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2. Le Terrain Technique

2014, Oldenbourg Wissenschaftsverlag eBooks

Es gibt Menschen, welche die Geschichte des Fernsehens vor 4000 Jahren beginnen lassen und »pioneer color television experiments« mit Newtons Zerlegung des Lichts in Spektralfarben ansetzen 1. Das Ziel der nun folgenden Darstellung ist bescheidener: Es geht um einen knappen Überblick über die technische Entwicklung des elektronischen Farbfernsehens. Es geht nicht darum, die zahlreichen Entwicklungspfade, welche die frühe Fernsehtechnik eingeschlagen hat, im Detail nachzuzeichnen. Zu dieser Thematik liegt eine ausreichend differenzierte Literatur vor 2. Vielmehr sollen die wichtigsten

2. LE TERRAIN TECHNIQUE Es gibt Menschen, welche die Geschichte des Fernsehens vor 4000 Jahren beginnen lassen und »pioneer color television experiments« mit Newtons Zerlegung des Lichts in Spektralfarben ansetzen1. Das Ziel der nun folgenden Darstellung ist bescheidener: Es geht um einen knappen Überblick über die technische Entwicklung des elektronischen Farbfernsehens. Es geht nicht darum, die zahlreichen Entwicklungspfade, welche die frühe Fernsehtechnik eingeschlagen hat, im Detail nachzuzeichnen. Zu dieser Thematik liegt eine ausreichend differenzierte Literatur vor2. Vielmehr sollen die wichtigsten 1 Siehe Lynn A. YAEZEL, Color it Confusing: A History of Color Television, in: Lawrence W. LITCHY, Malachi C. TOPPING (Hg.), American Broadcast. A Source Book on the History of Radio and Television, New York 1976, S. 72-80. Als Quelle für diesen Unsinn gibt Yaezel das Buch von Richard W. HUBBELL, 4000 Years of Television, New York 1942, an. 2 Allgemein·. August KAROLUS, Farbfernsehen, in: Zeitschrift für angewandte Physik 4 (1952) 8 S. 300-320; Erich SCHWARTZ, Farbfernsehen. Geschichtliches, augenblicklicher Stand, Tendenzen der Weiterentwicklung, in: Technische Hausmitteilungen des NWDR 6 (1954) 5/6 S. 105-126; Wilhelm KELLER, Hundert Jahre Femsehen 1883-1983, Berlin, Offenbach 1983; Helmut SCHÖNFELDER, Fernsehtechnik im Wandel. Technologische Fortschritte verändern die Femsehwelt, Berlin, Heidelberg, New York 1996; BURNS, Television; Rick MARSHALL, The History of Television, Twickenham 1986; John WYVER, The Moving Image. An International History of Film, Television and Video, Oxford 1989; Raymond FIELDING (Hg.), A Technological History of Motion Pictures and Television: An Anthology From the Pages of the Journal of the Society of Motion Pictures and Television Engineers, Berkeley 1967; KISSELOFF, The Box; INGLIS, Behind the Tube; Vladimir K. ZWORYKIN, George A. MORTON, Television. The Electronics of Image Transmission in Color and Monochrome, New York, London 1954; ABRAMSON, Electronic Motion Pictures. Für Deutschland: Fritz BELOW, Zur Entwicklung des Fernsehens in Deutschland, in: FTZ (1950) 8 S. 301-308; Winfried B. LERG, Zur Entstehung des Femsehens in Deutschland, in: Rundfunk und Femsehen 15 (1967) 4 S. 349-375; Walter BRUCH, Vom Farbensehen zum Farbfernsehen, in: Bild der Wissenschaft 3 (1966) 7 S. 524-535; Gerhart GOEBEL, Das Femsehen in Deutschland bis zum Jahre 1945, in: Archiv für Post- und Fernmeldewesen 5 (1953) 5 S. 259-293; Hans PRESSLER, Entwicklung des Farbfernsehens in Deutschland, in: Femmeldetechnische Zeitschrift 1 (1948) 5 S. 99-102; Heidie RIEDEL, Fernsehen - Von der Vision zum Programm, Berlin 1985; William URICCHIO (Hg.), The History of German Television, Sondernummer des Historical Journal of Film, Radio and Television 10 (1990) 2; DERS. (Hg.), Die Anfange des deutschen Fernsehens. Kritische Annäherungen an die Entwicklung bis 1945, Tübingen 1991. Für die USA: LITCHY (Hg.), American Broadcast. Für Belgien: Radio et T616vision de la Belgique Francophone (RTBF) (Hg.), Nouveau l'histoire de la radio t616vision en Belgique, Bruxelles 1986. Für Großbritannien: ABRAMSON, History of Television; BURNS, Television; Tony CURRIE, A Concise History of British Television, 1930-2000, Tiverton 2000; Graham Peter SCOTT, British Television. An Insider's History, Jefferson, Lonson 2000. Für Frankreich: Pierre ALBERT, Andr6-Jean TUDESQ, Histoire de la Radio-T£16vision, Paris 1986; Christian BROCHAND, Histoire g&idrale de la radio et de la tilövision fran9aise, 2 Bde., Paris 1994; Marc CHAUVIERRE, La tölevision - hier, aujourd'hui et demain, Paris 1977. Für Skandinavien: lb BONDEBJERG, Francesco BONO (Hg.), Television in Scandinavia: History, Politics and Aesthetics, London 1996. Für Osteuropa: Joseph ROIZEN, Television in Eastern Europe and the Soviet Union, in: The Television Society Journal 11 (1965) 6 S. 136-141. Zudem gibt es zahlreiche 48 2. Le terrain technique Etappen, die zur Entwicklung desjenigen Systems geführt haben, das ohne Zweifel als »Referenzsystem« für alle weiteren technischen Farbfernsehentwicklungen gedient hat, kurz skizziert werden. Es handelt sich hierbei um das im Auftrag der US-amerikanischen Federal Communications Commission (FCC) entwickelte Farbfemsehsystem NTSC, das seinen Namen der FCC-Arbeitsgruppe »National Television System Committee« verdankt. Im Anschluß an die technikhistorische Darstellung des NTSC-Systems werden die europäischen Systemvarianten vorgestellt, wobei sich die Darstellung im wesentlichen auf die beiden letztlich erfolgreichen Varianten SECAM und PAL konzentriert. Diese Begrenzung in der Darstellung der Farbfernsehentwicklung sollte nicht als retrospektive teleologische Deutung einer komplexen und offenen Entwicklungsgeschichte mißverstanden werden. Eine ausgiebige Würdigung jener alternativen Entwicklungspfade, beispielsweise der mechanischen Bilderzeugungsverfahren, die in enger Wechselwirkung mit dem elektrooptischen Verfahren diskutiert wurden, wäre jedoch die Aufgabe einer eigens diesem Thema gewidmeten technikhistorischen Darstellung. Biographien und Autobiographien bedeutender Femsehpioniere. Siehe beispielsweise ABRAMSON, Zworykin; Manfred VON AKDENNE, Entstehen des Fernsehens: persönliche Erinnerungen an das Entstehen des heutigen Fernsehens mit Elektronenstrahlröhren, Herten 1996; Rüssel W. BUHNS, John Logie Baird: Television Pioneer, London 2002; George EVERSON, The Story of Television: The Life of PhiloywvutsrponmlkihgfedcbaYTSRPONMLKIHGFEDCBA Τ. Famsworth, New York 1949; Donald G. GODFREY, Philo T. Famsworth: The Father of Television, Salt Lake City 2001; Peter C. GOLDMARK, Maverick Inventor: My Turbulent Years at CBS, New York 1973; Hildegard Karolus, August Karolus: ein Fernsehpionier. Die Anfange des Fernsehens in Deutschland in Briefen, Dokumenten und Veröffentlichungen aus seiner Zusammenarbeit mit der Telefunken GmbH, Berlin 1923-1930, Berlin 1994; Frank Ronald TILTMAN, Baird of Television. The Life Story of John Logie Baird, London 1933; Malcolm BAIRD, Television and Me. The Memoirs of John Logie Baird, Edinburgh 2004; Paul SCHATZKIN, The Boy Who Invented Television. A Story of Inspiration, Persistence and Quiet Passion, Silver Spring 2002; Michel AMOUDRY, Ren6 Barthdlemy ou la grande aventure de la tilivision franfaise, Grenoble 1997. 2.1. »It takes but the flip of the switch«. 49 2.1. »It takes but the flip of the switch«. Die Farbfernsehentwicklung in den USA A beautiful girl in a colorful costume is lounging in an attractive room. Would you like to have her lounge in your living room? Now it is possible - by the way of color television. It takes but the flip of the switch, but this is no indication of the hours of mathematical development which went into this very complex system. The telephone was remarkable - the radio outstanding - television was a masterpiece - but color TV is an absolute miracle3. Auch wenn diese Beschreibung den leichten Verdacht US-amerikanischer Technikeuphorie vermuten läßt, bezeugten auch die europäischen Fernsehingenieure dem Anfang der fünfziger Jahre in den USA entwickelten NTSCSystem technische Genialität. Worin lag die Genialität des NTSC-Systems? Um diese Frage beantworten zu können, müssen kurz die technischen Herausforderungen vorgestellt werden, vor denen die US-amerikanischen Ingenieure Anfang der 1950 er Jahre standen. 2.1.1. Die physikalisch-technischen Grundlagen4 Während beim Schwarzweißfernsehen lediglich die Helligkeit (Leuchtdichte) als zu übertragende Information existiert, müssen beim Farbfernsehen zwei zusätzliche Komponenten übertragen werden: der Farbton und die Farbsättigung. Die zu übertragende Bildinformation eines Farbfernsehbildes ist demnach wesentlich größer die eines s/w-Bildes, die dazu benötigte Bandbreite dementsprechend auch. Das Farbfernsehen baut, ähnlich wie die Farbfotografie, auf dem physikalischen Prinzip auf, daß man mit Hilfe der drei Grundfarben Rot, Grün und Blau durch sogenannte »additive Farbmischung« beliebige Farbtöne und Sättigungsgrade erreichen kann. Jeder Farbeindruck, den das menschliche Auge wahrnimmt, läßt sich demnach als eine von den drei Grundfarben erzeugte Mischung denken5. Wie läßt sich diese Erkenntnis technisch umsetzen? Um ein Farbbild zu übertragen, muß es zuallererst elektronisch erzeugt werden, das heißt, eine Farbkamera muß das aufzunehmende Bild in entsprechende elektrische Signale umwandeln. Dies geschieht durch MiltonywvutsrponmlkihgfedcbaZVTSRIGFEDCB Α. SIZER, The Development of Colour-TV Signal, in: Radio Electronics 38 (1967) 1 S. 59. 4 Bei der Beschreibung der physikalisch-technischen Grundlagen der Farbfemsehtechnik wird, soweit es die heute noch gültigen Erkenntnisse der Fernsehtechnik betrifft, das Präsens als Erzähltempus gewählt. 5 Einen allgemeinverständlichen Einstieg in die Farbenlehre und ihre Bedeutung für die Entwicklung des Farbfernsehens liefert Walter Bruch in seinem Kapitel über »Technikgeschichte des Farbfernsehens von seinen Uranfängen bis zum amerikanischen NTSC« in: BRUCH, RIEDEL, PAL - Das Farbfernsehen, S. 9-57. 3 50 2. Le terrain technique entsprechende Farbfilter, die das in das Objektiv der Kamera einfallende Licht in die drei Grundfarbenanteile zerlegen. Das einfachste Farbfernsehsystem besteht demnach aus einer Kamera, die mit drei Aufnahmeröhren ausgestattet ist, die mit je einem Rot-, Grün- und Blaufilter versehen und zu einer Farbfernsehkamera zusammengefaßt sind. Die drei so aufnehmbaren Farbauszüge werden mittels einer lichtempfindlichen Schicht in elektrische Signale umgewandelt. Die drei Ausgangssignale dieser Kamera sind die den Grundfarbenanteilen entsprechenden Primärsignale für Rot, Grün und Blau, von denen jedes die gleiche Bandbreite beansprucht wie ein s/w-Signal. Auf der Empfängerseite werden diese drei Primärsignale nun dazu verwendet, sie mittels Projektion oder Spiegelung zur Deckung zu bringen. Das Prinzip der additiven Farbmischung ermöglicht schließlich die farbige Reproduktion der Bildvorlage auf dem Bildschirm6. Dieses System der additiven Farbmischung wird auch heute noch bei Projektionsempfängern oder bei der Großprojektion von Farbfernsehbildern angewandt. Die Schwierigkeit besteht darin, die drei Farbauszüge hundertprozentig zur Deckung zu bringen. Die Lösung dieses Problems gelang dem bei der Radio Corporation of America (RCA) angestellten EntwicklungsingenieurzywvutsronmlihgfedcbaZUTSRPNMLJIHGFEDCBA Α. N. Goldsmith im Jahre 1947. Sein Patent zur sogenannten shadowmask-Farbbildröhre gehört zu den folgenreichsten Erfindungen auf dem Gebiet der modernen Elektrotechnik. Dessen war sich der Präsident der RCA, David Sarnoff, schon wenige Jahre später bewußt, als er anläßlich der ersten öffentlichen Vorführung der shadow-mask-Röhre am 29. März 1950 in Washington verkündete: Im Vergleich zu den großen Erfindungen im Bereich von Radio und Fernsehen der letzten fünfzig Jahre wird diese Farbbildröhre in die Annalen des Fernsehens als revolutionäre und epochemachende Entwicklung eingehen. Wenn Historiker gegen Ende des 20. Jahrhunderts die wichtigsten wissenschaftlichen Entdeckungen auflisten, wird diese Röhre in der Reihe der größten Erfindungen dieses Jahrhunderts stehen. Sie ist der Schlüssel zum Farbfernsehen und damit eine herausragende Leistung unserer Zeit7. Die im Deutschen als »Lochmasken-« oder »Schattenmasken-Röhre« bezeichnete Farbbildröhre war nicht nur die Basis für die technisch-industrielle Durchsetzung des Farbfernsehens, sondern wurde auch zum Ausgangspunkt einer jahrzehntelangen Vormachtstellung der RCA auf dem Farbbildröhren- 6 Zur frühen Entwicklungsgeschichte der Fernsehkamera siehe ABRAMSON, Electronic Motion Pictures sowie Max ARTIGALAS, Michel FAVREAU, Les Cameras de täivision, in: Bulletin du Comiti d'histoire de la tilivision 18 (juin-juillet 1988) S. 29-62. Zur shadow-mask Farbfemseh- röhre siehe D. GABOR, F. R. S. MEMBER, P. R. STUART, P. G. KALMAN, Α New Cathode-Ray Tube for Monochrome and Colour Television, in: Proceedings of the Institution of Electrotechnical Engineers 105 (1958) S. 581-606. 7 Zitiert nach BRUCH, RIEDEL, PAL - Das Farbfernsehen, S . 39. 2.1. »It takes but the flip of the switch«. Abb. 1: RCA shadow-mask, aus: Archiv des Deutschen Museums München, Nachlaß Bruch, Signatur NL 101, Nr. 122. 51 Walter sektor. Worin bestand die Lösung des Problems? Einfach gesagt: In der getrennten Steuerung der drei Farbsignale durch eine Lochmaske. Das Prinzip des Lochricht-Rasterverfahrens stammt aus der Fotografie. Die Idee, das farbige (polarisierte) Licht durch Elektronenstrahlen zu ersetzen, war der Grundgedanke der Lochmaskenröhre. Schon der deutsche Physiker Werner Flechsig meldete 1938 ein Patent zu einer »Kathodenstrahlröhre zur Erzeugung mehrfarbiger Bilder auf einem Leuchtschirm« an8, die Realisierung dieser Idee blieb aber den RCA-Ingenieuren umwvutsronmlkihgedcbaNLKGB Α. N. Goldsmith vorbehalten. Neben der Lochmaske und drei getrennten Kathodenstrahlen war die Beschichtung der Glasinnenseite der Empfängerröhre der dritte zentrale Bestandteil der Lochmaskenröhre. Der Schirm enthält in regelmäßiger Anordnung etwa 330 000 Farbtripel, das heißt etwa 1000 000 Farbleuchtpunkte. Die drei Strahlen der Elektronenstrahlkanonen werden so ausgerichtet, daß sie gemeinsam durch ein Loch in der Lochmaske gehen, um dann divergierend auf die zu einer Dreiergruppe zusammengefaßten rot, grün und blau leuchtenden Phosphorteilchen aufzutreffen. Der Abstand zwischen Schirm und Lochmaske beträgt 11,5 mm, der Abstand zwischen den einzelnen Farbtripeln beträgt 0,74 mm9. 8 Werner FLECHSIG, Farbfernsehpatente aus dem Jahre 1938, in: Funkschau, 39 (1967) 17 S. 551-552. Flechsig (1900-1970), der zu dieser Zeit bei der Berliner Femseh GmbH beschäftigt war, konnte diese Erfindung (Deutsches Reichspatent Nr. 736575 vom 12. Juli 1938) aber nicht zu einer produktionsreifen Röhre weiterentwickeln. Siehe BRUCH, RIEDEL, PAL - Das Farbfernsehen, S. 37. 9 Eine allgemeinverständliche Beschreibung der Grundlagen der Farbröhrentechnik findet sich bei MÜLLER, Farbfernsehen, sowie bei M. KOUBEK, Zwanzig Jahre kompatibles Farbfernsehen. 52 2. Le terrain technique Das Aufbringen der Leuchtelemente (Phosphorteilchen), das Zusammenlöten der verschiedenen aus Hartglas gepreßten Glaseinzelteile zum kompletten Galskolben, in den die Lochmaske sowie die drei Kathodenstrahlkanonen eingebaut sind und schließlich die Evakuierung der gesamten Bildschirmröhre machen die Farbbildröhre zu einem der komplexesten massenindustriell hergestellten Konsumgüter überhaupt10. Die knappe Beschreibung dieser Technik, an deren Realisierung Hunderte von Spezialisten in mehreren Entwicklungslabors über Jahre gearbeitet haben, wird der Komplexität der Technik und der Bedeutung der Farbbildröhre für die Durchsetzung des Farbfernsehens mit Sicherheit nicht gerecht. Aus Gründen anderer Prioritätensetzung muß aber auf die unter technikhistorischen Gesichtspunkten interessante Beschreibung der Weiterentwicklung der Farbbildröhrentechnik verzichtet werden11. War das Aufteilen der Farbinformation in drei Farbsignale für die Kamera und den Empfänger so prinzipiell realisierbar, stellte dieses Prinzip die Fernsehingenieure vor ein anderes Problem: Das »3-Kanal-Verfahren« hat den Nachteil, daß bei der Übertragung (ob über Leitung, Rundfunk oder Satellit) die dreifache Kanalbreite für eine Farbfernsehübertragung benötigt wird. Praktisch bedeutet diese Tatsache, daß für die Übertragung eines Farbbildes bei einer Bildschirm-Zeilennorm von 625 Zeilen statt wie bislang 5 MHz Der Stand der Farbfernsehtechnik - Rückblick und Ausblick, in: Radioschau 16 (1966) 4 S. 204-211. 10 Kaiser beschreibt im Jahre 1967 die Farbbildröhre als das wahrscheinlich komplizierteste »technische Teil«, das bislang in die Massenproduktion überführt werde. Rudolf KAISER, Farbtüchtige Fernsehübertragungswege der DBP, in: Der Ingenieur der Deutschen Bundespost 16 (1967) 3 S. 92-98. Karl Tetzner beschreibt die Farbbildröhre, in der alleine 15 Jahre Entwicklungsarbeit steckten, als »das wohl am schwierigsten zu fertigende Teil, das man jemals für den Gebrauchsgütersektor hergestellt hat«. Siehe Karl TETZNER, Die Farbe im Femsehen. Technik Wirtschaft - Organisation, in: Rundfunk und Fernsehen 15 (1967) 2 S. 118. 11 Eine Alternative zur Lochmaskenröhre war die sogenannte »Trinitron«-Röhre, eine EinstrahlChromatron-Röhre, die 1964 erstmals von der Firma Sony auf den Markt gebracht wurde. Statt der Lochmaske übernehmen hier Elektronenlinsen die Bündelung der Elektronenstrahlen. Diese Technik geht auf eine Idee des amerikanischen NobelpreisträgerswrnecaOL Ε. O. Lawrence zurück. 1953/54 stellte General Electric eine größere Zahl von Versuchsmodellen her, scheiterte jedoch an den Fertigungsschwierigkeiten, die mit der Realisierung dieser hochsensiblen Technik verbunden waren. Masaru Ibaku, Mitbegründer von Sony, gelang es nach jahrelangem mühevollen Experimentieren dennoch, dieses Prinzip in Form der Trinitron-Röhre umzusetzen. Die TrinitronRöhre war mit einem neuartigen Elektronensystem ausgestattet, das alle drei Kanonen in einem System vereinigte, und so den schwierigen Abgleich der drei Kanonen für deckungsgleiche Farbauszüge obsolet machte. Obwohl die Trinitron-Röhre als technisch beste Farbbildröhre gilt, blieb ihre Produktion auf die Firma Sony beschränkt und konnte sich gegenüber der leichter zu fertigenden shadow-mask-Röhre nicht durchsetzen. Siehe hierzu Ronald D. BROWN, Engineering for Colour, in: New Scientist 25. August 1966 S. 416-419. Eine detaillierte technische Beschreibung der Empfangerröhre findet man im Telefunken-Fachbuch »Farb-Fernseh-Technik«, hrsg. von der Telefünken AG, Fachbereich Röhren, Ulm 1966, S. 47-67 sowie bei Norbert MAYER, Technik des Farbfernsehens in Theorie und Praxis, Berlin 1967, S. 127-155. 2.1. »It takes but the flip of the switch«. 53 Bandbreite 15 MHz benötigt werden. Da Mitte der fünfziger Jahre schon ein Mangel an verfügbaren Frequenzbändern existierte, stand man vor dem Problem, drei s/w-Kanäle für einen Farbfemsehkanal >opfern< zu müssen. Zu diesem rundfunkpolitischen Problem im Bereich der internationalen Frequenzverwaltung12 gesellte sich eine Herausforderung ganz anderer Art: Die Einführung eines Farbfernsehsystems mit einer Bandbreite von 15 MHz hätte bedeutet, daß der Fernsehzuschauer sich neben dem s/w-Gerät (mit einer Bandbreite von 5 MHz) einen zweiten Empfänger hätte kaufen müssen. War schon die Anschaffung eines s/w-Empfängers in den fünfziger Jahren ein Luxus der besonderen Art, wäre der Kauf eines zweiten, farbtüchtigen Empfängers wohl nur für eine verschwindend kleine Minderheit der Bevölkerung möglich gewesen. Im Gegensatz zur heutigen Zeit beanspruchte der Fernsehempfänger in den fünfziger Jahren den Status eines Luxusgutes mit einer >Halbwertzeit< von mindestens fünfzehn Jahren und einem symbolischen Wert vergleichbar mit dem eines Autos13. Für den Farbfernsehempfänger stellte sich demnach eine Forderung, die man in der Rundfunkindustrie bereits aus der Geschichte des Schwarzweißfernsehens kannte14: die Forderung nach Kompatibilität des Neuen mit dem Bestehenden. Beim Kauf eines neuen Farbempfängers wollte der Kunde mit diesem Gerät auch noch s/w-Sendungen sehen können. Eine Forderung, die angesichts des beim Beginn des Farbfernsehens sehr eingeschränkten farbigen Programmangebots mehr als berechtigt erschien. Umgekehrt sollten auch alle Besitzer eines s/w-Gerätes die in Farbe ausgestrahlten Sendungen in s/w sehen können. Kompatibilität hieß in diesem Fall, daß für die ٢bertragung von Farbfernsehbildern nicht mehr Bandbreite benötigt werden durfte als bei der ٢bertragung von s/w-Bildern. Die Farbinformation (Farbton und Farbsättigung) mußte irgendwie in der Bandbreite von 5 MHz untergebracht werden. Dies schien der Logik der Informationstheorie entgegen zu stehen und physikalisch nicht erfüllbar zu sein. Einen Ausweg aus diesem Dilemma bot nicht eine neuartige Informationstheorie sondern die Trägheit des menschlichen Auges, oder, wertneutraler ausgedrückt, die physiologische Beschaffenheit des menschlichen Sehorgans 12 Siehe hierzu ausfuhrlich Kap. 2.2. »The National Television System Committee«. Noch in einem Bericht über das Farbfernsehen in Frankreich aus dem Jahr 1968 wird festgestellt, daß der hohe Preis der Farbempfänger ein wesentlicher Hemmschuh für die rasche Verbreitung des Farbfernsehens bedeute. Es heißt: »Für den gleichen Preis kann man einen Kleinwagen kaufen, und damit ist die Frage für den Durchschnittsfranzosen überhaupt keine Frage: Das Auto geht vor«. Siehe N.N.: Farbfernsehen in Frankreich, in: Funk-Technik 23 (1968) 5 S. 154. 14 Die Probleme der Rundfunkindustrie, gerätetechnisch auf die Weiterentwicklung der Aufnahme- und ٢bertragungstechnik zu reagieren, lassen sich beispielhaft an der Herausbildung der unterschiedlichen s/w-Zeilennormen im europäischen Fernsehbetrieb veranschaulichen. Dieses Thema wird ausführlich am Beispiel der französischen 819-Zeilennorm und den Folgen dieser Entscheidung für die französische Rundfunkindustrie in Kapitel 2.3.1 diskutiert. 13 54 2. Le terrain technique und die Verarbeitung der Farbinformation im menschlichen Gehirn. Wahrnehmungsphysiologische Untersuchungen des menschlichen Auges hatten gezeigt, daß das Auflösungsvermögen für Farbunterschiede wesentlich geringer ist als für die Leuchtdichteunterschiede, also für die hell/dunkel-Unterschiede15. Das menschliche Auge hat gegenüber dem farbigen Detail ein bedeutend geringeres Auflösungsvermögen - der Reduktionsfaktor liegt zwischen 3 und 5 je nach Seh- und Verarbeitungsvermögen. Übertragen auf die Farbfernsehtechnik bedeutete dies, daß bei der Übertragung der drei Primärsignale mit voller Bandbreite überflüssige Farbinformation übertragen wird, die vom menschlichen Auge gar nicht wahrgenommen werden kann. Dieser Tatbestand legte den Gedanken nahe, das s/w-Bild (also das Leuchtdichtesignal) mit der gesamten Bandbreite von 5 MHz zu übertragen, die Farbinformation dagegen mit bedeutend geringerer Bandbreite, etwa mit 1 MHz zu übertragen. Ein beliebtes Bild zur Veranschaulichung dieses Prinzips ist der Vergleich mit dem Malbuch eines Kindes: Die bereits in Grauwerten vorgezeichneten Konturen lassen das wie auch immer ausgefärbte Objekt bereits deutlich erkennen16. Daß die Unterbringung der Farbkomponenten im s/w-Band möglich war, wurde bereits 1946 im sogenannten »mixed-highs«-System der RCA erfolgreich demonstriert17. Da der obere Teil des Frequenzspektrums beim s/w-Signal relativ gering beansprucht wird, führte man bei 4,43 MHz den soge15 Siehe Humberto MATURANA U. a., Eine biologische Theorie der relativistischen Farbkodierung in der Primatenretina, in: DERS. (Hg), Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig 1982. Die erkenntnistheoretischen Folgerungen aus seinen neurobiologischen Forschungen präsentiert Maturana anschaulich in: DERS., Was ist Erkennen?, München 1994. Der amerikanische Neurophysiologe William Calvin schildert die wahmehmungstheoretischen und bewußtseinsphilosophischen Grundlagen der Sehforschung anschaulich in dem Kapitel »Aus bloßem Gehirn wird Geist: Die visuelle Welt wird zerlegt«. Siehe William H. CALVIN, Die Symphonie des Denkens. Wie Bewußtsein entsteht, München 1995, S. 117-141. 16 Siehe M٢LLER, Farbfernsehen, S. 760. 17 Das »mixed-highs«-Verfahren war das erste in einer Reihe von Testverfahren, die man zur Reduktion der Bandbreite beim Farbfernsehen ausprobierte. Es folgten mehrere Systeme, die auf der Basis sequentieller, das heißt aufeinanderfolgender ٢bertragung der drei Primärsignale basierten. So das »field sequential system«, bei dem in aufeinanderfolgenden Teilbildem die Grundfarben übertragen wurden. Eine Weiterentwicklung stellte das »line sequential system« dar, bei dem die Abtastnorm vom Schwarzweißfernsehen übernommen und die Farbsignale zeilenweise übertragen wurden. Der nächste Schritt führte zum »dot sequential system«, zum Punktfolge-Verfahren. Die Umschaltung zwischen den Grundfarben erfolgte hier erstmals zwischen zwei aufeinander folgenden Bildpunkten. Die Erkenntnisse aus dem »dot sequential system« führten letztlich zu der für alle danach folgenden Systeme grundlegenden »System-Philosophie« des kompatiblen Farbfernsehens, wie sie im NTSC-System realisiert worden sind. Als ٢berblick siehe KOUBEK, Zwanzig Jahre kompatibles Farbfernsehen, S. 204 sowie SCHWARTZ, ٢bersicht über die verschiedenen Farbfernsehsysteme, S. 487-504. Eine ausfuhrliche technische Beschreibung findet sich bei INGLIS, Behind the Tube, S. 237 f. sowie vor allem bei den beiden Fernsehpionieren ZWORYKIN, MORTON, Television, S. 757-872. 2.1. »It takes but the flip of the switch«. Farbfilter Videokanäle 55 Farbempfänger Kompatibler Schwarz-Wein-Empfänger Abb. 2: Grundprinzip der Einkanalübertragung, aus: Archiv des Deutschen Museums München, Nachlaß Walter Bruch, Signatur NL 101, Nr. 122. nannten »Farbträger« in das Fernsehband ein, den man dann mit den beiden Farbkomponenten moduliert (Prinzip der Frequenzverkämmung oder »frequency interlace«). Da sich die beiden Farbsignale wegen der oben beschriebenen Beschaffenheit des menschlichen Sehvermögens in reduzierter Bandbreite (etwa 0,5 und 1,5 MHz) realisieren lassen, gruppiert sich schließlich die gesamte Farbinformation um den Farbträger von 3 bis 5 MHz. Die Unterbringung der Farbinformation in einem Signal, das nicht mehr Bandbreite benötigte als der s/w-Fernsehkanal, war also prinzipiell möglich. Die Herausforderung für die Fernsehtechniker bestand nun darin, die drei Farbsignale Rot, Grün und Blau in ein für den Fernsehrundfunk geeignetes Einkanal-Signal umzuwandeln. Genau dies ist die Aufgabe des eigentlichen Farbfernsehsystems. Abbildung 2 verdeutlicht das Grundprinzip aller kompatiblen Farbfernsehübertragungssysteme. Die Aufgabe des Farbfernsehsystems wird hier klar: Die von der Farbkamera ausgegebenen Farbsignale Rot, Grün und Blau (R, G, B) müssen in einem »Coder« zu einem einzigen Signal mit einer Bandbreite von ca. 1 MHz zusammengefaßt werden (Farbartsignal), das dem breitbandigen 5-MHz-Leuchtdichtesignal (Y-Signal genannt) aufmoduliert wird. Ist diese Forderung erreicht, spricht man von »senderseitiger Kompatibilität«. Im »De- 56 2. Le terrain technique coder« des Fernsehempfängers erfolgt die Rückwandlung des schmalbandigen Farbartsignals in die drei breitbandigen R-, G-, B-Signale zur Ansteuerung der Dreistrahl-Farbbildröhre. Wichtigste Zusatzbedingung für die Kodierung ist die Einhaltung der senderseitigen Kompatibilität, das heißt, der s/w-Empfanger muß das Leuchtdichtesignal aus dem übertragenen Gesamtsignal mit einem Minimum an Störwirkung wiedergeben können. Bevor näher auf die unterschiedlichen technischen ٢bertragungsvarianten eingegangen wird, gilt es, folgendes festzuhalten: Das soeben beschriebene Prinzip der Einkanal-Farbfernsehübertragung gilt für alle später realisierten Farbfernsehsysteme gleichermaßen. Sowohl das amerikanische NTSC-System als auch das französische SECAM-System und das deutsche PAL-System basieren auf diesem Prinzip. Die drei Systeme unterscheiden sich lediglich in einem Punkt: in der Art der Modulation des Farbträgers. Die beiden zentralen Parameter der Entwicklung des Farbfernsehens, die Erzeugung eines Einkanal-Farbfernsehsignals sowie die Kompatibilität von Schwarzweißund Farbfernsehen, werden in allen später realisierten Farbfernsehsystemen beibehalten. 2.2. Das »National Television System Committee« (NTSC) 57 2.2. Das »National Television System Committee« (NTSC) Anfang der 1950 er Jahre waren in den USA somit die wichtigsten wissenschaftlich-technischen Voraussetzungen für ein kompatibles elektronisches Farbfernsehsystem geschaffen worden. Obschon die USA das einzige Land der Welt waren, in dem das Schwarzweißfernsehen nach 1945 einen rasanten Aufschwung erlebte, ist es erstaunlich, mit welchem Elan sich die US-amerikanische Rundfunkindustrie dem Thema Farbfernsehen zu einer Zeit widmete, in der das Geschäft mit den s/w-Empfängern erst langsam rentabel wurde. War (ist) es doch ein ungeschriebenes Gesetz der Rundfunkgeräteindustrie, eine die bestehende Produktpalette ablösende Gerätegeneration erst dann auf den Markt zu bringen, wenn sich eine Sättigungskurve im Absatz der ersten Generation andeutet18. Von einer Sättigung im Bereich der s/w-Empfänger konnte auf dem amerikanischen Markt um 1950 jedoch keine Rede sein. Der Impuls, sich intensiv mit der Entwicklung des Farbfernsehens zu beschäftigen, wurde von außen an die Rundfunkindustrie herangetragen, genauer gesagt von der Federal Communications Commission (FCC). Welches Interesse hatte die FCC an dieser frühzeitigen Beschäftigung mit dem Farbfernsehen? Über die Motive klärt uns ein Bericht von St6phane Mallein auf, der im Januar 1951 im Auftrag der Radio T616diffusion Frangaise (RTF) auf Amerikareise war: Contrairement ä ce qu'on pourrait croire, ce ne sont pas les industriels, mais bien le F.C.C. qui a constamment poussi les recherches vers la couleur; on se rappelle qu'au d£but de 1949, la F.C.C. avait suspendu toute nouvelle allocation de frequences pour la television et qu'elle avait mis ä 1'etude 1'utilisation des frequences sup&ieurs ä 470 mc/s, eile avait ä ce moment bien precise que cette etude serait conduite avec le souci de menager l'avünement de la television en couleurs. Depuis cette date, chaque fois que l'industrie venait riclamer la mise en vigeur du nouveau plan, la F.C.C. ne manquait pas de retorquer qu'il fallait d'abord qu'on lui proposät un systfeme de couleurs valable19. Die für die Frequenzvergabe in den USA zuständige Bundesbehörde FCC hatte also die Vergabe weiterer Frequenzen für den stark im Aufwind stehen18 Genau dies bewahrheitete sich ja auch im amerikanischen Fall. Der Absatz der Farbempfänger stieg erst sechs Jahre nach der Einfuhrung des NTSC-Systems erheblich an, als eine flächendeckende Versorgung des Landes mit s/w-Empfangern realisiert war. »Wie das Beispiel der USA deutlich zeigt, wird die Einführung des FF erst dann aktuell, wenn sich - wirtschaftlich gesehen - auf dem monochromen Markt allmählich Sättigungserscheinungen zeigen«, bestätigte Walter Gerber 1965. Siehe Walter GERBER, Die Normung des Farbfernsehens in Europa, in: Internationale Elektronische Rundschau 20 (1966) 9 S. 512. Zahllose Belege für die These des Sättigungsgrades liefert auch die Einführung neuer Radiomodelle im Rahmen der Transistorisierung der Empfänger. Siehe hierzu FICKERS, »Der Transistor« als technisches und kulturelles Phänomen. 19 Stephane MALLEIN, Rapport sur la mission effectuee Δ New-York et Washington du 14 au 23 decembre 1950, Paris, 31 janvier 1951, 10 maschinengeschriebene Seiten, hier S. 3, in: Archives nationales, Nr. 870714/Art. 14. 58 2. Le terrain technique den s/w-Fernsehrundfunk an die Bedingung geknüpft, sich vorher darüber im klaren zu sein, auf welchen Wellen- und Frequenzbereichen der zukünftige Farbfernsehbetrieb angesiedelt sein würde. Diese aus rundfunkpolitischer Perspektive vernünftige ٢berlegung setzte die US-amerikanische Rundfunkindustrie unter erheblichen Druck. Wollte man dem aufstrebenden s/w-Geschäft keine Grenzen in dem Sinne setzten, daß die Entstehung neuer Sender und damit zusätzlicher Programme verhindert wurde, mußte die Entwicklung eines tauglichen Farbfernsehsystems so schnell wie möglich realisiert werden. Woher hatte die FFC die Befugnis zu einer derart weitreichenden Entscheidung? Um diese Frage zu beantworten, lohnt es, sich die Geschichte dieser Bundesbehörde vor Augen zu führen 20 . Bis 1927 gab es in den USA keinerlei staatliche Regelung im Bereich des Rundfunks. Rundfunkstationen konnten nach eigenem Gutdünken Sendefrequenzen besetzen und änderten diese nach Belieben. Um dieses Chaos zu beenden, wurde am 23. Februar 1927 im sogenannten »Radio Act« die »Federal Radio Commission« (FRC) geschaffen. Sie setzte sich aus fünf Kommissaren zusammen, die - bis heute - vom USamerikanischen Präsidenten vorgeschlagen und anschließend vom Senat bestätigt werden müssen21. 1934 schuf der Kongreß mit dem »Federal Communications Act« die gesetzliche Grundlage für die Umbenennung und Kompetenzerweiterung der FRC in die »Federal Communications Commision« (FCC). Da die Sendefrequenzen in den USA als öffentliches Gut gelten (public airwaves), besteht die Aufgabe der FCC vornehmlich in der Regulierung inner- und zwischenstaatlicher Kommunkation »by regulating interstate and foreign commerce in communication by wire and radio« 22 . Hans Joachim Kleinsteuber versucht in seinem Aufsatz »Regulierung des Rundfunks in den USA. Zur Kontrolle wirtschaftlicher Macht am Beispiel der FCC« nachzuweisen, daß sich in der FCC beispielhaft die typisch amerikanische Regulierungspolitik nach dem Muster der »countervailing powers« wiederspiegelt: Den Traditionen des common law folgend, bezeichnet Regulation weniger ein von Gesetzen geleitetes hierarchisches und zielgerichtetes staatliches Handeln, sondern eher ein Prozedere [...] bei dem Konflikte als normal vorausgesetzt und deren staatlich moderierte Schlichtung in den Mittelpunkt gestellt werden. [...] Die Gerichtsähnlichkeit des regulativen Prozesses ist unverkennbar. Zwei Parteien streiten vor einer neutralen staatlichen Instanz, die selbst als Jury (die 20 Zur Geschichte und Bedeutung der FCC siehe diverse Beiträge in dem Sammelband von LITCHY, TOPPING (Hg.), American Broadcast. Eine theoretische Auseindersetzung mit den Regulierungskompetenzen der FCC liefert der anregende Aufsatz von Hans Joachim KLEINSTEUBER, Regulierung des Rundfunks in den USA. Zur Kontrolle wirtschaftlicher Macht am Beispiel des FCC, in: Rundfunk und Fernsehen 44 (1996) 1 S. 27-50. Eine detaillierte technikhistorische Studie zur Rolle der FCC bei Standardisierungsfragen liefert Hugh R. SLOTTEN, Radio and Television Regulation: Broadcast Technology in the United States, 1920-1960, Baltimore 2000. 