Emil Angehrn
10 Kritische Theorie und Psychoanalyse.
Die Spur Freuds
10.1 Präsenz und verdeckte Spur
der Psychoanalyse
Die Präsenz der Psychoanalyse in der Dialektik der Aufklärung ist nicht einfach zu
verorten. Sie ist kein zentrales, explizites Thema, und doch durchdringt sie die
Schrift als ganze. Dies entspricht der Auseinandersetzung mit ihr im Gesamtwerk
von Horkheimer und Adorno. Beide Autoren befassen sich schon früh und in
unterschiedlichen Phasen ihres Schaffens mit Freud, ohne dass dieser – wie etwa
andere Theoretiker oder Komponisten bei Adorno – Gegenstand einer systematischen Abhandlung geworden wäre. Ähnlich bildet die Psychoanalyse für die
Kritische Theorie insgesamt eine durchgehende Referenzposition, deren Stellung
sich im Laufe der Jahrzehnte allerdings stark verändert und nach Autoren variiert
(vgl. Bonß 1982; Dahmer 2012; Lohmann 2006). Für Horkheimer und Adorno steht
sie seit den zwanziger und dreißiger Jahren im Blick. Adorno hat sich bereits in
der (zurückgezogenen) Habilitationsschrift von 1927 mit Freuds Theorie des Unbewussten im Kontext der Transzendentalphilosophie und philosophischen
Ideengeschichte beschäftigt (AGS 1, 79 – 322); Horkheimer hat der Psychologie eine
wichtige Stellung im Konzept eines interdisziplinären Materialismus eingeräumt
und die Psychoanalyse zu einem Pfeiler der Kritischen Theorie gemacht (HGS 3,
48 – 69). Zugleich setzen sich beide Autoren kritisch von bestimmten („revisionistischen“) Strömungen der psychoanalytischen Tradition (Karen Horney, Erich
Fromm) ab, gegen welche sie zentrale Konzepte der originären Freudschen
Theorie (u. a. der Triebpsychologie) stark machen; teils opponieren sie gegen
herrschende Praxisformen der analytischen Therapie, teils gegen Zweideutigkeiten der Freudschen Terminologie selbst. Die im Laufe der Zeit changierende
Doppelseitigkeit von Aneignung und Kritik prägt auch das psychoanalytische
Grundgerüst der Dialektik der Aufklärung. Es soll im Folgenden anhand leitender
Fragestellungen und thematischer Schwerpunkte konkreter entfaltet und in seinem Stellenwert verdeutlicht werden.
DOI 10.1515/9783110448764-011
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10.2 Kritische Gesellschaftstheorie und
Psychoanalyse
Auszugehen ist von der Frage, welches Anlass und Grund für die Berücksichtigung der Freudschen Theorie in einer marxistisch inspirierten kritischen Gesellschaftstheorie sind. Dass sich eine konzeptuelle Verschränkung beider Forschungsperspektiven nicht von selbst versteht, gilt nicht nur im Blick auf den
Gegensatz von revolutionärer Hoffnung und anthropologisch-kulturtheoretischem Pessimismus (Jay 1976, 113 – 142), sondern auch auf das divergierende
Theorieinteresse soziologischer und psychologischer Analyse. Motiviert ist die
Verbindung durch eine Irritation in der Durchführung des gesellschaftskritischen
Programms, das auf die Widerstandskraft des unterdrückten Lebens und die
Überzeugungskraft rationaler Kritik setzte; provoziert wird sie durch die Irrationalität eines gegen sein Eigeninteresse gerichteten Verhaltens, die Selbstwidersprüchlichkeit eines in sich rückläufigen, selbstdestruktiven Fortschritts. Der Titel
einer Dialektik der Aufklärung steht exemplarisch für die Figur einer sich selbst
zerstörenden Vernunft, welche das Projekt menschlicher Emanzipation in ihr
Gegenteil verkehrt. Psychoanalyse wendet sich jener Tiefenschicht im Seelenleben
der Subjekte zu, welche die Schwierigkeit, ja, Selbstbehinderung freier Selbstwerdung bedingt. Ihr Gegenstand sind Pathologien, die nicht nur irgendwelche
Dysfunktionen des Verhaltens, sondern Probleme des Selbstseins betreffen. Die
beiden Figuren der kulturgeschichtlichen Rückläufigkeit und der persönlichen
Selbstbehinderung stehen in offenkundiger Korrespondenz. Zugleich besitzen
sie – und darin liegt die Pointe ihrer Verschränkung – wechselseitig explikative
Funktion. Auf der einen Seite ist es unmöglich, die geschichtlich-gesellschaftlichen Verhältnisse, im Besonderen das Funktionieren der sozialen Repression und
die Selbstverkehrung aufklärerischer Emanzipation, unabhängig von den psychischen Mechanismen, über welche sie vermittelt sind, aufzuhellen: Darin
wendet sich eine interdisziplinäre Kritische Theorie gegen Ansätze eines orthodoxen Marxismus oder eine platte Soziologisierung; weder ökonomische Gesetze
noch politische Herrschaft oder die Logik der Klassenkampfes bieten hier zulängliche Explikationsmuster. Zu begreifen ist, wie die Gesellschaft in die Seele
hineinwirkt und über diese ihre eigene Herrschaft durchsetzt. Diese Interaktion,
die sich einer kritischen Gesellschaftsanalyse generell aufdrängt, verschärft sich
im Zeitalter der Totalitarismen. Auf der anderen Seite sind die Formen des Seelenlebens und das Handeln der Individuen nicht aus sich heraus, losgelöst von
sozialen und realhistorischen Bedingungen, erklärbar. Die wechselseitige Verweisung zwischen den heterogenen Fragerichtungen der Psychoanalyse und der
Kritik der politischen Ökonomie gehört zur These und zum epistemologischen
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10 Kritische Theorie und Psychoanalyse. Die Spur Freuds
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Anspruch des auch für die Dialektik der Aufklärung verbindlichen Grundkonzepts
kritischer Theorie.
