Kants Philosophie der Natur
Ihre Entwicklung im Opus postumum
und ihre Wirkung
Herausgegeben von
Ernst-Otto Onnasch
Sonderdruck
Walter de Gruyter · Berlin · New York
2009
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Linné zwischen Wolff und Kant.
Zu einigen Kantischen Motiven in Linnés
biologischer Klassifikation
Vesa Oittinen
Abstract: There are not yet any comprehensive analyzes on the relationship between Kant and Linnaeus. In this article, which is a first attempt to a more detailed comparison between their views, I try to show that Linnaeus was not a
systematician in the sense of the Wolffian metaphysics and that he, on the contrary, shared Kant’s doubts about the “principle of sufficient reason”. In addition, in Kant’s works on natural sciences there are some mentions of Linnaeus,
which, although seemingly made en passant only, are relevant as Kant’s own illustrations to the ways the critique of judgment functions in natural sciences. In
fact, Kant seems to have conceived Linnaeus’s successful classifications as an illustration of his own ideas concerning the faculty of reflexive judgment. To
some extent this holds true, but Kant does not always reflect enough the
fact, that Linnaeus was not only a systematician, but a practicizing naturalist,
too, for whom the empirically constatable plant genera and species were the ultimate point to start with, and were not deducible from any pre-conceived system ideas.
Seit Aristoteles, schrieb Ernst Cassirer, zeichne sich ein inniger Zusammenhang zwischen Biologie und Logik ab. Denn die Logik des
Aristoteles ist die Logik der Klassenbegriffe, also gerade das, was ein
Naturforscher nicht umgehen kann, wenn er die Formen des Pflanzenund Tierreichs versucht zu klassifizieren. Die Stellung aristotelischer
Klassenbegriffe war laut Cassirer in der Biologie des 17. und 18. Jahrhunderts „noch unerschüttert“, während in den mathematischen Naturwissenschaften schon eine Umwandlung stattgefunden hatte. Während schon seit Leibniz die Logik der Relationen gegenüber der Klassenlogik immer mehr an Bedeutung gewonnen hatte, war es in der
Biologie noch anders; doch seit „Linn!’s ,Systema naturae‘ (1735) und
in seiner ,Philosophia Botanica‘ (1751)“ hatte der Klassenbegriff „einen
der größten wissenschaftlichen Triumphe“ erlebt.1 Es war Linné gelungen, die Tier- und Pflanzenarten konsequenter als jeder vor ihm zu
klassifizieren; er hatte gleichsam den Plan Gottes entziffert. Die ge1
Cassirer 1994, 133.
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schaffene Natur teilt sich in Arten (artes), die ihrerseits Gattungen (genera) bilden und diese Klassen (classes); die Klassen bilden wiederum
noch höhere Ordnungen (ordines), bis das System endlich in die allgemeinsten, zusammenfassenden „Reiche“ gipfelt, d. h. die Regnum animale, Regnum vegetabile und Regnum minerale, welche das Ganze der
Natur umfassen.
Nach Cassirer sei Kant der erste gewesen, der diese naiv-aristotelische und von Linné unreflektiert angenommene Klassifikation in Frage
stellte:
Aber eben hier setzt nun die Frage ein, die Kant sich stellt und die er
besonders in der ersten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, die er
später wegen ihres Umfangs unterdrückt und durch eine kürzere Fassung
ersetzt hat, eingehend behandelt. Was berechtigt uns, in der Natur ein
Ganzes zu sehen, das die Form eines logischen Systems hat und das sich erst
nach Art eines solchen behandeln läßt? Woher stammt und worauf beruht
diese Harmonie zwischen den Naturformen und den logischen Formen?
Die Begriffe von Art und Klasse sind rein logische und somit apriorische
Begriffe. Daß wir diese apriorischen Begriffe auf die Erfahrung anwenden
können und daß wir sie gewissermaßen in der Erfahrung wiederfinden, ist
keineswegs selbstverständlich.
Und das Fazit:
Hier liegt eine Übereinstimmung zwischen der Natur und unserem Verstand vor, die der Metaphysiker durch die Annahme eines gemeinsamen
Ursprungs beider und einer hierdurch gegebenen „praestabilierten Harmonie“ lösen mag – die aber für den Kritiker der Erkenntnis zunächst ein
Rätsel bleibt.2
Diese Passagen Cassirers gehören zu den überraschend seltenen Versuchen, das Verhältnis Kants zu seinem älteren Zeitgenossen Linné eingehender zu analysieren. In der bisherigen philosophiegeschichtlichen
Literatur über Kants Ideen zur Systematik ist diese Problematik überhaupt nur eher beiläufig tangiert. Auch in den Monographien zur
Kantischen Philosophie der Naturwissenschaften – eine der grundlegendsten Arbeiten auf diesem Gebiet ist immer noch Erich Adickes’
Kant als Naturforscher (1924) – hat man Kants Kommentare zu Linné
gewöhnlich nicht vom Standpunkt der biologischen Systematik aus
bewertet. Von den wenigen jüngeren Ausnahmen seien hier zwei USAmerikanische Forscher erwähnt.
2
Ebd.
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Der erste, John H. Zammito, meint in seiner Studie über Kants
Kritik der Urteilskraft, Kant habe sich in dem 1775 erschienenen Aufsatz
Von den verschiedenen Racen der Menschen an die Seite Buffons gegen
Linné gestellt, indem er forderte, daß „the principle of natural science
had not to do with nominal classes but real relations“.3 In der späteren
Arbeit "ber den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie (1788)
sei Kant dann noch weiter gegangen und habe den armen schwedischen
Botaniker sogar als einen „rasche[n] Vernünftler“ gerügt, da dieser „had
fallen prey to error by taking the similarity of certain instances for a
proof of the similarity of their fundamental principles“4, – mit anderen
Worten, so darf man Zammitos Kritik wohl deuten, Linné habe übereilt
die gleiche Anzahl von Pistillen und Staubgefäßen in verschiedenen
Pflanzengattungen (was nur ein ganz formales Kriterium ist) als Beweis
ihrer natürlichen Verwandtschaft angesehen.
Prüft man aber die von Zammito angegebenen Stellen am Original,
so erweist es sich, daß Kant in beiden Passagen etwas ganz anderes sagt,
als Zammito ihm unterstellt. An der ersten Stelle spricht er tatsächlich
gegen die Verallgemeinerung der Ideen Buffons von der Naturgattung:
„Daher muß die B#ffonsche Regel, daß Thiere, die mit einander
fruchtbare Jungen erzeugen, […] doch zu einer und derselben physischen Gattung gehören, eigentlich nur als die Definition einer Naturgattung der Thiere überhaupt zum Unterschiede von allen Schulgattungen derselben angesehen werden.“ Für Kant sind aber die „SchulACHTUNGREeintheilung“ und die „Natureintheilung“ mehr oder wenig gleichberechtigte Klassifikationsprozeduren, die verschiedenen Zwecke dienen:
„Jene verschafft ein Schulsystem für das Gedächtniß; diese ein Natursystem für den Verstand: die erstere hat nur zur Absicht, die Geschöpfe
unter Titel, die zweite, sie unter Gesetze zu bringen“.5 Wenn dem so
ist, kann dies keineswegs als eine Kritik an Linné gedeutet werden, denn
der schwedische Botaniker hatte das Verhältnis verschiedener Klassifikationsprinzipien in der Tat sehr ähnlich bestimmt. Obgleich nämlich
Linnés Lebenswerk vor allem der Bearbeitung des systema sexuale galt,
gab er gleichzeitig seine „Künstlichkeit“ zu und hob hervor, daß die
natürliche Methode (methodus naturalis) der Klassifikation eigentlich das
primum und ultimum in der Botanik sei. Dementsprechend lieferte Linné
auch versuchsweise „Fragmente“ eines solchen natürlichen Systems (in
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Zammito 1992, 199 ff.
Ebd., 210.
Von den verschiedenen Racen, AA 2.429.
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der Philosophia Botanica von 1751 listet er 68 „natürliche“ Gruppen auf).
Ein endgültiges System nach natürlichen Prinzipien war jedoch Linné
zufolge damals noch nicht möglich, weil so viele Gebiete auf der Erde,
vor allem die tropischen, floristisch noch unerforscht waren: „Aber das
Erwerben weiterer Erkenntnisse wird es [das System, V.O.] vollständig
machen; denn die Natur macht keine Sprünge“6, fügt Linné hoffnungsvoll hinzu. Vorläufig müsse man sich deshalb – und zwar aus
praktischen Gründen – mit einem künstlichen System begnügen, das es
erlaubt, alle bis dahin bekannte und auch noch unbekannte Pflanzengattungen zu katalogisieren.
Was die andere von Zammito angeführte Linné-Stelle bei Kant
betrifft, so liegt auch dort keine Kritik an Linné vor. Im Gegenteil.
Kants Zielscheibe ist hier vielmehr Georg Forster, von dem er ironisch
bemerkt, daß dieser nicht konsequent genug am Prinzip Linnés festhalten kann, nämlich „des Linneischen Princips der Beharrlichkeit des
Charakters der Befruchtungstheile an Gewächsen, ohne welches die
systematische Naturbeschreibung des Pflanzenreichs nicht so rühmlich
würde geordnet und erweitert worden sein.“7 Die von Zammito zitierte
Bemerkung von dem raschen Vernünftler folgt dann einige Zeilen
später; aber auch damit ist keineswegs Linné gemeint.
