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Linné, Wolff und Kant

Natur teilt sich in Arten (artes), die ihrerseits Gattungen (genera) bilden und diese Klassen (classes); die Klassen bilden wiederum noch höhere Ordnungen (ordines), bis das System endlich in die allgemeinsten, zusammenfassenden "Reiche" gipfelt, d. h. die Regnum animale, Regnum vegetabile und Regnum minerale, welche das Ganze der Natur umfassen. Nach Cassirer sei Kant der erste gewesen, der diese naiv-aristotelische und von Linné unreflektiert angenommene Klassifikation in Frage stellte:

Kants Philosophie der Natur Ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung Herausgegeben von Ernst-Otto Onnasch Sonderdruck Walter de Gruyter · Berlin · New York 2009 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Linné zwischen Wolff und Kant. Zu einigen Kantischen Motiven in Linnés biologischer Klassifikation Vesa Oittinen Abstract: There are not yet any comprehensive analyzes on the relationship between Kant and Linnaeus. In this article, which is a first attempt to a more detailed comparison between their views, I try to show that Linnaeus was not a systematician in the sense of the Wolffian metaphysics and that he, on the contrary, shared Kant’s doubts about the “principle of sufficient reason”. In addition, in Kant’s works on natural sciences there are some mentions of Linnaeus, which, although seemingly made en passant only, are relevant as Kant’s own illustrations to the ways the critique of judgment functions in natural sciences. In fact, Kant seems to have conceived Linnaeus’s successful classifications as an illustration of his own ideas concerning the faculty of reflexive judgment. To some extent this holds true, but Kant does not always reflect enough the fact, that Linnaeus was not only a systematician, but a practicizing naturalist, too, for whom the empirically constatable plant genera and species were the ultimate point to start with, and were not deducible from any pre-conceived system ideas. Seit Aristoteles, schrieb Ernst Cassirer, zeichne sich ein inniger Zusammenhang zwischen Biologie und Logik ab. Denn die Logik des Aristoteles ist die Logik der Klassenbegriffe, also gerade das, was ein Naturforscher nicht umgehen kann, wenn er die Formen des Pflanzenund Tierreichs versucht zu klassifizieren. Die Stellung aristotelischer Klassenbegriffe war laut Cassirer in der Biologie des 17. und 18. Jahrhunderts „noch unerschüttert“, während in den mathematischen Naturwissenschaften schon eine Umwandlung stattgefunden hatte. Während schon seit Leibniz die Logik der Relationen gegenüber der Klassenlogik immer mehr an Bedeutung gewonnen hatte, war es in der Biologie noch anders; doch seit „Linn!’s ,Systema naturae‘ (1735) und in seiner ,Philosophia Botanica‘ (1751)“ hatte der Klassenbegriff „einen der größten wissenschaftlichen Triumphe“ erlebt.1 Es war Linné gelungen, die Tier- und Pflanzenarten konsequenter als jeder vor ihm zu klassifizieren; er hatte gleichsam den Plan Gottes entziffert. Die ge1 Cassirer 1994, 133. Ernst‐Otto Onnasch (Hg.), Kants Philosophie der Natur, ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung, Berlin/New York 2009 52 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Vesa Oittinen schaffene Natur teilt sich in Arten (artes), die ihrerseits Gattungen (genera) bilden und diese Klassen (classes); die Klassen bilden wiederum noch höhere Ordnungen (ordines), bis das System endlich in die allgemeinsten, zusammenfassenden „Reiche“ gipfelt, d. h. die Regnum animale, Regnum vegetabile und Regnum minerale, welche das Ganze der Natur umfassen. Nach Cassirer sei Kant der erste gewesen, der diese naiv-aristotelische und von Linné unreflektiert angenommene Klassifikation in Frage stellte: Aber eben hier setzt nun die Frage ein, die Kant sich stellt und die er besonders in der ersten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, die er später wegen ihres Umfangs unterdrückt und durch eine kürzere Fassung ersetzt hat, eingehend behandelt. Was berechtigt uns, in der Natur ein Ganzes zu sehen, das die Form eines logischen Systems hat und das sich erst nach Art eines solchen behandeln läßt? Woher stammt und worauf beruht diese Harmonie zwischen den Naturformen und den logischen Formen? Die Begriffe von Art und Klasse sind rein logische und somit apriorische Begriffe. Daß wir diese apriorischen Begriffe auf die Erfahrung anwenden können und daß wir sie gewissermaßen in der Erfahrung wiederfinden, ist keineswegs selbstverständlich. Und das Fazit: Hier liegt eine Übereinstimmung zwischen der Natur und unserem Verstand vor, die der Metaphysiker durch die Annahme eines gemeinsamen Ursprungs beider und einer hierdurch gegebenen „praestabilierten Harmonie“ lösen mag – die aber für den Kritiker der Erkenntnis zunächst ein Rätsel bleibt.2 Diese Passagen Cassirers gehören zu den überraschend seltenen Versuchen, das Verhältnis Kants zu seinem älteren Zeitgenossen Linné eingehender zu analysieren. In der bisherigen philosophiegeschichtlichen Literatur über Kants Ideen zur Systematik ist diese Problematik überhaupt nur eher beiläufig tangiert. Auch in den Monographien zur Kantischen Philosophie der Naturwissenschaften – eine der grundlegendsten Arbeiten auf diesem Gebiet ist immer noch Erich Adickes’ Kant als Naturforscher (1924) – hat man Kants Kommentare zu Linné gewöhnlich nicht vom Standpunkt der biologischen Systematik aus bewertet. Von den wenigen jüngeren Ausnahmen seien hier zwei USAmerikanische Forscher erwähnt. 2 Ebd. Ernst‐Otto Onnasch (Hg.), Kants Philosophie der Natur, ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung, Berlin/New York 2009 Linné zwischen Wolff und Kant 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 53 Der erste, John H. Zammito, meint in seiner Studie über Kants Kritik der Urteilskraft, Kant habe sich in dem 1775 erschienenen Aufsatz Von den verschiedenen Racen der Menschen an die Seite Buffons gegen Linné gestellt, indem er forderte, daß „the principle of natural science had not to do with nominal classes but real relations“.3 In der späteren Arbeit "ber den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie (1788) sei Kant dann noch weiter gegangen und habe den armen schwedischen Botaniker sogar als einen „rasche[n] Vernünftler“ gerügt, da dieser „had fallen prey to error by taking the similarity of certain instances for a proof of the similarity of their fundamental principles“4, – mit anderen Worten, so darf man Zammitos Kritik wohl deuten, Linné habe übereilt die gleiche Anzahl von Pistillen und Staubgefäßen in verschiedenen Pflanzengattungen (was nur ein ganz formales Kriterium ist) als Beweis ihrer natürlichen Verwandtschaft angesehen. Prüft man aber die von Zammito angegebenen Stellen am Original, so erweist es sich, daß Kant in beiden Passagen etwas ganz anderes sagt, als Zammito ihm unterstellt. An der ersten Stelle spricht er tatsächlich gegen die Verallgemeinerung der Ideen Buffons von der Naturgattung: „Daher muß die B#ffonsche Regel, daß Thiere, die mit einander fruchtbare Jungen erzeugen, […] doch zu einer und derselben physischen Gattung gehören, eigentlich nur als die Definition einer Naturgattung der Thiere überhaupt zum Unterschiede von allen Schulgattungen derselben angesehen werden.“ Für Kant sind aber die „SchulACHTUNGREeintheilung“ und die „Natureintheilung“ mehr oder wenig gleichberechtigte Klassifikationsprozeduren, die verschiedenen Zwecke dienen: „Jene verschafft ein Schulsystem für das Gedächtniß; diese ein Natursystem für den Verstand: die erstere hat nur zur Absicht, die Geschöpfe unter Titel, die zweite, sie unter Gesetze zu bringen“.5 Wenn dem so ist, kann dies keineswegs als eine Kritik an Linné gedeutet werden, denn der schwedische Botaniker hatte das Verhältnis verschiedener Klassifikationsprinzipien in der Tat sehr ähnlich bestimmt. Obgleich nämlich Linnés Lebenswerk vor allem der Bearbeitung des systema sexuale galt, gab er gleichzeitig seine „Künstlichkeit“ zu und hob hervor, daß die natürliche Methode (methodus naturalis) der Klassifikation eigentlich das primum und ultimum in der Botanik sei. Dementsprechend lieferte Linné auch versuchsweise „Fragmente“ eines solchen natürlichen Systems (in 3 4 5 Zammito 1992, 199 ff. Ebd., 210. Von den verschiedenen Racen, AA 2.429. Ernst‐Otto Onnasch (Hg.), Kants Philosophie der Natur, ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung, Berlin/New York 2009 54 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Vesa Oittinen der Philosophia Botanica von 1751 listet er 68 „natürliche“ Gruppen auf). Ein endgültiges System nach natürlichen Prinzipien war jedoch Linné zufolge damals noch nicht möglich, weil so viele Gebiete auf der Erde, vor allem die tropischen, floristisch noch unerforscht waren: „Aber das Erwerben weiterer Erkenntnisse wird es [das System, V.O.] vollständig machen; denn die Natur macht keine Sprünge“6, fügt Linné hoffnungsvoll hinzu. Vorläufig müsse man sich deshalb – und zwar aus praktischen Gründen – mit einem künstlichen System begnügen, das es erlaubt, alle bis dahin bekannte und auch noch unbekannte Pflanzengattungen zu katalogisieren. Was die andere von Zammito angeführte Linné-Stelle bei Kant betrifft, so liegt auch dort keine Kritik an Linné vor. Im Gegenteil. Kants Zielscheibe ist hier vielmehr Georg Forster, von dem er ironisch bemerkt, daß dieser nicht konsequent genug am Prinzip Linnés festhalten kann, nämlich „des Linneischen Princips der Beharrlichkeit des Charakters der Befruchtungstheile an Gewächsen, ohne welches die systematische Naturbeschreibung des Pflanzenreichs nicht so rühmlich würde geordnet und erweitert worden sein.