Wenn der erste Leitbegriff der psychoanalytischen Deutung der Begriff des
Unbewussten ist, so findet in der umrissenen Verschränkung eine doppelte Radikalisierung des mit diesem Begriff Anvisierten statt: eine Radikalisierung vom
Unbewußten zum Irrationalen und eine Vertiefung von der individuell-bewusstseinsphilosophischen zur sozialen und historischen Genese.
Als solches steht das Unbewusste für eine strukturelle und genetische Tiefenschicht, die in der klassischen Bewusstseinsphilosophie wie der Geschichtsund Kulturphilosophie nicht thematisch wird; es repräsentiert das dem subjektiven Tun Vorausliegende und seinem Zugriff sich Entziehende.Verwicklungen der
Menschheitsgeschichte wie Inkonsistenzen menschlichen Handelns können ohne
Aufhellung dieser Schicht nicht verstanden oder gar vernünftig korrigiert werden.
Das Unbewusste markiert eine Grenze des subjektiven Sicherkennens und freien
Über-sich-Verfügens, ähnlich wie solche Grenzen auch durch die soziale und
historische Verwurzelung oder die leibliche Verfassung des Subjekts gesetzt sind.
Indessen geht es der Psychoanalyse um mehr als eine defizitäre Selbsttransparenz, eine nicht-abgelegte Naturverhaftung und verbleibende Selbstfremdheit.
Das Unbewusste ist nicht nur die Zone des Unaufgehellten, der nicht einholbare
blinde Fleck im Selbstsein, wie er auch von einer transzendentalphilosophischen
Subjektphilosophie reflektiert werden kann. Es steht nach psychoanalytischer
Lesart für ein unbewusst Gemachtes, ein Verdrängtes, das aufgrund seiner Konfliktualität oder Negativität nicht bewusst werden kann und darf. Uneinholbar ist
dem Bewusstsein nicht nur das Fremde und Verdeckte, sondern in anderer Hinsicht das Unerträgliche, das abgewehrte Negative und dasjenige, was sich von sich
aus dem Begreifen widersetzt, das Widersinnige und Irrationale. Es ist eine Dimension des Erlebens, die in der Urgeschichte des Subjekts, im Schicksal seines
Trieblebens und in der sozialen Konstellation seiner Selbstwerdung verankert ist
und deren Kräfte und Konflikte sich nach Horkheimer und Adorno in der
Selbstverkehrung der geschichtlichen Entwicklung auswirken. Die Gegenläufigkeit fortschreitender Aufklärung ist keine immanente Wendung der kulturellen
Evolution.
Allerdings, so die komplementäre Grundthese, ist dieser dem Bewusstsein
entzogene Bereich nicht allein im Seelenleben und in der Konstitution des Individuums festzumachen. Kritische Theorie distanziert sich vom „monadologischen“ Charakter des Freudschen Unbewussten (HGS 12, 441), nicht um stattdessen auf ein kollektives Unbewusstes zu setzen, sondern um die soziale und
historische Vermitteltheit des Bewusstseins herauszustellen. Dabei geht es um
eine genetische Betrachtung, die hinter die Archäologie des Bewusstseins auf die
Urgeschichte des Menschen zurückgreift. Gerade mit Bezug auf die Pathologien
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Emil Angehrn
der Gegenwart, die Deformationen des angepassten Subjekts der Massenkultur,
sind die Ursachen jenseits der innerpsychischen Konflikte und psychoanalytisch
diagnostizierten Neurosen nach Adorno in „noch früheren Phasen der Kindheitsentwicklung“, in einem „gleichsam prähistorischen Eingriff“ zu suchen
(Adorno 1951, 69 – 70). Die herrschende Psychoanalyse, so der kritische Einwand,
ist kaum in der Lage, die Normalität und verordnete Fröhlichkeit der beschädigten
Gesellschaft in ihrem abgründigen Zwang zu erfassen (Adorno 1951, 69 – 70).Wenn
das Schicksal des Menschen, auch in seinem affirmativen Wollen und seiner
Sehnsucht, auf eine „Urgeschichte“ des Subjekts zurückweist (70 – 71, 78, 189), so
gilt Analoges für die Destruktivität des Handelns und die Selbstauflösung der
Ratio, wie sie exemplarisch in einer „Urgeschichte des Antisemitismus“ (7) zum
Tragen kommt, welche nicht wie bei Freud als psychologische Genese, sondern in
archaischen, aber gesellschaftlich realen Bewegungen nachzuzeichnen ist (HGS
16, 764.). Diese Geschichte in ihren Wurzeln und ihren Manifestationen zu entfalten, ist das Projekt der Dialektik der Aufklärung.
Damit ist die allgemeine Verschränkung zwischen den Fragehorizonten der
Psychoanalyse einerseits, der Gesellschafts- und Kulturkritik andererseits umrissen. Inhaltlich korrespondiert ihr die Verschränkung zwischen der Genese und
Seinsweise des Subjekts einerseits, der Menschheits- und Kulturgeschichte andererseits. Im Folgenden sollen einzelne Knotenpunkte dieser Konstellation näher
vergegenwärtigt und als Interpretament der Dialektik der Aufklärung expliziert
werden.