21 Die »Commissioner« sind für fünf Jahre gewählt und »unabsetzbar«. 22 Kleinsteuber, Rundfunkregulierung in den USA, S. 32. 2.2. Das »National Television System Committee« (NTSC) 59 fünfköpfige FCC) konzipiert ist. [...] Man könnte sagen, die FCC repräsentiert eine verstaatliche Variante der Selbstregulierungsbedarfe aus der Rundfunkindustrie 23 . Auch wenn Kleinsteubers Thesen im Bezug auf die Kontrolle wirtschaftlicher Macht (FCC als Antitrust-Behörde im Bereich der Rundfunkindustrie) plausibel erscheinen, sollte die von ihm konstatierte »ausgeprägte Bürgerbeteiligung und die Öffentlichkeit des Regulierungsprozedere« nicht überbewertet werden. Lawrence Litchy hat bereits 1976 nachgewiesen, daß Idee und Wirklichkeit oftmals voneinander abweichen und der »Transparenz« daher praktische Grenzen gesetzt sind. Litchy betont, daß die Politik des FCC stark vom jeweiligen Hintergrund der einzelnen Kommissare gefärbt war: »[...] the personal experience, education, occupational background, and governmental philosophy of the members of the FRC and FCC have overtly influenced the direction and emphasis of the agency's policies. [...] Many important decisions or changes were the result of a >crusade< by one commissioner«24. Versuchen wir, Kleinsteubers ٢berlegungen am Beispiel der Kontroverse zwischen den beiden Protagonisten CBS und RCA um den Farbfernsehstandard zu verifizieren. Wie bereits beschrieben, hatte die FCC 1948 alle weiteren Lizenzvergaben im Bereich des Fernsehens »because of the confusing surrounding engineering standards and color television«25 eingefroren. Diese als »TV freeze« 26 in die Geschichte eingegangene Entscheidung der FCC war mit der Aufforderung des FCC an die Entwicklungsfirmen verbunden, der FCC ihren jeweiligen Forschungsstand im Farbfernsehbereich im September 1949 vorzulegen. Sie leitete somit das ihr zur Verfügung stehende Rechtsverfahren des »rule-making process« ein, das mit der Veröffentlichung von Vorschlägen beginnt, der anschließenden Möglichkeit von Einsprüchen und Anhörungen (hearings) fortgesetzt wird, bis das Verfahren mit der Verkündung eines »report and order« abgeschlossen wird. Im Oktober und November 1949 fanden die sogenannten »hearings« statt. Die RCA stellte hier erstmals ihr s/w-kompatibles Farbfernsehsystem vor. Die erreichte Bildqualität des RCA-Systems blieb jedoch deutlich hinter der des elektro-mechanischen Systems der CBS zurück. Schwachpunkt des RCASystems war der Farbempfänger, beziehungsweise die Farbfernsehröhre. Während der Anhörungen kündigte die RCA jedoch an, sie werde innerhalb 23 Ibid. S. 29, 32 und 33. Lawrence W. LITCHY, The Impact of FRC and FCC Commissioners' Backgrounds on the Regulation of Broadcasting, in: DERS., MALACHI, American Broadcast, S. 630f. Litchy macht in der Zeit von 1927 bis 1976 sieben Epochen aus. Jede dieser Epochen ist seiner Meinung nach durch den personellen »background« der fünf Commissioner bestimmt, wobei mal Techniker, mal Politiker, mal Juristen die Politik der FCC maßgeblich bestimmten. 25 Ibid. S. 627. 26 Zum Thema »TV freeze« siehe BODDY, Fifties Television, S. 42-64. 24 60 2. Le terrain technique der nächsten sechs Monate eine neuartige Farbfernsehröhre vorstellen können, welche die bisherigen Schwächen des Systems kompensieren werde. In diesen sechs Monaten gelang den Ingenieuren und Technikern der RCA tatsächlich, was viele Experten nicht für realisierbar hielten: Over the winter, more than fifty scientists and engineers at the Princeton Labs, supported by technical and administrative staff, worked with engineers at RCA's CRT (cathode ray tube, A.d.V.) plant in Lancaster, Pennsylvania, to make a demonstration model. By the end of March 1950, as promised, RCA showed the FCC its color picture tube in an receiver similar to those consumers bought for a black-and-white television. More than any other component of the system, the shadow-mask CRT made color television a practical household technology27. Trotz dieser Leistung seitens der RCA-Ingenieure legte die FCC nach Abschluß der Anhörungen im Mai 1950 das von der CBS vorgestellte bildsequentielle elektromechanische Farbfernsehsystem, welches mit dem bestehenden s/w-System nicht kompatibel war, als US-amerikanischen Standard fest28. Die RCA reagierte mit einem Protest beim obersten amerikanischen Gerichtshof, und auch das National Bureau of Standards (NBS) legte im Juli 1950 einen Untersuchungsbericht vor, in dem sie das RCA-System in 12 von 18 Vergleichspunkten als dem CBS-System überlegen beschrieb. Parallel zu den Aktivitäten der FCC hatte sich bereits im Januar 1950 auf Anregung der Radio Manufacturers Association (RMA) ein zweites National Television System Committee (NTSC) gebildet, das - so die Hoffnung der zahlreich vertretenen Rundfunkfirmen - wie schon 1940 die entscheidende Wendung (diesmal pro RCA) im Kampf um einen einheitlichen Standard bringen sollte29. Das, was dem zweiten NTSC in den nur knapp drei Jahren von seiner Zusammensetzung (Januar 1950) bis zur Übernahme des vor- 27 IEEE Milestones, Monochrome-Compatible, Electronic Color Television, 1946-1953, in: http://www.ieee.org/organizations/history_center/milestones_photos/colortvtech.html (Juni 2006). 28 In dem »Second Report on Color Television« wurde das CBS-System zum amerikanischen Standard erklärt. Siehe Peter GOLDMARK u.a., Color Television - USA Standard, in: Proceedings of the IRE 39 (1951) S. 1288-1313. Siehe auch Heinwig LANG, 40 Jahre Farbfernsehen nach dem Prinzip der konstanten Luminanz, in: Fernseh- und Kino-Technik 49 (1995) 1-2 S. 35-40. 29 Das erste National Television System Committee war am 17. Juli 1940 auf Anregung der RMA unter der Leitung von Dr. W. R. G. Baker von der General Electric Company gegründet worden. Schon damals waren alle großen Namen der Branche vertreten: Bell Telephone Labs, CBS, Don Lee Broadcasting System, DuMont Labs Inc., Farnsworth Television and Radio Corp., General Electric Company, Hazeltine Service Corp., John V. L. Hogan, Hughes Tool Company, IRE, Philco Corp., RCA, Stromberg-Carlson Telephone Mfg. Company, Television Productions und Zenith Corp. Am 2. Mai 1941 verabschiedete die FCC schließlich die vom NTSC vorgeschlagenen Nonnen für das Schwarzweißfernsehen in den USA (u.a. die 525-Zeilennorm) und kündigte den Beginn des kommerziellen Schwarzweißfernsehens für den 1. Juli 1941 an. Siehe ABRAMSON, The History of Television 1880 to 1941, besonders Kapitel 11 »The first NTSC: 1940-1942«, S. 257-273. 2.2. Das »National Television System Committee« (NTSC) 61 geschlagenen Farbfernsehstandards durch die FCC (17. Dezember 1953) gelang, wurde retrospektiv von vielen Fachleuten als »Glanzstück«30, »Maß aller Dinge«31 oder »eine der genialsten Erfindungen des Fernsehens«32 bezeichnet. Für die meisten US-amerikanischen Hersteller spielte das Argument der Kompatibilität mit dem bestehenden s/w-System die zentrale Rolle bei der Entscheidung, das RCA-System zu unterstützen. In diesem zweiten National Television System Committee fanden sich über hundert Physiker, Ingenieure und Techniker aller großen US-amerikanischen Fernsehfirmen zusammen (auch CBS war beteiligt), um die Idee eines kompatiblen, vollelektronischen Farbfernsehsystems zu realisieren. Die entscheidenden Anregungen, die schließlich zur erfolgreichen Entwicklung des Systems führten, kamen von den Mitarbeitern der Hazeltine Corporation unter Leitung von D. B. Loughlin. Loughlin faßte seine Modifikationen an dem RCA-System unter dem Namen »Constant Luminance System« zusammen. Es bestand im wesentlichen aus zwei Modifikationen des RCA-Systems33: 1) Statt des Signals aus den »gemischten Höhen« (mixed highs) wurde ein breitbandiges Helligkeits- bzw. Luminanzsignal Y gebildet. Dieses Luminanzsignal war die gewichtete Summe der drei Farbwertsignale R (Rot), G (Grün) undzwutsronmlihgfedcbaMFDCBA Β (Blau). 2) Als Buntheits- oder Chrominanzsignal wurden nicht die drei Farbwertsignale selbst, sondern die Differenzen (die so genannten Farbdifferenzsignale) zur Modulation des Farbträgers verwendet. Was bedeuteten diese beiden Veränderungen konkret? Farbphysiologische Untersuchungen hatten gezeigt, daß das menschliche Auge farbiges Licht unterschiedlicher Intensität je nach Farbton in unterschiedlicher Helligkeit wahrnimmt. In einem weißen Lichtstrahl trägt beispielsweise die Grünkomponente (G) 59%, die Rotkomponente (R) 30% und die Blaukomponente (B) nur 11% zu dem erzeugten Helligkeitseindruck bei. Mit anderen Worten: blaue Farben erscheinen dem Auge dunkler als rote und diese wiederum dunkler als grüne34. Addiert man also die drei Farbwertsignale in diesem anteiligen Verhältnis zueinander, so erhält man ein resultierendes Helligkeitsoder Luminanzsignal (Y-Signal), das wie das Bildsignal des Schwarzweißfernsehens alle Informationen über die Helligkeitsverteilung des Bildes enthält. Formelhaft ausgedrückt bedeutet dies: Y = 0,3 R + 0,59 G + 0,11 B. 30 Walter KAISER, Von der Nachrichtenübermittlung zur Telekommunikation, in: Hans-Joachim BRAUN, Walter KAISER, Energiewirtschaft, Automatisierung, Information, Propyläen Technikgeschichte Bd. 5, Berlin 1997, S. 394. 31 Norbert MAYER, Farbfernsehübertragung mit gleichzeitiger Frequenz- und Amplitudenmodulation des Farbträgers (FAM-Verfahren), in: Rundfunktechnische Mitteilungen 4 (1960) S. 238. 32 M٢LLER, Die internationalen Bemühungen um eine europäische Farbfernsehnorm, S. 228. 33 LANG, 40 Jahre Farbfernsehen, S. 38 f. 34 Fritz JAESCHKE, Europa vor der Einfuhrung des Farbfernsehens, in: Umschau in Wissenschaft und Technik 66 (1966) 8 S. 259. 62 2. Le terrain technique Dieses Y-Signal wird in der gleichen Technik, vor allem mit der gleichen Bandbreite wie in der s/w-Technik übertragen und liefert am Empfangsort ein normales s/w-Bild. Dieser Prozeß der Signalmischung bedeutet mathematisch eine Koordinatentransformation, bei der das dreiparametrige System R, G,zvusronligfedbaYVURFB Β in ein neues, linear davon abhängiges System überführt wird35. Zur vollständigen Definition eines Bildpunktes in diesem neuen System sind wiederum drei Koordinaten erforderlich, von denen bislang nur eine mit dem Y-Signal festgelegt ist. Zwei weitere, welche die benötigten Farbinformationen definieren müssen, fehlen noch. An diesem Punkt setzten Loughlins ٢berlegungen zu den Farbdifferenzsignalen an. Er schlug vor, auch für die Farbsignale eine Koordinatentransformation vorzunehmen, indem anstelle der Farbwertsignale R, G, und Β die Farbdifferenzsignale U = B-Y und V = R-Y übertragen werden. ٢ber eine recht einfache Matrix lassen sich so die drei Farbwertsignale in die beiden Farbdifferenzsignale R-Y und B-Y umwandeln. Die beiden Farbdifferenzsignale sind dann für den Farboder Chrominanzanteil des zu übertragenden Bildes allein verantwortlich. Da es sich bei den beiden Farbdifferenzsignalen zudem um die beiden Farbkomponenten handelt, die im Vergleich zur Grünkomponente die geringeren Helligkeitsanteile besitzen, kann so wertvolle Bandbreite eingespart werden. Loughlin zeigte auch, wie die beiden Farbdifferenzsignale im Empfänger über eine Dematrix wiedergewonnen werden konnten. Schließlich läßt sich das dritte Farbsignal (Grün) aus den beiden Farbdifferenzsignalen B-Y und R-Y und dem Helligkeitssignal (Y-Signal) ableiten. Durch Addition des Luminanzsignals erhält man schließlich die für die Farbbildröhre erforderlichen Farbwertsignale R, G und B. Die Ingenieure der RCA waren von Loughlins Vorschlägen so begeistert, daß sie diese unmittelbar in ihr System übernahmen36. Als letztes Problem blieb den Experten des NTSC die Frage der ٢bertragungsart der Farbdifferenzsignale zu klären, beziehungsweise die Frage der Kombination von Chrominanz- und Luminanzkanal zu beantworten. Wie bereits erwähnt, wurde die insgesamt zur Verfügung stehende ٢bertragungsbandbreite von 5 MHz in vollem Umfang von dem Helligkeitssignal beansprucht. Die zusätzliche Farbinformation mußte daher gemeinsam mit dem Y-Signal im gleichen Kanal untergebracht werden. Daß dies prinzipiell möglich war, hatten die RCA-Ingenieure bereits 1946 mit dem sogenannten »mixed highs«-Verfahren gezeigt. Die Kombination des »mixed highs«-Verfahrens mit den Vorschlägen von Loughlin (»constant luminance«) gelang den Ingenieuren der Philco Corpora35 Fritz JAESCHKE, ٢bersicht über den Stand der Fernsehtechnik, in: lahrbuch des elektrischen Femmeldewesens 18 (1967) S. 195. 36 Die spannende Phase der Arbeit am Farbfernsehen im zweiten NTSC beschreibt der langjährige Leiter der RCA Forschungslaboratorien in Princeton, George H. BROWN in seinem Buch »... and Part of Which I Was«. Recollections of a Research Engineer, Princeton 1982. 2.2. Das »National Television System Committee« (NTSC) 63 tion. Dort schlug man vor, die beiden Chrominanzkomponenten (R-Y und B-Y) der Farbträgerfrequenz in Quadraturmodulation aufzuprägen, die dann dem Luminanzsignal additiv zugesetzt wird37. Bei der Quadraturmodulation wird der Farbhilfsträger in zwei »senkrecht« zueinanderstehende Komponenten aufgespalten (Phasenverschiebung von 90°). Diese werden in Gegentaktmodulation mit je einem der beiden Farbdifferenzsignale amplitudenmoduliert. Wegen der Analogie zum »Newtonschen Farbkreis« nennt man die Darstellung des Farbträgers in der komplexen Ebene auch »Chrominanzebene«. In Folge dieser Analogie kann man nach Schönfelder von einem besonders anschaulichen Modulationsverfahren sprechen: Die Farbträgeramplitude bestimmt die Farbsättigung und die Farbträgerphase den Farbton38. Trotz der »Genialität« dieser Lösung sollte sich herausstellen, daß die Abhängigkeit des Farbtons von der Farbträgerphase das System in der Praxis relativ anfällig für unschöne Farbverzerrungen machen sollte, da es während der ٢bertragung des Farbsignals leicht zu Phasenverschiebungen kommen konnte. Doch dazu später. Es wären noch zahlreiche weitere Details notwendig, wollte man der komplexen Struktur des NTSC-Systems gerecht werden, doch soll an diesem Punkt nicht weiter auf die technisch-wissenschaftlichen Grundlagen eingegangen werden39. Festzuhalten bleibt, daß es den führenden US-amerikanischen Rundfunkunternehmen in einer beeindruckenden Gemeinschaftsleistung gelungen war, ein den selbstgesteckten Anforderungen zur Genüge reichendes kompatibles, vollelektronisches Farbfernsehsystem zu entwickeln. Neben den bereits geschilderten Entwicklungen im Bereich der ٢bertragungstechnik und Farbkodierung war die bei der RCA entwickelte Farbbildröhre das dritte zentrale Standbein, das letztlich den Durchbruch des NTSCSystems ermöglichte. Am 17. Dezember 1953 legte die FCC das vom National Television System Committee vorgeschlagene Farbfernsehsystem als neuen US-amerikanischen Farbfernsehstandard fest und revidierte damit die 37 SCHÖNFELDER, Fernsehtechnik im Wandel, S. 33 f. Ibid. S. 36. Zur Bestimmung einer Farbe in der Farbmetrik sind immer die beiden Informationen des Farbtons und der Farbsättigung notwendig. 39 Siehe hierzu u.a. MAYER, Technik des Farbfernsehens in Theorie und Praxis; Helmut SCHÖNFELDER, Die Farbsynchronisierung beim NTSC-Verfahren, in: Archiv der elektrischen ٢bertragung 18 (1964) 6 S. 355-370; JAESCHKE, ٢bersicht über den Stand der Farbfernsehtechnik; Gordon J. KING, Beginner's Guide to Colour Television, London 1973; Günther KROLL, Farbfernsehen - leicht verständlich, Hamburg 1967. B. W. OSBORNE, Colour Television Reception and Decoding Technique, London 1968; C. R. G. REED, Principles of Colour Television Systems, London 1969; Richard THEILE, Die Entwicklung der kompatiblen Farbfernsehtechnik unter besonderer Berücksichtigung der verschiedenen Vorschläge für die ٢bertragung der Farbart-Signale (Farbträgermodulation), in: Rundfunktechnische Mitteilungen 9 (1965) 5 S. 241-250; F. W. de VRUER,: ٢bertragungssysteme für das Farbfernsehen, in: Philips Technische Rundschau 27 (1966) 4 S. 85-99. 38 64 2. Le terrain technique 1950 getroffene Entscheidung für das CBS-System. Als Beginn für den Start der Farbfernsehsendungen nach dem neuen NTSC-System wurde der 22. Januar 1954 bestimmt. Die organisatorischen und institutionellen Rahmenbedingungen, in denen sich die Fernsehtechnik in Europa entwickelte, unterschieden sich deutlich von denen in den USA. Als man 1954 das Farbfernsehen in den USA einführte, war man in den meisten europäischen Ländern gerade damit beschäftigt, einen stabilen s/w-Fernsehfunk auf die Beine zu stellen. An Farbfernsehen dachte - zumindest im Bereich der praktischen Realisierung - zu dieser Zeit niemand. Dennoch vollzogen sich Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre in Europa einige entscheidende Entwicklungen im Bereich der Fernsehtechnik, die für das künftige Farbfernsehen von zentraler Bedeutung waren. Ohne eine grobe Kenntnis dieser Vorgeschichte sind viele spätere Entwicklungen nicht nachvollziehbar. In einem kurzen Exkurs sollen daher jene rundfunktechnischen und -politischen Faktoren beschrieben werden, die für die Entwicklung des Farbfernsehens in Europa von entscheidender Bedeutung waren, die jedoch im kollektiven Gedächtnis, das eindeutig durch die politisierte PAL-SECAM-Kontroverse überfärbt wurde, untergegangen sind. 2.3. Das Problem der Zeilennorm 65 2.3. Das Problem der Zeilennorm in der Entwicklung des Schwarzweißfernsehens Der Beginn regelmäßig ausgestrahlter Fernsehensendungen in Europa fällt in die 1930er Jahre. Am 15. Januar 1936 wurde in Berlin der regelmäßige Fernsehbetrieb des »Fernsehsenders Paul Nipkow« aufgenommen, das englische BBC-Versuchsprogramm wurde am 2. November des gleichen Jahres aufgenommen. Trotz aller technischen Anstrengungen und politischen Ambitionen ist Winfried Lerg zuzustimmen, daß der Fernsehbetrieb bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges in einem »Stadium des permanenten Experiments« verharrte40. Zudem war es - zumindest in Deutschland und Frankreich - ein Medium ohne Publikum. Die für die Durchsetzung des Hörfunks so wichtige »popularisierende Amateurbewegung« und »Detektor-Ära« fehlte dem Fernsehen, wofür natürlich in erster Linie die wesentlich komplexeren Anforderungen im Bereich der Empfängertechnik verantwortlich waren41. Auch setzte man in Deutschland ähnlich wie beim Beginn des Hörfunks auf das Konzept »gemeinschaftlicher« Mediennutzung. Das Konzept des »Saalfunks« für das Radio der frühen zwanziger Jahre fand sein Pendant in den 15 öffentlichen Fernsehstellen Berlins des Jahres 1936 oder ihren Pendants in der französischen Hauptstadt42. Ein wenig anders sah die Situation in Großbritannien aus. Hier vollzog sich die Streuung der Empfangsgeräte in private Haushalte wesentlich schneller 40 Winfried B. LERG, Zur Entstehung des Femsehens in Deutschland, in: Rundfunk und Fernsehen 15 (1967) 4 S. 349-375, S. 363. 41 Siehe Monika ELSNER, Thomas M٢LLER, Peter M. SPANGENBERG, Der lange Weg eines schnellen Mediums: Zur Frühgeschichte des deutschen Fernsehens, in: URICCHIO (Hg.), Die Anfänge des deutschen Femsehens, S. 153-207. Aus literaturhistorischer Perspektive wird hier eine mentalitätshistorische Darstellung der Suche des Femsehens nach seiner »medialen Identität« geliefert. Der diskursanalytische Zugriff ist eine interessante Erweiterung der klassischen rundfunkhistorischen Interpretationen. Siehe auch Bruce A. MURRAY, Christopher J. WICKHAM (Hg.), Framing the Past. The Historiography of German Cinema and Television, Illinois 1992. 42 Zur Geschichte des Saalfunks siehe Winfried B. LERG, Rundfunkpolitische Infrastruktur, in: BAUSCH (Hg.), Rundfunk in Deutschland, Bd. 1, S. 177f. Eine innovative kulturgeschichtliche Analyse der Frühphase des Hörfunks liefert die Arbeit von Carsten LENK, Die Erscheinung des Rundfunks. Einführung und Nutzung eines neuen Mediums 1923-1932, Opladen 1997. Lenk teilt seine Studie in drei thematische Bereiche: die Verortung des Rundfunks (Öffentlichkeit versus Heim), die Freizeit als Radiozeit und schließlich die Durchdringung der Lebenswelt durch das neue Medium. Dadurch gelingt ihm eine alltagsgeschichtliche Rekonstruktion des Umgangs mit dem neuen technischen Apparat, die auch in dem von Inge MarBolek und Adelheid von Saldern herausgegebenen Sammelband »Radiozeiten. Herrschaft, Alltag, Gesellschaft (1924-1969)« Potsdam 1999, ertragreich fortgeführt wird. Absolut unverständlich ist daher, wie eine sich als »Einführung« titulierende Darstellung der Rundfunkgeschichte in Deutschland, wie sie Konrad Dussel vorgelegt hat, in den klassischen programm- und institutionengeschichtlichen Dimensionen der Rundfunkgeschichtsschreibung verharrt. Siehe Konrad DUSSEL, Deutsche Rundfunkgeschichte. Eine Einfuhrung, Konstanz 1999. 66 2. Le terrain technique und ermöglichte so ein demokratischeres Nutzungsverhalten. Am 2. November 1936 eröffnete die BBC ihr Fernsehversuchsprogramm, und gegen Ende des Jahres 1937 zählte man in England bereits 1 600 Empfangsgeräte. Im Gegensatz zu Deutschland und Frankreich war das neue Medium hier »auf dem besten Weg, sich mit seinem Publikum zu treffen« 43 . Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, mit dem alle Fernsehaktivität ad acta gelegt wurden, wurde die Gesamtempfängerzahl in England auf 20 000 bis 25 000 Stück geschätzt. Auch die USA spielte bei der experimentellen Erforschung der Fernsehbildübertagung eine wichtige Rolle. Ende 1932 strahlten hier bereits 35 Versuchsstationen Fernsehsendungen aus. Ein erstes regelmäßiges und öffentliches Fernsehprogramm wurde aber erst 1939 anläßlich der Weltausstellung in New York eröffnet 44 . In Frankreich startete das Fernsehversuchsprogramm 1935 mit der Aufstellung eines 10kW-Senders auf dem Eiffelturm. 1937 wurden täglich von 20 bis 20.30 Uhr Versuchssendungen ausgestrahlt, für die der spätere Generaldirektor der staatlichen Rundfunkorganisation Radio et Television Frangaise (RTF), Wladimir Porche, verantwortlich war. Im Gegensatz zu England erlagen die Fernsehaktivitäten in Frankreich nicht komplett den Kriegseinwirkungen, sondern sie fanden in gewisser Weise mit den Programmen des »Fernsehsenders Paris« ab September 1943 eine Fortsetzung45. Kennzeichnend für die Frühphase der Fernsehentwicklung und für die weitere Betrachtung von zentraler Bedeutung ist die Tatsache, daß die technische Entwicklung des Fernsehens größtenteils in einem national begrenzten Kontext stattfand und das Entwicklungsniveau und -tempo maßgeblich von einem eng begrenzten Personenkreis bestimmt wurde. Letzteres hat dazu geführt, daß die Technikgeschichtsschreibung des Fernsehens - besonders für die Frühphase des Schwarzweißfernsehens - hauptsächlich eine Geschichte der »großen Männer«, der »Fernsehpioniere« ist. So mangelt es nicht an Biographien über diese Pioniere und an autobiographischen Selbstzeugnissen aus dieser Pionierzeit46, eine ٢berblicksdarstellung aus der Feder eines Technik43 LERG, Entstehung des Fernsehens in Deutschland, S. 370. Zur Geschichte des frühen Fernsehrundfunks in Großbritannien siehe außerdem Asa BRIGGS, BBC - The First Fifty Years, Oxford 1985; BURNS, British Television; ABRAMSON, History of Television 1880 to 1941. 44 Andreas FICKERS, Presenting the >Window to the World< to the World. Competing Narratives of the Presentation of Television at the World's Fairs in Paris (1937) and New York (1939). Vortrag, gehalten auf dem World's Fair Symposium in San Francisco, April 2005. 45 Zur Geschichte des Fernsehsenders Paris siehe Thierry KUBLER, Emmanuel LEMIEUX, COgnacq-Jay. La t616vision fran;aise sous l'occupation, Paris 1990; Petra TRUCKENDANNER, Der Fernsehsender Paris. Deutsch-französisches Okkupationsfernsehen (1942-1944), in: Rundfunk und Geschichte 25 (1999) 2/3 S. 107-118; DIES., Fernsehsender Paris: Deutsch-französisches Okkupationsfemsehen, Diss. Universität Salzburg 1998. 46 Siehe flir Frankreich AMOUDRY, Ren6 Barthilemy; CHAUVIERRE, La T616vision. Ein unveröffentlichtes Manuskript (96 maschinengeschriebene Seiten) der Memoiren von Henri de France 2.3. Das Problem der Zeilennorm 67 historikers ist dagegen bis heute nicht existent. Diese Forschung im »pionierzentrierten« und nationalen Kontext47 hatte zur Folge, daß eine große wirtschaftliche Konkurrenz zwischen den anfangs meist kleinen Firmen herrschte, und daß sich in den verschiedenen Ländern unterschiedliche Fernsehsysteme durchsetzten. Erst nachdem sich unterschiedliche Systeme in den einzelnen Ländern etabliert hatten, wurde man sich einer Problematik bewußt, die dem neuen Medium Fernsehen inhärent war: Es stellte sich das Problem der Kompatibilität unterschiedlich genormter Systeme. Waren die Normparameter des Hörfunks wesentlich durch die Festlegung der Sendefrequenz und der Modulations- und Demodulationsart der Tonsignale bestimmt, kam beim »Bildfunk« ein neues Kriterium hinzu: die Definition der Auflösung der Bildinformation, festgelegt durch die Zeilenzahl des Bildschirms und die Taktfrequenz des Bildwechsels. Die Grundidee der elektronischen Bildübertragung, die Zerlegung eines Bildes in nacheinander zu übertragende Bildpunkte, die anschließende Übertragung dieser Bildpunkte in Zeilen sowie die Umsetzung bewegter Vorgänge in Reihenbilder, geht auf den Berliner Paul Nipkow (1860-1940) zurück48. Auch hier war die Trägheit des menschlichen Sehvermögens Voraus- befindet sich in den Archivbeständen des Comitd d'histoire de la tdl6vision, Institut national de l'audiovisuel (INA) in Bry-sur-Mame.utsronlihedcbaUSGFDA Für die USA steht beispielhaft die Autobiographie des RCA-Ingenieurs George H. BROWN, ...and Part of Which I Was; HaroldzywvutsrponmlkihgfedcbaZYW Β. LAW, The Shadow Mask Color Picture Tube: How it Began - An Eyewitness Account of its Early History, in: IEEE transactions on electronic devices 23 (1976) 7 S. 752-759; ABRAMSON, Zworykin; GODFREY, Philo Τ. Farnsworth, sowie die historische Aufarbeitung des RCA-Ingenieurs Andrew INGLIS, Behind the Tube. Für Großbritannien: BURNS, John Logie Baird; Maurice EXWOOD, John Logie Baird: 50 Years of Television, London 1976. Für Deutschland: Die unveröffentlichten Lebenserinnerungen von Walter Bruch befinden sich im Archiv der Hochschule Mittweida, an der Walter Bruch in den dreißiger Jahren studierte. BRUCH, Die Fernseh-Story, Stuttgart 1969; GOEBEL, Das Fernsehen in Deutschland bis zum Jahre 1945; Pressler, Farbfemseh-Erinnerungen, in: Rundfunktechnische Mitteilungen 17 (1973) 5 S. 205-213. Hans RINDFLEISCH, Technik im Rundfunk. Ein Stück deutscher Rundfunkgeschichte von den Anfängen bis zum Beginn der achtziger Jahre, Norderstedt 1985; Erich SCHWARTZ, Farbfernsehen. Geschichtliches, augenblicklicher Stand, Tendenzen der Weiterentwicklung, in: Technische Hausmitteilungen des NWDR 6 (1954) 5/6 S. 105-126; SCHÖNFELDER, Fernsehtechnik im Wandel; LANG, 40 Jahre Farbfernsehen; Fritz SCHRÖTER, Fritz SCHILGEN, Technik ist kein Geheimnis - der Blick hinter den Bildschirm, Teil 1: Fernsehgeschichte, in: Archivdienst der Telefunken GmbH, 15. August 1959, 27 Seiten. 47 Diese national fixierte und auf die glorreichen Pioniere ausgerichtete Betrachtung hat deutliche Spuren in einer nationalistisch überhöhten populärwissenschaftlichen Geschichtsschreibung und hagiographisch geprägten Erinnerungskultur hinterlassen. Es gibt kaum ein an der frühen Fernsehentwicklung beteiligtes Land, welches nicht >die Erfindung< des Fernsehens für sich reklamiert! Siehe hierzu Andreas FICKERS, Frank KESSLER, Techno-Nationalist Tales of Glory and Failure: Writing the History of Inventions in Early Film and Television, Vortrag auf der Tagung »Media in Transition 4: The Work of Stories«, ΜΓΓ Boston, Mai 2005. 48 Am 6. Januar 1884 wurde Nipkows Erfindung als »elektrisches Teleskop« zum Deutschen Reichspatent angemeldet. Zentrales Element des Nipkow-Systems war die später nach ihm be- 68 2. Le terrain technique Setzung für die technische Umsetzung: Wenn der Aufbau der einzelnen Bildzeilen und somit die Bildfrequenz höher als 10 Bildwechsel pro Sekunde ist, verschmelzen diese Bilder in unserer Wahrnehmung zu einem einzigen stehenden oder bewegten Bild (Daumenkino-Prinzip)49. Schon früh erkannte man, daß eine Verbesserung der Bildqualität mit einer Erhöhung der Zeilenzahl verbunden war. Allerdings waren der mechanischen Lochscheibentechnik hier Grenzen gesetzt. Erst die Arbeiten des aus der Sowjetunion stammenden Ingenieurs Wladimir Zworykin führten aus dieser technologischen Sackgasse heraus. Zworykin, der ab 1919 in den USA bei Westinghouse und ab 1929 bei der Radio Corporation of America arbeitete, hatte schon als Schüler des russischen Erfinders Boris Rosing am angesehenen Laboratorium des russischen Militärinstituts in St. Petersburg an der elektronischen Bildabtastung gearbeitet50. 1923 meldete er eine elektronische Fernsehkamera namens »Ikonoskop« zum Patent an. Auch in anderen Ländern arbeitete man zu dieser Zeit an der Idee, die Braunsche Röhre als elektronischen Bildschreiber einzusetzen51. Auch wenn die Bildqualität der ersten elektronischen Fernsehbilder anfangs deutlich unter derjenigen der perfektionierten Nipkow-Scheiben lag, wurde allen Fernsehingenieuren bald klar, daß hier die Weichen für eine grundlegende Änderung des Entwicklungspfades gestellt wurden. »For all intents and purposes«, so Albert Abramson in seiner Studie über die frühe Fernsehentwicklung, »the disclosure of the Iconoscope nannte Nipkow-Scheibe. Als rotierende Scheibe mit 24 spiralförmig angeordneten Löchern zerlegte sie das zu Ubertragende Bild in Bildpunkte, was eine zellenförmige Abtastung und ٢bertragung der Bildinformation ermöglichte. 49 Das europäische Fernsehbild besteht aus 625 Zeilen bei einer Bildfrequenz von 50 Hz, das heißt 25 Bildern pro Sekunde zusammen. In den USA und einigen anderen Ländern besteht das Fernsehbild aus 525 Zeilen, was jedoch durch die höhere Bildfrequenz von 60 Hz (30 Bilder/Sekunde) ausgeglichen wird. Für das menschliche Auge sind diese Unterschiede nicht wahrnehmbar. 50 BRAUN, Anfänge des Fernsehens, S. 162. 51 In Deutschland arbeiteten Forscher wie Manfred von Ardenne und Siegmund Loewe seit 1925 an dieser Idee. Von Ardenne gelang 1930 in seinem Berliner Laboratorium die erste vollelektronische Femsehübertragung. Siehe hierzu Manfred VON ARDENNE, Fernsehempfang. Bau und Betrieb einer Anlage zur Aufnahme des Ultrakurz-Wellen-Femsehrundfunks mit Braunscher Röhre, Berlin 1935, sowie die beiden Kapitel »Grenzen der Mechanik« und »Aufbruch der Elektronik« in: RIEDEL, Fernsehen, S. 27-103. Einen ٢berblick zum damaligen Stand der deutschen Fernsehtechnik mit Aufsätzen aller FernsehgröBen (Ardenne, Schröter, Karolus, Banneitz etc.) bietet der 1937 von Fritz Schröter herausgegebene Sammelband »Fernsehen. Die neuere Entwicklung insbesondere der deutschen Fernsehtechnik«, Berlin 1937. Eine Synthese der Resultate der frühen Fernsehtechnik lieferte 1934 der Ingenieur R. Thun in seinem Buch »Fernsehen und Bildfunk. Die allgemeinen Grundlagen, der gegenwärtige Stand«, Stuttgart 1934. In den USA war es der »Fernsehpionier« Philo T. Farnsworth, der zwischen 1928 und 1936 eine brauchbare Bildsondenröhre entwickelte. Siehe EVERSON, The Story of Television, sowie GODFREY, PhilowtsronhaF Τ. Farnsworth. 69 2.3. Das Problem der Zeilennorm marks the beginnung of the age of electronic television«52. Wie später bei der Farbfernsehentwicklung war auch beim Schwarzweißfernsehen die Entwicklung der Kameratechnik von entscheidender Bedeutung. Die technischen Möglichkeiten der Bildzerlegung bestimmten letztlich die anschließenden Techniken der Bildübertragung und Bildrekonstruktion im Empfänger. Der System- bzw. Netzwerkcharakter der Femsehtechnik wird an diesem Beispiel besonders deutlich. Der ٢bergang von der mechanischen zur elektronischen Bildabtastung war der entscheidende Technologiesprung, der die schrittweise Erhöhung der Zeilenzahl und damit der Bildqualität zur Folge hatte53. In allen Ländern, die an der technologischen Entwicklung des Fernsehens beteiligt waren, experimentierte man an der optimalen Zeilenzahl. In Großbritannien legte man sich schließlich am 2. Februar 1937 auf 405 Zeilen fest, in Frankreich bevorzugte man 1937 das 455-Zeilensystem, während in Deutschland im August 1938 441 Zeilen als Standard definiert wurden. In den USA einigte man sich am 20. März 1941 auf 525 Zeilen, obschon man bei der Weltausstellung 1939 in New York mit dem 441-Zeilensystem begonnen hatte. Tabelle 1: Europäische s/w-Zeileruiormen vor der Harmonisierung von 1961. Europäische Femsehnormen in den Bändern I undzywvutsrponmlkihgfedcbaZVUTS ΙΠ Zeilensystem Videoband (MHz) Bild/Tonabstand (MHz) Bildmodulation Tonmodulation 405 (GB) 625 (EBU) 625 (B) 625 (OIR) 819(F) 819 3 5 5,5 6 10 5 -3,5 5,5 6 6,5 11,15 5,5 Positiv Negativ Positiv Negativ Positiv Positiv AM FM AM FM AM AM Der nationalen Normfestlegung ging meist ein erbitterter Kampf der an der Entwicklung des Fernsehens beteiligten Firmen voraus. Jedes Unternehmen vertrat mit seinem System eine eigene Zeilennonn. Das Beispiel der USA demonstriert diese Konkurrenz. Die RCA zeigte im April 1936 erste Demonstrationen seines 343-Zeilensystems bei 30 Bildwechseln/Sekunde. Auch »Farnsworth Television« begann in Philadelphia mit Versuchen des gleichen Systems. In Los Angeles präsentierte Harry Lubcke von der »Don Lee 52 ABRAMSON, History of Television 1880 to 1940, S. 199. .Technische Voraussetzung dieser Entwicklung war die Realisierung leistungsstarker hochfrequenter Senderöhren, da die Erhöhung der Bildwechsel- und Zeilenzahlen wegen der erforderlichen Frequenzbandbreiten nicht mehr auf Lang- oder Mittelwellensendem realisiert werden konnte. Schon Mitte der zwanziger Jahre wurde von F. Aigner, A. Esau und F. Schröter die Verwendung von Ultrakurzwellen zur Ausstrahlung von Fernsehbildern vorgeschlagen. Siehe RINDFLEISCH, Technik im Rundfunk, S. 82 f, sowie SCHÖNFELDER, Femsehtechnik im Wandel, S . 8-11. 