“7 Die von Zammito zitierte Bemerkung von dem raschen Vernünftler folgt dann einige Zeilen später; aber auch damit ist keineswegs Linné gemeint. Mit dieser Kritik soll freilich nicht der Wert der Studien Zammitos geschälert werden. Daß er aber widerspruchslos (denn keiner hat bisher etwas gegen seine Interpretation eingewendet) so etwas über Linné hat schreiben können, deutet darauf hin, daß das Bild von Linné als einem metaphysisch-scholastischen Biologen, der mit seinen trockenen Klassifikationen der lebendigen Natur gegenüber schließlich fremd gegenübersteht, immer noch sehr wirkungsmächtig ist. Daß Linné als Naturforscher in Widerspruch mit seinen metaphysischen Prinzipien hätte geraten können, wird aus irgendeinem Grunde von der Forschung kaum erwogen. Anders als der geisteswissenschaftlich orientierte Zammito, ist der Ideen- und Theoriehistoriker James Larson ein guter Kenner der Biologie. Er sieht ein, daß man zwischen dem philosophischen Selbstverständnis der Naturforscher und ihrer tatsächlichen „logic of discovery“ 6 7 Linné, Philosophia Botanica § 77: „Defectus nondum detectorum in causa fuit, quod Methodus naturalis deficiat, quam plurium cognitio perficiet; Natura enim non facit saltus.“ "ber den Gebrauch teleologischer Principien, AA 7.161. Ernst‐Otto Onnasch (Hg.), Kants Philosophie der Natur, ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung, Berlin/New York 2009 Linné zwischen Wolff und Kant 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 55 unterscheiden muß. Neben einer wichtigen Monographie8 über die Klassifikationsprinzipien Linnés hat Larson auch einen interessanten kleinen Aufsatz9 publiziert, in dem er die Bedeutung der Linnéschen Systematik für das Verständnis einiger Stellungnahmen in Kants Kritik der Urteilskraft hervorhebt. Dieser Aufsatz ist wohl der erste, in dem gründlicher auf das Verhältnis von Kant und Linné eingegangen wird. Nach Larson sei Linné, wie auch Kant, von der Voraussetzung ausgegangen, daß das Prinzip der Systematizität „kein Natur-, sondern ein Denkgesetz“ ist, und daß der Unterschied zwischen beiden nur sei, daß es sich bei der gefundenen Naturregelmäßigkeit „im System Linnés um die Muster Gottes handelt, während Kant lediglich behauptet, daß wir die Natur als Kunstfertigkeit bewerten und ihr unsere eigenen Ziele vorschreiben, um imstande zu sein, über ihre Produkte zu urteilen.“10 Linnés Ansicht von der Natur ist, so hebt Larson hervor, vom „resoluten Realismus“11 geprägt, weshalb die Aufgabe des Naturforschers lediglich ist, die in der Natur selbst schon gegebene Formvielfalt durch eine Analyse in ihre „einfachen Bestandsteile“ aufzulösen: Der Naturforscher isolierte […] einen Typus, ein bestimmendes Muster, bei einer Vielfalt von Individuen, und wendet die generellen Klassen an, um den Grund für jedes besondere Formelement herauszupräparieren. Die Klassifizierung im Rahmen einer Hierarchie gibt in der logischen Form den Prozeß wieder, wodurch die Natur ihre besonderen Existenzformen spezifiziert hatte.12 Dennoch nähert m. E. auch Larson Linné zu stark dem metaphysischen Systemdenken à la Wolff an, wenn er schreibt, Linné habe vorausgesetzt, daß „die Ordnung der Natur sich in die Form eines einheitlichen 8 Larson 1971. In der „Vorrede“ weist Larson auf die auch von mir hier anfangs zitierte Würdigung Cassirers hin. Er bemerkt zu Recht, daß Cassirer wichtige Aspekte der deskriptiven Praxis Linnés – im Grunde genommen seine Arbeit als praktizierender Naturforscher überhaupt – gänzlich ausgeblendet hat: „Cassirer concludes that Linné’s system never moves beyond the problems of mere recognition and identification of natural objects. The flaw in this approach is that Cassirer requires an analogy drawn between class logic and the Linnaean system to hold in everything“. Daher sei es Cassirer zwar gelungen, die metaphysischen Präsuppositionen des Linnéschen Systems scharfsinnig bloßzulegen, aber zugleich „to do a great injustice to Linné’s descriptive science“ (ebd., 2 f.). 9 Larson 1978. 10 Larson 1978, 104 (hier und im Verfolg meine, V.O., Übersetzung). 11 Ebd., 100. 12 Ebd., 101. Ernst‐Otto Onnasch (Hg.), Kants Philosophie der Natur, ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung, Berlin/New York 2009 56 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Vesa Oittinen logischen Systems kleidet.“13 Nach Larson sei „die Harmonie zwischen Naturgegenstände und seiner [Linnés – V. O.] Begriffsbildung so offensichtlich gewesen, daß sie keinerlei Bedenken hervorzurufen schien“: Tatsächlich bildeten Linnés Annahmen zur Einheit der Natur das Hauptargument für die innere Logik der Methode. Er wendete zuzusagen unbewußt als Hauptargument für die Methode selbst das an, was seine Methode erst aufzeigen sollte. Damit entspringt Linnés Natursystem nicht aus den Beobachtungen, sondern ist vielmehr Voraussetzung für seine Beobachtungen.14 Nach Larson habe Linné also die allgemeinen Systeme der Tier- und Pflanzenreiche direkt aus irgendwelchen apriorischen logischen Prinzipien abgeleitet, und erst Kant habe Linné in dieser Hinsicht korrigiert, indem er gegen ihn herausgestellt hatte, daß die Klassen nichts als Produkte unserer eigenen Vernunft seien. Auch wenn Larson es nicht direkt behauptet, läuft seine Position darauf hinaus, daß Linné, ähnlich wie die Wolffianer, den logischen und den realen Grund miteinander vermischt; darüber unten gleich mehr. Wie man sieht, schließt sich auch Larson letztendlich – trotz seines größeren Verständnisses für die Rolle der wissenschaftlichen Praxis des Naturforschers, die immer wieder die metaphysischen Systemambitionen sabotiert – der allgemein verbreiteten Ansicht an, die Linné als einen dogmatisch-apriorischen Systematiker handelt. Daß über Linnés Klassifikationen ein metaphysisches Raster liegt, ist freilich nicht zu verneinen. Seine dicken Bände Systema Naturae, Genera Plantarum usw. sind – zumindest in den Augen der Laien – eigentlich nichts anderes als langweilige Kataloge. Dabei übersieht man allerdings, daß der Archiater von Uppsala neben allen seinen Mängeln doch auch ein Naturforscher war, für den das empirische Material immer das letzte Wort hatte. Gerade dieser Umstand führte bei Linné dazu, daß die Beschäftigung mit diesem empirischen Material immer wieder Breschen in das Gebäude der metaphysischen Systematik schlug, deren Wirkung sich auch in den höheren Etagen des Systems auswirken mußte. In der 13 Ebd., 100. 14 Ebd., 101 f.: „[I] själva verket var det Linnés antaganden om naturens enhet som var huvudargumentet för metodens inre logik. Han använde med andra ord omedvetet vad hans metod skulle uppvisa som huvudargument för metoden själv. Sålunda framgick Linnés natursystem inte ur iakttagelser utan utgjorde snarare en förutsättning för hans iakttagelser.