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Deutsch als Fremd- und Minderheitensprache in Ungarn

Deutsch als Fremd-und Minderheitensprache in Ungarn: Historische Entwicklung, aktuelle Tendenzen und Zukunftsperspektiven Pädagogische Hochschule Karlsruhe Eötvös-Loránd-Universität Budapest Herausgeber Frank Kostrzewa/Roberta V. Rada (Hgg.) Unter Mitarbeit von Elisabeth Knipf-Komlósi Vorwort Bei dem vorliegenden Band zur Situation der deutschen Sprache in Ungarn handelt es sich um eines der Ergebnisse einer Kooperation der germanistischen Abteilungen der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe und der Eötvös-Loránd- Universität in Budapest im Rahmen des Erasmus Programms. Die von den ungarischen Kolleginnen und Kollegen verfassten Beiträge umfassen thematisch ein breites Spektrum und fokussieren dabei zum einen auf Fragen der Sprachenpolitik und Möglichkeiten der Sprachförderung (vgl. den Beitrag von Rada: „Sprach(en)politik und Möglichkeiten der gezielten Sprachförderung im Bereich DaF in Ungarn“) und zum anderen auf Fragen der deutschsprachigen Hochschulausbildung außerhalb (vgl. den Beitrag von Szabó: „Deutschsprachige Hochschulausbildungen (außer Germanistik) in Ungarn“) und innerhalb der Germanistik (vgl. den Beitrag von Orosz/Rada: „Germanistik in Ungarn. Herausforderungen und Perspektiven“). Andere thematische Schwerpunkte betreffen den deutschsprachigen Fachunterricht in Ungarn und die damit verbundenen Implikationen für die Lehrerausbildung (vgl. den Beitrag von Árkossy: „Deutschsprachiger Fachunterricht in Ungarn -Lehrerausbildung für den bilingualen Geschichtsunterricht an der Eötvös-Loránd-Universität in Budapest“) sowie die Situation des Deutschunterrichts an ungarischen Schulen (vgl. den Beitrag von Müller: „Die Situation des Deutschunterrichts in Ungarn“). Einweiterer Beitrag MártaMüllersfokussiert aufdie Situationdes Schulwesens für diedeutsche Minderheit in Ungarnund nimmt hierbeidie vorschulische und schulische Situation in den Blick. Im Beitrag von Maria Erb „Sprachgebrauch der Ungarndeutschen: Geschichte -Tendenzen -Perspektiven“ steht die Untersuchung der Sprachgegenwart der Ungarndeutschen unter Berücksichtigung der historischen Dimensionen im Zentrum der Analyse. Dabei kommt die Verfasserin zu dem Schluss, dass die Dialekte im Rückgang begriffen sind und eine Tendenz zur Orientierung an der Standardvarietät zu beobachten ist. Damit gingen erhebliche funktionelle und strukturelle Verluste einher. Gábor Kerekes beschäftigt sich in seinem Beitrag „Goethe, Golf, Adolf und die Toten Hosen -Das Bild der Ungarn von Deutschland und den Deutschen“ mit der Frage „was für ein Bild über Deutschland in Ungarn vorherrschte, wie undauf welcheWeise Deutschland unddie deutsche KulturinUngarn vertreten waren und welches Bild sich in Ungarn auf Grund welcher Repräsentanten Deutschlands verbreitet und festgesetzt hat“. In seiner Analyse berücksichtigt er auch die Rolle des Ungarndeutschtums. Der letzte Beitrag dieses Bandes von András Komáromy stellt die gegenwärtige Situation des Sprachenprofils „Wirtschaftsdeutsch“ in Ungarn dar. iii Hierbei wird vor allem die Bedeutung deutscher Sprachkenntnisse in deutsch- ungarischen Wirtschaftsbeziehungen beleuchtet. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal herzlich allen an diesem Band beteiligtenungarischenKolleginnenundKollegenfürdieerfolgreicheundangenehme Zusammenarbeitdanken. EinbesondererDankgebührtabschließendauchmeiner wissenschaftlichen Hilfskraft, Frau Hannah Kloidt, für ihre kenntnisreiche und gründliche redaktionelle Bearbeitung der Beiträge. Frank Kostrzewa Der vorliegende Band ist Ergebnis eines gemeinsames Projekts zwischen der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe und dem Germanistischen Institut der Eötvös-Loránd-Universität in Budapest, das im Rahmen einer ERASMUS- Partnerschaft entstanden ist. Der Anlass zu diesem Projekt mit dem Rahmenthema „Deutsch in Ungarn” geht zurück auf die Initiative von Kollegen und Studenten beider Institute, die es für wichtig erachteten, ein gerafftes, doch in seinen wesentlichen Zügen umrissenes Gesamtbild über die Repräsentanz des Deutschen (der deutschen Sprache und Kultur) in Ungarn zu erhalten. Dieses Gesamtbild ist einerseits für die aus Deutschland anreisenden ERASMUS Studenten wichtig, dass sie ein Bild über die Rolle und Positionierung des Deutschen im heutigen Ungarn bekommen. Zum anderen ist es auch für die DaF-und DaM (d.h. Deutsch als Minderheitensprache) Studenten in Ungarn wichtig, dass sie mehrere Aspekte und Facetten der deutschen Sprache, Kultur sowie des Deutschunterrichts in Ungarn in einem Überblick ins Auge fassen können. Somit haben wir zugleich die Zielgruppen angegeben: gemeint sind Studierende und Interessenten der Germanistik auf dem deutschen Sprachgebiet, die im Rahmen eines Austauschprogramms für kürzere oder längere Zeit zu ihren Studien an einer ungarischen Universität einen weiteren Horizont über die deutsch-ungarischen Beziehungen bekommen, zum anderen sind die Germanistikstudenten in Ungarn als Zielgruppe gemeint, die als Einstieg in ihre Germanistikstudien die vielfältigen Handlungszusammenhänge des Deutschen in Ungarn besser verstehen können. Vor diesem Hintergrund haben wir das Themenspektrum weit gefasst: Wir trachteten danach, die gegenwärtige Situation der deutschen Sprache in Ungarn aus soziolinguistischen, literaturhistorischen, kontaktologischen sowie aus Aspekten der Bildung und des Unterrichts auf verschiedenen Stufen und Bildungsebenen zeitnah zu beleuchten. Die deutsche Sprache ist in der Geschichte Ungarns seit dem 10. Jahrhundert fest verankert, es gab sogar Zeiten, als Deutsch als einzige offizielle Sprache und Schulsprache des Landes galt. Nach der Wende in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts erlebte die deutsche Sprache eine wahrhaftige Renaissance, die jedoch in unseren Tagen – entsprechend den weltweit wahrnehmbaren Tendenzen – beachtlich zurückging. Dennoch kann in Ungarn die deutsche Sprache iv nach Englisch als die zweit meistgewählte Fremdsprache eine gute Position ihr eigen nennen. Die Handlungsfelder, in denen sie relevante gesellschaftlichen Funktionen in Ungarn innehat, sind immer noch: Deutsch als Fremdsprache (DaF), Deutsch als Minderheitensprache, als die Sprache der zweitgrößten nationalen Minderheit in Ungarn, mit bestimmten Aspekten der Bilingualität der Sprecher dieser Sprachgemeinschaft. Drittens ist Deutsch als Arbeitssprache in bestimmten Segmenten im wirtschaftlichen Sektor (ausländische Firmen) vorhanden. Die Beiträge in diesem Band widerspiegeln die inhaltlich-thematische Akzentsetzungdieser Funktionen. DiegenanntendreiBereicheundFunktionen des Deutschen in Ungarn umfassen somit Teilbereiche der Wissenschaft (Forschungen in der Germanistik zur germanistischen Literatur, Linguistik, Kultur, Unterrichtswesen), der Bildung und Kultur sowie Segmente der Wirtschaft, in denen die deutsche Sprache und Kultur in Ungarn präsent ist und positioniert ist. Die Beiträge des vorliegenden Bandes stammen von Kolleginnen und Kollegen des Germanistischen Instituts der ELTE, die als kundige und zum Thema forschende Experten bekannt sind. An dieser Stelle sei ihnen allen ein Dankeschön für ihre hilfsbereite Mitarbeit ausgesagt, dem Mitherausgeber, Prof. Dr. Frank Kostrzewa für die Initiative und freundliche Kooperation sowie für sein Engagement, den Band in Deutschland bei dem renommierten Schneider Verlag publizieren zu können. Budapest, im August 2010 Elisabeth Knipf-Komlósi und Roberta V. Rada (Budapest) v vi Inhaltsverzeichnis Vorwort iii Sprach(en)politik und Möglichkeiten der gezielten Sprachförderung im Bereich DaF in Ungarn 1 Roberta V. Rada Deutschsprachige Hochschulausbildungen (außer Germanistik) in Ungarn 37 Dezsõ Szabó Germanistik in Ungarn. Herausforderungen und Perspektiven 49 Magdolna Orosz/Roberta V. Rada Deutschsprachiger Fachunterricht in Ungarn – Lehrerausbil-dung für den bilingualen Geschichtsunterricht an der Eötvös-Loránd- Universität Budapest 65 Katalin Árkossy Die Situation des Deutschunterrichts in Ungarn 74 Márta Müller Die Situation des Schulwesens für die deutsche Minderheit in Ungarn. Vom Kindergarten bis zur Schule 96 Márta Müller Sprachgebrauch der Ungarndeutschen: Geschichte – Tenden-zen – Perspektiven 118 Maria Erb Goethe, Golf, Adolf und die Toten Hosen. Das Bild der Ungarn von Deutschland und den Deutschen Gábor Kerekes 147 Wirtschaftsdeutsch in Ungarn András Komáromy 180 vii viii Sprach(en)politik und Möglichkeiten der gezielten Sprachförderung im Bereich DaF in Ungarn Dr. Roberta V. Rada (PhD) Eötvös-Loránd-Universität Germanistisches Institut Rákóczi út 5. 1088 Budapest Einleitung Es ist fast schon bis zum Überdruss bekannt, dass Ungarn hinsichtlich der Fremdsprachenkenntnisse seiner erwachsenen Bevölkerung im internationalen Vergleich ziemlich schlecht abschneidet, das Land nimmt einen der letzten Plätze unter den EU-Staaten ein. Aus den 90er Jahren stehen uns Daten des Ungarischen Statistischen Zentralamtes zur Verfügung, die uns darüber informieren, dass auf der Basis der persönlichen Einschätzung der Fremdsprachen- Kenntnisse insgesamt 4,4% der ungarischen Bevölkerung Deutsch, 2,2% Englisch, 1,5 % Russisch und 0,5% Französisch sprechen. Nelde / Vandermeeren / Wölck 1991 charakterisieren die Situation, gestützt auf empirische Daten, wie folgt: „der Besucher [wird] (...) von einem so erstaunlich hohen Grad von Einsprachigkeit überrascht“ und „ein Fremder [hat – R.R.] ohne gute Sprachkenntnisse des Ungarischen große Verständigungsschwierigkeiten“ (Nelde / Vandermeeren / Wölck 1991: 80). Zehn Jahre später hat sich die Situation nicht wesentlich verbessert. Aus der Untersuchung des Meinungsforschungsinstituts Gallup geht hervor, dass Anfang der 90er Jahre lediglich ein Viertel der Ungarn von sich behauptete, an einem in deutscher, englischer oder französicher Sprache geführten Gespräch auf einem bestimmten Niveau teilnehmen zu können, wobei 2001 die meist gesprochene Fremdsprache (FS) in Ungarn das Deutsche war (vgl. www1, www2). Es ist jedoch weniger bekannt, dass die Ungarn im neuen Jahrtausend so manche Erfolge bezüglich ihrer FS-Kenntnisse erzielen konnten. Die Zahl der Ungarn, die von sich selbst behaupten, eine FS sprechen zu können, beläuft sich mittlerweile auf 42%. Eine vergleichbare Prozentzahl ergab sich bei der Bevölkerung der mediterranen Länder, die übrigens Weltsprachen als Muttersprache sprechen. Ein vielversprechendes Zeichen ist 1 Roberta V. Rada des Weiteren, dass der Anteil der Ungarn, die zwei FS sprechen, 27% beträgt, während etwa 20% der Befragten behaupteten, in drei FS kommunizieren zu können. Die meisten Ungarn scheinen auch dem wichtigsten sprachenpolitischen Prinzip der EU verpflichtet zu sein, zumal zwei Drittel der Befragten es für wichtig halten, neben der Muttersprache zwei FS beherrschen zu können (vgl. Vágó 2006: 1). Dieser Erfolg basiert grundsätzlich auf der Verbesserung der FS-Kenntnisse der jüngeren Generation. Zwischen 2002 und 2005 haben in Ungarn 531.433 Personen eine staatliche Sprachprüfung erfolgreich bestanden, beinahe die Hälfte dieser Gruppe bildeten Jugendliche zwischen 14 und 19 Jahren (vgl. Vágó ebd.). Auch aus diesen Daten geht hervor, dass in Ungarn – wie auch in anderen europäischen Ländern – die öffentliche Bildung als Motor des Fremdsprachenunterrichts anzusehen ist. Imfolgenden Beitrag wird der Versuch unternommen, den institutionalisierten Fremdsprachenunterricht vor dem Hintergrund der ungarischen Sprachen- und Bildungspolitik unter die Lupe zu nehmen, und zwar mit besonderer Berücksichtigung von Deutsch als Fremdsprache. In Ungarn hat der Deutschunterricht eine lange Tradition. Dies kann einerseits historisch begründet werden, zumal die deutsche „Sprache, Literatur und Kultur in Ungarn eine Geschichte [haben], die so alt ist wie die Geschichte der Nachbarschaft der beiden Sprachgebiete“(Rainer 2001: 1544). Andererseits beherbergt Ungarn eine deutschsprachige Minderheit, die sowohl zahlenmäßig als auch kulturell gesehen die bedeutendste in Ungarn ist. Die institutionalisierte Tradition von Deutsch als Fremdsprache datiert Rainer seit der Sprachverordnung von dem Habsburger Kaiser Josef II. Im Sinne der am 26. April 1784 erlassenen Verordnung sollte Latein, die bisherige Amtsund Schulsprache, auf dem ganzen Gebiet des Habsburgerreiches durch das Deutsche abgelöst werden. Im selben Jahr wurde an der Pester Universität ein Lehrstuhl für Germanistik gegründet, der sich mit der Erforschung und Lehre des Deutschen befasste. Dieser Lehrstuhl war der Vorläufer des heutigen Germanistischen Instituts an der Eötvös-Loránd-Universität in Budapest, und somit der zweitälteste nach Wien in Europa. Bis 1918 wurden weitere vier germanistische Lehrstühle gegründet. Einer in Klausenburg, der nach 1921 wegen der Abtretung von ungarischen Gebieten im Sinne des Friedensvertrags von Trianon nach Szeged verlagert wurde, ein zweiter in Debrecen, ein dritter in Pressburg (der nach dem 1. Weltkrieg der Slowakei zugesprochen wurde) und ein vierter in Pécs. Bis zum zweiten Weltkrieg galt Deutsch sowohl in der öffentlichen Bildung, als auch im Hochschulbereich, als die wichtigste FS (vgl. Rainer 2001: 1544). Der Aufschwung des organisatorischen und fachlichen Ausbaus der wissenschaftlichen Germanistik aber auch die Priorität des Deutschen als FS in der öffentlichen Bildung haben mit dem verlorenen zweiten Weltkrieg einen enor 2 Roberta V. Rada men Einbruch erlitten, so dass Ende 1949 beispielsweise das Fach Deutsch nur noch in Budapest existierte, die anderen Lehrstühle in Szeged, Debrecen und Pécs wurden aufgelöst. In der öffentlichen Bildung wurde generell das RussischealsPflichtfremdspracheeingeführt. EinenneuenAufschwungbrachtedann die politische Wende 1989 mit sich, die die frühere führende Position von DaF wieder herzustellen vermochte. Für heute, knapp 20 Jahre nach der politischen Wende hat sich die Situation des FSU jedoch wieder wesentlich verändert und diesmal erneut zu Ungunsten des Deutschen. Um die in der ungarischen Sprachen-und Bildungspolitik verankerten Gründe der gegenwärtigen Situation skizzieren zu können, werden zuerst die verwendeten linguistischen Termini geklärt, um die Arbeit theoretisch fundieren zu können. Im darauf folgenden Schritt wird ein kurzer geschichtlicher Überblick über den Fremdsprachenunterricht in Ungarn vom zweiten Weltkrieg bis zur politischen Wende (im Ungarischen „Systemwechsel“ genannt) gegeben, zumal dieses Ereignis nicht nur in der Politik, Wirtschaft und in der gesellschaftlichen Struktur, sondern auch in dem Bildungswesen, das heißt auch im FSU, markante Veränderungen herbeigeführt hat. Darauf hin erfolgt im dritten Schritt – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – die Erörterung von jenen relevanten bildungspolitischen Maßnahmen in der ungarischen Sprachenpolitik, die die heutige Situation des Fremdsprachen-beziehungsweise des DaF-Unterrichtes prägen. Erläuterung der Terminologie Der Umgang mit den Sprachen gehört auch zu den Maßnahmen, die die erfolgreiche oder zumindest reibungslose Funktion der Verwaltung in einem Staat sowohl nach Außen als auch nach Innen garantieren, daher gilt die Sprach- Politik als wichtigster Bereich der Politik. BeidiesemweitenBegriffderSprach-PolitikwirdinAnlehnunganHaarman 1988 zwischen Sprachpolitik und Sprachenpolitik unterschieden. Die SprachpolitikrichtetsichaufeineeinzigeSpracheundbetrifftpolitischeEingriffeinderen Struktur und Verwendung, zum Beispiel durch offiziell verordnete Sprachregelungen, Sprachgesetze. Die Sprachenpolitik dagegen bezieht sich auf die politische Situation in einer mehrsprachigen Gemeinschaft und regelt den rechtlichen Status und die Funktion der einzelnen Sprachen und somit das Verhältnis von diesen zu einander (zum Beispiel National-, Regional-oder Minderheitensprache) (vgl. Haarmann 1988: 1661 f.). Ammon (2006: 25) verwendet die Begriffe Spachpolitik und Sprachkorpus-Politik (in Anlehnung an die Unterscheidung von Sprachkorpusplanung vs. Sprachstatusplanung von Kloss 1969) synonym, zumal Sprachpolitik die von dem Staat ausgehende und initiierte Regelung des Sprachgebrauchs meint. Die Sprachpolitik im Sinne von Sprachkorpus-Politik befasst sich beispielsweise mit Entscheidungen zum Schreibsystem (vgl. die 3 Roberta V. Rada Rechtschreibreform im Deutschen), Vereinheitlichung des Aussprachesystems, trifft soziosemantische Entscheidungen überdie lexikalischen Quellen der Wortschatzerweiterung usw. (vgl. Janich 2004: 494 ff.). Die Sprachenpolitik als Sprachstatus-Politik meint dagegen die Sprachgesetzgebung und schafft somit den rechtlichen, politischen und/oder gesellschaftlichen Status von Sprachen (vgl. Janich 2004: 482). Zu den Handlungsfeldern der Sprachenpolitik gehören beispielsweise die Wiederbelebung „toter“ Sprachen, die Verschriftung einer bisher nur gesprochenen Sprache, die Verdrängung existierender Sprachen (vgl. Janich 2004: 488 ff.), aber auch die Festigung der Stellung einer Sprache als Arbeitssprache in bestimmten internationalen Institutionen (vgl. Ammon 2006: 25). Die rechtliche Regelung des institutionalisierten Fremdsprachenunterrichts kann zu einem Tätigkeitsbereich der Sprachenpolitik (vgl. Bosch 2001: 1361, Balázs 1998: 39), genauer zur sogenannten „sprachlichen Innenpolitik“(Ammon 2006: 25) gezählt werden, da sich die Regelung des FSU jeweils auf das eigene Staatsgebiet beschränkt. Der institutionalisierte Fremdsprachenunterricht bildet darüber hinaus einen wichtigen Inhalt der Bildunsgpolitik, indem die Zahl und der Typ der im Rahmen des Schulwesens unterrichteten Fremdsprachen vom betreffenden Staat beziehungsweise von den für die Bildung verantwortlichen Organen festgelegt werden. Die Sprachen-und Bildungspolitik überschneiden sich also an diesem Punkt, der Fremdsprachenpolitik genannt wird. Generell gilt, dass in Ungarn der institutionalisierte FSU mittels Verordnungen der Regierung geregelt wird. 3 Die sprachenpolitische Situation in Ungarn Bevor die sprachen-und bildungspolitische Regelung des FSU beziehungsweise des Unterrichts von DaF erörtert wird, soll kurz die allgemeine sprachenpolitische Situation in Ungarn als Rahmenvoraussetzung umrissen werden. 3.1 Die allgemeine sprachenpolitische Charakterisierung der ungarischen Sprache Die Skizzierung der sprachenpolitischen Situation in Ungarn umfasst die von Balász (vgl. Balász 1998: 40 ff.) erstellte Kriterienliste, die sich aus Kriterien demographischer, geographischer, geschichtlicher und funktionaler Art zusammensetzt: • Das demographische Kriterium meint die Zahl der Muttersprachler (vgl. nummerische Stärke einer Sprache bei Ammon 1997) in einem gegebenen Land. Das bekannte Stereotyp in Bezug auf das Ungarische lautet, 4 Roberta V. Rada dassdasUngarischeeine„kleine“, „nicht bedeutende“, (geographisch)„isolierte“ Sprache sei (Balász 1998: 40). Die Zahl der Muttersprachler des Ungarischen beläuft sich auf ca. 14-15 Mio., davon leben ca. 10 Mio. in Ungarn selbst, die anderen vor allem in den Nachbarländern, wie Rumänien, Süd-Ost-Slowakei, West-Ukraine beziehungsweise Nord-Kroatien. Mit dieser numerischen Stärke steht das Ungarische auf dem 40. Platz in der Rangliste der Sprachen der Welt, unter den 67 Sprachen Europas nimmt das Ungarische Platz 12 ein. • Beim geographischen Kriterium gilt die Größe des Sprachgebietes, sowie die Dichte der Bevölkerung (vgl. geographische Verteilung bei Ammon 1997). Wird eine Sprache in einem geographisch zusammenhängenden Gebiet als Muttersprache verwendet, ist auch deren politischer Status stärker als etwa im Falle von Sprachinselsprachen. Geographisch gesehen hat das Ungarische im Karpatenbecken eine zentrale Rolle. Es leben etwa 13 Mio. ungarische Muttersprachler in diesem relativ großen zusammenhängenden geographischen Raum des Karpatenbeckens, der restliche, wesentlich kleinere Teil dagegen, lebt weltweit verstreut auf Sprachinseln. • Das geschichtliche Kriterium bezieht sich auf die Tradition und Kultur einer Sprache. Das Ungarische gehört zu den ältesten europäischen Sprachen. Seine Schriftlichkeit reicht bis ins 13. Jahrhundert zurück. Zur Zeit wird diese Sprache und Kultur an 100 Universitäten der Welt unterrichtet, in 12 Ländern gibt es ungarische Kulturinstitute. • Das funktionale Kriterium meint, in welchen Bereichen und in welchem Maße die gegebene Sprache ihre Funktion(en) erfüllen kann. Hiervon ist auchihrPrestigeabhängig. DasUngarischegiltaufdemGebietderRepublik Ungarn als die Mehrheitssprache und funktioniert de facto als einzige Nationalsprache beziehungsweise solo-offizielle Amtssprache. Der genaue Status des Ungarischen als Sprache der Mehrheit wird jedoch weder in der Verfassung noch in einem alle in dem Land gesprochenen Sprachen umfassendenSprachgesetzgeregelt. EsgibtlediglicheinigeVerordnungen und Gesetze, die den Gebrauch des Ungarischen zu regeln beabsichtigen, dies jedoch ausschließlich im wirtschaftlichen Bereich. Das Gesetz 2001 XCVI1 verpflichtet im Interesse des Schutzes der ungarischen Sprache vor den ständigen und zunehmenden fremdsprachlichen Einwirkungen, zur alleinigen beziehungsweise parallelen Verwendung des Ungarischen in bestimmten kommunikativen Bereichen, wie in Wirtschaftswerbungen, bei Ladenaufschriften sowie in bestimmten öffentlichen Bekanntmachungen. Es versucht gleichzeitig auch die besondere Bedeutung des Ungarischen als Nationalsprache zu bestimmen. In der Präambel des Gesetzes 1Die Quelle aller Gesetzestexte in diesem Beitrag bildete (www3), eine online erreichbare Datenbasis. 