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Psychoanalyse – Schicksale einer «Kritischen Theorie»
Helmut Dahmer (Wien)
Zusammenfassung: Was ist überhaupt eine «Kritische Theorie», und inwiefern
kann die Freudsche Psychoanalyse als eine solche gelten? Und wenn sie denn eine
war – oder irgendwie noch immer eine solche ist –, warum wollten und wollen
so viele Psychoanalytiker davon nichts wissen? Und was hat es schliesslich mit
den «Schicksalen» dieser «Kritischen Theorie» auf sich?
Schlüsselwörter: Anamnesis, Denkhemmung, Dialektik, Hegelianer-Marxisten,
Ideologie, Kritik, Schelling
Horkheimers «kritische Theorie»
Der Begriff einer besonderen, «kritisch» oder auch «oppositionell» genannten Theorie wurde 1937 von zwei deutsch-jüdischen Flüchtlingen aus Hitlerdeutschland, Max Horkheimer und Herbert Marcuse, eingeführt. Beide verstanden
sich als Marxisten, hatten sich nach New York retten können und veröffentlichten
in Heft 2 und 3 des VI. Jahrgangs der in Paris erscheinenden, von Horkheimer herausgegebenen Zeitschrift für Sozialforschung drei einander ergänzende Artikel im
Gesamtumfang von etwa 70 Druckseiten. Auf einen grossen Essay Horkheimers mit
dem Titel «Traditionelle und kritische Theorie» folgten zwei kürzere, erläuternde
Beiträge von Horkheimer und Marcuse, beide unter dem Titel «Philosophie und kritische Theorie». Die beiden (1895 bzw. 1898 geborenen) Sozialphilosophen waren
finanziell unabhängig und gehörten keiner politischen Partei oder Gruppierung an.
Sie wollten ihre Gegenwart verstehen, oder, um es mit Hegel zu sagen: «ihre Zeit in
Gedanken erfassen». «Ihre Zeit» – das war das nationalistische Gemetzel des ersten
Weltkriegs und das Scheitern der Arbeiter- und Soldatenrevolutionen, die ihm
ein Ende gemacht hatten; die Entstehung einer parlamentarischen Republik auf
kapitalistischer Grundlage in Deutschland und eines isolierten Diktaturstaats auf
der Grundlage vergesellschafteter Produktionsmittel in Russland; und schliesslich
die Bildung «massenfeindlicher Massenbewegungen» und die Ablösung parlamentarischer Demokratien durch faschistische Regime.
Journal für Psychoanalyse, 60, 2019, 53–65
DOI 10.18754/jfp.60.4
Helmut Dahmer
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«Kritisch» richtete sich die von ihnen umrissene (marxistische) Theorie der
Gegenwartsgesellschaft nicht nur gegen die «traditionellen» sozial- und naturwissenschaftlichen Theorien (Descartescher Prägung) – deren Autoren den gesellschaftlichen Kontext ihrer Wissenschaften als einen naturgegebenen hinnahmen –,
sondern der bestehenden Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Ihr Hauptinteresse
galt darum deren inneren Widersprüchen, also den Entwicklungstendenzen, die
mit dem institutionellen Rahmen von Privateigentum, freier Lohnarbeit, Markt
und Staat kollidierten, und den Gegentendenzen, die den das bestehende Herrschaftssystem negierenden Kräften entgegenarbeiteten, indem sie sie abschwächten, integrierten oder unterdrückten.
Die beiden Hauptströmungen der organisierten Arbeiterbewegung, die
damals viele Millionen Mitglieder und Wähler zählte, orientierten sich an vereinfachten Versionen der Marx-Engelsschen Kapitalismus-Analyse und Revolutionstheorie: die Sozialdemokraten zur Rechtfertigung ihrer Reformpolitik (im
Rahmen der kapitalistischen Wirtschaftsgesellschaft), die Kommunisten zur
Rechtfertigung ihres Versuchs, das Experiment einer planwirtschaftlichen, nachholenden Industrialisierung im unterentwickelten Russland diktatorisch zu verteidigen und Revolutionen in West und Ost mit aller Kraft zu fördern (und bald
auch: zu verhindern). Der längst etablierte Parteimarxismus der Sozialdemokraten
wie die in der Sowjetunion sich herausbildende Orthodoxie des «MarxismusLeninismus» beriefen sich zwar auf Marx und Engels, doch kannten die Ideologen
des Weltanschauungs-Marxismus weder die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte von 1844, noch Die deutsche Ideologie von 1845/46, die beide 1932 erstmals veröffentlicht wurden, noch gar Marxens Grundrisse der Kritik der politischen
Ökonomie von 1857/58, die erst in den Jahren 1939 und 1941 (in Moskau) gedruckt
wurden. Die genannten drei, erst in den dreissiger Jahren veröffentlichten Schriften
lehrten, dass Marx nicht nur Hegel-Kritiker, sondern zunächst einmal ein brillanter