“ Ernst‐Otto Onnasch (Hg.), Kants Philosophie der Natur, ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung, Berlin/New York 2009 Linné zwischen Wolff und Kant 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 57 oft zitierten Vorrede zur Genera Plantarum mit dem Titel „Ratio Operis“, die eine Zusammenfassung seiner Methode enthält, konstatiert Linné: Es gibt so viele Arten und Gattungen, wie „das Unendliche Wesen auf diesem Erdenglobus verschiedene und stetige Formen geschaffen hat“ (quot diversas & constantes formas in hoc globo produxit Infinitum Ens).15 Der Satz ist berühmt und vielzitiert. Gewöhnlich hat man ihn gedeutet als Linnés Bekenntnis zum Kreationismus, was an sich auch stimmt, – obgleich die Rede vom Infinitum Ens eher aufklärerisch-deistische Vorstellungen als orthodoxes Christentum nahelegt. Doch wird die Fortsetzung des Satzes meistens übersehen. Denn daraus, daß die Arten und Gattungen von Gott geschaffen sind, folgt für Linné ihre Natürlichkeit: „Omnia Genera naturalia sunt“; entsprechend heißt es in seiner Philosophia Botanica, daß Arten und Gattungen immer und unzweideutig Produkte der Natur sind: „Naturae opus semper est Species et Genus“, dies im Gegensatz zu höheren Ordnungen des Systems, die mehr oder weniger „artifiziell“ sind. Und dann formuliert Linné das entscheidende methodische Prinzip: „Die Gattung und die Art“, so schreibt er, „sind immer Werk der Natur […]; die Klassen und Ordines sind Werk von Natur und Kunst“.16 1. Voraussetzungen der systematischen Leistung Linnés Die von Cassirer so genannte enigmatische „Übereinstimmung zwischen der Natur und unserem Verstand“ hat Kant in seiner kritischen Philosophie auf mehreren Niveaus zu enträtseln versucht. Die Forderung, die Natur in systematischer Form darzustellen, deutet Kant in seiner ersten Kritik im Sinne der „kopernikanischen Wende“. Vor allem handelt es sich dabei darum, daß die menschliche Vernunft ihren Stempel in die Naturgegenstände drückt. Wir können nämlich nicht sagen, die Natur sei an sich systematisch oder gliedere sich selbst nach den für unser Erkennen notwendigen kategorialen Formen. Es ist vielmehr die menschliche Vernunft selbst, die „ihrer Natur nach architektonisch“ ist, das heißt, die „alle Erkenntnisse als gehörig zu einem 15 Linné, Genera Plantarum, „Ratio Operis“, x. 16 Linné, Philosophia Botanica, § 162: „Naturae opus semper est Species et Genus; culturae saepius Varietas; naturae & artis Classis & Ordo.“ Ernst‐Otto Onnasch (Hg.), Kants Philosophie der Natur, ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung, Berlin/New York 2009 58 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Vesa Oittinen möglichen System“ betrachtet.17 So findet die Vernunft ihre eigene Ordnung auch in der Natur. Diese Architektonik, so fährt Kant andernorts fort, ist „Kunst der Systeme“ und dadurch „die Lehre des Scientifischen in unserer Erkenntniß überhaupt“18. Diese Kunst gelingt unter der Voraussetzung, daß das Ganze unter eine organisierende Idee gebracht wird.19 Der Gegensatz zur architektonischen Annäherungsweise ist die technische, womit Kant die empirische, „nach zufällig sich darbietenden Absichten“ entworfene Einheit meint.20 Als Kant diese Klassifikationsprozeduren beschrieb, hatte er offenbar die Systeme zeitgenössischer Wissenschaft im Visier, von denen die biologische Klassifikation Linnés ein Paradebeispiel bot. Gerade die Systeme Linnés (denn er hatte mehrere, je gegenstandsspezifisch im Pflanzen- Tier- und Mineralreich, im Pflanzenreich unterschied er neben dem künstlichen Sexualsystem auch ein – zwar fragmentarisches – „natürliches“ System) gingen ja davon aus, daß jede Wissenschaft ihre eigene Leitidee, ihr eigenes Ordnungsprinzip habe, wonach das Material der jeweiligen Wissenschaft klassifiziert werden könne. Denn erst wenn eine solche Klassifikation gelungen ist, könne man von einer Wissenschaft im strengen Sinne des Wortes sprechen. Eine genauere Lektüre der Werke Linnés zeigt, daß seine Ansichten über die Systematik nicht so „naiv-aristotelisch“ (lies: vorkantisch) sind, wie Cassirer anzunehmen scheint. Kant hatte der weniger wissenschaftlichen – also naiveren – technischen Organisation die höhere, architektonische gegenüberstellt. Linné nimmt jedoch ganz ähnliche Unterscheidungen am Anfang seiner Philosophia Botanica (1751) vor, wenn er nämlich zu bestimmen sucht, was eine „richtige“, d. h. wissenschaftliche Botanik ausmacht. Dazu nimmt er die Methode der Dihairesis zur Hilfe. Die Auctores, die über Botanik geschrieben haben, sind entweder bloße „Botanophile“, oder Botaniker, die den Pflanzen verständliche Namen geben können (vgl. ebd. § 6). Die letztgenannten wiederum teilen sich entweder in Sammler oder in Methodiker (§ 7). Die Methodiker wiederum teilen sich in verschiedene Gruppen, von denen die wichtigste die der Systematiker ist (§§ 18 u. 24). Die Systematiker sind weiter unterteilt nach „Heterodoxen“, die ihre Klassifizie17 18 19 20 Vgl. KrV Vgl. KrV KrV A 474/B 502. A 832/B 860. KrV A 326 f./B 383 und A 321/B 378. A 833/B 861. Ernst‐Otto Onnasch (Hg.), Kants Philosophie der Natur, ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung, Berlin/New York 2009 Linné zwischen Wolff und Kant 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 59 rungen auf fehlerhaft gewählten Kennzeichen gründen (die „Alphabetaren“ begnügen sich damit, die Pflanzen nach der alphabetischen Namensordnung zu verzeichnen, die „Rhizotomen“ klassifizieren diese nach den Wurzelformen, die „Phyllophilen“ nach der Form und Größe der Blätter, die „Topophilen“ nach dem Wachstumsort, die „Empiriker“ nach dem medizinischen Gebrauch usw., vgl. § 25), und nach „Orthodoxen“, die die Pflanzen nach richtig gewählten Kennzeichnen, d. h. nach der Blüte und Frucht (fructificatio) 21 klassifizieren. Aber auch dieses Klassifikationsresultat ist unzureichend. Linné lehnt nämlich solche „Fructisten“ ab, die die reife Frucht als Klassifikationsprinzip zugrundelegen (§ 28), aber auch die „Corollisten“, die die Zahl und Form der Kronenblätter (corollae) der Blumen zum Ordnungsprinzip machen (§ 29). Die einzige völlig adäquate Klassifikation gründet sich auf der Zahl der Pistillen (Blütenstempeln) und Staubgefäße, die den Ausgangspunkt für Linnés eigenes systema sexuale bildet (§ 31). Mit anderen Worten, die Struktur der pflanzlichen Geschlechtsorgane gibt die Leitidee oder, Kantisch gesprochen, das architektonische Prinzip, worauf die Vernunft sich stützt, wenn sie beginnt, die in der Erfahrung gegebene Mannigfaltigkeit zu organisieren und systematisieren. Was Kant aber nicht in Betracht zu ziehen scheint, ist, daß die systematische Leistung Linnés eine vorausgehende Analyse der schier unübersichtlichen Vielfalt der organischen Welt voraussetzt, – eine Analyse, der der größte Teil der Philosophia Botanica gewidmet ist. Es versteht sich ja von selbst, daß eine konsequente Klassifikation erst dann möglich ist, wenn man sich darüber im Klaren ist, welche Kennzeichen (characteres) überhaupt als Kriterien der Klassifizierung taugen. So nehmen die Definitionen und Beschreibungen der verschiedenen Teile der Pflanzen und Tiere den weitaus größten Teil des systemphilosophischen Werks Linnés ein: Das heißt, welche Blattformen es gibt (runde, ovale, geteilte usw.), was die verschiedenen Teile der Blume (calyx, corolla, stamina, pistillum usw.) oder was die verschiedenen Typen der Früchte (Beere, Nuß, Schote, Hülse usw.) sind. Die so durchgeführte Analyse hat eine Vielzahl elementarer Kennzeichen zum Resultat. Erst durch die Kombination dieser als Ergebnis der analytischen Zerlegung gefundenen und definierten Kennzeichen (oder auch durch die Feststellung ihrer 21 Im botanischen Latein scheint man damals mit dem Begriff fructificatio sowohl die Blüte (flos) als auch die Frucht (fructus) gemeint zu haben. Das ist insofern konsequent, weil sie verschiedene Entwicklungsstadien desselben Organs sind. Ernst‐Otto Onnasch (Hg.), Kants Philosophie der Natur, ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung, Berlin/New York 2009 60 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Vesa Oittinen Abwesenheit, des Nullwerts) gelingt es nach Linné, die Arten und Gattungen exakt zu beschreiben. Linné folgt somit der klassischen zweiteiligen Bewegung der Methode, die für die Wissenschaften der frühen Neuzeit überhaupt maßgeblich war. Beschrieben ist sie von Antoine Arnauld und Pierre Nicole in ihrer Logique de Port-Royal im Anschluß an Descartes. Nach dieser Methode findet zuerst eine Analyse oder „Resolution“ statt, durch welche der Untersuchungsgegenstand in seine Elemente aufgelöst wird. Anschließend folgt eine Synthese bzw. „Komposition“, kraft der die durch Analyse gewonnenen Elemente in größere systemische Einheiten geordnet werden.22 Dieses cartesisch-rationalistische Methodenverständnis gerät allerdings seit Christian Wolff in den Hintergrund zugunsten der „mathematischen Methode“.23 Kant hat diese Tendenz fortgesetzt, indem er die mathematische Naturwissenschaft für methodisch verbindlich erklärte. Kants Meinung über die Methodenfrage in den Naturwissenschaften war bereits in der vorkritischen Phase deutlich antimetaphysisch, sofern er nämlich jede Form von Essentialismus ablehnte. Er hatte sich schon früh dem Phänomenalismus Newtons angeschlossen, dieser hatte nämlich genau wie übrigens auch Kant später bestritten, daß es in der Natur Wesenheiten gebe. Für die Physik paßt der Anti-Essentialismus gut, auf dem Gebiet der Klassifikation und Systematik der Naturgegenstände wird die Sache allerdings problematischer. Denn um Individuen zuerst in Arten, diese wiederum in Gattungen und höheren Einheiten einreihen zu können, drängt sich geradezu eine Idee dessen auf, was wesentlich und was unwesentlich bzw. primär und sekundär ist. Aus diesem Grunde wun22 Die Methode ist nach Arnauld und Nicole nichts als „[a]rs bene disponendi seriem plurimarum cogitationum“, und diese „Gedankenreihen“ können entweder auf das Finden eines noch Unbekannten oder auf die Demonstration des schon Bekannten zielen. Daher die Doppelheit der Methode: „Methodus itaque duplex est; vel enim veritatem invenit, estque Analysis sive methodus resolutionis, quae dici poterit Methodus inventionis; vel inventam docet, & est synthesis, sive methodus compositionis, quae & appellari potest methodus doctrinae tradendae.