10.3 Trieb, Triebunterdrückung, Entsagung
Der Mensch versteht sich nicht aus sich heraus: aus der bewussten Selbstbeziehung des Subjekts, dem rationalen Denken, der geistigen Natur des Selbst.
Menschliches Sein hat seinen Grund in einem Anderen, das dem bewussten Tun
und Überlegen voraus und zugrunde liegt. Zu den zentralen Thesen und kulturgeschichtlichen Revolutionen der Psychoanalyse gehört die Rehabilitierung der
Triebnatur des Menschen gegen ihre Marginalisierung im leitenden Menschenbild
wie ihre Unterdrückung in der herrschenden Kultur. Was seit der platonisch-aristotelischen Gliederung der Seelenteile als Herrschaft der Vernunft über die begehrenden Leidenschaften postuliert wurde, wird hier als Makel, jedenfalls als
kritischer Punkt in der historischen Konstitution des Selbst herausgestellt. Es ist
eine Unterdrückung, die mit Verlusten einhergeht, welche sich in Beschädigungen
des individuellen wie des sozialen Lebens äußern. Erfordert ist eine Einsicht in die
anthropologisch fundierende Rolle der Triebnatur ebenso wie die realhistorischen
Konstellationen ihrer Disziplinierung.
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10 Kritische Theorie und Psychoanalyse. Die Spur Freuds
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Gegen die revisionistische Tendenz zur Entsexualisierung beharren Horkheimer und Adorno auf einer gewissen orthodoxen Lektüre der Psychoanalyse,
welche die frühe Libidotheorie wie die spätere Todestriebhypothese ernst nimmt
und in der Zeitdiagnose und Kulturkritik zum Tragen bringt. Explizit wendet sich
Adorno gegen die in der „revidierten Psychoanalyse“ von Erich Fromm und Karen
Horney praktizierte „Polemik gegen Freuds Triebpsychologie“ und die Abwehr der
schreckhaften Phänomene wie der Kastrationsdrohung, durch welche der kritische „Stachel der psychologischen Erkenntnis“ verloren geht (AGS 8, 20, 23, 25 –
26). Die Einseitigkeit der philosophischen Begriffsgeschichte des Unbewussten
(AGS 1, 79 – 322) liegt eben in Vernachlässigung des materialistischen Moments der
Organlust zugunsten der rein erkenntnistheoretischen Fragestellung (vgl. Rantis
2001, 79). Dabei gilt der Akzent nicht primär dem materialistisch-naturalistischen
Beschreibungsansatz als solchem als vielmehr dem Rückgang in die Tiefe des
Seelenlebens als Grund der destruktiven wie der affirmativen Lebenstendenzen.
Nicht zuletzt die Befreiung der reinen körperlichen Lust, die stellvertretend für die
Utopie des zweckfreien Glücks steht, kommt erst jenseits der „bürgerlichen Verachtung des Triebs“ in den Blick (AGS 4, 65 – 72). In der Kirke-Episode der Odyssee
wird in der magischen Verwandlung in die naturale Seinsweise zugleich mit dem
ältesten Sinn des Geruchs die darin verborgene „Spur der Lust“ evoziert (78). Der
Trieb ist Grund und emanzipatorisches Potential.
Umso dramatischer nimmt sich seine kategorische Unterdrückung aus. Wenn
Freud die Repression des Triebhaften als Bedingung der normalen Selbstwerdung
und Moment der kulturellen Sublimation zeichnet, so nimmt diese Zurückdrängung in der menschheitsgeschichtlichen Optik der Dialektik der Aufklärung Züge
der Gewalt und Zerstörung an. „Furchtbares hat die Menschheit sich antun
müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des
Menschen geschaffen war“ (40). Der Triebverzicht, das Verschmähen der Lust wird
zur Selbstverstümmelung als Bedingung der Selbst- und Naturbeherrschung (80).
Das den Gottheiten zur Zähmung der Natur dargebrachte Opfer richtet sich gegen
das Selbst; die Verinnerlichung der gehemmten Aggression und die Introversion
des Opfers werden zu Scharnieren der Zivilisation, die durch externe Mächte erzwungene Versagung vertieft sich zur Entsagung (62). Die reflexiv gewendete
Unterdrückung des Selbst verschmilzt mit der sozialen Herrschaft der Mächtigen,
wird als deren Effekt zu ihrem Medium. Die Beherrschung des Triebs, die für das
klassische Menschenbild die Basis innerer Souveränität und Selbstaffirmation
darstellt, wird zum Hebel der Selbstverleugnung und Vernichtung des Selbst. Die
Beherrschung verstärkt sich zur Lustfeindschaft und destruktiven Abwehr. So liegt
es nahe, dass in einer bestimmten Verbindung von Freud und Marx die befreite
Sinnlichkeit umgekehrt zur eigentlichen revolutionären Kraft mutieren kann
(Marcuse 1969).