Hegel-Schüler war. Die daran anknüpfenden, 1923 veröffentlichten, unorthodoxen
Marx-Interpretationen von Karl Korsch und Georg Lukács bildeten die eigentlichen
Gründungsdokumente des von den drei Freunden Felix Weil, Max Horkheimer
und Friedrich Pollock 1924 ins Leben gerufenen «Instituts zur Erforschung des
Marxismus», das dann unter dem Namen «Institut für Sozialforschung» berühmt
wurde. Zu dessen Aufgaben gehörte zunächst vor allem die Erarbeitung einer auf
45 Bände berechneten historisch-kritischen Gesamtausgabe der Schriften von
Marx und Engels in Zusammenarbeit mit dem von David Rjazanow geleiteten
Moskauer Marx-Engels-Institut. Diese Edition wurde nach dem Erscheinen von
12 Bänden infolge der stalinistischen «Säuberungen» abgebrochen.
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Horkheimer und Marcuse waren Hegelianer-Marxisten. Marcuse, der von
der Husserl-Heideggerschen Phänomenologie herkam, hatte 1932 sowohl eine
neue Deutung der Hegelschen Ontologie als auch eine bedeutende Interpretation
der (soeben erschienenen) Marxschen ökonomisch-philosophischen Schriften von
1844 veröffentlicht. Horkheimer, der sich (1925) mit einer Studie über Kants Kritik
der Urteilskraft habilitiert hatte, verband sein Interesse an Hegel (und Marx) mit
dem an Schopenhauer (und Freud), führte also die «beiden feindlichen BrüderGenies in der Philosophie» (Nietzsche)1 – eben Hegel und Schopenhauer – gegeneinander. Rückblickend schrieb Horkheimer im Höllenjahr 1942 an Felix Weil: «Wir
drei haben uns [damals] vereinigt, um die Theorie, die in schlechten Händen war,
so unabhängig und unversöhnlich weiter zu führen, wie es nur Menschen mit
unserer spezifischen Vergangenheit und Bildung möglich war.»2
Während Horkheimer und Marcuse ihre Theorie des kritischen Verfahrens
niederschrieben, erreichte Ende Januar 1937 der Stalinsche Massenterror mit dem
zweiten Moskauer Schauprozess gegen die bolschewistischen Führer der Revolutionszeit (Radek, Pjatakow und andere) – und mit dem Geheimprozess gegen die
Führung der Roten Armee (im Juni des Jahres) – seinen Höhepunkt. Im Spanischen
Bürgerkrieg wandte sich (im Mai 1937) die republikanische «Volksfront»-Regierung
unter dem Druck Moskaus gegen die Linke (der Anarchisten und der POUM) in
Barcelona, die sich weigerte, die Weiterführung der Revolution bis zum erhofften militärischen Sieg über die (von Hitler und Mussolini unterstützten) FrancoTruppen zu vertagen.
Horkheimer schrieb, die «kritische Theorie» entspringe «ein[em] menschliche[n] Verhalten, das die Gesellschaft selbst zu seinem Gegenstand hat. Es ist
nicht nur darauf gerichtet, irgendwelche Missstände abzustellen, diese erscheinen
ihm vielmehr als notwendig mit der ganzen Einrichtung des Gesellschaftsbaus
verknüpft.» Das kritische Verhalten habe «die Veränderung des Ganzen zum Ziel».
«Der zwiespältige Charakter des gesellschaftlichen Ganzen in seiner aktuellen
Gestalt entwickel[e] sich bei den Subjekten des kritischen Verhaltens zum bewussten Widerspruch.»3 In einem «Nachtrag» betonte Horkheimer ausdrücklich den
«philosophische[n] Charakter der kritischen Theorie»4, was zunächst nur durch
Verweise auf Fichte und Hegel verdeutlicht wurde. Das kritische Verfahren selbst
wurde nicht näher erläutert; hier genügte Horkheimer der Verweis auf Marxens
«Kritik der politischen Ökonomie». Im darauffolgenden Jahr veröffentlichte dann
Karl Korsch, der zu den Initiatoren des «Instituts für Sozialforschung» gehört hatte
und mit Horkheimer auch in den Emigrationsjahren in Verbindung blieb, seine
bedeutende Marx-Interpretation, zu deren Vorarbeiten auch ein Text über das
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Marxsche Verfahren der Kritik gehörte.5 In dessen Kapital sei weder die «transzendente» (also die eher politische Kritik «von aussen»), noch die «immanente» Kritik –
die die inneren Widersprüche der Theorien über den Mehrwert aufdeckte – das
Entscheidende, sondern die «transzendentale» (oder soziologische) Kritik, die nach
den gesellschaftlichen Voraussetzungen der Möglichkeit und der Unmöglichkeit
bestimmter Fragestellungen und Lösungsvorschläge fragt.