Mit dieser Kritik soll freilich nicht der Wert der Studien Zammitos
geschälert werden. Daß er aber widerspruchslos (denn keiner hat bisher
etwas gegen seine Interpretation eingewendet) so etwas über Linné hat
schreiben können, deutet darauf hin, daß das Bild von Linné als einem
metaphysisch-scholastischen Biologen, der mit seinen trockenen Klassifikationen der lebendigen Natur gegenüber schließlich fremd gegenübersteht, immer noch sehr wirkungsmächtig ist. Daß Linné als Naturforscher in Widerspruch mit seinen metaphysischen Prinzipien hätte
geraten können, wird aus irgendeinem Grunde von der Forschung
kaum erwogen.
Anders als der geisteswissenschaftlich orientierte Zammito, ist der
Ideen- und Theoriehistoriker James Larson ein guter Kenner der Biologie. Er sieht ein, daß man zwischen dem philosophischen Selbstverständnis der Naturforscher und ihrer tatsächlichen „logic of discovery“
6
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Linné, Philosophia Botanica § 77: „Defectus nondum detectorum in causa fuit,
quod Methodus naturalis deficiat, quam plurium cognitio perficiet; Natura
enim non facit saltus.“
"ber den Gebrauch teleologischer Principien, AA 7.161.
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unterscheiden muß. Neben einer wichtigen Monographie8 über die
Klassifikationsprinzipien Linnés hat Larson auch einen interessanten
kleinen Aufsatz9 publiziert, in dem er die Bedeutung der Linnéschen
Systematik für das Verständnis einiger Stellungnahmen in Kants Kritik
der Urteilskraft hervorhebt. Dieser Aufsatz ist wohl der erste, in dem
gründlicher auf das Verhältnis von Kant und Linné eingegangen wird.
Nach Larson sei Linné, wie auch Kant, von der Voraussetzung ausgegangen, daß das Prinzip der Systematizität „kein Natur-, sondern ein
Denkgesetz“ ist, und daß der Unterschied zwischen beiden nur sei, daß
es sich bei der gefundenen Naturregelmäßigkeit „im System Linnés um
die Muster Gottes handelt, während Kant lediglich behauptet, daß wir
die Natur als Kunstfertigkeit bewerten und ihr unsere eigenen Ziele
vorschreiben, um imstande zu sein, über ihre Produkte zu urteilen.“10
Linnés Ansicht von der Natur ist, so hebt Larson hervor, vom „resoluten Realismus“11 geprägt, weshalb die Aufgabe des Naturforschers
lediglich ist, die in der Natur selbst schon gegebene Formvielfalt durch
eine Analyse in ihre „einfachen Bestandsteile“ aufzulösen:
Der Naturforscher isolierte […] einen Typus, ein bestimmendes Muster,
bei einer Vielfalt von Individuen, und wendet die generellen Klassen an,
um den Grund für jedes besondere Formelement herauszupräparieren. Die
Klassifizierung im Rahmen einer Hierarchie gibt in der logischen Form
den Prozeß wieder, wodurch die Natur ihre besonderen Existenzformen
spezifiziert hatte.12
Dennoch nähert m. E. auch Larson Linné zu stark dem metaphysischen
Systemdenken à la Wolff an, wenn er schreibt, Linné habe vorausgesetzt, daß „die Ordnung der Natur sich in die Form eines einheitlichen
8 Larson 1971. In der „Vorrede“ weist Larson auf die auch von mir hier anfangs
zitierte Würdigung Cassirers hin. Er bemerkt zu Recht, daß Cassirer wichtige
Aspekte der deskriptiven Praxis Linnés – im Grunde genommen seine Arbeit als
praktizierender Naturforscher überhaupt – gänzlich ausgeblendet hat: „Cassirer
concludes that Linné’s system never moves beyond the problems of mere
recognition and identification of natural objects. The flaw in this approach is
that Cassirer requires an analogy drawn between class logic and the Linnaean
system to hold in everything“. Daher sei es Cassirer zwar gelungen, die metaphysischen Präsuppositionen des Linnéschen Systems scharfsinnig bloßzulegen, aber zugleich „to do a great injustice to Linné’s descriptive science“ (ebd.,
2 f.).
9 Larson 1978.
10 Larson 1978, 104 (hier und im Verfolg meine, V.O., Übersetzung).
11 Ebd., 100.
12 Ebd., 101.
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logischen Systems kleidet.“13 Nach Larson sei „die Harmonie zwischen
Naturgegenstände und seiner [Linnés – V. O.] Begriffsbildung so offensichtlich gewesen, daß sie keinerlei Bedenken hervorzurufen
schien“:
Tatsächlich bildeten Linnés Annahmen zur Einheit der Natur das Hauptargument für die innere Logik der Methode. Er wendete zuzusagen unbewußt als Hauptargument für die Methode selbst das an, was seine Methode erst aufzeigen sollte. Damit entspringt Linnés Natursystem nicht aus
den Beobachtungen, sondern ist vielmehr Voraussetzung für seine Beobachtungen.14
Nach Larson habe Linné also die allgemeinen Systeme der Tier- und
Pflanzenreiche direkt aus irgendwelchen apriorischen logischen Prinzipien abgeleitet, und erst Kant habe Linné in dieser Hinsicht korrigiert,
indem er gegen ihn herausgestellt hatte, daß die Klassen nichts als
Produkte unserer eigenen Vernunft seien. Auch wenn Larson es nicht
direkt behauptet, läuft seine Position darauf hinaus, daß Linné, ähnlich
wie die Wolffianer, den logischen und den realen Grund miteinander
vermischt; darüber unten gleich mehr. Wie man sieht, schließt sich
auch Larson letztendlich – trotz seines größeren Verständnisses für die
Rolle der wissenschaftlichen Praxis des Naturforschers, die immer
wieder die metaphysischen Systemambitionen sabotiert – der allgemein
verbreiteten Ansicht an, die Linné als einen dogmatisch-apriorischen
Systematiker handelt.
Daß über Linnés Klassifikationen ein metaphysisches Raster liegt, ist
freilich nicht zu verneinen. Seine dicken Bände Systema Naturae, Genera
Plantarum usw. sind – zumindest in den Augen der Laien – eigentlich
nichts anderes als langweilige Kataloge. Dabei übersieht man allerdings,
daß der Archiater von Uppsala neben allen seinen Mängeln doch auch
ein Naturforscher war, für den das empirische Material immer das letzte
Wort hatte. Gerade dieser Umstand führte bei Linné dazu, daß die
Beschäftigung mit diesem empirischen Material immer wieder Breschen
in das Gebäude der metaphysischen Systematik schlug, deren Wirkung
sich auch in den höheren Etagen des Systems auswirken mußte. In der
13 Ebd., 100.
14 Ebd., 101 f.: „[I] själva verket var det Linnés antaganden om naturens enhet
som var huvudargumentet för metodens inre logik. Han använde med andra
ord omedvetet vad hans metod skulle uppvisa som huvudargument för metoden
själv. Sålunda framgick Linnés natursystem inte ur iakttagelser utan utgjorde
snarare en förutsättning för hans iakttagelser.“
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oft zitierten Vorrede zur Genera Plantarum mit dem Titel „Ratio
Operis“, die eine Zusammenfassung seiner Methode enthält, konstatiert
Linné: Es gibt so viele Arten und Gattungen, wie „das Unendliche
Wesen auf diesem Erdenglobus verschiedene und stetige Formen geschaffen hat“ (quot diversas & constantes formas in hoc globo produxit
Infinitum Ens).15 Der Satz ist berühmt und vielzitiert. Gewöhnlich hat
man ihn gedeutet als Linnés Bekenntnis zum Kreationismus, was an sich
auch stimmt, – obgleich die Rede vom Infinitum Ens eher aufklärerisch-deistische Vorstellungen als orthodoxes Christentum nahelegt.
Doch wird die Fortsetzung des Satzes meistens übersehen. Denn daraus,
daß die Arten und Gattungen von Gott geschaffen sind, folgt für Linné
ihre Natürlichkeit: „Omnia Genera naturalia sunt“; entsprechend heißt es
in seiner Philosophia Botanica, daß Arten und Gattungen immer und
unzweideutig Produkte der Natur sind: „Naturae opus semper est
Species et Genus“, dies im Gegensatz zu höheren Ordnungen des
Systems, die mehr oder weniger „artifiziell“ sind. Und dann formuliert
Linné das entscheidende methodische Prinzip: „Die Gattung und die
Art“, so schreibt er, „sind immer Werk der Natur […]; die Klassen und
Ordines sind Werk von Natur und Kunst“.16
1. Voraussetzungen der systematischen Leistung Linnés
Die von Cassirer so genannte enigmatische „Übereinstimmung zwischen der Natur und unserem Verstand“ hat Kant in seiner kritischen
Philosophie auf mehreren Niveaus zu enträtseln versucht. Die Forderung, die Natur in systematischer Form darzustellen, deutet Kant in
seiner ersten Kritik im Sinne der „kopernikanischen Wende“. Vor allem
handelt es sich dabei darum, daß die menschliche Vernunft ihren
Stempel in die Naturgegenstände drückt. Wir können nämlich nicht
sagen, die Natur sei an sich systematisch oder gliedere sich selbst nach
den für unser Erkennen notwendigen kategorialen Formen. Es ist
vielmehr die menschliche Vernunft selbst, die „ihrer Natur nach architektonisch“ ist, das heißt, die „alle Erkenntnisse als gehörig zu einem
15 Linné, Genera Plantarum, „Ratio Operis“, x.
16 Linné, Philosophia Botanica, § 162: „Naturae opus semper est Species et Genus;
culturae saepius Varietas; naturae & artis Classis & Ordo.“
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möglichen System“ betrachtet.17 So findet die Vernunft ihre eigene
Ordnung auch in der Natur.
