, genannt "Quappi", die uns
ebenso wie seine erste Frau durch zahlreiche Porträts bekannt ist. 1933 wurde Beckmann wie viele
andere Künstler fristlos aus dem Staatsdienst entlassen. Bis 1937 lebten die Beckmanns noch in
Berlin, dann emigrierten sie nach Amsterdam, 1947 in die USA, wo Max Beckmann unter anderem
an der Washington University Art School in St. Louis und an der Art School des Brooklyn Museums
in New York lehrte. Am 27. Dezember 1950 starb Beckmann in New York.
Figurative Malerei der klassischen Moderne
Max Beckmann malte zunächst im impressionistischen Stil Landschaften und
Figurenkompositionen. Infolge der schockierenden Erlebnisse des Ersten Weltkrieges, die den als
Sanitäter dienenden Beckmann in eine psychische Krise stürzten, entwickelte er seine eigene
malerische Handschrift, die kunsthistorisch weder der Neuen Sachlichkeit noch dem
Expressionismus ganz zuzuordnen ist.
Er schuf in enge Bildräume gedrängte Kompositionen mit zum Teil grotesken Gestalten und mit
Gegenständen - Musikinstrumenten, Vasen - und mit Tieren, wie vor allem dem Fisch; Bildelemente
voller Symbolik, die bis heute als nicht entschlüsselbar gelten. Es ist davon auszugehen, dass er den
Zwiespalt moderner Existenz in Gleichnissen auszudrücken suchte. Er richtete seinen Blick auf die
Ohnmacht und Hilflosigkeit des Individuums in einer heillosen, von Gewalt erfüllten Zeit, zum
Beispiel in einem seiner Hauptwerke "Die Nacht" (1918/19; Düsseldorf, Kunstsammlung
Nordrhein-Westfalen).
Um 1926 wurden seine Farben unter dem Einfluss der französischen Moderne reiner und
leuchtender, seine Zeichnung freier. Ein Hauptmotiv aller Schaffensperioden Beckmanns ist das
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Selbstporträt. Immer wieder hat sich der Künstler mit den Mitteln der Malerei selbst befragt: In
sogenannten Rollenporträts oder selbstbewusst als Bürger der Gesellschaft, wie in "Selbstporträt als
Clown" (1921).
Auch von seinen beiden Ehefrauen Minna Tube und Mathilde von Kaulbach gibt es zahlreiche
Porträts von seiner Hand. Seit 1930 mehrten sich die Bilder, in denen Beckmann mythologische
Motive, politische Ereignisse und autobiografische Erlebnisse zu einem "gemalten Welttheater"
vereinte. Die vielschichtigen Szenen seiner neun Triptychen, die zwischen 1930 und 1939 in einer
als privat-mythologisch zu bezeichnenden Bildsprache entstanden, lassen sich auch unter
Zuhilfenahme von Beckmanns Schriften kaum entschlüsseln. Als die bekanntesten Triptychen
gelten "Abfahrt" (1932/33; New York, Museum of Modern Art), dessen Entstehungsgeschichte
zweifelsfrei mit der Emigration des Künstlers in Verbindung zu bringen ist, und das späte
Triptychon "Argonauten" (1950; New York, Sammlung Max Beckmann).
Beckmann schuf auch einige Skulpturen und ein umfangreiches grafisches Werk, das außer
Einzelblättern auch einige Illustrationszyklen umfasst.
"Die Nacht" - Politik, Zeitgeschehen und privates Schicksal
Von August 1918 bis März 1919 hat Max Beckmann an seinem Gemälde "Die Nacht" (Düsseldorf,
Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen) gearbeitet.
Die Nacht, Ausschnitt mit der roten Dame, die auf unserer Zeichnung fehlt.3
3 GEO Epoche Edition, Nr. 4, Expressionismus, Gruner + Jahr AG & Co, Hamburg, Seite 97
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Der Blick fällt in eine splittrig verwinkelte, enge Dachkammer. Drei Männer sind dort
eingedrungen. Mit teilnahmslosen Gesichtern foltern, vergewaltigen, töten sie und verschleppen ein
Kind. Die Leiber und Glieder der Opfer sind grauenvoll verrenkt. Das Ende des Ersten Weltkrieges,
die Novemberrevolution, der Spartakusaufstand und die Gründung der KPD durch die Spartakisten
am 30. Dezember 1918 fielen in die Entstehungszeit des Bildes. Am 15. Januar 1919 ermordeten in
Berlin Soldaten eines Freikorps Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die an der Spitze der
Kommunistischen Partei Deutschlands standen. In dem Mann rechts im Bild, mit Ballonmütze und
Staubmantel, hat man Züge Lenins erkennen wollen. Doch nicht allein Zeitereignisse erklären die
Gewalttätigkeit, die das Bild ausstrahlt, sondern auch Stilmittel, die eine holzschnittartige, an
altdeutscher Malerei geschulte Formensprache in dem gedrängten Bildraum aufweisen. Bei dem
Bild solle man, wie Beckmann anmerkte "über dem Gegenständlichen das Metaphysische nicht
vergessen". So hat man "Die Nacht" auch als ein Werk Beckmanns im Geiste Friedrich Nietzsches
interpretiert: das Leben als ewiger Kampf. Doch besteht in dieser Szene keine Hoffnung mehr auf
Erlösung.
In dem geschundenen Mann links im Bild, der gerade stranguliert wird, hat man eine
Selbstdarstellung Beckmanns gesehen. Demonstrativ zeigt er Arm und Hand in einer Haltung, die
an die des Christus der Kreuzabnahme erinnert. Das Kind rechts im Bild identifizierte man als
Beckmanns Sohn Peter. Die Frau im Hintergrund wird als Minna Tube, seine Frau, interpretiert, die
zu dem damaligen Zeitpunkt gerade ein Engagement als Opernsängerin in Graz angenommen hatte.
Die Familie fiel auseinander. "Die Nacht" wird somit zum privaten wie zum zeitgeschichtlichen
Golgatha.4
Jetzt habe ich hier schon zwei Interpretationsversuche fast völlig abgeschrieben. Aber so richtig
eindeutig weiß von deren auch keiner das Werk zu enträtseln. Die anderen, die es versucht haben,
sind daran wohl auch gescheitert. Ich werde es mit meinen geringen Wissen um Max Beckmann
nicht auch noch versuchen. Unsere Zeichnung möchte ich aber dennoch nicht gleich zur Seite legen.
Denn die ist signiert. Wer war der Zeichner?
Die Zeichnung trägt zwei schriftliche Hinweise auf den Verfasser
Das leicht lesbare Monogramm „HKH“ besteht aus lateinischen Druckbuchstaben und scheint mit
brauner Tinte viel später aufgebracht worden zu sein. Den unterhalb der Zeichnung angebrachten
altdeutschen Schrifttyp setzte der Schreiber aber mit einem Bleistift darunter. Diese Tatsache lässt
darum einfach den Schluss zu, dass das die Signatur des Künstlers sein muss. Leider beherrsche ich
aber die Deutsche Kurrentschrift genauso schlecht, wie Sütterlin. Ich habe im Netz um Hilfe
4 http://m.schuelerlexikon.de/mobile_kunst/Max_Beckmann.htm
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gebeten. Selber würde ich auf „Pue“ oder „Pein“ tippen, konnte zu diesen beiden Namen aber nichts
herausfinden.
Die Besonderheiten an dieser Nachzeichnung sind aber, wie schon angedeutet, deren fehlende
Elemente. Ein Kopist, der ein derartig gutes Blatt anfertigen kann, lässt doch z.B. nicht einfach
diese Dame weg. Übrigens ist die Zeichnung, soweit sie mit dem Endwerk vergleichbar ist,
keinesfalls abgepaust und damit ein eigenständiges Werk.
Ölfassung des angsterfüllten, plötzlich vom Boden weggerissenen Kindes (Die Nacht / Ausschnitt)
Es ist zu vermuten, und eigentlich kann es auch nur so sein, dass der Abzeichner das originale
Ölgemälde in diesem Zustand, also unfertig, zu Gesicht bekam. Max Beckmann malte an diesem
Werk ja ca. acht Monate. Vielleicht war er aber in dem einen Moment davon überzeugt, das es fertig
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sein sollte. Später entschied er sich um, weil er eine wichtige Person und andere Details auch noch
darin verewigen wollte. Es scheint mir so, als wenn unser Künstler zu Beckmanns Bekanntenkreis
gehörte und der ihm die Möglichkeit einräumte, das Bild schon in seinem Atelier zu kopieren.
Vielleicht ungewöhnlich, aber doch denkbar.
