Tamás Hankovszky
Die Logik der Wahrheit
In der Kritik der reinen Vernunft wird die transzendentale Analytik an zwei Stellen “Logik der Wahrheit” genannt (KrV, A 62/B 87, A 131/B 170). Dieser Ausdruck
kommt beide Male in einem Kontext vor, in dem die transzendentale Analytik
nicht nur der “Logik des Scheins”, sondern auch der reinen allgemeinen Logik
entgegengesetzt wird. Beim zweiten Mal weist auf die letztere die Bezeichnung
“bloß formale Logik” hin, und auch ich werde sie so nennen. Denn – wie Tolley
(2012) und Zinkstok (2013) überzeugend nachgewiesen haben – auch Kants
transzendentale Logik ist eine reine allgemeine Logik, zwar keine formale, aber
eher eine inhaltliche (vgl. Hankovszky 2018). In meinem Vortrag vergleiche ich
die formale Logik und die transzendentale Analytik, welche ich um des Kontrasts
willen vereinfachend “transzendentale Logik” nenne. Ich frage vor allem danach, (1) was der Unterschied ist, weswegen der formalen Logik der ehrenvolle
Titel “Logik der Wahrheit” nicht zukommt, die transzendentale Logik ihn aber
tragen darf. Um diese Frage beantworten zu können, (2) muss der Inhalt der Erkenntnisse erörtert werden. Mithilfe der so gewonnenen Ergebnisse werde ich
kurz untersuchen, (3) ob für die transzendentale Logik gilt, was Kant für die formale Logik beweist, nämlich, dass sie kein allgemeines Kriterium der Wahrheit
angeben kann.
1 Die transzendentale und die formale Logik
Bei Kant ist die formale Logik lediglich “conditio sine qua non, mithin die negative Bedingung aller Wahrheit” (KrV, A 59/B 84). Die Erkenntnisse, die ihren Regeln entsprechen, sind nicht unbedingt wahr, diejenigen aber, die ihre Regeln
verletzen, sind sicher “falsch” (KrV, A 59/B 84). Obwohl Kant die Korrespondenztheorie der Wahrheit akzeptiert (Zanetti 2002, Hanna 2006, 255 – 275) bedeutet
die Falschheit hier nicht, dass diese Erkenntnisse ihren Gegenständen nicht entsprechen. Prinzipiell dürfte diese Falschheit dies auch bedeuten, da die Gegenstände sozusagen “widerspruchsfrei” sind (vgl. Kants Formulierung des Satzes
des Widerspruchs (KrV, A 151/B 190)), die formale Logik verletzenden Erkenntnisse aber bezeichnenderweise widersprüchlich sind. Sollte aber die Falschheit
in diesem Fall dies bedeuten, so würden die nach ihrer logischen Form problemfreien Erkenntnisse mit dem Zug der Dinge korrespondieren, dass sie “widerspruchsfrei” sind. So aber wäre die formale Logik nicht nur der “negative Probierstein der Wahrheit”, sondern sie würde eine Wahrheit aussagen, die die
https://doi.org/10.1515/9783110701357-068
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Form der Gegenstände betrifft, sie wäre also die Logik der formalen Wahrheit.
Kant interpretiert aber den Begriff der Wahrheit enger, und er erkennt nur eine
inhaltliche Entsprechung als Korrespondenz, also als Wahrheit, an (Rosenkoetter
2008, Lu-Adler, 2013, Tolley 2018). So bedeutet die Falschheit der Erkenntnisse,
die nicht der formalen Logik entsprechen, nur so viel, dass sie nicht wahr sind.
Die Falschheit in diesem Fall drückt nicht ein gegensätzliches Verhältnis zwischen Erkenntnis und Gegenstand aus, sondern dass der Verstand “sich selbst
widerstreitet” (KrV, A 59/B 84) und keine Erkenntnis erzeugt, die mit den Gegenständen zu vergleichen ist. Kant streitet also alle Wahrheit der formalen Logik ab
und scheint keine Wahrheit anzunehmen, welche man heute auch “logische
Wahrheit” zu nennen pflegt. Darum ist die formale Logik nicht die Logik der
Wahrheit, auch nicht die Logik der formalen Wahrheit, sondern nur die negative
Bedingung aller Wahrheit.