5 Roberta V. Rada wird betont, dass die ungarische Sprache die wichtigste Äußerung der nationalen Existenz, der wichtigste Ausdruck der nationalen Zugehörigkeit, der Träger der ungarischen Kultur und Wissenschaft sowie der Informationsvermittlung sei. Daher gelte als gemeinsame Verantwortung der heute lebenden Generationen, die ungarische Sprache zu schützen, sie an die Nachfolger zu vererben, ihre sprachliche Umgebung zu bewahren und ihre gesunde Anpassungsfähigkeit aufrecht zu erhalten. In der Schlussbestimmung wird jedoch festgelegt, dass die Wirtschaftswerbungen und Aufschriften in den Siedlungen mit gesetzlich festgelegten Minderheitensprachen von diesem Gesetz nicht betroffen sind. Unter den Sprachen deruralischen Sprachfamilie, zu dessen finno-ugrischem Zweig das Ungarische genealogisch gehört, gilt gerade das Ungarische als die numerischstärkste, aufeinemkonzentrierten undgeschlossenen geographischen Gebiet gesprochene Sprache mit der ältesten Schriftlichkeit und vielleicht auch mit dem größten Prestige. 3.2 Sprachliche Minderheiten in Ungarn Ungarn bildete in der Vergangenheit eine recht lange Zeit entweder als Teil verschiedener vielsprachiger Staatsgebilde (zum Beispiel vom Habsburgerreich im 16-19. Jahrhundert), aber auch als selbstständiges Land (zum Beispiel das mittelalterliche ungarische Königreich im 15. Jahrhundert) einen Vielvölkerund vielsprachigen Staat. Es war unter den Bürgern des ehemaligen Königreichs Ungarn, aber eigentlich auch später in der Donaumonarchie, „eine Selbstverständlichkeit, dass die zweite oder gar die erste Bildungssprache die deutsche war, ohne dass dies das vaterländische Zugehörigkeitsbewusstsein gestört hätte.“(Vízkelety 2009: 17).2 Ungarn adeliger Herkunft aber auch reiche Kaufleute und Handwerker trachteten bewusst danach, ihren Kindern meistens mehrere Fremdsprachen, vor allem Deutsch und Französisch, durch Hauslehrer oder durch fremdsprachige Erzieherinnen beibringen zu lassen. Zu diesem Zweck wurde auch die Form des Kinderaustausches gerne gewählt. Doch für die breiteren Schichten der ungarischsprachigen Bevölkerung war das überhaupt nicht charakteristisch, zumal diese mit den anderssprachigen Mitbürgern des mehrsprachigen Landes kaum sprachlichen Kontakt pflegen konnten (vgl. Vízkelety ebd.). Nach dem ersten Weltkrieg wurde Ungarn zu einem Nationalstaat mit einer homogenen Ethnie. Dieser Prozess wurde nach dem II. Weltkrieg durch Bevölkerungsaussiedlungen und -austausch nur noch verstärkt. In der Zeit der 2Vízkelety berichtet über seinen Großvater, der im 19. Jahrhundert als Notar in der ungarischen transdanubischen Stadt Tata die juristischen Gespräche mit den Bürgern des einen Nachbardorfes auf Slowakisch, mit denen des anderen auf Deutsch, und mit den Bewohnern seiner Heimatstadt auf Ungarisch führte (vgl. Vízkelety 2009: 18). 6 Roberta V. Rada Nationalität Anzahl im Jahre 2001 Romas 190 046 Deutsche 62 233 Slowaken 17 693 Kroaten 15 620 Rumänen 7 995 Ukrainer 5 070 Serben 3 816 Slowenen 3 040 Polen 2 962 Griechen 2 509 Bulgaren 1 358 Russen 1 098 Armenier 620 Tabelle 1: Quelle: www 5 kommunistischen Diktatur von János Kádár hat sich der überwiegende Teil der Nationalitäten integriert. Laut der letzten offiziellen Volkszählung im Jahre 2001 bekannten sich 314.061 Personen, d.h 3% der Gesamtbevölkerung Ungarns, zu einer anderssprachigen Nationalität, wobei die tatsächlichen Anteile um die 8-10% liegen dürften. Die Republik Ungarn ist heute weder ethnisch noch sprachlich homogen. Zur Zeit werden in Ungarn folgende 13 anderssprachige Nationalitäten, darunter eine ethnische (Romas) und 12 nationale Minderheiten offiziell anerkannt: Deutsche, Slowaken, Slowenen, Ukrainer, Rumänen, Serben, Kroaten, Russen, Griechen, Bulgaren, Polen, Armenier. Tabelle 1 veranschaulicht die zahlenmäßige Verteilung der einzelnen Nationalitäten in Ungarn. 1993wurdevomUngarischenParlamentdasGesetzLXXVII,dassog. „Minderheitengesetz“ ratifiziert. Im Sinne dieses Gesetzes können die in Ungarn beheimateten Nationalitäten sogenannte Minderheitenselbstverwaltungen gründen. Zur Gründung einer solchen Selbstverwaltung braucht man im Falle der Siedlungen mit weniger als 10.000 Einwohnern mindestens 50, bei Siedlungen mitmehrals10.000Einwohnernmindestens100gültigeStimmen. Dieselokalen Minderheitenselbstverwaltungen haben die Aufgabe, die Feste der Minderheiten festzulegen, ihre Medien, ihre öffentliche Bildung, die Pflege ihrer Traditionenaufrecht zuerhaltenundStipendienundBewerbungen auszuschreiben. Die Landesminderheitenselbstverwaltung als Dachorganisation der örtlichen Minderheitenselbstverwaltungen bestimmt die Landesfeste der betreffenden Minderheiten. Sie soll Theater, Museen, Bibliotheken, wissenschaftliche und kulturelleInstitute, Verlage, Mittel-oderHochschulensowie Rechtshilfe betreiben. 7 Roberta V. Rada Ihr wichtigstes Recht besteht darin, alle die Minderheiten betreffenden Rechtsregeln zu begutachten. Die Sprache dieser Nationalitäten weist lediglich den Status einer Minderheitensprache auf. Die Verfassung von Ungarn sieht keine Nutzung dieser Minderheitensprachen als Amtssprachen oder Regionalsprachen vor (vgl. auch Witt 2001: 100). Die sprachlichen Rechte der Minderheiten werden im §68 Absatz 2 der Verfassung festgelegt. Generell gilt, dass in dem Ungarn des 21. Jahrhunderts die Verwendung der Muttersprache bei den Minderheiten theoretisch zugelassen wird, dies jedoch ohne institutionelle Garantien (vgl. Szarka 2003: 31)(vgl. dazu ausführlich Erb und Müller in diesem Band). 3.3 Fremdsprachen-und DaF-Kentnisse der ungarischen Bevölkerung im gegebenen sprachenpolitischen Kontext In Anlehnung an Hessky (1995: 64 ff.) kann behauptet werden, dass die FS- Kenntnisse der Bewohner eines Landes einerseits die Aufnahmebereitschaft der einzelnen FS, andererseits die Bereitschaft des jeweiligen Staates, im Rahmen einer bestimmten (Fremd)Sprachenpolitik Interesse für eine oder mehrere FS zu wecken, aufrechtzuerhalten und zu befriedigen, widerspiegeln. Die Aufnahmebereitschaft kann sich sowohl auf der individuellen Ebene (emotionale und/oder pragmatische Einstellung einer FS gegenüber wie subjektive Einschätzung nach Schönheit, Erlernbarkeit, Verwendbarkeit, sowie Familienkontakte, Zukunfts-und Berufsvorstellungen, erreichbare Lernangebote, Person des FS-Lehrers, Einschätzung des Lernerfolgs usw.) wie auch auf der Ebene der offiziellen Politik manifestieren. Auf dieser letzteren Ebene ergeben sich Fragen wie: • Welche Bedeutung misst man den FS-Kenntnissen der Bürger generell bei? • Die Förderung welcher FS steht mit den politischen Grundsätzen des Staates am meisten im Einklang? • Welche Sprachen sind für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes am nützlichsten? Stimmen wirtschaftliche sowie politische und pragmatische Überlegungen des Staates mit den Interessen und Bedürfnissen der Bürger überein, kann eine adäquate (fremd)sprachenpolitische Konzeption entwickelt werden, die zu effektiven FS-Kenntnissen bei den Sprachteilhabern führt/führen kann. Auf beiden Ebenen spielt die Tradition eine wesentliche Rolle. Auf individueller Ebene als Überlegung, welche FS in der Familie bekannt sind, durch welche FS Aufenthalte im Zielsprachenland verwirklicht werden können, usw.. 8 Roberta V. Rada Auf politischer Ebene geht es um die Tradition einer FS als Schulfach samt qualifiziertenFS- Lehrern, den entsprechendenLehrmaterialien, derfachdidaktischmethodischer Kultur, usw.. In Ungarn sind ausgehend von den bisherigen Erörterungen im konkreten sprachenpolitischen UmfeldinBezugauf den Erwerb einer FS folgende Aspekte relevant: • sprachliche Isoliertheit: Ungarisch als finno-ugrische Sprache umgeben von lauter indogermanischen Sprachen in einem geschlossenen geographischen Raum, • anderssprachige Minderheiten in der ethnisch und sprachlich heterogenen Republik Ungarn, • die wirtschaftliche Abhängigkeit Ungarns von der Weltwirtschaft wegen Mangel an Rohstoffen beziehungsweise das Angewiesensein auf den Außenhandel. In Bezug auf DaF gesellen sich folgende Faktoren hinzu: • mehr als tausendjährige, vielfältige und rege Sprach-und Kulturkontakte mit dem deutschen Sprachgebiet, Jahrhunderte lange Zweisprachigkeit zur Zeit der Habsburger Monarchie, • Rolle der deutschsprachigen Minderheit im Land, • Traditionen des DaF-Unterrichts. Aus diesen Fakten kann zumindest prinzipiell die Schlussfolgerung gezogen werden, dass in Ungarn der Erwerb von FS, vielleicht am meisten von Deutsch, in höchstem Maße motiviert ist und daher eine große Bereitschaft besteht, fremde Sprachen zu erlernen. Doch die Realität zeigt gerade das Gegenteil, selbst wenn sich in der jüngsten Gegenwart positive Tendenzen abzeichnen (vgl. Einleitung). Historischer Rückblick auf den Fremdsprachnunterricht in Ungarn nach 1945 Deutscher Sprachunterricht in den ungarischen Schulen wurde durch die 1777 erlassene Verordnung von Maria Theresia „Ratio educationis“ zuerst gesetzlich verordnet, wobei der Unterricht nur von geringem Erfolg war (vgl. Vízkelety 2009: 17). Seit der Sprachverordnung von Josef II. im Jahre 1784 (vgl. Einleitung) fungierte das Deutsche bis zum zweiten Weltkrieg ununterbrochen als die obligatorische lebendige Fremdsprache (neben der obligatorischen toten 9 Roberta V. Rada Sprache Latein) in allen ungarischen Grundschulen beziehungsweise Gymnasien und Realgymnasien (vgl. Rainer 2001: 1546). Der schulische Fremdsprachenunterricht war damals jedoch in dem Sinne durch eine sprachliche Vielfalt gekennzeichnet, dass die Gymnasialschüler insgesamt drei Fremdsprachen, neben Latein und Deutsch je nach Wahl eine dritte FS, zum Beispiel Englisch, Französisch oder Italienisch lernen mussten. Der FSU wies jedoch (auch) in dieser Periode wenig Erfolg auf. In den Gymnasien für Jungen behaupteten in den 20er Jahren etwa 15% der Befragten, dass sie Deutsch, nur 2-3%, dass sie Französisch und geringe 1-3 %, dass sie Englisch sprechen würden (vgl. Vágó 2006: 2). DieGründe fürdie schwachenFS-Kenntnisse sindin dieserZeitspannegrößtenteils historisch verankert. Die Legitimierung des Ungarischen als Nationalsprache war nämlich im Vergleich zu den anderen europäischen Sprachen stark verspätet. Das Ungarische konnte erst 1844 den Status einer Staats-beziehungsweise Schulsprache erlangen. In dem vielsprachigen Ungarn als Teil der Habsburger Monarchie mit Deutsch als Amts-und Schulsprache fungierte die Verwendung des Ungarischen als Symbol der nationalen Identität und bewussten Rebellion gegen die Habsburger Unterdrücker. Die Abneigung gegen das Deutsche ist die logische Folge der Abneigung gegen die deutschsprachigen Unterdrücker. Auch entwickelte sich der Unterricht des Faches lebendige Fremdsprache aus dem Lateinunterricht heraus. Das Lateinische als Sprache des europäischen Schulwesens galt in Ungarn Jahrhunderte lang als komplexes Unterrichtsfach mit vielfältigen Funktionen, als Maßstab der Bildung. Später fungierte es als Mittel der Elitebildung. Damit lässt sich auch erklären, dass das Lateinische (wie übrigens auch die andere tote Sprache, das Griechische) erst relativ spät aus dem schulischen Fremdsprachenunterricht in Ungarn verdrängt (Griechisch 1938, Latein 1960) und durch lebendige Fremdsprachen ersetzt werden konnte (vgl. Vágó ebd.). Heutzutage dient das Lateinische in Ungarn zur Bewahrung von klassischen Werten in Form einer Wahlfremdsprache in der öffentlichen Bildung beziehungsweise von universitären Fachrichtungen im Bereich klassischer Philologie (vgl. Szépe 2001: 212). Das Jahr 1945 brachte ein neues Staatsgebilde, neue Staatsgrenzen, die Flucht und Vertreibung sowie die Aussiedlung der deutschsprachigen Bevölkerung und den staatlich initiierten und organisierten Austausch von ungarischen und slowakischen Bevölkerungsgruppen mit sich. Nach dem II. Weltkrieg zeigt sich die Dominanz des Russischen in der offiziellen Sprachenpolitik Ungarns. Von 1949 an wurde Russisch als obligatorisches Schulfach in den ungarischen Grundschulen und Mittelschulen eingeführt, dessen Unterricht bis 1989 dauerte. Westeuropäische Sprachen wurden aus bekannten politischen Gründen absichtlich vernachlässigt. Von den 1950er Jahren an lernten die Schüler ab der fünften, später ab der vierten Klasse der Grundschule diese einzige Fremd 10 Roberta V. Rada sprache.3 Den Russischunterricht als einzige obligatorische FS zwischen 1949 und 1989 betrachtet man in der ungarischen Bildungsgeschichte als den größten Misserfolg, der sich auf den ganzen schulischen FSU negativ ausgewirkt hat (vgl. Szépe 2001: 110). Der Misserfolg kann auf unterschiedliche Ursachen zurückgeführt werden. Der Russischunterricht hatte in Ungarn keine Tradition und galt für die meisten Ungarn als eine Äußerungsform der sowjetischen Unterdrückung. Die – noch dazu – verbindlich unterrichtete Sprache der Besetzer lernte man daher nur zwangsweise und mit Widerstand, es fehlte jegliche Motivation sowohl bei den Schülern als auch bei den Lehrern (vgl. Szilvási: 1, auch Mátyás 2001: 115). Die damalige Einstellung zum Pflichtfach Russich veranschaulicht ein Witz, der aber erst nach der Wende erzählt worden ist: „Warum konnten die Türken Ungarn 150 Jahre lang besetzt halten, die Russen aber nur 46 Jahre? Antwort: Weil die Türken nie verlangt haben, dass die Ungarn den Tag der Schlacht bei Mohács4 jedes Jahr als Nationalfeiertag feiern, weil die Türken nie behauptet haben, dass sie bloß vorläufig in Ungarn blieben und weil sie nie die türkische Sprache als Pflichtfach in den Schulen eingeführt haben.“(Pusztai 2009: 31). Bei der Einführung des Russischen fehlten dieelementaren Voraussetzungen des Unterrichts (Lehrmaterialien, Lehrer), so dass es einfach unmöglich war, einen niveauvollen Unterricht von den Lehrern sowie funktionsfähige Sprachkenntnisse von den Lernenden zu erwarten. Von den 70er Jahren an, als die politisch-ideologischen Zwänge auch im Bildungswesen aufgelockert wurden, wurde dieser Quasi-Russischunterricht akzeptabel, und in den 80er Jahren als die viel günstigere Lern-und Lehrkonstellationen einen effektiv(er)en Russischnunterricht ermöglicht hätten, hat sich in dieser Hinsicht wenig verändert. Die Schulen in Ungarn waren Jahrzehnte lang mit keinerlei Anforderungen an den Fremdsprachenunterricht konfrontiert. Sie mussten im Vergleich zu anderen Lehrfächern, wie Mathematik, Biologie oder Geschichte, keinerlei Verantwortung für die Effektivität des FSU übernehmen. Die Möglichkeit des Erlernens einer anderen, einer „westlichen“, Sprache als zweiter Wahlfremdsprache bestand in dieser Zeit ausschließlich in der gymnasialen Stufe. Doch bereits Mitte der 80er Jahre lernten nur insgesamt 20% der Gymnasialschüler eine zweite FS, und nur 5 % in einer Stundenzahl, die die einer Entwicklung rudimentärer Kommunikationsfähigkeit in der zweiten FS 3Wenn man bedenkt, dass ungarische Jugendliche wegen der allgemeinen Schulpflicht bis zum 18. Lebensjahr das Russische 8 Jahre lang gelernt haben, dann ist es höchst überraschend, dass die Russischkenntnisse der Ungarn eigentlich nicht erwähnenswert sind. 4Die 1526 in der Nähe der ungarischen Stadt Mohács verlorene Schlacht bedeutet in der ungarischen Geschichte den Beginn einer 150 Jahre lang dauernden türkischen Besetzung. Der Witz enthält auch eine Anspielung auf einen früheren nationalen Feiertag in Ungarn, den 7. November, an dem der Sieg der Proletarierrevolution in Russland 1918 gefeiert wurde. 11 Roberta V. Rada ermöglichte. Die Möglichkeit Deutsch als FS innerhalb des Schulsystems zu lernen, war relativ gering (vgl. Rainer 2001: 1546).5 SeitMitteder60erJahrekonntedieungarischeAußenwirtschaftauchinden westlichen Ländern Fuss fassen. Der Tourismus erfuhr durch die Öffnung des Landes einen Aufschwung, so dass sich auch ein objektiver Bedarf an Kenntnissen westlicher Sprachen ergab. Da aber – wie bereits erwähnt – das allgemeinbildende Schulwesen diesen gesellschaftlichen Bedarf an Kenntnissen in den westlichen Fremdsprachen nicht decken durfte/konnte, wurde das FS-Lernen im Privatunterricht/Privatstunden sowie seit 1981 in privaten Sprachschulen zugelassen. Bis 1993 erreichte die Zahl der Sprachschulen 220, die Zahl der akkreditierten Sprachschulen erreichte bis 1997 die Anzahl 20, in 15 Sprach- schulen wurde auch Deutsch als FS unterrichtet (vgl. Rainer 2001: 1547). Das primäre Ziel der FS-Lerner war in dieser Zeit das erfolgreiche Bestehen einer staatlichen Sprachprüfung auf Mittel-oder Oberstufenniveau, zumal der Nachweis einer solchen Prüfung beträchtliche Lohnzuschläge bedeutete. Die staatlichen Sprachprüfungen wurden zentralisiert in dem sogenannten „Institut für Weiterbildung in Fremdsprachen“ 6 organisiert und abgewickelt. Immerhin, die Existenz solcher Sprachschulen blieb nicht ohne positive Wirkung auf den schulichen FSU. In beiden Bereichen waren nämlich dieselben Lehrer tätig, die immer mehr neue Methoden, Konzepte und Lehrwerke, Unterrichtstechniken – u.a. auch im Rahmen von Weiterbildunsgkursen in Deutschland und England – kennen gelernt und in den öffentlichen Schulen eingesetzt haben. DasSchulwesenreagierteaufdieVeränderungdesBedarfsanFS-Kenntnissen mit dem Schulgesetz von 1984, das den örtlichen Schulträgern die Einrichtung von speziellen Sprachenklassen oder Klassen mit erweitertem FSU gestattete. Die ersten bilingualen Gymnasien wurden bereits in den 80er Jahren eingerichtet, 1997 gab es landesweit 18 Gymnasien mit Deutsch als Unterrichtssprache (vgl. Rainer ebd.). In der Zeit vor der politischen Wende 1989 verfügte Ungarn also über eine bescheidene Tradition des Fremdsprachenunterrichts, der durch unmotivierte Sprachlernende und -lehrer, sowie durch das Fehlen jeglicher fachlicher Kontrolle gekennzeichnet war (vgl. Vágó 2006: 3). Seit Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre bahnten sich jedoch positive Tendenzen im Bereich FSU an. Nach der Wende konnte man ausschließlich auf diese wenigen positiven Erfahrungen zurückgreifen. 5Dabei muss auch erwähnt werden, dass ab den 80er Jahren der Unterricht von Deutsch als Minderheitensprache gestartet werden konnte. 6Übersetzt aus dem Ungarischen „Idegennyelvi Továbbképzõ Központ“. 