Ich gebe dazu ein Beispiel: Im I. Kapitel des Kapital zeigt Marx am Beispiel
des Aristoteles, wie bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse dem Denken auch der
klügsten Köpfe einer Zeit Schranken setzen. Aristoteles sah, dass in der Tauschpraxis höchst verschiedenartige Dinge (als Waren) einander gleichgesetzt wurden,
erklärte dann aber, eine solche Gleichsetzung sei «in Wahrheit unmöglich», weil
sie «der wahren Natur der Dinge» widerspreche. Dass er mit diesem Argument
seine Analyse der Wertform abbrach, führt Marx darauf zurück, dass in der auf
Sklavenarbeit basierenden griechischen Gesellschaft des 4. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung die Gleichstellung aller Menschen und ihrer Arbeiten eine praktische und darum auch eine theoretische Unmöglichkeit war. Aristoteles konnte
noch nicht angeben, was «das wirklich Gleiche» in den verschiedenen, einander
gleichgesetzten Waren ist: die in sie investierte, in ihnen aufgespeicherte, abstrakte menschliche Arbeit. Rückblickend aus einem Abstand von mehr als zwei
Jahrtausenden zeigt sich, wie in der Argumentation des Aristoteles das, was wir
Heutigen für zutreffend halten, und das, was uns unzutreffend dünkt, ineinander
spielen. Es gibt demnach Formen von «falschem Bewusstsein», die im Rahmen
bestimmter gesellschaftlicher Institutionen unvermeidlich sind. Diese defizienten Bewusstseinsformen sind nicht einfach «falsch», sondern auch relativ wahr
(nämlich in Bezug auf die Gesellschaft, die sie reflektieren). Viele Generationen
später fand Marx eine Antwort auf die Frage des Aristoteles. Dabei löste er auch
das aktuelle Rätsel, wieso in einer weltumspannenden Tauschwirtschaft – in der
Arbeitskraft im Prinzip «gerecht» entlohnt wird –, die soziale Ungleichheit ins Unermessliche wächst.
Kritik gesellschaftlicher Institutionen
Die kritische Tradition, auf die Horkheimer sich 1937 bezog, ist die neuzeitliche Kritik der «Ideologien», also die Kritik der (gesellschaftlich unvermeidlich) «falschen» Bewusstseinsformen, die mit dem Aufstieg des europäischen Bürgertums
zur herrschenden Klasse Hand in Hand gingen (und ihn zu Bewusstsein gebracht
hatten). Die Reihe dieser Ideologiekritiker begann mit Francis Bacon (1620) und
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führte über Helvétius weiter zu den deutschen Idealisten und ihren Kritikern:
Feuerbach, Marx und Nietzsche.
Kant, Fichte, Hegel und Schelling waren Zeitgenossen der Französischen
Revolution und ihrer Nachwehen; Marx war Zeuge der ersten selbständigen Kämpfe
des «Vierten Standes», also der Lohnarbeiterschaft. Inmitten der jahrhundertealten europäischen Feudalgesellschaft, deren Grundlage die Verfügung des weltlichen und geistlichen Adels über Grund und Boden (also ein «bodenvermitteltes
Herrschaftsverhältnis») bildete, hatten sich seit dem 12. Jahrhundert Handwerksund Handelsstädte mit einem wehrhaften Bürgertum herausgebildet. Das waren
Zentren einer neuartigen, der ländlich-feudalen überlegenen, indirekten Form von
Vergesellschaftung über Geld und Markt. Die englische Revolution des 17. und die
französische des späten 18. Jahrhunderts besiegelten die ökonomisch-politische
Vorherrschaft des Bürgertums, dessen politische Akteure in der französischen
Nationalversammlung – unter der Losung «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» –
im August 1789 kurzerhand die Abschaffung der «Feudallasten» beschlossen
und im September 1792 auch die Abschaffung des «gottgewollten» Königtums.
Die feindliche Koexistenz zweier konkurrierender Produktionsweisen hatte zu
einer lang anhaltenden sozialen Krise geführt, in deren Verlauf die «Aufklärungs»Philosophen die überkommene Gesellschaftsordnung und die sie rechtfertigenden
Doktrinen kritisch unterminierten. Die Revolution, ihr Übergang in den Terror
und dann ins Kaiserreich Napoléons, der die Revolution auf das mit der neuen
bürgerlichen Ordnung Vereinbare reduzierte und sie (in dieser Gestalt) kriegerisch
internationalisierte, bildete das Problem, an dessen Verständnis die zeitgenössischen Intellektuellen, vor allem die deutschen Philosophen, sich abarbeiteten. Die
feudale Wirtschafts- und Lebensordnung hatten viele Generationen für die einzig
mögliche, gottgewollte und «natürliche» gehalten, und nun hatte sich erwiesen,
dass ihre «geheiligten» Institutionen änder- und abschaffbar waren, dass sie mitnichten «naturgegeben» waren, sondern irgendwann etabliert und lange Zeit mit
«Natur» verwechselt worden waren. In der aufklärerischen Kritik erwiesen sie sich
nun aber als lediglich oktroyiert, als obsolet und hinfällig, kurz: als prinzipiell revidierbare, nämlich durch neuartige Institutionen (wie das Privateigentum an den
Produktionsmitteln) ersetzbare. Hatte sich die Kritik pseudonatürlich maskierter,
menschgemachter Institutionen aber erst einmal praktisch bewährt, dann ergab
sich auch die Möglichkeit – mit der die Hegelkritiker rechneten – die neugeschaffenen, bürgerlichen Institutionen, sollten sie sich ebenfalls einmal als «natürliche»,
also als «Fetische» präsentieren, theoretisch und praktisch in die Geschichte wieder
einzuschmelzen.