Diese Architektonik, so fährt Kant andernorts fort, ist „Kunst der
Systeme“ und dadurch „die Lehre des Scientifischen in unserer
Erkenntniß überhaupt“18. Diese Kunst gelingt unter der Voraussetzung,
daß das Ganze unter eine organisierende Idee gebracht wird.19 Der
Gegensatz zur architektonischen Annäherungsweise ist die technische,
womit Kant die empirische, „nach zufällig sich darbietenden Absichten“
entworfene Einheit meint.20
Als Kant diese Klassifikationsprozeduren beschrieb, hatte er offenbar
die Systeme zeitgenössischer Wissenschaft im Visier, von denen die
biologische Klassifikation Linnés ein Paradebeispiel bot. Gerade die
Systeme Linnés (denn er hatte mehrere, je gegenstandsspezifisch im
Pflanzen- Tier- und Mineralreich, im Pflanzenreich unterschied er
neben dem künstlichen Sexualsystem auch ein – zwar fragmentarisches
– „natürliches“ System) gingen ja davon aus, daß jede Wissenschaft ihre
eigene Leitidee, ihr eigenes Ordnungsprinzip habe, wonach das Material
der jeweiligen Wissenschaft klassifiziert werden könne. Denn erst wenn
eine solche Klassifikation gelungen ist, könne man von einer Wissenschaft im strengen Sinne des Wortes sprechen.
Eine genauere Lektüre der Werke Linnés zeigt, daß seine Ansichten
über die Systematik nicht so „naiv-aristotelisch“ (lies: vorkantisch) sind,
wie Cassirer anzunehmen scheint. Kant hatte der weniger wissenschaftlichen – also naiveren – technischen Organisation die höhere,
architektonische gegenüberstellt. Linné nimmt jedoch ganz ähnliche
Unterscheidungen am Anfang seiner Philosophia Botanica (1751) vor,
wenn er nämlich zu bestimmen sucht, was eine „richtige“, d. h. wissenschaftliche Botanik ausmacht. Dazu nimmt er die Methode der
Dihairesis zur Hilfe. Die Auctores, die über Botanik geschrieben haben,
sind entweder bloße „Botanophile“, oder Botaniker, die den Pflanzen
verständliche Namen geben können (vgl. ebd. § 6). Die letztgenannten
wiederum teilen sich entweder in Sammler oder in Methodiker (§ 7).
Die Methodiker wiederum teilen sich in verschiedene Gruppen, von
denen die wichtigste die der Systematiker ist (§§ 18 u. 24). Die Systematiker sind weiter unterteilt nach „Heterodoxen“, die ihre Klassifizie17
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Vgl.
KrV
Vgl.
KrV
KrV A 474/B 502.
A 832/B 860.
KrV A 326 f./B 383 und A 321/B 378.
A 833/B 861.
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rungen auf fehlerhaft gewählten Kennzeichen gründen (die „Alphabetaren“ begnügen sich damit, die Pflanzen nach der alphabetischen
Namensordnung zu verzeichnen, die „Rhizotomen“ klassifizieren diese
nach den Wurzelformen, die „Phyllophilen“ nach der Form und Größe
der Blätter, die „Topophilen“ nach dem Wachstumsort, die „Empiriker“ nach dem medizinischen Gebrauch usw., vgl. § 25), und nach
„Orthodoxen“, die die Pflanzen nach richtig gewählten Kennzeichnen,
d. h. nach der Blüte und Frucht (fructificatio) 21 klassifizieren. Aber auch
dieses Klassifikationsresultat ist unzureichend. Linné lehnt nämlich
solche „Fructisten“ ab, die die reife Frucht als Klassifikationsprinzip
zugrundelegen (§ 28), aber auch die „Corollisten“, die die Zahl und
Form der Kronenblätter (corollae) der Blumen zum Ordnungsprinzip
machen (§ 29). Die einzige völlig adäquate Klassifikation gründet sich
auf der Zahl der Pistillen (Blütenstempeln) und Staubgefäße, die den
Ausgangspunkt für Linnés eigenes systema sexuale bildet (§ 31). Mit
anderen Worten, die Struktur der pflanzlichen Geschlechtsorgane gibt
die Leitidee oder, Kantisch gesprochen, das architektonische Prinzip,
worauf die Vernunft sich stützt, wenn sie beginnt, die in der Erfahrung
gegebene Mannigfaltigkeit zu organisieren und systematisieren.
Was Kant aber nicht in Betracht zu ziehen scheint, ist, daß die
systematische Leistung Linnés eine vorausgehende Analyse der schier
unübersichtlichen Vielfalt der organischen Welt voraussetzt, – eine
Analyse, der der größte Teil der Philosophia Botanica gewidmet ist. Es
versteht sich ja von selbst, daß eine konsequente Klassifikation erst dann
möglich ist, wenn man sich darüber im Klaren ist, welche Kennzeichen
(characteres) überhaupt als Kriterien der Klassifizierung taugen. So nehmen die Definitionen und Beschreibungen der verschiedenen Teile der
Pflanzen und Tiere den weitaus größten Teil des systemphilosophischen
Werks Linnés ein: Das heißt, welche Blattformen es gibt (runde, ovale,
geteilte usw.), was die verschiedenen Teile der Blume (calyx, corolla,
stamina, pistillum usw.) oder was die verschiedenen Typen der Früchte
(Beere, Nuß, Schote, Hülse usw.) sind. Die so durchgeführte Analyse
hat eine Vielzahl elementarer Kennzeichen zum Resultat. Erst durch die
Kombination dieser als Ergebnis der analytischen Zerlegung gefundenen
und definierten Kennzeichen (oder auch durch die Feststellung ihrer
21 Im botanischen Latein scheint man damals mit dem Begriff fructificatio sowohl
die Blüte (flos) als auch die Frucht (fructus) gemeint zu haben. Das ist insofern
konsequent, weil sie verschiedene Entwicklungsstadien desselben Organs sind.
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Abwesenheit, des Nullwerts) gelingt es nach Linné, die Arten und
Gattungen exakt zu beschreiben.
Linné folgt somit der klassischen zweiteiligen Bewegung der Methode, die für die Wissenschaften der frühen Neuzeit überhaupt maßgeblich war. Beschrieben ist sie von Antoine Arnauld und Pierre Nicole
in ihrer Logique de Port-Royal im Anschluß an Descartes. Nach dieser
Methode findet zuerst eine Analyse oder „Resolution“ statt, durch
welche der Untersuchungsgegenstand in seine Elemente aufgelöst wird.
Anschließend folgt eine Synthese bzw. „Komposition“, kraft der die
durch Analyse gewonnenen Elemente in größere systemische Einheiten
geordnet werden.22 Dieses cartesisch-rationalistische Methodenverständnis gerät allerdings seit Christian Wolff in den Hintergrund zugunsten der „mathematischen Methode“.23 Kant hat diese Tendenz
fortgesetzt, indem er die mathematische Naturwissenschaft für methodisch verbindlich erklärte. Kants Meinung über die Methodenfrage in
den Naturwissenschaften war bereits in der vorkritischen Phase deutlich
antimetaphysisch, sofern er nämlich jede Form von Essentialismus ablehnte. Er hatte sich schon früh dem Phänomenalismus Newtons angeschlossen, dieser hatte nämlich genau wie übrigens auch Kant später
bestritten, daß es in der Natur Wesenheiten gebe.
Für die Physik paßt der Anti-Essentialismus gut, auf dem Gebiet der
Klassifikation und Systematik der Naturgegenstände wird die Sache
allerdings problematischer. Denn um Individuen zuerst in Arten, diese
wiederum in Gattungen und höheren Einheiten einreihen zu können,
drängt sich geradezu eine Idee dessen auf, was wesentlich und was
unwesentlich bzw. primär und sekundär ist. Aus diesem Grunde wun22 Die Methode ist nach Arnauld und Nicole nichts als „[a]rs bene disponendi
seriem plurimarum cogitationum“, und diese „Gedankenreihen“ können entweder auf das Finden eines noch Unbekannten oder auf die Demonstration des
schon Bekannten zielen. Daher die Doppelheit der Methode: „Methodus itaque duplex est; vel enim veritatem invenit, estque Analysis sive methodus resolutionis, quae dici poterit Methodus inventionis; vel inventam docet, & est synthesis, sive methodus compositionis, quae & appellari potest methodus doctrinae
tradendae.“ (Arnauld/Nicole, Logica sive Ars cogitandi, iv,2, 1736, 336).
23 So schreibt Engfer 1986, 55: „Tatsächlich ist in den frühen philosophischen
Schriften Wolffs und in seinen zentralen Äußerungen zur Methodenfrage von
[…] Differenzierungen zwischen analytischer und synthetischer Methode und
der erfindenden und beweisenden Funktion nicht die Rede: Wolff spricht
regelmäßig nur von einer philosophischen oder wissenschaftlichen Methode“,
die in allen seinen wichtigsten Schriften „ausdrücklich mit der mathematischen
Methode identifiziert“ wird.