12 Roberta V. Rada Unmittelbare Folgen der politische Wende in der Bildungspolitik Ungarns Eine markante Änderung in der Fremdsprachenpolitik Ungarns brachte die politische Wende von 1989 mit sich, die von Faktoren, wie der Globalisierung, der Öffnung der Landesgrenzen und später auch des internationalen Arbeitsmarktes begleitet war. Immer mehr Ungarn hatten die Möglichkeit ins Ausland zu reisen. Auch die Zahl der nach Ungarn reisenden Touristen stieg an, ganz zu schweigen von der Mobilität der vor allem jüngeren ungarischen Arbeitnehmer, was den Bedarf der Sprachkenntnisse westlicher FSn in wesentlich erhöht hat. Dabei waren bei den bildungspolitischen Entscheidungen unmittelbar nach der politischen Wende zwei Aspekte wegweisend. Einerseits „die Orientierung der Kultur und Bildungspolitik nach Westen“, andererseits „die Liberalisierung des Schulwesens“(Rainer 2001: 1547). Als Folge der Orientierung nach Westen wurden zahlreiche Kulturabkommen zwischen Ungarn und Österreich beziehungsweise Deutschland abgeschlossen, es nahmen eine Reihe von kulturellen Mittlerorganisationen die Arbeit auf, zum Beispiel das Goethe-Institut, Aktion Österreich-Ungarn, usw.. Die Möglichkeiten für Kontakte kultureller und wissenschaftlicher Art mit den deutschsprachigen Ländern nahmen beachtlich zu. Dazu gesellten sich gut funktionierende wirtschaftliche Beziehungen zu den deutschsprachigen Ländern sowie die Nähe des deutschsprachigen Raumes (Östereich als Nachbarstaat) (vgl. Mátyás 2001: 118). Diese Bedingungen konnten die Stellung des Deutschen als Fremdsprache eindeutig verbessern. Eine erste Äußerung der Orientierung nach Westen war die Abschaffung des Russischen als obligatorischer Pflichtsprache in allen staatlichen Bidlungseinrichtungen. Parallel zum Ende der Hegemonie des Russischen wuchs das Interesse beziehungsweise die Nachfrage für „westliche“ Sprachen, wie Deutsch und Englisch, sprunghaft an. Aber auch Französisch und Italienisch waren gefragte Fremdsprachen. Im Unterschied zum früheren FSU wurden aber nach der politischen Wende das Erlernen beziehungsweise der Unterricht von keiner Fremdsprache als obligatorisch vorgeschrieben, die Wahl der Fremdsprachen im schulischen Unterricht ist frei geworden. Das Russische, welches wie jede andere Sprache nur Wahlfach wurde, erlebte einen dramatischen Einbruch. Die Tabellen (2) und (3) mögen dies in der öffentlichen Bildung (2) sowie im Hochschulbereich (3) veranschaulichen. Die Folgen der Abschaffung des obligatorischen Russischunterrichts waren mannigfaltig (vgl. Lamb 2004: 3 ff.). Zunächst einmal entstand ein Überfluss an Russischlehrern, die nun ohne jegliche Berufsperspketive dastanden. Andererseits gab es wegen des sprungartig angestiegenen Bedarfs einen akuten Mangel an qualifizierten Deutsch-und Englischlehrern. Laut Schätzungen bedeutete dies einen Mehrbedarf an ca. 15.000 Sprachlehrern (vgl. Tóth 1991). 13 Roberta V. Rada Schujahr Englisch Grundschule Englisch Mittelschule Deutsch Grundschule Deutsch Mittelschule Russisch Grundschule Russisch Mittelschule 1989/90 33 120 96 758 41.889 88.475 655.218 230.783 1995/96 277 404 217 698 346. 460 207.927 12.661 19.786 Tabelle 2: DieAnzahlderFremdsprachenlernendenindenGrund-undMittelschulen Ungarns (Angaben bei Szilvási : 3) Akademisches Jahr Englisch als FS Englisch als Fach Deutsch als FS Deutsch als Fach Russisch als FS Russisch als Fach 1989/90 18 889 10.153 17.241 1998/99 36.772 6.074 20.210 4.720 1966 788 Tabelle 3: Die Anzahl der Studierenden in Ungarn, die eine FS als Fremdsprache lernen oder als Fach studieren (Angaben bei Szilvási : 4) Einer solchen Herausforderung war man aber nicht gewachsen und um diesen Mehrbedarf erst eimal quantitativ decken zu können, griff man zu einer Notlösung, die weit von der idealen entfernt war (vgl. Pusztai 2009: 32): Einstellung von un-oder unterqualifizierten Lehrern, kurzfristige Umschulung von ehemaligen Russischlehren oder Lehrern anderer Fächer an ungarischen Hochschulen und Universitäten. Die Voraussetzung bei letzteren war die staatlich anerkannte Mittelstufensprachprüfung. Die Umschulung einer Vielzahl von Russischlehrern führte zu einem quantitativen Aufschwung im ungarischen Hochschulbereich. Die Zahl der Deutschlehrstühle hat sich in einigen Jahren vervielfacht, „es war die Zeit des Massenunterrichtes“( Hessky 2008: 14). Englisch und Deutsch florierten und zogen von Jahr zu Jahr immer mehr Studenten an. Sowohl die deutschsprachigen Länder als auch England und die USA waren gleich zur Hilfe bereit. 1998 wurde Ungarn von der Weltbank ein großzügiger Kredit für die Durchführung eines umfassenden Entwicklungsprogramms im Hochschulbereich gewährt (vgl. dazu ausführlich Medgyes/Miklósy 2000). Diese Finanzquelle ermöglichte auch die EinführungeinerdreijährigenAusbildungfürDeutsch-undEnglischlehrer. Das Deutschstudium wurde ein Massenbetrieb, Jahrgänge mit 150-170 Studenten waren keine Ausnahme7 (vgl. Pusztai 2009: 32, vgl. auch Tab.2). Die Liberaliserung des Schulwesens bestand im Sinne des Bildungsgesetzes von 1989 (als Modifikation des Bildungsgesetzes von 1985) unter anderem 7Vgl. dazu den ausführlichen Beitrag von Orosz/V. Rada in diesem Band. 14 Roberta V. Rada darin, dass die Schulen der öffentlichen Bildung in das Eigentum der neu entstandenen örtlichen Verwaltungsorgane, der sogenannten Selbtsverwaltungen übergegangen sind. Auch die Kirchen bekamen – je nach Wunsch und Bedarf – ihre ehemaligen Schulen zurück. Die Finanzierung der Schulen erfolgte auf Grund der, aus dem staatlichen Haushalt für Unterrichtszwecke gewährten, normativen Unterstützung. Infolge der Liberalisierung bildete sich ein hochdifferenziertes, pluralistisches Schulsystem mit den unterschiedlichsten Schulorganisationsformen heraus, in dem neben den achtklassigen Grundschulen parallel vier,-sechs-und achtklassige Mittelschulen ins Leben gerufen wurden. Als Folge der freien Schulwahl war nun jede Einrichtung der öffentlichen Bildung daran interessiert, so viele Schüler wie nur möglich für sich zu gewinnen. Daher mussten sie sich an die Erwartungen und Ansprüche der Eltern auch bezüglich des FSU anpassen. Seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre erfolgte eine bedeutende Expansion des FSU. Immer mehr Schüler lernten eine FS, in immer mehr wöchentlichen Unterrichtsstunden, in Kleingruppen, immer länger, man konnte aus einer immer größeren Palette von FS im Rahmen des institutionalisierten FSUs wählen. Dieser FSU war jedoch stark differenziert, je nach Schultyp, Siedlungstyp und dem finaziellem beziehungsweise familiärem Hintergrund der Schüler. Auch das bisher streng zentralisierte Bildungswesen, das Lehrpläne, LehrbücherundMethodenvonobeneinheitlichfestlegte, wurdebereitsimBildungsgesetz 1985 dezentralisiert. Doch die vollständige Aufgabe der staatlichen Kontrolle konnte erst durch das Bildungsgesetz von 1989 durchgesetzt werden. Den Lehrern wurde größere Selbstständigkeit, Freiheit sowohl bei der Lehrplanausbildung, alsauch beiderAuswahlvon Lehrmaterialienund -methodengewährt. Dies war möglich, weil die Reform des Lehrbuchmarktes schon früher vollzogen worden war (vgl. Halász 2006) und der ungarische Markt nach dem Fall des Eisernen Vorhanges mit ausländischen Lehrwerken für den FSU überflutet wurde. Die gewonnene Autonomie paarte sich aber mit chaotischen Zuständen auf dem Lehrbuchmarkt, so dass die Fremdsprachenlehrer oft keine Ahnung hatten, mit welchen Lehrbüchern sie unterrichten sollten. Um den Wegfall von vorgeschriebenen Lehrmethoden auszugleichen, wurden neue stukturelle, pädagogische und didaktische Ansätze und Formen aus dem Westen übernommen und die Durchsetzung der Prinzipien eineskommunikativ orientierten FSU empfohlen. Dies führte mehr zu Unsicherheit als zur echten Neuorientierung. DieUnterrichtspraxis wurde dabeiimWesentlichen vomungarischen fremdsprachlichen Prüfungssystem beeinflusst. Die staatliche Sprachprüfung hatte – wie auch oben angedeutet – ein besonders hohes Ansehen, bedeutete Bonuspunkte bei den Aufnahmprüfungen an Hochschulen und Universitäten und Lohnzuschüsse an gewissen Arbeitsplätzen. Gegen Ende der 90er Jahre bildeten diese Sprachprüfungen die Voraussetzung für den Abschluss des Studiums 15 Roberta V. Rada im Hochschulbereich. Man musste neben dem Absolutorium über mindestens eine staatliche Mittelstufensprachprüfung verfügen, um das Diplom bekommen zu können. Eine Zeit lang berechtigte sogar der Besitz einer Sprachprüfung die Schülerin denMittelschuleneinerBefreiungvomfremdsprachlichen Unterricht. Die Erlangung des Zertifikats einer Staatsprüfung wurde – vor allem im (mittel) schulischen FSU – zum wichtigsten motivierenden Faktor, obwohl die Vorbereitung auf die externe Sprachprüfung nie zu den Aufgaben des schulischen FSU gehört hat. In welchem Maße nun der schulische FSU und in welchem, die von den Eltern finanzierten Privatstunden oder Sprachkurse tatsächlich zu den erfolgreichen staatlichen Sprachprüfungen geführt haben, bleibt im Dunklen. Im Endeffekt mag dieser Prozess zur Verbesserung der FS-Kenntnissse der Ungarn (vgl. Kap. 1) geführt haben. Was den Hochschulbereich anbelangt, ließ das Hochschulgesetz 1993 LXXX die Universitäten und Hochschulen im Eigentum des Staates. Doch die Finanzierung wurde auch in diesem Bereich einer Reform unterzogen und zwar durch die Einführung der studentischen Unterstützung in Form von Studiengebühren, die jedoch 1998 mit dem Regierungswechsel abgeschaftt wurden. Das Hochschulgesetz 1993 sicherte darüber hinaus die Autonomie der ungarischen Hochschulen und Universitäten, setzte aber dieser Autonomie von Institutionen und vom Unterricht durch unterschiedliche Regelungs-und Kontrollmechanismen Grenzen. Der „Wissenschaftliche Rat des Hoschschulbereiches“(„Felsõoktatási Tudományos Tanács“), ist beispielsweise für die Finanzierung und für das Starten von neuen Fachrichtungen zuständig, die „Ungarische Akkreditierungskommission“(„ Magyar Akkreditációs Bizottság“) sorgt für die Qualitätssicherung. Die neuen Verhältnisse nach 1989 führten somit im Bereich des institutionalisierten FSUs zu erheblichen Problemen. Es tauchten eine Reihe Probleme und Schwierigkeiten auf, die die Sprachenpolitik der Zeitspanne zwischen 1989 und 1995 charakterisiert haben (vgl. Hessky 1995: 71-72). Es fehlte an einer kohärenten, klaren und in allen wesentlichen Punkten durchdachten Konzeption, die man wegen des stürmischen Tempos des Wandels (damals übrigens in allen Lebensbereichen) von heute auf morgen nicht vorlegen konnte. Neue Maßnahmen sind immer kostenaufwendig und die finanziellen Eigenmittel der neuen ungarischen Regierung waren dazu in der behandelten Zeitspanne sehr bescheiden. Hinzu kamen Mängel der fachlichen Kompetenz auf der Entscheidungsebene. Was die Situation von DaF in den 90er Jahren betrifft, bewertet sie Hessky (2008: 13) eindeutig positiv, zumal sie trotz der oben geschilderten Probleme sowohl qualitativ wie auch quantitativ gesehen durch einen Aufschwung gekennzeichnet war. 16 Roberta V. Rada 6 Das Bildungsgesetz von 1995 – der „Nationale Grundlehrplan“ 6.1 Allgemeines Die wesentlichsten inhaltlichen Neuerungen in der öffentlichen Bildung – so auch in Bezug auf den institutionalisierten FSU – wurden erst im Bildungsgesetz 130/1995 (X.26.) (Verordnung der Regierung) erlassen, und in dem sog. „Nemzeti Alaptanterv“, wortwörtlich „Nationalen Grundlehrplan“, zusammengefasst, den man im Ungarischen als NAT abzukürzen pflegt. Der NAT gilt als Grunddokument der öffentlichen Bildung in der Republik Ungarn und bildet die einheitliche Grundlage für die schulische Ausbildung. Im NAT werden teils einheitliche Grundanforderungen formuliert, teils wird eine Differenzierung auf dieser Basis ermöglicht. Der NAT hat in allen ungarischen Schulen Geltung und möchte die grundlegenden Lerninhalte in allen Schultypen einheitlich und ausgewogen gelten lassen. Er beschreibt das gemeinsame Unterrichtsprogramm für die zehnjährige Schulpflicht, das heißt von der ersten Klasse der Grundschule bis zur zweiten Klasse des Gymnasiums (das heisst für die zehnte Klasse) in zehn Bildungsbereichen. Die fehlenden Ziele, Inhalte usw. für die elfte und 12. Klasse, d.h. bis zum Abitur, wurden durch die Erweiterung der allgemeinen Schulpflicht bis zum 18. Lebensjahr im modifizierten Gesetz von 2002 festgelegt. Der NAT deckt nur 50-70% der vollständigen Unterrichtszeit ab, lässt also ergänzende Inhalte und Anforderungen als lokale Initiativen zu. Es soll ein flexibles Schulsystem entstehen, den Bildunsgeinrichtungen wird eine wesentlich größere Freiheit und Selbstständigkeit eingeräumt. Statt geschlossener Lehrpläne mit ihren genau vorgeschriebenen Inhalten und allgemein formulierten Zielen regt der NAT dazu an, auf Grund des Grundlehrplans sog. lokale Lehrpläne zu erstellen, das heißt Curricula selbst zu entwickeln, Lehrmaterialien und Methoden selbst auszuwählen beziehungsweise zu gestalten. Bereits zwei Jahre nach der Einführung des NAT stellte sich in einer Umfrage des Bildungsministeriums heraus, dass die Lehrer mit der Entwicklung von Lokalplänen völlig überfordert waren (vgl. Jelentés 1997). Deshalb wurden im Auftrag des Ministeriums etliche Modelllehrpläne herausgearbeitet, die bei vielen lokalen Lehrplänen als Orientierung fungierten (vgl. Mátyás 2001: 114). Der NAT legt nicht ein festes Sytem von Lehrfächern sondern zehn sogenannte Bildungsbereiche fest, wie Ungarische Sprache und Literatur, Mathematik, Mensch und Gesellschaft, Mensch und Natur, Unsere Erde und Umwelt, Künste, Informatik, Sport, Lebensführung sowie Lebendige Sprachen. Im letzteren Bildungsbereich beziehen sich die Ziele, Inhalte und Anforderungen auf alle Fremdsprachen als eine Einheit. 17 Roberta V. Rada Dabei fanden die im Maastrichter Vertrag formulierten Prioritäten besondere Beachtung. Auch in den ungarischen Bildungseinrichtungen sollten nicht festgelegte Bildungsstoffe, sondern Fertigkeiten und Kompetenzen vermittelt werden, die die Integration in die Gesellschaft und in den Arbeitsmarkt fördern sowie ein lebenslanges Lernen ermöglichen. Alle Bildungsbereiche sind, ebenfalls im Sinne des Maastrichter Vertrags, durchdrungen von: • Heimat-und Volkskunde, (Bewahrung nationaler Traditionen, Entwicklung des nationalen Identitätsgefühls) • Anschluss an Europa sowie an die Welt (Vermittlung des europäischen, humanistischenWertesystems, StärkungdesZugehörigkeitsgefühlszuEuropa, Öffnung nach Europa, Toleranz gegenüber anderen Kulturen) • Umwelterziehung • Kommunikationskultur • Körperliche und seelische Gesundheit • Lebenslanges Lernen • Berufsorientierung 6.2 Fremdsprachenunterricht im NAT In Bezug auf den Bildungsbereich Moderne Sprachen wird im NAT im Rahmen des Grundschulunterrichtes eine obligatorische FS vorgeschrieben. Jeder ungarische Schüler soll ab dem sechsten bis zehnten Lebensjahr im Rahmen der öffentlichen Bildung eine FS erlernen und eine zweite im Alter zwischen dem 12. und 16. Lebensjahr kennen lernen, wobei für diese zweite, nicht obligatorische FS, im NAT keine Rahmenbedingungen angegeben werden. Für den Beginn der ersten obligatorischen Fremdsprache wird die vierte Klasse der Grundschule (zehntes Lebensjahr) empfohlen. Bei der Wahl der zweiten FS sollten neben den am meisten verbreiteten Sprachen (Englisch und Deutsch) auch Sprachen in Frage kommen, wie Französisch, Italienisch, Spanisch, Russisch, oder die Sprache einer in Ungarn lebenden nationalen Minderheit. Auch Latein beziehungsweise Griechisch können als FS gelernt werden, je nach den personalen Bedingungen an den Schulen. Für den Unterricht der obligatorischen FS werden im NAT zwei bis drei Wochenstunden vorgesehen. Unmittelbar nach der Einführung des NAT konnten die ungarischen Grundschulen aus finanziellen Gründen jedoch nur eine einzige obligatorische FS anbieten, die entweder Deutsch oder Englisch war. Die Bedeutung des Fremdsprachenunterrichts wird im NAT darin gesehen, dass er den Lernenden eine Wirklichkeit zu erschließen hilft, die außerhalb ihres 18 Roberta V. Rada eigensprachlichen Erfahrungsbereiches liegt. Durch den Erwerb einer Fremdsprache werden der Horizont der Lernenden erweitert, der Blick für Gemeinsamkeiten und Unterschiede geschärft, Vorurteile abgebaut und Grundlagen für den Austausch zwischen den Kulturen geschaffen (vgl. Feld-Knapp 2009). Bei der Umsetzung dieser Ziele kommt dem Lehrstoff und den Lehrmethoden eine besondere Bedeutung zu. Im NAT wird der Begriff des Lehrstoffs anders als bisher definiert. Darunter sind nämlich nicht nur der Sprachstoff, sondern ein ganzer Komplex von zu behandelnden Themenbereichen, Inhalten und eine Vielfalt von möglichen Unterrichtsmaterialien zu verstehen. Der Sprachstoff macht nur einen Teil des Lehrstoffes aus, dem Sprachlehrer werden Freiräume zugestanden, und er kann das gesamte Material selbstständig zusammenstellen. Hinsichtlich des zu verwendenden methodischen Instrumentariums in der Schule wird vom NAT ein ParadigmenwechselvonderGrammatik-Übersetzungsmethodezurpragmatisch und kommunikativ orientierten FS-Didaktik bevorzugt. Bis in die 60er Jahre hinein herrschte nämlich in der Methodik des FSU in Ungarn die synthetischdeduktive Grammatik-Übersetzungs-Methode (GÜM), deren Hauptinhalt im Unterricht die Vermittlung der Grammatikregeln sowie deren praktische Anwendung in einem Übersetzungstext war. Das bedeutete, dass die Aneignung der Grammatik mit dem Inhalt des Unterrichts identisch war. Offensichtlich wurden die Methoden des Unterrichts in den alten Sprachen auf die Vermittlung der modernen Sprachen übertragen, und die Sprache wurde im Unterricht nicht in ihrer Grundfunktion als Mittel zur menschlichen Kommunikation gesehen. Es wurde im Unterricht nicht in der Fremdsprache, sondern über die Fremdsprache gesprochen. Es wird zwar viel über die Vorteile des kommunikativen Unterrichts gesprochen, aber in Wirklichkeit ist es sehr lehrer-und schulabhängig, was und wie unterrichtet wird (vgl. Feld-Knapp ebd.). Der NAT sieht auch eine veränderte Rolle der Sprachlehrer vor, die als Moderatoren und Helfer die Persönlichkeit, die Interessen und Bedürfnisse der Schüler im Unterrichtsprozess weitgehend berücksichtigen sollen. Im 18. Lebensjahr muss jeder ungarische Schüler in einer FS obligatorisch eine Abiturprüfung ablegen. Das Niveau dieser Prüfung soll mindestens dem einerMittelstufensprachprüfungentsprechen. DasAbiturineinerFSkonntebis 2005 durch den Nachweis der staatlichen Mittelstufenprüfung ersetzt werden. Zur Illustration sollen an dieser Stelle die allgemeinen Anforderungen für die 12. Klasse, das heißt für das Abitur, in den modernen Sprachen kurz zusammengefasst werden: • Anforderungen bezüglich der Kommunikationsfähigkeit der Schüler: Sie sollten fähig sein, die FS verständlich zu verwenden, Personen und Gegenstände in der betreffenden FS zu beschreiben, Vergleiche anzustellen, ihre Gefühle, Meinungen auszudrücken, um Informationen und Erklärungen bitten, beziehungsweise solche geben, Informationen zu sammeln und 19 Roberta V. Rada weiterzugeben,Hinweisezuverstehen,zubefolgenundzuerteilen,anRollenspielen teilzunehmen sowie Gespräche zu initiieren beziehungsweise zu führen. • Anforderungen bezüglich der Kooperationsfähigkeiten: Die Schüler sollenanPaar- undGruppenarbeitteilnehmen, lebensnaheAufgabenplanen und durchführen (Interviews, Schulzeitung, Theaterspiele), an Lernspielen und Wettbewerben teilnehmen. • Anforderungen in Bezug auf die Entwicklung der selbstständigen Lernfähigkeiten: Den Schülern soll die Möglichkeit gegeben werden, selbstständig, unter Zuhilfenahme unterschiedlicher Hilfsmittel zu arbeiten. Im Mittelpunkt des FSU sollte also im Sine von NAT die Entwicklung der kommunikativen Kompetenz stehen, wobei auch kognitive (zum Beispiel Informationen sammeln und weitergeben, Hinweise verstehen, befolgen und erteilen) und affektive Fähigkeiten (zum Beispiel Kooperationsfähigkeiten) berücksichtigt worden sind. Was die detaillierten Anforderungen anbelangt, wird der Lernstoff in Form von kommunikativen Funktionen (zum Beispiel gratulieren, sich bedanken, sich entschuldigen usw.), kommunikativen Situationen (zum Beispiel Patient oder Begleiter beim Arzt, Gast oder Kellner im Restaurant usw.), und semantisch-grammatischen Kategorien (zum Beispiel Satztypen, Aktiv-Passiv-Konstruktion, Konjunktionen, usw.) sowie Themenbereichen (zum Beispiel Umwelt, Reise, Technik, Beruf usw.) angegeben. Die zu entwickelnden Kompetenzen sind in den Fertigkeiten Sprechen, Schreiben, Lesen und Hören sowie Wortschatz ausführlich genannt. Es wird ein der kommunikativen Situation/Absicht angemessener, abwechslungsreicher allgemeinsprachlicher Wortschatz verlangt. 