Was ist denn jetzt so anders? Welche Elemente fehlen eigentlich in unserer Zeichnung? Zuerst ist da
natürlich die rote, durchaus vornehme Dame im Hintergrund, die so argwöhnisch guckt, vielleicht
sogar „Schmiere steht“. Es fehlt die am Boden liegende Kerze und das Messer. Die Vorhandene ist
auf unserer Zeichnung erloschen dargestellt während genau die auf dem Ölgemälde eine Flamme
trägt. Auch fehlen auf unserer Zeichnung die Füße des Kindes und dessen Gesichtsausdruck lässt
das Angstvolle vermissen. Dadurch macht es den fälschlichen Eindruck, als wenn es bei dem
Einbrecher Schutz suchen würde, sich bei dem beinahe versteckt hält.
Muss das Wort unterhalb der Zeichnung eigentlich zwingend der Künstlername sein? Könnte da
nicht auch der Bildtitel geschrieben stehen? Wäre meine Deutung, dieses Wort als „Pein“ zu lesen,
vielleicht gar nicht so falsch? Der Duden definiert den Begrifft „Die Pein“ mit: Heftiges
körperliches, seelisches Unbehagen; etwas, was jemanden quält.
Genau das aber ist der Inhalt der Zeichnung und noch mehr der des großen farbigen Ölgemäldes.
Ölversion der Kerzen und des Messers (Die Nacht / Ausschnitt)
Man kann dieses Bild sicher auf die verschiedensten Arten interpretieren, darf aber an dem Wort
„Pein“ nicht vorbeigehen.
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Da werden drei Menschen aufs Tiefste erniedrigt und gequält. Der strangulierte Mann scheint dem
Tode nahe zu sein. Seine Zunge nimmt schon eine blaue Färbung an.
Ölversion, erwartend glotzender Einbrecher mit Pfeife (Die Nacht / Ausschnitt)
Der strangulierte Mann in der Ölfassung (Die Nacht / Ausschnitt)
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Die drei Opfer sind einander zum Greifen nah und können sich selbst und ihren Liebsten trotzdem
keine Hilfe leisten. Sie sind dem brutalen Schrecken des gnadenlosen nächtlichen Überfalls
schutzlos ausgeliefert. Das angsterstarrte Kind sieht vor seinen Augen, wie ihm durch das elende
Leiden seiner Eltern der Boden unter den Füßen weggerissen wird. Es weiß nicht, wie ihm
geschieht. Ihre Mutter, an den Händen gefesselt und schon vergewaltigt, reißt ihre Arme zum
Himmel, weil der widerliche Verbrecher gerade das Fenster öffnet, um ihr Kind im nächsten
Moment dort hinauszuwerfen. Eine Entführung des Kindes, wie oft angenommen, ist nicht geplant.
Es hätte auch keinen Sinn, da die einzigen Lösegeldzahler dieses Drama nicht lebend überstehen
werden. Nichts nach dieser Nacht wird jemals mehr so sein, wie es einmal war. Angst, Schmerz und
Qual schreien überall aus dem Bild heraus. Selbst der sonst treuste Freund des Menschen, als letzte
Hoffnung der Gepeinigten, verkroch sich, durch die erbärmlichen Schreie der Gemarterten,
verängstigt unter dem Tisch.
Diese letztendlich konsequente Dramatik in der Darstellung fehlt unserer Zeichnung. Die ist
vergleichsweise noch nicht ausgereift. Immer mehr überzeugt mich gerade diese Tatsache von der
wagen Annahme, dass hier zwei abhängige Entwicklungsstufen ein und desselben Bildes vorliegen.
Es scheint fast so, als wenn Beckmann in eigener Person die Bleistiftzeichnung als Vorschlag zu
seinem Gemälde schuf. Er untertitelte seinen Entwurf mit „Pein“. Dieses Wort drückt das nicht
Malbare der schrecklichen Situation treffender aus, als jedes andere. Zusätzlich ergänzte er noch das
Bild in dessen zweiter Ebene, um diese, zum vordergründigen Geschehen scheinbar beziehungslose,
vornehme Dame. Durch seine getroffen kräftige Farbwahl holte Beckmann sie aber gezielt wieder
in den Vordergrund. Ist es tatsächlich seine erste Frau, Minna Tube? Zu dem perfiden Überfall
gehört sie aber in jedem Falle nicht. Doch passte sie in das Sujet? War sie ihm persönlich eine
Qual? Schwer zu sagen. Aber als er das Gemälde als Bleistiftzeichnung entwarf, war sie noch kein
Thema für eine derartig herausgestellte besondere Würdigung. Nur dann verließ sie ihn in Richtung
Graz. Mit ihrem bildhaften Erscheinen erhielt das Gemälde noch weitere Ergänzungen, die
Möglicherweise in einem Zusammenhang stehen. Da ist die erloschene und umgefallene Kerze. Die
zeigt auf das Messer und das auf diese rote geschminkte und zurechtgemachte Sängerin. Eine neue
Flamme erscheint im Bild. Doch ein Hoffnungsschimmer? Im Fenster sieht man jetzt zusätzliche
Spiegelungen. Die obere davon entspricht der eines Auges. Woher? Konkret erkenne ich dessen
Ursprung nicht. Will er damit das Auge Gottes andeuten, der alles sieht und es doch geschehen
lässt? Dass Max Beckmann in diesem Werk persönlich private und durch zeitgeschichtliche
Erlebnisse hervorgerufene Peinigungszustände auf die Leinwand bringen wollte, scheint auch für
mich als eindeutig herauslesbar. Ich denke, dass es ihm auch nachhaltig beeindruckend gelungen ist.
Die farbig mit Tinte ausgeführte monogrammhafte Buchstabenkombination „HKH“ auf unserer
Bleistiftzeichnung macht für mich allerdings bisher immer noch keinen Sinn. Eigentlich halte ich
das Bild nunmehr zwar für betitelt, aber ansonsten für unsigniert und wahrscheinlich doch von Max
Beckmann persönlich gezeichnet.
Noch ein Wort zur Provenienz. Ich habe dieses Blatt am 13.07.2012 über das Internet bei Altwaren
& Antiquitäten in Wien, mit einfachster Rahmung, gekauft. Eine weitere Rückverfolgung wurde mir
aus Kundenschutzgründen nicht ermöglicht. Die boten es damals unter dem Titel „Die Orgie“ an.
Das dieses Motiv von Max Beckmann stammte, war dem Händler scheinbar nicht bewusst.
Dieser Tage lockte uns das Kunstmuseum Mülheim mit einer Führung von Dr. Gerhard Ribbrock
über Arthur Kaufmann und Otto Pankok in dessen Ausstellung. Neben dieser Präsentation hingen
dort zur Zeit zufällig auch Zeichnungen von Max Beckmann aus dem Nachlass von Mathilde Q
Beckmann, die man hier mit eigenem Bestand zur Kabinettausstellung „Von Europa nach Amerika“
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vereinigte. Überdies mussten wir überrascht feststellen, dass in dem dem, für uns unbekannten
Mülheimer Museum, ein erstklassiger Standardbestand von Expressionisten und der klassischen
Moderne existiert. Der stammt aus dem Nachlass des Mülheimer Chemienobelpreisträgers Karl
Ziegler. Wirklich sehenswert! Ich nahm mir deshalb deren recht neuen Katalog mit.
Beim Durchblättern entdeckte ich darin die Graphik „Die Nacht“ von Max Beckmann. Das war für
mich eine zweite Überraschung, denn dass es so eine überhaupt gab, wusste ich auch nicht.
Die Nacht, 6. Blatt aus dem Zyklus „Die Hölle“5
Ich schrieb diesbezüglich Herrn Dr. Gerhard Ribbrock an, und schickte ihm damit auch diese Zeilen
zu. Er empfahl mir mich in dieser Sache aber doch besser mit der Kunstsammlung NRW in
Verbindung zu setzen. Das tat ich auch. Kurze Zeit später erhielt ich von Frau Dr. Anette
Kruszynski eine Antwort:
Sehr geehrter Herr Behrens,
haben Sie vielen Dank für die Übersendung der Abbildung einer Bleistiftzeichnung
nach „Die Nacht“ von Max Beckmann und den von Ihnen dazu verfaßten Text.
Um es gleich zu sagen: ich halte das Blatt in Ihrem Besitz nicht für eine
Zeichnung von Max Beckmann oder um ein Blatt, daß einen früheren Zustand des
Gemäldes „Die Nacht“ festhält. Natürlich kenne ich nur die mir übersandte
digitale Abbildung. Ein Urteil läßt sich letztlich nur anhand des Originals
5 Menne, Walther, Gedanken zu Max Beckmann Die Hölle, Verlag Galerie Dorothea Loehr, Frankfurt/M. 1960
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fällen. Ich vermute aber, daß sich jener oder jene HKH mit dem Bild beschäftigt
hat und es nach bestem Können kopierte. Warum er oder sie Details wegließ, kann
ich nicht beurteilen.