Dies alles folgt daraus, dass diese Logik formal ist, d. h. sie “von allem Inhalt
der Erkenntnis […] abstrahiert” (KrV, A 58/B 83, A 55/B 79). Demgegenüber führt
Kant die transzendentale Logik als eine Logik ein, “in der man nicht von allem
Inhalt der Erkenntnis abstrahiert”, und er bringt diesen Zug sofort mit der Eigenschaft in Verbindung, dass diese Logik “bloß die Regeln des reinen Denkens
eines Gegenstandes enth[ält]” (KrV, A 55/B 80). Die transzendentale Logik
kann sich also auf Gegenstände beziehen, und sie mag auch etwas von ihnen
sagen, was ihnen entspricht, sie mag also auch eine Logik der Wahrheit im
Sinne der Korrespondenz sein – vorausgesetzt, dass sie einen eigenen Inhalt
hat, den sie über die Gegenstände aussagen kann, d. h. dass ihr Nicht-Abstrahieren vom Inhalt nicht bedeutet, dass die Gegenstände einen Inhalt als Stoff für sie
liefern. Diese Bedingung ist offenkundig erfüllt, denn diese Logik ist rein, da “sie
es bloß mit den Gesetzen des Verstandes und der Vernunft zu tun hat, aber lediglich, sofern sie auf Gegenstände a priori bezogen wird” (KrV, A 57/B 81). Es
gehört zu den Grundeinsichten von Kant, dass die transzendentale Logik, obwohl sie sich auf Gegenstände bezieht, nichts von ihnen entlehnt, sich nicht
nach ihnen “richtet”, sondern “ihnen Gesetze vorschreibt” (KrV, B 163), d. h.
sie gibt ihnen bestimmte Bestimmungen vor. Dadurch unterscheidet sie sich
von der formalen Logik, welche in ihrer völligen Abstraktheit die Gegenstände
nicht einmal erreicht, denn sie enthält nur “die schlechthin notwendigen Regeln
des Denkens, ohne welche gar kein Gebrauch des Verstandes stattfindet” (KrV,
A 52/B 76). Kant hält die transzendentale Logik eben darum für die Logik der
Wahrheit, weil sie die Prinzipien vorträgt, “ohne welche überall kein Gegenstand
gedacht werden kann” (KrV, A 62/B 87). Diese Logik kann also darum etwas mit
der Wahrheit zu tun haben, weil sie die Regeln nicht nur für das Denken überhaupt, sondern auch für das auf die Gegenstände sich beziehende Denken enthält. Diese Gegenstandbeziehung a priori, die Kant auch Inhalt nennt, macht
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sie zur Logik der Wahrheit, und das ist der Grund, weswegen “ihr […] keine Erkenntnis widersprechen [kann], ohne daß sie zugleich allen Inhalt verlöre, d. i.
alle Beziehung auf irgendein Objekt, mithin alle Wahrheit.” (KrV, A 62‒63/B 87)
Die hier angeführte Interpretation muss sich mit zwei Einwänden auseinandersetzen. Der erste von ihnen ist, dass das eben Gesagte den Eindruck erweckt,
als könne die transzendentale Logik ebenso lediglich ein formales Kriterium
(KrV, A 59/B 83‒84) liefern oder könne eine negative Bedingung der Wahrheit
sein wie die formale Logik, d. h. als ob auch sie des Titels der Logik der Wahrheit
nicht würdig wäre, sondern auch sie selbst nur ein “negativer Probierstein” sein
könnte. Der zweite Einwand könnte lauten, dass die transzendentale Logik, der
ich einen eigenen Inhalt beimesse, Kants Aussage nach nur bloße formale Prinzipien (vgl. KrV, A 63/B 88) hat, im Einklang damit, dass der Verstand in Kants
“formalem Idealism” (Prol AA 4, 337) den Erscheinungen nur eine Form a priori
bietet. Beide Einwände können durch das Klarstellen des Kantischen Inhaltsbegriffes beantwortet werden.