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dert es auch nicht, daß der Essentialismus in Linnés Methode der
Klassifikation noch eine wichtige Rolle spielt. Nach der kritischen
Analyse, wo Linné den vorgefundenen, noch chaotisch und ungegliedert scheinenden Forschungsgegenstand in seine einfachen Bestandteile
zerlegt – wobei er nicht vergißt, die Vorurteile und Tollheiten seiner
Vorgänger abzuweisen –, schreitet er zur Phase der Synthese, wo der
Essentialismus wiederhergestellt wird. Wie wir sahen, nimmt Linné die
Zahl der Pistillen und Staubgefäße als grundlegendes Klassifikationsprinzip, weil er diese für ein wesentlicheres (essentielleres) Kennzeichen
hält als z. B. die Blattform oder die medizinischen Eigenschaften der
Pflanze. Den Essentialismus Linnés kann man ähnlich wie bei Andrea
Caesalpino (1519 – 1603) – dem großen italienischen Vorgänger Linnés
– aristotelisch nennen. Caesalpino hatte in seiner bahnbrechenden Arbeit De plantis (1583) die fructificatio zum Klassifikationsprinzip gemacht
und zwar mit der Begründung, daß die ganze Pflanze von Anfang an,
d. h. schon wenn sie beginnt zu keimen, gleichsam danach strebt,
Blumen und Früchte zu produzieren. Die fructificatio, als Telos der
Pflanze, war somit für Caesalpino das Wesentlichste. Man könnte sagen,
daß die große systematische Aufgabe, die sich Linné zum Lebenswerk
gemacht hatte – nämlich die Klassifikation aller Formen des Lebens, vor
allem des Pflanzenreiches –, allein aus praktischen Gründen – Arten,
Gattungen und Familien müssen nämlich etwas Wesentliches zum
Ausdruck bringen –24, sein naturwissenschaftliches Methodenverständnis im Banne der älteren, essentialistischen Metaphysik hielt. In dieser
Hinsicht besteht natürlich kein Zweifel darüber, daß Kant „moderner“
als der Uppsalaer Archiater war.
Andererseits aber stand Kant gerade in den Fragen der Systematik
der metaphysischen Tradition näher als sonst in seiner Philosophie.
Kants Ideen zur Systematik können überhaupt nicht adäquat verstanden
werden, wenn man den Einfluß und das Problembewußtsein seines
Vorgängers Christian Wolff ausblendet. Während die Vernunftkritik das
radikale Novum in Kants Philosophie darstellt, ist die Theorie des Architektonischen in vielerlei Hinsicht den Fragestellungen des Wolffischen Rationalismus verbunden. Dies haben m. E. durchaus zu Recht
zuletzt Hans-Friedrich Fulda und Jürgen Stolzenberg in der Einleitung
des von ihnen herausgegebenen Sammelbands zur Systematik bei Kant
24 Anders gesagt, die essentialistische Idee des Wesens war damals und später,
vielleicht bis zur Entstehung der modernen Genetik, ein notwendiges Werkzeug für die Klassifikation.
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hervorgehoben; Kant habe nämlich „im Ambiente des AufklärungsEklektizismus seiner Zeit die Systematizitätsforderungen der Schulphilosophie [sprich: des wolffischen Rationalismus, V. O.] nicht nur verteidigt, sondern extrem verschärft“.25 Man braucht nur an die lobenden
Worte über den „berühmten Wolff, des größten unter allen dogmatischen Philosophen“ in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der
reinen Vernunft zu erinnern,26 um einzusehen, daß auch der kritische
Kant den Systemanspruch des älteren Rationalismus noch für verbindlich hielt.
Allerdings gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen dem
Systembegriff Kants und dem seines Vorgängers Wolff. Es ist eben der
Unterschied, der sich auf das oben von Cassirer formulierte Problem
von der „Übereinstimmung zwischen der Natur und unserem Verstand“ bezieht. Denn für Wolff hatte dieses Problem eine ganz andere
Gestalt. Der Hallenser Weltweise ging bei der Grundlegung seiner
Ontologie aus von der Intention, die schon von Leibniz unterschiedenen zwei Formen der Wahrheit, nämlich die v!rit!s de raison und v!rit!s
de fait auf eine gemeinsame ontologische Grundlage zu stellen. Um ihr
Verhältnis zueinander zu klären, kam er zur Formulierung des Prinzips
des zureichenden Grundes (principium rationis sufficientis). Dieses Prinzip
besagt, daß eine bloße logische Notwendigkeit (Vernunftwahrheit, d. h.
Widerspruchslosigkeit) noch nicht Grund dafür ist, daß etwas existiert,
vielmehr erfordert die Realisierung einer Möglichkeit einen hinsichtlich
des bloß logischen Grundes zusätzlichen, nämlich zureichenden Grund.
So formuliert, mußte aus diesem Prinzip sofort ein Sorgenkind des
Wolffischen Systems werden. Unglücklicherweise erwies sich nämlich
Wolffs Definition des zureichenden Grundes für die Existenz eines
Dinges als zweideutig. In seiner Deutschen Metaphysik gibt er folgende
Definition: „[S]o muß alles, was ist, seinen zureichenden Grund haben,
warum es ist, das ist, es muß allezeit etwas seyn, daraus man verstehen
kan, warum es würklich werden kan“.27 Die Ambivalenz steckt in der
Formulierung „daraus man verstehen kan“, denn sie kann zweierlei
25 Fulda/Stolzenberg 2001, 17.
26 KrV B xxxvi ff.
27 Wolff, Vern#nftige Gedanken von den Kr$ften des menschlichen Verstandes, § 29,
1719, 16 f.
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bedeuten: Entweder ist der Grund die objektive Sachlage selbst oder
aber unsere Idee der Sachlage.28
Im System Wolffs ließ sich der Grund der Existenz der Dinge sowohl als logischer Grund als auch als Realgrund deuten, was letzten
Endes in die äußerst problematische, aber für Wolff typische Assertion
gipfelt, die Metaphysik (Ontologie) sei eine ähnliche Realwissenschaft
wie die Mathematik, Physik oder die anderen Naturwissenschaften.
Anders ausgedrückt: Man kann von einer vernunftbegründeten Ordnung der Ideen a priori schlußfolgern, wie die Sachlage in der realen
Welt sein soll. Kants kritische Wende bestand dann bekanntlich darin,
die von Wolff so hoffnungslos vermengten logischen und reellen
Gründe scharf voneinander zu unterscheiden. Die logischen Gründe
erkennt man nach Kant a priori, wohingegen man auf die Möglichkeit
der Realgründe nicht a priori, d. h. aus bloßen Begriffen schließen
kann.29
2. Linné ein Wolffianer?
Wenn Linné also weniger modern und mehr metaphysisch war als Kant,
könnte man ihn dann als Wolffianer charakterisieren? Nimmt man das
bis heute gängige populäre Bild von Linné als einen dogmatischen
Klassifizierer, der sich vor allem darum bemühte, die Natur in ein
künstliches System zu pressen, so liegt es nahe, in ihm, wenn nicht
direkt einen Wolffianer, so doch einen Geistesverwandten erkennen zu
wollen. Einige haben Linné tatsächlich als Wolffianer ausgegeben,30
andere dagegen sind vorsichtiger, obgleich auch sie gewisse Ähnlichkeiten hinsichtlich des „System-Eifers“ zwischen Linné und Wolff
meinten feststellen zu müssen.31 Fest steht allerdings, daß Linné Wolff
28 Eine andere mögliche Formulierung dieser Zweideutigkeit wäre: Liegt der
zureichende Grund auch dann vor, wenn es keinen Menschen (bzw. kein
anderes bewußtes Wesen) gäbe, der durch ihn die Existenz irgendeiner Sache
begreift?
29 Vgl. KrV A 558/B 586.
30 So z. B. schon Lorenzo Hammarsköld in seiner Geschichte der schwedischen
Philosophie: „[…] ehuru den berömdaste och namnkunnigaste af Sveriges
lärde, den stora Carl von Linné, i uppställningen af sitt systema Naturae, synbarligen enligt Wolffianska åsigter förfarit […]“ (1821, 207 f.)
31 So Tore Frängsmyr 1972, 155 f., in seiner wichtigen Studie über den schwedischen Wolffianismus. Er gibt zuerst zu, daß es „ein äußerst verlockender
Gedanke ist, daß Linné bei der Aufstellung seines Sexualsystems und hin-
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niemals zitiert oder auch nur auf ihn hinweist, obwohl es angesichts des
damaligen intellektuellen Klimas in Schweden auch unwahrscheinlich
ist, daß er Wolff und seine Philosophie nicht kannte.