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10.4 Naturbeherrschung, Mimesis, Eingedenken
der Natur
Was die Psychoanalyse mit Bezug auf den Triebgrund des Lebens reflektiert, wird
in der Urgeschichte der Subjektivität als Naturverhältnis zum Thema. Auch hier
steht ein Selbstverhältnis in Frage, und auch hier findet nach der Dialektik der
Aufklärung eine analoge Entfremdung statt, die zwischen Naturunterwerfung,
Naturvergessenheit und Naturzerstörung oszilliert. Wenn im klassischen Entwicklungsschema bei Hegel das Zusichkommen des Geistes ein Herausgehen aus
dem Naturzustand und Überwinden des naturalen Außersichseins beinhaltet, so
ist diese aneignende Überwindung im zivilisatorischen Prozess zu einer dissoziierenden Repression geworden. Sie manifestiert sich nicht nur im äußeren
Naturverhältnis, sondern ebenso in der Tabuisierung der eigenen Natur, der
„Haßliebe gegen den Körper“, die den Leib zum Ding degradiert; „in der Selbsterniedrigung des Menschen zum corpus rächt sich die Natur dafür, daß der
Mensch sie zum Gegenstand der Herrschaft, zum Rohmaterial erniedrigt hat“
(247). Die in der Frühgeschichte einsetzende „Entzauberung“ (11) der Welt und
ihrer animistischen Belebung, die mit der Überwindung des Mythos die Übermacht der nichtdomestizierten Natur bricht und schließlich „die Beherrschung
der Natur drinnen und draußen zum absoluten Lebenszweck“ erhebt (38), mündet
in die Elimination des Lebendigen in der Natur. Zu einem Leitbegriff der kritischen
Beschreibung wird der – auch in späteren Schriften Adornos grundlegende –
Begriff der Mimesis. Er steht für eine Nähe zur Natur, die über die aristotelische
Nachahmung der Physis durch die Techne hinausgeht und das Subjekt in seiner
ursprünglichen Lebendigkeit involviert und am Natürlichen partizipieren lässt –
eine Partizipation, die im instrumentellen Naturverhältnis verfemt und durch die
Tendenz zum schlechten Naturalismus abgelöst wird. Aus der Mimesis ans Lebendige wird die „Mimesis ans Tote“ (64), der dem Todestriebs verschwisterte
„mimétisme“ von Caillois (241) bzw. die „Mimikry mit dem Anorganischen“, die
noch die gestählten Körper wie „präparierte Leichen“ erscheinen lässt (AGS 4, 64).
Es entspricht einer psychoanalytischen Perspektive, dass das gewaltsam
Unterdrückte sich nicht zur Gänze austreiben lässt.Wie das Verdrängte nach Freud
„nachdrängt“, so bleibt das evolutionär Unterdrückte als Tendenz und Versuchung virulent, muss der mimetische Impuls gewaltsam niedergehalten werden.
Zentral ist diese Figur nicht zuletzt für die Diagnose des Antisemitismus, die in der
Dialektik der Aufklärung nicht religionstheoretisch oder politisch, sondern anthropologisch ansetzt und die Nähe zur Natur als Gegenstand einer Sehnsucht
erkennt, die auf den Anderen projiziert und in ihm bekämpft wird, wobei der
„mimetischen Verlockung“ (193) noch in der verhöhnenden Aggression nachge-
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10 Kritische Theorie und Psychoanalyse. Die Spur Freuds
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geben, die unterdrückte Regung auf dem Umweg der Projektion zugelassen wird
(196). Die zweifache, nach innen und außen gewendete Repression demonstriert
zugleich mit der tiefliegenden Ambivalenz des Naturverhältnisses die Macht der
Zugehörigkeit wie der gegen sie gekehrten Abwehr. Sie mündet in einer Naturzerstörung, die in Kulturindustrie, technischer Weltbeherrschung und verdinglichendem Umgang mit sich unterschiedliche Facetten einer abgründigen Entfremdung entfaltet. Gegen sie bringt die Dialektik der Aufklärung Spuren eines
versöhnten Naturbezugs in den Blick, teils in Formen und Residuen einer nicht
zerstörten Mimesis, teils in jenem „Eingedenken der Natur im Subjekt“ (47), das
geradezu zur Chiffre des Zugangs zum Verschütteten und Anderen, zum Kern einer
Überwindung der Logik der Macht wird. Die Figur des Eingedenkens findet im
Horizont der Fragen nach dem Ursprung und der Erinnerung ihre weitere Explikation.
10.5 Ambivalenz des Ursprungs – Sehnsucht,
Emanzipation, Regression
In Auseinandersetzung mit Trieb und Natur vollzieht sich der Prozess menschlicher Selbstwerdung. Sie realisiert sich wesentlich als ein Prozess der Ablösung,
der sich gegen den Ursprung wendet. Diese Gegenwendung zeigt sich als eine
grundlegend ambivalente, in welcher der eigene Grund sowohl verbleibende Basis
und Objekt des Strebens wie Gegenstand der Verfemung und destruktiven Unterdrückung wird. Generell ist die Suche nach dem Ursprung in der Ideengeschichte im spannungsvollen Spektrum zwischen Ursprungssehnsucht, Ursprungsverhaftung, Ursprungsverlust und Ursprungskritik zum Thema geworden
(vgl. Angehrn 2007). Gilt die Suche nach dem Grund und Ersten den einen als
Gewähr der Wahrheit und sicheren Orientierung, so den anderen als Indiz unfreier
Verhaftung und Regression. Einem Grund entspringen kann das emanzipative
Freiwerden wie das Fundiertsein in der Herkunft meinen. Diesen zwiespältigen
Ursprungsbezug macht die Dialektik der Aufklärung im Werden des Individuums
wie in der Urgeschichte des Subjekts zum Thema.
Es sei Aufgabe der Philosophie, meint Horkheimer 1945 in einer Vorlesung an
der Columbia University, „die Erinnerung an die Mimesis der Kindheit wachzurufen, die durch die spätere Sozialisation verdunkelt worden“ ist (Jay 1976, 316).