“ (Arnauld/Nicole, Logica sive Ars cogitandi, iv,2, 1736, 336). 23 So schreibt Engfer 1986, 55: „Tatsächlich ist in den frühen philosophischen Schriften Wolffs und in seinen zentralen Äußerungen zur Methodenfrage von […] Differenzierungen zwischen analytischer und synthetischer Methode und der erfindenden und beweisenden Funktion nicht die Rede: Wolff spricht regelmäßig nur von einer philosophischen oder wissenschaftlichen Methode“, die in allen seinen wichtigsten Schriften „ausdrücklich mit der mathematischen Methode identifiziert“ wird. Ernst‐Otto Onnasch (Hg.), Kants Philosophie der Natur, ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung, Berlin/New York 2009 Linné zwischen Wolff und Kant 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 61 dert es auch nicht, daß der Essentialismus in Linnés Methode der Klassifikation noch eine wichtige Rolle spielt. Nach der kritischen Analyse, wo Linné den vorgefundenen, noch chaotisch und ungegliedert scheinenden Forschungsgegenstand in seine einfachen Bestandteile zerlegt – wobei er nicht vergißt, die Vorurteile und Tollheiten seiner Vorgänger abzuweisen –, schreitet er zur Phase der Synthese, wo der Essentialismus wiederhergestellt wird. Wie wir sahen, nimmt Linné die Zahl der Pistillen und Staubgefäße als grundlegendes Klassifikationsprinzip, weil er diese für ein wesentlicheres (essentielleres) Kennzeichen hält als z. B. die Blattform oder die medizinischen Eigenschaften der Pflanze. Den Essentialismus Linnés kann man ähnlich wie bei Andrea Caesalpino (1519 – 1603) – dem großen italienischen Vorgänger Linnés – aristotelisch nennen. Caesalpino hatte in seiner bahnbrechenden Arbeit De plantis (1583) die fructificatio zum Klassifikationsprinzip gemacht und zwar mit der Begründung, daß die ganze Pflanze von Anfang an, d. h. schon wenn sie beginnt zu keimen, gleichsam danach strebt, Blumen und Früchte zu produzieren. Die fructificatio, als Telos der Pflanze, war somit für Caesalpino das Wesentlichste. Man könnte sagen, daß die große systematische Aufgabe, die sich Linné zum Lebenswerk gemacht hatte – nämlich die Klassifikation aller Formen des Lebens, vor allem des Pflanzenreiches –, allein aus praktischen Gründen – Arten, Gattungen und Familien müssen nämlich etwas Wesentliches zum Ausdruck bringen –24, sein naturwissenschaftliches Methodenverständnis im Banne der älteren, essentialistischen Metaphysik hielt. In dieser Hinsicht besteht natürlich kein Zweifel darüber, daß Kant „moderner“ als der Uppsalaer Archiater war. Andererseits aber stand Kant gerade in den Fragen der Systematik der metaphysischen Tradition näher als sonst in seiner Philosophie. Kants Ideen zur Systematik können überhaupt nicht adäquat verstanden werden, wenn man den Einfluß und das Problembewußtsein seines Vorgängers Christian Wolff ausblendet. Während die Vernunftkritik das radikale Novum in Kants Philosophie darstellt, ist die Theorie des Architektonischen in vielerlei Hinsicht den Fragestellungen des Wolffischen Rationalismus verbunden. Dies haben m. E. durchaus zu Recht zuletzt Hans-Friedrich Fulda und Jürgen Stolzenberg in der Einleitung des von ihnen herausgegebenen Sammelbands zur Systematik bei Kant 24 Anders gesagt, die essentialistische Idee des Wesens war damals und später, vielleicht bis zur Entstehung der modernen Genetik, ein notwendiges Werkzeug für die Klassifikation. Ernst‐Otto Onnasch (Hg.), Kants Philosophie der Natur, ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung, Berlin/New York 2009 62 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Vesa Oittinen hervorgehoben; Kant habe nämlich „im Ambiente des AufklärungsEklektizismus seiner Zeit die Systematizitätsforderungen der Schulphilosophie [sprich: des wolffischen Rationalismus, V. O.] nicht nur verteidigt, sondern extrem verschärft“.25 Man braucht nur an die lobenden Worte über den „berühmten Wolff, des größten unter allen dogmatischen Philosophen“ in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft zu erinnern,26 um einzusehen, daß auch der kritische Kant den Systemanspruch des älteren Rationalismus noch für verbindlich hielt. Allerdings gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Systembegriff Kants und dem seines Vorgängers Wolff. Es ist eben der Unterschied, der sich auf das oben von Cassirer formulierte Problem von der „Übereinstimmung zwischen der Natur und unserem Verstand“ bezieht. Denn für Wolff hatte dieses Problem eine ganz andere Gestalt. Der Hallenser Weltweise ging bei der Grundlegung seiner Ontologie aus von der Intention, die schon von Leibniz unterschiedenen zwei Formen der Wahrheit, nämlich die v!rit!s de raison und v!rit!s de fait auf eine gemeinsame ontologische Grundlage zu stellen. Um ihr Verhältnis zueinander zu klären, kam er zur Formulierung des Prinzips des zureichenden Grundes (principium rationis sufficientis). Dieses Prinzip besagt, daß eine bloße logische Notwendigkeit (Vernunftwahrheit, d. h. Widerspruchslosigkeit) noch nicht Grund dafür ist, daß etwas existiert, vielmehr erfordert die Realisierung einer Möglichkeit einen hinsichtlich des bloß logischen Grundes zusätzlichen, nämlich zureichenden Grund. So formuliert, mußte aus diesem Prinzip sofort ein Sorgenkind des Wolffischen Systems werden. Unglücklicherweise erwies sich nämlich Wolffs Definition des zureichenden Grundes für die Existenz eines Dinges als zweideutig. In seiner Deutschen Metaphysik gibt er folgende Definition: „[S]o muß alles, was ist, seinen zureichenden Grund haben, warum es ist, das ist, es muß allezeit etwas seyn, daraus man verstehen kan, warum es würklich werden kan“.27 Die Ambivalenz steckt in der Formulierung „daraus man verstehen kan“, denn sie kann zweierlei 25 Fulda/Stolzenberg 2001, 17. 26 KrV B xxxvi ff. 27 Wolff, Vern#nftige Gedanken von den Kr$ften des menschlichen Verstandes, § 29, 1719, 16 f. Ernst‐Otto Onnasch (Hg.), Kants Philosophie der Natur, ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung, Berlin/New York 2009 Linné zwischen Wolff und Kant 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 63 bedeuten: Entweder ist der Grund die objektive Sachlage selbst oder aber unsere Idee der Sachlage.28 Im System Wolffs ließ sich der Grund der Existenz der Dinge sowohl als logischer Grund als auch als Realgrund deuten, was letzten Endes in die äußerst problematische, aber für Wolff typische Assertion gipfelt, die Metaphysik (Ontologie) sei eine ähnliche Realwissenschaft wie die Mathematik, Physik oder die anderen Naturwissenschaften. Anders ausgedrückt: Man kann von einer vernunftbegründeten Ordnung der Ideen a priori schlußfolgern, wie die Sachlage in der realen Welt sein soll. Kants kritische Wende bestand dann bekanntlich darin, die von Wolff so hoffnungslos vermengten logischen und reellen Gründe scharf voneinander zu unterscheiden. Die logischen Gründe erkennt man nach Kant a priori, wohingegen man auf die Möglichkeit der Realgründe nicht a priori, d. h. aus bloßen Begriffen schließen kann.29 2. Linné ein Wolffianer? Wenn Linné also weniger modern und mehr metaphysisch war als Kant, könnte man ihn dann als Wolffianer charakterisieren? Nimmt man das bis heute gängige populäre Bild von Linné als einen dogmatischen Klassifizierer, der sich vor allem darum bemühte, die Natur in ein künstliches System zu pressen, so liegt es nahe, in ihm, wenn nicht direkt einen Wolffianer, so doch einen Geistesverwandten erkennen zu wollen. Einige haben Linné tatsächlich als Wolffianer ausgegeben,30 andere dagegen sind vorsichtiger, obgleich auch sie gewisse Ähnlichkeiten hinsichtlich des „System-Eifers“ zwischen Linné und Wolff meinten feststellen zu müssen.31 Fest steht allerdings, daß Linné Wolff 28 Eine andere mögliche Formulierung dieser Zweideutigkeit wäre: Liegt der zureichende Grund auch dann vor, wenn es keinen Menschen (bzw. kein anderes bewußtes Wesen) gäbe, der durch ihn die Existenz irgendeiner Sache begreift? 29 Vgl. KrV A 558/B 586. 