Doch kann man die Frage nach dem Wolffianismus Linnés auch
anders als rein ideengeschichtlich (d. h. als Nachweis eines Einflusses)
stellen. Man kann nämlich auch philosophisch fragen, ob Linné in seiner
wissenschaftlichen Praxis die Grundvoraussetzungen der Wolffischen
Ontologie teilte. Genauer formuliert, war Linné der Ansicht, daß in der
Wissenschaft der logische Grund (der Erkenntnisgrund) und der
Realgrund tatsächlich zusammenfallen? Linnés Aristotelismus braucht
nicht im Widerspruch mit seinem möglichen Wolffianismus gewesen zu
sein, denn ähnlich wie Wolff, scheint ja auch Aristoteles den realen und
logischen Grund miteinander vermischt zu haben.32
Eine genauere Analyse des Linnéschen Œuvres wird zeigen, daß, so
verwandt Linné und Wolff einander in ihrer Vorliebe für das Systematische auch immer gewesen sein mögen, bei der Beantwortung der
ontologischen Grundfrage nach dem principium rationis sufficientis scheiden sich ihre Geister. Diese Schlußfolgerung muß sich einem schon
beim Durchblättern der systematischen Werke Linnés aufdrängen. So ist
das Pflanzenreich z. B. in Genera Plantarum oder Species Plantarum
sorgfältig in verschiedene Gruppen, Gattungen und Arten eingeteilt.
Vor allem die Anwendung des künstlichen systema sexuale auf das empirische Material des Pflanzenreiches macht das Hauptproblem der
sichtlich seiner allgemeinen Klassifikation Eindrücke von Wolff erhalten habe,
weil ja auch dessen ganze Philosophie von einer äußeren Systematik dominiert
ist […] Es ist aber schwer, hierüber etwas Genaueres zu sagen, weil wir keine
direkten Zeugnisse zum Ausgangspunkt haben“; nach einigen Überlegungen
kommt Frängsmyr dann zu dem Schluß, daß es zwischen Linné und Wolff
wohl höchstens nur eine Verwandtschaft im „Zeitgeist“ gebe: „Wenn auch die
erste Inspiration von Wolff ausgegangen sei, hat Linnés eigene Charakter bald
die Überhand genommen. Hätte er eine tiefere Verwandtschaft mit Wolff
gefühlt, hätte er sie bestimmt wenigstens einmal erwähnt. Das tat er nicht.
Übrig bleiben die Ähnlichkeiten, die wenigstens dartun, daß Wolff und Linné
in derselben intellektuellen Epoche lebten.“ (Meine Übersetzungen, V.O.)
32 So muß man urteilen, wenn man die Stelle am Anfang des 1. Buches der
Analytica posteriora liest, wo der Stagirit schreibt: „Wir denken, daß wir von der
Sache wissen […] wenn uns klar ist, daß die Ursache, weshalb die Sache ist,
gerade die Ursache dieser Sache ist und daß dies nicht anders sein kann“ (71b
10 – 13). Hier scheint nämlich ebenfalls die Ursache (aQt¸a), warum eine Sache
oder ein Ding existiert (di’ Fm t¹ pq÷cl² 1stim), mit der logischen Notwendigkeit gleichgesetzt zu werden, daß es nicht anders sein kann (lµ 1md´weshai
toOt’ %kkyr 5weim).
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Wolffischen Ontologie augenscheinlich und demonstriert, daß sie trotz
ihres szientifischen Anspruchs für die wissenschaftliche Praxis kaum
taugen kann. Im Linnéschen System wird das Pflanzenreich (die Blütenpflanzen, da sich Linné für Kryptogame weniger interessierte) in 24
Klassen nach der Anzahl der Pistillen und Staubgefäße eingeteilt. Linné
wendet dazu ein apriorisches Schema an, wobei sich unmittelbar zeigt,
daß nicht alle logischen Möglichkeiten dieses Schemas im System realisiert werden. Tatsächlich variiert die Anzahl der Gattungen und Arten
in den verschiedenen Kolumnen beträchtlich, ohne daß sich dafür eine
Ursache geben ließe.
So listet Linné z. B. in Genera Plantarum in der ersten Unterabteilung
Monogynia (Blüten mit einer Pistille) der Klasse Pentandria (Blüten mit
fünf Staubgefäßen) 238 Gattungen, u. a. Heliotropen, Zyklamen, Vergißmeinnicht, Efeu, Weinranken, Bittersüß usw., während es in der
folgenden Unterabteilung Digynia (Blüten mit zwei Pistillen) nur 72
Gattungen gibt (u. a. die Ulmen, Gänsefüßchen, Enzian, die meisten
Rohrgewächse oder Umbellatae). In der Unterabteilung Tetragynia (mit
vier Pistillen) gibt es nur zwei Gattungen. Und noch bedenklicher ist,
daß in manchen Klassen nur ein paar Unterabteilungen realisiert sind,
während die anderen leer sind. So gibt es in der Klasse Monandria
(Blüten mit einem Staubgefäß) nur die Unterabteilungen Monogynia und
Digynia, während die vom System vorhergesehenen anderen Abteilungen leer sind. In der Klasse mit sechs Staubgefäßen, Hexandria, z. B.
gibt es die Unterteilungen für 1, 2, 3, 4 und viele Pistillen, während die
Abteilung für 5 Pistillen leer ist.33
Diese Diskrepanz zwischen der logisch möglichen und der in der
Natur tatsächlich vorfindlichen Pflanzengattungen zeigt sich auch noch
an andere Stelle als bei der Anwendung der 24 Kategorien des systema
sexuale auf die Realität der Pflanzenwelt. In seiner Philosophia Botanica
stellt Linné an einer Stelle die kleine, aber äußerst interessante Kalkulation an, auf wie viele mögliche Weisen die Kennzeichen, derer man
sich bei der Klassifikation der Pflanzen bedient, kombiniert werden
können. Die Staubgefäße bestehen aus drei Teilen, ebenfalls die Pistil33 Ich benutze für meine Komputation die von J. J. Reichard besorgte Ausgabe
der Genera Plantarum, Frankfurt/M. 1778. Linné führte allerdings zu jeder
neuen Auflage weitere Arten und Gattungen hinzu, obwohl das Gesamtbild der
ungleichmäßigen Verteilung dadurch nicht verändert wurde. Im Gegenteil, die
Anhäufung von neuem Material machte noch offensichtlicher, daß die Natur
gewisse Lücken überhaupt nicht füllt.
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Tabelle der Einteilung der Gattungen nach dem Systema sexuale.
Monandria
Diandria
Triandria
Tetrandria
Pentandria
Hexandria
Monogynia: Monogynia: Monogynia: Monogynia: Monogynia: Monogynia:
11
29
28
60
137
55
Gattungen
Gattungen
Gattungen Gattungen Gattungen Gattungen
Digynia:
Digynia:
Digynia:
4
1 Gattung
28
Gattungen (Anthoxanthum) Gattungen
Digynia:
6
Gattungen
Digynia:
69
Gattungen
Digynia:
2
Gattungen
Trigynia:
0
Gattungen
Trigynia:
1 Gattung
(Piper)
Trigynia:
10
Gattungen
Trigynia:
0
Gattungen
Trigynia:
15
Gattungen
Trigynia:
9
Gattungen
Tetragynia:
0
Gattungen
Tetragynia:
0
Gattungen
Pentagynia:
0
Gattungen
Pentagynia:
0
Gattungen
Tetragynia: Tetragynia: Tetragynia: Tetragynia:
0
6
2
1
Gattungen Gattungen Gattungen
Gattung
(Petiveria)
Pentagynia: Pentagynia: Pentagynia: Pentagynia:
0
0
9
0
Gattungen Gattungen Gattungen Gattungen
Polygynia:
0
Gattungen
Polygynia:
0
Gattungen
Polygynia:
0
Gattungen
Polygynia:
0
Gattungen
Polygynia:
1 Gattung
(Myosurus)
Polygynia:
1 Gattung
(Alisma)
In der Tabelle sind nur die 6 ersten Klassen Monandria bis Hexandria (Blumen
mit 1 bis 6 Staubgefäßen) von insgesamt 24 gezeigt. Jede Klasse teilt sich wiederum in Unterabteilungen nach der Anzahl der Pistillen (1 Pistille: Monogynia, 2
Pistillen: Digynia usw.). Wie man sieht, variiert die Zahl der Gattungen in jeder
Klasse und jeder Unterabteilung beträchtlich, ohne daß es einen logischen
Grund dafür gäbe. Die apriorische Klassifikation, auf lebendiges Pflanzenmaterial angewandt, gibt demnach ein in dieser Hinsicht ganz willkürliches Resultat,
das Linné einzig damit erklären konnte, daß es Gott gefallen hat, so und so viele
Gattungen in jeder Nische zu schaffen. – Die Aufzählung aller Gattungen beim
Namen (hier nicht gezeigt) würde außerdem das interessante Resultat zeigen,
daß das künstliche und das natürliche System sich teilweise decken: z. B. alle
Liliengewächse gehören zur Klasse Hexandria und deren Unterabteilung Monogynia, da sie alle 6 Staubgefäße und eine Pistille haben; die Klasse Pentandria
mit der Unterabteilung Digynia wiederum besteht meistens aus Umbellaten (Kerbel,
Pastinake usw.). Aber auch hier gibt es Ausnahmen. So trifft man in der Gruppe der
Lilien auch z. B. Bromelien.
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len, von den Kronblättern gibt es sieben Variationen und nimmt man
außerdem die mögliche Anzahl der verschiedenen Teile in Betracht,
ergibt das 5736 möglichen Kombinationen.34 Das heißt, kombiniert
man mechanisch alle Kennzeichen, die zur Bestimmung der Pflanzengattung nötig sind, ergeben sich 5736 Gattungen. Linné kommentiert
seine Berechnungen nun damit, daß all diese Gattungen „nicht existieren“ können. Es gibt also einen Unterschied zwischen logisch
Möglichem und wirklicher Existenz.