2 Der transzendentale Inhalt
Wie bekannt, hält Kant nicht nur die Urteile, sondern auch die reinen und empirischen Begriffe und sogar die Anschauungen für Erkenntnisse (KrV, A 320/
B 376‒377), wobei es nicht vordergründig ist zu fragen, ob diese ziemlich unterschiedlichen Erkenntnisse einen ähnlichen Inhalt haben. Glücklicherweise müssen wir uns jetzt nur mit dem Inhalt der transzendentalen Logik und der von ihr
möglich gemachten Erkenntnisse näher beschäftigen. Beschränkt man die Untersuchung auf dieses engere Gebiet, ist es zweifellos so, dass unter dem Inhalt der
Erkenntnisse das Verhältnis zwischen Erkenntnis und Gegenstand, genauer die
Beziehung der Erkenntnis auf den Gegenstand zu verstehen ist (vgl. Tolley
2014, 206‒208, Zinkstok 2013, 179‒180). Auch die Einleitung für Die transzendentale Logik behauptet das an drei Stellen. Ich zitiere nur eine von ihnen, die schon
allein unmissverständlich macht, dass der so aufgefasste Inhalt derjenige ist, der
für die Wahrheit der Erkenntnisse verantwortlich ist. Kant sagt hier, dass es kein
“allgemeines Kriterium der Wahrheit” geben kann, “da man bei demselben von
allem Inhalt der Erkenntnis (Beziehung auf ihr Objekt) abstrahiert, und Wahrheit
gerade diesen Inhalt angeht” (KrV, A 58‒59/B 83, vgl. A 55/B 79, A 62‒63/B 87).
Im Fall der empirischen Begriffe wird die Gegenstandbeziehung wenigstens
teilweise von dem empirischen Begriffsinhalt zustande gebracht, welcher bestimmt, welche Gegenstände in den Umfang des Begriffs fallen. Im Fall der Urteile
a posteriori treten zu diesem empirischen Begriffsinhalt wohl weitere inhaltliche
Elemente empirischer Natur hinzu. Wir müssen aber jetzt den Einzelheiten nicht
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nachgehen, da im Fall der transzendentalen Logik mit ganz anderen Faktoren zu
rechnen ist, denn kein empirischer Inhalt kann die Gegenstandbeziehung einer
reinen Logik sichern. Trotzdem sind die empirische und die reine Gegenstandbeziehung in einer wesentlichen Hinsicht zueinander analog. Die Ähnlichkeit besteht darin, dass auch die von der transzendentalen Logik herrührenden Erkenntnisse den Gegenständen irgendwelche Merkmale zuschreiben müssen, um sich
auf sie beziehen zu können. Der wichtigste Unterschied besteht darin, dass die
transzendentale Logik sich a priori auf die Gegenstände bezieht, dementsprechend müssen die Erkenntnisse, die durch sie zu gewinnen sind, etwas in den
Gegenständen vor aller Erfahrung erfassen. Die auf diese Möglichkeit bezogene
Frage stimmt mit der Grundfrage der Kritik der reinen Vernunft zusammen: Wie
sind wahre synthetische Urteile a priori über die Gegenstände der Erfahrung möglich? Wie kann etwas in ihnen der Erfahrung vorausgehend begriffen werden?
Auch die Antwort stimmt mit der Antwort in Kants Hauptwerk überein: Dies ist
möglich, weil wir Gesetze für die Gegenstände vorschreiben, weil sie sich nach
den Erkenntnissen des reinen Verstandes richten, und solche Merkmale annehmen, mit denen der Verstand sie a priori ausstattet.