Ähnlich wendet sich Adorno 1946 gegen die revisionistische Relativierung der
„zentralen Rolle der Kindheitserinnerungen“ als Kern der psychoanalytischen
Theorie (AGS 8, 23). Dabei ist die Bedeutung der Kindheit nicht nur eine genealogische, sie liegt nicht allein in der Relevanz der ersten Entwicklungsphase und
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in den lebensgeschichtlichen Auswirkungen früher Entbehrung, Verletzung oder
Disziplinierung. Sie liegt ebenso in der Nähe zur ursprünglichen Einheit und
Geborgenheit, darin, dass Kindheit zum Ort der Sehnsucht nach Heimat und
Versöhnung, der Erinnerung an das ursprüngliche Glück wird. Als Gegeninstanz
zum abstrakten Gehäuse der fungiblen Gesellschaft dient das Ahnen und Wünschen des Kindes, das Adorno anschaulich mit dem Nachhall von Namen im
kindlichen Erleben – in signifikant entgegengesetzter Prägung – verbindet: als
Erinnerung an die Faszination, die vom Niedrigen, durch die Zivilisation Verdrängten ausging und die das Kind „aus den Worten Luderbach und Schweinstiege ansprang“ (AGS 6, 358 – 359), wie als Erinnerung an das Glück, „das Namen
von Dörfern verheißen wie Otterbach, Watterbach, Reuenthal, Monbrunn“ (AGS 6,
366). Die Odyssee, die das Schicksal der Genese des Selbst vor Augen führt, ist
wesentlich um Motive der Sehnsucht nach Rückkehr, nach dem verlorenen Urzustand, nach Heimat angelegt (85). Dabei verkörpert die Episode der Lotophagen
den abgründigen Zwiespalt des Einsseins, den Segen und Fluch des Vergessens,
welches das Schlaraffenland, das Aufgehen im Unmittelbaren, aber auch die
Absage an die Rückkehr bedeutet (70 – 71). Die Einheit und das Aufgehen im
Ganzen ist sowohl utopische Erfüllung wie drohende Verschlingung. Die beschädigte Existenz bleibt in ungelöster Spannung zwischen den Fluchtpunkten
der wiedererlangten Integrität und der regressiven Auflösung, die Selbstwerdung
der Gattung wie des Individuums verbleibt in der Antinomie von Emanzipation
und Regression. Gewaltsam wird die Lockung der Natur, die Sehnsucht nach dem
Ursprung von denen bekämpft, die ihr zu verfallen drohen.
10.6 Vergessen, Wiederholen, Erinnern
In genuiner Verschränkung mit psychoanalytischen Konstellationen entfaltet die
Dialektik der Aufklärung den zwiespältigen Ursprungsbezug in der Dialektik von
Erinnern und Vergessen. Den hohen Wert des Erinnerns, der der Analyse vor
Augen steht und der sich im individuellen Lebenslauf bekräftigt, gilt gleichermaßen für den geschichtlichen Vergangenheitsbezug. In Frage steht eine Erinnerung jenseits des positivistischen Berichts oder der Mnemotechnik des
Gedächtnisses, eine Erinnerung, der es „nicht um die Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Einlösung der vergangenen Hoffnung“ zu tun ist (5).
Erinnerung geht nicht auf in der Reproduktion der Fakten, sondern meint ebenso
ein Festhalten am Potential, an der Forderung und am Versprechen des Lebens,
das in die Kindheit scheint und den Gang des Lebens trägt. Gerade wenn reale
Geschichte sich als „Grauen“ erweist, ist jenes „erste Aufleuchten von Vernunft“
bedeutsam, das im Ausdruckstrieb der Kreatur sich meldet „und im erinnernden
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10 Kritische Theorie und Psychoanalyse. Die Spur Freuds
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Denken des Menschen widerscheint“ (236 – 237). Erinnerung, die in abgründiger
Einheit Leidenserinnerung und Erinnerung eines ursprünglichen Glücksversprechens ist, wird der Kritischen Gesellschaftstheorie zur subversiven Kraft. Deshalb
ist Erinnerung in der etablierten Ordnung verpönt, wird sie von ihr bekämpft. Die
Besinnung auf den Ursprung, die Erinnerung der Natur ist der herrschenden
Praxis „gefährlich“ (271), das Vergangene gilt den gleichgeschalteten Individuen
als irrational und suspekt, bringt sie „in Wut“ (226). Die Verdrängung der Geschichte findet ihr Echo in der Abneigung gegen die Pflege des Gedächtnisses in
der revisionistischen Psychoanalyse: „La recherche du temps perdu est du temps
perdu“ wird gewissermaßen zum Schlagwort einer Marginalisierung der Erinnerung, die „dem herrschenden Geist verschworen“ ist und mit der Abschaffung der
Individualität paktiert (AGS 8, 34).
Einen zentralen Stellenwert in der entfremdeten Existenz wie der sozialen
Realität besitzen Formen der entäußerten, nicht-gelingenden Erinnerung. Für die
Psychoanalyse sind sie unter den Titeln der Verdrängung und der Wiederholung
thematisch geworden: einerseits im Modus jenes zwanghaften Verbannens aus
dem Bewusstsein, das doch kein befriedetes Vergessen, kein erlösendes Freiwerden – einschließlich der Trauer und des Abschieds – ermöglicht, sondern
Vergangenheit als unerkannte, unverarbeitete mit sich schleppt und in Symptomen und Ersatzhandlungen sich manifestieren lässt, anderseits in der obstinaten
Wiederkehr des Gleichen, die sowohl die neurotischen Zwangshandlung wie den
Kreislauf der gesellschaftlichen Mechanismen strukturiert. Das urgeschichtliche
Muster dieser in der Immergleichheit sich zuwiderlaufenden Entwicklung sieht die
Dialektik der Aufklärung im mythischen Bann, der Unentrinnbarkeit der zyklischen Zeit, die sich ebenso in der Permanenz der Versagung im Kulturbetrieb
auswirkt (17– 23, 142– 158). Solche Wiederholung ist selbst eine Form, eine Abart
des nicht als solchen erkannten Erinnerns, die zugleich die schlechte Herrschaft
des Vergangenen perpetuiert und die Offenheit der Gegenwart und Zukunft unterbindet. Eine wahre, befreiende und versöhnende Erinnerungskultur, wie sie
Freud (1914) in der Schrift „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“ zur Sprache
bringt, verlangt die Überführung der unbewusst-zwanghaften Wiederkehr des
Vergangenen in dessen reflektierte Aneignung in einem bewussten Leben.