6.3 Die durch den NAT generierten Probleme des FSU in der öffentlichen Bildung Die durch den NAT tatsächlich geprägte Situation des FSU in Ungarn bewertet Szépe Ende der 90er Jahre nicht mehr so optimistisch (vgl. Szépe 2001: 212ff). Es ist für einen Schüler in der ungarischen öffentlichen Bildung unmöglich, sich 1. eine zu einem anderen Sprachtyp gehörende fremde Sprache, 2. beginnend im 10. Lebensjahr, 3. im Laufe von 4 Schuljahren, 4. in 2-3 Wochenstunden, 20 Roberta V. Rada 5. in Klassen mit 25-30 Schülern, 6. auf einem Niveau anzueignen, dass 7. er im Stande ist, 8. die betreffende FS in allen ihren relevanten Funktionen zu benutzen. Ad 1. Die überwiegende Mehrheit der ungarischen Fremdsprachenlerner mit einer finno-ugrischen Sprache als Muttersprache lernt eine indoeuropäische Sprache als FS. Das ist selbstverständlich keine dramatische Opposition, zumal die ungarische Sprache – unter anderem auch in Folge der Globalisierung – mittlerweile indoeuropäische Züge angenommen hat. Doch ist es für einen Deutschen, Schweden oder Holländer wesentlich leichter, Englisch zu lernen als für einen Ungarn. Auch Gemeinsamkeiten beziehungsweise Unterschiede kultureller Art können die Effektivität des FSU beeinflussen. Ad 2. In psycholinguistischen Untersuchungen wurde die Relevanz des frühenBeginnsdesFS- Erwerbseindeutig nachgewiesen. DerBeginndesErlernens der ersten FS in der ungarischen Schulstruktur ist mit dieser Präferenz in Widerspruch geraten. Ad 3. Im Sinne der linearen Lehrplan-Struktur kumulieren sich die im Laufe der einzelnen Schuljahre erworbenen FS-Kenntnisse. Doch keine (oder nur relativ wenige) menschliche Tätigkeit(en) kann/können sich innerhalb von 4 Jahren im Rahmen eines linearen Prozesses angeeignet werden. Ad 4. Der Unterricht in einer FS mit insgesamt 2-3 Wochenstunden kann notwendigerweise nur auf einem relativ niedrigen Niveau erfolgen. Die Erweiterung der FS-Kenntnisse ist für einen ungarischen Schüler erst im außerschulischen Bereich möglich (Privatstunden, Kurse in Sprachschulen, sowie Ferienlager mit Schwerpunkt FS im Sommer). Ad 5. Bis vor einigen Jahren wurden die schülerstarken Klassen in den Sprachstunden geteilt, wovon eine größere Effektivität erwartet wurde. Gegenwärtig ist das jedoch aus finanziellen Gründen nicht mehr durchzuführen. In Dorfschulen ist diese Lücke in der Finanzierung nicht unbedingt mit Niveauverlust verbunden, zumal hier die Klassen aus demographischen Gründen kleiner geworden sind. Nicht so aber in den Städten, in deren Grundschulen viel mehr Schüler eine FS lernen. Ad6. DieschulischenAnforderungeninBezugaufdieFremdsprachenkenntnisse sind relativ konturenhaft, in Anlehnung an das threshold-level-System, im Sinne der Empfehlungen der Kommission für Kultur des Europarates, auf das Minimum beschränkt. Aus diesem Grunde sind die schulischen Anforderungen mit den außerschulischen sprachlichen Anforderungen größtenteils nicht kompatibel. Ad 7. Hier geht es vor Allem um ein altersspezifisches Problem. Die Schüler im Teenager-Alter kommunizieren nämlich am häufigsten und liebsten mit 21 Roberta V. Rada ihren Altersgenossen. Eine Kommunikation unter Gleichaltrigen in einer FS ist für einen alltäglichen ungarischen Schüler im schulischen Rahmen nur sehr selten möglich, und dies eher mit einem Ad-hoc-Charakter (zum Beispiel mit einem Schulchor ab und zu für wenige Tage ins Ausland fahren). Schüleraustauschprogramme können von der Schule allein nicht finanziert werden, selbst in solchen Fällen müssen die Eltern tief in die Tasche greifen. Die Schulkinder müssen sich jedoch beim FSU gleichzeitig auch bestimmte kommunikative Bedürfnisse von Erwachsenen im Voraus aneignen. Ad 8. Die Funktionsfähigkeit der fremdsprachlichen Kommunikation bedarf einer Differenzierung. Es muss näher bestimmt werden, welche FS-Kenntnisse je nach Alter und Beruf relevant sind beziehungsweise wie sie erworben werden können (vgl. Szépe 2001: 213 ff.). Die von Szépe formulierten Probleme stellen eindeutig unter Beweis, dass trotz dessteigenden Bedarfs anfremdsprachlichenKenntnissen im NAT für den BereichdesFSUnichtdielangfristigestrategischeKonzeptionzurGeltungkam, die den Grundbaustein des schulischen FSU bilden müsste. Insgesamt kann die Schlussfolgerunggezogenwerden, dassderFSU(auch)inderzweitenHälfteder 90er Jahre nicht „zu den zentralen Entwicklungsbereichen der Bildungspolitik gehört hat“(Mátyás 2001: 115). Global gesehen zielt die ungarische Bildungspolitik nach der Jahrtausend- wende, alsoinderGegenwart, daraufab, denFSUentlangeinemodermehreren dieser Parameter aufzulockern (vgl. unten). Betrachtet man die Situation im Bereich DaF bis zur Jahrtausendwende, so steht in der öffentlichen Bildung die Zahl der Deutschlernenden noch über der der Englischlernenden, die Zahl der in Deutsch abgelegten staatlichen Sprachprüfungen ist auch höher als beim Englischen (vgl. Rainer 2001: 9). Die Verteilung richtet sich nach Schul-, Siedlungstypen, Schichten-und Raumverteilung: Je weiter vom deutschem Sprachgebiet entfernt, je größer die Siedlung, je höher das Bildungsniveau der Eltern, desto weniger wird Deutsch gewählt. Im Hochschulwesen wird jedoch eindeutig mehr Englisch als Deutsch gewählt. Das Deutsche wurde in der Zeitspanne zwischen 1989 und Ende der 90er Jahre von den meisten Ungarn noch als Lingua franca in Ostmitteleuropa betrachtet. Darüber hinaus fungierten das Französische, das Spanische sowie das Italienische als Wahlfremdsprachen. Zur Jahrtausendwende wurde auch die Reform des staatlichen Sprachprüfungssystemsvollzogen, diedasMonopoldesZentralenSprachprüfungsinstituts aufhebt und die Gründung von weiteren Sprachprüfungsinstituten mit anderen Sprachprüfungen (wie TELC, BME usw.) erlaubt und akzeptiert (vgl. Szépe 2001: 112). 22 Roberta V. Rada Die Neuregelung des Abiturs 2002 Die ungarische Bildunsgpolitik wurde dank des EU-Beitritts Ungarns 2004 in den 2000er Jahren in sehr starkem Maße durch die geltenden bildungspolitischen Strategien der EU geprägt (vgl dazu ausführlich Kecskés 2003). Darüber hinaus wurde sie auch von den in den 2000er Jahren duchgeführten PISA- Untersuchungen, in denen die ungarischen Schüler nicht besonders gut abgeschnitten haben, beeinflusst. Die neue bildungspolitische Situation wurde in der öffentlichen Bildung in erster Linie durch die Reform des Abiturs markiert, das neue Gesetz (Entscheidung des Bildungsministers 40/2002 (V.24) trat aber erst 2005 in Kraft. Im selben Jahr wurde an allen Mittelschulen das zweistufige Abitur eingeführt. Die Reform des Abitursystemsbeabsichtigt die Standardisierung, die Prüfungsmöglichkeit auf unterschiedlichen Stufen sowie die neue Regelung des Einstiegs in das Universitätsstudium. Demnach kann die Abiturprüfung auf zwei Stufen, auf einer mittleren sowie auf einer oberen Stufe, abgelegt werden. Das generelle Ziel der Abiturprüfung in der Fremdsprache ist das Messen der kommunikativen Fremdsprachenkenntnisse. Die Abiturprüfung ist immer einsprachig, wird also in der betreffenden Fremdsprache abgelegt. Die generellen Anforderungen der Abiturprüfung in einer Fremdsprache sind von den Empfehlungen des Europarates in Bezug auf den FSU geleitet, die Bestimmung der Stufen richtet sich nach der EU-Skala. Das Niveau der AbiturprüfungaufmittlererStufeentsprichtderStufeA2- B1, dasderoberenStufe dem Niveau B2. In der einschlägigen Regelung werden die ausführlichen Prüfungsanforderungen ähnlich wie im NAT (vgl. Kapitel 5.2) je nach Fertigkeiten (Lesen, Hören, Sprechen und Schreiben) formuliert, verlangte Textsorten, Themenbereiche, kommunikative Situationen und Absichten, grammatische Konstruktionen sowie Wortschatzbereiche angegeben. Die Prüfunganforderungen werden im Zusammenhang mit den Empfehlungen des Europarates je nach Stufe (mittlere oder obere Stufe) differenziert.8 Auch der Ablauf der Abiturprüfung wird beschrieben. Die Prüfung besteht auf beiden Stufen aus einem schriftlichen und einem mündlichen Teil, im Rahmen beider Prüfungsteile werden sowohl die grammatische wie auch die lexikalische Kompetenz gemessen.9 Parallel zum neuen Abitur wurden die Aufnahmeprüfungen für die Universitäten abgeschafft und ein kompliziertes Punktesystem anstelle der Aufnah 8Beispielsweise wird auf der mittleren Stufe verlangt, einen Einladungs-oder einen Grußkartentext zu produzieren, auf der oberen Stufe dagegen sollten die Abiturienten einen Leserbrief oder einen Beitrag für eine Schülerzeitung verfassen können. 9Die Einführung des neuen Abiturs galt übrigens als eine riesengroße logistische Herausforderung und führte bereits 2005 wegen Durchsickerung der Abiturfragen eine ernste bildungspolitische Krise herbei. 23 Roberta V. Rada meprüfungen für die Zulassung zum Studium ausgearbeitet. Aus Platzgründen muss auf die ausführliche Erläuterung dieses Punktesystems verzichtet werden (vgl. dazu detailliert: www 4). 8 Das Hochschulgesetz 2005 Das Hochschulgesetz CXXXIX von 2005 setzt sich zum Ziel, den ungarischen Hochschulbereich – nach dem EU-Beitritt des Landes – den Beschlüssen der Konferenz der EU-Bildungsministern in Bologna entsprechend EU-konform zu gestalten. Die ungarischen Hochschulen und Universitäten sollen moderne Kenntnisse vermitteln, im internationalen Maßstab konkurrenzfähig sein und mittelbar oder unmittelbar der technologischen Innovation dienen. Sie sollen neben den traditionellen, die in der Magna Charta Europäischer Universitäten festgelegten Werte bewahren, um sich der Europäischen Hochschul-und Forschungslandschaft anschließen zu können. Die hohe Qualität des Unterrichts und der Forschung soll mit der Anpassung an die realen wirtschaftlichen, sozialenundfinanziellenVerhältnissedesLandesHandinHandgehen, ergänztdurch die Gewährung der studentischen Chancengleichheit und die erfolgreiche Praktizierung der Begabtenförderung. Im Interesse der Mobilität von Studenten und Lehrkräften wurde die gesetzliche Möglichkeit des Anschlusses an internationale Projekte (wie TEMPUS, ERASMUS) bereits am Anfang der 2000er Jahre gewährt. Desweiteren sollen drei wesentliche Aspekte dieses Hochschulgesetzes hervorgehoben werden, die den FSU und dadurch auch den DaF-Unterricht im ungarischen Hochschulbereich maßgeblich – samt den durch das Gesetz generierten Problemen – geprägt haben und auch zur Zeit prägen. 8.1 Integration im Hochschulbereich Das Hochschulgesetz verordnet die Integration von ansonsten überwuchernden Hochschulen und Universitäten diverser Profile, wodurch eine Reduzierung der Hochschullandschaft angestrebt werden sollte. Die Zahl der Instutionen im Hochschulbereich ist dadurch wesentlich gesunken, was auch den FS-Bereich stark betroffen hat. 8.2 Einführung der modularisierten Studiengänge Im Sinne des Hochschulgesetzes 2005wurden ein Jahr späterauch in dem ungarischen Hochschulbereich die modularisierten Studiengänge mit den Abschlüssen Bachelor und Master sowie die höhere Fachausbildung – für Erwachsene mit Abitur – ohne akademischen Abschluss und die fachliche Weiterbildung von Erwachsenen mit abgeschlossener akademischer Ausbildung eingeführt. 24 Roberta V. Rada Allgemeines Ziel der dreijährigen BA-Studiengänge ist die Ausbildung von Fachleuten, die über gute sprachliche Kompetenz verfügen und sich in den wichtigsten Teilbereichen sehr gut auskennen. Bei einer modernen FS betrifft das neben der Sprache die Literatur, die Landeskunde, die Kultur, die Politik, etc.. Diese Ausbildung ist praxisorientiert, nach dem Abschluss sollen die Absolventen auf dem Arbeitsmarkt ihre erworbenen Kenntnisse umsetzen können (vgl. Bassola 2008: 18-19). Die sechssemestrige Ausbildung stellt eine Grundausbildung dar, die noch kein Universitätsdiplom nach sich zieht und damit auch nicht zur Unterrichtstätigkeit in einer FS (auf keiner Stufe) befähigt. Die entsprechende akademische Ausbildung können die Studierenden auf der MA-Ebene erwerben. Auf der BA-Stufe soll im Sinne des Hochschulgesetzes von 2005, also gesetzlich vorgeschrieben, auf die Vermittlung wissenschaftlier Ergebnisse verzichtet werden. Das hat zur Folge, dass die Studenten, die mit einem BA-Diplom aussteigen, keine ausreichenden theoretischen Grundlagen erhalten, wodurch auch ihre Grundlagen für die MA-Ausbildung nicht gesichert sind. Die MA- Ausbildung geht im fremdsprachlichen Bereich in zwei Richtungen: zum einen gibt es das Lehramtsstudium und zum anderen gibt es den Master in Philologie. Die Zeit mit vier Semestern auf der MA-Stufe ist viel zu kurz, um die von der BA-Stufe mitgebrachten Defizite nachzuholen. Besonders problematisch wird es für die Lehramtstudierenden auf MA-Stufe sein, zumal sie zwei Fächer studieren müssen (vgl. Bassola 2008: 19). Des Weiteren veranschaulicht das Hochschulgesetz, wie sich im FSU der Wandel des traditionellen Wertesystems, der abnehmende Einfluss und die ins Negative geschlagene Beurteilung der humanen Bildung durch die Gesellschaft niederschlägt. Die Konvertibilität der Grundausbildung in einer FS nach sechs Semestern ist übrigens von vielen Bedingungen abhängig: zunächst von den Sprachkenntnissen und Kompetenzen der Studierenden zu Beginn der BA- Ausbildung, aber auch davon, inwieweit von den Studierenden die gegebenen Spielräume bei der Wahl der nicht-obligatorischen Module und differenzierten Spezialisierungen genutzt werden. Die durch den Bologna-Prozess ausgelöste wichtigste Herausforderung für alle Universitäten, die sich mit FSU beschäftigen, besteht nach Kertész darin, dass die traditionellen Werte des Fremdsprachunterrichts radikal infrage gestellt werden (vgl. Kertész 2008: 30). Die Pflege einer fremdsprachigen Kultur, die Anwendung hochkarätiger Ergebnisse der Sprach-und Literaturtheorie auf die Untersuchung der betreffenden FS und Literatur werden nicht mehr benötigt. Statt dessen wird erwartet, den Studenten praktische Fertigkeiten in einer Fachsprache, im Fremdenverkehr, in fremdsprachiger Administration oder Informationstechnologie zu vermitteln (vgl. Kertész 2008: 30). Es ist fraglich, ob diese Ausbildung zur Verbesserung der Situation des FSU in Ungarn beitragen wird. Das Bologna-Modell ist in Ungarn in der 25 Roberta V. Rada Erprobungsphase, seine Ergebnisse und Erfahrungen stehen deshalb noch aus. Zu den konkreten Inhalten, Methoden und Problemen in der BA-und MA- Ausbildung im Bereich Germanistik gibt es eine ganze Reihe von aktuellen einschlägigen Publikationen (vgl. Orosz/V. Rada in diesem Band). 8.3 Veränderung der Finanzierung EinweitererAspektdesHochschulgesetzesvon2005, welcherdenFSUimHochschulbereich stark beeinflusst, ist, dass der Staat auf seine Dominanz bei der Verteilung finanzieller Quellen in den Bereichen Wissenschaft und Kultur und Unterricht verzichtet, was zur radikalen Änderung in den Mechanismen der Finanzierung geführt hat (vgl. Kertész 2008: 33). Erstens erfolgt die an eingeschränkte staatliche Finanzierung in Form einer normativen Unterstützung, wobei der Staat für jedes akademische Jahr für jedes Fach / jede Fachrichtung die Zahl der staatlich finanzierten Studienplätze festlegt. Über diese Quote hinaus besteht auch noch die Möglichkeit der Eigenfinanzierung der Studien. Die normative Unterstützung durch den Staatshaushalt wird auf der Grundlage von messbaren Leistungsmerkmalen, wie zum Beispiel die Zahl der Studierenden je nach Fachrichtung, die Zahl der qualifizierten Lehrkräfte (mit PhD,Habilitation usw.), dasVolumender Doktorandenausbildung, die Zahl und Qualität der wissenschaftlichen Publikationen der Mitarbeiter, das Maß ihrer Teilnahme an in-und ausländischen Konferenzen, die Teilnahme an in-und ausländischen wissenschaftlichen Projekten usw. festgelegt. Zweitens überlässt der Staat den Hochschulen die Finanzierungsquellen, die nicht aus dem Staatshaushalt (zum Beispiel Bewerbungen) stammen. Die einzelnen Institutionen müssen daher Drittmittel aller Art auftreiben, um die fehlende Finanzierung kompensieren zu können (vgl. auch Dezsõ 2009). Universitäten und Hochschulen müssen wie eine Firma oder ein Unternehmen pro- fitorientiert denken und handeln, sie sind zur selbstständigen Wirtschaftstätigkeit gezwungen. Dies wiederum führt notwendigerweise zur Herausbildung von ganz neuen Universitätstypen, die unter den neuen vom Markt diktierten Bedingungen das sogenannte Humboldtsche Modell europäischer Universitäten immer mehr ablösen (vgl. Kertész 2008: 33 ff.). Einer dieser neuen Universitätstypen wird wirtschaftlich orientiert sein und Dienstleistungen anbieten und sie kann sogar durch die Kooperation mit wirtschaftlichen Unternehmen die Forschung organisieren, was unmittelbarem wirtschaftlichen und industriellen Interessen dient. Somit funktionieren solche Universitäten wie Großunternehmen. Genau das wollte das Hochschulgesetz von 2005 beschleunigen. Für manche Universitäten wären Probleme solcher Art wegen ihres Profils durchaus zu bewältigen, nur dass die Voraussetzungen dafür in Ungarn in absehbarer Zeit nicht vorhanden sind. 26 Roberta V. Rada Die Institute der geisteswissenschaftlichen Fakultäten haben es in dieser Situation besonders schwierig. Sie versuchen meistens den wirtschaftlichen Notwendigkeiten in minimal erforderlichem Maße nachzugehen, können aber ihren definitorischen Aufgaben in Lehre und Forschung immer schwieriger nachkommen. Die Möglichkeiten des Erwerbs von Drittmitteln in Form von finanzierten Projekten werden im geisteswissenschaftlichen Bereich generell Jahr für Jahr geringer. Doch dass die Umstellung auf die neuen Verhältnisse bereits im Bereich moderner FS funktionieren kann, zeigt die Initiative des Germanistischen Instituts der Universität Debrecen. Das Institut hat einen Partner in der Privatwirtschaft gefunden, der bereit ist, einen finanziellen Beitrag für Lehre und Forschung zu leisten (vgl. Katschthaler 2008: 26 ff). Die deutsche Firma IT- Services hatte ihren Wunsch an das Germanistische Institut geäußert, einen Teil ihrer potentiellen zukünftigen Mitarbeiter über einen längeren Vetragszeitraum auszubilden, wobei es hier um die fremdsprachliche Ausbildung geht. Im Sinne des abgeschlossenen Kooperationsvertrags wird im Rahmen der germanistischen BA-Ausbildung in Debrecen eine Spezialisierung angeboten, die spezielle IT-bezogene Sprach-und grundlegende IT-Kenntnisse in deutscher Sprache vermittelt. Eine solche Entscheidung wirft natürlich eine Reihe von Fragen fachlicher, ethischer aber auch wirtschaftlicher Art auf. Da nennenswerte Erfahrungen noch nicht vorhanden sind, bleibt abzuwarten, wie der erste Versuch dieser Art eines Germanistischen Instituts in Ungarn endet. 