Max Beckmann hatte einen sehr eigenen Zeichenstil. Er hat zu dem Gemälde „Die
Nacht“ mehrere Vorzeichnungen angefertigt, die sich im museum kunst palast in
Düsseldorf und in Washington in der National Gallery befinden. Detailgenauigkeit
gehörte nicht zu Beckmanns Schwerpunkten, wenn es um Zeichnungen ging. Er legte
seine Kompositionen eher summarisch an. Einen Katalog der Zeichnungen, der Ihnen
einen guten Einblick von Beckmanns Techniken und Zeichenstil vermittelt, hat
Stephan von Wiese 1978 verfaßt (Stephan von Wiese, Max Beckmanns zeichnerisches
Werk, Düsseldorf 1978). Das Buch ist sicher nicht mehr erhältlich, aber in
Fachbibliotheken wie der in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen oder ebenfalls
in Düsseldorf in museum kunst palast einzusehen.
Zu der Genese des Gemäldes „Die Nacht“ haben wir hier in der Kunstsammlung
Nordrhein-Westfalen 1997 eine Ausstellung veranstaltet (Max Beckmann, Die Nacht,
Ostfildern/Ruit 1997). Wir haben leider keine Exemplare mehr des begleitenden
Kataloges in unserem Archiv. Möglicherweise ist er aber antiquarisch zu
bekommen. Auch ist er in unser Bibliothek einzusehen. Meines Wissens sind nach
dieser Ausstellung keine weiteren grundlegenden Forschungen mehr zu dem Bild
„Die Nacht“ erfolgt.
Ich hoffe, daß ich Ihnen mit den Erläuterungen weitergeholfen habe und verbleibe
Mit freundlichen Grüßen
Anette Kruszynski
Leiterin der wissenschaftlichen Abteilung
Head of Curatorial Department
STIFTUNG KUNSTSAMMLUNG NORDRHEIN-WESTFALEN
Grabbeplatz 5 │ D-40213 Düsseldorf
Zwischenzeitlich gelang es mir den alten Ausstellungskatalog von 1997 und auch die kleine 1960er
Druckschrift von Wather Menne über „Die Hölle“ zu erwerben. Und wenn ich mir jetzt darin die
Zeichnungen von Max Beckmann ansehe, dann kann ich Frau Dr. Kruszynski eigentlich nur Recht
geben. Seinem üblichen schnellen und vereinfachenden Malstil entspricht unsere Bleistiftzeichnung
nicht.
Allerdings bin ich nicht der Meinung, dass das Kürzel „HKH“ unbedingt der Verfasser der
Abzeichnung sein muss. Gegenüber dem Wort „Pein“, dass in deutscher Kurrentschrift passend mit
dem Bleistift darunter gesetzt wurde, weichen die drei Buchstaben völlig ab. Erstens verwendete
der Schreiber eine Tinte, wahrscheinlich mit einer Feder oder einem Füllfederhalter geschrieben.
Dann entspricht auch der Buchstabentyp der heute gebräuchlichen Schrift und nicht diesem
altdeutschen Schreibstil. Selbst der Schreibwinkel und die Schreibflüssigkeit entsprechen einander
keinesfalls. Da, auf dem Blatt, verewigten sich zwei verschiedene Menschen mit ganz
unterschiedlichen Absichten, zu wahrscheinlich sehr verschiedenen Zeiten. Ist die braune Tinte
vielleicht sogar ein deutlicher Hinweis auf die Nazizeit? Könnte es ein Lagerkennzeichen sein?
Dass der durchaus gute Kopist, der vom Grundsatz her jedes Detail des Gemäldes richtig erfasste,
aus für uns uneinsehbaren Gründen absichtlich Elemente der Zeichnung wegließ, glaube ich einfach
nicht. Alles im Leben hat einen Sinn oder eine Ursache, so auch diese Variante der
Motivausführung. Die Unterschiede, die zwischen Bleistiftzeichnung und Gemälde auszumachen
sind, erfuhren gegenüber der „Höllenzeichnung“ teilweise auch wieder eine Abwandlung. Max
Beckmann schien aus irgend einem Grunde an diesen Punkten mit seiner eigenen Ausführung noch
nicht zufrieden zu sein. Vielleicht kann man am Gemälde sogar erkennen, ob diese Stellen zuletzt
eingemalt wurden. Das wäre dann sicher ein Beweis dafür, dass unsere Bleistiftzeichnung die
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Aufnahme eines Zwischenzustandes gewesen ist. Moderne computergestützte Malprogramme
kennen auch solche Kontrollpunkte, mit denen man Arbeitsabschnitte abspeichern kann, um die
gegebenenfalls wieder aufrufen zu können. Ließ er diese Arbeit durch einen Schüler erledigen?
Selbst der Name des Gemäldes stand noch nicht fest. Es hieß zu diesem Zeitpunkt noch „Pein“.
Nachdem ich mir den Ausstellungskatalog von Anette Kruszynski durchgelesen hatte, sind mir viele
Dinge in Bezug auf „Die Nacht“ klarer geworden, die mir vorher gar nicht richtig bewusst waren.
Zum Beispiel identifizierte die Kunstwissenschaft die Personen auf dem Gemälde mit Max
Beckmann als Gehängtem. Seine Frau Minna Tube soll der Rückenakt sein und deren Sohn, das
Kind rechts. Auf dem Tisch hockt sein alter Akademiekollege Ugi Battenberg und im Hintergrund
steht dessen Frau Fridel. Der mit der Kappe erinnert an Lenin. Zu dem Verdeckten im Schatten,
komme ich noch. Und weil diese Zusammenstellung tatsächlich so sein kann, möchte ich vor
diesem Hintergrund das Gemälde auch noch einmal interpretieren.
Bevor ich das aber tue, stelle man sich einmal ein Foto mit einem Auto mit dunkel eingefärbten
Scheiben vor. Niemand wäre aufgrund dieses einen eingefrorenen Momentes in der Lage, zu
erkennen, ob das Fahrzeug vorwärts fährt, still steht, oder ob es sich nach hinten bewegt.
Kreuzabnahme, 1917, Öl auf Leinwand6
6 Kunstsammlung NRW, Anette Kruszynski, Max Beckmann Die Nacht, Hatje, 1997, Seite 89, The Museum of
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wenn man über „Die Nacht“ spricht, dann bin ich heute der Ansicht, dass niemand an Beckmanns
Kreuzabnahme vorbeigehen darf. Auf diesem Gemälde stellt er den toten Christus dar. Dessen
Gliedmaßen wirken beinahe steif. Sein Antlitz überträgt einen entspannten Eindruck. Der
eingetretene Tod nahm ihm die schmerzerzwungene Verzerrung der unerträglichen Marterung aus
seinem Gesicht.
Vergleiche ich diese Symbole mit denen des Gehängten aus „Die Nacht“, dann erkenne ich darauf
den ausgestreckten Arm des Todes. Den nutzt Max Beckmann auch auf seinem „Höllenbild“ Nr. 9.
Die Letzten, Die Hölle, 9. Bild7
Modern Art New York
7 Menne, Walther, Gedanken zu Max Beckmann Die Hölle, Verlag Galerie Dorothea Loehr, Frankfurt/M. 1960
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Würde der Gequälte noch leben, dann versuchte seine rechte Hand mit allen noch zur Verfügung
stehenden Kräften die lebensbedrohliche Schlinge um den Hals zu entfernen. Ich denke, dass der
Reflex nicht zu verhindern gewesen wäre. Andererseits hätte ein Toter eine völlig entspannte
Gesichtsmimik. Über die verfügt der Dargestellte aber absolut nicht. Er empfindet Schmerz und
Luftmangel.
Max Beckmann stellt auf seinem Gemälde einen Zustand zwischen Leben und Tod dar, den es
eigentlich gar nicht geben kann.
Dieses Werk entstand am Ende des ersten Weltkrieges in Frankfurt. Dort wohnte er bei seinen
Freunden, den Battenbergs. Anette Kruszynski schreibt dazu folgenden Satz: „Fridel Battenberg war
die Frau seines ehemaligen Akademiekollegen Ugi. Nach seinem Nervenzusammenbruch 1915 war
der Künstler überraschend bei den beiden erschienen und hat das angebotene Atelier als
Arbeitsstätte gern angenommen. Im Kreise der Freunde begann Beckmann wieder Fuß zu fassen.“8
Nun, an dieser Stelle möchte ich auf mein Beispiel mit dem Foto des Autos zurückkommen.