53 70 2. Le terrain technique Broadcasting System Corporation« ein »high-definition« Fernsehsystem mit 300 Zeilen bei 24 Bildern pro Sekunde. Die »Philco Radio and Television Corporation« startete am 18. Juni 1936 gar eine Serie regulärer Programme mit einem 345-Zeilensystem bei 30 Bildern pro Sekunde. Das Television Committee der Radio Manufacture Association (RMA) schlug der Federal Communications Commission im Juni 1936 ein 450-Zeilensystem mit einer Halbbildfrequenz von 60 Hertz vor 54 . Gleiches könnte man für Frankreich, Großbritannien oder Deutschland aufzählen 55 . Hinzu kam, daß die unterschiedliche Zeilennorm nicht der einzige Unterschied zwischen den diversen s/w-Fernsehsystemen war. Es gesellten sich unterschiedliche Vorschläge für die Bandbreite des ٢bertragungskanals und die Abstände zwischen Bild- und Tonträgerfrequenz hinzu. Kurz: es gab ungefähr so viele Systemvorschläge wie Rundfunkunternehmen! Wie konnte man dieser Entwicklung begegnen, die der grundlegenden Voraussetzung der »Netzwerktechnologie« Rundfunk zu widersprechen schien? Die Einführung unterschiedlicher Zeilensysteme im Schwarzweißfernsehen bedeutete ja, daß ein Fernsehgerät nur jene Programme empfangen kann, die von einem Sender mit den entsprechenden Systemcharakteristika ausgesendet wurden. Dies wiederum hätte eine inhaltliche Einschränkung des Programmangebots sowie eine starke geographische Einschränkung der Empfangsgebiete zur Folge gehabt. War man vor Beginn des Zweiten Weltkrieges vor allem damit beschäftigt, einen einheitlichen nationalen s/w-Standard auf die Beine zu stellen, traten nach 1945 langsam die Probleme des internationalen Programmaustausches ins Bewußtsein der Verantwortlichen der nationalen Rundfunkanstalten56. Die BBC nahm den regelmäßigen Fernsehbetrieb am 1. September 1946 wieder auf - mit dem altbewährten 405-Zeilensystem. In Frankreich dagegen entfachte sich eine lebhafte Auseinandersetzung um die Zeilennorm, die es lohnt, näher betrachtet zu werden. Warum? Zum einen, weil das Resultat dieser Auseinandersetzung, die Festlegung des 819-Zeilensystems im Jahre 1948, in der darauffolgenden Debatte um die Faibfernsehnorm eine wichtige Rolle spielte. Zum anderen, weil sich an dieser Auseinandersetzung im nationalen Kontext beispielhaft studieren läßt, was sich bei der Farbfernsehdiskussion auf internationaler Ebene zu wiederholen schien: die personelle Verflechtung und das institutionelle Ineinandergreifen technischer, wirtschaftli54 Siehe hierzu ABRAMSON, History of Television 1880 to 1941, S. 230f. Paul BELLAC, Probl&mes international« de la titevision - la normalisation, in: UIR Bulletin Mensuel (Juli 1949) 282, S. 397-404; Corey P. CARBONARA, HDTV- A Historical Perspective, in: Lou CASABIANCA (Hg.), The New TV. A Comprehensive Survey of High Definition Television, Westport 1992, S. 3-26. 56 Siehe W. REICHEL, Auf dem Wege zur europäischen Fernsehnoim, in: Elektrotechnik 3 (1949) 6 S. 177-182. 55 2.3. Das Problem der Zeilennorm 71 eher und politischer Akteure und Institutionen bei Standardisierungsprozessen im Rundfunkbereich. Tabelle 2: 625-Zeilen EBU GB OIRT F Europäische s/w-Zeilennormen nach der Harmonisierung 1961 Europäische Femsehnormen in den Bändern IV und V Videoband Bild/Tonabstand Bildmodulation Tonmodulation (MHz) (MHz) 5 5,5 6 6 5,5 6 6,5 6,5 Negativ Negativ Negativ Positiv FM FM FM AM Farbträger (MHz) 4,43 4,43 4,43 4,43 2.3.1. »La bataille des standards« - Das 819-Zeilensystem in Frankreich Im Gegensatz zu Großbritannien, wo während des Zweiten Weltkrieges sämtliche Aktivitäten im Bereich des öffentlichen Fernsehrundfunks lahmgelegt wurden, erlebte Frankreich unter der deutschen Besatzung eine kuriose Fortführung der Fernsehaktivitäten57. War im Mai 1941 ein Befehl des Höheren Nachrichtenführers, der für Fernmeldewesen zuständigen Dienststelle des Militärbefehlshabers in Frankreich, zum Abbau der französischen Sendeanlagen auf dem Eiffelturm zwecks »Rohstoffbeschaffung« ergangen, wurde dieser Befehl aus politisch-ökonomischen und militärischen Gründen letztlich nicht umgesetzt. Im Gegenteil: am 20 Mai 1942 befahl das Oberkommando der Wehrmacht die Wiederinbetriebnahme des Senders, der als »Fernsehsender Paris« in die Geschichte des Rundfunks eingehen sollte. Konzentrierte sich die propagandistische Mission des Senders auf die Unterhaltung in Paris stationierter deutscher Soldaten, weist Petra Truckendanner zu Recht darauf hin, daß diesem Projekt handfeste wirtschaftliche Interessen zugrunde lagen: Neben der angestrebten Errichtung eines Programmbetriebes zur Unterhaltung und Zerstreuung der verwundeten Soldaten in den Lazaretten spielten deutscherseits langfristige wirtschaftliche Ziele im Hinblick auf die durchaus schon absehbare Entwicklung des Fernsehens nach dem Krieg und die Durchsetzung deutscher Normen eine Rolle. So bestand der Plan, im Rahmen einer europäischen Television < nach Italien nun auch Frankreich für die 441-Zeilen-Norm zu gewinnen, um der deutschen Elektroindustrie damit für die Nachkriegszeit eine gute Ausgangslage zu verschaffen58. Interessant sind in diesem Zusammenhang besonders die personellen Verflechtungen, die vor, während und nach dem Krieg im Bereich der Femseh57 Siehe hierzu KUBLER, LEMIEUX, Cognacq-Jay 1940; TRUCKENDANNER, D e r Fernsehsender Paris; Jacques POINSIGNON, Fernsehsender Paris, in: Bulletin du Comit6 d'histoire de la t616vision 21 (mars-avril 1990) S. 3 1 - 6 2 . 58 TRUCKENDANNER, Der Fernsehsender Paris, S. 108. 72 2. Le terrain technique technik bestanden. Bereits 1936 kam es zwischen Telefunken und der Compagnie des compteurs (CdC) zu einem strategischen Abkommen im Bereich der Fernsehentwicklung. Ein Forschungsabkommen mit einer Laufzeit von zehn Jahren sah unter anderem gemeinsame Forschungs- und Entwicklungsarbeiten im Bereich der Fernsehröhren (Ikonoskope), der elektronischen Verstärker, der Sender im 2-Meter-Wellenbereich und im Bereich der hochauflösenden Fernsehempfänger (1 000 Zeilen) vor59 Mit dem Abkommen verbunden war auch ein Patentaustausch zwischen beiden Unternehmen60. Verständlich wird dieses ambitiöse Abkommen, wenn man sich die weltweiten Konzentrationsbemühungen in der elektrotechnischen Industrie vor Augen führt, die auch vor der noch jungen Fernsehbranche nicht haltmachten61. Auf deutscher Seite (Telefunken) war der Fernsehfachmann Fritz Schröter, auf französischer Seite waren Rene Barthdlemy und Paul Mandel an der Verhandlung des Abkommens beteiligt. Die guten deutsch-französischen Beziehungen auf diesem Gebiet ermöglichten beim Betrieb des »Fernsehsenders Paris« eine nahezu mühelose Fortführung der früheren Aktivitäten. Thierry Kubier und Emmanuel Lemieux gehen in ihrer Darstellung »Cognacq-Jay 1940. La television fransaise sous l'occupation« sogar so weit, der harmonischen Zusammenarbeit zwischen deutschen und französischen Forschern »Freimaurer-Charakter« zu bescheinigen62. Hier kommt ein Punkt erstmals zur Sprache, der im Laufe der Darstellung an Gewicht gewinnen wird, nämlich die Bedeutung der Forscherpersönlichkeit in der Entwicklung der Technik oder bei der Aushandlung technischer Normen und Standards. Die Geschichte des Fernsehsenders Paris ist zudem ein markantes Beispiel für das »Ich diente nur der Technik«-Rechtfertigungsverhalten vieler im Nationalsozialismus engagierter Techniker und Wissenschaftler63. Nicht nur auf KUBLER, LEMIEUX, Cognac Jay, S. 56 f. Dieses Abkommen dient in den fünfziger Jahren als Basis einer erneuten Zusammenarbeit zwischen Telefunken und der Compagnie G£n6rale de Tildgraphie sans Fil (C.s.F.). Siehe hierzu Andreas FICKERS, Coopdration-confrontation-cohabitation: les relations entre la CSF/CFT et AEG-Telefunken en matifere de brevets et licences de tdldvision en couleur dans les ann6es soixante, in: Revue d'Allemagne 37 (2005) 1 S. 29-43. 61 In Großbritannien war es vor allem die »Marconi Telegraph and Wireless Company«, die zahlreiche kleinere Unternehmen, so auch das des britischen Fernsehpioniers John L. Baird, »schluckte«. In den USA waren es General Electric und die RCA, welche ihren technologischen Vorsprung zu einer marktbeherrschenden Stellung ausbauen konnten. 62 »L' argument peut paraltre faible, pourtant plusieurs raisons historiques et industrielles expliquent le rapprochement entre les membres de la CdC et la Telefunken. En premier lieu, la fameuse >franc-maconnerie des chercheurs< lie particultörement Barthdldmy et Schröter; ils s'estiment et dchangent leurs points de vue depuis le dibut des ann&s 30. Leur personnalit6, alliant rigeur et austäitö, tend ä les rapprocher.« KUBLER, LEMIEUX, Cognacq-Jay, S. 58. 63 Siehe Dirk BR٢NDEL, Museum für Verkehr und Technik (Hg.), Ich diente nur der Technik: sieben Karrieren zwischen 1940 und 1950, Berliner Beiträge zur Technikgeschichte und Industriekultur Bd. 14, Berlin 1995. 59 60 2.3. Das Problem der Zeilennorm 73 deutscher Seite, wo die Rundfunktechniker im Dienste nationalsozialistischer Propagandaarbeit standen, ist dieses Muster zu erkennen, sondern auch in Frankreich, wo sich die Techniker des Fernsehsenders Paris zugleich als »Opfer und Förderer« des unter deutscher Leitung betriebenen Fernsehbetriebs verstanden64. Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich an der guten deutsch-französischen Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Fernsehens zunächst wenig. Nun war es die französische Compagnie des compteurs, die zum Arbeitgeber deutscher Fernsehingenieure wie Fritz Schröter, Richard Theile oder Kurt Diels wurde. Sogar der ehemalige »Sonderführer« des Fernsehsenders Paris, Kurt Hinzmann, der 1945 in Abwesenheit von einem englischen Militärgericht wegen Spionage zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt wurde, diente ab 1946 als Verbindungsmann zwischen Telefunken und der Compagnie des compteurs. Von Fritz Schröter war Hinzmann in wundersamer Weise zum »Ingenieur« befördert worden. Insgesamt siebzehn Telefunken-Leute arbeiteten ab 1946 für die CdC in einem Grundlagenlabor in Corbeville bei Paris. 1946 rechtfertigte der »chef du service de television«, Andre Ory, dieses Verhalten gegenüber einem Journalisten mit den Worten: »Je considfere cette affaire comme favorable au d6veloppement de la television franfaise. Je trouve tout ä fait normal que nous fassions ce que font les Am6ricains et les Anglais. La venue des Allemands peut avancer d'un an la mise en route d'un programme commercial«65. Dies war ganz im Sinne der deutschen Techniker, wie Kurt Diels am 29. Oktober 1946 in seinem Bewerbungsschreiben an das zuständige Amt für Industrieproduktion der französischen Besatzungsmacht in Baden-Baden formulierte: »Etant donn£ que les recherches ne sont pas permises en Allemagne, mes ingenieurs et moi aimerions mieux travailler ailleurs, parce que 64 Klaus WINKER, Fernsehen unterm Hakenkreuz. Organisation, Programm, Personal, Köln u.a. 1994, S. 285 f. In Frankreich muBte lediglich ein Mitarbeiter des technischen Stabs des Fernsehsenders Paris eine dreimonatige Haft verbüßen. Marc Chauviene, neben Barthdlemy und de France einer der führenden Fernsehentwickler in Frankreich, war bis 1940 Directeur G6n6ral von Radio-Citi, bis er unter Potain zum »Directeur de Service cin6matographique de la t61£vision« ernannt wurde. In der Darstellung von Kubier und Lemieux wird Chauvierre mit den Worten zitiert: »Par la suite, j'ai demandi la revision de mon procfcs, et j'aiutsqponmlihedcbaMJ έΐέ totalement blanchi. Je ne M'occupais que de technique Δ la radio«. KUBLER, LEMIEUX, Cognacq-Jay, S. 202. Nach dem Krieg versuchte Chauvierre vergeblich, eine verantwortungsvolle Position im französischen Femsehen wiederzuerlangen. Er wurde zu einem der vehementesten Bekämpfer der 819-Zeilennorm und seines Protagonisten Henri de France. Ein von Chauvierre im Mai 1985 an das Comitd d'histoire de la t£16vision abgetretener Schriftwechsel zur 819-Zeilen-Problematik erlaubt einen detaillierten Einblick in diese Geschichte. Auch in seinem 1977 erschienen Buch »La t£16vision. Hier, aujourd'hui et demain« übte Chauvierre heftige Kritik an der französischen Fernsehpolitik, der er einen nationalistischen »Isolationismus« vorwarf. 65 So Ory in einem Interview mit dem Journalisten Francis Lamotte, das am 12. Dezember 1946 in der Tageszeitung »Le Pays« erschien. Siehe KUBLER/LEMIEUX, Cognacq-Jay, S. 205. 74 2. Le terrain technique nous aimons trop notre mdtier pour 1'abandonner ttefinitivement«66. Keinen dieser Herren sollte dieses Schicksal ereilen - im Gegenteil. Einige blieben bis zur Pension im Dienste der CdC, andere machten in der Bundesrepublik Karriere. So beispielsweise Richard Theile, der Leiter des Instituts für Rundfunktechnik in München wurde, oder Kurt Hinzmann, der Leiter des Fernsehens des Südwestfunks, später des Bayerischen Rundfunks wurde. Schröter und Diels verließen die CdC 1952, um Aufbauhilfe für das spanische Fernsehen unter Franco zu leisten. Bereits im März 1945 wurde der experimentelle Betrieb des französischen Fernsehens in den Studioanlagen der »rue Cognacq Jay« wiederaufgenommen. Der regelmäßige Fernsehbetrieb mit dem von den Deutschen übernommenen 441-Zeilensystem konnte aber erst im Oktober 1947 beginnen. Man startete mit einem Programm von 12 Stunden pro Woche67. Allerdings sollte diese Regelmäßigkeit bald einer neuen Zeilendiskussion zum Opfer fallen. Schon während des Krieges hatten einige Forscher in Frankreich an der Erhöhung der Zeilennorm für das Schwarzweißfernsehen gearbeitet. Ren6 Barthelemy entwickelte im Labor der CdC ein 1015-Zeilensystem, Henri de France experimentierte in seinem Labor der Radio-Industries in Lyon an einem 819-Zeilensystem und einige Ingenieure um Jean-Louis Delvaux und Yves Delbord in der Compagnie Fran^aise Thomson-Houston (CFTH) brachten ein 729-Zeilensystem zustande. Die hohe Zeilenzahl brachte technisch einige Probleme mit sich, die im Detail nicht diskutiert werden können. Zwei Faktoren sprachen aber aus französischer Perspektive Mitte der vierziger Jahre für die Einführung eines hochauflösenden Schwarzweißfernsehens: Zum einen die höhere Bildqualität68, zum anderen - und dies war der gewichtigere Grund - der Schutz der französischen Rundfunkindustrie vor ausländischer Konkurrenz. Schon früh wurden aber auch Gegenstimmen laut, welche die hohe Zeilenzahl aus technischen Gründen ablehnten, bedeutete sie doch, daß die Bandbreite des ٢bertragungskanals entsprechend größer sein mußte. Auf der CCIR-Versammlung in Atlantic City 1947 hatte man die Bänder I (41 bis 68 MHz) undzsibMH ΙΠ (174 bis 216 MHz) für den Fernsehrundfunk bestimmt. Eine höhere Zeilenzahl und damit Kanalbreite bedeutete für ein Land, daß ihm weniger Kanäle und damit weniger Fernsehprogramme zur Verfügung standen, da die national zugeteilten Sendefrequenzen begrenzt waren69. Benötigte das englische 66 Ibid. S. 208f. 67 ALBERT, TUDESQ, H i s t o i r e d e la tdl6vision, S . 7 1 . 68 405 Zeilen ergeben ungefähr 160 000 Leuchtpunkte auf dem Bildschirm, 625 Zeilen ungefähr 400 000 und bei 819 Zeilen sind es über 800 000 Leuchtpunkte. Je höher die Anzahl der Leuchtpunkte, um so deutlicher können Helligkeitsunterschiede wiedergegeben und um so schärfer hell/ dunkel-Konturen sichtbar gemacht werden. 69 RINDFLEISCH, Technik im Rundfunk, S. 30f. 2.3. Das Problem der Zeilennorm 75 405-Zeilensystem eine Kanalbreite von 5 MHz, waren es beim 625-Zeilensystem schon 8 MHz, beim 819-Zeilensystem gar 13,5 MHz. Für Frankreich bedeutete dies, daß mit dem 819-Zeilensystem lediglich ein Programm pro Kanal ausgestrahlt werden konnte70. Da man sich in Europa erst auf der Stockholmer Wellenkonferenz des Jahres 1952 mit der Definition der Kanalbreiten für den europäischen Fernsehfunk befaßte, herrschte bis zu diesem Zeitpunkt ein freier »Zeilenwettbewerb« - von jedem Land mit der Hoffnung betrieben, seine Zeilendefinition qua wirtschaftlicher oder politischer Macht als »normgebend« durchsetzen zu können71. Wie das Beispiel Frankreich zeigt, gab es auch innerhalb eines Landes konkurrierende Systeme. Um in Frankreich zu einem einheitlichen nationalen Standard zu gelangen, wurde eine »Commission technique« aus Vertretern der Industrie und der staatlichen Rundfunkanstalt (Radiodiffusion Fran^aise) gegründet. Bereits im Juni 1947 wurde eine Empfehlung veröffentlicht, die eine Zeilenzahl »d'environ 1 000 lignes« vorsah. Warum setzte sich letztlich das 819-Zeilensystem von Henri de France durch? Es bieten sich mehrere Erklärungsmuster an. Zieht man technische Kriterien zur Bewertung des 819-Zeilensystems im Vergleich zu den anderen Alternativen (1015 und 729) heran, ergab sich 1948 kein zwingendes Argument für das de France-System. Im Gegenteil. Mehrere Argumente sprachen dagegen: zum einen war die Zeilenzahl zu hoch, um bei der beschränkten Kanalbreite eine flächendeckende Versorgung Frankreichs mit 2 oder 3 Programmen gewährleisten zu können. Dies wäre dagegen mit dem 729-Zeilensystem der CFTH möglich gewesen72. Zum anderen war die Zeilenzahl im Vergleich zum CdC-System nicht hoch genug, um eine problemlose ٢bernahme von s/w-Filmmaterial (36 mm Filme) zu gewährleisten73. Die Gründe 70 Laut »Bandbreite-Formel« steigt die Bandbreite im Quadrat mit der Zeilenzahl an. Siehe SCHÖNFELDER, Fernsehtechnik im Wandel, S. 8 f. 71 Einen ٢berblick über die unterschiedlichen Systeme in Europa liefert REICHEL, Auf dem Wege zur europäischen Fernsehnorm. Der politischen und kulturellen Konsequenzen, die dieser Techno-Nationalismus in den Folgejahren für den europäischen Fernsehbetrieb mit sich brachte, waren sich die politischen Entscheidungsträger zu dieser Zeit wohl kaum bewußt. Siehe hierzu Andreas FICKERS, National Barriers for an Imag(e)ined European Community. The Technopolitical Frames of Postwar Television Development in Europe, in: Nothern Lights. Yearbook for Media Studies (2006) S. 7-27. 72 Siehe »Brfcve histoire des dibuts de la television fran^aise«, 6 maschinegeschriebene Seiten, die der Fernsehingenieur Yves Angel dem Autor im September 1999 zukommen ließ. Angel (geb. 1918), Polytechniker, war ab Oktober 1942 Ingenieur bei der Radiodiffusion Nationale, ab März 1943 Forschungsleiter der Abteilung Fernsehtechnik. Nach dem Krieg war er bis 1947 als leitender Ingenieur in Diensten der RTF, bevor er 1957 als Professor an das CNAM, eine der französischen Eliteschulen wechselte. 73 Siehe Marc CHAUVIERRE, Note sur l'organisation actuelle et l'organisation future de la TELEVIsion fran^aise, Juni 1949, in: Archives du CHTV/INA, Nachlaß Marc Chauvierre/819-lignes, 5 Seiten, S. 5. 76 2. Le terrain technique für die Durchsetzung des 819-Zeilen-Systems müssen daher außerhalb des technischen Bereichs gesucht werden. 2.3.2. »Toujours >la France seule< et plus seule que jamais«74 Schenkt man den offiziellen Darstellungen Glauben, die den am 21. November 1948 getroffenen Entschluß des französischen Staatssekretärs für Information, Francis Mitterrand, für das 819-Zeilensystem kommentieren, so stand ein Gedanke im Mittelpunkt des französischen Entschlusses: der Schutz der heimischen Industrie vor ausländischer Konkurrenz. Genau dieses Kalkül sollte sich jedoch als Denkfehler herausstellen. Als Ende 1949 die ersten Programme im neuen 819-Zeilenstandard gesendet wurden, war es der niederländische Konzern Philips, der als einziger Anbieter einen funktionsfähigen 819-Zeilenempfänger auf den französischen Markt brachte! Schon bald nach der Normfestlegung regte sich daher bei einem großen Teil der französischen Rundfunkindustrie heftiger Unmut über die Entscheidung. Am 6. Dezember 1948 erreichte den Generaldirektor der Radiodiffusion Frangaise, Wladimir Porch675, ein Schreiben des Präsidenten und Vizepräsidenten des Syndicat national des industries radio61ectriques (SNIR), in dem beide harsche Kritik an der Entscheidung der Regierung übten. Man wundere sich, so die beiden Autoren Damelet und Guillemant, warum die französische Regierung eine Zeilennorm gewählt habe, die so deutlich über den in Europa üblichen Normen liege. Dabei hätten die amerikanischen und britischen Erfahrungen doch gezeigt, daß eine Zeilenzahl um 600 eine absolut befriedigende Bildqualität ergeben würden. Au surplus, s'il ne nous appartient pas de juger votre point de vue, c'est notre devoir de vous dire qu'il exige ä coup sür de l'iconomie franijaise, un effort bien sup&ieur ä celui qui eQt suffi s'il avaitxvutsrqponmljihgfedcbaZWVUTSRPONLIHECBA έΐέ plus modestement peut-etre, mais plus raisonnablement ä notre sens, d6cid6 d'adopter pour la France un standard de l'ordre du r6seaux en exploitation ou 16g£rement supirieur ä celui-ci. Π nous paraitrait d'autre part regrettable qu'une dicision frangaise trop audacieuse risque de compromettre la constitution d'un rdseau international de Tdlivision de l'Ouest Ειιτορέεη dans lequel la culture fran;aise devrait normalement trouver des 616ments d'expansion extreme ment importants et nous serions heureux de connaitre votre opinion sur cette deuxifeme questi- 74 Zitat aus CHAUVIERRE, La t616vision, S. 43. Zur Person Wladimir Porchis siehe die Ausgabe Nr. 11 des Bulletin du Comitf d'histoire de la t£16vision (janvier 1985), in der Porch6 auf 63 Seiten ein autobiographisches Zeugnis über seine Zeit beim französischen Fernsehen ablegt. Im Anschluß an Porchis Selbstzeugnis ist eine dreiseitige Biographie abgedruckt (S. 66-69). 76 Siehe »lettre de M. Damelet et M. Guillemant ä Wladimir Porch6, Directeur G6n6ral de la Radiodiffusion Franjaise«, Paris, 6 dficembre 1948, 5 Seiten, S. 2, in: Archives du CHTV/INA, NachlaB Marc Chauvierre/819-lignes. 75 2.3. Das Problem der Zeilennorm 77 Bedenkt man, daß das SN® zu diesem Zeitpunkt über 400 Hersteller von Rundfunkempfangsgeräten vertrat, hatte die deutliche Kritik einiges Gewicht. Vor allem der Verweis auf das Problem des europäischen Femsehnetzes ist von besonderem Interesse. Eine von anderen europäischen Normen unterschiedliche französische Zeilendefinition bedeutete in der Praxis, daß ein Programmaustausch mit diesen Ländern enorm erschwert wurde. Zudem, wie in dem Anschreiben formuliert, wurde dadurch der Export französischer Kultur gehemmt - ein Argument, das in Frankreich stets von staatstragender Bedeutung war 77 . Die Antwort von Wladimir Porch6 ließ nicht lange auf sich warten. Erstaunt stellte er fest, daß das SNIR doch an der Diskussion um die Normgebung beteiligt gewesen sei, und man sich im Juni 1947 gar auf eine noch höhere Zeilennorm verständigt habe: Dois-je encore rappeler que dans les discussions men6es au sein de la Commission de Modernisation des T61£communications - Plan Monnet - et auxquelles votre Syndicat a particip£ de la faijon la plus active, un rapport du SNIR avait 6t6 itabli qui en matifere de t616vision appuyait totalement la politique de haute difinition [...]. Je suis convaincu que la seule et vdritable manifere de difendre les intirets de notre Industrie, aussi bien demissions que de riceptions, est d'exploiter l'avance technique que nous possidons dans le domaine de la haute difinition 78 . Außerdem, so Porchd, komme der aktuelle Zeilenvorschlag doch von Unternehmen, die im SNIR vertreten seien79. Auf diese Vorwürfe reagierte Damelet in einem Brief vom 19. Januar 1949, in dem die >wahren< Gründe für die Unzufriedenheit des SNIR mit der Entscheidung für das 819-Zeilensystem zu Tage kamen. Es wird klar, daß es weniger die vorgeschlagene Zeilennonn war, die für Unmut sorgte, sondern die Form des Entscheidungsprozesses. Zu keinem Zeitpunkt, so kritisiert Damelet, habe eine wirkliche Zusammenarbeit zwischen der Industrie und der Radiodiffusion Frangaise und damit der Regierung stattgefunden. »A aucun moment« so Damelet, »n'a existe de commission vöritablement responsable d'emettre un avis sur les moyens techniques les plus propres ä assurer le developpement de la teldvision fran^aise«. Er schließt seinen Brief mit einer fundamentalen Kritik an der 77 Dieses Argument wird uns auch in der Farbfernsehdebatte häufig begegnen. Zur »mission culturelle de la France« siehe Franz ALTING VON GNEISENAU, Kulturdiplomatie und nationale Stereotypen: nur zum offiziellen Gebrauch?, in: Teresa WALAS (Hg.): Stereotypen und Nationen, Krakau 1999, S. 305-310; Frank COSTIGLIOLA, Power and Language: The French Connection, in: Contemporary European History 2 (1993) 1 S. 69-80; Albert SALON, L'action culturelle de la France dans le monde, Paris 1983. 78 »Lettre de Wladimir Porchd ä M. Damelet«, Paris 10 ddcembre 1948, 4 pages, in: Archives du CHTV /INA, Nachlaß Marc ChauvieiTe/819-lignes. 79 Es handelte sich dabei um die Firmen Compagnie des compteurs, Compagnie g6nirale de TSF, Compagnie franfaise Thomson-Houston, Soci6t£ Radio Industries, Laboratoire ginirale des t616communications, Socidti Sadir-Carpentier. 78 2. Le terrain technique Fernsehpolitik, so wie sie seit Ende des Zweiten Weltkrieges in Frankreich betrieben worden sei: Nous sommes en particulier persuadis que la propagande faite actuellement sur la t61ivision ne reposera pas sur une base solide tant qu'elle ne sera pas appuyde par Taction des fabricants de ricepteurs. Elle risquerait dans sa forme actuelle d'aboutir exactement au rfsultat opposd au r£sultat recherchö en donnant encore une fois au public l'impressionzwvutsrqponmlkjihgfedcbaWSP έρκηινέε par lui depuis 4 ans, que la t£16vision franijaise est beaucoup plus un sujet de controverse qu'une rialitd concrete80. Was hier zur Sprache kommt, weist auf grundlegende Probleme des französischen Nachkriegsfernsehens hin. Zwar konnten in Paris die Versuchssendungen dank der übriggebliebenen deutschen Sendeanlagen rasch wiederaufgenommen werden, Empfangsgeräte waren aber so gut wie keine vorhanden. Bevor die Empfangerindustrie in die schwierige Serienproduktion investierte, mußten sämdiche Normen festgelegt sein. Da dies erst im November 1948 definitiv erfolgte, waren bis zu diesem Zeitpunkt kaum 441-Zeilenempfänger gebaut worden. Wie Damelet zu Recht feststellte, war das Fernsehen in Frankreich bis zu diesem Zeitpunkt tatsächlich eher Gegenstand der Auseinandersetzung um sein zukünftiges Erscheinungsbild denn bildhafte Realität. Da das Fernsehen in den USA und in Großbritannien im Gegensatz zu Frankreich in diesem Zeitraum einen rasanten Aufstieg erlebte, war die Sorge der französischen Hersteller durchaus berechtigt. Durch die Wahl eines von diesen Ländern abweichenden Systems konnten sie schon vor Beginn des Aufbaus einer heimischen Empfängerindustrie ins Abseits geraten81. Ein weiteres Problem scheint die mangelnde Kommunikation zwischen Industrie und staatlicher Rundfünkorganisation gewesen zu sein - trotz zentralistisch organisierter Planpolitik. Es kann vermutet werden, daß dies mit der Personalpolitik im staatlichen Rundfunkbetrieb zusammenhing. Wie zentrale Akteure der französischen Rundfunktechnik dieser Epoche berichten, wurden wichtige Entscheidungen auch im Bereich der Technik oftmals aufgrund persönlicher Verbindungen oder Beziehungen getroffen, nicht aufgrund technischwissenschaftlicher Argumente. 80 »Lettre de H. Damelet ä Wladimir Porchd«, 19. Janvier 1949, 3 pages, in: Archives du CHTV/INA, Nachlaß Marc Chauvietre/819-lignes. 81 Pierre Albert weist darauf hin, daß das Erreichen der 1-Million-Empfängergrenze in Frankreich doppelt so lange gedauert hat wie in England oder Deutschland. In Großbritannien war diese Zahl fünf Jahre nach Wiederaufnahme des regelmäßigen Programmbetriebes erreicht (1951). Die 10-Millionen-Grenze wurde 1960 erreicht. In der Bundesrepublik Deutschland, wo der Programmbetrieb erst 1953 startete, war die 1-Million-Grenze 1957, die 10-Millionen-Grenze 1964 erreicht. Setzt man den regelmäßigen Programmbetrieb in Frankreich mit Beginn der 819-Zeilennorm im Jahr 1949 an, dauerte es bis zur ersten Million zehn Jahre, bis zum Erreichen der 10-Millionen-Grenze 20 Jahre! Siehe Pierre ALBERT, Remarques sur la lenteur du ddveloppement de la t6I6vision en France, in: Bulletin du Comity d'histoire de la tdlivision 1 (juillet 1981) S. 17-24. 2.3. Das Problem der Zeilennorm 79 Marc Chauvierre82, der zu den Pionieren des französischen Fernsehens in den 1930 er Jahren zählte, kritisierte scharf das »systfcme de fonctionnaire incompetent et inamovible«, das den staatlichen Rundfunkbetrieb seit 1945 kennzeichne83. Auch Yves Angel, von 1945 bis 1955 Technischer Direktor der RDF/RTF84, machte in einem Rückblick auf die personellen Verflechtungen zwischen RTF und dem Unternehmen Radio-Industries (RI) aufmerksam, jener Firma, in der Henri de France seit 1933 Chefingenieur und ab 1940 Mitglied des Aufsichtsrates war85. Wladimir Porch6, der vor Beginn des Zweiten Weltkrieges verantwortlich für die Wortbeiträge im französischen Hörfunk war, trat nach der Okkupation in die Dienste der Radio-Industries ein. Während fünf Jahren war er somit Kollege von Henri de France, bevor 82 Zur Person Marc Chauvierres siehe den Nachruf von Michel FAVREAU und Michel CARPENTIER, Souvenir - Marc Chauvierre, pionnier de la t61£vision nous a quittis, in: Les Cahiers du Comitö d'histoire de la tilfivision 3 (juin 1998) S. 69-71. Wegen seiner Tätigkeit beim Fernsehsender Paris in den Jahren 1943/44 und seiner Suspendierung aus dem Staatsdienst nach der LiWration versuchte Chauvierre nach 1945 vergeblich, im staatlichen Nachkriegsfernsehen Fuß zu fassen. In einem Brief an den Abgeordneten Max Brasset vom 15. November 1951 empfahl sich Chauvierre als »Retter«, um das in seinen Augen krisengeschüttelte französische Femsehen endlich auf den »rechten Weg« zu bringen: »Ce changement de politique, d'ailleurs, ne pourra etre effectif que s'il correspond ä un changement d'hommes aux 6chelons les plusvutsrponmljihgfedcbaPLC έίενέβ des respon­ sabilitis. [...] Pour ma part, je suis dispos6, comme je vous l'ai d6jä dit, ä revendiquer la direction de la tilivision fransaise, direction ä laquelle plus que tout autre mon passi me qualifie. [...] Je crois pouvoir dire que ma nomination serait tres bien acceuillie par la majoritd des constructeurs frangais (ä 1'exception 6videmment du constructeur qui a lance le 819-lignes) et qu'un tel programme serait susceptible de crier le choc psychologique qui seul permettra d'assurer le νέπ­ table d6marrage de la television fran9aise«. Lettre de Μ. Chauvierre äxvutsrponmlihgedcbaVTSPNMIHD Μ. Max Brasset, Diput6 de la Charente, Paris, 15 Novembre 1951, 2 maschinegeschriebene Seiten, hier S. 2, in: Archives du CHTV/INA, Nachlaß M. ChauvierTe/819-lignes. Die als persönliche Ungerechtigkeit erfahrene Situation von Chauvierre nach 1945 macht ihn zu einem der heftigsten Kritiker der französischen Fernsehpolitik im Bereich der technischen Entscheidungen. Obschon viele seiner Aussagen aus heutiger Perspektive gerechtfertigt scheinen, ist seine offene Kritik am System immer vor diesem privaten Hintergrund zu betrachten. Siehe CHAUVIERRE, La tdldvision. 83 Siehe »Note sur 1'organisation actuelle et l'organisme futur de la T61ivision fran5aise«, die Marc Chauvierre im Juli 1949 an Max Brasset, einen Abgeordneten des Departement Charente im französischen Parlament richtete. In: Archives du CHTV/INA, Nachlaß Marc Chauvierre/ 819-lignes, 4 Seiten, hier S. 3. 84 Die staatliche Rundfunkorganisation »Radiodiffusion fran^aise« (RDF) wird am 4. Februar 1949 per Dekret zur »Radiodiffusion t£16vision frangaise« (RTF) und am 27. Juni 1964 zur »Organisation de radiodiffusion tfilövision franjaise« (ORTF). Am 7. August 1974 wird die ORTF aufgelöst. Es entstehen die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender TF1, Antenne 2, FR3 sowie der Hörfunksender Radio France. Siehe BOURDON, Haute Fid61it6. Am Ende des Buches befindet sich eine ausgiebige Chronologie des staatlichen französischen Fernsehens mit den Themenfeldern »Politique g6n£rale et ministres de tutelle«, »r6formes et crises«, »les dirigeants« und »les emissions«. 85 Siehe Bulletin du Comiti d'histoire de la tildvision 14 (juin 1986), das Henri de France gewidmet ist und eine stark gekürzte Version seiner unveröffentlichten »Mdmoires« sowie zahlreiche Erinnerungen von Weggefahrten enthält. 80 2. Le terrain technique Informationsminister Gaston Deferre ihn 1946 auf den Posten des Generaldirektors der Radiodiffusion Frangaise berief. Ab diesem Augenblick, so Yves Angel, »le diveloppement de la Radio-Industries devint explosif [...]. La R.I. n'attend plus les commandes. Elle construit. La RTF n'a plus qu'ä loger les mat&iels, les exploiter, et faire des marches de rägularisation pour pouvoir payer des factures«86. Dennoch, und hier schließt Angel eine deutliche Kritik an der Person Henri de France' als Unternehmer an, sei die RI auf keinen grünen Zweig gekommen: Malgri sa grande activity, la R.I. fut loin de faire fortune car, au train o٧ allaient les dipenses (campagnes de dimonstrations du 819­lignes en France et δ l'itranger, >peche< d'inginieurs et de techniciens chez les concurrents, heures supplimentaires, banquets, courtoisies aux hommes politiques...), les difficultis financifcres rdappanirent 87 . Angels Aussagen werden - zumindest was die enge Verbindung von de France und RTF (Porchd) angeht, auch von Ingenieuren der RTF oder Thomson-CSF bestätigt. »Le 819-lignes a et6 une decision essentiellement politique. Les ingenieurs ont du suivre. [...] Cette decision etait en fait largement motive par le souci de favoriser Radio-Industries et de France«, so Bernhard Hecht, Entwicklungsingenieur der bei der RTF88. Ein wenig nüchterner gesteht auch einer der besten Kenner der französischen Rundfunkgeschichte, J6röme Bourdon: »Dynamique et bien introduit, Henri de France a autant d'entregent politique que d'inventivite«89. Eine Eigenschaft, die sich - wie zu zeigen sein wird - auch bei der Einführung des Farbfernsehens in Frankreich bezahlt machen sollte. Noch fünf Jahre nach Mitterrands Entscheidung 86 ANGEL, Brtve histoire des dφbuts de la tv frangaise. Angel sieht in dieser Entwicklung gar »symptomatische« Charakteristika von de France's wirtschaftlichen Unternehmungen: »Henri Defrance (Portographie le nom selon l'usage dexvutsrqponmlih 1'έρο­ que) fut un >bricoleur de talent<. Avant la guerre, il avait plus au moins dirig6 de petites indu­ stries (haut­parleurs) que son esprit aventureux a conduites toutes δ la faillite. L'une, du nom pompeux de >Compagnie g6n6rale de t.v.<, en difficultis financi٧res vers 1933, fut reprise par la >Radio­Industries< (R I). La caractiristique des krachs qui ont jallonnφ toute sa vie est qu'δ cha­ que reprise de sa soci6t6 moribonde par une soci6t6 en bonne santi, Defrance retrouvait une pla­ ce de direction qui ne tardait pas δ devenir la place du patron, au moins de fait. Et quelques an­ n6es plus tard, le processus recommencait, la proie grossissant δ chaque fois. II avait le ginie de la persuasion pour empφrter les affaires«. 88 Siehe Transkription eines Interviews mit Bernhard Hecht vom 4. Juni 1984, in: Archives du CHTV/INA. Im gleichen Bestand befinden sich auch Interviews mit den Ingenieuren Claude Mercier (Technischer Direktor der RTF/ORTF), Jacques Fagot (Technischer Direktor bei Thom­ son­CSF) und Jean­Jacques Matras (Entwicklungsingenieur der RTF). Auch Jacques Fagot weist auf die engen Kontakte hin, die de France zu den politisch Verantwortlichen pflegte und ver­ weist zudem auf die Parallelitδt der Entwicklung des 819­Zeilensystems und des Farbfernsehens: »Parallele 819, SECAM? Dicisions politiques et nationales. Influence de de France, trφs intro­ duit. De plus liens familiaux avec Floirat. C'est lui qui a repich6 la CFT, parce que Saint­Gobain n'a pas voulu continuer trop longtemps dans cette histoire, aprfes 1'adoption du SECAM«. Siehe Interview mit Jacques Fagot vom 25. Mai 1984, S. 6, in: Archives du CHTV/INA. 89 BOURDON, Haute Fidelity S. 33. 