9 Die jüngsten Regelungen in Bezug auf den institutionalisierten FSU 9.1 Bevorzugung des Englischen als obligatorische FS in der öffentlichen Bildung In den letzten Jahren etablierte sich weltweit ein FSU, der als Folge solcher Entwicklungstendenzen, wie Globalisierung und Internationalisierung, die kulturellen, historischen und sozialen Erfahrungen und Traditionen der einzelnen Länder in den Hintergrund drängte. Dabei wird Englisch als Lingua franca von einem konkreten kulturellen Kontext losgelöst gelehrt und gelernt und als Weltsprache allgemein akzeptiert. Viele denken – so auch in Ungarn –, dass die BeherrschungderenglischenSprachedieKenntnisandererSprachenüberflüssig macht. Laut einer neuen Regelung soll jede allgemeinbildende Schule ab 2010 die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Schüler Englisch in der Schule lernen können. Durch den zunehmenden Einfluss der Globalisierung sinkt das Interesse für Deutsch, Französisch, Italienisch sowie die übrigen FS, auch die 27 Roberta V. Rada Schuljahr Englisch Grundschule Englisch Mittelschule Deutsch Grundschule Deutsch Mittelschule 2003/04 362.193 344.490 250.056 278.371 2007/08 376.098 372.153 185.624 259.904 Tabelle 4: DieAnzahl derDeutsch und Englisch Lernenendenin ungarischen Grund- und Mittelschulen in den 2000er Jahren (Angaben bei Szilvási: 3) Sprachen der Nachbarländer, in der öffentlichen Bildung, immer deutlicher. Der neuen Regelung zufolge ist zu befürchten, dass Englisch in Zukunft nicht nur als erste, sondern als die einzige Fremdsprache in Ungarn unterrichtet wird, während andere Fremdsprachen als zweite oder dritte Fremdsprache angeboten werden. Gleichzeitig wird diese Gesetzesänderung wahrscheinlich mit sich bringen, dass ab 2010 der FSU sowohl in den Grund-als auch in den Mittelschulen, und vor allem in denen, die es sich nicht leisten können, ihren Schülern mehrere FS anzubieten, auf das Englische beschränken wird (vgl. Szilvási: 5). Zwar kann dadurch die Verbesserung der Fremdsprachenkenntnisse der ungarischen Bevölkerung erwartet werden, doch sind deswegen bis zu einem gewissen Grad alle anderen FS gefährdet, aber am meisten sicherlich Deutsch mit seiner traditionsreichen Vergangenheit und mit einer beinahe 100 Mio. Menschen umfassenden Sprachgemeinschaft unmittelbar an der westlichen Grenze Ungarns, wobei die Situation des Deutschen insgesamt nicht besonders günstig ist (vgl. Tabelle 4). DiemöglichenFolgendieserEntwicklungenwerdendabeiinUngarninFachkreisenheftigdiskutiert. InBezugaufdieinderEUdeklarierteSprachenpolitik bemerkt Hessky, dass durch eine solcheRegelungdesFSUdas„multilingale und multikulturelle Europa (...) notwendigerweise (...) auf der Strecke“ bleibt (Hessky 2008: 15). Ausgehend von der in der EU praktizierten Sprachenpolitik sei betont, dass die faktischen Arbeitsprachen der EU, Englisch, Deutsch und Französisch beziehungsweise eine von diesen für einen jeden erwachsenen ungarischen Arbeitnehmer von Belang seien. Daher dürfe die Zahl der zu unterrichtenden Fremdsprachen nicht weiter verringert werden. Dies wiederum könne erreicht werden, wenn in der öffentlichen Bildung mindestens zwei FS gelernt werden könnten (vgl. Szépe 1998: 80). Darüber hinaus wäre es für ungarische Muttersprachler aus Fremdspracherwerbsgründen und psycholinguistischen Gründen günstig, mit einer morphologisch schwierigeren Fremdsprache (Deutsch, Französisch, Spanisch oder Russisch) zu beginnen, der dann als zweite obligatorische FS das morphologisch einfachere Englisch folgen sollte (vgl. Knipf-Komlósi 2009: 29). 28 Roberta V. Rada 9.2 Regierungsordnungüber dieQualifikation„Forschungsuniversität“ Im Sinne der Regierungsordnung 276/2009 (XII. 4.) kann an Hochschulen und Universitäten, die über den im Hochschulgesetz 2005 festgelegten Bedingungen hinaus bestimmten Qualitätskriterien Genüge leisten, für drei Jahre als Ergebnis eines entsprechenden Bewerbungsprozesses die Qualifikation „Forschungsuniversität“ vergeben werden. Der Begriff „Forschungsuniversität“ erscheint bereits im Hochschulgesetz 2005, Anfang 2006 wurde sogar ein entsprechender Entwurf vorgelegt, aber es dauerte noch 3 Jahre, bis das Gesetz in Kraft getreten ist (vgl. Mihaletzky 2009). Im Gesetzestext werden die Prinzipien und Kriterien aufgelistet, die die Vergabe der Qualifikation bedingen. Die zukünftigen Forschungsuniversitäten müssen folgende Bedingungen erfüllen: • kontinuierliche und strategische Tätigkeit im Bereich der Grundlagenforschung und der angewandten Forschung, • Durchführung bedeutender in-und ausländischer Forschung und Innovation, deren Ergebnisse in Publikationen hoher Qualität veröffentlicht und im Unterrichtsprozess vermittelt werden, • Begabtenförderung und -betreuung auf allen Ebenen der Ausbildung, mit besonderer Berücksichtigung der hervorragenden Leistung in der Doktorandenausbildung, • weitgefächerte internationale Zusammenarbeit sowohl in der Forschung als auch im Unterricht, • hoher Anteil von qualifizierten vollbeschäftigten Lehrkräften und Forschern, • auch international relevante Publikationstätigkeit der Mitarbeiter, • international anerkannte Doktorandenausbildung in mehreren Bereichen, • erhebliche in-oder ausländische Forschungs-, Entwicklungs-und Innovationseinkünfte auf Grund unmittelbarer Bestellung oder erfolgreicher Bewerbungen, • dieBewerberuniversitätsolldankihresWissens-undTechnologietransfers die Beziehung zwischen dem Hochschulbereich und dem wirtschaftlichen Bereich organisieren und stärken, • die Bewerberuniversität soll Forschungsstellen, die von der Ungarischen Wissenschaftlichen Akademie unterstützt werden, beherbergen, 29 Roberta V. Rada • die Bewerberuniversität soll an entsprechenden EU-Programmen teilnehmen und die Qualitätssicherung unterstützen, • die Bewerberuniversität soll Kooperationsabkommen mit bedeutenden ausländischen Hochschulen, Universitäten und Forschungsstellen aufweisen können, • an der Bewerberuniversität sollen fremdsprachliche Kurse angeboten, ausländische Studierende und Doktoranden empfangen werden; anerkannte ausländische Professoren oder Dozenten haben die Möglichkeit, eigene Kurse zu initiieren etc. Aufgrund dieser Auflistung kann die eindeutige Zielsetzung der Verordnung ermittelt werden, nach deutschem Muster auch in Ungarn Elite-Universitäten zu schaffen, in denen auf allen Ebenen, von der Grund-über die Master-bis hin zur Doktorandenausbildung eine Unterrichtstätigkeit auf hohem Niveau durchgeführt wird, die mit einer Forschungstätigkeit besonders hoher Qualität verbunden ist. Was die finanzielle Unterstützung der Forschungsuniversitäten anbelangt, verfügt das Gesetz recht knapp: Den Universitäten mit der Qualifikation „Forschungsuniversität“ kann auf Grund eines Sonderverfahrens eine zusätzliche finanzielle Unterstützung gewährt werden. Das heißt, die Qualifikation ist ab ovo mit keiner finanziellen Untestützung verbunden, ihre Vergabe wird von der Finanzierung getrennt. Sie gilt lediglich als Voraussetzung für die Bewerbung um zusätzliche finanzielle Unterstützung im Rahmen eines weiteren Bewerbungsverfahrens. Daskanndazuführen,dassnichtdieForschungsuniversitäten selbst sondern konkrete Forschungsprogramme finanziert werden (vgl. Mihaletzky 2009: 13). Da die meisten potentiellen Forschungsuniversitäten stark unterfinanziert sind, besteht die Gefahr, dass die zusätzlichen finanziellen Mittel dazu benutzt werden, die finanziellen Lücken im Haushalt zu schließen, zum Beispiel Löhne zu korrigieren, Renovierungen durchzuführen, usw.. Das ursprüngliche Ziel, die Integration in die europäische Hochschulregion darf dabei auf keinen Fall aus dem Blickwinkel geraten. Die Qualifikation „Forschungsuniversität“ bildet – zumindest rein theoretisch gesehen – gerade für die geisteswissenschaftlichen Fakultäten, die hervorragende Forschung und Lehre leisten können, nicht nur eine gute Alternative, ja sogar eine Chance. Sie signalisiert nämlich für die zukünftigen Studenten das Forschungs-und Unterrichtsniveau der betreffenden Universität, die dadurch über ein höheres Prestige verfügt und mehr Studenten anziehen kann. Forschungsuniversitäten können jedoch nur auf der Basis einer hervorragenden Forschungsfinanzierung, wie etwa in Deutschland (vgl. Spiegel online 04. Juni 2009), funktionieren. In Anbetracht der skizzierten Unsicherheiten kann im Voraus nicht beurteilt werden, wie lange es in Ungarn noch dauern wird, 30 Roberta V. Rada bis wir von einer gut funktionierenden Institution der Forschungsuniversitäten sprechen dürfen. Immerhin wird die Initiative von den Betreffenden in Ungarn einstimmig mit Begeisterung begrüßt (vgl. Mihaletzky 2009). 10 Fazit und Ausblick -Zukunftschancen des Deutschen als Fremdsprache in Ungarn Seit der politischen Wende 1989 erlebt Ungarn – unter anderem auch im Bildungsbereich – eine Identitätskrise und versucht krampfhaft seinen Platz in der EU zu finden. Diese Suche ist bis heute nicht abgeschlossen. Der FSU in der öffentlichen Bildung, also in den Grund-und Mittelschulen Ungarns wird – trotz der öffentlich oft diskutierten, schwerwiegenden Probleme – am Ende des ersten Jahrzehntes des 21. Jahrhunderts grundsätzlich noch immer von dem mehrfach modifizierten „Nationalen Grundlehrplan“(NAT) aus dem Jahre 1995 geprägt. Die Wende brachte im Hochschulbereich die enorme Erhöhung der Institutionen-und der Studentenzahl mit sich. Durch diese quantitative Expansion ist momentan der ungarische Staat bei der Aufrechterhaltung des Systems vor allem finanziell überfordert. Der Massenunterricht müsste nun durch einen Unterricht von hoher Qualität ersetzt werden. Für den ungarischen Hochschulbereich gibt es jedoch zur Zeit keine allgemein akzeptierte, kohärente sprachen-beziehungsweise bildungspolitische Strategie, die eine solche Umstellung ermöglichen würde. Dies mag damit zusammenhängen, dass der ungarische Hochschulbereich außer Acht gelassen hat, seine eigene Identität nachderpolitischenWendezubestimmen: WasistdieFunktiondesHochschulbereiches, der Studenten, der Lehrkräfte, der Akademiker mit einem philologischen Diplom, der Intellektuellen in den Geisteswissenschaften im Ungarn des 21. Jahrhunderts? In der heutigen Situation kann die hoffnungsvolle neueste Verordnung über die Qualifikation „Forschungsuniversität“ sowohl bei der Identitätsfindung als auch bei der Beantwortung der Frage helfen, wie sich ungarische Hochschulen und Universitäten in der europäischen Hochschulregion erfolgreich behaupten können. Die Forschungsuniversität stellt eine verheißungsvolle Chance auch für Universitäten mit Fremdsprachenausbildung dar. Die finanzielle Unterstützung der durch die erworbene Qualifikation verlangten niveauvollen Forschungs-und Unterrichtstätigkeit ist jedoch damit noch nicht garantiert. Trotzdem scheint die Institution der Forschungsuniversitäten die einzige vernünftige Alternative für den FSU im Hochschulbereich zu bedeuten und die Möglichkeit, die sie bietet, darf auf keinen Fall verpasst werden. In Bezug aufdie gegenwärtige Situationdes institutionalisiertenFSUinUngarn kann die generelle Schlussfolgerung gezogen werden, dass Ungarn sowohl im Bereich der öffentlichen Bildung wie auch in dem Hochschulbereich noch viele Probleme zu bewältigen hat. Von etwaigen sich langsam abzeichnenden 31 Roberta V. Rada positiven Tendenzen kann zur Zeit noch kaum gesprochen werden. Die allgemeine Situation des FSU in der öffentlichen Bildung prägt grundsätzlich auch den DaF-Unterricht. Dieser befindet sich zur Zeit in Ungarn in einer Umbruchsituation, und zwar sowohl in qualitativer wie auch in quantitativer Hinsicht. Die Schrumpfung der Schülerzahl im DaF-Bereich sowie der Studenten-und Mitarbeiterzahlen im Fach Germanistik erzwang die Notwendigkeit von inhaltlichen Innovationen und neuen Profilen innerhalb des Faches. Die Suche nach entsprechenden Lösungen und Mitteln ist bereits im Gange. Versucht man die Chancen des Deutschen als FS in Ungarn nach objektiven Kriterien zu beurteilen, so kommen folgende Aspekte in Frage (vgl. Földes 2009: 24): a) regionale Faktoren: Nachbarschaftslage zum deutschen Sprachgebiet, direkter Kontakt mit deutschen Muttersprachlern, problemloser Zugriff auf deutschsprachige Medien, b) ethnische Faktoren: Deutsch gilt in Ungarn als Minderheitensprache der zahlenmäßig stärksten nationalen Minderheit, c) kulturelle Faktoren: Die deutsche Sprache und der Deutschunterricht blicken auf lang bewährte Traditionen in Ungarn zurück. Die Germanistik gilt als ein durchaus etabliertes akademisches Fach mit reichen Traditionen und mit einem hohen akademischen Leistungsanspruch, das auch internatonal gute Reputation genießt10 , d) politisch-ökonomische Faktoren: deutschsprachige Länder bilden den wichtigsten Wirtschaftspartner Ungarns, Gesellschaften aus Deutschland, Österreich und der Schweiz gelten als die wichtigsten Investoren11. Mit dem Deutschen sind also zahlreiche günstige wirtschaftliche Möglichkeiten und Vorteile verbunden. Hinsichtlich der Beziehung des Englischen und des Deutschen im ungarischen FSU in Ungarn sollte keinesfalls von einer Rivalität gesprochen werden. Deutsch und Englisch haben nämlich in dem europäischen Kontext eine völlig andere Funktion: Englisch sollte als International-Airport-Englisch, als weltweit gebrauchte Wissenschaftssprache und vorherrschende Lingua franca in der Weltfürdie ZweckeeinerglobalenKommunikationbetrachtetwerden, während Deutsch als „regionale Kontaktsprache für die Kommunikation zwischen Mitteleuropäischen Nachbarn“ fungieren könnte (Knipf 2009: 29). Mitunter wird besonders von den ungarischen Jugendlichen eindeutig erkannt, dass sie in der modernen globalisierten Welt über Englischkenntnisse verfügen müssen, aber auch, dass die Kenntnisse dieser einen FS nicht ausreichen, um sich in der Berufszukunft erfolgreich behaupten zu können. In diesem komplexen Kontext stehen meines Erachten die Chancen des Deutschen, selbst wenn es vorläufig eher „nur“ als zweite FS fungieren kann, gar nicht so schlecht. 10Vgl. dazu ausführlich den Beitrag von Orosz/v. Rada in diesem Band 11Vgl. dazu ausführlich den Beitrag von Komáromy in diesem Band 32 Roberta V. Rada 11 Literatur Ammon, Ulrich (2006): Schwerpunkte und Probleme der Sprachenpolitik Deutschlands. In: Feld-Knapp, Ilona (Hg.): Lernen lehren – Lehren lernen. Budapest: ELTE Germanistisches Institut 2006, 22-36. Ammon, Ulrich (1997): Schwierigkeiten bei der Verbreitung der deutschen Sprache heute. In Muttersprache 1/97: 17-34. Balázs, Géza (1998): Magyar nyelvkultúra az ezredfordulón [Ungarische Sprachkultur an der Jahrtausendwende]. Budapest 1998. Bassola, Péter (2008): Wohin steuert die ungarische Germanistik? In: Tichy, Ellen/Masát, András (Hg.): Jahrbuch der ungarischen Germanistik 2007. Budapest/Bonn 2008, 18-20. Bosch, Gloria (2001): Sprachenpolitik und Fremdsprachenunterricht. In: Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch. Hrsg. von Helbig, G., Götze, L., Henrici, G., Krumm, H-J. Zweiter Halbbd. Berlin/New York 2001, 1361-1367. 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Einleitung 1999 beschlossen die Bildungsminister von 29 Staaten bei ihrer Konferenz in Bologna, einen gemeinsamen „Hochschulraum Europa “ zu schaffen. Der europäische Traum: ein Studium ohne Grenzen für die über 15 Millionen Studenten an über 5000 europäischen Hochschulen -mit freiem Wechsel, ohne Visa-Probleme und lästigen Anerkennungsstreit über unterschiedliche Schulzeugnisse. Dabei wollte man flächendeckend gestufte Studiengänge mit den Abschlüssen Bachelor und Master einführen, die Mobilitätshindernisse für die Studierenden abbauen und Instrumente zur Qualitätssicherung einführen. Aus obigen Informationen wäre durchaus zu vermuten, dass die Perspektiven für Deutsch als Fremdsprache und noch mehr: für Deutsch als europäische SpracheeinerosigeZukunftversprechen. Betrachtet manjedochdieStatistiken des Fremdsprachenerwerbs in Ungarn, so ist seit Jahren zu beobachten, dass sich die deutsche Sprache auch in Ungarn auf dem Rückzug befindet, es wird immermehrEnglischgesprochenundgelernt. EnglischistnichtnurdieSprache der Wirtschaft, sondern zunehmend auch die Sprache der Wissenschaft, und nicht zuletzt die offizielle Sprache des Bologna-Prozesses, der bekanntlich zur Verwirklichung des Europäischen Hochschulraumes führen soll. Diese Feststellungen münden notwendigerweise in der Fragestellung: Wie sieht es bezüglich der deutschen Sprache im ungarischen Hochschulwesen aus? 37 Dezsõ Szabó 2 Das ungarische Hochschulsystem Ungarn begann -anders als andere osteuropäische Staaten -schon vor dem Ende des Sozialismus in Osteuropa, das Bildungswesen zu demokratisieren: 1988 stellte die kommunistische Partei ihre Arbeit an den Hochschulen ein, die obligatorischen „Ideologiefächer “ wurden abgeschafft. Nach 1989 erhielt die Reform neue Impulse und wurde 1993 durch das Gesetz für Hochschulbildung, das endlich die lang ersehnte Autonomie der Hochschulen festgelegt hatte, abgerundet. Der Prozess wurde durch das Ungarische Hochschulgesetz von 2005 gekrönt und stellte gleichzeitig die Weichen für die weitere Entwicklung. Ungarns akademische Bildungslandschaft setzt sich aus Universitäten und Colleges, im Ungarischen „Hochschulen“ genannt, zusammen. Viele von diesen bieten neben dem ungarischsprachigen Studium auch fremdsprachige – meist auf Englisch und/oder Deutsch – Studiengänge an. Dabei ist es um die deutsche Sprache nicht nur in Ungarn, sondern generell in Mittel-Ost-Europa sehr gut bestellt, manche bezeichnen die Region sogar als eine Hochburg des Deutschen, Deutsch ist neben dem Englischen die meist beherrschte Fremdsprache. 1 3 Ausländische StudentInnen in Ungarn Aus unserer Sicht ist es ebenfalls interessant, die Zahlen der in Ungarn studierenden Ausländer nach dem ländermäßigen Anteil zu vergleichen, denn vor allem die Zahlen der StudentInnen aus den europäischen Ländern sind mit Vorsicht zu betrachten (vgl. Rédei 2007): vgl. Tabelle 1. Die Spitze wurde mit dem Studienjahr 2006/2007 erreicht. In diesem Jahr kamen über 15 000 ausländische Studenten aus 118 Ländern nach Ungarn und stellten damit 3,8% der an Hochschulen Studierenden dar. Damit wurde der Durchschnitt der Europäischen Union (bis zu 15%!) noch lange nicht erreicht. Dieser Trend zeigt einen aufsteigenden Prozess und eine wachsende geographische Ausbreitung. Bedauerlicherweise steht uns keine Statistik darüber zur Verfügung, welchen Zeitraum die Studienzeit die ausländischen StudentInnen im Durchschnitt in Ungarn beträgt. Wir wissen auch wenig darüber, welche Stipendien sie hierzu in Anspruch nehmen. Die geographische Verteilung der Studenten blieb unverändert: etwa 79% kommt aus den europäischen Ländern, 16% aus Asien, 3% aus Nord-Amerika und etwa 2% aus einem afrikanischen Land. Darüber hinaus sieht man, dass mehr als die Hälfte der ausländischen Studenten aus den Nachbarländern kommt. Es ist nicht überraschend, dass dieser Umstand stark mit der Präsenz 1Wobei man bei der Interpretation dieser Aussage freilich die Rolle der Deutschkenntnisse der ungarndeutschen Bevölkerung mit berücksichtigen sollte. 38 Dezsõ Szabó Abbildung 1: Quelle: Bildungsministerium Ungarn der ungarischen Minderheiten in diesen Ländern zusammenhängt. Berücksichtigt man diese spezielle Situation, so lässt sich feststellen, dass die deutschen Gaststudenten eine dominante Position im Kreis der ausländischen Studenten einnehmen. Mobilität deutscher Studierender nach Ungarn (1999-2007) einschließlich ERASMUS / LEONARDO Wie sehen nun die Zahlen des deutsch-ungarischen Austausches aus? UntersuchtmandieletztenzehnJahre, soergebensichfolgendeZahlen: sieheTabelle 2. Hier ist bis 2006 eine steigende Tendenz zu beobachten, ab 2007 zeigt das Bild eine geringfügig sinkende Häufigkeit. Im ungarischen Hochschulwesen sind die nicht-ungarischen Staatsbürger nur zu den kostenpflichtigen Studiengängen zugelassen, wobei die Empfän 39 Dezsõ Szabó Entsenderland Zahl der StudentInnen Rumänien 3300 Slowakei 2300 Deutschland 2050 Ukraine 2000 Serbien 1650 Israel 700 Norwegen 700 Iran 500 Zypern 290 Schweden 250 USA 250 Russland 200 Tabelle 1: In Ungarn studierende Ausländer 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 551 585 671 764 768 706 914 962 884 Tabelle 2: Deutsch-ungarischer Austausch, Quelle: Bildungsministerium Ungarn ger der staatlichen Stipendien und EU-Stipendien (in der Regel ERASMUS- Stipendien) eine Ausnahme bilden. Daran änderte der Beitritt Ungarns in die EU im Jahre 2004 auch nichts Wesentliches, denn die fremdsprachlichen Studiengänge folgen der Logik der Annäherung des Profiterwerbs (revenue generating) (vgl. Hatos 2009). ImFolgendenstellen wir die deutschsprachigen Studiengänge vor, wobeidas Fach Germanistik nicht berücksichtigt wird 2 (vgl. dazu auch Orosz/V. Rada in diesem Band). 5 DeutschsprachigeBildungenandenHochschulen Das Ungarische Bildungsministerium erkennt insgesamt 25 Einrichtungen (davon 18 staatliche und 7 „nicht staatliche“) als Universitäten an. Des Weiteren gibt es 45 (davon 11 staatliche und 34 „nicht staatliche“) Hochschulen in Ungarn, die die Berechtigung haben, akademische Titel zu verleihen. Ungarn hat für Studierende aus dem deutschsprachigen Raum tatsächlich einige Vorteile zu bieten: Einen Numerus clausus gibt es nicht; ein Wechsel auf eine deutsche Uni 2Über die deutsche Sprache und die ungarische Germanistik gibt es zahlreiche Darstellungen, siehe stellvertretend: Földes 1998. 40 Dezsõ Szabó ist nach dem Physikum möglich; Diplome und Dr.