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Anamnesis der Institutionen-Geschichte
Die idealistische Revolutionsphilosophie der Fichte, Hegel und Schelling
kreist um eben dies Problem: wie die institutionellen Objektivationen der gesellschaftlichen Praxis – die sich, über Zeit, aus Entwicklungsformen in Sackgassen
oder Gefängnisse dieser Praxis verwandeln – für neue historische Bedürfnisse geöffnet, also revidiert werden können.6 In Hegels Formulierung: «Es kommt nach
meiner Einsicht […] alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebenso
sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken.»7
In den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts war dies das gemeinsame Programm Hegels und Schellings, das sie dann zu einer Geistes- (Hegel) und einer
Natur-Philosophie (Schelling) ausdifferenzierten. Die Kritik der Sozialökonomie
und diejenige der Seelen-Ökonomie, wie sie später – im Abstand von drei Jahrzehnten – Marx und Freud, unabhängig von einander, gegen Ende des 19. Jahrhunderts ausgeführt haben, war bei beiden Autoren eine Wiederaufnahme der
«klassischen» Form der Kritik, wie Hegel und Schelling sie entwickelt hatten. Beide
waren philosophische Philosophie-Kritiker, und beider Lehrer war der (anthropologische) Materialist Ludwig Feuerbach, der seine Hegel-Kritik als Religionskritik
entfaltet hatte. Marx ging über Feuerbach hinaus, indem er dessen «anthropologischen» zu einem «historischen» Materialismus weiterentwickelte, und Freuds «biologischer» Materialismus tendierte – wie seine kulturkritischen Schriften zeigen –
zu eben diesem «historischen». Der erste Hegelkritiker aber war Schelling, und erst
vor ein paar Jahrzehnten haben Odo Marquard und andere auf die eigentümliche
Wiederkehr Schellingscher Themen und Kategorien in Freuds Therapeutik aufmerksam gemacht.8
Typisch «schellingianisch» schreibt Freud etwa in seiner Traumdeutung:
«Wir gehen in der wissenschaftlichen Betrachtung des Traumes von
der Annahme aus, dass der Traum ein Ergebnis unserer eigenen
Seelentätigkeit ist; doch erscheint uns der fertige Traum als etwas
Fremdes, zu dessen Urheberschaft zu bekennen es uns so wenig
drängt, dass wir ebenso gerne sagen: ‹Mir hat geträumt› wie ‹Ich
habe geträumt›. Woher rührt diese Seelenfremdheit des Traumes?»9
Was Freud hier von Traum und Hysterie sagt, gilt – ihm zufolge – ebenso
von den kulturellen Institutionen, und diese «Übereinstimmung» oder «Analogie»
(Freud10) ermöglichte ihm den Übergang von der Neurosentherapie zur Kritik der
Gegenwarts-Kultur (die noch keine ist). Richtiger gesagt, war es das kultur- und
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konventionenkritische Motiv, das den erfolgreichen Neurophysiologen Freud zum
Bruch mit der (physikalistischen) Medizin seiner Lehrer (aus der sogenannten
«Helmholtz-Schule») trieb, in der es für ein Verständnis der neuartigen, rätselhaften
«sozialen Leiden» (Sándor Ferenczi) – eben der Psychoneurosen – und des Traums
keinen Raum gab. Das Rätsel der Hysterie («organischer Leiden ohne organischen
Befund») erwies sich ihm als das Rätsel der Kultur. Und so wurde aus Freud, dem
Objekt- oder Naturwissenschaftler, ein Subjekt-Wissenschaftler, der auf Dialog,
freie Assoziation und Reflexion setzte, also eine der Naturwissenschaft entgegengesetzte – und in diesem Sinne «unnatürliche» Richtung einschlug.