30 So z. B. schon Lorenzo Hammarsköld in seiner Geschichte der schwedischen Philosophie: „[…] ehuru den berömdaste och namnkunnigaste af Sveriges lärde, den stora Carl von Linné, i uppställningen af sitt systema Naturae, synbarligen enligt Wolffianska åsigter förfarit […]“ (1821, 207 f.) 31 So Tore Frängsmyr 1972, 155 f., in seiner wichtigen Studie über den schwedischen Wolffianismus. Er gibt zuerst zu, daß es „ein äußerst verlockender Gedanke ist, daß Linné bei der Aufstellung seines Sexualsystems und hin- Ernst‐Otto Onnasch (Hg.), Kants Philosophie der Natur, ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung, Berlin/New York 2009 64 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Vesa Oittinen niemals zitiert oder auch nur auf ihn hinweist, obwohl es angesichts des damaligen intellektuellen Klimas in Schweden auch unwahrscheinlich ist, daß er Wolff und seine Philosophie nicht kannte. Doch kann man die Frage nach dem Wolffianismus Linnés auch anders als rein ideengeschichtlich (d. h. als Nachweis eines Einflusses) stellen. Man kann nämlich auch philosophisch fragen, ob Linné in seiner wissenschaftlichen Praxis die Grundvoraussetzungen der Wolffischen Ontologie teilte. Genauer formuliert, war Linné der Ansicht, daß in der Wissenschaft der logische Grund (der Erkenntnisgrund) und der Realgrund tatsächlich zusammenfallen? Linnés Aristotelismus braucht nicht im Widerspruch mit seinem möglichen Wolffianismus gewesen zu sein, denn ähnlich wie Wolff, scheint ja auch Aristoteles den realen und logischen Grund miteinander vermischt zu haben.32 Eine genauere Analyse des Linnéschen Œuvres wird zeigen, daß, so verwandt Linné und Wolff einander in ihrer Vorliebe für das Systematische auch immer gewesen sein mögen, bei der Beantwortung der ontologischen Grundfrage nach dem principium rationis sufficientis scheiden sich ihre Geister. Diese Schlußfolgerung muß sich einem schon beim Durchblättern der systematischen Werke Linnés aufdrängen. So ist das Pflanzenreich z. B. in Genera Plantarum oder Species Plantarum sorgfältig in verschiedene Gruppen, Gattungen und Arten eingeteilt. Vor allem die Anwendung des künstlichen systema sexuale auf das empirische Material des Pflanzenreiches macht das Hauptproblem der sichtlich seiner allgemeinen Klassifikation Eindrücke von Wolff erhalten habe, weil ja auch dessen ganze Philosophie von einer äußeren Systematik dominiert ist […] Es ist aber schwer, hierüber etwas Genaueres zu sagen, weil wir keine direkten Zeugnisse zum Ausgangspunkt haben“; nach einigen Überlegungen kommt Frängsmyr dann zu dem Schluß, daß es zwischen Linné und Wolff wohl höchstens nur eine Verwandtschaft im „Zeitgeist“ gebe: „Wenn auch die erste Inspiration von Wolff ausgegangen sei, hat Linnés eigene Charakter bald die Überhand genommen. Hätte er eine tiefere Verwandtschaft mit Wolff gefühlt, hätte er sie bestimmt wenigstens einmal erwähnt. Das tat er nicht. Übrig bleiben die Ähnlichkeiten, die wenigstens dartun, daß Wolff und Linné in derselben intellektuellen Epoche lebten.“ (Meine Übersetzungen, V.O.) 32 So muß man urteilen, wenn man die Stelle am Anfang des 1. Buches der Analytica posteriora liest, wo der Stagirit schreibt: „Wir denken, daß wir von der Sache wissen […] wenn uns klar ist, daß die Ursache, weshalb die Sache ist, gerade die Ursache dieser Sache ist und daß dies nicht anders sein kann“ (71b 10 – 13). Hier scheint nämlich ebenfalls die Ursache (aQt¸a), warum eine Sache oder ein Ding existiert (di’ Fm t¹ pq÷cl² 1stim), mit der logischen Notwendigkeit gleichgesetzt zu werden, daß es nicht anders sein kann (lµ 1md´weshai toOt’ %kkyr 5weim). Ernst‐Otto Onnasch (Hg.), Kants Philosophie der Natur, ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung, Berlin/New York 2009 Linné zwischen Wolff und Kant 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 65 Wolffischen Ontologie augenscheinlich und demonstriert, daß sie trotz ihres szientifischen Anspruchs für die wissenschaftliche Praxis kaum taugen kann. Im Linnéschen System wird das Pflanzenreich (die Blütenpflanzen, da sich Linné für Kryptogame weniger interessierte) in 24 Klassen nach der Anzahl der Pistillen und Staubgefäße eingeteilt. Linné wendet dazu ein apriorisches Schema an, wobei sich unmittelbar zeigt, daß nicht alle logischen Möglichkeiten dieses Schemas im System realisiert werden. Tatsächlich variiert die Anzahl der Gattungen und Arten in den verschiedenen Kolumnen beträchtlich, ohne daß sich dafür eine Ursache geben ließe. So listet Linné z. B. in Genera Plantarum in der ersten Unterabteilung Monogynia (Blüten mit einer Pistille) der Klasse Pentandria (Blüten mit fünf Staubgefäßen) 238 Gattungen, u. a. Heliotropen, Zyklamen, Vergißmeinnicht, Efeu, Weinranken, Bittersüß usw., während es in der folgenden Unterabteilung Digynia (Blüten mit zwei Pistillen) nur 72 Gattungen gibt (u. a. die Ulmen, Gänsefüßchen, Enzian, die meisten Rohrgewächse oder Umbellatae). In der Unterabteilung Tetragynia (mit vier Pistillen) gibt es nur zwei Gattungen. Und noch bedenklicher ist, daß in manchen Klassen nur ein paar Unterabteilungen realisiert sind, während die anderen leer sind. So gibt es in der Klasse Monandria (Blüten mit einem Staubgefäß) nur die Unterabteilungen Monogynia und Digynia, während die vom System vorhergesehenen anderen Abteilungen leer sind. In der Klasse mit sechs Staubgefäßen, Hexandria, z. B. gibt es die Unterteilungen für 1, 2, 3, 4 und viele Pistillen, während die Abteilung für 5 Pistillen leer ist.33 Diese Diskrepanz zwischen der logisch möglichen und der in der Natur tatsächlich vorfindlichen Pflanzengattungen zeigt sich auch noch an andere Stelle als bei der Anwendung der 24 Kategorien des systema sexuale auf die Realität der Pflanzenwelt. In seiner Philosophia Botanica stellt Linné an einer Stelle die kleine, aber äußerst interessante Kalkulation an, auf wie viele mögliche Weisen die Kennzeichen, derer man sich bei der Klassifikation der Pflanzen bedient, kombiniert werden können. Die Staubgefäße bestehen aus drei Teilen, ebenfalls die Pistil33 Ich benutze für meine Komputation die von J. J. Reichard besorgte Ausgabe der Genera Plantarum, Frankfurt/M. 1778. Linné führte allerdings zu jeder neuen Auflage weitere Arten und Gattungen hinzu, obwohl das Gesamtbild der ungleichmäßigen Verteilung dadurch nicht verändert wurde. Im Gegenteil, die Anhäufung von neuem Material machte noch offensichtlicher, daß die Natur gewisse Lücken überhaupt nicht füllt. Ernst‐Otto Onnasch (Hg.), Kants Philosophie der Natur, ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung, Berlin/New York 2009 66 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Vesa Oittinen Tabelle der Einteilung der Gattungen nach dem Systema sexuale. Monandria Diandria Triandria Tetrandria Pentandria Hexandria Monogynia: Monogynia: Monogynia: Monogynia: Monogynia: Monogynia: 11 29 28 60 137 55 Gattungen Gattungen Gattungen Gattungen Gattungen Gattungen Digynia: Digynia: Digynia: 4 1 Gattung 28 Gattungen (Anthoxanthum) Gattungen Digynia: 6 Gattungen Digynia: 69 Gattungen Digynia: 2 Gattungen Trigynia: 0 Gattungen Trigynia: 1 Gattung (Piper) Trigynia: 10 Gattungen Trigynia: 0 Gattungen Trigynia: 15 Gattungen Trigynia: 9 Gattungen Tetragynia: 0 Gattungen Tetragynia: 0 Gattungen Pentagynia: 0 Gattungen Pentagynia: 0 Gattungen Tetragynia: Tetragynia: Tetragynia: Tetragynia: 0 6 2 1 Gattungen Gattungen Gattungen Gattung (Petiveria) Pentagynia: Pentagynia: Pentagynia: Pentagynia: 0 0 9 0 Gattungen Gattungen Gattungen Gattungen Polygynia: 0 Gattungen Polygynia: 0 Gattungen Polygynia: 0 Gattungen Polygynia: 0 Gattungen Polygynia: 1 Gattung (Myosurus) Polygynia: 1 Gattung (Alisma) In der Tabelle sind nur die 6 ersten Klassen Monandria bis Hexandria (Blumen mit 1 bis 6 Staubgefäßen) von insgesamt 24 gezeigt. Jede Klasse teilt sich wiederum in Unterabteilungen nach der Anzahl der Pistillen (1 Pistille: Monogynia, 2 Pistillen: Digynia usw.). Wie man sieht, variiert die Zahl der Gattungen in jeder Klasse und jeder Unterabteilung beträchtlich, ohne daß es einen logischen Grund dafür gäbe. Die apriorische Klassifikation, auf lebendiges Pflanzenmaterial angewandt, gibt demnach ein in dieser Hinsicht ganz willkürliches Resultat, das Linné einzig damit erklären konnte, daß es Gott gefallen hat, so und so viele Gattungen in jeder Nische zu schaffen. – Die Aufzählung aller Gattungen beim Namen (hier nicht gezeigt) würde außerdem das interessante Resultat zeigen, daß das künstliche und das natürliche System sich teilweise decken: z. B. alle Liliengewächse gehören zur Klasse Hexandria und deren Unterabteilung Monogynia, da sie alle 6 Staubgefäße und eine Pistille haben; die Klasse Pentandria mit der Unterabteilung Digynia wiederum besteht meistens aus Umbellaten (Kerbel, Pastinake usw.). Aber auch hier gibt es Ausnahmen. So trifft man in der Gruppe der Lilien auch z. B. Bromelien. Ernst‐Otto Onnasch (Hg.), Kants Philosophie der Natur, ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung, Berlin/New York 2009 Linné zwischen Wolff und Kant 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 67 len, von den Kronblättern gibt es sieben Variationen und nimmt man außerdem die mögliche Anzahl der verschiedenen Teile in Betracht, ergibt das 5736 möglichen Kombinationen.34 