-Titel werden in Deutschland problemlos anerkannt. Für Abiturienten, die Physik, Chemie und Biologie abgewählt oder nur eine Durchschnittsnote über 2,5 erreicht haben, veranstalten die vier Hochschulen gemeinsam ein Vorbereitungsjahr. Bei den anfänglichen Schwierigkeiten bei der Anmeldung, Krankenversicherung und Wohnungssuche hilft - ebenfalls schon seit 20 Jahren - das College International Student Service Center. Die Ausbildung in Budapest ist nach der Meinung vieler Absolventen sogar besser als in den USA. Die Studiengebühren sind niedriger, und das gleiche lässt sich hinsichtlich der Lebenshaltungskosten feststellen. Die Miete einer Zwei-Zimmer-Wohnung kostet im Monat etwa 300 Euro, die Krankenversicherung 230 Euro pro Jahr, ein Mensa-Essen 2 Euro -und ein Bier in der Kneipe etwa 1 Euro. Laut einer UNESCO-Untersuchung ist Budapest eine der preiswertesten Städte Europas -und Szeged in der südungarischen Provinz ist natürlich noch günstiger. Für den Studienort Budapest sprechen auch die kulturellen Angebote einer mitteleuropäischen Metropole (www1). Die zuständigen ungarischen Institutionen (Campus Hungary, Study Transfer, Educatio GmbH unter anderem) führen regelmäßig Untersuchungen durch, um die Feedbacks ehemaliger ausländischer StudentInnen über ihre Studienzeit in Ungarn zu bearbeiten. Diese zeigen gewöhnlich ein positives Bild, die meisten erinnern sich gerne an den in Ungarn verbrachten Zeitraum zurück und können sich sogar vorstellen, dauerhaft in Ungarn zu leben. Folgende ungarische Hochschuleinrichtungen bieten deutschsprachige Studiengänge an (www2): • Corvinus-Universität Budapest (voller Name: Corvinus-Universität für Wirtschaftswissenschaften und Staatsverwaltung) • Technische und Wirtschaftswissenschaftliche Universität Budapest • Universität Debrecen • Loránd-Eötvös-Universität Budapest • Universität Kaposvár (in) Kaposvár • Ferenc-Liszt-Musikakademie Budapest • Ungarische Akademie der Bildenden Künste Budapest • Universität Miskolc • Moholy-Nagy-Universität für Kunsthandwerk und Gestaltung Budapest • Universität Pécs • Semmelweis-Universität Budapest 41 Dezsõ Szabó • István-Széchenyi-Universität Gyõr • Universität Szeged • Szent-István-Universität Gödöllõ • Akademie für Schauspiel und Film Budapest • Westungarische Universität Sopron • Pannonische Universität Veszprém • Miklós-Zrínyi-Universität für Nationale Verteidigung Budapest Im Folgenden werden einige Beispiele etwas näher vorgestellt. 6 Beispiele 6.1 Bereich Technik: Kooperation der TU Budapest und Karlsruhe Als die Rektoren der (ehemaligen) Technischen Universitäten in Budapest und Karlsruhe am 8. Mai 1970 den Kooperationsvertrag zur Förderung der wissenschaftlichen und kulturellen Kontakte zwischen den beiden Hochschulen unterzeichneten, war die erste offizielle Partnerschaft zwischen einer Universität der Volksrepublik Ungarn und einer Universität der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg besiegelt – und zwar vor der Aufnahme offizieller diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden Staaten. Seit damals sind über 700 Budapester Wissenschaftler zu Forschungsaufenthalten nach KarlsruhegelangtundetwaebensovieleausKarlsruheinBudapestgewesen. Früchte dieser Partnerschaft sind zahlreiche gemeinsame Forschungsprojekte, Publikationen, Promotionen und Habilitationen. Der Erfolg motivierte die beiden Hochschulen, 1992 die „Deutschsprachige Ingenieurausbildung“ an der Technischen Universität Budapest in den Fächern Bauingenieurwesen, Maschinenbau, Elektrotechnik/Informatik und Verkehrswesen einzurichten. Dieser Studiengang ist einer der größten seiner Art zwischen einer deutschen Hochschule und einer Hochschule in Osteuropa. „Während wir derzeit vor allem in der Bundesrepublik mit Vorwürfen konfrontiert sind, die uns mangelndes Engagement im internationalen Rahmen vorwerfen, ist dieser gemeinsame Studiengang ein lebendiges Zeichen intensiv gelebter Kooperation und wissenschaftlichen Austausches“, unterstrich 1997 bei der feierlichen Übergabe der ersten Diplome Rektor Prof. Dr. Ing. Sigmar Wittig die Bedeutung der „Deutschsprachigen Ingenieurausbildung“, die auf der Grundlage der bereits seit 1970 bestehenden wissenschaftlichen Kooperation zwischen der TU Budapest und Universität Karlsruhe gegründet wurde. 42 Dezsõ Szabó Unter vergleichbarengemeinsamen Programmen deutscher undosteuropäischer Hochschulen ist damit die „Deutschsprachige Ingenieurausbildung “ in den Studiengängen Bauingenieurwesen, Verkehrswesen, Maschinenbau, Elektrotechnik und Informatik die umfangreichste -sowohl was die Ausbildung mit zwei Studienaufenthalten an der Universität Karlsruhe als auch die Zahl der Studierenden betrifft. In diesem Beispielfall wurden die Curricula für die deutschsprachigen Studiengänge an der TU Budapest so gestaltet, dass sie mit denen an der Universität Karlsruhe kompatibel sind. Dabei findet die Ausbildung in den ersten vier Fachsemestern an der TU Budapest mit ungarischen Dozenten ausschließlich in deutscher Sprache statt. Das fünfte Fachsemester verbringen bis zu 50 Studierende an der Universität Karlsruhe und setzen vom sechsten Fachsemester an ihr Studium an der TU Budapest in ungarischer Sprache fort. Die abschließende Diplomarbeit wird an Karlsruher Instituten betreut. Trotz der auch in Ungarn zurückgehenden Zahlen von Studienbewerbern für die Ingenieurwissenschaften erfreut sich das deutschsprachige Studienprogramm der TU Budapest großer Beliebtheit. Die Absolventen haben hervorragende Berufsaussichten: In der Regel werden beinahe jedem von ihnen schon vor Ende des Studiums Arbeitsplatzangebote insbesondere von deutsch-ungarischen Unternehmen in Ungarn gemacht. Durch die Unterstützung des DAAD sowie des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst in Stuttgart können Jahr für Jahr mehr als 50 ungarische Studierende in ungarischer und deutscher Sprache ausgebildet werden. DieRollederdeutschenSprachkenntnisseistdabeinicht zuübersehen. 6.2 BereichHumanmedizin: Semmelweis-UniversitätBudapest Die längste Erfahrung mit deutschen Studenten hat allerdings die Semmel- weis Universität für Medizinische Wissenschaften in Budapest. Eine Aufnahmeprüfung gibt es nicht. Die Auswahl erfolgt aufgrund der vom Bewerber eingebrachten Unterlagen. Bevorzugt werden Bewerber unter dem 30. Lebensjahr. DadasStudiumanungarischenUniversitäten starknaturwissenschaftlich ausgerichtet ist, werden jene Bewerber bevorzugt, die – neben aufzuweisenden Abiturleistungen – naturwissenschaftliche Fächer absolviert haben oder im Gesundheitswesen tätig waren. An der Fakultät für Medizin der Semmelweis Universität wurde im Studienjahr 1983/84 ein Studiengang in deutscher Sprache eingeführt. Das Studium dauert sechs Jahre und folgt dem in Ungarn gültigen Lehrplan. Unterrichtet wird nach deutscher Fachliteratur, die im Heimatland zu erwerben und zum Studium mitzubringen ist. Ab dem dritten Studienjahr setzen die Praktika und Famulaturen eine, für den Umgang mit den Patienten erforderliche, Kenntnis der ungarischen Sprache voraus. Nach verteidigter FacharbeitundbestandenerhumanmedizinischerAbschlussprüfungwerdenden 43 Dezsõ Szabó Studierenden das Diplom und der Titel „Dr. med.“ verliehen. Damit sind alle fachlichen Voraussetzungen erfüllt, um in Ungarn den ärztlichen Beruf uneingeschränkt ausüben zu können beziehungsweise die Approbation zum Arzt zu erlangen. Außerhalb Ungarns ist die Anerkennung des in Ungarn erworbenen Diploms von den Bestimmungen des jeweiligen Landes abhängig. In den EU- Ländern wird das Diplom anerkannt. Seit 2008 erfolgt übrigens die klinische Ausbildung ab dem 3. Studienjahr auch am Asklepios Campus Hamburg, wobei Studienordnung und Studienablauf mit dem der Semmelweis Universität identisch sind. Etwas komplizierter sind die Regelungen, wennmansichfüreinStudiumderZahnmedizinindeutscherSprache bewerben möchte. In diesem Fall muss man sich nämlich für die ersten zwei Studienjahre für das Studium der Humanmedizin immatrikulieren lassen und die speziellen zahnmedizinischen Fächer des theoretischen Moduls (Präventive Zahnheilkunde, Materialkunde, Odontotechnologie, Konservierende zahnärztliche Propädeutik), beginnend ab dem 2. Semester, werden dazu parallel nur in englischer Sprache angeboten. Hierfür sind zusätzliche Gebühren zu entrichten. Sollte man sich für diesen Weg entschließen und einen Studienplatz erhalten, so wird nach Absolvierung des vorklinischen Studienabschnittes (theoretisches Modul) ein Studienplatz an der Fakultät für Zahnheilkunde ab dem 3. Studienjahr im englischsprachigen Studiengang garantiert. Anträge zwecks Fortsetzung des Studiums in deutscher Sprache werden individuell beurteilt. Nach verteidigter Facharbeit und bestandener zahnmedizinischer Abschlussprüfung werden das Diplom und der Titel „Dr. med. dent.“ verliehen. Damit sind alle fachlichen Voraussetzungen erfüllt, um in Ungarn den zahnärztlichen Beruf uneingeschränkt ausüben zu können beziehungsweise die Approbation zum Zahnarzt zu erlangen. Außerhalb Ungarns ist die Anerkennung des in Ungarn erworbenen Diploms von den Bestimmungen des jeweiligen Landes abhängig. In den EU-Ländern wird das Diplom anerkannt. Die Situation ist an den Universitäten auf dem Lande ähnlich, es gibt lediglich lokale Unterschiede. Charakteristisch ist zum Beispiel die Mischung der Sprachen Deutsch und Englisch bei der Gestaltung des Studienplanes. So etwa besteht an der Universität Szeged seit dem Studienjahr 1999/2000 an der Medizinischen Fakultät auch ein deutschsprachiger Studiengang, jedoch nur für die ersten zwei Studienjahre. Nach den zwei erfolgreich abgeschlossenen Jahren kann das Medizinstudium in dem englisch-oder ungarischsprachigen Studiengang der Universität Szeged, beziehungsweise dem deutschsprachigen Studiengang der Semmelweis Universität in Budapest fortgesetzt werden. Das Medizinstudium kann an dem englischsprachigen (oder ungarischsprachigen) Studiengang der Universität Szeged, beziehungsweise dem deutschsprachigen Studiengang der Semmelweis Universität in Budapest fortgesetzt werden. Das Medizinstudium dauert sechs, das Pharmaziestudium fünf Jahre. Die Unterrichtssprache der vier vorklinischen Semester ist Deutsch oder Englisch. Ab dem dritten 44 Dezsõ Szabó Studienjahr setzen die Praktika und Famulaturen jedoch die Kenntnis der ungarischen Sprache voraus. 6.3 Bereich Veterinärmedizin: Szent-István-Universität Gödöllõ An der Veterinärmedizinischen Fakultät der Szent-István-Universität Gödöllõ in Budapestbestehtseit September 1989 ein Studiengang in deutscher Sprache, der auf die ersten vier Semester, das heißt auf den vorklinischen Studienabschnitt (Vorphysikum und Physikum) beschränkt ist. Dieser Studienabschnitt ist der jüngsten deutschen Tierärztlichen Approbationsordnung (TAppO) angepasst. 3 Nach Abschluss der einzelnen Fächer werden den Studenten Bescheinigungen über die Prüfungen ausgestellt, die den in Deutschland üblichen Bestätigungen entsprechen. Das klinische Studium, das gemäß der gegenwärtigen Studienordnung weitere drei Jahre dauert, kann von Absolventen der vorklinischen Studien in englischer oder ungarischer Sprache in Budapest fortgesetzt werden. Nach bestandener tiermedizinischer Abschlussprüfung wird das Diplom und der Titel „Dr. vet. med.“ verliehen. Damit sind alle fachlichen Voraussetzungen erfüllt, um die Approbation zum Tierarzt zu erlangen. Außerhalb Ungarns ist die Anerkennung des in Budapest erworbenen Tierarztdiploms von den Bestimmungen des jeweiligen Landes abhängig. In Deutschland wird die ungarische tierärztliche Ausbildung unter der Bedingung als gleichwertig anerkannt, dass Absolventen der Veterinärmedizinischen Fakultät in Budapest zur Approbation in Deutschland in den sogenannten rechtsrelevanten Fächern (Arzneimittel, Berufs-, Fleischhygiene-, Futtermittel-, Lebensmittel-, Milchhygiene-, Tierschutz-, Tierseuchen-, Tierzucht-und Strahlenschutzrecht) Ergänzungsprüfungen ablegen. 6.4 Bereich Wirtschaft: Corvinus-Universität Ein schönes Beispiel für eine gelungeneZusammenarbeit einerungarischenUniversität mit einem Bundesland – in diesem Fall mit dem Freistaat Bayern – stellt der deutschsprachige Studiengang (DSG) für Betriebswirtschaftslehre an der Corvinus-Universität dar, der seit 1993 in Budapest besteht. Er wird von der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Passau fachlich und organisatorisch betreut. Am Projekt sind 6 Lehrstühle der Corvinus- Universität und 10 Lehrstühle der Universität Passau beteiligt. Im Rahmen des DSG wird Betriebswirtschaftslehre nach internationalem Standard überwiegend integriert, aber auch ergänzend zu der grundständigen Ausbildung der ungarischen Studenten (mit einem ersten berufsbefähigenden Abschluss) 36DasheißtdieFortsetzungdesStudiums aneinerHochschuleinDeutschlandistjederzeit möglich, wenn der Student dort einen Studienplatz erhält. 45 Dezsõ Szabó vollständig in deutscher Sprache gelehrt. Der DSG umfasste bisher ein Doppeldiplomprogramm. Derzeit sind ca. 130 Studenten im DSG zum Studium zugelassen. 6.5 Sonderfall 1: die Andrássy Gyula Deutschsprachige Universität Einen Sonderfall stellt die Budapester deutschsprachige Andrássy-Universität dar. Die Jahre 1989 und 1990 brachten eine Wende historischen Ausmaßes für Mitteleuropa. Die Region gewann ihre politische, wirtschaftliche und kulturelle Freiheit zurück und damit auf längere Sicht auch die Möglichkeit des Beitritts zur Europäischen Union. Die Idee der Errichtung der Andrássy Gyula Deutschsprachigen Universität Budapest (AUB) kam im Zusammenhang mit der bevorstehenden Erweiterung der Europäischen Union auf. Im Jahre 2001 haben der ungarische Ministerpräsident, die Ministerpräsidenten des FreistaatesBayernundBaden- WürttembergsundderösterreichischeBundeskanzlerdie Ulmer Erklärung über die Grundidee der Gründung der Andrássy-Universität unterzeichnet. Sie will zum Beitrittsprozess des mitteleuropäischen Raumes zu Europa durch die Ausbildung von Führungskräften für den auswärtigen Dienst beitragen. Die Universität will Fachkräfte ausbilden, die mit der historischen und kulturellen Vergangenheit und der Gegenwart Mitteleuropas vertraut sind und Verständnis für sowie Fachkenntnisse über die Besonderheiten der Region haben. Die AUB bietet seit September 2002 zweijährige postgraduale Studiengänge und ab 2008 Masterausbildungen in deutscher Sprache für Weiterbildungswillige an. Die Andrássy-Universität ist ein Projekt der Republiken Ungarn und Österreich sowie der Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg. Die Absolventen sollen durch die Studienprogramme in die Lage versetzt werden, jene umfassenden juristischen, ökonomischen und diplomatischen Kenntnisse zu erwerben beziehungsweise über jene historischen und kulturellen Zusammenhänge in Mitteleuropa informiert zu sein, die sie benötigen, um sich als Diplomaten, nationale oder internationale Beamte, als Politiker, als Führungskräfte in der Wirtschaft oder als Wissenschaftler in den nachstehenden Bereichen beziehungsweise Institutionen bewähren zu können. Dementsprechend sollten die Studiengänge (Vergleichende Staats-und Rechtswissenschaften, Internationale Beziehungen und Mitteleuropäische Studien) aufgebaut werden. Die UniversitäterhebtStudiengebühren(inHöhevonzurZeitHUF165.000 pro Semester); Studierende können sich aber für eines der zahlreichen Stipendien bewerben(DAAD,AktionÖsterreich-Ungarn, Erasmus, Carl-LutzStipendium, Stipendium des Freistaates Bayern, Baden-Württemberg Stipendium, Stipendium des Deutschen Volkes usw.). 46 Dezsõ Szabó 6.6 Sonderfall 2: Studienzentrum der Fernuniversität Hagen in Budapest Die Fernuniversität Hagen (FH) unterhält Studienzentren in Österreich (3), in der Schweiz(2) in der Russischen Föderation (1) sowie in Ungarn(1). Die FH hat insgesamt 4.200 Studierende mit ausländischer Staatsangehörigkeit darunter über 200 Studierende mit ungarischer Staatsangehörigkeit. Die FH ist seit vielen Jahren die deutsche Hochschule mit der höchsten Zahl ungarischer Studierender. 1990/91 erfolgte die Etablierung des Fernstudienzentrums Budapest mit Mitteln des europäischen TEMPUS-PHARE Programms (1990-1993). Seit 1991 bietet die FH deutschsprachige Studiengänge und Weiterbildungsprogramme in Ungarn an. 1994 erfolgte die offizielle Genehmigung des ungarischen Bildungsministeriums, als ausländische Hochschule in Ungarn tätig zu sein. Seitdem nahmen Hunderte von ungarischen StudentInnen die Möglichkeit wahr, in Ungarn auf Deutsch studieren zu können. In der Gegenwart nutzen 300-400 ungarische Staatsbürger Jahr für Jahr diese Möglichkeit. Ein Teil von ihnen besitzt bereits ein ungarisches Diplom, der andere Teil studiert gleichzeitig an einer ungarischen Hochschuleinrichtung, die mit der FH in Kontakt steht. Die FH organisiert nicht nur die Seminare und Konsultationen, sondern sichert auch die Möglichkeit, die fälligen Prüfungen in Budapest ablegen zu können. 7 Zusammenfassung und Ausblick Die ausländischen StudentInnen berücksichtigen bei ihrer Wahl nicht nur die Höhe der Studiengebühren – ein Glück für Ungarn, denn diese sind mittlerweile auch hier deutlich angestiegen -sondern auch das Prestige der Universität, die Qualität der Bildung, die Rechtssicherheit und die allgemeine Situation im Land. So gesehen hat Ungarn erhebliche Vorteile aufzuweisen, für die Studierenden aus Asien oder aus den arabischen Ländern ist der Unterschied zwischen Budapest und Bukarest allerdings wahrnehmbar. Die Grundfrage ist, ob sich ein Land im Fall der ausländischen Studenten auf die Quantität oder auf die Qualität konzentriert. Die europäischen Beispiele zeigen jedenfalls eindeutig, dass die nicht-englischsprachigen Länder hier nur dann eine Chance haben, wenn sie mit qualitativen Bildungsangeboten auf dem internationalen Markt erscheinen können, die eine Lücke schließen. Dies erfordert auch einen Sichtwechsel: in Westeuropa ist eines der primären Ziele die Beibehaltung der hochqualifizierten Ausländer nach ihrem ungarischen Studium. Gerade in Ungarn, wo Tausende vondeutschen Unternehmeneine Filialehaben, könnte diese Erkenntnis im Fall der deutschsprachigen Studiengänge von großer Bedeutung sein und im optimalen Fall für neue Impulse in der Kooperation des Bildungssektors und der Unternehmen sorgen. 47 Dezsõ Szabó 8 Literatur Földes, Csaba (1998): Zur Situation der deutschen Sprache, der Hochschulgermanistik und der germanistischen Forschungen in Ungarn. Eine überarbeitete Fassung des Beitrages des Autors in: Grucza, Franciszek (Hg.): Deutsch und Auslandsgermanistik in Mitteleuropa. Geschichte-Stand- Ausblicke. Warsaw, 66-79. Internetquellen www1: www.ungarnstudium.hu www2:http://www.okm.gov.hu/doc/upload/200901/higher_ education_2008.doc Hatos, Pál (2009): Nemzetközi hallgatói mobilitás: magyarországi helyzetkép. www.scholarship.hu/static/rolunk/.../hazaihelyzetkep.pdf heruntergeladen am 18.07.2009. Rédei, Mária (2007): A külföldi hallgatók jellemzõi. Modern Geográfia, 2007/4. http://www.moderngeografia.hu/tanulmanyok/kulturalis_ foldrajz/redei_maria_2007_4.pdf heruntergeladen am 17.07.2009. 48 Germanistik in Ungarn. Herausforderungen und Perspektiven Prof. Dr. Magdolna Orosz Dr. Roberta V. Rada (PhD) Eötvös-Loránd-Universität Germanistisches Institut Rákóczi út 5. 