Das zentrale Thema der Schellingschen Philosophie war die «bewusstlose
Erzeugung» kollektiver und individueller «Institutionen», deren wahrer Charakter
(als Produktionen) nur in einem dialogischen Prozess der Wiedererinnerung (oder
«Anamnesis») aufgedeckt werden konnte. Als «Anamnesis der Genese» hat Adorno
(im Anschluss an ein Gespräch mit Alfred Sohn-Rethel) das Projekt der Hegel,
Schelling, Marx und Freud charakterisiert.11
Schelling als Vorläufer von Marx und Freud
In seinem Rückblick auf die «Epoche [jener philosophischen] Experiment[e]»,
ihre Gegenwart zu begreifen, also der Gedankenbewegung, die, von Kant ausgehend, über die Systeme Fichtes und Hegels eben zu dem von Schelling hinführte,
hat dieser seine eigene Innovation wie folgt charakterisiert:12
«Fichte hatte in der Bestimmung der Substanz als Subjekt das
be wegende Princip aller Philosophie gefunden.» (Schelling,
S. 177 f.) «Fichte hat die Autonomie, welche Kant dem Menschen
für seine Handlungen zugeschrieben, zur theoretischen Philosophie
er weitert. […] Wenn dieser Idealismus dem Ich ein Producieren
zuschreibt, so muss dieses ein blindes, in der Natur des Ichs begründetes Producieren sein pp.» (S. 180) «Das Ich des Bewusstseins ist
nur das zu sich selbst gekommene Ich; also dies Zu-sich-kommen
setzt notwendig voraus ein Ausser- und von-sich-gewesen-sein.»
(S. 181) «Angekommen bei dem ‹Ich bin›, womit sein individuelles Leben beginnt, erinnert sich allerdings das Bewusstsein nicht
mehr des Weges, da das Ende dieses Weges eben erst das Bewusstsein
ist. Hier erklärt sich also die Blindheit und Notwendigkeit seiner
Vorstellung von der Aussenwelt. Das individuelle Ich findet in seinem Bewusstsein nur noch gleichsam die Monumente jenes Weges.
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Aber eben darum ist es Sache der höchsten Wissenschaft, jenes Ich
ins Bewusstsein zu führen, oder dass jenes Ich des Bewusstseins
den ganzen Weg vom Anfang seines Ausser-sich-seins an bis zu
dem höchsten Bewusstsein selbst mit Bewusstsein zurücklegt. Die
Philosophie, welche diesen Weg zu führen hat, ist insofern für das
individuelle Ich nichts anderes als Erinnerung (Anamnese) dessen,
was es in seinem vorindividuellen Sein getan und gelitten hat.»
(S. 181)
In Schellings späterer, der 36. Vorlesung findet sich dann eine nähere Erläuterung dieses kritischen Erinnerungs-Verfahrens13, das sich als ein dialogisches
erweist:
«Durch eine falsche Extasis ist der Mensch ausser dem Centrum gesetzt, sollte
er nicht durch eine umgekehrte Extasis sich wieder in den Mittelpunkt versetzen
können?» (S. 263) Infolge der «Katastrophe» (S. 262) dieser «falschen Ekstasis» [ging]
eine Trennung vor sich […]. Das Subjekt ist [zwar] noch immer im Menschen, aber
diese Wissenschaft ist nur potentia, nicht (mehr) actu in ihm. Das substantielle
Prinzip enthält der Möglichkeit nach alles Wissen, aber dies Wissen ist in ihm verborgen und muss erst durch ein Anderes erweckt werden […], welches wir den aktiven
Verstand nennen wollen. Die Vernunft ist [nur] der potentielle Verstand. Auf dieser
Entgegensetzung beruht alle besonnene, alle freie Wissenschaft. Das Substantielle
unserer Seele ist nicht das actu wissende, aber das die materielle Möglichkeit alles
Wissens Enthaltende. Das Andere ist in seiner Art auch das nicht wissende; das Eine
ist das actu, das Andere ist das substantiell Unwissende. Dieses Höhere ist gleichsam
der Socrates, der sagt, dass er nichts wisse, er ist ausser und über, wohl aber ist er
das zum Wissen helfende. Der Geist, das aktuelle Princip[,] verhält sich also wie der
sokratische Lehrer; das substantielle Princip verhält sich wie der Schüler. […] Alles
Lernen ist für dieses [substantielle] Prinzip nur Erinnerung; alle Forschung muss
daher an das substantielle Princip sich wenden, sodass das Höhere die zusagende
Antwort des Niederen erhalten haben muss. […] Diese Doppelheit, dieser geheime
Verkehr, in welchem zwei Wesen sind, ein fragendes und ein antwortendes Wesen,
ist das wahre Geheimnis der Philosophie. Die Kunst dieses Gesprächs ist die wahre,
d. h. innere Dialektik. Von dieser ist die blos äussere Unterredungskunst die blosse Nachahmung, Dies ist die Entstehungsweise der besonnenen Wissenschaft. […]
Besonnene Wissenschaft beruht also auf der inneren Doppelheit eines blos substantiellen und eines blos wissenden Princips. Beide Principien bedürfen einander, indem
das blos actu Wissende nichts für wahr halten kann, wozu es nicht die Zustimmung
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des andern Princips erhalten hat; – wie das Orakel selbst nur weiss, indem es gefragt
wird. (S. 262 f.)