87 2.3. Das Problem der Zeilennorm 81 verteidigte der franzφsische Abgeordnete Max Brasset die Entscheidung pro 819­Zeilen in seinem 125 Seiten starken »Expos6 sommaire sur la situation de la t616vision franfaise et ses possibilites d'extension«. Er schreibt: C'est l'int6ret national bien compris, aussi bien dans la difense du territoire que dans celui de la protection de notre Industrie qui a amenφ le Gouvernement et le Parlement fran;aisxutsrqponmlkihgedcaPKF ä choisir cet­ te difinition, c'est δ dire une technique qui est diffirente de Celles utilis6es dans les autres nati­ ons industrialists^...] Si le Gouvernement et le Parlement n'avaient pas pris la ddcision de pro­ t6ger par tous les moyens notre jeune Industrie dans ce domaine, le marchi franijais seraient de­ venu une proie facile pour les grands trusts φtrangers contre lesquels nos constructeurs, mis en retard par les destructions de la guerre auraientutsrpnliedcba &έ incapables de lutter 90 . Daß diese fast heroisch anmutende, nationalistisch legitimierte Entscheidung letztlich nicht den erhofften Erfolg hatte, ist für Brasset das Resultat einer »Verschwörung« gegen Frankreich, deren Opfer das französische Volk und ihre Industrie sei: La guerre du lignage est la cause du handicap fran;ais en toute mattere: qu'il s'agisse de l'adoption du Standard fran^ais par d'autres gouvernements, qu'il s'agisse du d6veloppement de l'infrastructure sur le sol national, ou encore du ddveloppement du nombre des postes ricepteurs aux mains des tilispectateurs fran^ais. Tout s'est trouvi paralysi par la propagande effr6n6e qui a 6t6 men6e contre le standard fran^ais et dont notre pays et l'industrie fran;aise sont aujourd'hui les premifcres victimes 91 . Analysiert man die Gründe für die Einführung des 819-Zeilensystems in Frankreich aus entemotionalisierter historischer Perspektive, so zeigt sich, daß weder im Bereich der Technik noch im Bereich der Industrie zwingende Faktoren für diese Entscheidung vorhanden waren. Zwar war die Entscheidung für ein hochzeiliges s/w-Fernsehsystem in Frankreich unumstritten (.Bildqualitäts-Argument), jedoch konkurrierten hier mehrere Varianten miteinander, die jeweils ihre eigene technische Legitimation hatten. Das von der Politik verfochtene Protektionismus-Argument (Schutz der heimischen Rundfunkindustrie) erweist sich bei näherem Hinsehen als fadenscheinig (Widerstand des SNIR). Besonders heikel scheint die Entscheidung für das 819-Zeilensystem vor dem Hintergrand des von Politik und RTF gemeinsam propagierten Kulturexport-Argumentes. Gerade die Wahl eines von den anderen europäischen Ländern verschiedenen Standards erschwerte den Programmaustausch enorm. Für die zentralen politischen Akteure (v.a. Franfois Mitterrand) war die in ihren Augen bessere Technik (hochauflösenderes Bild) schon Beweis der kulturellen und wissenschaftlich-technischen Superiorität, der sich die anderen Länder - insofern sie die Zukunft nicht verpassen wollten - schwerlich verwehren konnten (Fortschrittslogik-Argument). 90 Max BRUSSET, Expos6 sommaire sur la situation de la tilivision franfaise et ses possibilitis d'extension, 125 maschinegeschriebene Seiten, hier S. 37, Paris 1953, in: Archives nationales, Signatur F ^ 1/2303. 91 Ibid. S. 35. 82 2. Le terrain technique Zwar lassen sich zahlreiche Argumente auff٧hren, die die Entscheidung f٧r das 819­Zeilensystem aus der Sicht des politischen Entscheidungstrδgers Francois Mitterrand nachvollziehbar und aus damaliger Perspektive legitim erscheinen lassen, doch zeigt die unmittelbar auf diese Entscheidung folgen­ de Zeitspanne, daß die Entscheidung auf »wenn - dann«-Annahmen fußte, die der wirtschaftlichen und rundfunkpolitischen Realität Frankreichs Ende 1948 nicht entsprachen. Zwei Faktoren müssen herausgestellt werden, will man die Niederlage der von Mitterrand als »guerre du lignage« und »bataille diplomatique« bezeichneten Auseinandersetzung verstehen92. Dies sind zum einen die ab 1948 intensivierten Bemühungen um einen europäischen s/w-Standard im Rahmen der CCIR, zum anderen die mangelnde finanzielle Unterstützung des technischen Ausbaus des staatlichen Fernsehrundfunks seitens der französischen Regierung. Auf den ersten Aspekt soll im folgenden näher eingegangen werden, da er den internationalen Kontext, in den die Netzwerktechnologie Fernsehen eingebunden ist, besonders deutlich macht. 2.3.3. Der institutionelle Verhandlungsrahmen: ITU/CCIR/EBU Die Normierung der Zeilenzahl ist in der Logik der »large technological systems« per Definition eine Angelegenheit, die internationalen Charakter hat93. Lediglich eine grenzüberschreitende Regelung konnte eine standardisierte oder »kompatible« Lösung bieten. Diese Lösungen herbeizuführen war die Aufgabe des Comit6 consultatif international de radiotölecommunicati ons (CCIR). Diese Institution, vom ehemaligen Technischen Direktor des NDR, Hans Rindfleisch, als »wissenschaftlich-technisches Gewissen des Weltnachrichtenvereins«94 bezeichnet, hatte die Aufgabe, die in den verschiedenen nationalen Fernmeldediensten auftretenden technisch-wissenschaftlichen, betrieblichen oder Gebühren betreffenden Fragen - sofern sie eine internationale Regelung erforderten - in Form von Empfehlungen (Recommendations) oder Situationsberichten (Reports) zu klären95. 92 BOURDON, Haute Fid61it6, S. 33 f. Siehe Thomas P. HUGHES, Large technological systems; sowie Renate MAYNTZ, Thomas P. Μ., New York 1988. HUGHES, The Development of Large Technological Systems, Frankfurt a.zwutsronmlkihgfedcaZYUT 94 HansRIC RINDFLEISCH, Ton­ und Femsehrundfunk auf der CCIR­Konferenz in Los Angeles, in: Rundfunktechnische Mitteilungen 3 (1959) S. 242. 95 Zur Geschichte und Funktion der ITU, CCIR und ihrer europäischen Schwesterorganisation, der European Broadcasting Union (EBU), siehe Rüdiger ZELLER, Die EBU. Union Europienne de Radio-Tilivision. European Broadcasting Union. Internationale Rundfunkkooperation im Wandel, Baden-Baden 1999; Zum hundertjährigen Jubiläum der ITU ist der Sammelband International Telecommunication Union (Hg.), From Semaphore to Satellite, Genf 1965 erschienen. Auch die beiden älteren Arbeiten von Codding und Namurois erlauben einen detaillierten Einblick in Funktionsweise und Probleme dieser Institution. Siehe George Arthur CODDING, The International Telecommunication Union. An Experiment in International Cooperation, Leiden 93 2.3. Das Problem der Zeilennorm 83 Obwohl sich die CCIR seit ihrer Gr٧ndung als Unterorganisation der Inter­ national Telecommunications Union (ITU, gegr٧ndet 1865) im Jahre 1927 sehr erfolgreich um die Normierung des internationalen Funkverkehrs be­ m٧ht, besitzt sie keine gesetzgeberische Gewalt zur Durchsetzung ihrer Emp­ fehlungen. Genau wie bei der UNO, deren offizieller Arm die ITU im Be­ reich Telekommunikation seit 1947 ist, sind die einzelnen Mitgliedsstaaten nicht weisungsgebunden. Eine supranationale Struktur ist somit nicht vorhan­ den. Eine Tatsache, die vor allem von den technischen Experten immer wie­ der bemδngelt wurde, da »Firmeninteressen und nationales Prestigedenken mit hereinspielen«96. Vor allem dann, wenn es um Entscheidungen mit »net­ work­markets« im Hintergrund geht97. »H61as«, so bedauerte Marc Chauvier­ re, »dans ces sortes de discussions, le bon sens est souvent absent; ce sont des questions d'amour­propre ou de nationalisme exacerte qui dominent les debats o٧, malheureusement, la technique et l'int6ret g6n£ral passent au se­ cond rang«98. Um die Probleme der Frequenzverwaltung im Bereich des Rundfunks im europδischen Raum besser regeln zu kφnnen, wurde bereits 1925 die Union Internationale de Radiodiffusion (UIR) in Genf gegr٧ndet. Im Gegensatz zur ITU und ihres Organs f٧r den Funkdienst, der CCIR, geht es bei der UIR nicht um die Zuweisung von Frequenzbereichen und Frequenzbδndern f٧r die verschiedenen Funkdienste (Seefunk, Landfunk, Flugfunk, Ton­und Fern­ sehrundfunk etc.), sondern um die internationale Ordnung der Frequenzzutei­ lung an die Rundfunksender. Dagegen besteht die primδre Aufgabe der CCIR darin, auf so genannten »Wellenkonferenzen« allgemeinverbindliche Frequenzplδne f٧r den Rundfunk aufzustellen99. Die Frequenzzuweisung an einzelne Sender innerhalb des Frequenzbandes bleibt aber den zustδndigen Behφrden der einzelnen Lδnder selbst ٧berlassen. 1952; Albert NAMUROIS, Problems of Structure and Organization of Broadcasting in the Frame­ work of Radiocommunications, Genf 1964. 96 RINDFLEISCH, Technik im Rundfunk, S. 23. 97 Siehe Stanley BESEN, Joseph FARKELL, Choosing How to Compete: Strategies and Tactics in Standardization, in: Economic Perspectives 8 (1994) S. 117­131. 98 99 CHAUVIERRE, L a t616vision, S. 3 7 . Daß die Wellenkonferenzen trotz ihrer guten Absichten in politische Gefechte und Machtdemonstrationen münden konnten, zeigt sich deutlich am Beispiel der Kopenhagener Wellenkonferenz des Jahres 1948, die bereits voll im Schatten des Kalten Krieges stand. Siehe FICKERS, »Der Transistor«, S. 4-16. Eine wirtschaftshistorische Analyse der Frequenzverteilungsproblematik mittels theoretischer Annahmen der Neuen Institutionenökonomik bietet die Dissertation von Christian HENRICH-FRANKE, Globale Regulierungsproblematiken in historischer Perspektive. Der Fall des Funkfrequenzspektrums 1945-1988, Baden-Baden 2006. Eine allgemeine Einführung zur Rolle internationaler Organisationen in regulativen und koordinativen Standardisierungsprozessen im 19. Jahrhundert siehe Gerold AMBROSIUS, Regulativer Wettbewerb und koordinative Standardisierung zwischen Staaten. Theoretische Annahmen und historische Beispiele, Stuttgart 2005. 84 2. Le terrain technique Angesichts der politischen Bedeutung des Rundfunks ٧berrascht es nicht, daß die Entwicklung der UIR trotz der völkerverständigenden Intention bei ihrer Gründung von nationalen Eitelkeiten und zwischenstaatlichen Interessenkonflikten geprägt war. Wie Zeller feststellt, entstand die UIR »ganz im Zeichen und mit den Idealen des Völkerbundes« und hatte mit den gleichen Autoritätsproblemen wie dieser zu kämpfen 100 . Trotz der noblen Absichten des »Völkerbundes der Broadcaster«, trotz der Existenz bilateraler »Rundfunknichtangriffspakte« oder internationaler »Rundfunkfriedenspakte« tobte in Europa ab 1938 ein »Rundfunk- oder Δtherkrieg«, dem die UIR angesichts ihrer Neutralitätsverpflichtung nichts entgegenzusetzen hatte 101 . Es verwundert daher kaum, daß die Geschichte der UIR auch nach 1945 eng an die politische Großwetterlage gekoppelt blieb. Da das technische Meßzentrum der UIR, welches 1926 als »Δtherpolizei« mit Sitz in Brüssel gegründet worden war, während des Krieges Ziel deutscher Begehrlichkeiten gewesen und u.a. als Abhörstation mißbraucht worden war, traten ab 1941 zahlreiche prominente Mitgliedsstaaten aus der UIR aus 102 . Da die UIR 1945 so faktisch auf einen Torso von »deutschfreundlichen« Staaten reduziert worden war, war sie in den Augen vieler ehemaliger Mitgliedsstaaten diskreditiert. Obschon das Technische Zentrum seine Arbeit unter der Leitung des belgischen Institut National de Radiodiffusion (INR) und der BBC wiederaufnahm, begann man in Genf mit dem Aufbau eines neuen technischen Zentrums. Folge dieser Entwicklung war ein offener Wettbewerb um die Stellung der UIR im internationalen, vor allem aber europäischen Rundfunk. Als die treibende Kraft in der Beseitigung der UIR zugunsten einer Konkurrenzorganisation erwies sich die Sowjetunion103. Im März 1946 forderte sie überraschend die Gründung einer neuen internationalen Rundfunkorganisation, in der alle Satellitenstaaten der UdSSR mit Stimmrecht vertreten sein sollten. Zwar verhinderte die mächtige BBC im Verbund mit den skandinavischen Sendern, daß die zur statuarischen Auflösung der UIR notwendige dreiviertel-Mehrheit zustande kam, doch hinderte dies die Sowjetunion nicht daran, am 28. Juni 1946 zur Gründungsversammlung der Organisation Internationale de Radiodiffusion (OIR) einzuladen104. De facto war somit auch die Rund100 Vgl. ZELLER, D i e E B U , S. 22 f. 101 Ibid. S. 30 f. 102 Siehe Charles SHERMAN, Turmoil and Transition in International Broadcasting Organisations 1938-1950, in: Journal of Broadcasting (1971) S. 265-273. Speziell mit Blick auf die deutschfranzösischen Beziehungen siehe Ansbert BAUMANN, Zwischen Propaganda und Information: Die Entwicklung der deutsch-französischen Zusammenarbeit in Hörfunk und Fernsehen, in: Rev u e d ' A l l e m a g n e 37 (2005) 1 S. 7 - 2 8 . 103 L6o WALLENBORN, From IBU to EBU, in: EBU Review, Part I & II, Januar und März 1978, S. 2 5 - 3 4 u n d S. 2 2 - 3 0 . 104 Später umbenannt in Organisation Internationale de Radiodiffusion et de T61£vision (OIRT) mit Sitz in Prag (ab 1949). 2.3. Das Problem der Zeilennonn 85 funklandschaft zweigeteilt: die OIR hatte ihren offiziellen Sitz in Br٧ssel, die UIR in Genf. Beide beanspruchten bis auf weiteres die technischen Anlagen des Technischen Zentrums in Br٧ssel f٧r sich. Der Streit eskalierte, als die ITU 1947 in Atlantic City zu einer Weltfunk­ konferenz einlud, deren Ziel die Beseitigung des Wellenchaos war, das der Zweite Weltkrieg hinterlassen hatte. Beide Organisationen, die OIR und die UIR, beanspruchten f٧r sich, als »technische Experten« an dieser Tagung teilnehmen zu kφnnen. Beiden wurde schließlich dieser Status verwehrt - sie konnten lediglich als »Beobachter« ohne Stimmrecht teilnehmen. Das gleiche Spiel wiederholte sich auch auf der europäischen Folgekonferenz in Kopenhagen 1948. Da dieser Zustand für beide Parteien unbefriedigend und auf lange Sicht schädlich war, sämtliche Einigungsbemühungen aber gescheitert waren, kam es im Mai 1950 auf Anregung der BBC in Genf zur offiziellen Auflösung der UIR und gleichzeitigen ٢bertragung ihrer (Rest-)Kompetenzen auf die neugegründete European Broadcasting Union (EBU)105. »Die Gründung der EBU«, so Rüdiger Zeller, »war das Ergebnis der Spaltung Europas in einen westlichen und östlichen Block«106. Die Parallelität von Rundfunk- und Politikgeschichte verwundert kaum. Im Gegenteil, sie kann mit Konrad Dussel sogar als Charakteristikum der Rundfunkgeschichte gedeutet werden. Der Mythos eines »wertneutralen Raumes«, in dem sich die »technischen Experten« laut eigener Einschätzung im Rahmen ihrer Aktivitäten der CCIR oder EBU zu bewegen glaubten107, muß schon aus institutionengeschichtlicher Sicht entzaubert werden. Inwieweit das Selbstverständnis der technischen Akteure innerhalb dieses Handlungsraumes von diesem Mythos geprägt war, wird am Beispiel der Farbfernsehkontroverse genauer zu untersuchen sein. 2.3.4. »Television sans passeport«108: 625 Zeilen für den Rest Europas In diese für die internationale Rundfunkordnung turbulente Zeit fallen auch die ersten Bemühungen um eine einheitliche europäische Norm im Bereich des Schwarzweißfernsehens. Den Auftakt dieser ٢berlegungen bildete die CCIR-Konferenz in Genf 1948, wo die 625-Zeilennorm erstmals von mehreren Ländern als möglicher europäischer s/w-Standard vorgeschlagen wur105 Wolfgang DEGENHARDT, Elisabeth STRAUTZ, Auf der Suche nach dem europäischen Programm. Die Eurovision 1954-1970, Baden-Baden 1999, S. 18-26. 106 107 ZELLER, D i e E B U , S. 3 6 . Diese Selbsteinschätzung geht aus den Interviews hervor, die der Autor mit Ingenieuren und Wissenschaftlern Louis Goussot, Yves Angel, Girard Melchior, Heinwig Lang und Michael Hausdörffer geführt hat. 108 H. MARCEL,tsrponiedaA Τέΐένίβίοη sans passeport! Adaption des tdlövisieurs aux diffirents standards, in: T^ldvision 137 (1963) S. 227-230. 86 2. Le terrain technique de 109 . Erste Studien zu dieser Zeilennorm waren bereits 1946 von sowjeti­ schen Ingenieuren vorgestellt worden, die auf die g٧nstige Umwandlungs­ fδhigkeit der amerikanischen 525 Zeilennorm bei 30 Bildwechseln pro Se­ kunde auf 625 Zeilen bei 25 Bildwechseln pro Sekunde hingewiesen hat­ ten 110 . Ihren stδrksten Verb٧ndeten sollte die Sowjetunion mit diesem Vorschlag in der niederlδndischen Firma Philips finden, deren Motivation f٧r die Propagierung des 625­Zeilensystems aus der Kompatibilitδt dieses Sy­ stems mit dem amerikanischen 525­Zeilensystem herr٧hrt. Als einzige euro­ pδische Firma im Bereich der Unterhaltungselektronik, f٧r die der amerikani­ sche Markt schon zu dieser Zeit von großer Bedeutung war, übte Philips auf die europäischen Rundfunkländer einen nicht zu unterschätzenden Druck aus. Dies bekamen auch die Franzosen zu spüren, wie Wladimir Porch6 zu berichten weiß. So warben die mächtigen Niederländer nicht nur über technische Zeitschriften für das 625-Zeilensystem, sie scheuten sich sogar nicht davor, französische Parlamentarier zu >kaufen< und ihre Königin Juliana während eines Besuches beim französischen Präsidenten Vincent Auriol zum Botschafter der Interessen von Philips zu machen 111 . Selbstverständlich wurden diese politischen Initiativen von handfestem Druck auf die französische Rundfunkindustrie begleitet. Der Macht des Eindhovener Unternehmens war man sich in Paris durchaus bewußt. Genau an jenem 20. November 1948, an dem Mitterrand die französische 819-Zeilennorm per Dekret verkündete, folgte Wladimir Porch£ in Begleitung seiner technischen Direktoren General Leschi und Stephane Mallein einer Einladung von Philips nach Eindhoven. Hatten die Niederländer noch die Hoffnung, die Franzosen für das 625-Zeilensystem gewinnen zu können, war es gerade Porch6 gewesen, der Mitterrand am Vortag seines Besuches in Eindhoven darum gebeten hatte, das 819-Zeilen-Dekret möglichst als »Reisegepäck« mit nach Eindhoven nehmen zu können, um den Niederländern stolz die französische Entschlossenheit demonstrieren zu können. II [F. Mitterrand, A.d.V.] avait comprit que je difendais ce que je nommais le »Standard fran;ais<, non seulement en artiste, parce que l'image obtenue par Henri de France itait plus fine, plus dense que ses concurrents 6trang£res, mais aussi - peut-etre surtout, en 6conomiste patriote: parce que le choix d'un standard qui constituterait, pendant un certain temps, un >verrou technique< plus efficace qu'un tarif douanier, permettrait ä une Industrie Δlectronique franijaise de se 109 110 CHAUVIERRE, L a television, S. 3 6 f. Siehe BRUCH, Die Fernseh-Story, S. 131. In einem Interview mit Karl Tetzner am 9.2.1973 behauptet Walter Bruch, er habe die später von den Russen vertretene 625-Zeilennorm 1946 zusammen mit einem Herrn Nowakowski im Oberspreewerk in Berlin entwickelt! Siehe Interview Bruch/Tetzner, in: Privatarchiv Prof. Karl Tetzner, Icking bei München, S. 16. 111 In seinen Erinnerungen beschreibt Wladimir Porch£ ausführlich seinen Besuch bei Philips in Eindhoven am 20. November 1948, jenem Tag, an dem Mitterrand die französische 819-Zeilennorm per Dekret festlegte. Siehe PORCHIJ, Fiat Lux, S. 53-60. 2.3. Das Problem der Zeilennorm 87 dφvelopper sans licences 6trang6res, sans tributs, sans l'entrave d'une subordination quelcon­ que 112 Dieses Bekenntnis eines »patriotischen Φkonomen« verliert ein wenig an Glanz, wenn man den Ausgang der Geschichte kennt und weiß, daß alleine Philips beim Start des französischen 819-Zeilenfernsehens im Jahre 1950 in der Lage war, entsprechende Empfänger in Serie zu produzieren113! Trotz der französischen Entscheidungen gingen in einigen Ländern die Bemühungen weiter, zu einer einheitlichen europäischen s/w-Zeilennorm zu gelangen. Die Einführung des 625-Zeilensystems in der Sowjetunion und die wirtschaftlichen Interessen von Philips waren zwei wichtige Argumente für die Propagierung dieser Zeilendefinition. Im Laufe des Jahres 1950 entstand eine breitere Allianz zugunsten dieser Zeilennorm. Auf der CCIR-Konferenz in Stockholm 1948 war eine Studienkommission gebildet worden, die den Auftrag hatte, nach Alternativen für einen europäischen Standard im Schwarzweißfernsehen Ausschau zu halten. Es wurde vereinbart, zu diesem Zweck Studienreisen in die USA, nach Großbritannien, Frankreich und die Niederlande zu unternehmen. Im Juli 1949 traf sich die Studienkommission nach Abschluß der entsprechenden Reisen zu einem ersten Treffen in Zürich, wo man die Studienreisen auswertete und ein ausgiebiges Untersuchungsprogramm definierte, um wissenschaftlich-technische Kriterien für den objektiven Vergleich der unterschiedlichen Systemvarianten zu erarbeiten. Doch schon das Züricher Treffen machte klar, welche Schwierigkeiten diese Aufgabe mit sich bringen würde. In einem zusammenfassenden Bericht machte Stephane Mallein, technischer Direktor der RTF, klar: Cette reunion avait mis en lumifere les difficultds auxquelles allaient se heurter les tentatives de normalisation, essentiellement en ce qui conceme le nombre de lignes. Ces difficultes provenaient de l'ampleur des intirets iconomiques en jeu, chacque pays espdrant, en faisant adopter ses normes, conqudrir ainsi un large march£ pour ses exportations nationales 114 . Wichtiger als das Zusammentreffen in Zürich war die Tagung der Studienkommission in London vom 8. bis 12. Mai 1950. Hatten sich die Briten in Zürich noch mit den Franzosen zusammengeschlossen, da sie mit ihrem 405-Zeilensystem in einer ähnlich isolierten Position waren, bildete sich in London eine breite Front von 625-Zeilen-Befürwortern. Der Schweizer Postingenieur Dr. Walter Gerber übernahm die Leitung einer Untergruppe der Studienkommission, die sich mit der Festlegung aller mit der 625-Zeilen112 Ibid. S. 54. ANGEL, Brüve histoire de la tdldvision franifaise, S. 5. 114 Stephane MALLEIN, Rapport sur les travaux de la l l 4 m e Commission d'dtudes ä la VI4™ assemblevutsronmlkihfedcbaSRPOMIGCA ρΙέηίέΓβ du CCIR (Genfcve 1951), Paris, 24. Oktober 1951, S. 5, in: Archives nationales, 870714/Art. 14, Akten des Ministeriums für Kultur und Kommunikation. Bei diesem fünfzehnseitigen Bericht handelt es sich im Prinzip um einen Rückblick auf die Aktivitäten der Studienkommission 11 von Stockholm 1948 bis Genf 1951. 113 88 2. Le terrain technique norm verbundenen Sekundδrnormen (Ton­/Bildfrequenzabstand, Kanalbreite etc.) beschδftigen sollte. »En r6sum6«, so Mallein in seinem Bericht, »la re­ union de Londres s'achevait sur une indiscutable victoire du 625 lignes au­ quel se ralliaient tous les pays pr6sents de l'Europe continentale δ l'exeption de la France«115. Auf Initiative der belgischen Delegation wurde in London ein Appell an die franzφsische und britische Regierung verabschiedet, der diese zur άber­ nahme der 625­Zeilennorm aufforderte. Die Antwort der franzφsischen Re­ gierung lohnt einer nδheren Betrachtung. Auf 8 Seiten faßte der Kabinettschef des Informationsministers, Jean d'Avout, die französische Position zusammen. Als Gründe der Entscheidung für das 819-Zeilensystem wurden interessanterweise lediglich technisch-qualitative Kriterien aufgezählt - von der Protektion der heimischen Industrie ist keine Rede mehr. In meisterlichem Diplomatenfranzösisch kehrte d'Avout den Spieß gewissermaßen um: Cependant,utsrqnifedaI Γ Industrie fran;aise, qui aurait ä sa charge l'important volume de fabrication que reprdsente d6jä le march6 fran;ais, encore vierge, n'a certainement nul dösir d'imposer ä ses voisins 1'absorption de sa propre production, mais il va sans dire que dans un esprit de collaboration europdenne, eile rdpondrait aux demandes qui lui seraient adressies" 6 . Aufgrund der technischen ٢berlegenheit des Systems (Bildqualität) und der großen Investitionen, die der französische Staat bereits getätigt habe, so d'Avout, könne Frankreich daher leider nicht positiv auf den Appell der Studienkommission reagieren. In Wirklichkeit waren in Frankreich zu diesem Zeitpunkt weder von der Privatindustrie noch vom staatlichen Fernsehen hohe finanzielle Investitionen für das 819-Zeilensystem getätigt worden. Weder auf Sender- noch auf Empfängerseite waren 1950 systemtechnisch gesehen Tatsachen geschaffen worden, die ein Umschwenken auf die »europäische« 625-Zeilennorm wesentlich behindert hätten. Scharfe Kritik an dieser Position wurde von Marc Chauvierre geäußert, der seinen Unmut in einem Brief an den französischen Abgeordneten Max Brasset kundtut, welcher zu dieser Zeit »President de la Commission de Presse« des französischen Parlaments war. Chauvierre schrieb: La gestion de la tilivision fran;aise depuis 1945 s'est done traduit par un ichec total, d'une graviti sans pr6c6dent pour l'industrie fran?aise. La cause de cet ichec est trfcs nette: la politique de la tilivision franijaise a 6t6 ax6e sur la perfection technique de la trfes haute difinition, sans tenir compte des problfemes d'exploitation et des probtemes internationaux suscitds par l'emploi de la tr£s haute ddfinition; [...] Je proposerai, comme base de mon activit£ [...]: 1° Obtenir de toute urgence un accord international europden sur le probteme des standards, quitte ä faire des 115 Ibid. S. 6. Jean D'AVOUT: Riponse du gouvernement franfais ä l'appel des sept diligations au CCIR de Londres, Paris, le 10 juillet 1950, 8 Seiten, hier S. 6, in: Archives nationales, 870714/Ait. 14. 116 2.3. Das Problem der Zeilennorm 89 B Ud 1 VexD rcliunf der F c rnK b - N o rmc n Abb. 3: Verbreitung der Femsehnormen in Europa, aus: bau des Fernsehrundfunks im In- und Ausland, S. 220. RINDFLEISCH, Der gegenwärtige Aus- concessions importantes pour notre amour­propre, mais indispensable dans le domaine industriel, tant du point de vue fran^ais que du point de vue europien" 7 . Doch ein unerwartetes Ereignis sollte der franzφsischen Position f٧r kurze Zeit R٧ckenwind verschaffen, und zwar die Entscheidung der Federal Com­ munications Commission der USA im Oktober 1950, das von der Columbia Broadcasting Systems (CBS) entwickelte elektro­mechanische Farbfernseh­ system als US­amerikanischen Standard einzuf٧hren. Im Gegensatz zu dem von den CBS­Konkurrenten entwickelten Farbfernsehsystemen der Firmen RCA und Color Television Incorporated (CTI) war das CBS­System nicht kompatibel mit dem bereits vorhandenen 525­Zeilensystem des Schwarz­ weißfernsehens. Diese für Femsehfachleute aus aller Welt überraschende Entscheidung wurde von den französischen 819-Zeilen-Protagonisten nicht nur deshalb bejubelt, weil sie das wichtigste Argument der 625-Zeilen-Verfechter aus den Angeln hob, nämlich die Kompatibilität des amerikanischen 525-Zeilen/60Hz-Systems mit dem europäischen 625-Zeilen/50Hz-System. Zudem hatten Untersuchungen der RTF-Ingenieure gezeigt, daß das elektromechanische Farbfernsehsystem der CBS im Prinzip kompatibel mit dem französischen 819-Zeilensystem war. Bereits am 25. Oktober 1950 wurde in der obersten Etage der Radiodiffusion Franfaise ein Strategiepapier entwickelt, um auf diese »unerhoffte Wen117 Lettre de M. Chauvierre ä M. Max Brusset, D£puti de la Charente, Paris, 15 Novembre 1951, 2 maschinegeschriebene Seiten, in: Archives du CHTV/INA, Nachlaß M. Chauvierre/ 819-lignes. 90 2. Le terrain technique de« entsprechend reagieren zu kφnnen. In diesem Strategiepapier hieß es: »La döcision de la FCC sur la couleur bouleverse la situation internationale en t£levision en modifiant radicalement les positions en Europe. Ce bouleversement inattendu par nous et qui fut une des raisons du choix du 819 doit etre exploit^ sans retard par la France qui a une occasion exceptionelle de reprendre la direction du jeu« 118 . Nachdem die möglichen taktischen Verhaltensweisen dargelegt worden waren, endete dieses Strategiepapier mit einem 6-Punkte-Programm, in dem das »deroulement chronologique et psychologique de Taction« festgelegt wurde: Oberstes Ziel war es zu verhindern, daß im Rahmen der CCIR eine Entscheidung pro 625-Zeilen getroffen wurde. Parallel dazu sollten Gespräche mit der Federal Communications Commission und der CBS aufgenommen werden, um beide von den Möglichkeiten der Zusammenarbeit und den Perspektiven für das 819-Zeilensystem zu überzeugen. Bereits im Dezember 1950 trat Stephane Mallein die angekündigte Reise in die USA an. Sein Reisebericht erlaubt einen interessanten Einblick in die turbulenten amerikanischen Diskussionen, die dort im Anschluß an die Entscheidung der FCC ausbrachen. Mallein betonte die starke politische Dimension, die der Entscheidung der FCC kurz vor den Präsidentschaftswahlen zukam. Die Politik der Wiederbewaffnung im Zuge des Korea-Krieges rückte die Bedeutung der Farbfernsehfrage jedoch weit in den Hintergrund119. Auch wenn Mallein abschließend die Chancen einer produktiven Zusammenarbeit mit den Amerikanern im Bereich des 819-Zeilensystems als ziemlich gering bewertete, sah er in der nachlassenden Unterstützung für das 625-Zeilensystem eine große Chance für das französische System - dies auch in bezug auf das noch in weiter Ferne liegende Farbfernsehen in Europa: »II apparait cependant que la recente decision de la FCC vient appuyer d'une facon aussi eclatante qu'inattendue la thfcse que nous n'avons cesse de defendre, ä savoir que l'intögration future de la couleur ne pourrait s'op&er facilement que si 118 Stfphane MALLEIN, Jean D'ARCY, Etude des premiferes consciences que la France doit tirer de la decision am£ricaine sur la tildvision en couleurs, (trfes confidentiel), Paris, 25 octobre 19S0, 4 maschinegeschriebene Seiten, hier S. 1, in: Archives nationales, 870714/Art. 14. 119 »Un demier aspect, tout ä fait inattendu celui-lä, est 1'aspect politique. La dicision de la FCC avutsrqponmligfedcbaRPGED έίέ prise en effet peut avant les ilections, et du coup les opposants se sont tournis vers le Parti Ripublicain qui n'a pas manqui d'accuser le Gouvernement Dimocrate d'organiser une νέ­ ritable >dictature 6tatique< en matifere de t£16vision. En contre partie, bien entendu, les dömocrates se sont vus dans l'obligation de soutenir la d&ision de la FCC ce qui complique encore une situation d6jä passablement embrouillie. [...] A vrai dire, avec la nouvelle politique de riarmement qui entraine dijk la rardfaction des piöces ditachdes et peut-etre bientöt l'interdiction de vente des röcepteurs de t616vision, la querelle de la couleur prend une allure plutöt byzantine et passe ä l'arrifere-plan. On en reparlera lorsque l'atmosphfere internationale sera &laircie, c'estä-dire dans un d£lai totalement inditermind.« Stiphane MALLEIN, Rapport sur la mission effectu^e ä New York et Washington du 14 au 23 dicembre 1950, Paris, 31 janvier 1951, 10 maschinegeschriebene Seiten, hier S. 4f, in: Archives nationales, 870714/Art. 14. 2.3. Das Problem der Zeilennorm 91 l'on part initialement d'un systfeme blanc et noir δ frequence de ligne elevφe et δ large bδnde« 120 . Als sich die Studienkommission XI (Fernsehen) des CCIR und die von Dr. Gerber geleitete Unterstudiengruppe im Mai 1951 in Genf wiedertrafen, hat­ ten sich die wirtschaftspolitischen und rundfunkpolitischen Kontexte im Ver­ gleich zur vorangegangenen Tagung in London deutlich gewandelt. Im s/w­Normenstreit war ein technischer Gesichtspunkt aufgetaucht, der bislang im europδischen Diskurs nur ganz am Rande thematisiert worden war: die zuk٧nftigen Normen und Standards des Farbfernsehens. Obwohl das franzφ­ sische Kalk٧l aufging, in Genf eine einheitliche Empfehlung seitens der CCIR zu vereiteln, konnte Frankreich außer Belgien und Luxemburg keine weiteren Anhänger für sein 819-Zeilensystem gewinnen. Auf der Vollversammlung der CCIR in Stockholm 1952, die im wesentlichen der Korrektur des 1948 in Kopenhagen festgelegten Wellenplans gewidmet war, wurde schließlich von den meisten europäischen Ländern die als »Gerber-Norm« bezeichnete 625-Zeilennorm als s/w-Standard übernommen. De facto herrschten in Europa 1952 also drei verschiedene Zeilennormen: In Großbritannien blieb man vorerst bei 405 Zeilen, in Frankreich, Luxemburg, dem französischsprachigen Teil Belgiens und dem Vatikanstaat setzte sich das 819-Zeilensystem durch. In allen anderen europäischen Ländern (inklusive Sowjetunion) verständigte man sich auf das 625-Zeilensystem. Allerdings konnten auch bei gleicher Zeilenzahl noch Unterschiede bestehen. So hatten beispielsweise die sogenannten Ostblockländer einen von den westeuropäischen 625-Zeilenländern unterschiedlichen Ton-/Bildfrequenzabstand, so daß man zwar diesseits und jenseits des »Eisernen Vorhangs« s/w-Bilder empfangen konnte, aber entweder den Ton hören und kein Bild sehen konnte oder Bilder ohne Ton sah. Durch entsprechende Zusatzgeräte (Transcoder) ließ sich dieses Handicap aber lösen, vorausgesetzt man konnte sich die entsprechenden Teile besorgen und leisten. Besonders absurd war die Situation in Belgien, wo sowohl der 819- als auch der 625-Zeilenstandard eingeführt wurde. Für die Studio- und Sendertechnik bedeutete dies einen enormen Mehraufwand, da alle Programme in zwei Normen aufgezeichnet und ausgestrahlt werden mußten. Für jene Belgier, die flämisches und französischsprachiges Fernsehen empfangen wollten, bedeutete dies, daß sie entsprechend teurere Mehrnormenempfänger kaufen mußten. Da Frankreich zudem einen von Belgien unterschiedlichen Ton-/ Bildfrequenzabstand wählte, existierten in Belgien beim Schwarzweißfernsehen 4 verschiedene Standards: 2x 819 (französisch und wallonisch) und 2x 625 (niederländisch und flämisch). »Les töleviseurs beiges acquirent ä juste titre la reputation d'etre les plus compliqu6s«, so der Rundfunkingenieur H. 120 Ibid. S. 2. 92 2. Le terrain technique d'Haese in einem άberblick ٧ber die belgische Rundfunkindustrie im Jahre 1963121. Bedeutete das Scheitern der Bem٧hungen eines einheitlichen s/w­Stan­ dards in Europa besonders f٧r kleine, mehrsprachige Lδnder wie Belgien, Luxemburg oder die Schweiz einen enormen technischen und damit finan­ ziellen Mehraufwand122, stellte diese Normenvielfalt auch f٧r den internatio­ nalen Programmaustausch ein großes Problem dar. 2.3.5. Eurovision - »ein Stück auf dem Weg zu einem gemeinsamen Europa«123? Die Idee des internationalen Programmaustauschs beflügelte schon früh die Phantasie vieler Bildungspolitiker und Intellektueller124. So verwundert es kaum, daß diese ٢berlegungen nach der geistig-moralischen Krise Europas nach dem Zweiten Weltkrieg erneut aufflackerten - auf die Verwandtschaft von Völkerbund und UIR wurde ja bereits hingewiesen. Im Rahmen der Nachfolgeinstitution des Völkerbundes, der United Nations Organisation (UNO), begannen bereits 1947 die Diskussionen über die Möglichkeiten eines internationalen Programmaustausches als Mittel der kulturellen Völkerverständigung. Motor dieser Bemühungen war der Schweizer MarcelwutsrnmligedaV Βεζεης οη, der den Verwaltungsratsmitgliedern der neugegründeten EBU bereits auf ihrer zweiten Sitzung im Mai 1950 einen Plan zum Fernsehprogrammaustausch vorlegte125. Allerdings zeigten sich die Verantwortlichen der EBU recht zurückhaltend, verstanden sie sich doch als »technische Experten«, die kaum Bezug zur inhaltlichen Gestaltung des Fernsehrundfunks hatten. Nicht wenige hatten die Vermutung, daß auch die Programmleute von den angenehmen Nebeneffekten der internationalen Rundfunkorganisation profitieren wollten - das heißt von der Möglichkeit des vielen Reisens. »I suspected«, so der britische EBU-Vertreter Sir Ian Jacob, » - with some justification - that some of the H. D'HAESE, Un r6cepteur TV pentastandard Δ automatisme integral, in:utsrponmlihgfedcaVS Τέΐένϊβϊοη 135 (1963) S. 179­182, hier S. 179. 