Niemand ist meines Erachtens in der Lage, auf diesem Gemälde zu erkennen, ob der Mann im
Hintergrund, den Gemarterten hochzieht, oder herunterlässt. Wenn ich mir aber die Gesichter der
drei Beteiligten ansehe, dann meine ich da doch eher Besorgnis und Betroffenheit, als Aggression
zu erkennen. Die freundschaftliche Stellung zueinander lässt auch eigentlich gar keinen anderen
Schluss zu. Der gefolterte Beckmann wird in dieser Szene abgenommen. Beide „Retter“ tragen
einen Kopfverband und erlitten deshalb, von Beckmann so angedeutet, gleiches Schiksal. Sie sind
über ihre Köpfe sogar miteinander verbunden. Es sind die Akademiekollegen Ugi Battenberg und
Max Beckmann, der hier in Frankfurt im Schatten seiner selbst an seiner eigenen Rettung arbeitet.
Fridel Battenberg beobachtet den lebenden Beckmann dabei genauso sorgenvoll, wie Ugi den
Aufgehängten.
Auf der anderen Seite des Gemäldes sehen wir die Ehefrau von Max Beckmann, Minna Tube. Von
ihr malte Beckmann einen Rückenakt. Als er dieses Bild 1918 anfing, befand sie sich bereits als
gefeierte Opernsängerin in Graz.
Minna Tube war das jüngste Kind eines protestantischen Militäroberpfarrers. Sie wurde am 05. Juni
1881 in Metz geboren. Wegen des Berufs des Vaters, durchlebte die Familie Stationen in Metz,
Posen, Danzig und Altenburg. Mit elf Jahren wünschte sich Minna Malerin zu werden. Im Alter von
neunzehn Jahren verbrachte sie dreizehn Monate in der Schweiz und dort in einem Pensionat in
Lausanne, wo sie die Bekanntschaft von Margrit von Thüna machte. Zu dieser ihrer Freundin
erlaubte man ihr nach Weimar zu reisen, um dort das Malen im Damen-Atelier von Professor
Frithjof Smith zu lernen. 1900 wanderte sie nach München, und setzte ihre Lerntätigkeit bei
Heinrich Knirr, später bei Christian Landenberger fort. Im Wintersemester 1902/03 richtete die
Weimarer Kunstakademie Studienplätze für Frauen ein, für die sie sich als eine der Ersten
einschrieb. Dort lernte sie, zwanzigeinhalbjährig, den zwei Jahre jüngeren Max Beckmann kennen.
Studienaufenthalte in Amsterdam und dann bei Lovis Corinth in Berlin folgten. 1906 heirateten die
Künstler einander. Nach darauffolgendem jahrelangem Machtkampf verbot er ihr kurz vor der
Heirat das Malen. Am 31. August 1908 kam der gemeinsame Sohn Peter zu Welt. Sie fing an, bei
Tilly Erlenmeyer in Berlin Gesangsunterricht zu nehmen, und wurde von ihr zuerst zur Altistin
ausgebildet, später zum Mezzosopran. Am Vorabend des ersten Weltkrieges vertiefte Minna ihr
Gesangsstudium und gab in Berlin die ersten Konzerte. Während des Krieges sang sie auf
Wohltätigkeitsveranstaltungen, und nahm später aus Geldmangel ein Engagement in Elberfeld an,
wo sie im Oktober 1915 als Venus in "Tannhäuser" unter Hans Knappertsbusch debütierte (der zu
8 Kunstsammlung NRW, Anette Kruszynski, Max Beckmann Die Nacht, Hatje, 1997, Seite 16
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ihr später sagte: "sie sei schon engagiert gewesen, als sie das Zimmer betrat"). Sie wechselte dann
ins Sopranfach, und sang 1916 die Sieglinde im Ringzyklus. 1916 gastierte sie wieder in Elberfeld
als Agathe im"Freischütz". In der Spielzeit 1916/17 erhielt sie ein Engagement am Herzoglichen
Hoftheater in Dessau, wo sie als Hochdramatische gefeiert wurde, und sang hier die Isolde in
"Tristan und Isolde", die Brünnhilden im "Ring des Nibelungen", wie auch die Leonore in "Fidelio".
In der Opernsaison 1917/18 bekam sie ein Engagement ans Neue Stadttheater Chemnitz, und sang
dort neben kleinen Rollen, wie der Ersten Dame in "Die Zauberflöte", auch die Valentine in
Meyerbeers "Die Hugenotten", Ortrud in "Lohengrin", Senta in "Der Fliegende Holländer", Venus
in "Tannhäuser", die Brünnhilden, die Leonore in "Fidelio". 1918 ging sie ans Grazer Stadttheater;
hier interpretierte sie neben Strauss (Marschallin in "Rosenkavalier"), Verdi, Puccini und Mozart,
vor allem die Wagnerpartien. Sie vermochte den Wagner-Weibern einen Hauch von Menschlichkeit
und Charme zu geben. An der Grazer Oper verbrachte sie insgesamt sieben Jahre, wo man sie sehr
verehrte. Von 1918 bis 1923 trat sie vor allem zusammen mit dem Heldentenor Alois Hadwiger und
der Altistin Lydia Kindermann auf, und sang oft unter dem Stab von Karl Böhm und Clemens
Krauss. Hier trug sie auch die Venus an der Seite von Leo Slezak als "Tannhäuser" vor. Während
der Nachkriegsjahre griff sie erneut zum Pinsel und malte wieder. Das Ehepaar Beckmann hatte
sich scheinbar auseinander gelebt, lies sich schließlich Anfang des Jahres 1925 scheiden (damit
Max Quappi von Kaulbach heiraten konnte), blieben aber in engverbundenem brieflichen Kontakt
bis zu Beckmanns Tod. Als er sie verließ, brachte die Sängerin keinen Ton mehr heraus. Danach
sang sie nie wieder. Noch im Sommer des Jahres quittierte sie ihr Engagement in Graz. Eine
Tonaufzeichnung gab es von ihr leider nicht. Sie kehrte in die frühere gemeinsame Wohnung nach
Hermsdorf in Berlin zurück, die ihr nach der Scheidung zugesprochen wurde. Im Jahre 1906
entwarf sie deren Architektur noch selbst. Dort lebte sie in den nächsten fast zwanzig Jahren, wo sie
malte, Briefe schrieb und spazieren ging. 1945 floh sie aus Furcht vor den Russen nach Gauting in
Oberbayern zu ihrem Sohn Peter, der dort inzwischen als Arzt tätig war. Im Februar, als sie ihre
frühere Wohnung wieder besuchte, war ihr Frühwerk verloren und viele der Briefe, die Beckmann
ihr über fast vierzig Jahre schrieb, verschwunden. Die zweite Hälfte ihres Lebens verging in aller
Stille. Ein paar Monate nach dem Tode des Malers gründete sie zusammen mit Freunden eine "Max
Beckmann Gesellschaft", die über dreißig Jahre existierte. Sie kämpfte bis zu ihrem Lebensende für
die Anerkennung und Erforschung seiner Kunst, zum Teil auch an der Seite von Beckmanns zweiter
Frau Quappi.
Minna Tube verstarb am 30. Juli 1964 in Gauting.9
Wahrscheinlich hätte Max Beckmann gar nicht zu seiner Familie nach Berlin zurückkehren können,
selbst wenn er es gewollt hätte. Seine Frau versuchte ja wahrscheinlich andernorts durch ihren
Gesang an Geld zu kommen, während deren gemeinsamer Sohn bei seiner Oma aufwuchs. Eine
Familie im eigentlichen Sinne existierte gar nicht mehr so richtig. Scheinbar brauchte Beckmann
nach seinem Nervenzusammenbruch aber eine gewisse Art von Betreuung, die er von den
Battenbergs angeboten bekam und dort auch fand.
Während die linke Bildhälfte von „Die Nacht“ für mich noch einigermaßen „einfach“ in ein
Sinnschema zu bringen ist, tue ich mich mit der rechten Hälfte weit schwerer. Vielleicht bringen die
Vorzeichnungen etwas Licht in das Dunkel. Davon gibt es in Düsseldorf und New York zusammen
ja derern zwölf Stück. Und die befinden sich glücklicherweise alle in dem Katalog von 1997, der
mir vorliegt.