Das heißt, kombiniert man mechanisch alle Kennzeichen, die zur Bestimmung der Pflanzengattung nötig sind, ergeben sich 5736 Gattungen. Linné kommentiert seine Berechnungen nun damit, daß all diese Gattungen „nicht existieren“ können. Es gibt also einen Unterschied zwischen logisch Möglichem und wirklicher Existenz. Das Fazit ist also, daß man nicht mechanisch und im Voraus ausrechnen kann, wie viele Pflanzen- oder Tiergattungen es in der Natur tatsächlich gibt. Die Empirie redet hier das letzte Wort. Linné selbst hatte auf die Frage, warum es viel weniger wirklich existierende Arten und Gattungen gibt als nach den logischen Kombinationen der Kennzeichen möglich wären, eine einfache Antwort: Der Gott bzw. das Infinitum Ens, wie in der „Ratio Operis“ zur Genera Plantarum formuliert wird, hat es gut gefunden, nur die Gattungen und Arten zu schaffen, die es in der Welt tatsächlich gibt, weder mehr noch weniger.35 Ganz unabhängig von der persönlichen Religiosität Linnés36 hat Gott hier für die Begründung der Naturwissenschaft eine durchaus antimechanistische Funktion: Er sorgt nämlich dafür, daß sich unter allen logisch denkbaren nur gewisse Möglichkeiten realisieren, oder, übersetzt in Wolffs Terminologie, Gott gibt die ratio sufficiens aller Arten und Gattungen an. Gäbe es nicht diese von Gott durchgeführte vorgängige Auslese, würden alle Möglichkeiten des Systems sich realisieren. Es würde sich mit anderen Worten das principle of plenitude 37 bewähren, weshalb sich die leeren Nischen des biologischen Klassifikationssystems früher oder später auf mechanische Weise füllen müßten. 34 Vgl. Linné, Philosophia Botanica, § 167. 35 Linné, Genera Plantarum, „Ratio Operis“, x: „Species tot sunt, quot diversas & constantes formas in hoc globo produxit Infinitum Ens […] Ergo Species tot sunt, quot diversae formae seu structurae Plantarum, reiectis istis, quas locus vel casus parum differentes (Varietates) exhibuit, hodienum occurunt“. 36 Die grundlegende Untersuchung ist immer noch Malmeström 1926, in der vor allem die Bedeutung der Handschrift Nemesis Divina für das Verständnis von Linnés Persönlichkeit hervorgehoben wird. 37 Dieses Prinzip, das auf diese ausdrückliche Weise wohl zuerst von Arthur Lovejoy formuliert wurde, besagt, daß, wenn eine Möglichkeit eine reelle Möglichkeit ist, sie sich früher oder später realisieren muß. Eine Illustration dieses Prinzips ist u. a. die Bibliothek von Babel, wie Jorge Luis Borges sie beschrieben hat. Ernst‐Otto Onnasch (Hg.), Kants Philosophie der Natur, ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung, Berlin/New York 2009 68 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Vesa Oittinen Aber auch dann, wenn wir Gott beiseite lassen, ist es offensichtlich, daß Linné in seiner Systematik einen Unterschied zwischen den reellen und logischen Gründen macht. Er wendet nämlich nicht, wie man gemeinhin unterstellt, reine apriorische Prinzipien zur Klassifikation des Tier- und Pflanzenreiches an. Sein Apriorismus greift, wenn überhaupt, nur für die höheren Ordnungen. Die Gattungen und Arten dagegen sind nat#rlich, das heißt, der Botaniker findet sie vor. Und auf diesem Niveau kommt alles auf die Erfahrung an. Erst auf den höheren Etagen des Systems spielt die menschliche Kunst (ars) ihre Rolle, da die Gruppierungen immer mehr von dem „inneren Auge“ des sie ordnenden Systematikers abhängig werden. Gerade dadurch, daß das künstliche System auf dem Sockel der natürlichen Arten und Gattungen ruht, entsteht der Widerspruch, daß das System so viele leere, d. h. funktionslose Nischen enthält. Aber auch hier ist das System nicht ganz arbiträr und willkürlich. Im Gegenteil, auch das beim ersten Blick so mechanische Sexualsystem widerspiegelt zuweilen überraschend gut die natürlichen Gruppen; so haben z. B. alle Liliengewächse ausnahmslos sechs Staubgefäße, gehören somit insgesamt zur Klasse Hexandria. 3. Das System Linnés als ein „Mannequin“ der reflektierenden Urteilskraft Wenn also Linné hinsichtlich seiner Systematik kein Wolffianer war, scheint es Gründe zu geben, ihm Kant und seinem Wissenschaftsverständnis anzunähern, – schließlich hat ja auch Kant, wie wir sahen, auf den schwedischen Botaniker mehrere Male anerkennend und als Stütze seiner eigenen Ansichten hingewiesen. Mit Fragen der Systematik hat sich Kant während seines Schaffens mehrere Male eindringlich auseinandergesetzt, und es scheint, daß er zu keinem irgendwie endgültigen Resultat gekommen ist, das ihn befriedigte. Wegen der gegen die Anmaßungen einer angeblich wissenschaftlichen Metaphysik gerichteten Kantischen Unterscheidung von logischen und reellen Gründen wird das Problem der Anwendung der Kategorien auf die durch die Sinne vermittelte Wirklichkeit gleichzeitig viel schärfer gestellt als bei Wolff. Kants kritische Philosophie setzt zwischen Intellektuellem und Sinnlichem eine Kluft, die fast ebenso gähnend ist wie Descartes’ berühmte Realdistinktion. In der Erstauflage der Kritik der reinen Vernunft stellt Kant fest, daß die Kategorien „nichts als die Ernst‐Otto Onnasch (Hg.), Kants Philosophie der Natur, ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung, Berlin/New York 2009 Linné zwischen Wolff und Kant 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 69 logische Funktion enthalten“, wodurch „das Mannigfaltige unter einen Begriff“ gebracht wird.38 Um diesen Dualismus von logischen Funktionen einerseits und empirischem Mannigfaltigen andererseits zu überbrücken, ist Kant genötigt, nach vermittelnden Gliedern zu suchen. In den beiden Auflagen der ersten Kritik meinte er im Schematismus einen solchen Vermittler gefunden zu haben. Das Schema, das die Regel für die Anwendung der Kategorien gibt, ist nämlich „einerseits intellectuell, andererseits sinnlich“39. Da das Schema ein Wissen darüber ist, wie man das dem Begriff entsprechende Objekt in der sinnlichen Welt konstruiert, – z. B. ist der gezeichnete Zirkel nur ein Bild des Zirkels, während das Schema ein Wissen über die Verfahrensweise ist, wie man den Zirkel konstruiert –,hat das Schema den einen Fuß in der intellektuellen und den anderen in der sinnlichen Welt. Tatsächlich kommt das Schema vor dem Bild, denn da man mit ihm die Bilder und Figuren produziert, ist es „gleichsam ein Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori, wodurch und wornach die Bilder allererst möglich werden“40. Auch wenn Kant dies nicht ausdrücklich so sagt, wird der Begriff des Schemas gegenstandlos, nähme man wie Wolff die Identität logischer und reeller Gründe an, denn es ist ja klar, daß man für logisch unmögliche Sachen (wie z. B. für einen viereckigen Zirkel) kein Schema geben kann. Ganz am Ende der Kritik der reinen Vernunft kommt Kant noch einmal auf den Schematismus zurück und verknüpft ihn, nicht unerwartet, mit der Architektonik und dem Aufbau des Systems. Die Vereinigung des empirisch Mannigfaltigen unter einer Idee, die erst gewährleistet, daß es sich um ein artikuliertes Ganzes und nicht nur um eine Anhäufung von Fakten handelt, fordert ein Schema, das gleichsam die Idee verwirklicht: „Nicht technisch wegen der Ähnlichkeit des Mannigfaltigen […], sondern architektonisch um der Verwandtschaft willen und der Ableitung von einem einigen obersten und inneren Zwecke, der das Ganze allererst möglich macht, kann dasjenige entspringen, was wir Wissenschaft nennen, dessen Schema den Umriß (monogramma) und die Eintheilung des Ganzen in Glieder der Idee gemäß, d. h. a priori, enthalten […] muß.“41. Diese Feststellung kann als 38 39 40 41 KrV KrV KrV KrV A 245. A 138/B 177. A 142/B 181. A 834 f./B 861 f. Ernst‐Otto Onnasch (Hg.), Kants Philosophie der Natur, ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung, Berlin/New York 2009 70 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Vesa Oittinen philosophische Verallgemeinerung der Prinzipien der wissenschaftlichen und besonders biologischen Klassifikation angesehen werden. Doch schon einige Jahre später macht Kant in seiner Kritik der Urteilskraft von 1790 wesentliche Korrekturen zur Doktrin der Anwendung der Kategorien, und zwar im Zusammenhang mit dem Problem der biologischen Klassifikation. Man könnte sagen, daß er um 1790 tatsächlich der Position Linnés näher gerückt ist. Bis 1787 hatte sich Kant noch damit begnügt, die Urteilskraft zu definieren als „das Vermögen[,] unter Regeln zu subsumieren“, das heißt, als ein Vermögen, „zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe, oder nicht“.42 Dabei ging Kant von der impliziten Voraussetzung aus, daß der Verstand schon das Allgemeine in seinem Besitz hat.43 1790 unterscheidet Kant dann zwei Formen der Urteilskraft. Zum einen die bestimmende Urteilskraft, die mit dem zusammenfällt was die Kritik der reinen Vernunft als Urteilskraft definierte, mithin ein Vermögen, das Besondere unter das Allgemeine zu subsumieren. Und zum anderen eine neue reflektierende Urteilskraft. Sie ist ein Vermögen, das Besondere unter ein solches Allgemeines zu subsumieren, das erst gefunden werden muß. Die reflektierende Urteilskraft geht von dem in der Natur gegebenen Besonderen aus und schreitet von dort zum Allgemeinen. Um nun diese Aufgabe erfüllen zu können, bedarf sie „eines Princips, welches sie nicht von der Erfahrung entlehnen“, mithin nur „sich […] selbst als Gesetz geben“ kann.44 Ein solches Prinzip ist das der Zweckmäßigkeit der Natur. Nun können wir nicht sagen, in der Natur herrsche tatsächlich eine solche Zweckmäßigkeit; dennoch sind wir gleichsam genötigt, unsere teleologischen Vorstellungen in die Natur hineinzuprojizieren um die Naturgegenstände als zweckmäßig bzw. organisiert zu verstehen. Dabei schärft Kant allerdings auch ein, daß wir die Ideen der reflektierenden Urteilskraft nur „zum Reflectiren, nicht zum Bestimmen“ der Naturgegenstände anwenden dürfen, d. h. wir dürfen nicht behaupten, die Natur sei an sich tatsächlich teleologisch.45 In der ersten Einleitung der dritten Kritik listet Kant Regeln und Formen auf, die zur Urteilskraft gehören: 42 KrV A 132/B 171. 