122 Vergessen sollte man hier auch nicht die oft mehrsprachigen europäischen Grenzregionen. Auch Frankreich bekam diese »Isolation« sehr bald zu spüren: »Les effets de notre isolement se sont vite fait sentir; tits rapidement, il a fallu cr6er des r6cepteurs capables de recevoir les deux standards pour les rigions frontaleres, proches de l'Allemagne et de la Belgique; de tels rdcepteurs itaient forcdment coüteux, compliqu6s et fragiles«. CHAUVIERRE, La t616vision, S. 38. 123 Zitat aus Hans RINDFLEISCH, Die UER in ihrer Bedeutung für die europäische Fernsehtechnik, in: Rundfunktechnische Mitteilungen 8 (1964) 6 S. 31S. 124 Zur EBU und den Eurovisionsaktivitäten siehe als Standardwerk die Dissertation von DEGENHARDT, Siegen 2002. 125 Siehe DEGENHARDT, STRAUTZ, Auf der Suche nach dem europäischen Programm, S. 2 9 . 121 2.3. Das Problem der Zeilennorm 93 Abb. 4: Die erste transnationale Live-FemsehUbertragung zwischen Frankreich und Großbritannien war technisch nur durch eine Transcodierung des französischen 819-Zeilenbildes in ein britisches 405-Zeilenbild möglich. Da 1950 noch keine elektronischen Transcoder zur Verfügung standen, geschah dies aufrecht primitive Weise dadurch, das an der Schnittstelle der Verbindung des französischen mit dem britischen Übertragungsweges in Cassel (F) eine 405-Zeilen Fernsehkamera der BBC vor einen französischen 819-Zeilen-Empfänger piaziert wurde. Aus: BBC Audiovisual Archives, Brentford. delegates, they wanted another annual jolly« 126 . Auch der technische Direk­ tor des NDR, Hans Rindfleisch, fragte in einem Zeitschriftenartikel ironisch: »Ist sie [die EBU, A.d.V.] etwa eine Einrichtung, um einigen reiselustigen Rundfunkleuten ein paarmal im Jahr eine Art von Zusatzurlaub an einem schφnen Fleck irgendwo in Europa zu ermφglichen?«127 Wie so hδufig in der Geschichte des Rundfunks schaffte auch hier die technische Weiterentwicklung neue Tatsachen f٧r die Programmplaner. Wδh­ rend man im Verwaltungsrat der EBU die juristischen Probleme des Pro­ grammaustauschs diskutierte, fand am 27. August 19S0 das sogenannte »Ca­ lais­Experiment« statt, bei dem es britischen und franzφsischen Fernsehfach­ leuten gelang, die erste stehende Femsehverbindung ٧ber Funk zwischen beiden Lδndern zu realisieren. Obwohl diese erste transnationale Fernsehver­ bindung in Europa als medienhistorische »entente cordiale« gefeiert wurde, handelte es sich nicht im eigentlichen Sinne um einen Programmaustausch, da die BBC ihr eigenes Fernsehteam mit britischer 405­Zeilentechnik nach Calais sandte. Ein Austausch auf der Basis realer Normwandlung hatte also nicht stattgefunden. Die ersten Normwandler wurden erst im Laufe des Jah­ res 1952 entwickelt. Sie waren die Voraussetzung f٧r die erste wirkliche 126 127 Ibid. S. 27. RINDFLEISCH, Die UER in ihrer Bedeutung für die europäische Femsehtechnik, S. 310. 94 2. Le terrain technique Live­άbertragung eines Ereignisses in verschiedene europδische Lδnder: der Krφnung Elisabeth II. von England am 2. Juni 1953128. Zu Recht wird von zahlreichen Autoren darauf verwiesen, daß dieses Ereignis den eigentlichen Beginn des internationalen Programmaustausches, der Eurovision und damit auch des kommerziellen Fernsehens in Europa bildete129. Obwohl die EBU keinerlei organisatorische Verantwortung im Rahmen der ٢bertragung trug, gab die erfolgreiche bilaterale Zusammenarbeit den britischen, französischen, westdeutschen, niederländischen, dänischen, belgischen und italienischen Rundfunkorganisationen den entscheidenden Anstoß zur institutionellen Verankerung des Programmaustauschs in den Statuten der EBU. Auf der Verwaltungsratssitzung der EBU in Monte Carlo im November 1953 wurde auf DrängenzsoneaB Bezan9ons die »Fernsehkommission« der EBU gegründet130. Die ٢bertragung der Krönungsfeierlichkeiten war aber mehr als der technische Beweis der Möglichkeit internationalen Programmaustausches: Dieses Ereignis verhalf dem Medium Fernsehen als solchem zum Durchbruch und löste es aus dem Schatten des Radios, das bis zu diesem Zeitpunkt die Funktion des »Leitmediums« im massenmedialen Ensemble innehatte131. War das Fernsehen bis zu diesem Zeitpunkt in ähnliche kulturelle Legitimationsprobleme eingebunden wie das Radio zu seinen Anfangszeiten, verhalf die Faszination der Live-Bilder dem Fernsehen zur gesellschaftlichen Akzeptanz132. Die Krönungszeremonie der britischen Königin am heimischen Bildschirm 128 Zur technisch-organisatorischen Vorgeschichte dieser ٢bertragung siehe DEGENHARDT, Auf der Suche nach dem europäischen Programm, S. 33-38, sowie F. WILLIAMS, M. J. L. PULLING, Engineering Arrangements for Broadcasting on Sound and Television for the Coronation of her Majesty Queen ElizabethzyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZVUTSRPNMLJIHGF Π, in: EBU­Bulletin 20 (1953) S. 391. 129 »En tout cas, on peut dire que la retransmission du couronnement de la Reine d'Angleterre a έ\έ le signal de d£part de la t616vision commerciale (et non plus expirimentale) et de l'Eurovisi­ STRAUTZ, on«. CHAUVIERRE, La television, S. 41. 130 Siehe DEGENHARDT, STRAUTZ, Auf der Suche nach dem europäischen Programm, S. 40. Zum Konzept der »massenmedialen Ensembles« siehe SCHILDT, Das Jahrhundert der Massenmedien. Zur Rolle der »Leitmedien« in der medialen Öffentlichkeit siehe WEISBROD, Medien als symbolische Form der Massengesellschaft. 132 Zu den Durchsetzungsproblemen des »Radios« und den raum-zeitlichen Herausforderungen dieses neuen Mediums fur die Menschen in den zwanziger Jahren siehe die ausgezeichnete Arbeit von LENK, Die Erscheinung des Rundfunks. Zu den Problemen der gesellschaftlichen Akzeptanz des Femsehens in Frankreich heißt es bei Henri de France: »Ceux que l'on appelle >1'έ1ί­ te< fran;aise 6tait dans sa grande majoriti contre la television, perturbatrice de la vie sociale et surtout familiale. Combien de fois ai­je entendu que l'influence de la television sur les enfants est desastreuse, qu'elle donne le mauvais exemple, qu'ils ne font plus leurs devoirs, etc... Cette attitude de rejet devant la nouveaute est typiquement fran^aise«. Henri DE FRANCE, Mimoires, in: Bulletin du Comite d'histoire de la television 14 (juin 1986) S. 11. Siehe hierzu auch STEIN­ MAURER, Tele­Visionen sowie SPIGEL, Make Room For TV und John ELLIS, Seeing Things. 131 2.3. Das Problem der Zeilennorm Abb. 5: Kartographische Darstellung des EBU-Eurovision-Netzwerkes BBC Audiovisual Archives, Brentford. 95 im Dezember 1954, aus: verfolgen zu können war jene Form »privilegierten Sehens«, die zum zentralen Bestandteil der »medialen Identität« des Fernsehens wurde133. 133 Siehe ELSNER , MάLLER, SPANGENBERG, Der lange Weg eines schnellen Mediums, sowie BERNOLD, Fernsehen ist gestern. Eine konzise Definition der medialen Identitδt des Femsehens bietet Jostein GRIPSRUD, Television, Broadcasting, Flow. Key Metaphors in TV Theory, in: Chri­ 96 2. Le terrain technique Das Fernsehen, das noch immer von vielen als technische Spielerei ohne Zukunft angesehen wurde, hatte seine Fδhigkeit bewiesen, Bilder lebendig ٧ber Lδndergrenzen hinweg zu transpor­ tieren. Der Aufwand daf٧r war enorm, das war unbestreitbar, aber der propagandistische Effekt dieser Pionierleistung f٧r das Fernsehen war mit Geld kaum aufzuwiegen 134 . Auch die mentalitätsgeschichtliche Dimension der Eurovision sollte nicht unterschätzt werden. Zwar ist es schwierig, ihre identitätsstiftende Wirkung rezeptionsgeschichtlich nachzuweisen, so deutet das Selbstverständnis vieler technischer Akteure, welche diesen Programmaustausch erst ermöglichten, eindeutig in diese Richtung. Besonders deutliche Selbstzeugnisse dieser Art verfaßte der ehemalige Technische Direktor des NDR und langjährige Vertreter Westdeutschlands in zahllosen technischen Kommission der CCIR und EBU, Hans Rindfleisch. In einem Aufsatz aus dem Jahre 1959 mit dem Titel »Der gegenwärtige Ausbau des Fernsehrundfunks im In- und Ausland« heißt es: Ein wenig ist sowohl die Verschiedenheit der Normen als auch ihre gleichzeitige weltweite Ver­ breitung ein Spiegelbild des gegenwδrtigen Allgemeinzustandes der Menschheit, der durch seine Zerrissenheit und zugleich durch die weltweite Ausdehnung politisch­wirtschaftlicher Systeme gekennzeichnet ist. Auf dem Gebiet des Fernsehens wiegen gl٧cklicherweise die Unterschiede der Normen nicht so schwer wie im politischen Bereich. F٧r den Austausch von Fernsehsendun­ gen ٧ber die Grenzen hinweg ist die Bereitschaft zum Austausch allein entscheidend. Die Ge­ schichte der Eurovision hat bewiesen, daß Unterschiede in der Norm, die in Westeuropa in denkbar bunter Fülle vorhanden sind, auf die Dauer kein ernsthaftes Hindernis für einen ProgrammAustausch darstellen 135 . An anderer Stelle führt Rindfleisch aus: Die Mitarbeit in internationalen Organisationen ist oft mühsam und langwierig. Man muß vor allem lernen, die Wünsche und Bedürfnisse anderer Nationen zu verstehen und zugleich die eigenen Wünsche und Bedürfnisse den anderen verständlich zu machen. Aber gerade dies ist der Weg zu einer wirklichen Gemeinsamkeit, und so ist die Mitarbeit in dem Kreis, von dem ich ihnen berichtete, zugleich ein Stück auf dem Weg zu einem gemeinsamen Europa 136 . Auch wenn es ein wenig pathetisch klingen mag, so kann man davon ausgehen, daß bei einigen dieser Akteure tatsächlich die Motivation zu »wahrhafter Kommunikation« im Jaspersschen Sinne einen Antrieb für ihre Arbeit darstellte137. Auf die Rolle der Ingenieure und ihres Selbstverständnisses stine GERAGHTY, David LUSTED (Hg.), The Television Studies Book, London u.a. 1998, S. 1 7 - 3 2 . 134 DEGENHARDT, STRAUTZ, Auf der Suche nach dem europäischen Programm, S. 38. RINDFLEISCH, Der gegenwärtige Ausbau des Femsehrundfunks im In- und Ausland, S. 220. 136 RINDFLEISCH, Die UER in ihrer Bedeutung für die europäische Fernsehtechnik, S. 315. 137 In einem kurzen Vortrag mit dem Titel »Vom europäischen Geist«, den Karl Jaspers im September 1946 bei den »Rencontres Internationales de Genfeve« hielt, heißt es: »Was im ganzen geschieht, wird ermöglicht durch das, was jeder einzelne tut. Der einzelne muß von sich fordern: sich auf den Standpunkt eines jeden anderen versetzen, Wahrheit in Kommunkation an den Tag bringen, sein Herz nicht verhärten, sondern offen bleiben im Hören, in der Bereitschaft zu tätiger Hilfe und zum Revidieren eigener Ansichten. Die Möglichkeiten der Kommunkation werden zur 135 2.3. Das Problem der Zeilennorm 97 wird im Kapitel »nationale Technikstile und Technikkulturen« noch ausf٧hr­ lich eingegangen. An dieser Stelle mag der Hinweis auf die interessante Ver­ bindung beruflicher Identifizierung technischer Akteure mit den gesell­ schaftspolitischen Kontexten gen٧gen. Neben dieser psychohistorischen Komponente lassen sich aber weitere Informationen aus diesen Aussagen Rindfleischs gewinnen, so beispielsweise der »nichts­ist­unmφglich«­Glaube an die nahezu unbegrenzten Mφglichkeiten der Technik. So bekundet auch Marc Chauvierre in Bezug auf das Problem der unterschiedlichen Zeilende­ finitionen im Schwarzweißfernsehen: »fividemment, il n'y a pas de problfcmes que les techniciens ne sachent risoudre. Et ceux-ci ont cr66 les convertisseurs de standard«138. So einfach ist das also. Max Brasset, Abgeordneter im französischen Parlament, präzisierte 1953 in seinem »Expos6 sommaire sur la situation de la t616vision franfaise et ses possibilites d'extension«: Les d£tracteurs du standard fran^ais ont conclu bien trop rapidement que la France, dans le jeu des Changes intemationaux des programmes se trouverait isolde du fait de son standard. II n'est possible d'avancer cette objection depuis juillet 1952. Gräce ä l'ing£niosit6 des inventeurs franfais, un convertisseur de d6finitions a έΐέutsponmia mis au point139. Warum, so fragt man sich, hat man sich dann derart über die verschiedenen Varianten und deren Qualitäten gestritten? Auch auf diese Frage weiß Marc Chauvierre eine Antwort: »Le vrai problfcme ne r6side pas dans la compatibilit6 des systömes ou de l'importance du >parc< en service. Les questions de personnalite (les techniciens ne sont pas des saints), de prestige pour les firmes et de nationalisme quand il s'agit de normes ä l'echelle mondiale, jouent h61as beaucoup plus que tous les arguments«140. Diese Stellungnahme eines Menschen, der sich selbst als begeisterter Fernsehtechniker bezeichnet, weist den Weg in Richtung zwischenmenschlicher, sozialer und wirtschaftspolitischer Aspekte, die bei der anstehenden Analyse der Farbfemsehauseinandersetzung verstärkt berücksichtigt werden müssen. Reichen die innertechnischen Argumente für den Beweis des »besten Systems« nicht aus, so die These, werden außertechnische Faktoren bei der Entscheidungsfindung um so bedeutender. Im Falle von Netzwerktechnologien können dies staatliche, privatwirtschaftliche oder privatrechtliche Faktoren sein. Handelt es sich zudem wie im Falle der Fernsehstandards um die Aushandlung technischer Normen, kommen Faktoren wie die der Persönlichkeit der verhandelnden Akteure, soziale und institutionelle Handlungsspielräume sowie kulturelle Verhaltensmuster hinzu, die den Ausgang derartiger Verhandlungsprozesse unvorhersehbar machen. Standardisierungsprozesse bieten Grundfrage des zu sich selbst kommenden Menschen.« Karl JASPERS, Vom europäischen Geist, München 1946, S. 24f. 138 CHAUVIERRE, La t i l i v i s i o n , S. 4 1 . 139 BRUSSET, Exposfi sommaire, S. 39. 140 CHAUVIERRE, L a tdtevision, S. 2 0 3 . 98 2. Le terrain technique sich aus diesem Grunde besonders dazu an, das teleologische Fortschritts­ modell der Technikentwicklung zu hinterfragen, beziehungsweise einen Bei­ trag zu seiner theoretischen Demontage zu leisten. 2.3.6. Das Scheitern der Bemühungen um einen europäischen s/w-Fernsehstandard - zusammenfassende Betrachtung Versucht man die Gr٧nde f٧r das Scheitern einer europδischen s/w­Fernseh­ norm f٧r Europa zusammenzufassen, zeichnet sich ein breites Spektrum nachvollziehbarer Gr٧nde f٧r dieses Scheitern ab. Auch wenn der franzφsi­ schen Diskussion um das 819­Zeilen­System im Vorfeld aus begr٧ndetem Anlaß besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde, bietet sich folgendes Panorama von Erklärungsmustern an: 1) Fernsehen war zu dem Zeitpunkt, in dem die Entscheidung für einen einheitlichen europäischen Standard fallen mußte (1946-1952), in Europa kaum praktische Realität. Das Femsehen war in seiner grundlegenden technischen Entwicklung kaum aus dem experimentellen Stadium herausgetreten. Der Elan, der die Fernsehforschung ab Mitte der dreißiger Jahre ausgezeichnet hatte, war durch den Zweiten Weltkrieg gebrochen worden. Zwar waren während des Krieges wichtige Forschungen in originär fernsehtechnischen Bereichen geleistet worden (Elektronenröhre, Zentimeterwellen, Richtfunk etc.), doch mußten diese unterschiedlichen Stränge nach 1945 erst wieder auf das zivile Anwendungsziel Fernsehen zusammengeführt werden. In Deutschland, einem der führenden Fernsehländer vor Ausbruch des Krieges, war nach 1945 jegliche Arbeit im fernsehtechnischen Bereich verboten. Es verwundert daher nicht, daß Deutschland in der Diskussion um die s/w-Zeilennorm kaum eine Rolle gespielt hat. Wie gesehen, wichen führende deutsche Fernsehtechniker nach Frankreich aus, um weiterhin im Bereich der Fernsehtechnik arbeiten zu können. 2) In Europa entfaltete das Fernsehen als neues Medium nicht jene visionäre Potenz, die ihm in den USA zugeschrieben wurde. Europa blieb vorerst »radiotreu«. Die Ablösung des Leitmediums Radio durch das Fernsehen im massenmedialen Ensemble setzte erst Ende der 1950 er Jahre ein. Zudem hatten die totalitären Erfahrungen mehrerer europäischer Staaten die Möglichkeiten eines Mißbrauchs des Rundfunks gezeigt, so daß führende Kulturkritiker dem neuen elektronischen Bildmedium sehr skeptisch gegenüberstanden. Die suggestive Kraft und damit potentiell manipulative Wirkung, die dem bewegten Bild bis heute zugeschrieben wird, erschwerte dem Fernsehen die gesellschaftliche Akzeptanz, zumindest bei der kulturellen Elite. Es bedurfte der affektiven Aufladung des Mediums, um es in das allgemeine Bewußtsein zu bringen. »Media events« wie die Krönung ElisabethzwvtsrponmlkihgedcbaJIF Π im Jahre 1953 wirkten hier bahnbrechend. In der Folgezeit waren es vor allem sportliche 2.3. Das Problem der Zeilennorm 99 Großveranstaltungen, welche diese Funktion übernahmen (Fußballweltmeisterschaft in Bern 1954; Olympische Sommerspiele in Rom 1960). 3) Da die nationalen Rundfunkorganisationen nach 1945 mehr oder minder damit beschäftigt waren, den Status quo der Vorkriegszeit wieder herzustellen, blieben Ideen wie die einer zukünftigen europäischen Zusammenarbeit Ausnahmeerscheinungen. Ein Problembewußtsein dafür, was unterschiedliche s/w-Normen für den internationalen Programmaustausch bedeuteten, war nicht vorhanden. Der Aufbau einer funktionierenden Rundfunkversorgung blieb im wesentlichen eine nationalstaatliche Angelegenheit. 4) Zusätzlich färbte die politische Großwetterlage Europas nach 1945 auf die internationalen Rundfunkorganisationen ab. Die völkerverbindenden Intentionen der Union Internationale de Radiodiffusion (UIR) scheiterten an den politischen Realitäten des Kalten Krieges. Die Spaltung der UIR in eine »östliche« (Organisation Internationale de Radiodiffusion, OIR) und »westliche« (Union Europeenne de Radiodiffusion, UER) Organisation erschwerte die internationale Verständigung im Bereich der Rundfunkplanung. 5) Wie am Beispiel Frankreichs näher ausgeführt wurde, waren es nicht zuletzt wirtschaftspolitische Entscheidungen, die den nationalen Diskurs dominierten. Der Schutz der nationalen Rundfunkindustrie spielte auch in Großbritannien oder den USA eine bedeutende Rolle. Der rasche Aufbau einer nationalen Fernsehempfängerindustrie hatte das Ziel, andere Länder von den Vorteilen des eigenen Systems bzw. der Leistungsfähigkeit der eigenen Industrie zu überzeugen. Wirtschaftstheoretisch formuliert: Man erhoffte sich »first-mover«-Vorteile und damit erhöhte Exportchancen. Da der Fernsehmarkt ein »network market« ist, kommt es entscheidend darauf an, den eigenen Standard international durchzusetzen. In Frankreich kamen sicherlich auch protektionistische Interessen hinzu, um die noch schwache eigene Rundfunkindustrie vor der mächtigen amerikanischen und englischen Konkurrenz zu schützen. 6) Die relative Zurückhaltung, welche die Position der USA in der europäischen Auseinandersetzung um die s/w-Femsehnormen auszeichnete, hatte zwei Gründe. Zum einen stieg das Schwarzweißfernsehen in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg rasant zum massenmedialen Leitmedium auf. Der daraus resultierende Boom der Fernsehbranche verschaffte den USA einen erheblichen technologischen Vorsprung gegenüber der europäischen Konkurrenz. Obschon man auch in den USA Anfang der fünfziger Jahre noch weit von einem ersten Sättigungsgrad auf dem s/w-Fernsehmarkt entfernt war, beschäftigte die Rundfunkfachleute längst ein anderes Thema: das Farbfernsehen! Beide Faktoren erklären, warum man die - aus US-amerikanischer Perspektive - leidige europäische Diskussion um eine s/w-Zeilennorm recht gelassen beobachtet hat. 100 2. Le terrain technique 7) Die europδischen Lδnder, die sich aktiv f٧r eine kommunikative Lφsung des Standardisierungsproblems, das heißt auf Verhandlungsbasis im Rahmen der zuständigen internationalen Behörden (CCIR/EBU/OIR), stark gemacht haben, waren jene Länder, die aufgrund ihrer industriellen Struktur keine wirtschafts- oder industriepolitische Macht ausüben konnten. Besonders die kleinen, mehrsprachigen Länder (Schweiz, Luxemburg und Belgien) versuchten vergeblich, auf eine Kompromißlösung hinzuarbeiten. Das Scheitern dieser Bemühungen traf diese Länder besonders hart, da die Mehrnormigkeit auf Sender- und Empfängerseite hohe Kosten verursachte. 8) Wie das Beispiel Frankreichs zeigt, spielten in der nationalen Entscheidung für einen s/w-Standard neben politischen und wirtschaftlichen Fakten auch persönliche Interessen eine Rolle. Die engen Kontakte zwischen Vertretern der Firma Radio-Industries (v.a. Henri de France) und den Verantwortlichen der RTF (v.a. Wladimir Porchd) haben dem 819-Zeilensystem letztlich zum Durchbruch verholfen. Insgesamt hatte man sich in Frankreich im Gegensatz zu den anderen europäischen Ländern aber auf das hochauflösende Fernsehen als der Zukunftstechnik festgelegt. Diese technologische Weichenstellung war auch Ausdruck eines französischen Selbstverständnisses, das sich durch höchste Qualitätsansprüche (= technische Elite) definierte. 2.4. Die Normung der Grundparameter 101 2.4. Die Normung der Grundparameter für das Farbfernsehen in Europa 1955-1961 Waren die Bem٧hungen um einen einheitlichen s/w­Fernsehstandard in Euro­ pa mit der Stockholmer CCIR­Konferenz des Jahres 1952 de facto geschei­ tert, f٧hrten die Fortschritte des internationalen Programmaustausches im Rahmen der Eurovision dazu, daß den Verantwortlichen der europäischen Rundfunkanstalten der enorme Aufwand der Normwandlungen und die damit verbundenen Mehrkosten bei gleichzeitiger Einbuße an Bildgüte immer bewußter wurde. Sehr bald mehrten sich daraufhin die Stimmen, die vor einer Wiederholung einer solchen Fehlentwicklung im Bereich der noch zu definierenden Farbfernsehnormen warnten. Würde man sich nicht auf eine einheitliche Farbfernsehnorm einigen können, so der Tenor, würden die Schwierigkeiten für einen internationalen Programmaustausch im Farbfernsehen »praktisch unüberwindlich«141 sein. Auf der CCIR-Zwischentagung in Brüssel im Frühjahr 1955 widmete sich die Studienkommission XI (Fernsehen) daraufhin erstmals dem Thema Farbfernsehen. »Unausgesprochen büeb dabei die Hoffnung«, so berichten Mitarbeiter des Fernmeldetechnischen Zentralamtes der Bundespost in Darmstadt, »daß man auf dem Weg über die gemeinsame Farbnorm schließlich doch noch zu einer gemeinsamen s/w-Norm kommen würde«142. Diese Hoffnungen sollten sich jedoch bald als illusorisch herausstellen. Dennoch gelang es, einen Katalog von technischen Fragen zu erarbeiten, der als Arbeitsplan für die zukünftigen Treffen der Studiengruppe XI dienen sollte. Folgende Punkte sollten bei der Diskussion über eine europäische Farbfernsehnorm berücksichtigt werden: befriedigende Bildgüte; sparsamer Gebrauch der Bandbreite; zuverlässige Empfänger mit tragbaren Kosten; Betrieb von Studio-, Sender- und ٢bertragungseinrichtungen; Empfindlichkeit gegen Störungen; Kompatibilität mit bestehenden Schwarzweißfernsehern; Frequenzplanung; internationaler Programmaustausch sowie die Unterschiede zwischen den BandbereichenundVI Ι/ΠΙ und IV/V. In Brüssel wurde zudem erstmals die Idee verfochten, daß man das farbige Fernsehen in Europa auf einen besonderen Wellenbereich beschränken sollte, und zwar den Dezimeter-Wellenbereich, der auf der Funkverwaltungskonferenz von Atlantic City 1947 den Bändern IV und V (470 bis 790 MHz) zugeschrieben worden war. Dieser Wellenbereich war bislang nicht für das Schwarzweißfernsehen in Anspruch genommen worden. Bis auf weiteres ver141 Einen ausführlichen ٢berblick über die frühen Bemühungen um einen europäischen Farbfemsehstandard im Rahmen der CCIR und EBU/OIR bietet der Aufsatz des Oberpostdirektors und Leiter des Fernmeldetechnischen Zentralamtes (FTZ) in Darmstadt, Johannes M٢LLER, Die internationalen Bemühungen um eine europäische Farbfernsehnorm. 142 J . M٢LLER, F . KIRSCHSTEIN, K. O . SCHMIDT, D i e B e m ü h u n g e n d e s C C I R u m e i n e e u r o p ä i - sche Norm für das farbige Femsehen, in: Nachrichtentechnische Zeitschrift 1 (1957) S. 20. 102 2. Le terrain technique einbarte man daher ein »Stillhalteabkommen« was die Nutzung dieses Wel­ lenbereichs betraf, um einer potentiellen Einigung f٧r den Farbfernsehstan­ dard keine Hindernisse in den Weg zu stellen. Da in den meisten Lδndern jedoch noch keinerlei Erfahrungen im Bereich des Farbfernsehens vorhanden waren, beschloß man, eine international besetzte Gruppe auf Studienreise in die USA zu entsenden. Diese sollte auch in Frankreich, England und den Niederlanden Station machen, die als einzige europäische Länder bereits gewisse Grundlagenarbeiten im Bereich des Farbfernsehens vorweisen konnten. Vom 6. März bis 12. April 1955 besuchte die Studiengruppe die USA, das einzige Land, das seit 1954 regelmäßig Farbsendungen nach dem NTSC-System ausstrahlte. Sämtlichen Größen der amerikanischen Rundfunkindustrie wurde ein Besuch abgestattet: den Laboratorien der Hazeltine Corporation, dem Forschungsinstitut der RCA in Princeton, den Bell-Laboratories von AT&T in Murray-Hill sowie der Philco-Corporation in Philadelphia. Hinzu kam der Besuch mehrerer Sendeanstalten und Produktionsstätten der oben genannten Firmen. Im Reisebericht der drei Mitarbeiter des FTZ in Darmstadt (Kirchstein, Müller und Schmidt) hieß es: Faßt man alle Eindrücke von den Vorführungen in den USA zusammen, so kann man vielleicht folgendes sagen: Es ist grundsätzlich möglich, mit dem NTSC-System gute, farbige Bilder zu übertragen, ohne daß im Δther ein breiteres Frequenzband belegt wird als bei Schwarz-Weiß٢bertragungen. Diese farbigen Sendungen sind mit den zur Zeit durchgeführten schwarz-weißen >verträglich<. Ein entsprechender farbiger Fernseh-Rundfunk muß jedoch zur Zeit mit gewissen Anfangsschwierigkeiten rechnen. Außerdem sind die derzeitigen Aufnahmegeräte (mit den drei Super-Orthicons) und die Wiedergaberöhren (in der Form der shadow-mask-tube) noch sehr kompliziert, so daß hier mit einer technischen Weiterentwicklung gerechnet werden muß 143 . Eine solche »Anfangsschwierigkeit« - die sich später jedoch als ernsthaftes »Dauerproblem« des NTSC-Systems herausstellen sollte - war, daß die Rundstrahlung farbiger Sendungen emsthafte Probleme bereitete, was der Phasenverdrehung des amplitudenmodulierten Farbhilfsträgers angelastet wurde 144 . Vom 3. bis 7. April hielt sich die Studiengruppe in England auf, wo u. a. die Unternehmen Marconi und Electrical Music Industries (EMI) sowie die Forschungslaboratorien der BBC besichtigt wurden. Interessant an den englischen Vorführungen war, daß hier Farbfernsehsendungen nach dem NTSC-System sowohl in der 405- als auch 625-Zeilennorm vorgeführt wurden und auch deren gegenseitige Umwandlung realisiert wurde. Im Unterschied zu den Vorführungen in den USA und England zeigten die Reisen nach Holland und Frankreich Alternativen zum NTSC-System auf. In den 143 Ibid. S. 24. »Echter Rundfunk-Empfang [...] wirkte nicht immer Uberzeugend. [...] Die Farben waren blaß und unnatürlich und auf den verschiedenen im gleichen Raum aufgestellten Empfangern ganz verschieden«, ibid. S. 22. 144 2.4. Die Normung der Grundparameter 103 Niederlanden f٧hrten die Ingenieure der Philips­Forschungslaboratorien in Eindhoven ihr »Two­Sub­Carrier­System« (TSC­System) vor, das im Gegen­ satz zum NTSC­System zwei statt einen Farbhilfstrδger im gleichen Kanal ٧bertrug145. Aber auch bei Philips studierte man eindringlich das NTSC­Sy­ stem, das man der Studiengruppe ebenfalls in Experimentalvortrδgen vor­ f٧hrte. Den Abschluß der Studienreise bildete der Besuch in Frankreich. Während alle anderen Länder sich mehr oder weniger eng an das NTSC-System anlehnten, ging man in Frankreich eigene Wege146. Die bereits bekannte »Soci&ö Radio Industries« führte ein von Henri de France entwickeltes Farbfernsehsystem auf 409-Zeilenbasis vor. Die »Laboratoires d'electronique et de physique appliqu6es« zeigten ein von Prof. Georges Albert Boutry entwickeltes System namens »Double Message«, und die Ingenieure der RTF stellten ein System des französischen Ingenieurs Georges Valensi vor. Alle drei französischen Systeme wurden aber von der Studiengruppe als »im Zustand der Laborentwicklung« beschrieben. Ihre Vergleichbarkeit mit dem NTSC-System wurde daher stark in Frage gestellt. Als die Studiengruppe auf der nächsten CCIR-Vollversammlung im August 1956 in Warschau über die Ergebnisse der ausgiebigen Studienreise berichtete, erklärten die »Gerber-Länder« (also jene Länder, welche die 625-Zeilennorm bei einem Bild-/Tonträgerabstand von 5,5 MHz für ihr Schwarzweißfernsehen als Standard definiert hatten), daß sie von der Brauchbarkeit des NTSC-Systems prinzipiell überzeugt und daher bereit seien, »die Konzeption dieses Systems als Grundlage für die europäische Norm« anzunehmen. Auch die niederländische Postverwaltung erklärte sich bereit, im Interesse einer einheitlichen Lösung auf die Weiterentwicklung des TSC-Systems der Firma Philips zu verzichten. Die englische Delegation stimmte zwar der technischen Beurteilung des NTSC-Systems zu, hielt aber die Entscheidung über die Definition einer Zeilenzahl für das Farbfernsehen in Europa für verfrüht. Dagegen hielt die französische Delegation auch eine definitive technische Beurteilung des NTSC-Systems für voreilig, solange die in Frankreich laufenden Untersuchungen der Systeme »Henri de France«, »Double Message« und »Valensi« nicht beendet seien. In einem abschließenden Kommuniqud der Konferenz hieß es daraufhin: »Zur Zeit ist nur ein Farbfernsehsystem - nämlich das NTSC-System - so weitgehend erprobt, 145 Der Vorteil dieses Systems gegenüber dem NTSC-System war die geringere Empfindlichkeit gegenüber den Phasendrehungen der Farbhilfsträger verbunden mit einer einfacheren Empfängerschaltung, die durch den Wegfall der »synchronen Demodulation« des Hilfsträgers erreicht wurde. Nachteil war, daß die einfachere Demodulation der beiden Hilfsträger stärkere Rauschstörungen verursachte und die Amplitudenmodulation der Hilfsträger eine besondere Kunstschaltung erforderte. Siehe M٢LLER, KIRSCHSTEIN, SCHMIDT, Die Bemühungen des CCIR um eine europäische Norm für das farbige Femsehen, S. 25. 146 Ibid. S. 26. 104 2. Le terrain technique daß es für eine europäische Norm in Betracht gezogen werden kann. Dies soll aber nicht ausschließen, daß eine andere Norm erprobt und angenommen wird, wenn ihre Erprobung mit befriedigenden Ergebnissen abgeschlossen ist«147. Trotz dieser relativ vagen Abschlußerklärung waren sich die meisten Teilnehmer der Konferenz darüber im klaren, daß für die zukünftige Planung des Fernsehsendernetzes und für die Organisation des internationalen Programmaustausches folgende Grundparameter verbindlich definiert werden mußten: erstens die Zeilenzahl, zweitens das HF-Kanalraster und drittens die Farbhilfsträgerfrequenz. Diese »Normung der Grundparameter« war von zentraler Bedeutung und stellte die Diskussion um die jeweiligen Farbfernsehsysteme vorerst in den Schatten, die sich >nur< in der Modulationsart des Farbhilfsträgers unterschieden. Um dies zu erreichen, wurde außerhalb des offiziellen CCIR-Rahmens von den Delegationen aus der Schweiz, Italien, den Niederlanden und der Bundesrepublik Deutschland eine »Arbeitsgemeinschaft für das Farbfernsehen« unter dem Vorsitz des Schweizers Dr. Gerber (»Gerber-Ausschuß«) gebildet. Der Ausschuß setzte sich pro Land aus je einem Vertreter der Postverwaltung, der Industrie und der Rundfunkanstalten zusammen. Ziel dieser Arbeitsgruppe war es, »im kleinen Kreise, unabhängig vom CCIR, aber dennoch um die Arbeit des CCIR zu erleichtern«, die technischen Fragen und Probleme, die mit einer zukünftigen europäischen Farbfemsehnorm zusammenhingen, zu diskutieren und zu untersuchen. Gegebenenfalls sollten auch gemeinsame ٢bertragungsversuche durchgeführt werden148. Natürlich fällt auf, daß in dieser Arbeitsgruppe weder Franzosen noch Briten vertreten waren. Wie ein Brief des damaligen Technischen Direktors des NDR, Dr. Werner Nestel, an den Intendanten des Hessischen Rundfunks Beckmann vom 7. Mai 1955 zeigt, war man auf deutscher Seite zuversichtlich, mit Herrn Dr. Gerber die richtige Person für diese schwierige Aufgabe beauftragt zu haben: »Da Herr Dr. Gerber seinerzeit mit so großem Geschick die 625-Zeilen-Gerber-Norm in einer so großen Zahl von Ländern zur Annahme gebracht hat, können wir annehmen, daß sein Vorsitz die besten Voraussetzungen bietet, daß auch die zukünftige Farbnorm in unserem Sinne günstig gewählt wird«, so Nestel149. Tatsächlich avancierte die Arbeitsgruppe unter der Leitung des Schweizer Postdirektors Gerber in der Folgezeit zu einem zentralen Gremium, das die Notwendigkeit der Standardisierung der Parameter für das europäische Farb147 M٢LLER, Die internationalen Bemühungen um eine europäische Farbfemsehnorm, S. 229f. Ibid. S. 230. 149 Brief von Dr. Werner Nestel an Herrn Intendant Beckmann/Hessischer Rundfunk, 7. Mai 1955, 4 maschinegeschriebene Seiten, hier S. 3, in: Historisches Archiv des Westdeutschen Rundfunks, Bestand Brack, Femseh-Kommission der ARD 1952-1955, VSTO 119. 148 2.4. Die Normung der Grundparameter 105 fernsehen immer wieder betonte und mit aller Kraft auf eine solche Einigung hinarbeitete. Nicht unerwδhnt bleiben sollte, daß in diese Zeit der »Normung der Grundparameter« auch die Verhandlungen zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft fielen, die ihren Abschluß in den Römischen Verträgen 1957 fanden. Das Thema Farbfernsehen stand zwar nicht auf der Verhandlungsliste in Rom, die Bemühungen um einen harmonisierten europäischen Wirtschaftsraum wirkten sich indirekt aber auch auf die internationale Ordnung des Rundfunks sowie die europäische Rundfunkindustrie aus. So versuchten die EWG-Länder noch vor der CCIR-Tagung in Moskau im Juni 1958 einen gemeinsamen Standpunkt über ein HF-Kanalraster für das Schwarzweißfernsehen und das Farbfernsehen zu erarbeiten. Man einigte sich schließlich auf die Kanalbandbreite von 10 MHz150. In Moskau konnte man sich zwar nicht auf die Zahl von 625 Zeilen einigen, aber es zeichnete sich erstmals eine gewisse Bereitschaft ab, sich auf eine Bandbreite von 8 MHz für das Farbfernsehen verständigen zu können. Der nächste entscheidende Schritt wurde auf der Di. Vollversammlung der CCIR in Los Angeles im März 1959 getan. Mit Ausnahme von Frankreich bestand Konsens darüber, das Farbfernsehen generell auf die Bänder IV und V mit einem HF-Kanalraster von 8 MHz festzulegen151. Entscheidend für diese Wende war die Mitteilung der britischen Delegation, daß sie - vorbehaltlich der Entscheidung des Television Advisory Committee - bereit sei, in den Bereichen IV und V die 625-Zeilennorm bei einem Bild-/Tonträgerabstand von 6,5 MHz einzuführen, also im Bereich des Farbfernsehens ihre 405-Zeilennorm zugunsten der Gerbernorm aufzugeben. Selbst Frankreich, das wegen der Möglichkeit einer Kompatibilität mit dem 819-Zeilensystem auf der höheren Bandbreite von 16 MHz pochte, ließ erstmals eine gewisse Bereitschaft erkennen, für das Farbfernsehen auf ein 625-Zeilensystem überzugehen. Trotz dieser positiven Entwicklungen hinterließ die CCIR-Tagung in Los Angeles keine sehr positiven Eindrücke von der »praktischen Realität« des amerikanischen Farbfernsehens. Es fanden weder Vorführungen von seiten der großen network-stations statt, noch waren in Geschäften, Restaurants oder Bars viele Empfänger zu sehen. Das »große Geschäft« mit den Farbempfängern setzte auch in den Vereinigten Staaten erst ab 1962 ein. Die Gründe für den zähen Start des Farbfernsehens in den USA sind klar: Die amerikanische Rundfunkindustrie war bis Anfang der 1960 er Jahre voll damit ausgelastet, die US-amerikanische Bevölkerung mit s/w-Empfängern zu versorgen. Erst als der s/w-Markt gesättigt war, konnte der Vertrieb der wesentlich teureren Farbempfänger langsam in Angriff genommen werden. 