9 http://isoldes-liebestod.net/Isolden_ohne_Liebestod/Tube_Minna.htm
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(1) Rücklings aus dem Bett gestürzter Mann und Figur mit über der Brust verschränkten Armen,
1912, Schwarze Tusche mit Feder10, unsigniert und ohne Titel
(2) Zwei Varianten eines Entwurfs für „Die Nacht“, 1912, Schwarze Tinte mit Feder, signiert und
betitelt11
10 Kunstsammlung NRW, Anette Kruszynski, Max Beckmann Die Nacht, Hatje, 1997, Seite 62, Privatbesitz
11 Ebenda, Seite 63, Allan Frumkin, New York
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(11) Die Nacht, 1914, Kaltnadelradierung,12 signiert und betitelt
(12) Die Nacht, 1914, Kaltnadelradierung,13 signiert, aber nicht betitelt
12 Kunstsammlung NRW, Anette Kruszynski, Max Beckmann Die Nacht, Hatje, 1997, Seite 113, graphische
Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart
13 Ebenda, Seite 113, Staatliche Museen zu Berlin Kupferstichkabinett
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Beide, von 1912 stammende Skizzen, zeigen offensichtlich einen Toten, der rücklings aus dem Bett
gefallen ist oder herausgezerrt wurde. Jede Hilfe kommt zu spät. Es herrscht Untätigkeit und
Ratlosigkeit. Die Figur mit den verschränkten Armen scheint zu frösteln. Dieses Konzept mit Bett
entwickelte Max Beckmann ein letztes mal 1914 mit zwei ergänzenden Kaltnadelradierungen
weiter.
Erst nach drei Jahren greift Max Beckmann in seinen Skizzen ein neues Projekt in dieser Richtung
an. Es beginnt wieder mit einem Toten, allerdings fehlt dieses mal das Bett. Alles wird anders.
(3) Erster Entwurf zum Gemälde „Die Nacht“, 1917,14 signiert, aber unbezeichnet
Schwer zu erkennen, was Max Beckmann in diesem ersten Entwurf von 1917, also noch während
des Krieges, festhalten wollte. Seine Hauptfigur darauf, ist natürlich die, die überkopf hängt. Rechts
daneben ein Frauenakt. Versammeln sich hier fünf, sechs, sieben oder sogar acht Figuren? Ein Bett,
wie er es 1912 in seinen Skizzen mit aufnahm, sucht man hier vergebens. Hängt auf der linken Seite
jemand?
14 Ebenda, Seite 64, Graphische Sammlung Kunstmuseum Düsseldorf im Ehrenhof
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(4) Zweiter Entwurf zum Gemälde „Die Nacht“, 1917, Bleistift,15 signiert, aber unbezeichnet
Hier im zweiten Entwurf erscheint sogar der Mond an zwei Stellen. Will Beckmann damit einen
Zeitraum andeuten, vielleicht die Dauer einer Nacht? Neben dem überkopf hängenden Opfer, sieht
man links von ihm einen bestürzten Frauenakt mit einem Mann. Zusätzlich steht da noch eine
weitere Frau mit einem Kopftuch bekleidet, die schon in der Zeichnung davor diesen Platz einnahm.
Ganz rechts scheint immer noch dieser Frauenakt von der Vorgängerzeichnung übrig geblieben zu
sein. Wollte Beckmann in der Mitte das Grammophon zeichnen? Die Hängeposition seiner Leiche
mochte er wohl für gut befunden haben, da er die in dieser Skizze klar bestätigte.
15 Ebenda, Seite 64, Graphische Sammlung Kunstmuseum Düsseldorf im Ehrenhof
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(5) Dritter Entwurf zum Gemälde „Die Nacht“, 1918, Tusche mit Feder,16 signiert, aber
unbezeichnet
Als er im nächsten Jahr zur Feder griff, veränderte er seine Vorjahresentwürfe radikal. Zwar ließ er
seine Hauptfigur wieder die gleiche Überkopf-Position einnehmen, verwandelte die aber jetzt in
einen wohl proportionierten Frauenakt. Tot scheint diese Figur allerdings auch nicht mehr zu sein.
Fast wirkt die in dieser Stellung entspannt zu sein. Eher sieht man daneben einen Körper leblos
hängen. Weiter links stehen drei Figuren, eine davon breitet die Arme aus. Was das bedeuten soll
bleibt im Verborgenen. Ganz rechts, direkt neben dem Akt, mag eine artistisch anmutende
Einradfahrerin die Szene beleben. Über dem änderte Beckmann den ursprünglichen Halbmond in
einen abnehmenden Trabanten. Insgesamt würde ich dieses Blatt als das am schwersten zu deutende
ansehen.
16 Ebenda, Seite 65, Graphische Sammlung Kunstmuseum Düsseldorf im Ehrenhof
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(6) Dritter Entwurf zum Gemälde „Die Nacht“, 1918, blaue Tinte mit Feder,17 signiert, aber
unbezeichnet
Dieses mal hängt zusätzlich wieder eine Figur an ihrem Hals. Eine zweite steigt auf eine Leiter,
wohl um sie herunter zu nehmen. Bestürzt hält sich eine Frau die Hände vor das Gesicht. Dahinter
ein Mann. Rechts daneben hängt wieder das schon altbekannte Überkopf-Opfer an den Beinen hoch
gebunden. Ob Mann oder Frau bleibt offen. Eine Figur davor verdeckt die Sicht darauf. Ganz rechts
sitzt ein Frauenakt auf dem Boden. Auch der Mond spielt eine Rolle. Er deutet die Nacht an.
17 Ebenda, Seite 65, Graphische Sammlung Kunstmuseum Düsseldorf im Ehrenhof
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(7) Fünfter Entwurf zum Gemälde „Die Nacht“, 1918, schwarze Tinte mit Feder,18 unsigniert und
unbezeichnet
Minna Tube19
18 Ebenda, Seite 66, National Galery of Art, Washington, Given in memory of FrederickZimmermann by his wife,
Dorothy Zimmermann, 1985.15.5
19 http://isoldes-liebestod.net/Isolde_Jpg_Ordner/Q-T/Tube_Portrait1a.jpg
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Wenn man so will tritt hier eine gewisse Entwurfsstabilität ein. Links hängt wieder die Leiche.
Rechts daneben demonstriert die Frau des Paares erneut ihre Betroffenheit. Hier, auf diesem Blatt,
mutierte die anfängliche Überkopf-Leiche allerdings zu einem Jungen im Kopfstand, der eher
Fröhlichkeit ausstrahlt. An den Füßen aufgehängt ist der nicht. Daneben, etwas abseits, sitzt die
weinende Minna Tube. Ihre Frisur lässt über ihre Identität eigentlich keinen Zweifel. Alles auf
diesem Bild scheint sich um den Gehängten zu drehen. Ein Mond fehlt dieses mal genauso, wie ein
Frauenakt..
(8) Sechster Entwurf zum Gemälde „Die Nacht“, 1918, schwarze Tusche mit Feder,20 signiert, aber
unbezeichnet
Auf dem nächsten Blatt aus dem Jahre 1918, scheint Beckmann mit seinem Gehängten nicht mehr
einverstanden zu sein. Fast hätte er den darauf nur noch völlig unkenntlich der Nachwelt
hinterlassen. Das Paar daneben festigt seine Plätze in der Komposition. Die Überkopf-Figur lässt
sich nunmehr nur durch das angedeutete Geschlechtsteil als männlich identifizieren. Dessen Füße
erscheinen darauf allerdings jetzt fast wie Hände. Der leninartige Mann rechts tritt zum ersten mal
in Erscheinung. Jemand kniet vor der Überkopf-Figur und verdeckt sie zur Hälfte.
20 Kunstsammlung NRW, Anette Kruszynski, Max Beckmann Die Nacht, Hatje, 1997, Seite 66, Graphische Sammlung
Kunstmuseum Düsseldorf im Ehrenhof
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(9) Entwurf zum Gemälde „Die Nacht“ aus dem Skizzenbuch, 1918, Bleistift,21 unsigniert und
unbezeichnet
(10) Entwurf zum Gemälde „Die Nacht“ aus dem Skizzenbuch, 1918, Bleistift,22 unsigniert und
unbezeichnet
21 Ebenda, Seite 67, National Galery of Art, Washington, Gift of Mrs. Max Beckmann 1984.64.25
22 Ebenda, Seite 67, National Galery of Art, Washington, Gift of Mrs. Max Beckmann 1984.64.25
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Zuerst fällt mir natürlich auf, dass Max Beckmann zwar eine bestimmte Aussage treffen will, sich
aber scheinbar überhaupt nicht darüber im Klaren ist, wie er das anstellen soll. Die vier Bilder aus
den Jahren 1912 und 1914 scheinen gar nicht in diesen Entwicklungszyklus zu fallen. Vom
Motivtyp und vom Aufbau her entsprechen die keinesfalls den um fünf bzw. drei Jahre jüngeren
Skizzen ab 1917. Die einzige Verbindung, die sich zu dem späteren Gemälde herstellen lässt, ist der
Projektname auf der zweiten Skizze. Alle anderen, wesentlich besser zum Endergebnis passenden
Entwürfe, tragen hingegen keine Bezeichnung oder Zugehörigkeit. Einen wirklichen Namen dafür
gab es in der Anlauffase dieser neuen Schaffensperiode möglicherweise auch noch gar nicht.