1088 Budapest Einleitung In Folge der 1999 durch die von 29 europäischen Bildungsministern unterzeichneten sogenannten Bologna-Erklärung setzten tiefgreifende Veränderungen im europäischen Hochschulwesen ein. Der Kreis der an diesem Prozess beteiligten Staaten hat sich im Laufe der Jahre vergrößert, so dass ihre Anzahl auf der Jubiläums-Ministerkonferenz 2010 in Budapest/Wien mit der Aufnahme von Kasachstan inzwischen auf 47 gestiegen ist. Durch die Schaffung eines gemeinsamen Hochschulwesens in Europa sollte die Mobilität der Studierenden und Lehrkräfte, die erhöhte internationale Wettbewerbsfähigkeit europäischer Hochschulabschlüsse und die Beschäftigungsfähigkeit der Absolventen erreicht werden. Dieser Beitrag wird die gegenwärtige Situation der ungarischen Germanistik erläutern und kritisch unter die Lupe zu nehmen. Dabei wird der Frage nachgegangen, wie sich das Bologna-System im ungarischen Hochschulwesen, auf den Bereich der traditionsreichen Germanistik bezogen, durchgesetzt hat. Es werden die Struktur und die globalen Inhalte des Germanistikstudiums auf den Ebenen Bachelor und Master vorgestellt. Obwohl das Bologna-Modell in Ungarn erst vor kurzem eingeführt worden ist, zeigten sich bereits unmittelbar nach der Umstellung zahlreiche Probleme, die wegen der verpflichtenden gesetzlichen Vorgaben aufgetreten sind. Dazu gesellten sich Schwierigkeiten, derer man sich erst in der Erprobungsphase, das heißt im Laufe der Arbeit mit den ersten Bologna-Studiengängen, bewusst geworden sind. Über die ersten Erfahrungen und Probleme der Umwandlung der ungarischenHochschullandschaftwurdeneineReihevonfachinternenPodiumsgesprächen geführt, an denen sich Vertreter der verschiedenen Universitäten, wichtige Persönlichkeiten des Faches, zu der Lage der Germanistik in Ungarn geäußert 49 Magdolna Orosz/Roberta V. Rada haben. Auch die relevanten Aspekte dieser Diskussionen sollen skizziert werden. 2 Besorgnis um die Zukunft des Faches Germanistik Die Situation des Faches Germanistik im ungarischen Hochschulwesen wird kurz vor Ende des ersten Jahrzehntes des 21. Jahrhunderts einstimmig als besorgniserregend und ernst (bis krisenhaft) bezeichnet (vgl. JuG 2007, 2008). Überraschenderweise waren die ungarischen Vortragenden auf dem 2002 zum Thema „Zukunftsperspektiven der deutschen Sprache in Mittel-, Südost-und Osteuropa“ veranstalteten Grazer Humboldt-Kolleg im Zusammenhang mit der Zukunft der Germanistik an ungarischen Universitäten und Hochschulen noch eindeutig optimistisch. Der Optimismus basierte auf der stabilen Stellung des Deutschen als Fremsdsprache (FS) in Ungarn, was sich auch auf die Germanistik positiv ausgewirkt hat: hohe Studentenzahlen, Lehrveranstaltungen, Prüfungen undLehrerfortbildungskurseindeutscherSprache, deutschsprachige Periodika für Germanisten und sogar für Deutschlehrer usw.. Nach dem plötzlichen und rapiden Aufschwung des DaF-Unterrichts auf allen Ebenen in den 1990er Jahren hat man 10 Jahre später die ersten Probleme1 konstatieren können (zum Beispiel Handicaps der Studierenden im Bereich des Denk-und Reflexionsvermögens, fehlende Textkompetenzen, Desinteresse und Unmotiviertheit der Studierenden, Zulassung des Ein-Fach-Studiums, Sorgen um die Eingliederungschancen der jungen Wissenschaftler in die internationale Germanistik, Erhöhung des Prestiges des Lehrerberufs usw.) und Gedanken über die Notwendigkeit von Reformen der Ausbildungsstrukturen und -inhalte formuliert (zum Beispiel Notwendigkeit des modularen Systems, Modernisierung der Studieninhalte in Richtung Berufsorientierung usw.). Am Anfang der 2000er Jahre schienen die Bedingungen, auch die finanziellen, für eine globale Umstrukturierung des ungarischen Hochschulwesens im Wesentlichen vorhanden zu sein. Binnen fünf bis sechs Jahren hat sich die Situation zu Ungunsten des Deutschen als FS verändert, zumal das Deutsche seine Position als FS europaweit eingebüßt hat. Dies konnte in Ungarn unter anderem an der Zahl von Studierenden, die Deutsch beziehungsweise Germanistik als Hauptfach studieren wollen, eindeutig abgelesen werden. Im Studienjahr 2001/2002 haben etwa 3.000 Jugendliche die deutsche Sprache und Literatur an ungarischen Hochschulen studiert. Auf Grund dieser Daten lautete die optimistische Prognose 2002 noch wie folgt: „Mit einem plötzlichen Trendwechsel ist auch künftig nicht zu rechnen.“( Bernáth/Csúri2004: 137). Trotzdemhaben2008landesweitnurnochgut 1Zu den Problemen und Lösungsvorschlägen vgl. die Beiträge in Goltschnigg, Dietmar/ Schwob, Anton (2004) 50 Magdolna Orosz/Roberta V. Rada 250 Direktstudenten das Fach Germanistik als Hauptfach gewählt. Ein Drittel von diesen in Budapest an der Eötvös-Loránd-Universität, die anderen verteilt auf die sechs weiteren Universitäten und Hochschulen in Ungarn, wie Szeged (ca. 40 Anmeldungen) oder Debrecen (ca. 30). Es gibt sogar Hochschulen, wo anscheinend überhaupt kein Interesse mehr an Germanistik vorhanden ist, zum Beispiel Székesfehérvár mit einer einzigen Anmeldung (Kegelmann 2008: 21). Deutsch ist im ungarischen Hochschulwesen von einer großen Sprache zu einer mittleren oder anderorts einer kleinen Sprache geworden. Der Rückgang der Studentenzahlen hatte in der gegenwärtigen politischwirtschaftlichen und bildungpolitischen Situation auch die Verminderung der Personalstellen in Germanistik zur Folge. Zunächt musste auf die Arbeit der Lehrbeauftragten verzichtet werden, im darauf folgenden Schritt durften auch die Stellen der pensionierten Kolleginnen und Kollegen nicht mehr besetzt werden. So weit die Diagnose. Um ausgehend von der Diagnose eine Therapie skizzieren zu können, müssen die vielfältigen Gründe erörtert werden. Gründe für die gegenwärtige Situation der Germanistik An erster Stelle ist der (oben angedeutete) Imageverlust der deutschen Sprache in Ungarn zu erwähnen, dessen Gründe in folgenden Faktoren gesucht werden (vgl. Földes 2009: 23). Zunächst sind es der internationale Vormarsch der Allerweltssprache Englisch und die Globalisierung, wobei aus diesen Entwicklungstendenzen (auch?) in Ungarn auf der Ebene der Bildunsgpolitik die Schlussfolgerung abgeleitet worden ist, dass ein jeder Ungar Englisch lernen sollte.2 Dieser bildungspolitische Schritt wurde, wenn auch unbewusst, durch die sprachpolitische Praxis der EU (im Gegensatz zum deklarierten Konzept des mehrsprachigen Europas) bedingt und gerechtfertigt. Beklagt werden darüber hinaus die mangelnde Attraktivität der deutschen Sprache in der gegenwärtigen ungarischen Schulkultur und die von manchen als katastrophal bezeichneten sprachlichen Kenntnisse der jungen Generation im Deutschen, einschließlich ungarischer Germanistikstudenten. Das niedrige Niveau der Sprachkenntnisse wird übrigens auf die Durchsetzung der sogenannten kommunikativen Lehrmethode im FS-Unterricht zurückgeführt (vgl. Hessy 2008: 14). Aber auch juristisch-administrative Aspekte, die durch die Einführung des neuen zweistufigen Abitursystems entstanden sind, müssen erwähnt werden. Während man praktisch alle anderen Fächer auch im Besitz des Mittelstufena 2Zu der ausführlichen Behandlung der einschlägigen ungarischen bildungspolitischen Entscheidungen im Hochschulbereich vgl. den Beitrag von Rada in diesem Band 51 Magdolna Orosz/Roberta V. Rada biturs absolvieren kann, ist für Germanistik ein Oberstufenabitur3 in Deutsch die Voraussetzung. Im Vergleich zu einem 5jährigen Jura-oder Medizinstudium, indenenbis2009einMittelstufenabiturerforderlichwar,istdasOberstufenabitur für eine dreijährige BA-Ausbildung in Germanistik eine Zumutung. Diese administrative Hürde scheint viele Interessenten abzuschrecken. Von einem Mentalitätswandel zeugt, dass sich die meisten Studierenden in Ungarn in der letzten Zeit in erster Linie die praktische Anwendbarkeit von FS- Kenntnissen vor Augen halten. Mit guten aus der Mittelschule mitgebrachten Deutschkenntnissen wählt man kein Germanistik-Studium oder ein Lehramtstudium in Deutsch, zumal der Lehrerberuf in Ungarn schlechthin unattraktiv ist und Deutschlehrer darüber hinaus bei weitem nicht so gefragt sind, wie früher. Die guten FS-Kenntnisse möchte man eher in den Bereichen Jura, Ökonomie oder Informatik anwenden, mit guten FS-Kenntnissen kann man mit besseren Chancen für ein Auslandstipendium oder gar mit einer besseren Stelle im Ausland oder Inland rechnen (vgl. Pusztai 2009: 32-33). Die Krisensituation in der Germanistik wird schließlich auch mit der Einführung des Bologna-Modells im Hochschulbereichin Zusammenhang gebracht, dasbisdahinmehrodermindergutfunktionierendeundkonsistenteStrukturen zerstört hat und nicht ohne negative Folgen geblieben ist. 3Seit 2005 können in Ungarn die Abiturprüfung auf zwei Stufen, auf einer mittleren sowie auf einer oberen Stufe, abgelegt werden. Die generellen Anforderungen der Abiturprüfung in einer Fremdsprache sind von den Empfehlungen des Europarates in Bezug auf den FSU geleitet, die Bestimmung der Stufen richtet sich nach der EU-Skala. Das Niveau der Abiturprüfung auf mittlerer Stufe entspricht der Stufe A2-B1, das der oberen Stufe dem Niveau B2 (vgl. dazu mehr: Rada in diesem Band). Die Unterscheidung zwischen dem Mittelstufen- und Oberstufenabitur in den anderen Fächern liegt teils auf inhaltlicher Ebene und bedeutet höhere inhaltliche Anforderungen. Auf der oberen Stufe werden die Kenntnis von mehreren Sachinformationen, eineReflexions-undAbstraktionsfähigkeitaufhöheremNiveau sowieeine komplexere Gedankenentwicklung erwartet. Auf beiden Stufen gibt es sowohl eine schriftliche als auch eine mündliche Prüfung. Die Prüfungstests werden sowohl beim Mittel-als auch beim Oberstufenabitur in allen Fächern zentral, das heißt vom Bildungsministerium, zusammengestellt, aber von den Schülern in ihren eigenen Schulen an – vom Bildungsministerium – festgelegten Prüfungstagen gelöst. Die Tests werden dann an Ort und Stelle, das heißt von den LehrerInnen der betreffenden Schule, korrigiert und bewertet. Die Themen für die mündliche Prüfung werden von der Lehrkraft der einzelnen Schulen abhängig von den behandelten Lehrinhalten und Lehrmaterialien bestimmt. Die Prüfung selbst wird auch schulintern organisiert. Sie wird vor einer Prüfungskomission abgelegt, deren Mitglieder die für die AbiturientInnen vertrauten LeherInnen der betreffenden Schule sind. Die/der Komissionsvorsitzende( r) muss aber von auswärts, das heißt aus einer anderen Schule kommen. Das Oberstufenabitur dagegen versteht sich als eine externe Prüfung, die sich von den bekannten LehrerInnen der eigenen Schule völlig loslöst. Die schriftlichen Prüfunsgtests werden nicht in der eigenen Schule der AbiturientInnen korrigiert und bewertet, auch die mündliche Prüfung wird vor einer fremden Prüfungskomission abgelegt. 52 Magdolna Orosz/Roberta V. Rada Die Durchsetzung des Bologna-Prozesses im ungarischen Hochschulwesen In Ungarn wurde der gesetzliche Rahmen für die Umsetzung des Bologna- Prozesses durch das (seitdem mehrmals modifizierte) Hochschulgesetz CXXXIX von 2005 geschaffen. Damit sollten auch in Ungarn die wichtigsten Ziele des Bologna-Prozesses, nämlich die Schaffung eines Systems vergleichbarer Abschlüsse, die Schaffung eines einheitlichen zweistufigen Systems der Studien (BA-/MA-System) und die Einführung eines vergleichbaren Kreditpunktesystems (ECTS) realisiert werden. Die praktische Umsetzung des gesetzlich vorgesehenen Systems nahm bereits2004mitdenDiskussionenüberdieAusgestaltungderneuenStudiengänge ihren Anlauf, um nach einer Phase der Konzipiereung und Gründung sowie Akkreditierung der neuen BA-Studiengänge diese 2006 landesweit einzuführen und zu starten. Die Jahre 2005-2006 waren der Konzipierung und den ersten Akkreditierungsverfahren der MA-Studiengänge gewidmet, ab 2007 wurden die erstenMA-StudiengängegegründetundnachdenAkkreditierungsverfahrender neuen MA-Studiengänge starteten diese im Herbst 2009 landesweit an den für dieses Studium zugelassenen Universitäten und Hochschulen. Ab September 2006 laufen demgemäß auch die Germanistikstudien in 3 Bildungszyklen: 1. im ersten Zyklus umfasst das BA-Studium Germanistik die Fachrichtungen Deutsche Sprache und Literatur, Deutsch als Minderheitensprache, Niederlandistik und Skandinavistik. Dieses Studium beträgt im Regelfall 6 Semester und schreibt den Erwerb von 180 Kreditpunkten (ECTS) vor; 2. im zweiten Zyklus sind innerhalb der MA-Studien die disziplinären StudiengängeMAinDeutscheSprache, LiteraturundKultur, MAinDeutsch alsMinderheitensprache undLiteratur, MA inNiederlandistikund MAin Skandinavistik im Bereich der germanistischen Fächer akkreditiert worden. FürdieseStudiensindimRegelfall4Semestervorgesehen,innerhalb derer 120 Kreditpunkte erbracht werden sollen. Ebenfalls im Rahmen der MA-Studien findet die Lehramtausbildung statt, die mit einem MA/ Lehramt in Deutsch als Fremdsprache oder MA/ Lehramt in Deutsch als Minderheitensprache als Abschluß ebenfalls nach 4 Semestern mit der Erbringung von 120 Kreditpunkten endet. 3. als dritter Zyklus der Studien können postgraduale (=PhD-)Studien absolviertwerden. DiesindfürdiebestenStudierendenalsVorbereitungauf eine künftige wissenschaftliche/akademische Laufbahn vorgesehen und umfassen 6 Semester und 180 Kreditpunkte, wofür Lehrveranstaltungen zu absolvieren sind, sowie Publikationen/ Konferenzbeiträge/ Teilnahme 53 Magdolna Orosz/Roberta V. Rada an Forschungsprojekten und eventuell Lehre verlangt werden. Die PhD- Studien werden nach Wissenschaftsbereichen strukturiert, so ist die germanistischeSprachwissenschaftalsPhD- ProgramminnerhalbderSprachwissenschaft, die germanistische Literaturwissenschaft (mit der Niederlandistik) als PhD-Programm innerhalb der Literaturwissenschaft situiert. Diese Neustrukturierung der Germanistik-Studien impliziert, wie es bereits in der jetzigen Phase absehbar ist, inzwischen solche Problemquellen, die sich aus den nicht unbedingt nahtlosen Übergängen zwischen den BA-, MA-und PhD-Zyklen ergeben können und (vorübergehend) zu einer Ebbe der PhD- Neuzugänge führen können. 5 BA-Studien in Germanistik 5.1 Die Struktur der BA-Studien Die BA-sowie die MA-Studien laufen in einer modularisierten und vielfach aufgefächerten Struktur, und sind in einem landesweiten gemeinsamen Rahmen, aber mit individuellen institutionellen Inhalten und Mikrostrukturen herausgebildet worden, woraus inhaltliche und teilweise auch strukturelle Unterschiede der Modulprogramme in den einzelnen Germanistik-Instituten resultieren. Die Modulstruktur der dreijährigen, praxisnahen und berufsqualifizierenden BA-Ausbildung in Germanistik (hier: Fachrichtung Deutsche Sprache und Literatur) ist im landesweiten gemeinsamen Rahmen folgenderweise aufgeteilt: siehe Tabelle 1. Der BA-Studiengang Germanistik in der Fachrichtung Deutsche Sprache, Literatur und Kultur (die anderen germanistischen Fachrichtungen weisen ebenfall diese Struktur auf) gliedert sich demnach in zwei größere Teile: einerseits in die Module des Faches beziehungsweise der Fachrichtung, die 120 Kreditpunkte umfassen, andererseits in die Wahlmodule, die ein zweites Fach (eigentlich ein Nebenfach oder eine Spezialisierung), sowie frei wählbare oder auf ein späteres Lehramtstudium vorbereitende Kurse umfassen (50 + 10 Kreditpunkte). Die Lehreinheiten der Fachrichtung selbst umfassen einerseits ein Einführungsmodul mit 10 Kreditpunkten, das allgemeine philologische Lehreinheiten wie Einführungskurse in die Sprach-und Literaturwissenschaft, Philosophie, Bibliothekswesen und Informatik beinhaltet andererseits gehören innerhalb der Fachrichtung Grundmodule und differenzierte Fach-und Wahlpflichtmodule (110 Kreditpunkte) zu den Studien. Sie umfassen ein für ungarische Muttersprachler, die sonst mit Sprachkenntnissen auf B2-Niveau zum Studium zugelassen werden, notwendiges sprachliches Vertiefungsmodul, außerdem Module in Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft. In letzteren sollen Grundkenntnisse und Fertigkeiten, jedoch keine 54 Magdolna Orosz/Roberta V. Rada BA-Studiengang Germanistik, Fachrichtung Deutsche Sprache und Literatur 180 Kreditpunkte Module im Fach / in der Fachrichtung 120 Kreditpunkte Wahlmodule außerhalb der Fachrichtung 60 Kreditpunkte Einführungsmodul Philologie 10 Kreditpunkte Grundmodule, differenzierte Fach-und Wahlpflichtmodule 110 Kreditpunkte (sprachliche Vertiefung, Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft + Wahlpflichtmodul; Abschlussarbeit) Wahlmodul I. 50 Kreditpunkte (in einem anderen Fach oder in einer anderen Fachrichtung des Faches Germanistik) Wahlmodul II. 10 Kreditpunkte (Lehreinheiten nach freier Wahl oder zur Vorbereitung eines späteren Lehramtstudiums) Tabelle 1: Aufteilung der BA-Ausbildung in Germanistik besonderen disziplinären Kenntnisse vermittelt werden. Das Ziel dieses Studienabschnittes ist es, die Studierenden in die Denkweise und Strukturen der Geisteswissenschaften einzuführen, die ersten Schritte wissenschaftlicher Arbeit zu gehen beziehungsweise zu zeigen, welche Fragestellungen und Probleme in einem wissenschaftlichen Diskurs der gewählten Fachrichtung/en auftauchen und diskutiert werden. Ergänzt werden diese Module der Fachrichtung durch Wahlpflichtmodule, die spezielle thematische Schwerpunkte wie zum Beispiel Interkulturalität und Literatur, deutsch-ungarische kulturelle und literarische Beziehungen, Sprachpolitik, Translatologie oder Grundkenntnisse in Wirtschaftsdeutsch, EU-Studien usw. anbieten. Im Rahmen der facettenreichen Wahlmodule erhalten die Studierenden über eine Einführung hinausgehende Einblicke in die Teilgebiete und wissenschaftliche Fragestellungen des Faches, es wird die Vertiefung fachspezifischer Grundkenntnisse und die Erlangung differenzierter Fachkenntnisse erzielt. Die Wahlmodule außerhalb der Fachrichtung, die insgesamt 60 Kreditpunkte einnehmen, sind wiederum zweigeteilt: einerseits gibt es ein Wahlmodul mit 50 Kreditpunkten, die ein Nebenfach oder Spezialisierung beinhaltet, das weitere Berufsqualifikationen liefern kann oder (für künftige LehramtsstudentInnen) ein zweites Unterrichtsfach vorbereitet (so müssen zum Beispiel künftige DaF-LehrerInnen neben der Fachrichtung Deutsche Sprache, Litera 55 Magdolna Orosz/Roberta V. Rada tur und Kultur ein späteres zweites Fach bereits im BA-Studium mit einem 50-Kreditpunkte-Modul zum Beispiel in Geschichte, ungarische Sprache und Literatur, Englisch, Französisch usw. wählen). Andererseits gibt es noch ein Modul mit 10 Kreditpunkten, das von künftigen LehramtstudenInnen in Pädagogik-Psychologie absolviert werden muss, dessen Inhalte für andere jedoch völlig frei wählbar sind. Die Abschlussarbeit, die die AbsolventInnen zum Abschluss des BA-Studiums vorlegen müssen, wird je nach Interesse der Studierenden in germanistischer Sprach-, Literatur-oder Kulturwissenschaft verfasst und ist weniger wissenschaftlich vertieft als eher praktisch-analytisch, auf bestimmte Detailfragen konzentriert zu konzipieren. Die BA-Studien werden mit einer Prüfung abgeschlossen, in der der Nachweis über deutsche Sprachkennnisse auf C1-Niveau erbracht werden soll, sowie neben der Verteidigung der Abschlussarbeit die erworbenen Kenntnisse in Sprach-, Literatur und/oder Kulturwissenschaft geprüft werden. Grundsätzlich gibt es hier durch die relativ strikte Aufeinanderfolge der oben gezeigten Studienabschnitte eine strenge Linearität, die relativ wenig freie Wahl beim Belegen der Kurse lässt. Die gewählten Module müssen beispielsweise komplett belegt werden, es gibt keinen Übergang zwischen ihnen. Der BA-Abschluss befähigt für den Zugang zum Arbeitsmarkt, wobei die bisherigen Erfahrungen mit dem ersten 2009 absolvierten Jahrgang noch wenig Aussagekraft über den Wert des BA-Diploms besitzen. Der BA-Abschluss ist auch für den Zugang zum MA-Studium erforderlich, ein BA-Diplom in Germanistik mit Fachrichtung Deutsche Sprache, Literatur und Kultur kann aber nicht nur zu einem germanistischen MA-Studium befähigen, sondern auch zu solchen MA-Studiengängen wie Europastudien oder die sehr gerne gewählten Dolmetscher-und Übersetzer-Studien. 5.2 Erfahrungen und Herausforderungen Die fachinternen Reflexionen über die BA-Ausbildung sind kontrovers. Einerseits wird kritisch bemerkt, dass in der BA-Ausbildung die Vermittlung praktischer Kenntnisse auf Kosten der traditionell germanistischen Bereiche so wie der Landeskunde einen wesentlichen Raum einnimmt. Die BA-Absolventen beenden ihre Ausbildung ohne ausreichende Grundlagen in der Germanistik. Genau aus demselben Grunde können sie auch die neuen Erkenntnisse in den Forschungsbereichen nicht weiter verfolgen. Hinzu kommt, dass die gegenwärtigen Ausbildungsformen den Studierenden zu enge Grenzen setzen und durch die neuen Lehrinhalte werden sie nicht wie früher befähigt, ihre erworbenen Kenntnisse selbstständig weiter entwickeln zu können, wo auch immer sie auf dem Arbeitsmarkt beschäftigt werden (Bassola 2008: 18ff). Kegelmann dagegen vermisst die Vermittlung mehr praxisorientierter Kenntnisse und Konzepte und behauptet, dass sich die Germanistik in Ungarn auf die „Verlagerung von einem wissenschaftlichen auf einen praxisorientierten Fokus bislang nicht genü 56 Magdolna Orosz/Roberta V. Rada gend eingestellt [hat] und tendenziell noch in einem Zustand der Beibehaltung alter Inhalte unter neuem Label [verharrt].