Schelling, Marx, Freud
Ich denke, das soeben vorgestellte, von Schelling entwickelte Modell der
bewusstlosen Produktion befremdlicher und bedrückender gesellschaftlicher und
seelischer Institutionen, die, weil bewusstlos erzeugt, sich wie «Natur ausnehmen», und der befreienden Rekonstruktion ihrer sozial- und lebensgeschichtlichen
Genese (in kritischen Erinnerungs-Dialogen) liegt sowohl der Marxschen Kritik der
politischen Ökonomie als auch der Freudschen Kritik der seelischen Ökonomie
zugrunde, ohne dass sich der eine und der andere direkt auf Schelling berufen
hätte. Beide suchten, wie ihre Vorgänger, die idealistischen Dialektiker, nach einem
Ausweg aus der Krise ihrer Gegenwart, die Marx als die des Kapitalismus, Freud
als die der Kultur beschrieb. Beide befürchteten für die bestehende Einrichtung
des gesellschaftlichen Lebens ein Ende mit Schrecken, der eine, falls es der ausgebeuteten Klasse nicht rechtzeitig gelinge, die Expropriateure zu expropriieren, der
andere, falls es nicht rechtzeitig gelinge, die durch Triebentmischung in modernen Massen freigesetzte Destrudo erotisch wieder einzubinden. Beide waren
«gottlose Juden» und als Angehörige einer stets wieder verfolgten Minderheit
besonders sensibilisiert für das persistierende Unrecht der Klassengesellschaft
als einer Ausbeutungs- und Mordgeschichte. Beide brachen resolut mit den zu
ihrer Zeit herrschenden Vorstellungen, der eine mit der Ökonomik der Smith, Say
und Ricardo, der andere mit dem Physikalismus der Helmholtz-Schule. Beide
entfernten sich so weit vom Common sense, dass ihre kritischen Theorien –
wenn überhaupt – nur in reduzierter Form, nämlich als eine weitere Spielart der
Markt-Ökonomie beziehungsweise der Psychotechnik aufgenommen wurden.
Im Zeichen des Nationalsozialismus diente die (arisierte) Psychoanalyse dann
zur psychischen Ertüchtigung (heute würde man sagen: zur Resilienz-Steigerung)
und zur «Auslese» von «Volksgenossen». Im Zeichen des Stalinismus musste die
Marxsche Revolutionstheorie zur Rechtfertigung der kannibalischen Ein-ParteiDiktatur in der Sowjetunion herhalten. Marx setzte sich sein Leben lang mit den
«falschen» Bewusstseinsformen seiner Zeitgenossen auseinander, mit Feuerbach,
den Junghegelianern und mit Proudhon, mit den «klassischen» und den Ökonomen
seiner Zeit; er deckte die Widersprüche ihrer Argumentationen auf und suchte nach
dem Wahren im Falschen ihrer Konzeptionen. In seiner politischen Praxis führte er
einen (endlosen) Dialog mit Mitstreitern, Konkurrenten, Gegnern, mit den geheimen Handwerkerbünden und den verschiedenen Fraktionen der I. Internationale,
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mit Lassalle und Bakunin, mit Liebknecht und Bebel. Freud setzte sich, ebenfalls
lebenslang, mit den überlieferten Seelenlehren, mit seinen zeitgenössischen Lehrern und Vorgängern (wie Charcot und Breuer) auseinander, mit Gegnern (wie
den religiösen Illusions-Produzenten) und Schülern, mit «Abtrünnigen» (wie
Jung und Adler), die nur einen Teil der von ihm gefundenen «Wahrheiten» gelten liessen … Seine neuartigen Einsichten in die Funktionsweise des seelischen
«Reizbewältigungsapparats» gewann er in therapeutischen Dialogen, die es seinen Patientinnen und Patienten ermöglichten, sich der Geheimgeschichte ihres
Lebens zu erinnern, die Genese ihrer Verstörung aufzudecken, um die fatale
Institutionalisierung einer «primitiven» Trauma-Bewältigung vielleicht revidieren zu können.
Marx wie Freud dachten durch und durch historisch. Um über die schlechte
Gegenwart hinauszukommen, vertieften sie sich in deren Vorgeschichte, der eine
in die der Produktionsweisen (oder «Gesellschaftsformationen»), der andere in
die Vorgeschichte aktueller «Kultur»-Konflikte, wie sie in der antiken Mythologie
ebenso überliefert ist, wie sie in den Berichten von Ethnologen erscheint, die versuchten, aussereuropäische, prämoderne Kulturen zu verstehen und zu beschreiben. Der Marxschen Theorie «der Formen, die der kapitalistischen Produktion
vorhergehen» entsprach Freuds familienpsychologisch wie ethnologisch informierter «wissenschaftlicher Mythos» von Patriarchat, Brüderaufstand, Vatermord
und «nachträglichem Gehorsam».