Ich hätte erwartet, dass auf den Zeichnungen irgendwo eine Art von Aggression zu entdecken wäre.
Davon sehe ich aber noch nicht einmal einen Ansatz. Die einzigen Gefühlsregungen darauf sind
Bestürzung und Betroffenheit. Auf den beiden Blättern aus seinem Skizzenbuch zeichnet Beckmann
sich, als einen Soldaten, der wahrscheinlich nach Graz fährt. Die Berge im Hintergrund lassen das
vermuten. Hinter seinem Rücken ein Pärchen, dass auf dem 10. Blatt an dieser Stelle sogar einen
Geschlechtsakt vollzieht. Während der 9. Entwurf noch eine an den Füßen aufgehängte Figur
beinhaltet, wird die auf der letzten Skizze möglicherweise zu seinem Sohn, der auf seinen
Unterarmen übermütig einen Handstand vollführt. Neben ihm steht ein weiblicher Halbakt mit
großem Busen. Vielleicht deutet er damit die für ihn unhaltbaren Zustände in seiner Familie an.
Aber Aggression sieht anders aus.
Es wäre vielleicht sinnvoll einmal herauszufinden, welche Elemente sich denn im späteren Ölwerk
aus den Vorzeichnungen wiederfinden lassen, oder welche ihm sehr wichtig waren.
1. Betroffenheit
Die sehe ich auf 1, 2, 4, 6, 7, 11und 12.
2. Eine am Hals erhängte Figur
Die zeichnete Beckmann auf 5, 6, 7, und 8.
3. Einen Akt
Den gibt es auf dem 1., 2., 3., 4., 5., 6., 7., 8., 9., 10., 11. und 12. Blatt zu entdecken.
4. Die leninartige Figur
Sie spielt nur auf dem 8. Bild eine Rolle.
5. Mit den Füßen nach oben
Solche Figuren zeigen die Skizzen 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 und 10.
6. Fridel und Ugi Battenberg
Die beiden tauchen auf 4, 6, 7 und 8 in ähnlicher Form wie auf dem Gemälde auf.
7. Sieben Figuren
Die zähle ich sicher nur auf Blatt 6.
Diese 12 Entwurfszeichnungen als Grundlage genommen, kristallisiert sich Blatt 8 als am weitesten
angenäherte Grundlage des Gemäldes heraus. Mit der Darstellung seines Gehängten scheint er aber
noch nicht zufrieden zu sein. Er überkritzelte ihn ja.
Was mich am meisten überrascht, ist die Tatsache, dass er „die Figur mit den Füßen nach oben“, die
seit 1917 auf jeder Skizze, neben einem Akt, das wichtigste Element des ganzen Projektes zu sein
schien, im Gemälde nicht mehr erwähnt. Davon übrig geblieben sind nur noch die rautenförmige
Beinhaltung und die Stelle der Figur im Werk. Daraus entstand in der Ölfassung die rautenförmige
Armhaltung und die Gemäldeposition von Minna Tube. Eigentlich fehlt jetzt noch so eine
abschließende Skizze, die die etwas planlos chaotischen Ausführungsvorschläge ordnet, und die aus
dem Blatt 8 eine letzte richtungsweisende Zeichnung vor dem Gemälde entwickelt.
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Es drängt sich fast der Gedanke auf, dass unsere Bleistiftzeichnung genau in diese Lücke hinein
passt. Kam er bei diesem Projekt mit seiner bisherigen Technik an einem bestimmten Punkt gar
nicht mehr weiter? Wohl niemand würde daran zweifeln, dass er eine solche Bleistiftzeichnung
hätte ausführen können, wenn er die in dieser kompletten Art beabsichtigt hätte. Das radikale
Verlassen seines Ursprungskonzeptes deutet vielleicht sogar auf einen zusätzlichen fremden Anstoß
hin. Warum heißt unsere Zeichnung „Pein“ und nicht „Die Nacht“? Obwohl das augenblicklich
Sichtbare auf Zeichnung und Gemälde durch das Wort „Pein“ viel besser beschrieben wird,
entschied er sich letztendlich doch für „Die Nacht“. Für ihn persönlich stellte das Gemälde natürlich
eher die Errettung aus der Kriegsqual dar und damit eher keine Pein, wenn darüber hinaus auch
seine Familie allmählich zu zerbrechen begann.
Die » Goulue « tanzt im Moulin-Rouge zu Paris.
Lithographie-Plakat von Henri de Toulouse-Lautrec. 189123
„Die Nacht“, als Name charakterisiert einen längeren, im Dunklen verborgenen Zeitraum, in dem
Vieles geschah. Das Gemälde zeigt nach meiner Ansicht wirklich auch nur eine Art momentanen
Endzustand. Im Sinne von Max Beckmanns versteckter Aussage scheint mir „Die Nacht“, als
Zeitspannenbezeichnung, darum letztendlich wieder viel passender gewählt zu sein.
23 http://gutenberg.spiegel.de/buch/7398/18
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Die hängenden oder lediglich kopfstehenden Figuren der Vorzeichnungen, mutierten im Gemälde
abschließend zu seiner Frau, Minna Tube, die mit gespreizten Beinen und entblößtem Gesäß einen
Spagat vollführt. Es mag der Spagat sein, den sie zwischen dem Leben ihres Mannes in Frankfurt
und ihrer eigenen Gesangskarriere vollbringt. Dazu wohnt und arbeitet sie mit deren gemeinsamen
Sohn in Graz. Minna singt sich dort zum Erfolg, das deuten ihre hochhackig eleganten Schuhe an.
Auf dem Gemälde trägt sonst niemand überhaupt welche. Deren relative Mittellosigkeit lässt das
nicht zu. Aber was musste Minna dafür zahlen? Der Vertrag fesselte ihr die Hände. Doch im
Beifallssturm riss sie ihre Arme in die Höhe. Das ihr Sohn sich in Bedrängnis befand, bemerkte sie
dadurch gar nicht. Ihren Blick wendete sie zum Fenster und nicht zu Peter oder zu ihren Mann. Mit
den roten Stümpfen, die sie trägt, deutete Max Beckmann an, dass er ihr nicht wirklich traute. Rote
Strümpfe nutzten auch schon andere Maler, um eine lockere, wenn nicht sogar eine unakzeptable
frivole Lebensweise von Frauen anzudeuten.
Egon Schiele:“SITZENDER AKT MIT ROTEN STRÜMPFEN”, 1910, Gouache, Wasserfarben und
schwarzer Bleistift auf Papier, 31 x 45 cm, Privatbesitz24
Vielleicht kannte Max Beckmann diese oder ähnliche Zeichnungen, die mit roten Strümpfen wohl
immer in die selbe Richtung wiesen. Er deutet damit auf eine gewisse Art von Freiwilligkeit in der
gezeigten Beinstellung. In seiner damaligen Gemütsverfassung, gelang es ihm offensichtlich nicht
den Glauben an ihre Treue aufrecht zu erhalten. Obwohl sich die beiden auf ihre Art über alle Jahre
liebten, kam er mit der großen Entfernung zu ihr auf Dauer nicht zurecht. Schon vor ihrer Ehe 1903
oder 1904 zog Max Beckmann wegen eines solchen unhaltbaren Zustandes, einer dauerhaften
räumlichen Distanz zu ihr, einen Schlussstrich unter ihre gemeinsame Beziehung. Die Trennung
gelang ihm damals allerdings nicht für sehr lange Zeit.25
24 http://yourartshop-noldenh.com/egon-schiele-galerie-schamlose-blick-auf-das-erotische-zentrum/
25 Beckmann, Peter, Max Beckmann Leben und Werk, Belser und Verlag, Stuttgart Zürich, 1989, Seite 23 f.
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Obwohl es recht einfach erscheint in „Die Nacht“ mit Minna Tube das Opfer einer Vergewaltigung
vor sich zu sehen, glaube ich nicht daran, dass Max Beckmann das damit ausdrücken wollte.
Bezieht man die Zeichnungen 9 und 10 in diese Betrachtung mit ein, bleibt eigentlich gar keine
andere Wahl. In beiden Fällen sieht er seine Frau hinter seinem Rücken unzweideutig mit einem
anderen vereint.
Ganz rechts schnappt sich der leninartige Mann den Sohn, Peter, und hüllt ihn in eine rote Fahne
ein. Bestimmt verdeutlicht Beckmann damit nicht, dass sein zehnjähriger Sohn jetzt zum
Kommunismus bekehrt wird. Aber als festmachberes Synonym für schlimme äußere Einflüsse oder
schlechte Kreise, in der sich Peter in Graz jetzt befindet, dafür taugt Lenin schon, der darüber
hinaus in eine andere Richtung sieht und von dem übrigen Geschehen keine Notiz nimmt. Nach
dem Sturz des Kaiserreiches drängten neue Kräfte an die Macht. Die Roten mitten drin. Gewalt und
Anarchie? Tagesordnung!