43 Auf diese implizite Voraussetzung bei Kant in der KrV, hat McLaughlin 1989, 32, aufmerksam gemacht. 44 KdU „Einleitung“ iv, AA 5.180. 45 Ebd. Ernst‐Otto Onnasch (Hg.), Kants Philosophie der Natur, ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung, Berlin/New York 2009 Linné zwischen Wolff und Kant 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 71 Alle jene in Schwang gebrachte Formeln: die Natur nimmt den kürzesten Weg – sie tut nichts umsonst – sie begeht keinen Sprung in der Mannigfaltigkeit der Formen (continuum formarum) […] u. d. g. sind nichts anders als eben dieselbe transscendentale Äußerung der Urtheilskraft, sich für die Erfahrung als System und daher zu ihrem eigenen Bedarf ein Princip festzusetzen.46 Mindestens eine der hier von Kant als transzendentale Äußerung der Urteilskraft erwähnten Formeln kommt auch bei Linné vor, und zwar als eine konstitutive Idee seiner Systematik. In der Philosophia Botanica schärft Linné nämlich ein, daß man, um die natürliche Methode richtig zu verstehen, davon ausgehen müsse, daß „die Natur keine Sprünge macht“ (natura non facit saltus) und daß die Pflanzenarten dicht beieinander liegen, so daß sie ein Kontinuum ähnlich der Territorien auf einer Landkarte bilden.47 Wozu benötigt man nun diese eine neue reflektierende Form der Urteilskraft? Weil es in der Natur eine schier unendliche Vielfalt der Formen und eine so große Heterogenität gibt, daß es dem Verstande unmöglich ist, aufgrund bloß empirischer Gesetze ein System zu errichten. Um somit eine Entsprechung von Denken und Natur zustande zu bringen, ist man förmlich gezwungen, sich auf künstliche Gesetzmäßigkeiten verlassen: Der Verstand ist zwar a priori im Besitze allgemeiner Gesetze der Natur […]: aber er bedarf doch auch überdem noch einer gewissen Ordnung der Natur in den besonderen Regeln derselben, die ihm nur empirisch bekannt werden können, und die in Ansehung seiner zufällig sind. Diese Regeln […] muß er sich als Gesetze (d. i. als nothwendig) denken: weil sie sonst keine Naturordnung ausmachen würden.48 Einige Zeilen später weist Kant dann hin auf die biologische Klassifikation; der Vernunft muß, um diesen empirischen sogenannten Gesetzen nachzugehen, ein Princip a priori, daß nämlich nach ihnen eine erkennbare Ordnung der Natur möglich sei, aller Reflexion über dieselbe zum Grunde legen, dergleichen Princip nachfolgende Sätze ausdrücken: daß es in ihr eine für uns faßliche Unterordnung von Gattungen und Arten gebe; daß jene sich einander wiederum nach einem gemeinschaftlichen Princip nähern, damit ein Übergang von einer zu der anderen und dadurch zur höheren Gattung möglich sei […] Diese Zusammenstimmung der Natur zu unserem 46 KdU „Erste Einleitung“, AA 20.17. 47 Vgl. Linné, Philosophia Botanica, § 77 48 KdU „Einleitung“ iv, AA 5.184. Ernst‐Otto Onnasch (Hg.), Kants Philosophie der Natur, ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung, Berlin/New York 2009 72 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Vesa Oittinen Erkenntnißvermögen wird von der Urtheilskraft zum Behuf ihrer Reflexion über dieselbe […] a priori vorausgesetzt.49 In einer Randglosse der ersten Einleitung der dritten Kritik erwähnt Kant Linné ausdrücklich, obwohl sein Beispiel das System der Mineralien und nicht das der biologischen Organismen betrifft: Konte wohl Linnäus hoffen ein System der Natur zu entwerfen, wen er hätte besorgen müssen, daß, wen[n] er einen Stein fand, den er Granit nante, dieser von jedem anderen, der doch eben so aussehe, seiner ineren Beschaffenheit nach unterschieden sein dürfte und er also im[m]er nur einzelne für den Verstand gleichsam isolirte Dinge[,] nie aber eine Classe derselben, die unter Gattungs- und Artsbegriffe gebracht werden könten, anzutreffen hoffen dürfte? 50 Kant stellt hier also fest, daß Linné bei seiner Klassifikationen genau jenem Prinzip folgt, das er selbst reflexive Urteilskraft nennt. Es handelt sich dabei um die Annahme, die Natur selbst sei irgendeiner Technik gefolgt, dank der eine gewisse Regelmäßigkeit in den Naturprodukten zu beobachten ist, was dann die Klassifikation der Naturgegenstände möglich macht. Aber warum soll ein System ausgerechnet durch die Idee einer Zweckmäßigkeit der Natur begründet sein? Die Antwort ist einfach: Erst die Idee der Naturzwecke hebt das principle of plenitude auf. Gäbe es nämlich keine Zwecke in der Natur, so wäre alles nur ein blinder Chaos, in dem unendlich viele willkürliche Kombinationen entstünden. Ein solcher von Zufälligkeiten regierter Kosmos folgte keinem Gesetze, weshalb sich in ihm mit der Zeit alle denkbaren Kombinationen, d. h. alle denkbaren Möglichkeiten realisieren müßten. So auch bei Linné: sein systema sexuale, so künstlich es auch sein mag, ging allerdings von der an sich plausiblen Voraussetzung aus, daß die Blüten der Pflanzen das entscheidende Kriterium für die Klassifikation böten, indem sie gleichsam das Telos der Pflanze bilden, d. h. den Zweck, welchem die Pflanze gleich nach ihrem Entkeimen entgegen strebt. Ferner sollte die teleologische Hypothese (bei Linné der Gedanke, daß Gott eine endliche Menge von Pflanzengattungen und -arten geschaffen hat und damit eine endliche Menge von Teloi) das Problem der mechanizistischen Systematik ausschalten, das bei Wolff so problematisch war, sofern ja die Natur entweder alle Möglichkeiten realisieren – in diesem Falle: jede Nische des Klassifikationssystems mit einem reellen Inhalt füllen – 49 Kd, „Einleitung“ v, AA 5.185. 50 KdU „Erste Einleitung“, AA 20.215 f. (handschriftlicher Zusatz) Ernst‐Otto Onnasch (Hg.), Kants Philosophie der Natur, ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung, Berlin/New York 2009 Linné zwischen Wolff und Kant 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 73 oder auf irgendeine unerklärliche Weise sich als inkonsequent erweisen muß. Die doppelte Quelle des Linnéschen Sexualsystems (daß es sowohl opus naturae als opus artis ist) entspricht erstaunlich gut Kants Idee über die Funktionen der reflektierenden Urteilskraft. Wie die reflektierende Urteilskraft die Naturgegenstände empirisch vorfindet und zwar so, wie sie sich dem Menschen zeigen, und diese dann nach (subjektiven) Prinzipien ordnet und klassifiziert, so sieht auch der wahre Botaniker Linnés deutlich ein, daß sein System ein gemeinsames Resultat von „Natur“ und „Kunst“ ist.51 Der Gedanke Linnés ist dabei freilich der, daß sich die Kennzeichen, nach denen die Pflanzen nach Klassen und Ordnungen gruppiert werden, auch objektiv in der Natur antreffen lassen, obwohl ihre Identifizierung als wesentliche Merkmale die besondere Leistung des geübten Blicks des Botanikers, eben seine ars, ist. Kurzum: zwischen den systematischen Ideen Linnés und den Prinzipien der reflexiven Urteilskraft Kants gibt es so viele Gemeinsamkeiten, daß man gern annehmen möchte, Linné habe Kant mindestens in der Hinsicht beeinflußt, daß er mit seinen Systemen der Natur das Modell – gleichsam das „Mannequin“ – für die neuen biologischen Auffassungen in der Kritik der Urteilskraft geliefert habe, zumal ja der ansehnliche Erfolg der biologischen Wissenschaften in Kants Zeit einer Erklärung bedurfte. Auch noch im Opus postumum kommt Kant auf Linné als Beispiel eines erfolgreichen Naturwissenschaftlers zurück, obwohl er leider nicht versucht hat, sein Systema naturae genauer zu analysieren. 