Verfall der Freudschen Lehre
Nicht nur führt die Genealogie der beiden kritischen Theorien zurück
auf eine ihnen gemeinsame Matrix: die von den idealistischen Philosophen und
ihren materialistischen Nachfolgern entwickelte, dialogische Kritik pseudonatürlicher Institutionen (der Seelen- und der Sozialgeschichte). Sondern auch
im Verfall beider Kritiken zeigt sich eine betrübliche Parallele. Beide Male vollzog sich die Regression, die Rückkehr zum Common sense, als Auflösung des
Gesamtentwurfs (oder «Systems») der beiden Gründer. So wie Joseph Schumpeter
Marx, den «Propheten», von Marx, dem «Soziologen», dann beide von Marx, dem
«Nationalökonomen», und Marx dem «Lehrer», trennte14, so löste sich in der
Geschichte der Psychoanalyse der Zusammenhang von Theorie und Praxis auf. Für
die Ärzte und naturwissenschaftlich vorgebildeten Psychologen, die von der therapeutischen Nutzanwendung der neuartigen Psychologie des Unbewussten lebten,
stand die «Technik» alsbald im Zentrum ihres Interesses.15 Die Metapsychologie, also
Freuds Lehre von den Instanzen und der Funktionsweise des psychischen Apparats,
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wurde nicht mehr als das vorläufige, prekäre Endprodukt einer langen kulturellen Entwicklung verstanden, sondern enthistorisiert. Lust- und Realitätsprinzip
wurden als rein intrapsychische Regulationsinstanzen missverstanden. Die Kritik
der Gegenwartskultur, der Freud die letzten zwanzig Jahre seines Leben gewidmet
hatte, die Kritik der modernen Massenbildung und ihres Kitts, des Antisemitismus,
und seiner Verallgemeinerungsform, der Xenophobie, galt als eine Art Nebenund Abfallprodukt der Therapie, die als die einzige Quelle neuartiger Einsichten
angesehen wurde. Der innere Zusammenhang von Therapie und Kulturkritik, die
Therapie als Kulturkritik in nuce, wurde nicht mehr gesehen, der therapeutisch
erforderliche «Abbau des Überichs» (Ferenczi) – ein Angriff auf die Tradition, die aus
den Individuen Wiederholer macht – wurde durch die adaptive Ertüchtigung der
Patienten ohne Infragestellung ihres Lebensmilieus ersetzt. Die inzwischen 12 000
organisierten Psychoanalytiker in aller Welt sind zu einer schweigenden Fraktion
der Intelligenzija geworden. Wesentliche Beiträge zum Verständnis des Freudschen
Originals der Sache und zur Geschichte der Psychoanalyse kommen seit einem
halben Jahrhundert nicht von Psychoanalytikern, sondern von Philosophen und
Historikern. Ob und wann die skizzierte Revision der Psychoanalyse revidiert werden kann, steht dahin. Die Voraussetzung dieser Revision wäre die Durchbrechung
jener «loyalen Denkhemmung» (Freud16), die die als Vereins-Ideologie tradierte
«Orthodoxie» und die Geschichte ihres Trägers, der «International Psychoanalytic
Association», «heiligt» …
Angaben zum Autor
Prof. Dr. Helmut Dahmer studierte Soziologie und Philosophie bei Helmuth
Plessner, Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas. In den Jahren 1968–1992
redigierte er die psychoanalytische Monatszeitschrift Psyche. 1984 gehörte er
zum Gründungsbeirat des Hamburger Instituts für Sozialforschung. 1974–2002
lehrte er Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt. Er gibt eine auf
10 Bände berechnete Ausgabe von Schriften Trotzkis heraus. Seit 2002 lebt er als
freier Publizist in Wien. Buchveröffentlichungen: Libido und Gesellschaft (1973,
1982; Neuauflage 2013); Pseudonatur und Kritik (1994; Neuauflage 2013); Soziologie
nach einem barbarischen Jahrhundert (2001); Divergenzen (2009); Die unnatürliche Wissenschaft (2012; 2019); Interventionen (2012); Freud. Trotzki und der
Horkheimer-Kreis (2019).
Helmut Dahmer
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Anmerkungen
1
Nietzsche, Friedrich (1886). Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der
Zukunft. Aph. 252.
2
Horkheimer an Weil, 10.3.1942. Gesammelte Schriften (GS), Bd. 17; Frankfurt (Fischer)
1996, S. 273. – Die «schlechten Hände» waren eben die der sozialdemokratischen und kommunistisch-stalinistischen Marx-Orthodoxie. Korsch, dessen Kritik dieser Orthodoxie mit
derjenigen von Horkheimer und Marcuse keineswegs übereinstimmte, schrieb dazu (1930):
«Am deutlichsten tritt diese dogmatische Befangenheit der Marx-Orthodoxie gegenüber der
wirklichen geschichtlichen Entwicklung des Marxismus bei Kautsky hervor.» […] Dieser «hat
in seinem letzten großen Werk über die Materialistische Geschichtsauffassung [1927] auch die
wesentliche Beziehung der marxistischen Theorie zum proletarischen Klassenkampf gestrichen.» […] «Aber sogar in diesem Punkte bewährt sich noch die volle theoretische Solidarität
der neuen kommunistischen mit der alten sozialdemokratischen Marx-Orthodoxie.»
Korsch, K. (1930): Marxismus und Philosophie. 2., erw. Aufl. Korsch-Gesamtausgabe, Bd. 5,
Amsterdam 1990, S. 322 f.