10.7 Leiden und Glückserinnerung
Entscheidend ist in alledem, dass die Frage von Erinnern und Vergessen nicht als
kognitive Fähigkeit und Technik der Memoria, sondern als lebensweltlicher Vergangenheitsbezug interessiert, der wesentlich durch dessen affektiv-normative
Prägung bestimmt wird. Er kommt ebenso wohl als ursprüngliche Glückserin-
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nerung wie als Leidenserinnerung zum Tragen. Beide Ausrichtungen sind für die
individuelle Biographie wie die kritische Geschichtsphilosophie von Belang. Gerade die negativistische Färbung der Erinnerung ist Adorno zufolge für Freud
selbst ein Motiv für deren konzeptuelle Zentralität: „Was Freud eigentlich dazu
veranlaßt, einzelnen Vorgängen in der Kindheit besonderes Gewicht beizumessen,
ist, obzwar unausdrücklich, der Begriff der Beschädigung“ (AGS 8, 24). Gleichwohl
ist es wichtig, an beiden Ausrichtungen als Angelpunkten des Selbstseins wie der
Geschichte festzuhalten.
Die Rettung einer utopischen Glücksidee gegen das „verordnete Glück“ im
sozialen Amusement des Kulturbetriebs (AGS 4, 67) ist Vorbedingung für die Befreiung des Individuums aus der Fessel sozialer Uniformität. Es geht zum einen um
eine Rehabilitierung der von der Zivilisation verschmähten, von der psychoanalytischen Lehre aufgewerteten basalen Lust, die gewissermaßen als Statthalterin
einer nicht disziplinierten sinnlichen Präsenz dient, zum anderen um das Festhalten an Bildern einer emphatischen Erfüllung, wie sie der tiefsten Sehnsucht
entspringen und „in der Erinnerung des fernsten und ältesten Glücks“ aufblitzen
(71). Ausführlich beschreibt die Dialektik der Aufklärung die Eindämmung und
Pervertierung dieses ursprünglichen Begehrens in der gesellschaftlich akzeptierten, ja, verordneten Genuss- und Spaßkultur, in welcher ein authentisches
Glücksverlangen nicht nur beschnitten, sondern in sein Gegenteil verkehrt wird.
Hatte Freud die Etablierung der Kultur noch über die verwandelnde Sublimierung
der Libido erklärt, so weicht die erhöhende Sublimierung im heutigen Kulturbetrieb der nackten Repression, die im Zeichen der Versagung um eben jenes betrügt,
das sie fortwährend verspricht (148 – 149). Indem sie „als Paradies denselben
Alltag“ wieder anbietet, ersetzt sie den transzendierenden Überstieg durch die
Verkettung des Immergleichen. Vergnügen wird zum „Betrug am Glück“ (149).
Subversiv ist in einem solchen System die Kritik am falschen Glück ebenso wie die
Erinnerung an das wahre, die beide verfemt, untersagt und unterdrückt werden.
Ineins damit aber trifft das Verbot die Erinnerung des Leidens. Die ideologische Befangenheit durchbrechen hieße die Gewalt, das Unrecht und das Leiden
erkennen, welche die Signatur der Welt ausmachen. In den der Psychoanalyse
gewidmeten Aphorismen der Minima Moralia spitzt Adorno diesen Gedanken zum
Äußersten zu: „Es gehört zum Mechanismus der Herrschaft, die Erkenntnis des
Leidens, das sie produziert, zu verbieten, und ein gerader Weg führt vom Evangelium der Lebensfreude zur Errichtung von Menschenschlachthäusern so weit
hinten in Polen, daß jeder der eigenen Volksgenossen sich einreden kann, er höre
die Schmerzensschreie nicht“ (AGS 4, 68). Dagegen müsste eine kritische, „kathartische“ Betrachtung darauf zielen, „die Menschen zum Bewußtsein des Unglücks, des allgemeinen und des davon unablösbaren eigenen zu bringen“ (AGS 4,
68) und die im Funktionsgefüge von Arbeit und Vergnügen sich durchsetzende
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10 Kritische Theorie und Psychoanalyse. Die Spur Freuds
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Stummheit und Unsichtbarkeit des Leidens zu durchbrechen. Verlangt ist eine
Macht der Kritik, die zuletzt von der Kraft der Negation, des Neinsagens nicht
ablösbar ist. Abwehr und Widerstand sind nicht nur psychische Funktionen im
Dienste des realitätsgerechten Ich, sondern desgleichen Kräfte des Individuums
gegen die herrschende Realität, zutiefst gegen Leiden und Unrecht. Der Kritikansatz der Dialektik der Aufklärung, der in der Analyse der Kulturindustrie wie in
der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus zum Tragen kommt, ist der
fundamental negativistischen Anlage der Negativen Dialektik verwandt: das
Wahre nur aus der Negation des Falschen, im unversöhnlichen Widerstand und
der „unbeirrten Negation“ (AGS 6, 162) des Nichtseinsollenden zu gewinnen.