Auf dem Gemälde gibt es keine Kommunikation. Niemand teilt sich irgendwem in irgend einer
Form mit. Jeder erduldet für sich alleine. Es fehlt auf diesem Bild jeglicher Zusammenhalt der
Leidenden untereinander. Keiner hilft dem anderen. Das kann auch nicht funktionieren, da wir auf
eine Kollage sehen, die sich grundsätzlich nicht in einem einzigen Raum abspielt. Das zur Hilfe
genommene beengte Zimmer soll nach meiner Auffassung nur die gemeinsame Basis der Familie
Beckmann symbolisieren. In dessen chaotischer Unordnung scheint aber alles seinen Platz verloren
zu haben, oder sogar zu Bruch gegangen zu sein. Selbst der Hund vermisst darauf die Anbindung zu
seinen Menschen und jault jammervoll. Soll das vielleicht der alte Beckmannsche Hund „Lump“
sein?
Einmal zu seinem Gemälde „Die Nacht“ befragt, gab Max Beckmann folgende Antwort: „Nicht
wahr? Ganz nettes Bildchen! Hähähä!... Ich will übrigens durchaus kein Spezialist für
Grässlichkeiten sein. Ich finde das Bild einfach schön! Was ich anstrebe, ist eine immer klarere und
bestimmtere Form. Ich mache keine Form um ihrer selbst willen – als abnormale Schnörkel. Alles
muss Gegenständlich bleiben. Insofern kann man sagen, ich bin auch heute noch ein Schüler von
Liebermann und Leibl. Ich will dieselbe ehrliche Gegenständlichkeit haben wie sie.“26
Lässt man sich diesen Satz auf der Zunge zergehen, dann könnte ich mit meiner Interpretation des
Gemäldes durchaus auf seinem Kurs liegen. Er wollte eben keine Grässlichkeiten im Bild
festhalten. Für ihn stellte das Gemälde doch seine eigene Errettung dar.
Beinahe hätte ich es vergessen über die kleinen, aber doch so wichtigen Dinge des Gemäldes zu
sprechen. Und, da kann man nach meiner Ansicht eigentlich nur im Zusammenhang der drei
Ausführungen miteinander weiter kommen.
Das Messer zum Beispiel. Es erscheint nur auf dem Ölgemälde. Auf unserer Bleistiftzeichnung fehlt
es ebenso, wie Fridel Battenberg, die auf dem großen Bild einen prominenten Platz besetzt. Auf der
späteren Grafik entfernte er das Messer wieder und gab der Frau seines Freundes nur noch
unkenntliche Umrisse. So ein Messer kann als Angriffs- oder Verteidigungswaffe oder als schlichtes
Werkzeug eingesetzt werden. Da auf dem Gemälde aber kein Blut fließt und sich das Messer auch
in keiner drohenden Hand befindet, sondern nur achtlos auf dem Boden liegt, scheidet wohl dessen
Waffenfunktion aus. Als kurzfristig benutztes Werkzeug bietet es sich aber schon an. Damit schnitt
einer der Retter das gespannte Seil durch, an dem Max Beckmann jetzt herabgelassen wurde. Da es
aber nur im Zusammenhang mit Fridel Battenberg auftaucht oder verschwindet und es auch auf sie
zeigt, drängt sich mir einfach der Gedanke auf, dass sie für Beckmann als die Auslöserin seiner
26 ebenda, Seite 52
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Errettung galt. Bei der späteren Lithographie korrigierte er seine bildliche Aussage erneut.
Vielleicht wollte Fridel selbst kein Bestandteil dieses sehr destruktiv angelegten Höllen-Zyklus´
sein? Seine Errettung sollte ja auch eher das Gegenteil davon sein.
Nimmt man alle drei Ausführungen zusammen, sieht man, wie darauf der Mond wandert. Auf
unserer Bleistiftzeichnung taucht er noch gar nicht auf. Klein, fast wie ein Auge zeigt er sich auf
dem Ölgemälde über den Fingern von Minna Tube, um dann in der Druckgrafik relativ groß neben
ihrer Hand durch das Fenster zu scheinen. Wie beim Ablauf einer Nacht verändert der Mond auf
den Varianten ständig seine Position. Wollte Beckmann damit tatsächlich andeuten, dass es sich hier
um einen Zeitraum und nicht um einen Augenblick handelte?
Das zu Boden gefallene Grammophon zeigt auf den Rückenakt und identifiziert diesen damit
zusätzlich, als die Opernsängerin Minna Tube.
Fastnacht, 1920, Öl auf Leinwand27
Wären da noch die beiden Kerzen auf dem Ölbild, von denen die Stehende brennt, die Liegende
aber nicht mehr. Auf unserem Bleistiftgemälde existiert von denen nur die Stehende, die aber darauf
keine Flamme mehr trägt. Ist das auf dem Ölgemälde auch eine Andeutung darauf, dass das eine
Leben von ihm zu ende gegangen ist, während das andere augenblicklich gerettet wird?
27 Kunstsammlung NRW, Anette Kruszynski, Max Beckmann Die Nacht, Hatje, 1997, Seite 123, Tate Gallery London,
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Oder ganz anders: Auf dem Gemälde Fastnacht von 1920 benutzte Max Beckmann die gleiche
Symbolik der Kerzen. Nur hier sind bereits beide erloschen. Zeigte er mit der Flamme vielleicht an,
wen er liebte und wen nicht? Von diesen beiden Damen erkenne ich nur Fridel Battenberg. Die
zweite entzieht sich zur Zeit noch meiner Bekanntschaft. Darum bin ich mir auch nicht sicher, ob
das so sein kann. Demnach würde er diese beiden Frauen nicht lieben. Auf „die Nacht“ hingegen
brennt die Kerze direkt neben Minna Tube, seiner eigenen Frau, die er damals ganz sicher liebte.
Mit der Lithographie aus dem Höllenzyklus könnte man das Thema als grundsätzlich abgeschlossen
betrachten. Max Beckmann schien das aber ganz und gar nicht so zu sehen. 1922 betitelte er eine
weitere Graphik ebenfalls mit „Die Nacht“.
Die Nacht, Lithographie, 192228
Die Nacht hat sich geändert. 1922 lag der Krieg schon um einige Jahre zurück. Max Beckmann
zeigt jetzt eine Familie, die schläft. Allerdings fehlt denen für eine richtige Nachtruhe ein Bett.
Überfluss sieht anders aus. Mann und Frau schlafen in sitzender Stellung an die Wand ihrer engen
Behausung gelehnt. Sie hält dabei ihr Kleinkind im Arm, während die ältere Tochter ohne Decke
auf dem blanken Boden liegt. Alle tragen dabei ihre normale Straßenbekleidung. Die rasende
Inflation hinterlässt ihre Spuren. Aber es herrscht endlich friedliche Ruhe, wenn auch die Armut
unüberwindlich scheint.
28 Kunstsammlung NRW, Anette Kruszynski, Max Beckmann Die Nacht, Hatje, 1997, Seite 104, Städtische Galerie im
Städelschen Kunstinstitut Graphische Sammlung, Frankfurt am Main
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Die Nacht, Frankfurt am Main 1928, Schwarze Kreide, 65,5 x 187 cm Bielefeld 123. Privatbesitz29
Sechs Jahre später zeichnet Beckmann sein wohl letztes
nacktes Paar liegt ineinander verschlungen in einem
Offensichtlich scheint hier die Armut gebannt zu sein.
Bestürzung begann, endet sechzehn Jahre später mit dem
Liebesakt.
Bild unter dem Titel „Die Nacht“. Ein
durchaus aufwändig gestalteten Bett.
Das Thema, das 1912 mit Mord und
erschöpft friedlichen Schlaf nach einem
Resümee
Betrachtet man die Vorzeichnungen, die sich in irgendeiner Form mit dem Ölgemälde und der
Nachfolgelithographie von „Die Nacht“ beschäftigen, wird man sehr bald feststellen, dass da zwei
letztendlich sogar drei Projekte existieren. Später entworfene Zeichnungen mit völlig anderem
Inhalt trugen sogar auch noch diesen Namen.
Das erste davon begann er 1912 mit zwei Skizzen, das er 1914 um zwei weitere ergänzte. Es
handelt sich hier wohl um einen entsetzlichen Mord, der am Morgen entdeckt wurde. Danach
scheint er von dieser Ausführungsvariante Abstand genommen zu haben. Ein daraus entstandenes
Ölgemälde kenne ich nicht.