Das Klarsehen erschwert, dass es auf der Hand liegt, die Rolle des Verstandes als Formgebung zu deuten, wobei die Form gewöhnlich als das Gegenstück des Inhalts angesehen wird. Meiner Interpretation nach ist aber das wahre
Gegenstück der Form bei Kant nicht der Inhalt, sondern der Stoff, und der “Inhalt” ist mit dem “Stoff” nicht synonym. Selbst wenn es auch eine Art der Erkenntnisse gäbe, wo der Inhalt mit dem Stoff zusammenfiele und so der Form
entgegenstünde, geht es im Falle der transzendentalen Logik sicher nicht
darum. Denn der Inhalt ist hier die Gegenstandbeziehung selbst und von Stoff
ist im Falle der reinen Erkenntnisse der transzendentalen Logik kaum zu sprechen. Es lässt sich aber zeigen, dass die letzte Bedingung der Gegenstandbeziehung des Denkens das ist, was man die a priori formgebende Tätigkeit des Verstandes nennt, d. h. es lässt sich zeigen, dass die transzendental-logische Form
der Erkenntnisse zugleich ihr Inhalt ist. Das ist es, was Kant auch “transzendentalen Inhalt” (KrV, A 79/B 105) nennt.
Gemäß der transzendentalen Deduktion der Kategorien beziehen sich die in
der transzendentalen Logik behandelten Erkenntnisse auf ihre Gegenstände dadurch, dass diese uns nur durch die transzendentale Tätigkeit des Verstandes gegeben sind. Solange die Mannigfaltigkeit der Anschauung als Stoff nicht geformt
wird, d. h. solange sie keine synthetische Einheit gemäß den Kategorien bekommt, haben wir kein Objekt, welches wir erkennen könnten. Denn “Objekt
[…] ist das, in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist.” (KrV, B 137) Stehen wir auf dem Standpunkt der transzendentalen
Logik, können wir nicht sagen, dass es Gegenstände gibt, auf die wir etwa sto-
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ßen, um danach auf sie Erkenntnisse zu beziehen. Zwar beschreibt selbst Kant
den Gebrauch der empirischen Begriffe so (Log AA 9, 94‒95),¹ aber die reinen
Verstandesbegriffe bekommen ihren Gegenstand nicht fix und fertig geliefert,
sondern sie selbst schaffen ihn, wenn der Verstand ihn durch das Formen der
Mannigfaltigkeit der Anschauung mit ihrer Hilfe zustande bringt. So bedeutet
die Gegenstandbeziehung im Falle der reinen Verstandesbegriffe kein Ausbauen
eines epistemischen Verhältnisses zu einem von uns unabhängigen Ding, sondern eine Gesetzgebung a priori für die sich nach uns richtenden, von uns abhängenden Erfahrungsgegenstände. Dabei versieht der Verstand die Gegenstände der Erfahrung mit Merkmalen, die von ihm selbst, von den reinen
Formen des Denkens stammen.
Der Verstand also “bringt auch, vermittelst der synthetischen Einheit des
Mannigfaltigen in der Anschauung überhaupt, in seine Vorstellungen einen
transzendentalen Inhalt, weswegen sie reine Verstandesbegriffe heißen, die a
priori auf Objekte gehen” (KrV, A 79/B 105). Dieser Inhalt bekommt das Attribut
“transzendental”, weil wir vermittels seiner synthetische Erkenntnisse a priori erlangen können. Wir erkennen so, was in ihnen diesem Inhalt entspricht, d. h. –
da die Kategorien “Begriffe von einem Gegenstande überhaupt” sind (KrV, B 128)
–, das Wenige, was unentbehrlich dazu ist, dass sie Objekte werden. Da die Gegenstände sich von der bloßen Mannigfaltigkeit der Anschauung dadurch unterscheiden, dass in ihnen die Mannigfaltigkeit den Kategorien gemäß eine synthetische Einheit hat, so ist das, was in den Gegenständen durch den Verstand a
priori zu erkennen ist, nichts anderes als die in ihnen liegende Synthese oder
die synthetische Form ihres Stoffes. Das ist der transzendentale Inhalt, den
der Verstand in seine Vorstellungen bringt, und der über die Gegenstände, die
diesen Vorstellungen entsprechen, a priori auszusagen ist.²
Behaupte ich z. B. von einer Erscheinung, dass ihr jetziger Zustand eine Ursache habe, so sage ich eine Erkenntnis a priori, die einer Kategorie entspricht,
über sie aus. Diese Erkenntnis ist notwendig wahr und sie ist der Grund desjenigen zufälligen Urteils, das dieser Erscheinung eine konkrete Ursache zuordnet.