Das Fazit ist also, daß man nicht mechanisch und im Voraus ausrechnen kann, wie viele Pflanzen- oder Tiergattungen es in der Natur
tatsächlich gibt. Die Empirie redet hier das letzte Wort. Linné selbst
hatte auf die Frage, warum es viel weniger wirklich existierende Arten
und Gattungen gibt als nach den logischen Kombinationen der Kennzeichen möglich wären, eine einfache Antwort: Der Gott bzw. das
Infinitum Ens, wie in der „Ratio Operis“ zur Genera Plantarum formuliert wird, hat es gut gefunden, nur die Gattungen und Arten zu
schaffen, die es in der Welt tatsächlich gibt, weder mehr noch weniger.35
Ganz unabhängig von der persönlichen Religiosität Linnés36 hat
Gott hier für die Begründung der Naturwissenschaft eine durchaus
antimechanistische Funktion: Er sorgt nämlich dafür, daß sich unter
allen logisch denkbaren nur gewisse Möglichkeiten realisieren, oder,
übersetzt in Wolffs Terminologie, Gott gibt die ratio sufficiens aller Arten
und Gattungen an. Gäbe es nicht diese von Gott durchgeführte vorgängige Auslese, würden alle Möglichkeiten des Systems sich realisieren.
Es würde sich mit anderen Worten das principle of plenitude 37 bewähren,
weshalb sich die leeren Nischen des biologischen Klassifikationssystems
früher oder später auf mechanische Weise füllen müßten.
34 Vgl. Linné, Philosophia Botanica, § 167.
35 Linné, Genera Plantarum, „Ratio Operis“, x: „Species tot sunt, quot diversas &
constantes formas in hoc globo produxit Infinitum Ens […] Ergo Species tot
sunt, quot diversae formae seu structurae Plantarum, reiectis istis, quas locus vel
casus parum differentes (Varietates) exhibuit, hodienum occurunt“.
36 Die grundlegende Untersuchung ist immer noch Malmeström 1926, in der vor
allem die Bedeutung der Handschrift Nemesis Divina für das Verständnis von
Linnés Persönlichkeit hervorgehoben wird.
37 Dieses Prinzip, das auf diese ausdrückliche Weise wohl zuerst von Arthur
Lovejoy formuliert wurde, besagt, daß, wenn eine Möglichkeit eine reelle
Möglichkeit ist, sie sich früher oder später realisieren muß. Eine Illustration
dieses Prinzips ist u. a. die Bibliothek von Babel, wie Jorge Luis Borges sie
beschrieben hat.
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Aber auch dann, wenn wir Gott beiseite lassen, ist es offensichtlich,
daß Linné in seiner Systematik einen Unterschied zwischen den reellen
und logischen Gründen macht. Er wendet nämlich nicht, wie man gemeinhin unterstellt, reine apriorische Prinzipien zur Klassifikation des
Tier- und Pflanzenreiches an. Sein Apriorismus greift, wenn überhaupt,
nur für die höheren Ordnungen. Die Gattungen und Arten dagegen
sind nat#rlich, das heißt, der Botaniker findet sie vor. Und auf diesem
Niveau kommt alles auf die Erfahrung an. Erst auf den höheren Etagen
des Systems spielt die menschliche Kunst (ars) ihre Rolle, da die
Gruppierungen immer mehr von dem „inneren Auge“ des sie ordnenden Systematikers abhängig werden. Gerade dadurch, daß das
künstliche System auf dem Sockel der natürlichen Arten und Gattungen
ruht, entsteht der Widerspruch, daß das System so viele leere, d. h.
funktionslose Nischen enthält. Aber auch hier ist das System nicht ganz
arbiträr und willkürlich. Im Gegenteil, auch das beim ersten Blick so
mechanische Sexualsystem widerspiegelt zuweilen überraschend gut die
natürlichen Gruppen; so haben z. B. alle Liliengewächse ausnahmslos
sechs Staubgefäße, gehören somit insgesamt zur Klasse Hexandria.
3. Das System Linnés als ein „Mannequin“ der reflektierenden
Urteilskraft
Wenn also Linné hinsichtlich seiner Systematik kein Wolffianer war,
scheint es Gründe zu geben, ihm Kant und seinem Wissenschaftsverständnis anzunähern, – schließlich hat ja auch Kant, wie wir sahen, auf
den schwedischen Botaniker mehrere Male anerkennend und als Stütze
seiner eigenen Ansichten hingewiesen. Mit Fragen der Systematik hat
sich Kant während seines Schaffens mehrere Male eindringlich auseinandergesetzt, und es scheint, daß er zu keinem irgendwie endgültigen
Resultat gekommen ist, das ihn befriedigte.
Wegen der gegen die Anmaßungen einer angeblich wissenschaftlichen Metaphysik gerichteten Kantischen Unterscheidung von logischen
und reellen Gründen wird das Problem der Anwendung der Kategorien
auf die durch die Sinne vermittelte Wirklichkeit gleichzeitig viel
schärfer gestellt als bei Wolff. Kants kritische Philosophie setzt zwischen
Intellektuellem und Sinnlichem eine Kluft, die fast ebenso gähnend ist
wie Descartes’ berühmte Realdistinktion. In der Erstauflage der Kritik
der reinen Vernunft stellt Kant fest, daß die Kategorien „nichts als die
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logische Funktion enthalten“, wodurch „das Mannigfaltige unter einen
Begriff“ gebracht wird.38 Um diesen Dualismus von logischen Funktionen einerseits und empirischem Mannigfaltigen andererseits zu
überbrücken, ist Kant genötigt, nach vermittelnden Gliedern zu suchen.
In den beiden Auflagen der ersten Kritik meinte er im Schematismus
einen solchen Vermittler gefunden zu haben. Das Schema, das die
Regel für die Anwendung der Kategorien gibt, ist nämlich „einerseits
intellectuell, andererseits sinnlich“39. Da das Schema ein Wissen darüber
ist, wie man das dem Begriff entsprechende Objekt in der sinnlichen
Welt konstruiert, – z. B. ist der gezeichnete Zirkel nur ein Bild des
Zirkels, während das Schema ein Wissen über die Verfahrensweise ist,
wie man den Zirkel konstruiert –,hat das Schema den einen Fuß in der
intellektuellen und den anderen in der sinnlichen Welt. Tatsächlich
kommt das Schema vor dem Bild, denn da man mit ihm die Bilder und
Figuren produziert, ist es „gleichsam ein Monogramm der reinen
Einbildungskraft a priori, wodurch und wornach die Bilder allererst
möglich werden“40. Auch wenn Kant dies nicht ausdrücklich so sagt,
wird der Begriff des Schemas gegenstandlos, nähme man wie Wolff die
Identität logischer und reeller Gründe an, denn es ist ja klar, daß man für
logisch unmögliche Sachen (wie z. B. für einen viereckigen Zirkel) kein
Schema geben kann.
Ganz am Ende der Kritik der reinen Vernunft kommt Kant noch
einmal auf den Schematismus zurück und verknüpft ihn, nicht unerwartet, mit der Architektonik und dem Aufbau des Systems. Die Vereinigung des empirisch Mannigfaltigen unter einer Idee, die erst gewährleistet, daß es sich um ein artikuliertes Ganzes und nicht nur um
eine Anhäufung von Fakten handelt, fordert ein Schema, das gleichsam
die Idee verwirklicht: „Nicht technisch wegen der Ähnlichkeit des
Mannigfaltigen […], sondern architektonisch um der Verwandtschaft
willen und der Ableitung von einem einigen obersten und inneren
Zwecke, der das Ganze allererst möglich macht, kann dasjenige entspringen, was wir Wissenschaft nennen, dessen Schema den Umriß
(monogramma) und die Eintheilung des Ganzen in Glieder der Idee
gemäß, d. h. a priori, enthalten […] muß.“41. Diese Feststellung kann als
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A 245.
A 138/B 177.
A 142/B 181.
A 834 f./B 861 f.
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philosophische Verallgemeinerung der Prinzipien der wissenschaftlichen
und besonders biologischen Klassifikation angesehen werden.
Doch schon einige Jahre später macht Kant in seiner Kritik der Urteilskraft von 1790 wesentliche Korrekturen zur Doktrin der Anwendung der Kategorien, und zwar im Zusammenhang mit dem Problem
der biologischen Klassifikation. Man könnte sagen, daß er um 1790
tatsächlich der Position Linnés näher gerückt ist. Bis 1787 hatte sich
Kant noch damit begnügt, die Urteilskraft zu definieren als „das Vermögen[,] unter Regeln zu subsumieren“, das heißt, als ein Vermögen,
„zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae
legis) stehe, oder nicht“.42 Dabei ging Kant von der impliziten Voraussetzung aus, daß der Verstand schon das Allgemeine in seinem Besitz
hat.43 1790 unterscheidet Kant dann zwei Formen der Urteilskraft. Zum
einen die bestimmende Urteilskraft, die mit dem zusammenfällt was die
Kritik der reinen Vernunft als Urteilskraft definierte, mithin ein Vermögen, das Besondere unter das Allgemeine zu subsumieren. Und zum
anderen eine neue reflektierende Urteilskraft. Sie ist ein Vermögen, das
Besondere unter ein solches Allgemeines zu subsumieren, das erst gefunden werden muß. Die reflektierende Urteilskraft geht von dem in
der Natur gegebenen Besonderen aus und schreitet von dort zum Allgemeinen. Um nun diese Aufgabe erfüllen zu können, bedarf sie „eines
Princips, welches sie nicht von der Erfahrung entlehnen“, mithin nur
„sich […] selbst als Gesetz geben“ kann.44 Ein solches Prinzip ist das der
Zweckmäßigkeit der Natur. Nun können wir nicht sagen, in der Natur
herrsche tatsächlich eine solche Zweckmäßigkeit; dennoch sind wir
gleichsam genötigt, unsere teleologischen Vorstellungen in die Natur
hineinzuprojizieren um die Naturgegenstände als zweckmäßig bzw.
organisiert zu verstehen. Dabei schärft Kant allerdings auch ein, daß wir
die Ideen der reflektierenden Urteilskraft nur „zum Reflectiren, nicht
zum Bestimmen“ der Naturgegenstände anwenden dürfen, d. h. wir
dürfen nicht behaupten, die Natur sei an sich tatsächlich teleologisch.45
In der ersten Einleitung der dritten Kritik listet Kant Regeln und
Formen auf, die zur Urteilskraft gehören:
42 KrV A 132/B 171.
43 Auf diese implizite Voraussetzung bei Kant in der KrV, hat McLaughlin 1989,
32, aufmerksam gemacht.