Nach seinem kriegsbedingten Nervenzusammenbruch beschäftigte er sich ab 1917 mit einer
graphischen Reihe, die er nicht betitelte. Wichtig in diesem gesamten Entwurfszyklus schien ihm
jetzt die personenbezogene Darstellung mit der Verarbeitung seines eigenen Familienschicksals. Es
handelt sich hier auch um keinen Mord, sondern eher um die Verhinderung eines solchen. Ein
Bezug zu den ersten vier Graphiken lässt sich, alleine durch die Art der Darstellung, nicht mehr
herstellen. Da dieser 2. Zyklus auch keinen Namen trägt, fällt selbst dieser Zusammenhang weg.
Aber dieser Zeichnungssatz beinhaltet die Grundlage für das Ölgemälde „Die Nacht“. Allerdings
fehlt in den Graphiken eine wirkliche Ordnung oder leitende Entwicklung, die Max Beckmann dann
gezielt hätte übernehmen können. Er verwarf für sein großes Werk letztendlich sogar den
Hauptansatz aus diesen sechs Skizzen. Die auf jeder Zeichnung vorkommende überkopf hängende
Figur verschwand ersatzlos.
An dieser Stelle ist es für mich denkbar, dass Beckmann unsere Zeichnung einfach brauchte. Er
wollte die auch absichtlich nicht in der Form seiner eher flüchtigen Graphiken niederschreiben,
sondern in der Form des tatsächlich geplanten Gemäldes. Daran konnte er dessen Wirkung viel
29 Spieler, Reinhard, Max Beckmann 1884 – 1950 Der Weg zum Mythos, Taschen, Köln 2011, Seite 93
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besser einschätzen und die in den anderen Vorzeichnungen bisher vermisste Ordnung herbeiführen.
Die realen Personen aus seinem engsten Umfeld und seiner entfernt lebenden Familie sollten darauf
alle eine Rolle übernehmen. Bei diesem Motiv ganz bestimmt eine durchaus heikle Absicht. Er
entschied sich darum zuerst für die Anfertigung unseres Bleistiftgemäldes. Als dessen vorläufigen
Namen wählte er die sehr treffende Bezeichnung „Pein“. Die Übertragung ins vorläufig finale
Gemälde brachte dann weitere Ergänzungen, allerdings keine grundsätzliche Änderungen mehr, und
dessen endgültige Bezeichnung: „Die Nacht“.
Am Schluss bleibt eigentlich nur noch die Frage: Wie kann man einen glaubhaften Nachweis
führen, der meine durchaus denkbare Theorie auch treffend bestätigt?
Natürlich schickte ich meinen neuerlich ergänzten Entwurf der Beckmann Gesellschaft nach
München. Die freuten sich sehr über jemanden, der sich mit Max Beckmann beschäftigt und
versuchten mich im Gegenzug gleich kostenpflichtig in die Beckmann Gesellschaft aufzunehmen.
Da ich ich mich aber mit sehr vielen Gemälden der unterschiedlichsten Künstler beschäftige, würde
es meinen Etat grundsätzlich überfordern, wenn ich deshalb in jeden angesprochenen Kunstverein
einträte. Also bleibt mir ein solches Engagement verschlossen. Meinen Text kommentierten sie
allerdings nicht.
Ganz ausgeschlossen wäre es für mich, wenn ich nicht auch Frau Dr. Anette Kruszynski erneut mit
meinem stark erweiterten Aufsatz behelligen würde. Sie wollte sich den tatsächlich bei nächster
Gelegenheit noch einmal ansehen. Das fand ich schon außergewöhnlich. Und tatsächlich erhielt ich
nach wenigen Tagen eine Antwort von ihr:
Sehr geehrter Herr Behrens,
nun habe ich Zeit gefunden, Ihren Text zu lesen. Sie haben sich sehr in die
Fragestellungen hineingedacht, und einen Gedanken fand ich interessant. Sie
vermuten, dass der Erhängte im Bild nicht aufgeknüpft wird, sondern dass die
Strangulation gerade gelöst wird. Es scheint mir bisher diese Sichtweise nicht
erwähnt worden zu sein, und vielleicht könnte man sie verfolgen.
Leider übergehen Sie in Ihrer Analyse die Tatsache, dass der Zeichenstil der
Arbeit in Ihrem Besitz für Beckmann untypisch ist und in seinem Schaffen keinen
Vergleich kennt. Mir scheint dieser Aspekt jedoch entscheidend für alle weiteren
Beobachtungen.
Darüber hinaus betrachten sie Beckmanns Werk als eines, dass grundsätzlich im
Erzählerischen verhaftet bleibt. War Beckmann wirklich nur ein Illustrator?
Beschäftigte ihn nicht die Frage der kompositorischen Gewichtung ganz zentral?
Denken Sie an des Künstlers Äußerungen zur Bewältigung des Raumes und an seine
Bemerkungen zu Rousseau.
Ich danke Ihnen, dass Sie mich an Ihren Überlegungen teilhaben ließen
Mit freundlichen Grüßen
Anette Kruszynski
Dass der auf unserem Blatt gewählte Zeichenstil nicht der von Max Beckmann sein kann, übergehe
ich eigentlich nicht wirklich. Ich versuche über meine eher ignoranten Versuche nur eine Erklärung
für die für mich unzweifelhafte Verbindung zwischen dem Original und der Teilabzeichnung zu
finden. Das ist mir auf diese Art und Weise allerdings überhaupt nicht gelungen. Trotzdem war es
für mich wichtig, hier noch einmal auf eine klar ablehnende Haltung zu stoßen. Diese Tür scheint
also verschlossen.
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Nein, dass ich Beckmanns Werk grundsätzlich dem Erzählerischen verhaftet ansehe, so möchte ich
nicht verstanden werden. Ich bin nur der Meinung, dass „die Nacht“ von ihm eine ganz eng
umgrenzte familiäre reale Angelegenheit von ihm war, die er sich da von der Seele malte. Mit
anderen Bildern seines Schaffens wird die sich kaum wirklich schlüssig vergleichen lassen.
Max Beckmann wollte sich eigentlich auch gar nicht von dem Bild trennen, verkaufte es 1919 aber
dann dennoch an Walter Carl, den Bruder von Friedel Battenberg. So blieb es wenigstens in seiner
Nähe30, und er erzielte einen finanziellen Erlös, den er zu der Zeit sicher benötigte. Warum sollte er
sich von einem fertigen Gemälde nicht trennen wollen? Da gibt es für einen Berufskünstler sicher
kaum eine gültige Erklärung. Dieses Gemälde zeigte aber seine zerrütteten sehr persönlichen
Familienverhältnisse. Die in der allgemeinen breiten Öffentlichkeit an die Wand zu hängen, konnte
ihm nicht recht sein. Überraschenderweise führte aber keine Interpretation genau zu diesem einen
Ergebnis. Vielleicht legte die von ihm selbst empfohlene, und wie ich denke auch notwendige,
metaphysische Betrachtungsweise ein irritierendes Sperrfeuer?
Aber genau dieser intim familiäre Punkt führt mich wieder zu unserer Bleistiftgemälde. Es war Max
Beckmann nicht recht, dass jeder Zugang zu dem so sehr privaten Bild bekam. Das ein X-beliebiger
das Gemälde hätte abzeichnen dürfen, scheint mir jetzt richtig unwahrscheinlich. Und er selbst war
es höchstwahrscheinlich auch nicht.
Da bleibt nur noch eine Person, die ich kenne, die dazu in der Lage gewesen wäre. Seine Frau,
Minna Tube, studierte ja ebenfalls Malerei. Er verbot ihr nur die Ausübung. Und nachdem die
beiden sich wieder getrennt hatten, begann sie in Berlin erneut zu malen. Sie wäre dazu befähigt
gewesen die Arbeit ihres Mannes auf Papier zu übertragen, um die dann mit nach Graz zu nehmen.
Letztendlich erwarb ich die Zeichnung ja auch von einem Wiener Kunsthändler. Natürlich hätte das
Bleistiftgemälde zum Abschied nach Österreich auch noch ein schwarz-weißer Trauer-Notruf „Pein
- Schmerz“ von ihm an sie sein können. Aber das klammere ich einmal aus.
Erst nach der Kopieausführung vollendete Max Beckmann sein Gemälde. Leider kenne ich von
Minna Tube kein einiges Ölbild oder auch nur eine andere Zeichnung. Darum bleibt auch diese
mögliche Lösungs-Variante nur Vermutung.
17.11.2014
Ralf Behrens
30 Kunstsammlung NRW, Anette Kruszynski, Max Beckmann Die Nacht, Hatje, 1997, Seite 9
© Ralf Behrens, Marl,
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