Demgemäß hat die Wahrheit in einem wahren Urteil der Form “A ist Ursache
von B” zwei Schichten. Die eine von ihnen ist die Wahrheit a priori, dass B irgendeine Ursache hat, die andere ist die nur empirisch feststellbare Wahrheit, dass
diese Ursache gerade A ist. Die letztere Schicht kann nach Kant materiale oder
empirische Wahrheit heißen, die erstere Schicht, “die vor aller empirischen
Zur Kritik dieser Auffassung siehe: Martin 2003, 36‒37.
Zur Bedeutung des Zusammenhangs der Gegenstandbeziehung und der Synthese siehe Zinkstok 2013, 179‒185.
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[Wahrheit] vorhergeht, und sie möglich macht” und die “in der allgemeinen Beziehung auf die [Erfahrung] besteht”, kann “transzendentale Wahrheit” genannt
werden (KrV, A 146/B 185).
Die transzendentale Wahrheit ist also das Entsprechen eines transzendentalen Inhalts einer Erkenntnis und des Gegenstandes dieser Erkenntnis. So ist die
transzendentale Logik, die die Erkenntnisse mit diesem Inhalt versieht, Logik der
Wahrheit, und zwar der transzendentalen Wahrheit. Sie kann Logik der Wahrheit
sein, weil sie einen Inhalt, d. h. eine Gegenstandbeziehung, hat, anders gesagt,
weil sie nicht völlig von den Gegenständen abstrahiert. Obwohl sie von allem abstrahiert, was in ihnen ein empirisches Merkmal ist, abstrahiert sie nicht davon,
was ein Gegenstand zu einem Gegenstand überhaupt macht, d. h. von der Synthesis a priori in ihm. Stellen wir deshalb bloß aufgrund der transzendentalen
Logik eine Behauptung auf, die dem Gegenstand gerade diese synthetische Einheit bzw. eine zu einer Kategorie sich verknüpfende Art dieser Einheit zuschreibt,
so ist unsere Behauptung notwendig wahr, da der Gegenstand nur dadurch ein
Gegenstand ist, dass die Mannigfaltigkeit der Anschauung in ihm synthetische
Einheit bekommt. So enthält die transzendentale Logik nicht nur die negative
Bedingung der Wahrheit in sich, sondern sie begründet eine Wahrheit im
Sinne der Korrespondenz. Die Erkenntnisse aus ihr entsprechen den Gegenständen: Die transzendentallogische Form der Erkenntnisse ist zugleich Form der Gegenstände.
So sehr auch die transzendentale Analytik Logik der Wahrheit ist, sie hat mit
der materiellen Wahrheit nichts zu tun. Die im materiellen Sinne wahren Erkenntnisse beziehen sich nämlich nicht auf Gegenstände überhaupt, sondern
auf konkrete Gegenstände, und das Prinzip ihrer Gegenstandbeziehung ist
auch anders. Während eine Erkenntnis sich auf einen Gegenstand überhaupt
durch ihren transzendentalen Inhalt bezieht, bezieht sie sich auf einen konkreten Gegenstand durch ihren Stoff. Erstere gibt ihr eine transzendentale Wahrheit,
letztere kann ihr eine materielle Wahrheit geben. Im Falle der Erfahrungserkenntnisse hängen diese zweierlei Gegenstandbeziehungen und zweierlei Wahrheiten eng zusammen, sie sind aber voneinander begrifflich gut zu unterscheiden, da der Stoff und der transzendentale Inhalt nicht gleich sind. Diese
Unterscheidung bietet einen Schlüssel zur Interpretation des Absatzes, nach
dem die Logik kein allgemeines Kriterium der Wahrheit angeben kann (KrV,
A58‒59/B 83).