44 KdU „Einleitung“ iv, AA 5.180.
45 Ebd.
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Alle jene in Schwang gebrachte Formeln: die Natur nimmt den kürzesten
Weg – sie tut nichts umsonst – sie begeht keinen Sprung in der Mannigfaltigkeit der
Formen (continuum formarum) […] u. d. g. sind nichts anders als eben
dieselbe transscendentale Äußerung der Urtheilskraft, sich für die Erfahrung als System und daher zu ihrem eigenen Bedarf ein Princip festzusetzen.46
Mindestens eine der hier von Kant als transzendentale Äußerung der
Urteilskraft erwähnten Formeln kommt auch bei Linné vor, und zwar
als eine konstitutive Idee seiner Systematik. In der Philosophia Botanica
schärft Linné nämlich ein, daß man, um die natürliche Methode richtig
zu verstehen, davon ausgehen müsse, daß „die Natur keine Sprünge
macht“ (natura non facit saltus) und daß die Pflanzenarten dicht beieinander liegen, so daß sie ein Kontinuum ähnlich der Territorien auf einer
Landkarte bilden.47
Wozu benötigt man nun diese eine neue reflektierende Form der
Urteilskraft? Weil es in der Natur eine schier unendliche Vielfalt der
Formen und eine so große Heterogenität gibt, daß es dem Verstande
unmöglich ist, aufgrund bloß empirischer Gesetze ein System zu errichten. Um somit eine Entsprechung von Denken und Natur zustande
zu bringen, ist man förmlich gezwungen, sich auf künstliche Gesetzmäßigkeiten verlassen:
Der Verstand ist zwar a priori im Besitze allgemeiner Gesetze der Natur
[…]: aber er bedarf doch auch überdem noch einer gewissen Ordnung der
Natur in den besonderen Regeln derselben, die ihm nur empirisch bekannt
werden können, und die in Ansehung seiner zufällig sind. Diese Regeln
[…] muß er sich als Gesetze (d. i. als nothwendig) denken: weil sie sonst
keine Naturordnung ausmachen würden.48
Einige Zeilen später weist Kant dann hin auf die biologische Klassifikation; der Vernunft muß,
um diesen empirischen sogenannten Gesetzen nachzugehen, ein Princip a
priori, daß nämlich nach ihnen eine erkennbare Ordnung der Natur
möglich sei, aller Reflexion über dieselbe zum Grunde legen, dergleichen
Princip nachfolgende Sätze ausdrücken: daß es in ihr eine für uns faßliche
Unterordnung von Gattungen und Arten gebe; daß jene sich einander
wiederum nach einem gemeinschaftlichen Princip nähern, damit ein
Übergang von einer zu der anderen und dadurch zur höheren Gattung
möglich sei […] Diese Zusammenstimmung der Natur zu unserem
46 KdU „Erste Einleitung“, AA 20.17.
47 Vgl. Linné, Philosophia Botanica, § 77
48 KdU „Einleitung“ iv, AA 5.184.
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Erkenntnißvermögen wird von der Urtheilskraft zum Behuf ihrer Reflexion über dieselbe […] a priori vorausgesetzt.49
In einer Randglosse der ersten Einleitung der dritten Kritik erwähnt
Kant Linné ausdrücklich, obwohl sein Beispiel das System der Mineralien und nicht das der biologischen Organismen betrifft:
Konte wohl Linnäus hoffen ein System der Natur zu entwerfen, wen er
hätte besorgen müssen, daß, wen[n] er einen Stein fand, den er Granit
nante, dieser von jedem anderen, der doch eben so aussehe, seiner ineren
Beschaffenheit nach unterschieden sein dürfte und er also im[m]er nur
einzelne für den Verstand gleichsam isolirte Dinge[,] nie aber eine Classe
derselben, die unter Gattungs- und Artsbegriffe gebracht werden könten,
anzutreffen hoffen dürfte? 50
Kant stellt hier also fest, daß Linné bei seiner Klassifikationen genau
jenem Prinzip folgt, das er selbst reflexive Urteilskraft nennt. Es handelt
sich dabei um die Annahme, die Natur selbst sei irgendeiner Technik
gefolgt, dank der eine gewisse Regelmäßigkeit in den Naturprodukten
zu beobachten ist, was dann die Klassifikation der Naturgegenstände
möglich macht.
Aber warum soll ein System ausgerechnet durch die Idee einer
Zweckmäßigkeit der Natur begründet sein? Die Antwort ist einfach:
Erst die Idee der Naturzwecke hebt das principle of plenitude auf. Gäbe es
nämlich keine Zwecke in der Natur, so wäre alles nur ein blinder
Chaos, in dem unendlich viele willkürliche Kombinationen entstünden.
Ein solcher von Zufälligkeiten regierter Kosmos folgte keinem Gesetze,
weshalb sich in ihm mit der Zeit alle denkbaren Kombinationen, d. h.
alle denkbaren Möglichkeiten realisieren müßten. So auch bei Linné:
sein systema sexuale, so künstlich es auch sein mag, ging allerdings von
der an sich plausiblen Voraussetzung aus, daß die Blüten der Pflanzen
das entscheidende Kriterium für die Klassifikation böten, indem sie
gleichsam das Telos der Pflanze bilden, d. h. den Zweck, welchem die
Pflanze gleich nach ihrem Entkeimen entgegen strebt. Ferner sollte die
teleologische Hypothese (bei Linné der Gedanke, daß Gott eine endliche Menge von Pflanzengattungen und -arten geschaffen hat und
damit eine endliche Menge von Teloi) das Problem der mechanizistischen Systematik ausschalten, das bei Wolff so problematisch war, sofern
ja die Natur entweder alle Möglichkeiten realisieren – in diesem Falle:
jede Nische des Klassifikationssystems mit einem reellen Inhalt füllen –
49 Kd, „Einleitung“ v, AA 5.185.
50 KdU „Erste Einleitung“, AA 20.215 f. (handschriftlicher Zusatz)
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oder auf irgendeine unerklärliche Weise sich als inkonsequent erweisen
muß.
Die doppelte Quelle des Linnéschen Sexualsystems (daß es sowohl
opus naturae als opus artis ist) entspricht erstaunlich gut Kants Idee über
die Funktionen der reflektierenden Urteilskraft. Wie die reflektierende
Urteilskraft die Naturgegenstände empirisch vorfindet und zwar so, wie
sie sich dem Menschen zeigen, und diese dann nach (subjektiven)
Prinzipien ordnet und klassifiziert, so sieht auch der wahre Botaniker
Linnés deutlich ein, daß sein System ein gemeinsames Resultat von
„Natur“ und „Kunst“ ist.51 Der Gedanke Linnés ist dabei freilich der,
daß sich die Kennzeichen, nach denen die Pflanzen nach Klassen und
Ordnungen gruppiert werden, auch objektiv in der Natur antreffen
lassen, obwohl ihre Identifizierung als wesentliche Merkmale die besondere Leistung des geübten Blicks des Botanikers, eben seine ars, ist.
Kurzum: zwischen den systematischen Ideen Linnés und den
Prinzipien der reflexiven Urteilskraft Kants gibt es so viele Gemeinsamkeiten, daß man gern annehmen möchte, Linné habe Kant mindestens in der Hinsicht beeinflußt, daß er mit seinen Systemen der
Natur das Modell – gleichsam das „Mannequin“ – für die neuen biologischen Auffassungen in der Kritik der Urteilskraft geliefert habe, zumal
ja der ansehnliche Erfolg der biologischen Wissenschaften in Kants Zeit
einer Erklärung bedurfte. Auch noch im Opus postumum kommt Kant
auf Linné als Beispiel eines erfolgreichen Naturwissenschaftlers zurück,
obwohl er leider nicht versucht hat, sein Systema naturae genauer zu
analysieren.
4. Kein Wolffianer, aber auch kein reiner Kantianer
In seiner Systematik steht Linné somit Kant näher denn Wolff, sofern er
die Möglichkeit einer durchgängig apriorischen logischen Deduktion
ablehnt, mindestens jedoch sofern er als Naturwissenschaftler die Gattungen und Arten als gegebene Realitäten vorfindet.