Dieser Gedanke, den die Negative Dialektik in den berühmten Satz fasst: „Das
Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit“ (AGS 6,
29), steht auch über den Ausführungen der Dialektik der Aufklärung.Wenn die reale
Geschichte nicht Fortschritt zur Humanität, sondern im Gegenteil „das Grauen ist,
so ist Denken in Wahrheit ein negatives Element“ (236). Gegen das Verbleiben im
Negativen wehren sich der Ausdrucksdrang des Lebens, der den Schrei der Empörung artikuliert, wie das Ethos der Kritik und das Ideal wahren Erkennens.
Freud hat die praktische Abwehr als Fundament allen Negierens – die Verneinung
als „intellektuellen Ersatz der Verdrängung“ (Freud 1925, 12) – und damit allen
Sprechens behandelt. Die Fundamentalität der Negativitätserfahrung und -kritik
durchzieht analog das Theoriegerüst der Dialektik der Aufklärung. Die Verhinderung des Negierens und Widerstehens gehört selbst zur Herrschaftstechnik der
Repression (150). Die Elimination der Negation aus der Sprache bildet einen Kern
jener von Marcuse gegeißelten Eindimensionalität, in welcher das Denken seinen
kritischen Stachel verliert und zum Instrument der Anpassung wird (Marcuse 1967, 139 – 158).
Erneut im Einspruch gegen die harmonisierende Lehre von Horney und
Fromm und die Tendenz zur nivellierend-angleichenden Therapie insistiert
Adorno auf dem von Freud bedachten Leidensfaktor im Leben des Einzelnen und
in der Dynamik der Psychoanalyse. Es gilt wohl das Individuum „als ein Absolutes
zu nehmen“, dessen einheitlicher Charakter jedoch eher einem „System von
Narben“ gleicht, „die nur unter Leiden, und nie ganz integriert werden“, und das
„nur durch Leiden, Lebensnot“ an die gesellschaftliche Totalität gebunden ist
(AGS 8, 24, 35). Wenn Psychoanalyse nicht nur eine Theorie über den Aufbau des
Selbst, sondern auch ein verstehender Umgang mit Negativität und Leiden ist, so
ist auch dies eine Spur, die in gleicher Weise die Nachzeichnung der Urgeschichte
des Menschen in der Dialektik der Aufklärung durchzieht.
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Emil Angehrn
10.8 Der Zwiespalt der Psychoanalyse
Die Spur Freuds in der Dialektik der Aufklärung ist weder einheitlich noch eindeutig. Uneinheitlich, teils zwiespältig erscheinen sowohl die Lehre Freuds wie die
psychoanalytische Strömung und die Stellungnahme der Kritischen Theorie zur
Psychoanalyse. Teils geht es dabei um konzeptuelle Veränderungen im Laufe der
freudschen Theoriebildung, teils um strukturelle Antinomien in seinem Konzept,
teils um Divergenzen zwischen ihm und anderen theoretischen und therapeutischen Richtungen, teils um Verschiebungen innerhalb der Positionierung Horkheimers und Adornos, aber auch anderer Angehöriger der Frankfurter Schule in
ihrem Verhältnis zur Psychoanalyse. Im Folgenden seien unter diesen vielfältigen
Aspekten abschließend nur zwei festgehalten: die Kritik an bestimmten Richtungen und Anwendungen der Psychoanalyse und die Auseinandersetzung mit
internen Spannungen in Freuds eigenem Konzept.
Schon genannt wurde die Distanzierung gegenüber revisionistischen Aufweichungen, welche die Stringenz der Sexual- und Triebtheorie der Freudschen
Theorie suspendieren. Nach anderer Richtung gilt die Kritik der auch in psychoanalytischen Strömungen auszumachenden objektivierenden Tendenz einer
Psychologie, welche den Menschen als Material untersucht, in seine Fähigkeiten
und Triebe zerlegt und die Analyse in den Dienst einer Technik der Seelenbeherrschung stellt (AGS 4, 69). Die kulturkritisch pointierteste Kritik zielt auf die der
Psychoanalyse innewohnende Tendenz zur Normalisierung und Anpassung, die
zum Teil mit der Dominanz der therapeutischen Ausrichtung der Psychoanalyse
einhergeht. Als ideologieverdächtig gilt die therapeutische Orientierung, welche
die sozial induzierten Pathologien als behebbar unterstellt und in der Fokussierung auf das Seelenleben des Einzelnen die „absolute Vorherrschaft der Ökonomie“ ignoriert, welche die Fassade der Normalität über die Verstümmelung der
Individuen durchsetzt und eine Gesundheit dekretiert, der selbst „die Flucht in die
Krankheit abgeschnitten“ ist; ungeschmälerter Polemik begegnet eine Psychoanalyse, die den herrschenden Verhältnissen „längst den Treueid geleistet“ und
sich selbst „zu einem Stück Hygiene“ gemacht hat (AGS 4, 63 – 64). Die Tiefenpsychologie, die „mit Hilfe des Films, der Seifenopern und der Horney […] in die
letzten Löcher dringt“, macht sich zum Hilfsmittel der organisierten Kultur, indem
sie die Triebkonflikte nicht heilt, doch in domestizierbare Mechanismen integriert
und als Bestandstück in das genormte Leben „hineinmontiert“ (AGS 4, 71). Sie hat
teil am Illusionären einer individuumszentrierten Triebökonomie, die „in der Ära
der großen Konzerne und Weltkriege“ längst „psychologisch expropriiert“ und
„rationeller von der Gesellschaft selbst betrieben“ wird (213). Die Abschaffung des
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10 Kritische Theorie und Psychoanalyse. Die Spur Freuds
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Individuums ist sowohl indirekte Folge der Bemühung um die Psyche des Einzelnen wie sie ihr vorausgeht und ihre Falschheit bedingt.