150 M٢LLER, Die internationalen Bemühungen um eine europäische Farbfernsehnorm, S. 231. Allerdings gingen auch in den Gerber-Ländern die Meinungen über den Bild-/Tonfrequenzabstand auseinander. 151 106 2. Le terrain technique Zudem war das Programmangebot an Farbsendungen sehr beschrδnkt. So strahlten 1956 nur drei der sieben in New York befindlichen Fernsehsender circa 40 Stunden Farbprogramme pro Monat aus. Die Zahl der Farbfernseh­ empfδnger im Sendegebiet belief sich auf schδtzungsweise 50 000 Appara­ te152. Wurde der schleppende Start des Farbfemsehgeschδftes in den USA von europδischen Beobachtern auch der technischen Unausgereiftheit des NTSC­ Systems zugesprochen, glaubt John Wentworth, daß die Gründe »in der nur schwer erfaßbaren Käuferpsychologie und im Prinzip der freien Marktwirtschaft« zu suchen seien, nicht aber in systembedingten technischen Mängeln153. Trotz der »neuen Dimension« Farbe sei das Farbfernsehen lediglich eine Verfeinerung der s/w-Technik, nicht aber so revolutionär neu wie das Schwarzweißfernsehen. Wentworth macht sogar einen »circulus vitiosus« aus, in dem die Einführung des Farbfernsehens gefangen gewesen sei: Da das Fernsehen in den USA vorwiegend durch Werbung finanziert wurde, die Produktion von Farbspots aber wesentlich teurer war als die von s/w-Spots, zudem noch viel mehr s/w-Zuschauer vorhanden waren als Farbfernsehbesitzer, konnte das Farbfernsehen nur schleppend in Gang kommen. Aus diesem »Dilemma«, so Wentworth, sei man erst durch einen »kühnen wirtschaftlichen Anstoß« herausgekommen, der das historische Verdienst der RCA sei. Die RCA habe vor allem auf dem Gebiet der Farbfernsehröhre geforscht und in Kundendienstwerkstätten ausgiebig über das Farbfernsehen informiert und geworben. Hinzu kam, daß die zögernde Programmproduktion den Kauf von Farbgeräten nicht attraktiv machte. Die Voraussetzung für eine erhöhte Produktion der kostspieligen Farbprogramme war wiederum an das Vorhandensein einer größeren Zuschauerzahl, das heißt von Farbgerätebesitzern gebunden. Doch zurück zu den europäischen Bemühungen. Nachdem in Los Angeles deutliche Schritte auf einen »common sense« hin gemacht worden waren, kam man im Oktober des gleichen Jahres erneut zusammen. Unter der Leitung des Schweden Erik Esping, der auch Vorsitzender der Studiengruppe XI des CCIR war, kam man in Genf zu dem Ergebnis, daß als Grundlage für die Frequenzplanung in den Bereichen IV und V, insbesondere für das Farbfernsehen, nur noch Normen mit 625 Zeilen und einem einheitlichen HF-Raster von 8 MHz berücksichtigt werden sollten. Auf die Farbträgerfrequenz konnte man sich aber nicht verständigen. Dies geschah erst auf der »Expertentagung« in Cannes im Februar 1961, als man den britischen Vorschlag von 4,43 MHz bei einheitlichem HF-Abstand von 8 MHz festlegte. Dieser Vorschlag ging als Arbeitsgrundlage in die europäische Rundfunkkonferenz von 152 M٢LLER, Die internationalen Bemühungen um eine europäische Farbfernsehnorm, S. 226 f. John W. WENTWORTH, Zusammenfassung der praktischen Erfahrungen mit dem Farbfernsehen in den Vereinigten Staaten, in: Rundfunktechnische Mitteilungen 8 (1964) 4 S. 236-244. 153 2.4. Die Normung der Grundparameter 107 Stockholm im Juni 1961 ein, wo sowohl Frankreich als auch Großbritannien erklärten, auch ihre s/w-Norm an diese neuen Charakteristika anpassen zu wollen. Die noch übriggebliebenen Unterschiede im Bereich der Ton-/Bildfrequenzabstände wurden im Vergleich zur erreichten Harmonisierung der anderen Parameter als »nicht sehr gravierend« angesehen. War die Entscheidung in Stockholm ein Meilenstein in der Geschichte der Harmonisierung der Fernsehnormen in Europa, bedeutete diese Entscheidung für Frankreich und Großbritannien, daß enorme finanzielle Belastungen auf sie zukommen würden. Die Umstellung von Studio-, Sender- und Empfangstechnik auf eine neue Zeilennorm war ein kostspieliges Unterfangen, das jahrelange ٢bergangslösungen mit entsprechenden »٢berbrückungstechniken« erforderte. Welche tiefgreifende Bedeutung die Entscheidung für die Einführung einer von der vorhandenen Norm abweichenden Zeilennorm für ein Land hatte, läßt sich beispielhaft an der Situation Englands demonstrieren. Im Juli 1960 wurde in England im Auftrag des Postmaster General das sogenannte »Pilkington Committee« unter Vorsitz von Sir Harry Pilkington gegründet. Aufgabe des Kommittees war die Erarbeitung eines Berichtes, der der englischen Regierung beziehungsweise dem Postminister u. a. eine Empfehlung über die auszuwählende Zeilennorm im Bereich des Farbfernsehens machen sollte154. Δhnlich wie in Frankreich gingen die Meinungen über die zu adoptierende Zeilennorm quer durch alle Lager (Postverwaltung, BBC und Rundfunkindustrie) ziemlich weit auseinander. Die BBC richtete am 9. Dezember 1960 ein Schreiben an den Postmaster General, in dem sie die britische Regierung dazu aufforderte, für eine baldige Einführung des Farbfernsehens auf der Basis der bestehenden 405-Zeilennorm zu stimmen. Sir Carlton Greene, Generaldirektor der BBC, verwies in einem Schreiben darauf, daß die BBC bereits seit 1955 erfolgreich regelmäßige Farbfemsehversuche nach dem amerikanischen NTSC-System durchführe. »The BBC«, so Greene, »which started its television service well in advance of the rest of the world, does not believe that it should lag further behind the United States, Japan and the Soviet Union« 155 . Neben der politisch-symbolischen Bedeutung, die dem Farbfernsehen laut Greene zukam, stellte sich die BBC argumentativ auf die Konsumentenseite. Da eine europäische Entscheidung im Sinne eines einheitlichen Standards nach Meinung der BBC nicht zu erwarten war, bedeutete das Warten auf eine solche Entscheidung, daß England den fernsehtechnischen Vorsprung, den es damals im europäischen Kontext hatte, verlieren würde. Eine von der bestehenden 154 Zur Geschichte und Bedeutung des Pilkington-Kommitees siehe Asa BRIGGS, The History of Broadcasting in the United Kingdom, Bd. 5: Competition, Oxford 1995. Hier besonders das Kapitel 4, »Under Review: Pilkington«, S. 257-308. 155 Brief von Hugh Carlton Greene (Chairman of the BBC) an German (G.P.O. Headquarters), London, 9.12.1960, in: Public Record Office (PRO, London), Signatur HO 256/386. 108 2. Le terrain technique 405-Zeilennorm abweichende Entscheidung hätte zudem zur Folge gehabt, daß nur unter großem finanziellen Aufwand eine Benachteiligung der damaligen s/w-Fernsehbesitzer ausgeschlossen werden konnte156. Ein scharfer Gegner der BBC war die englische Firma PYE, führender Fernsehgerätehersteller in England. Charles Stanley, Direktor von PYE, sah mit der Einführung eines Farbfernsehsystems auf 405-Zeilenbasis alle Exportchancen schwinden. Ablehnend gegenüber dem Vorschlag der BBC äußerte sich auch die Independent Television AuthorityzywutsronmlihgedcbaZPE (ΓΓΑ), die staatliche Aufsichtsbehörde der privaten Fernsehkonkurrenz der BBC in England. Für die Beibehaltung des 405-Zeilensystems sprach sich dagegen mehrheitlich der Verband der englischen Rundfunkindustrie BREMA (British Radioelectronics Manufacturers Association) aus 157 . Da die BBC behauptete, binnen eines Jahres Farbfernsehen auf der Basis des NTSC-Systems angepaßt an die britische 405-Zeilennorm einführen zu können, stand der britische Postminister Wedgwood Benn vor der schwierigen Entscheidung, entweder dem Druck der BBC und der englischen Rundfunkindustrie nachzugeben, oder aber den Bericht des Pilkington-Committees abzuwarten. Pilkington hatte gleich zu Beginn seiner Arbeit klar gemacht, daß er es für sinnvoll ansehe, die Entscheidung im Bereich des Farbfernsehens an die europäischen Verhandlungen im Rahmen der CCIR zu binden. In einem ersten Arbeitsbericht des Pilkington-Committees hieß es: Further, we feel that the question of the definition standards to be adopted in Bands IV and V should not be determinated before a decision is reached in colour. If 625-line are to be introduced it is naturally desirable that colour when introduced should use this standard. It would not be helpful to introduce colour on 405-line standards in Bands I and ΙΠ in the meantime 158 . Eine Entscheidung zugunsten des 625-Zeilensystems bedeutete, dessen war man sich im Postministerium bewußt, eine Verschiebung des Einführungstermins des Farbfernsehens bis mindestens 1965. Dennoch teilte das Postministerium der BBC am 10. Mai 1961 mit, daß man die Initiative zur frühen Einführung des Farbfernsehens leider ablehnen müsse. Zwar habe die BBC einige gute Gründe für den frühen Einführungstermin angeführt, aber die Exportchancen für ein 405-Zeilen Farbfemsehsystem seien gleich Null (außer nach Irland). Auch müsse man vor einer definitiven Entscheidung die Empfehlungen des Pilkington-Committees abwarten. Man könne jetzt nicht Leute 156 I . R . ATKINS, A . R . STANLEY, S . N . WATSON, A N e w S u r v e y o f t h e B B C E x p e r i m e n t a l C o - lour Transmissions, B B C Engineering Division Monograph Number 32, October 1960. 1 5 7 Brief von Mr. Judd (General Post Office) an Wedgwood Benn (Postmaster General), London, 1. Mai 1961, 3 maschinegeschriebene Seiten, hier S. 2, in: PRO, Signatur HO 256/386. 1 5 8 Siehe »Postmasters General's Questions on Colour Television«, dreiseitiger Frage- und Antwortkatalog, der die pro- und contra-Argumente aus der Perspektive der britischen Postverwaltung zusammenfaßt, ohne Datum (wahrscheinlich Anfang Mai 1961), in: PRO, Signatur HO 256/386. 2.4. Die Normung der Grundparameter 109 zum Kauf eines Farbfernsehers ermuntern, wenn in zwei Jahren die Zeilen­ norm verδndert w٧rde 159 . Als das Pilkington­Committee am 27. Juni 1962 seinen 340­Seiten dicken Bericht vorlegte, fiel die Entscheidung zugunsten eines einheitlichen Fern­ sehbetriebes nach dem 625­Zeilenstandard sowohl f٧r das Schwarzweißfernsehen als auch für das zukünftige Farbfernsehen aus. Für die Rundfunkindustrie in England bedeutete dies, daß sie ihre Produktion auf teurere und kompliziertere Zweinormenempfänger umstellen mußten. Die Mehrkosten der Produktion mußten zum Teil auf die Konsumenten abgewälzt werden, die für die Mehmormenempfänger tiefer in die Tasche greifen mußten. Als dann 1963 in Europa ernsthafte Diskussionen darüber begannen, vielleicht ein anderes Farbfernsehsystem als das amerikanische NTSC-System einzuführen, war die Geduld der englischen Rundfunkgerätehersteller endgültig am Ende. In einem Brief des einflußreichen Geschäftsführers der Rank-Bush Murphy Ltd., Saward, an den Sekretär des Television Advisory Committee, Judd, vom 13. Mai 1963 heißt es: At the present time the set manufacturing industry is, as you know, heavily committed by the introduction of the complicated 405/625 line, VHF/UHF, dual standards receiver. To introduce a third standard before the first change is properly digested could prove quite desastrous to the set manufacturers. [...] It is our considerated opinion that the adoption of SECAM or PAL must inevitably put back the introduction of colour by at least two years 160 . Doch greifen wir hier schon der nächsten Etappe des komplexen Verhandlungsprozesses in der europäischen Farbfernsehdebatte vor. Δhnlich kompliziert wie in Großbritannien gestaltete sich auch die Diskussion über die europäische Zeilennorm für das Farbfernsehen in Frankreich161. Schon beim Wechsel vom 441-Zeilensystem auf die 819-Norm hatte sich auf Seiten der wenigen Fernsehbesitzer Widerstand geregt. Sie fürchteten um die Sicherheit ihrer Investition und gründeten gar einen eingetragenen Verein namens »Groupement de defense des telespectateurs 441-lignes«, um gegen die Umstellung auf 819 Zeilen zu protestieren162. Die Entwicklung des Fernsehens im Bereich des internationalen Programmaustausches (Gründung der Eurovi159 »I know I do not need to remind you that the Television Advisory Committee felt very firmly that colour should only be brought in using the line standards to be ultimately adopted for black and white transmissions, and that a decision about colour should follow a decision on line standards.« Brief von Bevins (HPG) an Forde (BBC), London, 10. Mai 1961, in: PRO, Signatur HO 256/386. 160 Brief von Saward (Rank Bush Murphy Ltd.) an Judd (Secretary of the Television Advisory Committee), London, 13. Mai 1963, in: PRO, Signatur HO 256/386. 161 »Unification des normes de til6vision/Groupe de travail pour ('unification des normes de t£16vision en France, FNIE, 18.02.1965, in: ORTF, Les normes de t616vision en France (internes Studiendokument der ORTF), in: Archives du CHTV/INA. 162 In einem Dossier des RTF-Bestandes in den Archives nationales finden sich zahlreiche Klagebriefe von Leuten, die nach der Beendigung von Sendungen nach dem 441-Zeilensystem im 110 2. Le terrain technique sion) und der langsame Anstieg der Fernsehzuschauer in Frankreich ließen dort bereits 1955 die Frage eines zweiten Fernsehprogramms aufkommen. Im August 1955 legte daraufhin das vom französischen Parlament eingesetzte »Comite d'etudes des problömes de presse« einen »Rapport technique sur les possibilites de creation d'une seconde chaine de television en France« vor, in dem die Frage der zukünftigen Zeilennorm für das Farbfernsehen als dringendes Problem erkannt wurde. Hypothetisch wurden drei Möglichkeiten durchgespielt, die sich bei der Einführung des Farbfernsehens für Frankreich ergeben könnten: a) ein mit dem bestehenden 819-Zeilensystem kompatibles Farbfernsehsystem; b) Beibehaltung der 819-Zeilennorm für s/w-Fernsehen und Einführung eines Farbfernsehsystems auf der Basis eines 625-Zeilensystems; c) Schwarzweiß- und Farbfernsehen auf der Basis eines zukünftigen europäischen Farbfernsehstandards mit 625 Zeilen. Tatsächlich wurden in Frankreich alle drei Varianten als jeweils einzuschlagende Wege in chronologischer Reihenfolge verfolgt. 1958 war man sich einig, daß die Zukunft des französischen Fernsehens sowohl im Bereich der Farbe als auch beim Schwarzweißfernsehen auf der alleinigen Basis des 819-Zeilensystems zu gestalten sei. Doch schon ein Jahr später überwog die b-Variante bei den Technikern der RTF. Auf der CCIR-Tagung in Stockholm erreichte den französischen Delegationsleiter am 24. Mai 1961 die endgültige Weisung des französischen Informationsministers, für die Einführung des 625-Zeilensystems als Basis des Fernsehens in den Bändern IV und V zu stimmen163. Wie das »Pilkington Committee« in Großbritannien kam 1955 auch das »Comite d'etudes des probl£mes de presse« in Frankreich zu dem Schluß, daß das Problem der zukünftigen Zeilennorm im Bereich des Farbfernsehens Rückwirkungen auf das bestehende Schwarzweißfernsehen haben werde, weshalb eine Entscheidung in diesem Bereich verfrüht erscheine: On peut certes admettre comme base que le second reseau, ätantutsrqponmihedca άοηηέ son ipoque de mise en chantier, doit prövoir la couleur. Mais avec quel systöme? Cette question conditionne ögalement le systfeme en noir et blanc avec lequel ddbuterait 1'exploitation. II n'est pas possible actuellement de le dire, en absence de toute indication sur le futur systöme europien. Mais comme, en fait l'installation du second reseau doit avoir lieu dans les bandes IV et V, et comme notre pays s'est engage ä ne pas les occuper par un service regulier avant que l'on ait quelques precisions Jahre 1956 (ein Brand auf dem Eiffelturm hatte den Sender zerstört) einen finanziellen Ausgleich vom Staat verlangten. Siehe Archives nationales, Signatur F-41/2302. 163 »Je vous confirme que le Gouvernement a, au cours d'un recent Conseil des Ministres, dicid6 d'adopter la definition de 625 lignes pour les emissions de television dans la bände de frequences comprise entre 470 et 960 Mc/s (bandes IV et V)«, Note du Ministre de l'Information ä Monsieur le Chef de la Delegation Fran^aise ä la Conference de Stockholm, 24. mai 1961, in: Archives nationales, Signatur F-41/2303. 2.4. Die Normung der Grundparameter 111 sur le systφme europien, ces deux conditions coincident pour donner un certain dδai δ la neces­ siti de cette rdponse164. Wie in England bedurfte es der Erfahrungen im Bereich der Eurovision, des Drucks seitens einiger Rundfunkindustrieller sowie eines Umdenkens auf po­ litischer Ebene, um die Entscheidung fόr das 625­Zeilensystem herbeizufόh­ ren. Bedeutete diese Entscheidung enorme finanzielle Mehrbelastungen fόr den franzφsischen Staat als Trδger der RTF ­ 1965 wurden die Kosten auf 25 bis 30 Milliarden alte Francs geschδtzt ­ 1 6 5 , war es gleichzeitig die RTF, die diese Entscheidung besonders befόrwortet hatte. »Le choix du systφme δ 625 lignes remet la France dans la compdtition«, so das deutliche Urteil des Chefingenieurs der RTF, Louis Goussot166. Vor welche finanziellen und technischen Herausforderungen dieser Normwechsel die Radiodiffusion Tele­ vision Fran^aise stellte, wird in einer Studie der Forschungs­ und Entwick­ lungsdirektion der ORTF aus dem Jahre 1965 deutlich. In einem »Rapport sur les normes de television en France« werden sδmtliche Probleme detail­ liert aufgelistet, mit denen die ORTF durch die Umstellung auf 625 Zeilen konfrontiert wurde. Gleich zu Beginn der Studie heiίt es: Le fait d'avoir adopti aprfes la guerre des normes de t616vision diffirentes de Celles des autres pays europiens place la France devant detsi tits graves difficult6s, particuli&ement δ l'occasion de l'introduction d'un service de television en couleur; l'obstacle immddiat reside dans l'impossibi­ lit6, dans l'dtat actuel de la technique, de rdaliser un recepteur couleur pouvant reproduire les immissions du premier programme avec le balayage de 819 lignes167. In enger Kooperation mit dem Verband der franzφsischen Elektroindustrie (Fed6ration nationale des industries electroniques, FNIE) war die ORTF 1965 zu dem Resultat gelangt, daί der Bau von Fernsehempfδngern, die zu­ gleich 819­Zeilen­ und 625­Zeilenfernsehen umsetzen konnten, beim damali­ gen Stand der Technik unmφglich war. Diese technische Unmφglichkeit lieί fόr den Ausbau des Fernsehens bei der Einfόhrung der Farbe (625­Zeilen) nur zwei mφgliche Perspektiven zu. Die eine Perspektive (a) war, lediglich die Zeilenzahl fόr Schwarzweiί­ und Farbsendungen zu harmonisieren. Die zweite Perspektive (b) ging darόber hinaus, indem sie den Fernsehbetrieb nicht nur mit 625­Zeilen vorsah, sondern ihn zudem komplett (d. h. auch den 164 Comiti d'itudes des problόmes de presse, Rapport technique sur les possibilit£s de creation d'une seconde chaine de television en France, Paris, 12. August 1955, S. 11, in: Archives natio­ nales, Signatur F­41/2303. 165 Note pour le Ministre de l'Information (A. Peyrefitte), Paris, 26.02.1965, in: Archives Di­ plomatiques du Quai d'Orsay, Affaires £conomiques et Financiferes/Affaires G6n£rales/Nr. 219a. 166 GOUSSOT, Le choix des normes de la television en couleur en Europe, S. 10. Goussot bestδ­ tigte diese Einschδtzung emeut im Interview mit dem Autor am 25. Mδrz 1999. 167 ORTF, Direction de l'iquipement et dexvtsrponmliedcaLF Γ exploitation: Les normes de tildvision en France. Probfφmes posis par l'introduction d'un service de television en couleur, Paris, Septembre 1965, Studienmappe mit 2 mehrseitigen Stellungnahmen zu diesem Thema von Seiten der ORTF und der FNIE sowie drei mehrseitigen Anhδngen, in: Archives du CHTV/INA. 112 2. Le terrain technique bestehenden s/w­Betrieb) auf den UHF­Bereich der Bδnder IV und V verleg­ te. Wδhrend die ORTF die erste Perspektive als realisierbar ansah, vertrat die FNIE die zweite Hypothese, »repondant δ un souci de rationalisation et de logique tout δ fait respectable«, wie es in der Studie hieί. Auf seiten der ORTF war man sich der Tragweite der zu treffenden Entscheidung bewuίt: La complexiti de cette affaire est tr£s s6rieuse; aucune solution satisfaisante ne se d6gage avec ividence; toutes prisentent des inconvinients graves intδressant les relations de la F.N.I.E. avec sa clientfeie ou de 1'O.R.T.F. avec son public, c'est­δ­dire dans les deux cas, les tdkispectateurs. Cependant, une politique de la r&eption de t£16vision doit etre esquiss6e: c'est l'avenir de la ti­ 16vision en France qui en est bien la cons6quence168. Der Ernst der Lage wird klar, wenn man erkennt, welche Bedeutung die Ent­ scheidung fόr die eine oder andere Variante fόr den franzφsischen Rundfunk, die Rundfunkindustrie und den Fernsehzuschauer bedeutete. Entschied man sich fόr die komplette Umstellung auf den 625­Zeilenbetrieb, belieί aber den Programmbetrieb des Ersten Programms im VHF­Bereich (Bδnder I bisvutsrponmligf ΠΙ), bedeutete dies fόr die Rundfunkindustrie immer noch, daί die zukόnftigen Farbfernsehempfδnger »bi­standard«­Gerδte sein muίten, da das erste Pro­ gramm (s/w) weiterhin in VHF, das zweite Programm (das zukόnftige Farb­ programm) aber in UHF ausgestrahlt werden wόrde. Der Vorteil dieser Lφ­ sung aus Sicht der ORTF war, daί die bestehenden s/w­Empfδnger relativ einfach auf 625­Zeilen s/w­Empfδnger umgerόstet werden konnten. Dies war im Falle eines kompletten Bandwechsels (UHF­Betrieb) wesentlich aufwen­ diger. Die FNIE weigerte sich aber strikt, sich an den Kosten fόr eine solche Operation zu beteiligen, die sich mehrere Jahre hinziehen wόrde und deren Kosten sie auf 450 Millionen Francs schδtzte. »La divergence fondamentale, entre Tindustrie 61ectronique et l'ORTF«, so der Technische Direktor der ORTF, Claude Mercier, »reside dans la methode d'exploitation entre l'appa­ rition des premieres Emissions couleur [...] et l'echiance δ preciser de l'abandon des normes 819 lignes«169. Um die Nachteile mφglichst klein zu halten, die in der Phase zwischen dem Beginn der ersten Farbsendungen in den Bδndern IV und V und dem Ende der Sendungen im 819­Zeilensystem auf die franzφsischen Fernseh­ zuschauer zukamen, plδdierte die FNIE fόr eine Verdopplung der s/w­Pro­ gramme des Ersten Programms (Band I bis ΙΠ, 819 Zeilen) auf Band IV und V (625 Zeilen). Dies bedeutete de facto die Etablierung eines Dritten Pro­ 168 Claude MERCIER, Rapport sur les normes de tildvision en France, Paris, Septembre 1965, in: Ibid. S. 2. 169 Claude MERCIER, Note sur les problfemes, particuliers δ la France, pos6s par l'introduction d'un service de tilivision en couleur. Cette note analyse des points de vue exprimφs par la FNIE et l'ORTF δ l'fegard de ces problόmes au cours d'une reunion tenue le 3 fdvrier 1966 sous la ρτέ-vutsrponm sidence de M. Dupont, Directeur G£n£ral de l'ORTF, Paris, le 15 Fivrier 1966, 7 maschine­ geschriebene Seiten, hier S. 5, in: Archives du CHTV/INA. 2.4. Die Normung der Grundparameter 113 gramms (das Zweite sollte den Farbsendungen vorbehalten sein). Diese »Verdopplungsstrategie« wurde von den Verantwortlichen der ORTF auch unterstόtzt, allerdings sollte dies nur fόr den Sender der Hauptstadt Paris gel­ ten. Die FNIE forderte jedoch eine Ausdehnung dieser Technik auf zehn wei­ tere Sender, so daί mindestens 40% der Bevφlkerung von dieser Lφsung pro­ fitieren konnten. Ohne weiter auf die unterschiedlichen Details in den Szenarien der ORTF und der FNIE eingehen zu kφnnen, sollte dieser kurze Einblick verdeutli­ chen, vor welche Probleme eine staatliche Rundfunkorganisation und die Rundfunkindustrie eines Landes bei einem Normwechsel gestellt wurden bzw. werden. Sowohl in Frankreich als auch in England kulminierte dieses Ereignis mit der Einfόhrung der Farbfemsehtechnik, die den Fernsehinge­ nieuren schon genόgend Sorgen bereitete. In Frankreich kamen, wie zu zeigen sein wird, gewaltige strukturelle Probleme hinzu, da der staatliche franzφsische Fernsehrundfunk ein neues organisatorisches Gesicht erhielt (Wandel von RTF zur ORTF)170. Die Entscheidung darόber, welches Farb­ femsehόbertragungssystem letztlich zum Einsatz kam, war vor diesem Hin­ tergrund fόr die staatlichen Rundfunkanstalten in vielerlei Hinsicht »neben­ sδchlich«. 170 Ausfόhrlich hierzu BOURDON,usoledaG Τέΐένίδίοη sous de Gaulle. 114 2. Le terrain technique 2.5. »Zwischen Sόίlila und Bonbonrosa«. Die europδischen Alternativen zum NTSC Obwohl ­ wie in Kap. 2.2. gesehen ­ das National Television System Com­ mittee das Problem eines kompatiblen Farbfernsehsystems »in genialer Wei­ se«171 gelφst hatte, zeigten sich beirn Betrieb des Farbfernsehens in den USA bald gewisse Mδngel. Probleme bereiteten vor allem so genannte Phasenver­ zerrungen des Farbhilfstrδgers, die wδhrend der άbertragung der Signale durch kόnstliche (Hochhδuser) oder natόrliche (Gebirge) Hindernisse hervor­ gerufen werden konnten. Da, wie gesehen, die Phase des Farbhilfstrδgers auf optischer Ebene gleichzusetzen ist mit dem Farbton, hatten Phasenverschie­ bungen unschφne Farbtonδnderungen des Fernsehbildes zur Folge. Ein ur­ sprόnglich blauer Himmel konnte so unter ungόnstigen Empfangsbedingun­ gen purpur oder cyan erscheinen. Dieser Umstand war dafόr verantwortlich, daί die Abkόrzung NTSC unter Fernsehingenieuren auch als Synonym fόr »Never Twice the Same Colour« gebraucht wurde. Um dieser Schwδche des Systems zu begegnen, stattete man die NTSC­Empfδnger mit einem manuell zu bedienenden Regelknopf aus, mit dem der Fernsehzuschauer die Farbton­ δnderungen korrigieren konnte. Dieser Mechanismus veranlaίte manchen Kritiker dazu, sich ein wenig spφttisch όber die Qualitδt des NTSC­Systems zu δuίern. So schrieb der Redakteur der Fachzeitschrift Funkschau, Otto Li­ mann: »Der amerikanische Farbfernseh­Teilnehmer kann selbst wδhlen zwi­ schen Sόίlila und Bonbonrosa. [...] Man kann also ein mittleres Rot willkόr­ lich sowohl ins Rostbraune als auch in das Violette herόberziehen. Das lδίt dem persφnlichen Geschmack und dem Streit im Familienkreis όber die an­ genehmste Farbe breitesten Spielraum172«. In den USA kursierte der Witz, daί man beim Kauf eines Farbfernsehemp­ fδngers gleich einen Service­Ingenieur mitkaufen solle173. In der Zeitschrift »Radio­Electronics« sprach der Fernsehtechniker Homer Davidson seinen Kollegen Mut zu ­ sie sollten sich von den tδglichen Anrufen entnervter Farbfernsehzuschauer nicht aus der Ruhe bringen lassen: Will you please send a man over this morning to check my color TV? The color seems to come and go, and sometimes it's terrible. [...] It really isn't too difficult to trouble shoot color, if you progress logically through the set, function by function, stage by stage. Don't skip any links in the chain from the station signal to the CRT screen. And don't assume that something is okay just because it's supposed to be. Be sceptical, and you'll find the trouble 174 . 171 JAESCHKE, Europa vor der Einfόhrung des Farbfernsehens, S. 260. Otto LIMANN, Das Ziel der europδischen Farbfernsehnorm. Erste Farbfemsehtagung in der Φffentlichkeit, in: Funkschau 36 (1964) 14 S. 373. 172 173 174 E. R. FRIEDLΔNDER, Farbfernsehen in Groίbritannien, in: Funk­Technik 23 (1968) 7 S. 231. Homer DAVIDSON, Exploring the Jungle of Color Troubles, in: Radio Electronics 38 (1967) 1 S. 58. 2.5. »Zwischen Sόίlila und Bonbonrosa«. 115 Erstaunlich ist, daί diese technischen Mδngel des NTSC­Systems auf den amerikanischen Kunden nicht so abstoίend wirkten, wie man es vermuten kφnnte. So berichtet John Wentworth darόber, daί es fόr den »Durchschnitt­ samerikaner« kein Problem sei, den Fernsehtechniker wegen diverser Proble­ me mit seinem Farbfernsehempfδnger vier bis fόnf Mal pro Jahr zu sich zu bestellen. Selbst beim s/w­Empfδnger komme der Techniker im Durchschnitt zwei bis drei Mal pro Jahr ins Haus. Dies hatte auch mit dem Umstand zu tun, daί beim Kauf eines Farbempfδngers in den USA in fast 50% der Fδlle gegen einen geringen Aufpreis ein Kundendienstvertrag abgeschlossen wur­ de, der die zukόnftigen Serviceleistungen abdeckte. Die stδndige Verbes­ serung der produzierten Empfδnger machte das NTSC­System ab Anfang der sechziger Jahre aber zu einem durchaus stabilen System, das den Einsatz der »Farbregler« recht selten werden lieί 175 . Vielleicht lδίt sich aus diesen Aussagen auch ein grundsδtzlicher Unter­ schied zwischen Amerikanern und Europδern herauslesen, was die Erwar­ tungshaltung gegenόber technischen Artefakten angeht. An eine Technologie wird von den Amerikanern weniger der Anspruch der Perfektion als der Praktikabilitδt erhoben. Mit anderen Worten: Besser ist es, recht frόh in den Besitz einer neuen Technologie zu gelangen und ihre >Kinderkrankheiten< in Kauf nehmen, als ­ wie im Falle des Farbfernsehens in Europa ­ dreizehn Jahre bis zur Einfόhrung der neuen Technologie warten zu mόssen. Auίer­ dem wurde die Mφglichkeit der individuellen Farbeinstellung als Ausdruck der Freiheit des Individuums verkauft ­ όber Geschmack lδίt sich bekannt­ lich nicht streiten. Im Gegensatz zu dieser liberalen Einstellung gegenόber neuen Technologien stellte der >Durchschnittseuropδer< erheblich hφhere Qualitδtsanforderungen. Aus zahlreichen Gesprδchen mit europδischen Fern­ sehingenieuren geht hervor, daί eine Einfόhrung des Farbfernsehens in Euro­ pa nach der 1954 erreichten Qualitδtsstufe nicht denkbar gewesen wδre 176 . In diesem Punkt wird ein Aspekt dessen deutlich, was spδter unter dem Stich­ wort »nationale Technikstile« zu diskutieren sein wird. Ein weiteres Argument, das aus amerikanischer Perspektive fόr die frόhe Einfόhrung von »noch nicht perfekten« Technologien sprach, war im Falle des Farbfernsehens die Belebung des »Dritten Sektors« (Dienstleistungen) der Wirtschaft, d.h. des Reparaturgeschδftes. Fόr die etwas unkritischere 175 »Da in einem stetigen Fortschritt die Qualitδt der Studiosignale verbessert und die Verzer­ rung der άbertragung herabgesetzt werden, ist die Bedienung dieser Regler immer seltener not­ wendig. Sie ermφglichen jedoch gewisse Δnderungen der Farbbildwiedergabe, um dem individu­ ellen Geschmack entgegenzukommen. Farbe ist, trotz allem, eine subjektive Empfindung, und nicht alle Beobachter sind mit dem zufrieden, was ein Wissenschaftler als optimale Farbwieder­ gabe bezeichnet«. WENTWORTH, Zusammenfassung der praktischen Erfahrungen mit dem Farb­ fernsehen in den Vereinigten Staaten, S. 244. 176 Diese Interpretation wird durch die Interviews des Autors mit Lang/Hausdφrfer, Goussot, Melchior und In der Smitten bestδtigt. 116 2. Le terrain technique Aufnahme des Farbfernsehens in den USA kann noch ein weiterer Punkt als mögliche Erklärung angeführt werden: die zeitlich eng beieinanderliegende Einführung des s/w- und des Farbfernsehens. In den führenden Fernsehländern Frankreich, England und Deutschland fällt die erste, wenn auch zaghafte Verbreitung des Schwarzweißfernsehens in die Phase der späten dreißiger Jahre. Bis zur ebenso zaghaften Verbreitung der Farbfernsehtechnologie vergingen nicht weniger als dreißig Jahre. Auch wenn man die Bedeutung des Zweiten Weltkrieges als folgenschwere Zäsur in den europäischen Ländern nicht unterschätzen darf, vergingen in den USA zwischen der Einführung des s/w-Femsehens und der Einführung des Farbfernsehens nur zwölf Jahre. Während sich in den USA das »Faszinosum« Fernsehen für viele Menschen nicht in Schwarzweiß- und Farbtechnik spaltete, sondern eine mehr oder minder vage technologische Einheit bildete, ermöglichte die lange Zeitspanne zwischen Schwarzweiß- und Farbfemseheinführung in Europa ein Abebben der Faszination für das Phänomen Fernsehen bei gleichzeitigem Anstieg des kritischen Sehvermögens177. In einem Leitartikel der Fachzeitschrift Funk-Technik wird diese kulturanthropologische Differenz in der Aneignung der neuen Farbfernsehtechnologie beispielhaft herausgestellt: Der europδische Fernsehteilnehmer ist gewohnt, an das empfangene Bild hohe Anforderungen zu stellen. Automatiken und Stabilisierungen im Empfδnger geben ihm ein Fernsehbild, das auch beim Umschalten auf einen anderen Sender keiner Nachregelung bedarf. Es ist deshalb nur lo­ gisch, wenn der Fernsehteilnehmer bei dem kommenden Farbfernsehen als einer neuen Technik auch eine Stabilisierung des Farbtons als selbstverstδndlich voraussetzt. [...] Anders aber als da­ mals [bei der Einfuhrung der s/w­Technik, A.d.V.], fasziniert heute nicht das Wunder Fernsehen als solches, sondern der ein qualitativ gutes und stabiles Bild gewohnte Fernsehteilnehmer will sich einen Eindruck von der Wirkung der Farbe machen. Wenn dann die Farbqualitδt zu wόn­ schen όbrig lδίt, dann breitet sich nur zu leicht mit Windeseile die Meinung aus: >Das Farbfern­ sehen steckt noch in den Kinderschuhen<. Eine solche Meinung aber kann, wenn sie erst einmal weite Kreise erfaίt hat, den Start und den Durchbruch des Farbfernsehens erheblich erschwe­ ren Die unterschiedlichen Erwartungshaltungen der amerikanischen und europäischen Konsumenten an die Qualität der Unterhaltungselektronik sind bis heute festzustellen. Auch Walter Bruch und Heide Riedel können als Zeugen dieser These angeführt werden. In ihrem PAL-Buch berichtet Bruch über die Erfahrungen mit dem Farbfernsehen in den USA im September 1953: 177 Eine Parallele kann hier zur Einfόhrung des Hφrrundfunks in Deutschland gezogen werden. Wδhrend in den Anfangsjahren nach Beginn der φffentlichen Rundfunksendungen (1923) der »Apparat« als solcher im Mittelpunkt des Interesses stand, rόckte im Laufe der Jahre das gesen­ dete Programm in den Vordergrund der Wahrnehmung. Carsten Lenk beschreibt dieses Phδno­ men als »Domestizierung des Apparates« mit weitreichenden Folgen fόr die Sender­ (Programm­ gestaltung) und Empfδngerseite (geschlechterspezifische Aneignungsformen, Apparat wird zum Mφbelstόck etc.). LENK, Die Erscheinung des Rundfunks. Zur Domestizierung des Fernsehappa­ rates siehe SPIGEL, Make Room For TV. 178 N.N., Zur europδischen Farbfernsehnorm, in: Funk­Technik 20 (1965). 