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3 Das allgemeine Kriterium der transzendentalen
Wahrheit
Dieser Absatz gehört zu einem Unterabschnitt über die formale Logik und es geht
aus ihm hervor, dass sie im Prinzip deswegen kein allgemeines Wahrheitskriterium liefern kann, weil sie von der Verschiedenheit der Gegenstände der Verstandeserkenntnis abstrahiert (KrV, A 54/B 78). Wenn nämlich die “Wahrheit in der
Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstande besteht, so muß dadurch dieser Gegenstand von andern unterschieden werden; denn eine Erkenntnis ist falsch, wenn sie mit dem Gegenstande, worauf sie bezogen wird, nicht
übereinstimmt, ob sie gleich etwas enthält, was wohl von andern Gegenständen
gelten könnte.” (KrV, A 58/B 83) Nun abstrahiert auch die transzendentale Logik
als allgemeine Logik, wenn auch nicht von den Gegenständen, doch von den Unterschieden zwischen ihnen. So könnte es scheinen, als könne auch sie kein allgemeines Kriterium der Wahrheit angeben. Aus dem bisher Gesagten folgt jedoch, dass die Überlegungen des Absatzes über das Wahrheitskriterium nur
für die formale Logik gelten.³
Wir haben nämlich aufgrund der Unterscheidung von Inhalt und Stoff die
transzendentale Wahrheit der materiellen Wahrheit entgegengesetzt, Kants Argumentation über das Wahrheitskriterium betrifft aber nur das Letztere. Ihre Konklusion sagt lediglich aus, dass “von der Wahrheit der Erkenntnis der Materie
nach […] sich kein allgemeines Kennzeichen verlangen” lässt (KrV, A 59/B 83).
Die materielle Wahrheit, die mit den individuellen, empirischen Bestimmungen
der Gegenstände verbunden ist, kann eine Eigenschaft solcher Erkenntnisse
sein, deren Gegenstandbeziehung der Stoff der Erkenntnis sichert. Zum Behuf
der Angabe der Kriterien der mit dem transzendentalen Inhalt der Erkenntnisse
verbundenen transzendentalen Wahrheit ist es dagegen nicht nötig, die materielle Seite der Erkenntnis zu berücksichtigen, d. h. wir können alles außer
Acht lassen, was in ihr denjenigen Merkmalen entspricht, die den Gegenständen
eine Individualität verleihen. Hierfür bereitet der Aspekt, der im Falle der formalen Logik sich als entscheidender erwiesen hat, keine Schwierigkeit, wenn wir
das Kriterium der transzendentalen Wahrheit von der transzendentalen Logik erwarten.⁴ Dieses Kriterium lässt sich so formulieren. In der Hinsicht des transzendentalen Inhalts sind alle Erkenntnisse wahr oder alle Erkenntnisse sind trans Es ist sogar möglich, dass sie gerade darum in die für die Unterscheidung der formalen und
der transzendentalen Logik gewidmete Einleitung gekommen sind, um ihre gegenseitige Abgrenzung zu verdeutlichen (Rosenkoetter 2009, 202).
Zu einer ähnlichen Erörterung der Kriterien der Wahrheit siehe: Hanna 2006, 75 – 282; hier 281.
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zendental wahr, die nicht gegen die Regeln der transzendentalen Logik verstoßen. Dies ist, obwohl nicht das Kriterium der ganzen Wahrheit, da es sich auf
die materiale Wahrheit nicht bezieht, doch das allgemeine Kriterium der Wahrheit, da es “von allen Erkenntnissen, ohne Unterschied ihrer Gegenstände,
gültig” (KrV, A 58/B 83) ist.
Zusammenfassend kann Folgendes gesagt werden. Die transzendentale
Logik kann ein allgemeines Wahrheitskriterium angeben, da sie eine allgemeine
Logik ist, und sie kann im Unterschied zur ebenso allgemeinen formalen Logik
ein Kriterium der Wahrheit im Sinne der Korrespondenz angeben, da sie einen
Inhalt hat, demzufolge sie die Logik der Wahrheit ist.
Literaturverzeichnis
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Rohden, Ricardo R. Terra, Guido A. Almeida, Margit Ruffing (Hg.): Recht Und Frieden in
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Zinkstok, Johannes Theodoor (2013): Kant’s Anatomy of Logic. Method and Logic in the
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portal/files/14411737/Zinkstok_Thesis.pdf, besucht am: 23. 8. 2020.