4. Kein Wolffianer, aber auch kein reiner Kantianer In seiner Systematik steht Linné somit Kant näher denn Wolff, sofern er die Möglichkeit einer durchgängig apriorischen logischen Deduktion ablehnt, mindestens jedoch sofern er als Naturwissenschaftler die Gattungen und Arten als gegebene Realitäten vorfindet. Allerdings kann man fragen, ob nicht auch der Meisterdenker aus Königsberg zuviel im Banne der Apriorität war. Kant war ein Philosoph und kein praktizierender Naturwissenschaftler, und es scheint, daß er nicht immer die tatsächliche „logic of discovery“ der empirischen Wissenschaften genau genug im Blick hatte. Die strikte Systematizität 51 Vgl. Linné, Philosophia Botanica, § 162 Ernst‐Otto Onnasch (Hg.), Kants Philosophie der Natur, ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung, Berlin/New York 2009 74 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Vesa Oittinen als Ideal ist in der Form, wie sowohl Wolff als auch Kant sie vorschreiben, für die meisten Naturwissenschaftler eher unattraktiv. Sogar die Mathematiker stellen die meisten ihrer Entdeckungen nicht deduktiv aus systematischen Prinzipien her, sondern so, daß sie sich auf die Lösung konkreter Probleme richten. Konnte man deshalb wirklich meinen, Linné habe in seiner wissenschaftlichen Praxis so verfahren, wie Kant es ihm unterstellt, also seine Systematik des Tier- und Pflanzenreiches aus einem obersten und innersten Zweck abgeleitet, dessen Schema das Monogramm für die Gestaltung des Ganzen enthält? Ich möchte so antworten: bei der Aufstellung (Darstellung) des Systems, ja; aber in der empirischen Forschungspraxis kaum. Sicherlich kann man, Kant folgend, von einem Monogramm des systema sexuale, von einer leitenden Idee sprechen, die in diesem Falle aus der Anzahl der Staubgefäße und Pistillen besteht. Aber Linné war sich der Beschränkung eines solchen Subsumierungsverfahrens sehr wohl bewußt. Das, was Kant das Mannigfaltige nennt, also das Material des Tier- und Pflanzenreichs und schließlich die Individuen und Ökogemeinschaften, fügt sich keiner willkürlichen Klassifizierung. Schon intuitiv ist es klar, daß gewisse Systeme deutlich naturähnlicher sind als andere (z. B. die Teilung des Pflanzenreiches in Phanerogamen und Kryptogamen – bzw. Samen- und Sporengewächse – ist, trotz ihrer Grobschlächtigkeit naturgemäßer als die alphabetische Klassifizierung nach den Anfangsbuchstaben der Pflanzennamen). Linné war sich der Tatsache bewußt, daß sein systema sexuale künstlich war und nur bedingt die wirklichen Verwandtschaftsverhältnisse der Pflanzen widergibt (zwar gibt es auch innerhalb des Sexualsystems einige ziemlich homogene und natürliche Gruppen – so gehören z. B. alle Liliengewächse zur Klasse Hexandria). Aus diesem Grunde publizierte er in verschiedenen Zusammenhängen, u. a. in seiner Philosophia Botanica, „Fragmente eines natürlichen Systems“. Diese Arbeit blieb allerdings unvollendet. Wenn es auch auf den ersten Blick klar ist, daß beispielweise Gräser, Palmen, Erbsengewächse, Kallas (Araceae) und Rohrgewächse (Umbellatae) gut definierte und leicht zu erkennende Gruppen bilden, gab es damals noch zu wenig Material, um ein allumfassendes natürliches System des Pflanzenreichs aufzubauen. Trotz seiner Künstlichkeit bot das systema sexuale ein äußerst brauchbares Raster für die Ordnung des Pflanzenreiches, inklusive der noch zu entdeckenden Arten, indem es für neue Zuführungen offen blieb. Linné war sich aber auch darüber im Klaren, daß das Sexualsystem nicht das letzte Wort der Wissenschaft bleiben konnte, weshalb es im Grunde Ernst‐Otto Onnasch (Hg.), Kants Philosophie der Natur, ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung, Berlin/New York 2009 Linné zwischen Wolff und Kant 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 75 genommen nicht ganz fair ist, ihn als einen apriorisch vorgehenden Dogmatiker hinzustellen. Was aber bildete den Ausgangspunkt für Linnés wissenschaftliche Praxis, wenn nicht das Monogramm, von dem Kant sprach? Überraschenderweise hat die Linné-Forschung bisher nicht genügend Linnés eigene Hinweise dazu beachtet. Er führt nämlich in § 163 der Philosophia Botanica den Begriff des habitus, des „Äußeren“ der Pflanzen ein und erklärt in § 168 zusätzlich: „Die Erfahrung, die Herrscherin der Sachen, errät sehr oft beim ersten Blick die Pflanzenfamilien aus ihrer äußeren Erscheinung“ (Experientia rerum magistra, primo intuitu ex facie externa, plantarum familias saepius divinat). Zwanglos stellt Linné hier klar, daß sich der Botaniker trotz aller analytischen Arbeit, trotz der Definitionen der Merkmale und der genaueren Messungen auch auf seine Intuition verlassen muß. Daß sich die eine Art von der anderen unterscheidet, sieht man oft unmittelbar „beim ersten Blick“ (primo intuitu), das heißt, man sieht es intuitiv, ohne eine vorhergehende Analyse. Kraft eines solchen intuitiven oder voranalytischen Erfassens der Arten und Gattungen erschließt der Botaniker das opus naturae. In seinen Vorlesungen, die er im Herbst 1748 in Uppsala hält, also einige Jahre vor der Abfassung der Philosophia Botanica, verwendet er statt habitus den Ausdruck facies (äußere Erscheinung) und beschreibt das ganzheitliche Einsehen des Wesens einer Gattung bzw. einer Art mit Wendungen, die einem fast ungezwungen Husserls Wesensschau in den Sinn kommen lassen: Facies ist eine Ähnlichkeit, die es zwischen Pflanzen gibt. Man kann nicht gleich sagen, worin diese Ähnlichkeit besteht; besser kann man sich sie vorstellen; wie ich bei zwei Männern sehe, daß sie einander ähneln, aber auch daß sie sich voneinander unterscheiden. Diese facies externa kommt sehr häufig bei den Pflanzen vor und ein Botaniker muß, wenn er neue Gattungen beschreibt, diesen habitum oder faciem externam konsultieren […] 52 Anschließend lobt Linné seinen Vorgänger, den schweizerischen Botaniker Caspar Bauhin (1560 – 1724) dafür, daß dieser nur dadurch, daß 52 Linné, Om botanikens grunder § 160, 2007, 291: „Facies är en likhet, som är emellan örterna. Man kan icke så just säja, hwar uti denna likheten består; man man kan bättre inbilla sig det. Såsom jag ser 2ne Karlar wara ganska lika, men jag ser ock wäl att de äro nog differente. Denna facies externa träffar mycket inn hos örterna, och bör en Botanicus, då han gör nya genera, äfwen consulera denna habitum eller faciem externam.“ Ernst‐Otto Onnasch (Hg.), Kants Philosophie der Natur, ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung, Berlin/New York 2009 76 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Vesa Oittinen er der facies externa folgte (d. h. ohne vorhergehende Analyse), mehr natürliche Gattungen als alle anderen gefunden hat und fährt fort, daß sogar ein ungelernter Bauer aufgrund des Aussehens der Pflanzen intuitiv richtige Schlußfolgerungen über ihre Verwandtschaftsverhältnisse treffen kann: Ein Bauer sagt, wenn er die Corona Imperialis [Kaiserkrone, heute Fritillaria imperialis, V. O.] sieht, daß, wenn man ihn fragt, sie eine Lilie ist; dasselbe sagt er von der Narzisse. Dies sieht er aus facies externa, obwohl er den Ausdruck nicht dafür besitzt, worin diese sich von anderen Blumen unterscheidet.53 Mit solchen Formulierungen greift Linné zurück auf die intuitive Methode der alten Herbalisten. Obwohl er auch davor warnt, daß man nicht mithilfe des habitus allein die Gattungen definieren darf,54 dürfte es auf der Hand liegen, daß die Intuition hintergründig eine weitaus größere Rolle bei der natürlichen Klassifikation spielt als Linné zugibt. Das Mannequin mag Kleider tragen, die nach dem Muster des Kantischen Monogramms geschnitten sind, gleichzeitig aber stellt es seine eigenen Gedanken darüber an, wie gut sie ihm passen. Literatur Adickes, Erich, 1924, Kant als Naturforscher, 2 Bde., Berlin. [Arnauld, Antonin, & Nicole, Pierre] 1736, Logica sive Ars cogitandi, in qua praeter Vulgares Regulas plurima Nova hebentur circa mentis operationes & methodum cogitationes suas ordine optimo dirigendi, Amstelaedami: apud J. Wetstenium et G. Smith. 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Ernst‐Otto Onnasch (Hg.), Kants Philosophie der Natur, ihre Entwicklung im Opus postumum und ihre Wirkung, Berlin/New York 2009 Linné zwischen Wolff und Kant 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 77 Fulda, Hans-Friedrich und Stolzenberg, Jürgen, 2001, System der Vernunft, in: dies. (Hgg.), Architektonik und System in der Philosophie Kants, Hamburg. Hammarsköld, Lorenzo, 1821, Historiska Anteckningar, rçrande Fortg%ngen och Utvecklingen af det Philosophiska Studium i Sverige, Stockholm: Z. Haeggström. Larson, James L., 1971, Reason and Experience. The representation of Natural Order in the Work of Carl von Linn!, Berkeley/Los Angeles/London: UCP. Larson, James L., 1978, „Kant och Linnés Systema Naturae“, in: Granit, Ragnar (red.), Utur stubbotan rot. Ess$er till 200-%rsminnet av Carl von Linn!s dçd, Stockholm: Nordstedts. Larson, James L., 1994, Interpreting Nature. 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