5 S. 155. 2.5. »Zwischen Sόίlila und Bonbonrosa«. 117 Als ich dann nach einem Besuch der Proben im Farbfernsehstudio der NBC die roten Haare von Heidi gesehen hatte, am Abend im Hotel dann die Sendung einschaltete und es mir mit keiner Einstellung gelang, die roten Haare so zu sehen, wie sie am Nachmittag auf den Monitoren im Studio geleuchtet hatten, da war mir klar: so konnte das fόr uns in Deutschland nicht eingefόhrt werden. Nur dann, so war jedenfalls meine Meinung, konnte uns Farbfernsehen im Heim in die angenehme Grundstimmung des Staunens, Wunderns und Behagens versetzen, wenn das Bild unverfδlscht so ankam, wie es die Macher im Studio fόr uns gewδhlt hatten 179 . Auch aus Frankreich waren ähnliche Stimmen zu vernehmen. So urteilte der Technische Generaldirektor der CSF, Roger Aubert, noch im Mai 1964, einer der wichtigsten Vorteile des SECAM-Systems sei »[...] de permettre de mettre entre les mains du public des recepteurs sans aucun reglage supplementaire pour la couleur, ce qui me parait une condition imperative pour une diffusion effective de la tdlevision en couleurs«180. Allerdings sollte sich Aubert in seiner abschließenden Einschätzung über den Ausgang der europäischen Bemühungen um einen einheitlichen Farbfernsehstandard irren, als er sagte: »Ce qui est certain, c'est qu'un seul systöme sera choisi pour l'Europe. Lequel? II est encore bien difficile de se prononcer«181. Das, was sich auf technischer Ebene im Anschluß an die Einführung des Farbfernsehens in den USA in Europa abspielte, kann mit den Worten des Funkschau-Redakteurs Otto Limann als die Suche nach einer »Automatikschaltung zum Einhalten der exakten Farbtöne« beschrieben werden182. An dieser Suche waren zahlreiche europäische Firmen beteiligt. Es muß darauf verzichtet werden, jede der entwickelten Alternativlösungen im Detail vorzustellen. Dies würde bedeuten, den Schwerpunkt der Darstellung auf die Diskussion technischer Details zu verlegen. Dabei wäre die Gefahr groß, jene übergeordnete Fragestellungen aus dem Auge zu verlieren, die im Mittelpunkt der historischen Analyse stehen sollten. Im Sinne einer historischen Innovationsforschung ist danach zu fragen, weshalb sich aus der Vielzahl technischer Alternativen gerade jene zwei Systeme (PAL und SECAM) als 179 BRUCH, RIEDEL, PAL ­ Das Farbfernsehen, S. 65 f. Etwas weniger pathetisch formuliert es Bruch 1973 in einem Interview mit Funkschau­Chefredakteur Karl Tetzner: »Ich habe gesehen, da gibt es ein amerikanisches Farbfernsehen, ich habe es studiert, ich habe es bewundert, und ich bewundere es auch heute noch, aber ich habe auch gesehen, daB die Amerikaner anspruchslose Menschen in bezug auf die Farbe sind, sich mehr schlecht als recht mit dem Gebotenen zufrie­ den geben. Und es war mir vφllig klar, daί wir niemals in der BRD auf diese Weise ein Farb­ fernsehen aufbauen kφnnten.« Interview Karl Tetzner mit Walter Bruch am 09.02.1973 in Ik­ king, 17 maschinegeschriebene Seiten, hier S. 2f., in: Privatarchiv Prof. Tetzner, Icking bei Mόnchen. 180 Roger AUBERT, La t£16vision en couleurs ­ le problfeme europ&n, in: Bulletin de la Soci£t£ Fran^aise des ilectriciens (mai 1964) S. 11. 181 Ibid. S. 11. 182 Siehe Otto LIMANN, Das Ziel der europδischen Farbfernsehnorm. Erste Farbfemsehtagung in der Φffentlichkeit, in: Funkschau 36 (1964) 14 S. 373. 118 2. Le terrain technique ernst zu nehmende europδische Konkurrenten des NTSC­Systems durchset­ zen konnten? Welche technischen, industriellen, wirtschaftlichen und politi­ schen Faktoren kφnnen als bedeutende Kontexte herausgearbeitet werden, die den Entscheidungsfindungsprozeί beeinfluίt haben? Bevor diese Fragen aus­ fόhrlich diskutiert werden, sollen die beiden Konkurrenzsysteme PAL und SECAM in knappen Zόgen technisch charakterisiert werden. 2.5.1. Das SECAM-System Wie bereits erwδhnt, war das von Henri de France entwickelte und anfangs nach ihm benannte Farbfernsehsystem eines von drei in Frankreich entwik­ kelten Systemen. Laut eigenen Aussagen hatte Henri de France bereits 1949 mit Experimenten im Bereich des elektro­mechanischen Farbfernsehens be­ gonnen183. Diese Experimente mόndeten schlieίlich 1956 in das von ihm pa­ tentierte Farbfernsehsystem »Sequentiel Couleur δ Memoire«, spδter SECAM abgekόrzt184. Was verbirgt sich hinter dieser Abkόrzung? Henri de France' Ideen beruhten auf dem Gedanken, daί man ohne wesentliche Qualitδtsein­ buίe die Vertikalauflφsung eines Farbfernsehbildes verringern konnte, da die Fδhigkeit des menschlichen Auges, Farbunterschiede bei sehr kleinen Struk­ turen (beispielsweise einen Bildpunkt) wahrzunehmen, beschrδnkt ist. De France setzte voraus, daί sich der zeitliche Verlauf der Farbinformation von einer Bildzeile zur zeitlich darauf folgenden Bildzeile nur unwesentlich δndert. Aus diesem Grunde, so seine άberlegung, brauchten die fόr die Farbinformation erforderlichen Farbdifferenzsignale (B­Y) und (R­Y) nicht gleichzeitig (simultan) όbertragen zu werden, sondern man kφnnte sie auch in jeweils zwei zeitlich aufeinander folgenden Zeilen nacheinander (sequen­ tiell) όbertragen. Im Empfδnger setzt man dann die gesamte Farbinformation aus den in zwei aufeinanderfolgenden Zeilen όbertragenen Komponenten wieder zusammen. Dies war nur mφglich, wenn es gelang, einen Speicher im Empfδnger ein­ zubauen, mit dem die Signalfolge einer Zeile fόr die Dauer einer Zeilenperi­ ode gespeichert und mit der Signalfolge der nδchsten Zeile gemeinsam ver­ arbeitet werden konnte. Als Speichermedium benutzte Henri de France eine sogenannte Verzφgerungsleitung (ligne δ retard) 185 . Diese Verzφgerungslei­ tung war das Herzstόck des SECAM­Verfahrens, und sie wurde selbst von 183 Siehe die unverφffentlichen Memoiren von Henri de France, in: Archives du CHTV/INA, S. 67f. 184 Die Patenterteilung in Frankreich erfolgte am 25. Mai 1956, in der Bundesrepublik als Pa­ tentschrift Nr. 951152 am 4. Oktober 1956. 185 Siehe das Telefiinken­Fachbuch »Farb­Fernseh­Technik«, hrsg. von der Telefunken A.G., Ulm 1966, S. 105­111. 2.5. »Zwischen Sόίlila und Bonbonrosa«. 119 Abb. 6: Vereinfachtes Schema des SECAM-Verfahrens, aus: MAYER, Technik des Farbfernsehens, S. 231. Kritikern de France' als große Erfindung gewürdigt186. Von diesen beiden Charakteristika - zeilensequentielle Übertragung der beiden Chrominanz186 Trotz der anfδnglichen Schwierigkeiten, die man bei der Realisierung einer funktionsfδhigen Verzφgerungsleitung hatte, bemerkt Johannes Mόller in einem rόckblickenden Kommentar: »Dennoch wirkte der Impuls, den Henri de France mit seiner Idee der sequentiellen άbertragung der beiden Farbkomponenten gegeben hat, in der Suche nach besseren Kodierungsverfahren wei­ ter« ­ vor allem im PAL­System! MάLLER, Die internationalen Bemόhungen um eine europδi­ sche Farbfernsehnorm, S. 235. Auch Walter Bruch bescheinigte Henri de France, mit der Ver­ zφgerungsleitung eine »geniale Idee« gehabt zu haben, allerdings nicht, ohne diese Genialitδt im nδchsten Satz ein wenig zu relativieren: »Ein guter Vorschlag, aber seine Realisation fόhrte zu anderen Schwierigkeiten«. BRUCH, RIEDEL, PAL ­ Das Farbfernsehen, S. 65. 120 2. Le terrain technique komponenten und die Notwendigkeit ihrer Verzφgerung um eine Zeile im Decoder des Empfδngers ­ erhielt das Henri de France­System den Namen SECAM (S6quentiel Couleur δ Memoire)187. Pierre Braillard beschreibt die Funktion der Verzφgerungsleitung im SECAM­System wie folgt: »Jetzt kann der Empfδnger die ganze Zeile mit den drei Grundfarben bilden: dem Rot, das er im Augenblick empfδngt, dem Blau, das er zum Zweiten Mal benutzt, und dem Grόn, das er aus der Differenz berechnet«188. Worin lag der Vorteil dieses άbertragungssystems? Wie gesehen, muίten beim NTSC­System beide Farbdifferenzsignale gleichzeitig όbertragen wer­ den, wofόr die aufwendige Quadratur­Amplitudenmodulation angewendet wurde. Da das SECAM­System die beiden Komponenten der Farbinformati­ on nacheinander όbertrug, war keine Quadratur­Modulation notwendig ­ die Anfδlligkeit des Farbhilfstrδgers gegenόber Phasenverschiebungen (das groίe Problem des NTSC­Systems) fiel somit fort. Die Modulationsart der Farb­ hilfstrδger konnte demnach frei gewδhlt werden. In seiner ersten Patent­ anmeldung verwendete das System zur άbertragung der Farbdifferenzsignale die einfache Amplitudenmodulation. Erst im Laufe weiterer Entwicklungen am System, die hauptsδchlich von Mitarbeitern de France' bei der CFT gelei­ stet wurden, meldete man im Oktober 1960 ein neues SECAM­Patent mit Frequenzmodulation der Farbdifferenzsignale an189. Der άbergang zur Fre­ quenzmodulation bedeutete, daί das SECAM­System gegenόber Phasenfeh­ lern »praktisch unempfindlich« war. Das zentrale Problem des NTSC­Sy­ stems war ­ zumindest theoretisch ­ auf diese Weise behoben190. Allerdings stellte die Realisierung einer funktionsfδhigen Verzφgerungslei­ tung fόr die Mannschaft um Henri de France in der Anfangszeit ein groίes Problem dar. Die elektrische Signalόbertragung forderte eine sehr exakt be­ rechnete Laufzeit des Signals, also der Dauer, die ein Signal fόr das Durch­ 187 In seinen Memoiren berichtet Henri de France darόber, daί es eigentlich SEQUAM hδtte heiίen mόssen, aber: »[...] alors SEQUAM, c'6tait pas trfes joli, alors on a dit: ne sonne pas bien, on va mettre SECAM, C'est restd commea5a.« Henri DE FRANCE, Mimoires, in: Archives du CHTV, S. 68. 188 Piene BRAILLARD, Die Geheimnisse des SECAM­Systems, in: Europa 16 (1965) 4 S. 50. 189 Das Patent trδgt den Namen »Perfectionnements aux dispositifs de transmission utilisant une onde module notamment en friquence«. Es wurde am 29. Oktober 1960 mit der Patentnummer 1 278 157 von Henri de France und Girard Melchior angemeldet. Fόr eine Auflistung der wich­ tigsten Patentanmeldungen im Bereich der SECAM­Empfangertechnik siehe Brevets concernant le r&epteur SECAM, in: Archives du MAE, Affaires Economiques et Financi&es, Affaires G6­ nirales, Nr. 922, dossier »SECAM en Hongrie«, 8 maschinegeschriebene Seiten. In diesem Do­ kument werden systematisch alle Anmeldedaten in auslδndischen Patentδmtern aufgefόhrt. 190 Eine ausfόhrliche Beschreibung des SECAM­Systems kurz nach dem Wechsel von der Am­ plituden­ zur Frequenzmodulation der Farbhilfstrδger beschreiben die beiden Mitarbeiter von Henri de France, Pierre Cassagne und Marc Sauvanet in ihrem Aufsatz »Le Systeme de t61£visi­ on en couleurs SECAM, comparaison avec le systfeme NTSC, in: Annales de radio£lectricit£ 63 (1961) S. 109­121. 2.5. »Zwischen Süßlila und Bonbonrosa«. 121 Abb. 7: Verzögerungsleitung aus Metall, aus: IndustrieAusstellung, Berlin 1966, S. 5, aus: Archives du CHTV/INA, Nachlaß Michel Dubail. laufen einer Fernsehbildzeile benφtigte. Nimmt man im Falle der europδi­ schen Normen eine Zeilenzahl von 625 Zeilen und eine Bildfrequenz (f B) von 25 Hz an, ergibt sich eine Zeilenfrequenz (f H) von 625zutsrihgecbaHD χ 25 = 15 625 Hz. Daraus ergibt sich fόr die Dauer einer Bildzeile folgende Gleichung: TH = 1/fH = 64 μ &. Die erste Verzφgerungsleitung, welche Henri de France zur Speicherung eines Farbdifferenzsignals benutzte, war ein 64 Meter langes Koaxialkabel von 8 mm Durchmesser, in dem ein Videosignal (Ausbreitungsgeschwindig­ keit von 300 000 km/s) eine Strecke von einem Meter pro Mikrosekunde zu­ rόcklegte. Marc Chauvierre beschrieb die Schwierigkeit, mit der eine solche Konstruktion verbunden war, auf recht anschauliche Weise: Seulement, les 64 mfetres d'un cäble qui fait environ 8 millimetres de diamfctre tiennent beaucoup de place, meme enroulis en spirale. Si j'ai bonne mdmoire, cela representait un coffre cubique d'environ cinquante centimetre de c6t6; disposd sous le r&epteur, et ne parlons pas du prix de l'ensemble. Autrement dit, avec une ligne de retard de ce type, le systfcme SECAM n'avait aucun avenir commercial et il fallait trouver autre chose 191 . Eine Lφsung dieses Problems bot die Idee, das elektrische Signal in eine Schallwelle umzuwandeln, deren Ausbreitung wesentlich langsamer war ­ dementsprechend kleiner wurden die Abmessungen des Leitungskφrpers. Am Ende des Leiters, man benutzte hierzu ein Metallstόck von ca. 20 Zenti­ metern Lδnge, wurde die Schallwelle mittels eines Signalwandlers (als piezo­ elektrisches Element wurde meist ein Barium­Titanat­Wandler benutzt) wie­ der in das elektrische Ausgangssignal umgewandelt. Die Ultraschallfrequenz 191 CHAUVIERRE, La titevision, S. 57. 122 2. Le terrain technique der akustischen Welle machte diese fόr den Fernsehzuschauer unhφrbar. Da sie zudem aus Metall gefertigt wurde, konnte sie relativ kostengόnstig in Se­ rie produziert werden. Allerdings sollte sie schon bald durch Verzφgerungs­ leitungen aus Glas ersetzt werden, da die Temperaturverδnderungen im Fern­ sehempfδnger das Metall in seiner Leitfδhigkeit beeinfluίten192. Von der ursprόnglich patentierten Idee bis zur Konstruktion eines in Serie produzierbaren SECAM­Empfδngers sollten aber fast zehn Jahre vergehen. Dem ursprόnglichen »Henri­de­France«­System mit amplitudenmoduliertem Farbhilfstrδger (SECAM I) folgte 1961 das SECAMzywutsrqponmlihgfedcbaSPGFDA Π­System mit frequenz­ modulierten Farbdifferenzsignalen. Die Frequenzmodulation machte zwar gegen Phasenfehler unempfindlich, aber da sich im Gegensatz zur Amplitu­ denmodulation der Farbtrδger nicht unterdrόcken lδίt, konnte es zu stark stφ­ renden Farbtrδgermustern auf dem Bildschirm kommen, wenn man Farbsen­ dungen mit einem s/w­Empfδnger anschauen wollte. Aus diesem Grund muίte der Farbtrδger im Coder des Senders abgeschwδcht werden, was wie­ derum zu einer grφίeren Stφrempfindlichkeit des frequenzmodulierten Si­ gnals fόhren konnte (sogenannte Rauschstφrungen)193. Schlieίlich wurden beim SECAM Iii­System fόr die Modulation der beiden Chrominanzkom­ ponenten zwei unterschiedliche Trδgerfrequenzen verwendet, um die Stφrun­ gen des kompatiblen s/w­Empfangs durch den Farbtrδger weiter zu verrin­ gern194. Letztendlich fόhrte man 1967 in Frankreich und der UdSSR das so­ genannte »SECAM nib optimalise« ein. Diese stδndige, schrittweise Modifikation des SECAM­Systems hat nicht gerade dazu beigetragen, das Image des Systems ­ vor allem bei deutschen Ingenieuren ­ zu fφrdern. Besonders deutlich tritt diese Kritik in einer Notiz von Walter Bruch an seinen Vorgesetzten Prof. Werner Nestel vom 6. Sep­ tember 1967 zutage. Hier bekannte Bruch: Wie Sie wissen, bin ich ja nach meinen letzten Experimenten nicht mehr in der Lage, so viel ge­ gen SECAM zu sagen. [...] Trotzdem bin ich nach wie vor nach allen Experimenten 100% ge­ 192 Temperaturkonstante Glasverzφgerungsleitungen waren bereits wδhrend des Zweiten Welt­ krieges konzipiert worden. Dr. Fritz Kruse entwickelte 1942 bei Telefunken ein Spezialglas, bei dem das Signal proportional zur Erwδrmung des Glases schneller lief. Allerdings war Anfang der sechziger Jahre nur die US­amerikanische Firma Coming Glass in der Lage, diese Ultra­ schall­Glasverzφgemngsleitungen herzustellen. Siehe BRUCH, RIEDEL, PAL ­ Das Farbfernsehen, S. 67 f.; N.N., Nouvelle ligne δ retard pour le SECAM, in: T616vision (1963) 133 S. 127; CAS­ SAGNE, SAUVANET, Le Systeme de t616vision en couleurs SECAM. 193 Um dies zu erreichen, wendete man die sogenannte Pre­Emphasis­Technik an. Sie besteht darin, daί das aufzumodulierende Signal im Bereich seiner hφheren Frequenzen angehoben wird. Die damit gegebene Anhebung der Signale im Bereich hφherer Modulationsfrequenzen wird im Empfδnger nach der Demodulation rόckgδngig gemacht. Siehe Telefiinken AG (Hg.), Farb­Fern­ seh­Technik, S. 106 f. 194 Jacques FAGOT, Application de la mudulation de fr6quence δ la transmission du signal de chrominance de la t616vision en couleur. £tude de la modulation SECAM, comparaison avec le NTSC, in: Annales de radio&ectriciti (janvier 1963) S. 3­15. 2.5. »Zwischen Süßlila und Bonbonrosa«. 123 Abb. 8: Henri de France, aus: Archiv des Deutschen Museums München, Nachlaß Walter Bruch, Signatur NL 101, Nr. 123. gen SECAM. Aber nur aus einem einzigen Grunde, weil SECAM sich so schwer realisieren läßt. [...] Leider läßt sich nicht in Worten ausdrücken, wie unsympathisch mir und all meinen Ingenieuren SECAM ist, weil es letzten Endes erbastelt wurde und nicht logisch enstand, daher sich mathematisch auch nicht exakt ausdrücken läßt, im Gegensatz zu PAL, das analytisch sehr einfach berechnet werden kann195. Wie »logisch« bzw. »wenig erbastelt« das PAL­System war, wird noch zu zeigen sein. Tatsδchlich ist der Prozeί der »Systemverfeinerung« des SE­ CAM­Systems vor allem als Reaktion auf den durch den neuen Konkurrenten PAL erzeugten Qualitδtsdruck zu verstehen. Seit Ende des Jahres 1962 ent­ wickelte sich zwischen beiden Systemen ein Konkurrenzkampf, der sich nicht zuletzt in immer weiteren technischen Verfeinerungen der beiden Sy­ steme niederschlug. Die schrittweise Verbesserung der Systeme ­ also >Ba­ stelei< im Sinne experimenteller Versuche ­ lδίt sich dabei genau so gut auf deutscher wie auf franzφsischer Seite konstatieren. Allerdings wurde dem SECAM­Erfinder Henri de France auch in Frank­ reich eher das Attribut eines »bricoleur de gφnie« als das eines systemati­ schen Entwicklungsingenieurs zugestanden. Diese versteckt pejorative Cha­ rakterisierung der Fδhigkeiten de France' aus den Reihen der franzφsischen Kollegen ist mit hoher Wahrscheinlichkeit dem franzφsischen Elitesystem 195 Notiz von Walter Bruch an Werner Nestel, »Vergleich PAL/SECAM«, Hannover, 6.09.1967, 2 Seiten, in: Telefunken-Archiv, Deutsches Technikmuseum Berlin, Signatur GS 1648. 124 2. Le terrain technique universitärer Ingenieurausbildung zu verdanken. Aus den Mündern erlesener »Polytechniciens« sollte die Bezeichnung »bricoleur de gönie« nicht als Lob mißverstanden werden196. Fakt ist, daß das SECAM-System seine Entwicklung vom »genialen Einfall« zum praktikablen System wesentlich den Ingenieuren der Compagnie Fran^aise de T£16vision sowie den Ingenieuren der ORTF verdankte, die Henri de France großzügig zuarbeiteten. In den Hochzeiten der Systemauseinandersetzung zwischen PAL und SECAM waren es nicht weniger als hundert Ingenieure, Techniker und technische Zeichner, die bei der CFT mit der Entwicklung des SECAM-Systems beschäftigt waren. Henri de France sah sich selber eher in der Rolle des gedanken- oder impulsgebenden »Erfinders«, der seine über Nacht ausgebrüteten Ideen am nächsten Morgen an seine Entwicklungsingenieure weitergab. Diese sollten dann überprüfen, ob sich aus seinen »Grübeleien« etwas Verwertbares machen ließ. So schreibt er in seinen Erinnerungen: Je m'endors et je me dis: sapristi, il n'y a pas de solution δ ce problfeme; alors je pose les don­ n6es et je m'endors et le lendemain matin je dis: ah! Ben, c'est ja qu'il faut, on va essayer ja... ja ne i&issit pas toujours hein, mais je dis: on va essayer ;a, je vais trouver les amis ingdnieurs, je dis: qu'est­ce que vous pensez si on essayait fa? Bon, bon, monsieur de France, on va essayer 9a, oui, c'est peut­etre δ voir, bon... 197 . Resultat dieser Arbeitsweise war, daß Henri de France nur an zwei von 25 Patenten namendich beteiligt war, die zwischen 1956 und 1967 alleine im Bereich des SECAM-Empfängers angemeldet wurden198. In den Erinnerungen enger Mitarbeiter wird Henri de France eher als »Seher zukünftiger Entwicklungen« denn als Mann des konkreten experimentellen Arbeitens beschrieben. Pierre Cassagne, der als Entwicklungsingenieur der CFT ein wichtiger SECAM-Mitstreiter von de France war, schrieb: Pour Henri de France, ce n'φtait pourtant lδ que des pdripdties qu'il laissait δ d'autres le soin de risoudre car son veritable combat 6tait toujours un peu au­delδ du prdsent. Je crois que ce fut une caractφristique constante de son action que d' avoir toumer sa inflexion vers le stade ult6rieur de dφveloppement qu'il imaginait pour l'aveniir.yvtia Π y avait lδ quelquefois de quoi dirouter ses collaborateurs souvent empetris dans les problfcmes d'intendance si l'on peut appeler ainsi la poursuite d'une am61ioration du rapport signal δ bruit ou d'un gain de quelques francs sur le coόt des circuits de reception199 196 Siehe die Interviews mit Louis Goussot, Jacques Fagot und Yves Angel. Henri DE FRANCE, M6moires, in: Archives du CHTV/INA, S. 77. 198 Es waren die engen Mitarbeiter von de France bei der CFT wie G. Melchior, D. Brouard, M. Sauvanet, C. Ragot oder P. Cassagne, welche die meisten »brevets d'am61iorations« des SE­ CAM­Empfδngers anmeldeten. Siehe Brevets concernant le rfcepteur SECAM, in: Archives du MAE, Affaires Economiques et Financteres, Affaires G6n6rales, Nr. 922, dossier »SECAM en Hongrie«, 8 maschinegeschriebene Seiten. 199 Pierre CASSAGNE, Au­delδ du prdsent, in: Bulletin du Comiti d'histoire de la television 14 (juin 1986), S. 28. Diese Nummer der Zeitschrift ist ganz der Erinnerung an Henri de France ge­ widmet und beinhaltet neben Erinnerungsfiragmenten von Marc Chauvierre, Jacques Donnay, Mi­ chel Dubail, Armand Gaillard, Andri Goubert und Andr6 Debrie auch eine Zusammenstellung 197 2.5. »Zwischen SόBlila und Bonbonrosa«. 125 Allerdings hat Henri de France die >gute Nase< bei der Abschδtzung zukόnf­ tiger technologischer Entwicklungen nur selten in profitable unternehmeri­ sche Aktivitδten umsetzen kφnnen. Wie er selbst zugibt, gehφrte ein aus­ gefeilter Geschδftssinn nicht zu seinen hervorstechendsten Charakterzόgen. Die άbernahme der Geschδftsfόhrung von Radio Industries im Jahre 1940, die durch den Einmarsch deutscher Truppen in Frankreich bedingt war, »a tr£s, trφs, trfcs mal tourne«200. Letztlich war es wohl sein »g6nie de persuasi­ on«, das Unternehmer, Banken und Politiker fόr seine Ideen zu gewinnen verstand. Bevor allerdings die Durchsetzungsstrategien auf nationaler und in­ ternationaler Ebene untersucht werden, muί mit dem PAL­System der dritte und letzte echte Konkurrent im Rennen um den potentiellen europδischen Farbfernsehstandard vorgestellt werden. 2.5.2.ytsronmlifedbaSPLDA Das PAL-System - »le troisiφme larron de la faible«201! 2.5.2.1. Die Entwicklungsgeschichte In der franzφsischen Fachzeitschrift »Television« wurde das Erscheinen des PAL­Systems im Jahre 1963 mit folgenden Worten beschrieben: »Trfcs inspi­ re du NTSC, peut­etre un peu du SECAM, cezyxwvutsrqponmlkihgfedcbaZWVTSPNLJIE dernier­ηέ de la technique TV en couleurs semble extremement intdressant, et pourrait bien devenir le troi­ sifeme lanron de la faible«202. Wie sich herausstellte, sollte der unbekannte Verfasser dieser Zeilen recht behalten. Allerdings war, wie zu zeigen sein wird, der Entwickler des PAL­Systems, Telefunken­Ingenieur Walter Bruch, mehr als nur ein biίchen vom SECAM­System inspiriert. Nach der Einfόh­ rung des NTSC­Systems in den USA im Jahre 1953 (und 1960 in Japan) wurde in mehreren europδischen Laboratorien an der Verbesserung des Sy­ stems gearbeitet. Auch in Deutschland beschδftigte man sich sowohl in der einiger Passagen der unverφffentlichten »Memoiren« von Henri de France sowie einen Lebens­ lauf desselben. 200 Henri de France wurde Prδsident von Radio Industries, weil der bisherige Prδsident, sein Schwiegervater A. Vorms, als Jude die Geschδftsfόhrung abgeben muBte. Siehe Henri DE FRANCE, Mimoires, in: Archives du CHTV/INA, S. 85 f. Yves Angel geht sogar so weit, die fi­ nanziellen Pleiten als Charakteristikum de Francescher Unternehmungen auszumachen. »La ca­ ract&istique des krachs qui ont jalonni toute sa vie est qu'δ chaque reprise de sa soci6t£ mori­ bonde par une sociiti de bonne santi, Defrance retrouvait une place de direction qui ne tardait pas δ devenir la place du patron, au moins de fait. Et quelques ann6es plus tard, le processus re­ commencait, la proie grossissant δ chaque fois. II avait le g6nie de la persuasion pour empφrter les affaires«. ANGEL, Bifcve histoire des dibuts de la tv fran;aise, S. 4. 201 Zitat aus N.N., Un troisifcme systfcme de tv couleur: PAL, in: Τέΐένίβϊοη 137 (1963) S. 238. Im Neuen Testament werden die beiden Personen, die neben Jesus gekreuzigt wurden, als »lar­ rons« (Schδcher oder Mφrder) bezeichnet. Der Ausdruck »le troisteme larron« bedeutet im όber­ tragenen Sinne »der Dritte im Bunde«. 202 Ibid. 126 2. Le terrain technique Rundfunkindustrie als auch in den Laboratorien der Landesrundfunkanstalten bzw. im zentralen Entwicklungslabor der ARD, dem Institut fόr Rundfunk­ technik (IRT) in Mόnchen, mit dem Farbfernsehen. Auch das Forschungs­ labor der Post, das Fernmeldetechnische Zentralamt (FTZ) in Darmstadt, machte ab Mitte der fόnfziger Jahre Untersuchungen zum Farbfernsehen. Pri­ mδr war diese Beschδftigung nicht mit dem Ziel verbunden, technische Ver­ besserungen des NTSC­Systems zu realisieren, sondern im Vordergrund stand das Bedόrfnis, sich mit der fόr Deutschland noch in weiter Ferne lie­ gendenden Technik ­ zumindest was ihre φffentliche Einfόhrung in Form von Farbfernsehsendungen anbelangte ­ aus wissenschaftlich­technischer Perspektive vertraut zu machen. Auch die deutsche Rundfunkindustrie be­ trachtete das Farbfernsehen bis Anfang der 1960 er Jahre eher als theoreti­ sches Aktionsfeld, da das Geschδft mit dem Schwarzweiίfernsehen erst seit Ende der fόnfziger Jahre einen realen Aufschwung erlebte. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema Farbe setzte ­ zumindest fόr die mei­ sten Firmen des Zentralverbandes der Deutschen Elektroindustrie (ZVEI) erst zu dem Zeitpunkt ein, als eine erste Sδttigungskurve im s/w­Geschδft abzuse­ hen war, was erst 1964 der Fall war 203 . Dennoch gab es vereinzelt Bemόhungen, sich dem Thema Farbfernsehen intensiver zu widmen. So auch bei der Firma Telefunken, die durch ihre in­ tensiven Kontakte zur franzφsischen CSF schon frόh mit dem Thema Farb­ fernsehen konfrontiert wurde. Bereits 1958 begann man auf Veranlassung des Direktors der Forschungsabteilung, des Vorstandsmitglieds Prof. Werner Nestel, mit der Untersuchung des NTSC­Systems in seiner an die europδi­ sche Zeilennorm und Bildfrequenz angepaίten Variante. Intensiver wurden die Beschδftigungen mit dem Farbfernsehen ab Dezember 1958. Bei einem der in regelmδίigen Abstδnden stattfindenden Besuche von Entwicklungs­ ingenieuren von Telefunken bei ihren franzφsischen Partnern der CSF in Pa­ ris fόhrte man Bruch und Nestel das mittlerweile SECAM getaufte Farbfern­ sehsystem vor. Nach Deutschland zurόckgekehrt berichtete Bruch auf der Sitzung der Funkbetriebskommission der ARD όber das SECAM­Verfahren, wo es groίes Interesse erzeugte. Man beschloί, »das Verfahren zu prόfen und in die άberlegungen fόr ein zukόnftiges Farbfernsehen einzubezie­ 203 Siehe Gesprδch Bruch bei von Bismarck (Intendant des WDR) in Kφln, Hannover, 3.7.1964, in: Archiv des Deutschen Museums Mόnchen, NachlaB Walter Bruch, Signatur NL 101, Nr. 202. Dort heiίt es: »Herr Meyer als Vorsitzender der Fachabteilung 14 erklδrte, daί die Industrie in der Fernsehproduktion eine Durststrecke bekomme und unbedingt 1967 Farbfernsehen brauche. Bismarck wollte als Einfuhrungstermin lieber 1968, weil fόr den Rundfunk die Saison erst um die Weihnachtszeit beginne; dies wurde vom ZVEI strikt abgelehnt, da die Saison mit der Funk­ ausstellung im Herbst beginnen muί«. 2.5. »Zwischen Sόίlila und Bonbonrosa«. 127 hen« 204 . Als Prόfer wurden Walter Bruch und Prof. Richard Theile vom In­ stitut fόr Rundfunktechnik (IRT) in Mόnchen benannt. Bereits am 23. De­ zember folgte aus Paris die positive Antwort, daί man dem IRT einen SE­ CAM­Coder und ­Decoder zwecks experimenteller Untersuchungen des Sy­ stems zur Verfόgung stellen werde 205 . Schon beim nδchsten Besuch von Richard Theile und Walter Bruch in Pa­ ris im Januar 1959 wurde den beiden deutlich gemacht, daί die freundliche Atmosphδre, die den beiden wδhrend ihres Aufenthaltes entgegengebracht wurde, rundfunkpolitischen Hintergedanken zu verdanken war: Die Franzo­ sen erhofften sich eine Unterstόtzung des SECAM­Systems auf der XI. CCIR­Vollversammlung in Los Angeles. Dies war aber fόr Bruch und Nestel nur denkbar, wenn sich die Franzosen auf den 625­Zeilenstandard fόr das Farbfernsehen in den Bδndern IV und V zu bewegten. Da sich diese Wende im franzφsischen Denken in Los Angeles andeutete, kam auch die deutsche Delegation mit einer gόnstigen Beurteilung des SECAM­Systems aus Los Angeles zurόck. Im April 1960 legten die Ingenieure des IRT dann die ersten eigenen Untersuchungsergebnisse des SECAM­Systems vor. In Kurzform lautete »Ergebnis Erprobung IRT« wie folgt: »SECAM in seiner Leistungs­ fδhigkeit gleich NTSC, aber verringerte Anforderungen an Sende­ und Richt­ funkgerδte« 206 . Dieses positive Gutachten aus Mόnchen fόhrte dazu, daί die Verantwort­ lichen der CSF einen offiziellen Antrag um Unterstόtzung des SECAM­Sy­ stems in Deutschland an Telefunken richtete. In den Notizen Walter Bruchs liest man: CSF sprach den Wunsch aus, Telefunken mφge sich voll und ganz gegenόber den deutschen Be­ hφrden fόr ihren Vorschlag einsetzen. Versteckte Drohung einer Zusammenarbeit mit Siemens. Zusage eines Briefes von Telefunken an CSF mit Erklδrung des prinzipiellen Interesses, aber der Notwendigkeit eigener empfangerseitiger Versuche mit CSF­Apparatur. CSF braucht einen sol­ chen Brief gegenόber den franzφsischen Behφrden. Der Brief verpflichtet uns in keiner Weise 207 . Am 10. Mai 1960 erhielten die Verantwortlichen der CSF in Paris einen Brief in vorstehendem Sinne und diese bestδtigten ihrerseits die Bereitschaft zu intensiver Zusammenarbeit. Da das SECAM­System nun auch Aufnahme in die Testversuche des Gerber­Ausschusses fand und somit in die internatio­ nale Diskussion im Rahmen der CCIR eingebunden war, bot die CSF ihrem deutschen Partner im Dezember einen »Pionier­Vertrag« an, der Telefunken 204 Siehe die chronologische Auflistung der Telefunken­CSF/CFT­Kontakte zwischen 1958 und 1967, 28 maschinegeschriebene Seiten, hier S. 2, wahrscheinlich von Walter Bruch zusammen­ gestellt, in: Bruch­Nachlaί im Archiv des Deutschen Museums Mόnchen, Signatur NL 101, Nr. 202. Im folgenden zitiert als »Telefunken­CSF/CFT­Kontakte«. 205 Ibid. S. 2. 206 Ibid. S. 4. 207 Ibid. 128 2. Le terrain technique eine bevorrechtigte Position bei der Vergabe der CSF­Patente auf dem Farb­ fernsehsektor garantieren sollte. Auίerdem wurde erwogen, auf der nδchsten CCIR­Zwischentagung in Cannes einen Unterausschuί zum Vergleich des NTSC­Systems mit dem SECAM­System zu grόnden. Beide Initiativen der Franzosen fanden in Hannover positive Reaktionen, doch als am 19. Ju­ ni 1960 ein erster Entwurf des »Pionier­Vertrages« eintraf, stellten sich die mφglichen Nachteile dieses Abkommens grφίer als die potentiellen Vorteile heraus. Zu den Vertragsklauseln heiίt es in den Aufzeichnungen von Walter Bruch: Beschδftigung mit konkurrierenden Systemen untersagt (einschlieίlich Entwicklungsaufgaben fόr andere); Zwang der Werbung fόr SECAM nicht nur in Deutschland sondern international; Kόndigungsmφglichkeiten fόr OFT, wenn Telefunken nach ihrer Ansicht nicht genug tut; fast keine Rechte fόr eventuelle eigene Erfindungen an SECAM; die fόr die Vorfόhrungen notwendi­ gen nicht spezifischen Anlagen auf eigene Kosten herzustellen. Gegenleistung: meistbegόnstigte, nicht ausschlieίliche, spδter festzulegende Schutzrechts­ und Nachbaulizenz, Beteiligung von an­ deren in Deutschland mit 10%, aus Europa mit 5% 208 . Obschon sich die Verhandlung όber den »Pionier­Vertrag« zwischen Tele­ funken und der CSF/CFT όber anderthalb Jahre hinzogen, kam es letztlich nicht zu einem Vertragsabschluί. Zwar bedeutete dies nicht, daί Telefunken seine Fφrderung des SECAM­Systems gδnzlich einstellte. Im Gegenteil. Durch die Unterstόtzung des SECAM­Systems »in Form wohlwollender Neutralitδt«209 durch Telefunken bei der CCIR Zwischentagung in Bad Kreuznach vom 13. bis 29. Juni 1962 gelang es, den Vorsitzenden der Studi­ engruppe XI, den Schweden Erik Esping, von der Notwendigkeit weiterer Systemuntersuchungen zu όberzeugen und eine endgόltige Entscheidung όber die Empfehlung eines europδischen Farbfernsehstandards aufzuschie­ ben210 Die »wohlwollende Neutralitδt« Telefunkens war aber nicht so uneigen­ nόtzig, wie dies auf den ersten Blick scheinen mag. Zum einen erhoffte man sich bei Telefunken, daί »wenn sich die deutsche Industrie mit der SECAM­ Frage beschδftigt [...], dann sollte man uns in Deutschland die Fόhrung in dieser Angelegenheit όberlassen«211. Zum anderen waren zu diesem Zeit­ punkt Walter Bruchs eigene Forschungsarbeiten an einem verbesserten »NTSC/SECAM­System« schon so weit fortgeschritten, daί sie auf dem Zweiten Internationalen Farbfernsehsymposium in Montreux im Mai 1962 208 Ibid. S.7. In den Notizen von Walter Bruch vom 18.04.1962 heiίt es: »Telefunken bietet weiterhin Unterstόtzung in Form >wohlwollender Neutralitδt an wie bisher, dabei aber weitere eigene La­ bor­Beschδftigung mit SECAM bzw. einer Kombination SECAM/NTSC«, in: Telefunken­CSF/ CFT­Kontakte, S. 12. 210 Siehe Hans RINDFLEISCH, Zwischentagung des CCIR in Bad Kreuznach in der Zeit vom 13. bis 29. Juni 1962, in: Rundfunktechnische Mitteilungen 6 (1962) S. 219. 211 Telefunken­CSF/CFT­Kontakte, S. 15. 209 2.5. »Zwischen Sόίlila und Bonbonrosa«. 129 vorgetragen werden konnten. Ein Teilnehmer der Tagung schrieb, die Vor­ fόhrungen des SECAM­Systems durch Ingenieure der CFT sowie die durch Walter Bruch prδsentierten Verbesserungen des NTSC­Systems hδtten ge­ zeigt, »daί Mφglichkeiten bestehen, die entscheidende Problematik des NTSC­Verfahrens, die Empfindlichkeit gegen differentielle Phasenverzerrun­ gen, weitgehend zu lφsen, so daί der sonst όbliche >Farbtonknopf< beim Empfδnger entfallen kann«212. Bruch behauptet in seinen Notizen sogar, er habe diesen Vortrag in Montreux nur gehalten, »damit die CFT in der Dis­ kussion auf Verbesserungen von SECAM eingehen kann«213. Dies muί, wie zu zeigen sein wird, aus mehreren Grόnden bezweifelt werden. Den Beginn seiner eigenen Entwicklungen im Sinne einer Kombination der beiden Syste­ me NTSC und SECAM datiert Bruch in internen Notizen mit dem 7. Ju­ li 1961. Dort heiίt es: »Nach Einstellung der Arbeiten an SECAM einen Ge­ danken in einem provisorischen Aufbau verwirklicht, der zum Erfolg gefόhrt hat. [...] in zeitlicher Folge das άbertragungssystem so zu durchlaufen, daί hintereinander entgegengesetzte Farbfehler entstehen und entweder in der Matrix oder auf elektrischem Wege oder durch das Auge durch optische Inte­ gration diese Fehler ausgemittelt werden«214. Bereits im November 1961 gelang es Bruch bei einem »kurzen improvi­ sierten Versuch schon erstaunlich gute Bilder« mit seiner »Variante des SE­ CAM­Sytems [...] mit Ultraschall­Verzφgerungsleitung mit Amplitudenmo­ dulation bei unterdrόcktem Trδger« zu erzielen215. Wie mehrere Stellen be­ stδtigen, fanden diese Experimente Bruchs mehr oder minder »schwarz« statt, denn Arbeiten im Bereich der Farbfernsehόbertragungssysteme lagen auίerhalb seines Forschungs­ und Entwicklungsauftrages216. Dieser sah le­ diglich Aktivitδten im Bereich der Empfδngerentwicklung vor, nicht aber im Bereich der άbertragungssysteme fόr Farbsignale. Was ihn dennoch bewog, 212 Siehe Friedrich VON RAUTENFELD, Zweites internationales Fernsehsymposion in Montreux in der Zeit vom 30. April bis 4. Mai 1962, in: Rundfunktechnische Mitteilungen 6 (1962) S. 220f. 213 Telefunken­CSF/CFT­Kontakte, S. 13. 