Allerdings kann man fragen, ob nicht auch der Meisterdenker aus
Königsberg zuviel im Banne der Apriorität war. Kant war ein Philosoph
und kein praktizierender Naturwissenschaftler, und es scheint, daß er
nicht immer die tatsächliche „logic of discovery“ der empirischen
Wissenschaften genau genug im Blick hatte. Die strikte Systematizität
51 Vgl. Linné, Philosophia Botanica, § 162
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als Ideal ist in der Form, wie sowohl Wolff als auch Kant sie vorschreiben, für die meisten Naturwissenschaftler eher unattraktiv. Sogar
die Mathematiker stellen die meisten ihrer Entdeckungen nicht deduktiv aus systematischen Prinzipien her, sondern so, daß sie sich auf die
Lösung konkreter Probleme richten. Konnte man deshalb wirklich
meinen, Linné habe in seiner wissenschaftlichen Praxis so verfahren, wie
Kant es ihm unterstellt, also seine Systematik des Tier- und Pflanzenreiches aus einem obersten und innersten Zweck abgeleitet, dessen
Schema das Monogramm für die Gestaltung des Ganzen enthält? Ich
möchte so antworten: bei der Aufstellung (Darstellung) des Systems, ja;
aber in der empirischen Forschungspraxis kaum.
Sicherlich kann man, Kant folgend, von einem Monogramm des
systema sexuale, von einer leitenden Idee sprechen, die in diesem Falle
aus der Anzahl der Staubgefäße und Pistillen besteht. Aber Linné war
sich der Beschränkung eines solchen Subsumierungsverfahrens sehr
wohl bewußt. Das, was Kant das Mannigfaltige nennt, also das Material
des Tier- und Pflanzenreichs und schließlich die Individuen und
Ökogemeinschaften, fügt sich keiner willkürlichen Klassifizierung.
Schon intuitiv ist es klar, daß gewisse Systeme deutlich naturähnlicher
sind als andere (z. B. die Teilung des Pflanzenreiches in Phanerogamen
und Kryptogamen – bzw. Samen- und Sporengewächse – ist, trotz ihrer
Grobschlächtigkeit naturgemäßer als die alphabetische Klassifizierung
nach den Anfangsbuchstaben der Pflanzennamen).
Linné war sich der Tatsache bewußt, daß sein systema sexuale
künstlich war und nur bedingt die wirklichen Verwandtschaftsverhältnisse der Pflanzen widergibt (zwar gibt es auch innerhalb des Sexualsystems einige ziemlich homogene und natürliche Gruppen – so gehören z. B. alle Liliengewächse zur Klasse Hexandria). Aus diesem
Grunde publizierte er in verschiedenen Zusammenhängen, u. a. in
seiner Philosophia Botanica, „Fragmente eines natürlichen Systems“.
Diese Arbeit blieb allerdings unvollendet. Wenn es auch auf den ersten
Blick klar ist, daß beispielweise Gräser, Palmen, Erbsengewächse, Kallas
(Araceae) und Rohrgewächse (Umbellatae) gut definierte und leicht zu
erkennende Gruppen bilden, gab es damals noch zu wenig Material, um
ein allumfassendes natürliches System des Pflanzenreichs aufzubauen.
Trotz seiner Künstlichkeit bot das systema sexuale ein äußerst brauchbares Raster für die Ordnung des Pflanzenreiches, inklusive der noch zu
entdeckenden Arten, indem es für neue Zuführungen offen blieb. Linné
war sich aber auch darüber im Klaren, daß das Sexualsystem nicht das
letzte Wort der Wissenschaft bleiben konnte, weshalb es im Grunde
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genommen nicht ganz fair ist, ihn als einen apriorisch vorgehenden
Dogmatiker hinzustellen.
Was aber bildete den Ausgangspunkt für Linnés wissenschaftliche
Praxis, wenn nicht das Monogramm, von dem Kant sprach? Überraschenderweise hat die Linné-Forschung bisher nicht genügend Linnés
eigene Hinweise dazu beachtet. Er führt nämlich in § 163 der Philosophia Botanica den Begriff des habitus, des „Äußeren“ der Pflanzen ein
und erklärt in § 168 zusätzlich: „Die Erfahrung, die Herrscherin der
Sachen, errät sehr oft beim ersten Blick die Pflanzenfamilien aus ihrer
äußeren Erscheinung“ (Experientia rerum magistra, primo intuitu ex
facie externa, plantarum familias saepius divinat). Zwanglos stellt Linné
hier klar, daß sich der Botaniker trotz aller analytischen Arbeit, trotz der
Definitionen der Merkmale und der genaueren Messungen auch auf
seine Intuition verlassen muß. Daß sich die eine Art von der anderen
unterscheidet, sieht man oft unmittelbar „beim ersten Blick“ (primo
intuitu), das heißt, man sieht es intuitiv, ohne eine vorhergehende
Analyse.
Kraft eines solchen intuitiven oder voranalytischen Erfassens der
Arten und Gattungen erschließt der Botaniker das opus naturae. In seinen
Vorlesungen, die er im Herbst 1748 in Uppsala hält, also einige Jahre
vor der Abfassung der Philosophia Botanica, verwendet er statt habitus den
Ausdruck facies (äußere Erscheinung) und beschreibt das ganzheitliche
Einsehen des Wesens einer Gattung bzw. einer Art mit Wendungen, die
einem fast ungezwungen Husserls Wesensschau in den Sinn kommen
lassen:
Facies ist eine Ähnlichkeit, die es zwischen Pflanzen gibt. Man kann nicht
gleich sagen, worin diese Ähnlichkeit besteht; besser kann man sich sie
vorstellen; wie ich bei zwei Männern sehe, daß sie einander ähneln, aber
auch daß sie sich voneinander unterscheiden. Diese facies externa kommt
sehr häufig bei den Pflanzen vor und ein Botaniker muß, wenn er neue
Gattungen beschreibt, diesen habitum oder faciem externam konsultieren
[…] 52
Anschließend lobt Linné seinen Vorgänger, den schweizerischen Botaniker Caspar Bauhin (1560 – 1724) dafür, daß dieser nur dadurch, daß
52 Linné, Om botanikens grunder § 160, 2007, 291: „Facies är en likhet, som är
emellan örterna. Man kan icke så just säja, hwar uti denna likheten består; man
man kan bättre inbilla sig det. Såsom jag ser 2ne Karlar wara ganska lika, men
jag ser ock wäl att de äro nog differente. Denna facies externa träffar mycket inn
hos örterna, och bör en Botanicus, då han gör nya genera, äfwen consulera
denna habitum eller faciem externam.“
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er der facies externa folgte (d. h. ohne vorhergehende Analyse), mehr
natürliche Gattungen als alle anderen gefunden hat und fährt fort, daß
sogar ein ungelernter Bauer aufgrund des Aussehens der Pflanzen intuitiv richtige Schlußfolgerungen über ihre Verwandtschaftsverhältnisse
treffen kann:
Ein Bauer sagt, wenn er die Corona Imperialis [Kaiserkrone, heute Fritillaria
imperialis, V. O.] sieht, daß, wenn man ihn fragt, sie eine Lilie ist; dasselbe
sagt er von der Narzisse. Dies sieht er aus facies externa, obwohl er den
Ausdruck nicht dafür besitzt, worin diese sich von anderen Blumen unterscheidet.53
Mit solchen Formulierungen greift Linné zurück auf die intuitive
Methode der alten Herbalisten. Obwohl er auch davor warnt, daß man
nicht mithilfe des habitus allein die Gattungen definieren darf,54 dürfte es
auf der Hand liegen, daß die Intuition hintergründig eine weitaus
größere Rolle bei der natürlichen Klassifikation spielt als Linné zugibt.
Das Mannequin mag Kleider tragen, die nach dem Muster des Kantischen Monogramms geschnitten sind, gleichzeitig aber stellt es seine
eigenen Gedanken darüber an, wie gut sie ihm passen.
Literatur
Adickes, Erich, 1924, Kant als Naturforscher, 2 Bde., Berlin.
[Arnauld, Antonin, & Nicole, Pierre] 1736, Logica sive Ars cogitandi, in qua
praeter Vulgares Regulas plurima Nova hebentur circa mentis operationes & methodum cogitationes suas ordine optimo dirigendi, Amstelaedami: apud J. Wetstenium et G. Smith.
Cassirer, Ernst, 1994, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der
neueren Zeit, Bd. IV, Darmstadt.
Engfer, Hans-Jürgen, 1986, „Zur Methodendiskussion bei Wolff und Kant“,
in: Werner Schneiders (Hg.), Christian Wolff 1679 – 1754, Hamburg 2.
Aufl.
Frängsmyr, Tore, 1972, Wolffianismens genombrott i Uppsala. Frihetstida universitetsfilosofi till 1700-talets mitt, Uppsala: Almqvist & Wicksell.
53 Ebd.: „En Bonde säger, då han ser Corona Imperialis, att det är en Lilja, om
man frågar honom; äfwen så säger han om Narcissan. Detta ser han utaf Facies
externa, men kan icke exprimera sig, hwar uti de differera från andra blommor.“ – Der Bauer ist also nicht imstande, seine Erfahrung zu analysieren (und
einzig hierin liegt der Unterschied zum Wissenschaftler), trotzdem sieht er
unmittelbar ein, daß die Fritillaria zu den Liliengewächsen gehört.
54 Vgl. Linné, Philosophia Botanica, § 168.
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