3
Horkheimer, M. (1937). «Traditionelle und kritische Theorie.» GS, Band 4, Frankfurt
1988, S. 180, 182 und 181.
4
Horkheimer (1937). «Nachtrag.» [«Philosophie und kritische Theorie.»] A. a. O., S. 220:
Die «kritische Theorie der Gesellschaft [ist] auch als Kritik der Ökonomie philosophisch
geblieben […].»
5
Korsch, K. (1938). Karl Marx. Frankfurt (Europäische Verlagsanstalt) 1967; Anhang III
(Brief an P. Partos vom 2.11.1935), S. 220 ff.
6
Alexander Herzen schrieb über Hegel: Seine Philosophie «ist eine Algebra der Revolution, sie übt eine wahrhaft befreiende Wirkung und lässt keinen Stein von der christlichen
Welt, der alten Welt der Überlieferungen, die sich selbst überlebt hat, auf dem anderen.»
Herzen, A. (1854–1870). Erinnerungen. Bd. I, Berlin (1907), S. 272.
7
Hegel, G. W. F. (1806). Phänomenologie des Geistes, Vorrede. Sämtliche Werke, Bd. 2,
Stuttgart-Bad Cannstatt (Frommann-Holzboog), 1964, S. 22.
8
Marquard, O. ([1963] 1987). Transzendentaler Idealismus, Romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse. Köln (Verlag für Philosophie, Jürgen Dinter).
9
Freud, Sigmund (1900a). Die Traumdeutung. Gesammelte Werke (GW), Bd. II/III; Frankfurt (Fischer), 1968, S. 50.
10
Freuds zentrale Einsicht, dass die individuelle Psychologie eine Besonderung der
allgemeinen, menschheitsgeschichtlichen Seelengeschichte ist, ist der nachfreudschen Reduktion der Psychoanalyse auf eine «naturwissenschaftliche» therapeutische «Technik» zum
Opfer gefallen. Um das Original der Freudschen Sache in Erinnerung zu rufen, genügt ein
einziges Zitat: «Erfaßt man die Menschheit als ein Ganzes und setzt sie an die Stelle des einzelnen menschlichen Individuums, so findet man, daß auch sie Wahnbildungen entwickelt
hat, die der logischen Kritik unzugänglich sind und der Wirklichkeit widersprechen. Wenn
sie trotzdem eine außerordentliche Gewalt über die Menschen äußern können, so führt die
Untersuchung zum gleichen Schluß wie beim einzelnen Individuum. Sie danken ihre Macht
dem Gehalt an historischer Wahrheit, die sie aus der Verdrängung vergessener Urzeiten
heraufgeholt haben.» Freud (1937): «Konstruktionen in der Psychoanalyse.» GW, Bd. XVI,
Frankfurt (Fischer) 1961, S. 56.
11
Sohn-Rethel, A. (1989). Geistige und körperliche Arbeit. Weinheim (VCH Verlagsgesellschaft), S. 221–226.
12
Schelling, F. W. J. [1832/33]. Grundlegung der positiven Philosophie. Münchner Vorlesung im Wintersemester 1832/33. (Hg. von Horst Fuhrmans.) Torino (Bottega d’Erasmo)
1972; Vorlesungen Nr. 21, 22 und 36. Zitat auf S. 185.
Psychoanalyse – Schicksale einer «Kritischen Theorie»
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«Hier ist die Rede davon, wie Methode erfunden werde; von der Art und Weise der
Erfindung selbst ist die Rede, von der Erzeugung der Philosophie im Innern des Philosophierenden selbst» (A. a. O., S. 262).
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Schumpeter, J. A. (1950). Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. Bern (Francke),
I. Teil.
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In einem kürzlich veröffentlichten Artikel von Ulrike May zur Geschichte der
Psychoanalyse wird das affirmativ bestätigt. Sie schreibt: «Die nachfreud[iani]sche Verlagerung
des Schwerpunkts der Psychoanalyse auf die Therapie, die sich weltweit vollzog, brachte es
mit sich, dass sich ein Verständnis von Psychoanalyse durchsetzte, das sich an therapie- und
veränderungsspezifischen Prozessen orientierte. […] Freud wollte etwas Allgemeines über das
unbewusste psychische Funktionieren herausfinden und hat unendlich viel darüber herausgefunden. Auch daran kommen wir nicht vorbei – und das unterscheidet uns fundamental von
ihm, woraus [folgt]: Im Unterschied zu Freud […] verwenden [wir] die Theorie nur – zu therapeutischen Zwecken. Wir sind, anders als Freud, Therapeuten geworden.» May, U. (2019): «Müssen
wir unser Bild von Freud verändern? Überlegungen zu Kurt R. Eisslers Interviews im FreudArchiv der Library of Congress.» Luzifer-Amor, Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse;
Frankfurt, 32. Jg., Nr. 63, S. 90–100; Zitate auf den S. 98 f.
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Freud (1927c). Die Zukunft einer Illusion. Gesammelte Werke, Bd. XIV, Frankfurt
(Fischer), 1963, S. 371.