Wenn solche Vorbehalte weniger Freud selbst als andere Repräsentanten,
bestimmte Praktiken und populärwissenschaftliche Adaptationen der Psychoanalyse treffen, so distanziert sich die Dialektik der Aufklärung doch auch von
Freuds eigener Sichtweise. Sie tut dies im zentralen Punkt der Absage an den
Fortschrittsglauben der Aufklärung, der etwa in Freuds kulturkritischen Schriften
die Illusionszerstörung der Religionskritik mit der Emanzipation des Menschen
verknüpft (Freud 1927; vgl. Lohmann 2006, 378). Gerade in der Kernaussage einer
in sich rückläufigen Aufklärung stellt sich die Kritische Theorie in ein gespanntes
Verhältnis zur leitenden Intention der Psychoanalyse. Allerdings nimmt sie dabei
auch ein internes Spannungsverhältnis, einen Zwiespalt innerhalb der Freudschen Lehre wahr, die auf der Fundamentalität des „unbewußten Triebgrunds“ im
Handeln und Erleben der Subjekte beharrt und gleichzeitig an der „bürgerlichen
Verachtung des Triebs“ teilhat und darin der gesellschaftlichen Rationalisierung
zuarbeitet: „Freuds unaufgeklärte Aufklärung spielt der bürgerlichen Desillusion
in die Hände. Als später Feind der Heuchelei steht er zweideutig zwischen dem
Willen zur hüllenlosen Emanzipation des Unterdrückten und der Apologie hüllenloser Unterdrückung“ (AGS 4, 65 – 66). Der Zwiespalt ist einer der in sich gegenläufigen, von Regression bedrohten Aufklärung, an welcher „die Psychoanalyse als ein Stück Aufklärung teilhat“ (AGS 8, 30). Inhaltlich geht es um den
strukturellen Zwiespalt in der Auffassung des Subjekts, zwischen Lust- und
Realitätsprinzip, aber auch zwischen individuellem Selbst und sozialer Prägung,
psychologischer und soziologischer Analyse, worin einerseits die Psychoanalyse
sich in den Dienst einer Befreiung des Selbst aus innerem wie äußerem Zwang
stellt, andererseits das Subjekt als bloßer „Schauplatz“ des Sozialen gilt und die
Psychoanalyse als hilfloser Versuch erscheint, „das bereits nicht mehr vorhandene Individuum zu retten“ (HGS 12, 440), ja, in ihrer desillusionierten Version die
Persönlichkeit geradezu als „Lebenslüge“ einzieht und die Inkommensurabilität
des Einzelnen sabotiert (AGS 4, 70 – 72).
Indes entspricht dieser zweifache Blick auf das Individuum zuletzt einem
inneren Zwiespalt der Subjektwerdung, wie er auch der existenzphilosophischen
Reflexion gegenwärtig ist und in Freuds Schriften teils einseitig von der einen, teils
der anderen Seite angegangen wird. Der Selbstbezug des Einzelnen ist darin
ebenso irreduzibel wie seine Situierung im Historisch-Sozialen unhintergehbar ist.
Gerade die Intransigenz des Festhaltens an beiden Polen des Menschseins wird für
die Theorie zum Index der Wahrheit. Es ist ein Beipflichten zu dieser Unnachgiebigkeit, wenn Adorno das bekannte Diktum formuliert, an der Psychoanalyse
sei „nichts wahr als ihre Übertreibungen“ (AGS 4, 54), oder schreibt, „Freud hatte
recht, wo er unrecht hatte“ (AGS 8, 35) – wie die Dialektik der Aufklärung auch mit
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Bezug auf den provozierenden Amoralismus der „dunklen Schriftsteller des
Bürgertums“ feststellt: „Aber nur die Übertreibung ist wahr“ (126). In der Stellungnahme zur Psychoanalyse dominiert zumal bei Adorno jene Unversöhntheit
der Gegensätze, welche die Negative Dialektik gegen den spekulativen Vermittlungsanspruch der Hegelschen Dialektik zum Programm erhebt. Eben darin erkennt er die Wahrheit der psychoanalytischen Theorie: „Die Größe Freuds besteht
wie die aller radikalen bürgerlichen Denker darin, daß er solche Widersprüche
unaufgelöst stehen läßt und es verschmäht, systematische Harmonie zu prätendieren, wo die Sache selber in sich zerrissen ist.“ (AGS 8, 40) Für Kritische Gesellschaftstheorie geht es darin nicht nur um das Schicksal des Psychischen oder
die antinomische Verfassung der Existenz, sondern um die objektive Unvernunft
und Unversöhntheit geschichtlicher Realität.
Literatur
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Bonß, Wolfgang. 1982. Psychoanalyse als Wissenschaft und Kritik. Zur Freudrezeption der
Kritischen Theorie, in: Bonß, Wolfgang/Honneth, Axel (Hrsg.), Sozialforschung als Kritik.
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Lohmann/Joachim Pfeiffer, Stuttgart, 377 – 382
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Rantis, Konstantinos. 2001. Psychoanalyse und „Dialektik der Aufklärung“, Lüneburg
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