214 Ibid. S. 7. 215 Ibid. S. 10. 2,6 In den Interviews mit Felix Heniger, Franz In der Smitten sowie mit Michael Hausdφrffer und Heinwig Lang kommt zur Sprache, daί Walter Bruch ohne konkreten Entwicklungsauftrag an »seinem« System gebastelt habe. Und dies, obwohl ihm Ende 1962 wegen der Entscheidung des Telefunken­Vorstandes, die F&E­Aufgaben zukόnftig auf den Bereich der Groίrechner zu konzentrieren, die Hδlfte der ihm in Hannover unterstehenden Entwicklungsingenieure abge­ zogen worden waren. Bruch kommentierte diesen herben Schlag fόr ihn wie folgt: »So verblie­ ben mir noch vier Ingenieure, ein Sachbearbeiter und eine Zeichnerin, dazu zwei Mechaniker und eine Fόlle mir όbertragener Entwicklungen fόr das Schwarzweiίfernsehen. Meine Absicht, zu einer anderen Firma όberzuwechseln, lieί sich nicht durchfόhren, da mein Anstellungsvertrag eine Konkurrenzklausel enthielt, die mir zwei Jahre nach dem Ausscheiden eine Arbeit auf dem gleichen Arbeitsgebiet versagte«. BRUCH, RIEDEL, PAL ­ Das Farbfernsehen, S. 70. 130 2. Le terrain technique in diesem Feld aktiv zu werden, beschrieb Bruch in seinem PAL­Vermδcht­ nis: »Bei den Untersuchungen an dem ersten SECAM waren mir bald die Mδngel aufgefallen, die seiner Einfόhrung als Einheitssystem fόr Europa im Wege standen. Das Vorpreschen der Franzosen hatte mir Mut gemacht, mich an eigenen Ideen experimentell zu versuchen«. Forschungen im Bereich des Farbfernsehens sollten ­ von dem SECAM­Auftrag abgesehen ­ »nur so weit [gehen] ­ nach den Wόnschen der Geschδftsleitung ­ , wie es die in Hanno­ ver spδter zu produzierenden Farbfernsehempfδnger betraf. Doch die mir als wichtig όbertragene Arbeit an SECAM vorschiebend, gelang es mir, ­ mehr oder minder schwarz ­ , Entwicklungen an eigenen Systemen durchzufόh­ 217 ren «. Wie Bruch in mehreren zeitgenφssischen Darstellungen betonte, ging es ihm ursprόnglich nicht darum, ein eigenes Farbfernsehόbertragungsystem zu entwickeln, sondern die vorhandenen technischen Alternativen zu optimieren. In einem internen Telefunken­Papier aus dem Jahre 1970 hat Walter Bruch dem Leiter der Telefunken­Patentabteilung, Dr. Johannesson, seine Version zur Entstehungsgeschichte des PAL­Systems vorgelegt. In dem neunseitigen Vortrag mit dem Titel »Wie kam es zu PAL und zum alternierenden Burst?« erklδrte Bruch: Ich hatte nicht die Vermessenheit daran zu denken, daί ich das NTSC­System je vom Geber her δndern kφnnte. [...] Ich selbst habe damals nie die Absicht gehabt, ein neues System zu entwik­ keln. Meine Gedanken gingen immer dahin, das NTSC­System im Empfangereingang so abzu­ wandeln, daί es fehlerlos durch den Empfδnger geht. [...] Gesucht wurde von mir eine Beseiti­ gung der Seitenbandfehler, nicht einer Beseitigung der Fehler der Grundphase. Damals war ich noch όberzeugt, daί man das mit einem Knopf einstellen kann 218 . Immer wieder betont Bruch in diesem Vortrag, daί ihn seine damaligen Vor­ gesetzten stδndig darauf hingewiesen hδtten, seine F&E­Bemόhungen ganz auf das Gebiet der Farbempfδnger zu konzentrieren, weshalb er nie auf die Idee gekommen sei, seine frόhen Ideen im Bereich der Farbsignalόbertra­ gung zu patentieren. Die Idee der sequentiellen άbertragung der Farbsignale, so Bruch, sei ihm bereits vor Bekanntwerden des »Henri de France«­Systems eingefallen. Es fδllt ein wenig schwer, diese retrospektive Darstellung Bruchs im De­ tail als »wahrheitsgetreu« zu akzeptieren, auch wenn nur indirekte Beweise als Gegendarstellung herangezogen werden kφnnen. So schreibt Bruch selber in seinem PAL­Buch, das Vorpreschen der Franzosen habe ihm Mut ge­ macht, sich »an eigenen Ideen experimentell zu versuchen«219. Dieser Schil­ 217 Ibid., S. 65. Walter BRUCH, Wie kam es zu PAL und zum alternierenden Burst?, ein Vortrag vor dem Lei­ ter der Patentabteilung, Dr. Johannesson, im Sommer 1970, in: Archiv des Deutschen Museums Mόnchen, Nachlaί Walter Bruch, Signatur NL 101, Nr. 178, 9 maschinegeschriebene Seiten. 218 219 BRUCH, RIEDEL, P A L ­ D a s F a r b f e r n s e h e n , S . 6 5 . 2.5. »Zwischen Süßlila und Bonbonrosa«. 131 Abb. 9: Walter Bruch während eines PAL-Demonstrationsvortrages 1966 vor dem Verband Deutscher Elektroingenieure (VDE) und dem Verband der Postingenieure im Auditorium Maximum der Ingenieurhochschule Hannover, aus: Archiv des Deutschen Museums München, Nachlaß Walter Bruch, Signatur NL 101, Nr. 259. derung widerspricht er an anderer Stelle, wo es heiίt, daί er sich an das »Henri de France«­System, von dessen Existenz er 1956 in Paris erstmals in einem Vortrag von R. Cahen gehφrt habe, nur »nebelhaft« erinnert habe. Ge­ nau in dieses Jahr 1956 fallen aber Bruchs erste experimentelle Versuche im Bereich der sequentiellen άbertragung der Farbhilfstrδger. Auch die Idee des alternierenden Bursts, also die Bildung des spδteren PAL­Farbsignals durch die videofrequente Umpolung, habe er in Unwissenheit der Ideen von Loughlin entwickelt, heiίt es in diesem Bericht220. An anderer Stelle gibt er aber zu, daί er, als er sein neues System erstmals auf dem Farbfernsehsym­ posium in Montreux im Mai 1962 vorgestellt habe, sogar ausdrόcklich auf die Vorarbeiten von Loughlin hingewiesen habe 221 . Diese Widersprόche scheinen auf den ersten Blick nicht von groίer Wich­ tigkeit, sollten aber in der spδteren Phase der PAL­Propagierung von ent­ scheidender Bedeutung sein, als es um die patentrechtlichen Grundlagen der Lizenzforderungen ging, die in einem spδteren Abschnitt geschildert werden. Es ist daher nicht erstaunlich, daί der erste Versuch von Bruch, sein Kom­ binationssystem von SECAM und NTSC im Jahre 1962 zu patentieren, vom deutschen Patentamt abgelehnt wurde. 220 »Der Gedanke, die Punktkombination umzupolen, ein Gedanke, den vor mir schon Herr Loughlin gehabt hatte, dessen Arbeiten ich nicht kannte, und der von ganz anderen Gesichtspunkten ausging [...]«. BRUCH, Wie kam es zu PAL und zum alternierenden Burst, S. 6. 221 BRUCH, RIEDEL, P A L - D a s F a r b f e r n s e h e n , S . 6 6 . 132 2. Le terrain technique Dieses als »Volks­PAL« oder »Simple­PAL« bezeichnete und am 29. Sep­ tember 1962 beim Deutschen Patentamt in Mόnchen eingegangene »Farb­ fernsehόbertragungssystem«, das Telefunken­intern die Bezeichnung »W 3807« trug, wurde am 17. April 1963 vom zustδndigen Sachbearbeiter zu­ rόckgewiesen. In der Begrόndung von Dipl. Ing. Kolter hieί es speziell zu Bruchs Idee der alternierenden άbertragung der Phasenlage des Farbvektors: Bei dieser Sachlage erscheint es verhδltnismδίig naheliegend, anstatt den Farbsynchronimpuls zu unterdrόcken, diesen in der Phase um 180° zu drehen. Dies ist ein in der Nachrichtentechnik bekanntes Prinzip [...] Wird der Anspruch 1 aufrechterhalten, so muί mit der Zurόckweisung der Anmeldung mangels ausreichender Erfindungshφhe und mangels Ausschaltung von un­ brauchbaren Lφsungen (zeilenfrequente Umschaltung) gerechnet werden222. Nach sechsjδhrigem Hin und Her mit der Patentbehφrde wurde im Mai 1968 die als »PAL 1« bezeichnete Patentanmeldung von Telefunken zurόckgezo­ gen, da ­ wie es in einem internen Telefunken­Schreiben heiίt ­ »wegen der zweifelhaften Offenbarung aufgrund des Zwischenbescheides vom 21.4.1967 die Aussicht [besteht], daί W 3084 versagt wird«223. Dieser Verzicht war je­ doch fόr Telefunken unproblematisch, da der Schutzumfang von W 3084 in dem Patentantrag W 3935, dem spδter tatsδchlich gewδhrten Patent, wieder­ holt wurde und somit den gleichen Schutzumfang bot. Erst das am 31.12.1962 angemeldete Patent »Ein Farbfernsehempfδnger fόr ein farb­ getreues NTSC­System«224, das spδter als »Standard­PAL«­Patent bezeichnet wurde, wurde von der Patentbehφrde akzeptiert, da es die Mittelung der von Zeile zu Zeile ankommenden Signale nicht mehr durch das Auge vorsah, sondern dies nun elektronisch im Empfδnger durch einen speziell entwickel­ ten Decoder geschah225. Es hatte also mehrerer Anlδufe bedurft, bis das PAL­System vor dem Deutschen Patentamt den Status »ausreichender Offen­ barung« erhielt. Auf Grund der Ungereimtheiten in den Selbstdarstellungen Bruchs sowie der komplizierten patentrechtlichen Lage fδllt es schwer, Bruchs erfinderi­ sche Leistung objektiv einzuschδtzen. Fest steht, daί Bruch ­ was auch in seinen frόhen PAL­Publikationen zum Ausdruck kommt ­ anfangs nicht dar­ 222 Spδtere Autoren weisen mehrfach auf Loughlins 19S1 patentierte Idee der alternierenden άbertragung der Phasenlage des Farbvektors hin. Siehe beispielsweise MάLLER, Die internatio­ nalen Bemόhungen um eine europδische Farbfernsehnorm; G. B. TOWNSEND, PAL Programm, Organization.zyvutsronmlkihgedcbaWTSRPMLJHFEDBA Α First Look at all the Problems, in: The Royal Television Society Journal 12 (1968) 1 S. 2­11. 223 Bei W 3084 handelt es sich um den Patentantrag DAS 1.161.949 (PAL 1). Siehe Aktennotiz, F&E, Hannover, 20.5.1968, in: Archiv des Deutschen Museums Mόnchen, NachlaB Walter Bruch, Signatur NL 101, Nr. 175. 224 Die Telefunken­interne Bezeichnung lautete W 3935 (»Laufzeitdemodulator«). 225 Gerhard MAHLER, Entwicklung und Einfόhrung von PAL, in: BTS ­ Broadcast Television Systems (Hg.): 25 Jahre PAL­Farbfemsehen in Deutschland, firmeninteme Publikation, 1992, S. 9. 2.5. »Zwischen SόBlila und Bonbonrosa«. 133 an dachte, seine Weiterentwicklung des NTSC-Systems als »neues System« zu propagieren. Auch wenn das - wie sein ehemaliger Mitarbeiter Gerhard Mahler betont - , was Bruch de facto in seinem Labor tat, eher auf die Entwicklung eines eigenen Systems hinauslief226. In einem Brief an den damaligen Vorsitzenden des Fachverbandes 14 des ZVEI, Herrn Boom, bekannte Bruch Ende des Jahres 1964: In jener ersten Zeit war ich noch keineswegs 100% fόr PAL. PAL war nur eine der Mφglichkei­ ten, die ich demonstriert habe, und Sie werden sich erinnern, daί ich auch das von mir entwik­ kelte SECAM­System vorgefόhrt habe und auίerdem NTSC. [...] Ich hδtte auch ­ wenn ich mich nicht fόr ein eigenes System entschieden hδtte ­ irgendwie Stellung bezogen, denn das ist so meine Alt. Ich bin heute nicht sicher, ob diese Entscheidung nicht vielleicht SECAM gewesen wδre, aber allerdings ein SECAM­System, das stark gegen das heutige SECAM­System ver­ δndert gewesen wδre. Die wesentlichen Vorteile von SECAM ­ die SECAM ohne Zweifel hat ­ sind verlorengegangen im Laufe der Entwicklung von SECAM I zu SECAMytsnmihecbSOMECA ΙΠ. Ob sich ein SE­ CAM­System hδtte finden lassen, das alle unsere Wόnsche befriedigt hδtte, ist heute nicht sicher. Aber meine Meinung ist ganz eindeutig: SECAM m nie! 211 Den bereits erwähnten Vorwurf von Walter Bruch an die Adresse von Henri de France, das SECAM-System sei »erbastelt« und nicht »logisch entwikkelt«, muß sich Bruch wohl oder übel selbst gefallen lassen. Der Weg vom »SECAM I« zum »SECAM IUb optimalisi« war nicht weniger wandlungsreich als der vom »Volks-PAL« über »Standard-PAL« bis zum »PAL-de-Luxe« - er war nur länger! Die Länge des Weges bzw. die Dauer des Optimierungsprozesses eines technischen Systems kann aber kein Indikator für die Qualität des letztlich erreichten technischen Artefakts sein. 2.5.2.2. Die Technik des PAL-Systems Obschon Bruch in einem 1973 mit Funkschau-Chefredakteur Karl Tetzner geführten Interview seine Leistung als »Verkäufer« des PAL-Systems höher einschätzte als seine »Erfindertätigkeit«228, müssen die grundlegenden technischen Charakteristika des PAL-Systems im folgenden kurz dargestellt werden. In knappen Worten umschrieb Johannes Müller, leitender Direktor des Forschungstechnischen Zentralamtes (FTZ) der Bundespost in Darmstadt, das PAL-System mit folgenden Worten: 226 Ibid. S. 6. Bei dieser Quelle handelt es sich um den von Bruch auf Tonkassette diktierten und transkri­ bierten Entwurf eines Briefes an Herrn Boom, der leider nicht datiert ist. Da im Brief aber Bezug auf die Entscheidung des ZVEI genommen wird, dessen Technische Kommission am 12.11.1964 seine Entscheidung bekanntgegeben hatte, das die deutsche Elektroindustrie das PAL­System als europδische Farbfernsehalternative unterstόtzen werde, ist eine Datierung Ende November 1964 wahrscheinlich. In: Archiv des Deutschen Museums, Nachlaί Walter Bruch, Si­ gnatur NL 101, Nr. 202, 4 maschinegeschriebene Seiten mit handschriftlichen Korrekturen von Walter Bruch. 228 Siehe Interview Prof. Tetzner mit Walter Bruch, 09.02.1973 in Icking bei Mόnchen, 17 ma­ schinegeschriebene Seiten, hier S. 2, in: Privatarchiv Karl Tetzner. 227 134 2. Le terrain technique So versuchte Walter Bruch in der Abteilung fόr Grundlagenentwicklung bei der Firma Telefun­ ken, die Vorteile der sequentiellen άbertragung der Farbkomponenten (SECAM) mit der be­ wδhrten Amplitudenmodulation mit unterdrόcktem Trδger (NTSC) zu kombinieren, um dadurch die Nachteile der schlechteren Kompatibilitδt des SECAM­Verfahrens zu umgehen. [...] Das se­ quentielle Prinzip wird im PAL­Verfahren aber nur insoweit angewendet, als nicht die einzelnen Farbdifferenzsignale, sondern nur die Phasenlage des aus beiden Faibdifferenzsignalen resultie­ renden Farbvektors zeilenweise im Wechsel όbertragen wird 229 . Im Unterschied zum SECAM­System zielt beim PAL­System das Prinzip der sequentiellen άbertragung der Farbdifferenzsignale nicht auf die Auswahl je­ weils nur eines Farbdifferenzsignals fόr die Trδgermodulation, sondern auf den periodischen Wechsel der Phasenlage eines der beidenztslihgec stets gleichzeitig gesendeten Farbdifferenzsignale. Die im NTSC­Verfahren gewδhlte Amplitu­ den­Quadraturmodulation wird also beibehalten. Der Unterschied besteht aber darin, daί jeweils von Zeile zu Zeile die Phasenlage eines der beiden Farbdifferenzsignale periodisch umgeschaltet wird ­ daher der Name PAL = Phase Alternation Line. Dadurch wechseln die durch Phasenverzerrungen hervorgerufenen Farbtonfehler entsprechend ihren Drehsinn (auf die komple­ xe Farbebene όbertragen) und kφnnen sich bei geeigneter Empfangsart aus­ mitteln230. Die eigentliche Neuheit des PAL­Systems war, die von Loughlin entwik­ kelte Idee der alternierenden άbertragung der Phasenlage mit Henri de France' Idee der zeilensequentiellen Speicherung der Farbinformation eines Farbdifferenzsignals zu kombinieren. Die Mittelung des Farbtonwertes wurde durch eine elektronische Schaltung im Empfδnger realisiert (Standard­PAL). »Richtig ausgenutzt wird das PAL­Prinzip erst mit Hilfe der ­ aus der SE­ CAM­Technik bekannten und dort fόr die wirtschaftliche Massenproduktion entwickelten ­ Ultraschall­Verzφgerungsleitung«, so die Einschδtzung des Di­ rektors des IRT in Mόnchen, Prof. Richard Theile231. Es war also die Ent­ wicklung eines speziellen Decoders mit Laufzeitleitung, die das PAL­System zu einer echten Alternative des NTSC­Systems machte. Mittels dieses Deco­ ders wurde die lang ersehnte Stabilisierung des Farbtons erreicht, die noch bei Phasenfehlern gelang, die etwa 15 mal so groί sein konnten wie jene, die bei einem normalen NTSC­Empfδnger zu starken Farbtonverzerrungen fόhrten 232 . Zentraler technischer Baustein des PAL­Systems war demnach die bereits beim SECAM­System vorgestellte Ultraschall­Verzφgerungsleitung. Auch die Verzφgerungsleitung wurde zum Streitobjekt zwischen der CFT und Telefun­ 229 MάLLER, Die internationalen Bemόhungen um eine europδische Farbfemsehnorm, S. 236. Siehe Richard THEILE, Die Entwicklung der kompatiblen Farbfernsehtechnik unter besonderer Berόcksichtigung der verschiedenen Vorschlδge fόr die άbertragung der Farbart­Signale (Farbtrδ­ germodulation), in: Rundfunktechnische Mitteilungen 9 (1965) 5 S. 241­250, hier S. 248f. 231 Ibid. S. 248. 232 M. KOUBEK, Zwanzig Jahre kompatibles Farbfernsehen. Der Stand der Farbfernsehtechnik ­ Rόckblick und Ausblick, in: Radio­Elektronikschau 16 (1966) 4 S. 210. 230 2.5. »Zwischen Sόίlila und Bonbonrosa«. 135 ken. Bereits 1964 wurde όber die mφgliche Abhδngigkeit des PAL­Systems vom SECAM­System debattiert. Dieser Streit zog sich bis 1968 hin, als zwi­ schen beiden Parteien ein sogenannter »Nichtangriffs­Pakt« geschlossen wur­ de, auf den an spδterer Stelle noch eingegangen wird. Tatsδchlich kamen Walter Bruch und seine Mitarbeiter erstmals im Mai 1960 in den Besitz einer CFT­Verzφgerungsleitung, als dem Telefunken­Labor die SECAM­Versuchs­ anlage vom IRT zu Versuchszwecken weitergeleitet worden war 233 . Bei die­ ser ersten Verzφgerungsleitung handelte es sich um ein Videoverzφgerungs­ kabel mit einem ferromagnetischen Kern als Koaxialkabel von 32 Metern Lδnge. Das Kabel ermφglichte also zwei Mikrosekunden Verzφgerung pro Meter 234 und war damit nur mehr halb so lang wie die ursprόnglich von Henri de France benutzte Leitung. Wie bereits beschrieben, wδre das SECAM­Sy­ stem mit einer solchen Verzφgerungsleitung nie als ernsthafte technische Al­ ternative zum NTSC diskutiert worden. Erst die Entwicklung einer Ultra­ schall·Verzφgerungsleitung lφste dieses Problem. Interessant ist, daί Walter Bruch immer wieder darauf hingewiesen hat, daί er es gewesen sei, der den CFT­Ingenieur Pierre Cassagne auf die Mφglichkeit einer solchen Ultraschall­ Verzφgerungsleitung hingewiesen habe. In seinem Vortrag vor dem Leiter der Patentabteilung Dr. Johannesson im Sommer 1970 hieί es diesbezόglich: Ich mφchte noch einmal ausdrόcklich darauf hinweisen, daB ich Herrn Cassagne auf die Ultra­ schallverzφgerungsleitung hingewiesen habe. Ich hatte ihn damals auf eine Leitung hingewiesen, die die Firma Mullard aus England aus Quecksilber herstellte. Ich habe selbst darauf hingewie­ sen, daB ich mit Mullard darόber Verbindungen geknόpft habe, die aber erfolglos waren, weil Mullard diese Leitungen nur fόr Radar­Zwecke gebaut hat. In der Zwischenzeit konnte sich SE­ CAM [gemeint ist sicher die CFT, A.d.V.) eine Leitung von der Firma Quarz und Silice beschaf­ fen und freundlicherweise beschaffte man fόr mich eine solche Leitung mit 235 . In mehreren Quellen erwδhnt Bruch, daί die Idee der Ultraschallverzφgerung eines elektrischen Signals eine Erfindung des Hauses Telefunken wδhrend des Zweiten Weltkrieges gewesen sei. Er habe zusammen mit dem Erfinder, Herrn Dr. Kruse, Ultraschallverzφgerungsleitungen aus Glas fόr das Gerδt »Rehbock« gebaut236. Wδhrend Bruch in seinem PAL­Buch bezόglich der 233 Telefunken­CSF/CFT­Kontakte, S. 4. Das Kabel stammte von der Hannover Firma Hackethal (heute Kabelmetall) und entspricht genau den Beschreibungen, die Marc Chauvierre όberliefert hat. Ein wenig όbertreibend erinnert sich Chauvierre: »La ligne δ retard d'Henri de France 6tait un monstre: eile 6tait constitude par des centaines de metres d'un cδble coaxial enroul6 sur lui­meme dans une caisse aussi grosse que le i£cepteur«. Siehe Marc CHAUVIERRE, Un homme passionnφ, in: Bulletin du Comiti d'hi­ stoire de la t616vision 14 (juin 1986) S. 36. Siehe auch MAHLER, Entwicklung und Einfόhrung von PAL, S. 6. 235 BRUCH, Wie kam es zu PAL und zum alternierenden Burst?, S. 5. 236 Dabei handelte es sich um die Versuchskonstruktion eines Radarmeίgerδtes. Siehe BRUCH, RIEDEL, PAL ­ Das Farbfernsehen, S. 67. Bruchs unkritische und wenig distanzierte Haltung zum Nazi­Regime und zum Zweiten Weltkrieg kommt deutlich in seinem Aufsatz »Peenemόnde 234 136 2. Le terrain technique Idee, Ultraschallverzögerungsleitungen für den Einsatz beim Farbfernsehen vorzusehen, sagt, »wer zuerst auf die Idee kam, weiß ich nicht mehr«, heißt es in eben jenem Vortrag vor Dr. Johannesson: Ich weiί noch ganz genau, daB Herr Anderson ­ heute Chef der RCA­Femsehentwicklung und Fabrikation in Indianapolis ­ mit mir sehr ausfuhrlich όber solche Leitungen diskutiert hat, weil ich einmal im Krieg ­ wohl als erster auίer dem Erfinder Herrn Dr. Kruse ­ mit Ultraschallver­ zφgerungsleitungen fόr das Gerδt >Rehbock< gearbeitet habe. Damals [Ende 1956, A.d.V.] kam mir der Gedanke auf, eine solche Verzφgerungsleitung auch fόr die Fehlerkompensation fόr das Farbfernsehen zu verwenden. SECAM war damals noch nicht erfunden237. Abgesehen von der Tatsache, daß das SECAM-System unter dem Namen »Henri-de-France«-System bereits existierte und Bruch selber im April 1956 in Paris von diesem System erfahren hatte, dauert es laut Angaben Bruchs seltsamerweise bis zum November 1961, bis er sich in Hannover mit seinem Kollegen Cassagne von der CFT über die Ultraschall-Verzögerungsleitung unterhalten haben will 238 . 1961 verfügte die CFT aber bereits über eine funktionierende Ultraschall-Verzögerungsleitung der Firma Quarz und Silice, wie aus einer Publikation der beiden CFT-Ingenieure Pierre Cassagne und Marc Sauvanet hervorgeht239. Auch in diesem Falle fällt es schwer, die »Wirklichkeit« des Erfindungsbzw. Entwicklungsprozesses zu rekonstruieren. Zum einen sind die Aussagen Walter Bruchs widersprüchlich, zum anderen decken sie sich nicht mit der französischen Überlieferung240. Fest steht, daß eine patentrechtlich abgesicherte Unabhängigkeit des PAL-Systems vom SECAM-System gerade aufgrund der in beiden Systemen verwendeten Ultraschall-Verzögerungsleitung nie festgestellt werden konnte, da beide Seiten letztlich den Gang vor das Patentgericht scheuten und sich außergerichtlich im so genannten »Nichtangriffs-Pakt« einigten241. 1942: Die Anfδnge des >Industriefernsehens<. Erinnerungen an einmalige Erlebnisse in der Pio­ nierzeit des Femsehens« zum Ausdruck. In: Funkschau 5 (1974) S. 142­146. 237 BRUCH, Wie kam es zu PAL und zum alternierenden Burst?, S. 4. 238 Ibid. S. 8 f. 239 Piene CASSAGNE, Marc SAUVANET, Le systόme de television en couleurs S E C A M en compa­ raison avec le systφme NTSC, in: Annales de Radio616ctricit£ 63 (1966) S. IIS. 240 Siehe die Interviews mit Gerard Melchior, Michel Dubail und Louis Goussot. 241 Als der CFT­Direktor Henri Peyroles auf der CCIR­Konferenz in Wien 1965 φffentlich be­ hauptete, PAL sei von SECAM­Patenten (Verzφgerungsleitung) abhδngig, bereitete man sich bei Telefunken auf eine Gegendarstellung vor. Patentanwalt Dr. Johannesson teilte dem Vorstands­ mitglied und Leiter der Forschung, Prof. Werner Nestel, in einer Note vom 31. Mai 1965 mit, daί die Idee der Ultraschallverzφgerungsleitung eine Erfindung aus dem Hause Telefunken sei. »Es ist also gerade so, daB das SECAM­System von dem genannten, allerdings lδngst erlosche­ nen Telefunken­Patent abhδngig ist.« In: Archiv des Deutschen Museums Mόnchen, NachlaB Walter Bruch, Signatur NL 101, Nr. 202. 2.5. »Zwischen SUίlila und Bonbonrosa«. 137 Abb. 10: »Einem >on-dit< zufolge geht SECAM auch noch zu Bruch», Karikatur vom November 1967, aus: Archiv des Deutschen Museums München, Nachlaß Walter Bruch, Signatur NL 101, Nr. 123. „ . . . einemzxvutronmlkihgfedbaTSROLIHGED ,Οη­dit' zufolge!!" november 1966 2.5.3. SECAM und PAL: Erfindungskontexte und Entwicklungsakteure im Vergleich Ohne im folgenden auf die reichhaltige Forschungsliteratur zum Thema »historische Innovationsforschung« oder Technikgenese eingehen zuzwutsrponmlkihgfedc können, scheint es ratsam, die soeben geschilderten Entwicklungsphasen der SECAM· und der PAL-Technologie bis zu ihrem Eintreten in die Phase der ernsthaften europäischen Standardisierungsbemühungen zu rekapitulieren242. 242 Siehe als anregenden Beitrag zu der Frage, was historische Innovationsforschung sein kann, was sie leisten kφnnte und was ihr als methodisches Instrumentarium zur Verfόgung steht den Beitrag von Karl H. MάLLER, Wie Neues entsteht, in: Φsterreichische Zeitschrift fόr Geschichts­ wissenschaft 11 (2000) 1 S. 87­128. Einen knappen, aber gut strukturierten und prδgnanten άberblick όber den Stand der historischen und soziologischen Innovationsforschung bietet Hol­ ger BRAUN­THάRMANN, Innovation. Bielefeld 2005. Einen άberblick όber die interdisziplinδre und dennoch stark wirtschaftstheoretisch dominierte Forschungslandschaft im Bereich der Inno­ vationsstudien bietet Jan FAGERBERG, Innovation. Α Guide to the Literature, in: DERS. (Hg.), The Oxford Handbook of Innovation, Oxford 2004, S. 1­26. Innovativere Ansδtze, die sich verstδrkt der Rolle des Konsumenten im Innovationsprozeί annehmen, tauchen in Fagerbergs Darstellung 138 2. Le terrain technique Fόr die beiden zentralen Akteure des hier geschilderten Entwicklungsprozes­ ses war, wie bereits mehrfach betont, nicht die Erfindung eines gδnzlich neu­ en Farbfernsehsystems die ursprόngliche Motivation ihrer Forschungsaktivi­ tδt. Vielmehr ging es beiden darum, ein vorhandenes System, dessen »Genia­ litδt« von keiner Seite in Frage gestellt wurde, zu verbessern. In der evolutionδren Logik von Thomas Hughes' Konzept der »large technological systems« handelt es sich demnach um »konservative« Innovationen, um Wei­ terentwicklungen der »radikalen« Innovation namens NTSC. Der Wunsch nach Optimierung des NTSC­Systems speiste sich aus unterschiedlichen Quellen. Zum einen galt es, das fόr amerikanische Verhδltnisse ausgelegte System (525 Zeilen bei einer Bildwechselfrequenz von 30Hz) auf seine Anwendbar­ keit im europδischen Kontext zu untersuchen. Wie gesehen bauten die frόhen Bemόhungen der Farbfernsehentwicklung in Frankreich Mitte der fόnfziger Jahre auf der Basis eines hochauflφsenden s/w­Zeilenstandards auf. Das von Henri de France vorgestellte Farbfernsehsystem war mit seiner auf 409 Zei­ len ausgelegten Zeilenzahl mit der bestehenden 819­Zeilennorm des Schwarzweiίfernsehens kompatibel. Es waren die engen Kontakte zwischen der CSF und Telefunken im Bereich der Forschung und Entwicklung (cross­ licensing­Abkommen), die dazu fόhrten, daί sich Walter Bruch im Telefun­ ken Grundlagenlaboratorium in Hannover ab 1958 intensiv mit dem SE­ CAM­System beschδftigte. Bruch untersuchte die Anwendbarkeit des Sy­ stems fόr den sogenannten Gerber­Standard, das heiίt fόr die in weiten Teilen Europas eingefόhrte 625­Zeilennorm fόr das Schwarzweiίfernsehen. Daί beide Seiten die praktische Realisierbarkeit des SECAM­Systems in zahllosen Vorfόhrungen demonstrierten, trug wesentlich dazu bei, das SE­ CAM­System als mφgliche europδische Alternative des NTSC­Systems >hof­ fδhig< zu machen. Zum anderen spiegelt sich in den Bemόhungen um die Weiterentwicklung des NTSC­Systems auch die hφhere Qualitδtsanforderung wider, welche die Europδer an die Fernsehtechnik stellten ­ vor allem im Bereich der Empfδn­ gertechnik. Wie gesehen hat dies auch mit kulturanthropologischen Differen­ zen zwischen Amerika und Europa in der Aneignung neuer Technologien zu tun243. Dieses Qualitδtskriterium muί zusδtzlich vor dem Hintergrund unter­ jedoch όberhaupt nicht auf. Siehe hierzu beispielhaft Eric VON HIPPEL, Democratizing Innovati­ on, Cambridge M.A., London 2005. 243 Als anschauliches Beispiel unterschiedlicher Aneignungsformen von Technik in verschiede­ nen kulturellen Kontexten siehe Martina HESSLER, »Mrs. Modem Woman«. Zur Sozial­ und Kul­ turgeschichte der Haushaltstechnisierung, Frankfurt a.M. u.a. 2001 sowie Onno DE WIT, Adri DE LA BRUH6ZE, Maija BERENDSEN, Ausgehandelter Konsum: Die Verbreitung der modernen Kό­ che, des Kofferradios und des Snack­Food in den Niederlanden, in: Technikgeschichte 68 (2001) 2 S. 133­156. Fόr eine vergleichende europδische Perspektive siehe Hartmut KAELBLE, Jόrgen KOCKA, Hannes SIEGRIST (Hg.), Europδische Konsumgeschichte: Zur Gesellschafts­ und Kultur­ 2.5. »Zwischen SόBlila und Bonbonrosa«. 139 schiedlicher Konsummodelle im Europa und in den Vereinigten Staaten der fόnfziger und sechziger Jahre gesehen werden244. Viele Konsumgόter, die in den Vereinigten Staaten zu dieser Zeit bereits als reale Konsumgόter be­ zeichnet werden kφnnen, hatten in den europδischen Lδndern noch den Status eines exquisiten Luxusgutes. Wδhrend der s/w­Empfδnger Ende der 1950 er Jahre in den USA in όber 80% aller Haushalte (durchschnittliche Haushalts­ grφίe: 3,27 Personen) zu finden war, betrug der Anteil in der BRD knappe 20% (durchschnittliche Haushaltsgrφίe 3,2 Personen). Eine Ausnahme in Eu­ ropa bildete Groίbritannien mit einer Fernsehgerδtedichte pro Haushalt (durchschnittliche Haushaltsgrφίe 3,15 Personen) von όber 50% Ende der 1950er Jahre245. In der Bundesrepublik Deutschland dauerte der Wandel vom Statussymbol zum Konsumgut beim s/w­Fernsehgerδtes mit Sicherheit bis in die siebziger Jahre, beim Farbfernsehgerδt gar bis Mitte der achtziger Jahre. Wie unsicher selbst Kenner der Fernsehbranche hinsichtlich der zu­ kόnftigen Entwicklung der Fernsehlandschaft noch im Jahr der Farbfernseh­ einfόhrung in der Bundesrepublik 1967 waren, zeigt folgendes Zitat des Funkschau­Chefredakteurs Karl Tetzner: »Die Zeit muί zeigen, ob der Wunschtraum der Hersteller ­ das groίe reprδsentative, ein Statussymbol darstellende Farbgerδt stδndig im Wohnzimmer und ein kleines, tragbares Schwarzweiί­Gerδt von Fall zu Fall herbeigeholt ­ in Erfόllung geht, oder ob kleinere und tragbare Farbgerδte verlangt werden, die man zu den kurzen Farbprogrammzeiten aufstellt«246. Immerhin dauerte es bis 1980, bis die Zahl der Farbempfδnger in den privaten Haushalten der Bundesrepublik zu jener der s/w­Empfδnger aufschlieίen konnte247. Was die Bewertung der erfinderischen oder innovativen Leistungen an­ geht, die in der Entwicklung des SECAM­ bzw. des PAL­Systems zum Aus­ druck kommen, ist eindeutig, daί die Arbeiten von Henri de France eher den Status einer innovativen technischen Lφsung der Farbfernsehfrage fόr sich beanspruchen kφnnen als jene von Walter Bruch. Sowohl das Prinzip der se­ quentiellen άbertragung der Farbinformation von Zeile zu Zeile als auch die geschichte des Konsums (18.­20. Jahrhundert), Frankfurt a.M., New York 1997. Als technikhi­ storisch motivierte άberblicksdarstellung siehe Wolfgang KΦNIG, Geschichte der Konsumgesell­ schaft, Stuttgart 2000. 244 Siehe SCHILDT, SYWOTTEK, Modernisierung im Wiederaufbau. Zur Konsumgeschichte in Deutschland siehe Arne ANDERSEN, Der Traum vom guten Leben: Alltags­ und Konsum­ geschichte vom Wirtschaftswunder bis heute, Frankfurt a.M. 1999. 245 Reinhard SCHNEIDER, Fernsehen in einer technisierten Welt, in: Rundfunktechnische Mittei­ lungen 8 (1964) 6 S. 316­322. Siehe auch Hans RINDFLEISCH, Der gegenwδrtige Ausbau des Fernsehrundfunks im In­ und Ausland, in: Rundfunktechnische Mitteilungen 3 (1959) S. 219­227. 246 Karl TETZNER, Die Farbe im Femsehen: Technik ­ Wirtschaft ­ Organisation, in: Radio und Femsehen 15 (1967) 2 S. 120. 247 Siehe Statistische Jahrbόcher der Bundesrepublik Deutschland. 140 2. Le terrain technique Idee der Verzφgerung und Speicherung dieser Information, um sie zusammen mit der Information der darauffolgenden Bildzeile zu verarbeiten, wurden in­ ternational als kreative Neuerungen anerkannt. Auch der spδtere άbergang zur Frequenzmodulation der Farbhilfstrδger wurde von einigen Ingenieuren als technischer Fortschritt beurteilt, auch wenn damit weitreichende Folgen im Bereich der weiteren Signalverarbeitung in der Studiotechnik verbunden waren. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei Walter Bruchs Entwicklung des PAL­Systems nicht um eine »Erfindung« im eigentlichen Sinne des Wortes. Die Schwierigkeiten, die mit der Patentierung des PAL­Systems verbunden waren, kφnnen als Indiz fόr diese These gelten. Besser wόrde man von einer intelligenten Systemoptimierung sprechen, die selbstverstδndlich fόr sich be­ anspruchen kann, wichtige neue Teilkomponenten einer Netzwerktechnologie entwickelt zu haben. Wie sich spδter zeigen sollte, war es gerade die Nδhe das PAL­Systems zum einzig in der Praxis bewδhrten System, dem ame­ rikanischen NTSC­System, die sich als entscheidender Faktor in pro­PAL­ Haltung frόherer NTSC­Verfechter erweisen sollte. Dieser Durchbruch, so die These, war weniger der technischen Genialitδt der Systemalternative PAL zuzuschreiben als vielmehr der effektiven und konsequenten Vermark­ tung des Systems durch seinen Entwickler Walter Bruch. Hier wird ein entscheidender Unterschied zwischen den beiden zentralen »Systementwicklern« Henri de France und Walter Bruch deutlich. Wδhrend Henri de France kaum auf dem internationalen Parkett zu sehen war und selbst in Frankreich das Image des Bastlers und pfeiferauchenden Grόblers besaί, welches mit der klassischen Definition eines Erfinders korreliert248, und sich diese Rolle zudem ­ so die Vermutung des Autors ­ mit der Selbst­ einschδtzung de France' deckte, haben wir es bei Brach mit einem professio­ nellen Entwicklungsingenieur eines groίen Unternehmens zu tun, dessen Forschungsaktivitδten sich in fest definierten Bahnen bewegten. Ohne damit der Logik einer »path­dependancy« von Bruchs Entwicklungsaktivitδten das Wort reden zu wollen, und darauf hinweisend, daί kaum wesentliche Unter­ schiede in der praktischen Arbeitsweise beider Forscher feststellbar sind, scheint dieser Umstand auf eine bedeutende strukturelle Differenz hinzuwei­ sen. Zwar sind die Intentionen beider Forscher δhnlich ­ beiden geht es letzt­ lich auch um die Durchsetzung der ihnen nach dem Patentrecht zustehenden Erfindervergόtung ­ , doch waren ihre unternehmerischen Motivationen ver­ schieden. Wδhrend es im Falle Henri de France auίenstehende Akteure in Form der beiden Groίkonzerne Saint­Gobain und CSF waren, die seine Pa­ tente aufkauften und in Form der Wiederbelebung der Compagnie Frangaise 248 Siehe Peter FRIESS und Peter M . STEINER, Artur Fischer und Hans­Jόrgen Warnecke spre­ chen όber Erfindungen und Kreativitδt, TechnikDialog Nr. 10 des Deutschen Museums Bonn, Bonn 1996. 2.5. »Zwischen Süßlila und Bonbonrosa«. 141 dezvutsrnmlkihgeca Τέΐένϊβΐοη zielgerichtet zu vermarkten suchten, muίte Bruch seine Ent­ wicklung gegen Widerstδnde in der eigenen Firma und in der deutschen Rundfunkindustrie behaupten. Im folgenden kommt es deshalb darauf an, diese strukturellen Differenzen in Form unterschiedlicher Entwicklungskontexte herauszuarbeiten. Besonders wichtig erscheint vor diesem Hintergrund, die zentralen Akteure im Bereich der Rundfόnkindustrie in Frankreich und der Bundesrepublik zu skizzieren. Neben den »menschlichen Akteuren«, den Entwicklungsingenieuren, Tech­ nikern und Managern, handelt es sich dabei auch um »strukturelle Akteure« (Firmen, Staaten, Standardisierungsbehφrden). Beide »Akteure« mόssen auf ihre Bedeutung fόr die Durchsetzung der Netzwerktechnologie hin untersucht werden.