“ (Kegelmann 2008: 22). Szendi fasst die beiden Standpunkte treffend zusammen: Das neue BA-Programm sei für die praktischen Anforderungen zu theoretisierend, während es in seiner akademischen Qualität für die Vorbereitung des Magister-Programms nicht immer ausreiche (vgl. Szendi 2008: 26). Dazu gesellt sich, dass die potentiellen Studierenden immer weniger Interesse für die traditionellen philologischen und wissenschaftlichen Studieninhalte zeigen, sondern vielmehr pragmatische und berufsbezogene Qualifikationen bevorzugen. Mit einer philologischen Ausbildung, zum Beispiel im Bereich Germanistik, kann man in dem heutigen Ungarn kaum eine Stelle finden. Sogar sehr gut qualifizierte jüngere Germanisten müssen auf dem Arbeitsmarkt nach einer Stelle suchen, auf eine vernünftige akademische Einstellung haben sie nämlich wenig Chance. Ein Germanistikstudium scheint im heutigen Ungarn finanziell nicht rentabel zu sein. 6 Die Struktur der MA-Studien in Germanistik 6.1 Die disziplinären MA-Studien Die Modulstruktur der disziplinären MA-Studien in den germanistischen MA- Studiengängen im landesweiten gemeinsamen Rahmen sieht tabellarisch zusammengefasst folgenderweise aus: siehe Tabelle 2. MA-Studiengang Deutsche Sprache, Literatur und Kultur 120 Kreditpunkte Grundmodule 40 Kreditpunkte Aufbaumodule 80 Kreditpunkte Grundlagenmodul (Sprachund Literatur- wissenschaft) 8-12 Kreditpunkte Vertiefungsmodule (sprachliche Vertiefung, Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft) 28-32 Kreditpunkte Spezialisierungsmodul (Pflichtwahlmodul, institutionell definierte Spezialisierungen) 40-50 Kreditpunkte Wahlmodul min. 10 Kreditpunkte Diplomarbeit 20 Kreditpunkte Tabelle 2: Aufteilung der MA-Ausbildung in Germanistik 57 Magdolna Orosz/Roberta V. Rada Der disziplinäre MA-Studiengang MA in Deutscher Sprache, Literatur und Kultur sowie die anderen disziplinären germanistischen MA-Studiengänge gliedern sich demgemäß in Grund-und Aufbaumodule. Die Grundmodule umfassen 40 Kreditpunkte mit einem Grundlagenmodul in Sprach-sowie Literaturwissenschaft, die wissenschaftsgeschichtliche und methodologische Kenntnisse vermitteln, außerdem mit Vertiefungsmodulen in Sprach-, Literatur und Kulturwissenschaft, die unter anderem disziplinäre Fragen innerhalb der Sprachwissenschaft (Pragmatik, Semantik, Varietätenlinguistik, Grammatikalisierung), Sprachgeschichte und Sprachpolitik behandeln sowie ältere deutsche Literatur, gattungstheoretische und -historische Fragestellungen, kulturwissenschaftliche Methoden, ferner theoretische und praktische textanalytische Kurse anbieten. Die Spezialisierungsmodule, die Pflichtwahlmodule mit institutionell variabel definierten speziellen Inhalten bedeuten, bieten den Studierenden die Möglichkeit, sich in Sprachwissenschaft oder Literatur-und Kulturwissenschaft zu vertiefen und spezielle Inhalte sowie Fertigkeiten anzueignen (hier ergibt sich auch die Möglichkeit, für eventuelle künftige PhD-Studien entsprechende Vorbereitungen zu treffen) und die Diplomarbeit, die in diesen Studien einen größeren Akzent erhält, durch entsprechende Kurse und Konsultationen zu fundieren. Das Wahlmodul kann – in Abhängigkeit des Wahlpflichtmoduls – in Literatur-oder Sprachwissenschaft, in bestimmten Institutionen eventuell in anderen Fächern belegt werden. 6.2 MA-Studien Lehramt für DaF Die DaF-Lehrerausbildung erfährt im Bologna-System in Ungarn tiefgreifende Veränderungen. Nach 1990 etablierte sich ein gemischtes System der Lehrerausbildung: Nach der Abschaffung des obligatorischen Russischunterrichts ist neben Englisch die deutsche Sprache die am häufigsten gewählte und unterrichtete Sprache geworden, und es entstand damit ein erhöhter Bedarf an Sprachlehrern (es war die Zeit der Russischlehrerumschulung). Die Lehrerausbildung erfolgte für unterschiedliche Schultypen auf unterschiedlichen Ebenen: für die Primarstufe war ein Lehramt-, das heißt Hochschuldiplom in 8 Semestern, für die Sekundarstufe ein Lehramt-Magisterstudium in 10 Semestern vorgesehen, wobeidienach1990eingeführtedreijährige(sechssemestrige)Deutschbeziehungsweise Sprachlehrerausbildung allmählich auf unterschiedlichen Unterrichtsstufen und Schultypen angenommen wurde. Im Bologna-System erfolgt die Lehrerausbildung (und somit auch die Sprachlehrerausbildung) in einem einheitlichen System ausschließlich auf MA- Ebene, wobei alle Lehramtstudierenden zwei Fächer belegen müssen. Die Lehrerausbildung auf MA-Ebene umfasst vier Semester mit 120 zu leistenden Kreditpunkten und ein Semester Referendarzeit in der Schule, in der noch 30 Kreditpunkte zu erwerben sind. Innerhalb der germanistischen Lehrerausbildung sind im neuen Systemdie Studiengänge MAin Deutsch als Fremdsprache, 58 Magdolna Orosz/Roberta V. Rada MA in Deutsch als Minderheitensprache akkreditiert worden, die Akkreditierung des Lehramtstudiengangs MA in Niederländisch als Fremdsprache steht unmittelbar bevor. DaimneuenSystemindenLehramtsstudienaufMA-Ebeneobligatorischerweise zwei Fächer zu absolvieren sind, ergeben sich daraus die unterschiedlichsten Fächerkombinationen: Neben zwei geisteswissenschaftlichen und/oder philologischen Fächern sind auch Kombinationen wie ein naturwissenschaftliches mit einem geisteswissenschaftlichen Fach denkbar. Die in den BA-Studien erfolgte Aufteilung der Studieninhalte und -module führt jedoch – obwohl dies nicht zugegeben wird – notwendigerweise zu einer Hauptfach-Nebenfach- Konstellation der Lehramtstudien. Die allgemeine Modulstruktur der MA-Lehramtstudien in Bezug auf das Fach DaF sieht folgenderweise aus (mit den beiden Studienvarianten DaF als Hauptfach, siehe Abbildung 1 beziehungsweise DaF als Nebenfach, siehe Abbildung 2). MA-Studiengang Lehramt für Deutsche Sprache, Literatur und Kultur (DaF als Hauptfach) 120 Kreditpunkte 1. Fach (=Hauptfach) 40 ECTS-Punkte 2. Fach (=Nebenfach) 40 ECTS-Punkte Pädagogik / Psychologie 40 ECTS- Punkte Sprachwissen- schaft / Literaturwissen-schaft (28 ECTS- Punkte) frei wählbare Lehreinheit (2 Kreditpunkte) Methodik/ Didaktik DaF (7 Kreditpunkte) + Schulpraktikum DaF (3 Kreditpunkte) Fachkenntnisse im Fach zum Beispiel Geschichte, ungarische Sprache und Literatur, Mathematik, Chemie usw. Methodik/ Didaktik des gegebenen Faches 5. Semester: Referendarzeit (30 ECTS- Punkte) Abbildung 1: Deutsch als Hauptfach Der entscheidende Unterschied zwischen dem MA-Lehramtstudiengang in Deutsch als Fremdsprache als Hauptfach beziehungsweise als Nebenfach (offiziell werden diese auch nicht als solche bezeichnet) besteht nicht in den im Laufe des MA-Studiengangs zu absolvierenden Lehreinheiten, denn sie sind sowohl für das Haupt-als auch für das Nebenfach identisch: sie umfassen insgesamt 40 Kreditpunkte, worin bestimmte Module in Sprach-sowie Literatur-und 59 Magdolna Orosz/Roberta V. Rada MA-Studiengang Lehramt für Deutsche Sprache, Literatur und Kultur (DaF als Nebenfach) 120 Kreditpunkte 1. Fach (=Hauptfach) 40 ECTS-Punkte 2. Fach (=Nebenfach) 40 ECTS-Punkte Pädagogik / Psychologie 40 ECTS- Punkte Fachkenntnisse im Fach zum Beispiel Geschichte, ungarische Sprache und Literatur, Mathematik, Chemie usw. Methodik/ Didaktik des gegebenen Faches Sprachwissen- schaft / Literaturwissen-schaft (28 ECTS- Punkte) frei wählbare Lehreinheit (2 Kreditpunkte) Methodik/ Didaktik DaF (7 Kreditpunkte) + Schulpraktikum DaF (3 Kreditpunkte) 5. Semester: Referendarzeit (30 ECTS- Punkte) Abbildung 2: Deutsch als Nebenfach Kulturwissenschaft (insgesamt 28 + 2 Kreditpunkte) sowie ein Modul für Methodik/ Didaktik des Faches DaF und ein Schulpraktikum (insgesamt 10 Kreditpunkte) vorgesehen sind. Der Unterschied zwischen Haupt-und Nebenfach besteht in den in den BA-Studien erworbenen Voraussetzungen: Während die StudierendenmitderFachrichtungDeutscheSprache, LiteraturundKultur120 Kreditpunkte im Fach erworben haben, sind es bei den Studierenden, die eine Spezialisierung (ein sog. Minorfach4) in Deutsche Sprache, Literatur und Kultur absolviert haben, ohne Rücksicht auf disziplinäre Studienvoraussetzungen nicht mehr als 50 Kreditpunkte. 6.3 Probleme Da die ersten MA-Studierenden ihre Germanistikstudien noch nicht absolviert haben, können die ermittelten Probleme und Schwierigkeiten erst in Bezug auf den Input formuliert werden. Wie oben angedeutet, ist durch die Vermittlung der praktischen Kenntnisse für die BA-Stufe die Grundlage der theoretischen Kenntnisse für die MA-Stufe nicht gesichert. Dies bereitet denen, die im Masterstudiengang weiterstudieren möchten, ein grundlegendes Problem. Die Zeit mit vier Semestern ist zu kurz, um dies nachzuholen (vgl. Bassola 2008: 19). Dementsprechend sind auch bislang in Ungarn ausgesprochen wenige Master 4Minorfach = Nebenfach 60 Magdolna Orosz/Roberta V. Rada studiengänge akkreditiert worden (vgl. Kegelmann 2008: 21). Besonders problematisch wird es für die Lehramt-Studierenden sein, zumal sie zwei Fächer studieren müssen. So kämpfen die künftigen Lehrer, die DaF als Nebenfach studieren, mit erheblichen fachlichen Schwierigkeiten. Eine weitereProblemquellebedeutetdieGewichtungderdisziplinärenInhalteinnerhalb der Fachbereiche im Fach 1 und Fach 2, wo ein Viertel der Kreditpunkte für Didaktik/Methodik vorgesehen ist, wobei ein Drittel der Gesamtstudien (40 Kreditpunkte) auch schon im großen Modul für Pädagogik-Psychologie verbraucht wird. Die Einführung der Referendarzeit im zusätzlichen 5. Semester ist als eine günstige Entwicklung zu begrüßen, insgesamt trägt sie aber auch zu einem Übergewicht an pädagogisch-didaktischen Modulen bei, wohingegen – nicht zuletzt wegen der Struktur und der Konzeption der vorangehenden BA- Studien – das für Lehrer unentbehrliche gut fundierte disziplinäre Fachwissen letzten Endes zu kurz kommt. Bassola fasst das Wesen wie folgt zusamen: Will man die Grundfunktion der Universität beibehalten, nämlich den Studierenden über die Kentnisvermittlung hinaus auch noch das logische Denken und das Schritthalten bei der Entwicklung des eigenen Faches beizubringen, so müsste man zur Grundlegung der theoretischen Kenntnisse zurückkehren (vgl. Bassola 2008: 19). Fazit: Zukunftsaussichten Trotz der oben skizzierten schwerwiegenden Probleme wird die gegenwärtige Situation der ungarischen Germanistik als eine Übergangsphase betrachtet und ihre Zukunftchancen werden im Allgemeinen eher optimistisch beurteilt: „Im Hochschulbereich [ist und bleibt] (...) die Germanistik die alte Hochburg“( Hessky 2008: 16). Zur Überbrückung der Übergangszeit werden unterschiedliche Vorschläge formuliert. Ein Teil der Vorschläge zielt darauf ab, wie Germanstikstudenten zu gewinnen sind und ihnen durch neue Ausbildungsinhalte vernünftige Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu zeigen (vgl. Knipf-Komlósi 2009: 16). • Institutionelle Einstellung auf die Studierenden, die nicht mehr mit einem hohen Motivationsgrad ihr Studium beginnen wie früher, und leider auch nicht die soliden Grundkenntnisse aus der Mittelschule mitbringen. Vieles, was jedoch dort versäumt worden ist, kann mit entsprechender Strategie in den Germanistikstudien nachgeholt werden. • Innovationen und neue Profile innerhalb des Fachs durchsetzen. Neue Akzente in der Ausbildung zu setzen heißt in erster Linie Studieninhalte abzuändern. Diese Änderung betrifft die permanente Anpassung der Studieninhalte an die Bedürfnisse und Erwartungen des Arbeitsmarktes, ohne den utilitaristischen Erwartungen und Druckmitteln der 61 Magdolna Orosz/Roberta V. Rada Marktwirtschaft nachzugeben aber gleichzeitg ohne die Anforderungen der Wissenschaftlichkeit aus den Augen zu verlieren (vgl. Hessky 2008: 17). Schließlich soll man fundiertes Wissen und Können vermitteln, das den Arbeitnehmer befähigt, im Besitz einer soliden Basis sich selbst den aktuellen Bedürfnissen seines Arbeitgebers anzupassen. Im Sinne dieses Konzeptes werden die Hinwendung zur Interdisziplinarität, die Zusammenarbeit mit Fachbereichen, wie Wirtschafts-, Rechts- oder Kommunikationswissenschaft sowie die stärkere Berücksichtigung der Forschungsergebnisse der interkulturellen Germanistik (vgl. Földes 2009: 23-24) empfohlen. Linguistische Bereiche, die in der nächsten Zeit wichtige Objekte der Forschung in der ungarischen Germanistik sein sollten, sind nach Bassola Geschichte und Sprachgeschichte der Deutschen in Ungarn (Editionen, Erforschung Analyse, Auswertung der Sprachdenkmale), Volkskunde der Ungarndeutschen, Lexikographie, Sprachkontaktforschung, kontrastive Untersuchungen (vgl. Bassola 2008: 20). In zahlreichen Fällen werden gleichzeitig Forderungen formuliert, in denen man versucht, dem Prestige-und Positionsverlust des Deutschen mit entsprechenden sprachpolitischen Entscheidungen entgegen zu wirken. Sowohl auf der EU-Ebene als auch auf der Landesebene (vgl. Knipf-Komlósi 2009: 29) sollte man bewusst auf die Mehrsprachigkeit zusteuern. Im Sinne des Barcelona- Prinzips wird empfohlen, in Ungarn Deutsch als erste und Englisch als zweite FS, in der Funktion einer internationalen Verkehrssprache zu erlernen und zu unterrichten (vgl. Földes 2009: 25, bereits Földes 2004: 13ff.). Die erste FS wird ja in Ungarn in der Regel umfassender und tiefgründiger erlernt als die weiteren. Darüber hinaus, jedoch eng im Zusammenhang mit diesem Aspekt wird auch die Hoffnung geäußert, dass die deutschsprachigen Staaten im Jahr 2011 ihre Arbeitsmärkte für die EU-Beitrittsländer öffnen, wodurch Deutsch (nicht nur) in Ungarn erneut als Wirtschaftsfaktor ins Blickfeld rücken und an Prestige gewinnen könnte. In diesem Fall würde man gerade im Deutschen bessereKenntnisseundauchkulturellfundierteKompetenzbeständebenötigen. „Nur wenn sich nämlich im öffentlichen Bewusstsein verankert, dass es sich lohnt, Germanistik zu studieren, weil sich dadurch die Chancen auf dem Arbeitsmarkt tatsächlich verbessern, wird die Nachfrage nach einem solchen Studium wieder spürbar zunehmen“, bemerkt Kegelmann (2008: 24) mit Recht. Die ungarische Germanistik kann sich selbst auch durch Kräftevereinigung helfen, und zwar durch: • bessere Zusammenarbeit zwischen den germanistischen Lehrstühlen und Instituten, zum Beispiel regelmäßiger Austausch von Erfahrungen in Arbeitsgruppen (welcher Unterrichtstoff ist wichtig, welche Fächer sind notwendig, usw.), institutionsübergreifende Erabeitung von Unterrichtsmaterialien (vgl. Kegelmann 2008: 23-24). 62 Magdolna Orosz/Roberta V. Rada • größtmögliche finanzielle Anpassung, wie Erwirtschaftung diverser Drittmittel, Starten von internationalen Projekten, selbst wenn es auch außerordentlich energie-und kraftaufwändig ist, sowie die Teilnahme an laufenden internationalen Forschunsgprojekten. • fachinterne Interessensvertretung aber auch Kooperation mit den Vertretern anderer Wissenschaftsbereiche (zum Beispiel mit Naturwissenschaftlern) statt Aufsplitterung der Wissenschaftsgebiete. • die Integration in den Europäischen Forschungsraum (vgl. Kertész 2008: 39 ff.). Wie auch aus diesem Katalog der möglichen „Auswege“ ersichtlich ist, gibt es keinen „Königsweg, keine allumfassende, unmittelbare und sofortigen Erfolg bringende Lösung. Was getan werden muss, sind kleine, aber konsequent durchgeführte Schritte auf mehreren uns zugänglichen Gebieten“(Kertész 2008: 43). Literatur Bassola, Péter (2008): Wohin steuert die ungarische Germanistik? In: Tichy, Ellen/Masát, András (Hg.): Jahrbuch der ungarischen Germanistik 2007. Budapest/Bonn 2008, 18-20. Bernáth, Árpád/Csúri, Károly (2004): Die deutsche Sprache im ungarischen Hochschulwesen. Bemerkungen zu ihren Zukunftsperspektiven. In: Goltschnigg, Dietmar/Schwob, Anton (Hrsg): Zukunftsperspektiven der deutschen Sprache in Mittel-, Südost-und Osteuropa. Grazer Humboldt-Kolleg 20.-24. November 2002. Wien 2004, 137-140. Földes, Csaba (2004): Überlegungen aus der Sicht einer „Anrainer- Germanistik“. In: Goltschnigg, Dietmar/Schwob, Anton (Hrsg): Zukunftsperspektiven der deutschen Sprache in Mittel-, Südost-und Osteuropa. Grazer Humboldt-Kolleg 20.-24. November 2002. Wien 2004, 100-105. Földes, Csaba (2009): Germanistikunterricht in Ungarn und Deutsch als europäische Lingua franca. In: Böttger, Lydia/Masát, András (Hg.): Jahrbuch der ungarischen Germanistik 2008. Budapest/Bonn 2009, 22-25. Goltschnigg, Dietmar/Schwob, Anton (Hrsg): Zukunftsperspektiven der deutschen Sprache in Mittel-, Südost-und Osteuropa. Grazer Humboldt- Kolleg 20.-24. November 2002. Wien 2004, 188-193. 63 Magdolna Orosz/Roberta V. Rada Hessky, Regina (2008): Wo liegt der Hund begraben? Ein Beitrag von der Grenzlinie. In: Tichy, Ellen/Masát, András (Hg.): Jahrbuch der ungarischen Germanistik 2007. Budapest/Bonn 2008, 13-17. JuG 2007 = Tichy, Ellen/Masát, András (Hg.): Jahrbuch der ungarischen Germanistik 2007. Budapest/Bonn 2008. JuG 2008 = Böttger, Lydia/Masát, András (Hg.): Jahrbuch der ungarischen Germanistik 2008. Budapest/Bonn 2009. Kegelmann, René (2008): Nicht ganz subjektive Bemerkungen zum Zustand der Germanistik in Ungarn nebst einigen Vorschlägen. In: Tichy, Ellen/Masát, András (Hg.): Jahrbuch der ungarischen Germanistik 2007. Budapest/Bonn 2008, 21-24. Kertész, András (2008): Sind germanistische Forschungen noch zu retten? Bemerkungen zur Situation der Geisteswissenschaften im Ungarn der Jahrtausendwende. In: Tichy, Ellen/Masát, András (Hg.): Jahrbuch der ungarischen Germanistik 2007. Budapest/Bonn 2008, 30-44. Knipf-Komlósi, Elisabeth (2009): Germanistikunterricht in Ungarn und Deutsch als europäische Lingua franca. Böttger, Lydia/Masát, András (Hg.): Jahrbuch der ungarischen Germanistik 2008. Budapest/Bonn 2009, 28-30. Pusztai, Gábor (2009): Tiefflug ohne Absturz. Zukunftsperspektiven der Germanistik in Ungarn. In: Böttger, Lydia/Masát, András (Hg.): Jahrbuch der ungarischen Germanistik 2008. Budapest/Bonn 2009, 31-34. Szendi, Zoltán (2008): Wohin steuert die ungarische Germanistik? In: Tichy, Ellen/Masát, András (Hg.): Jahrbuch der ungarischen Germanistik 2007. Budapest/Bonn 2008, 25-29 64 Deutschsprachiger Fachunterricht in Ungarn – Lehrerausbildung für den bilingualen Geschichtsunterricht an der Eötvös-Loránd-Universität Budapest Dr. Katalin Árkossy Eötvös-Loránd-Universität Germanistisches Institut Rákóczi út 5. 1088 Budapest Einleitung Das Unterrichten von Sachfächern in einer Fremdsprache ist ein dynamisches Reformprojekt innerhalb der schulischen Praxis in vielen Teilen Europas. Ungarn bildet hiermit keine Ausnahme. Die Aktualität des Bilingualen Unterrichts entstand durch den wachsenden Bedarf an Sprachkenntnissen, hervorgerufen durch die Veränderungen innerhalb Europas, wie zum Beispiel: • Die Erweiterung der Europäischen Union, • Das Entstehen neuer politischer, wirtschaftlicher und kultureller Kontakte • Wissenschaftliche Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, wie Informatik, Technik, etc. • Internationalisierung des Arbeitsmarktes • Tourismus 65 Katalin Árkossy 2 Deutschsprachiger Fachunterricht am Germa nistischen Institut der Eötvös -Loránd -Uni versität Eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Erweiterung des deutschsprachigenFachunterrichtssindgutausgebildeteFachlehrer, denn fürdas Unterrichten eines Schulfaches in der Fremdsprache sind eine Reihe von besonderen Qualifikationen erforderlich. Diese kann man sich nicht einfach nebenbei aneignen, sie sind vielmehr gezielt in einem langen Ausbildungsprozess zu entwickeln und aufzubauen. Aus dieser Überlegung heraus wurde in Budapest am Germanistischen Institut der Eötvös-Loránd-Universität ein viersemestriger Zusatzstudiengang erarbeitet, mit dem Ziel, Studierenden die Chance zu geben, grundlegende Kenntnisse in diesem Bereich und ein zusätzliches Diplom zu erwerben. Der Zusatzstudiengang wurde zunächst für Studierende mit der Fächerkombination Deutsch und Geschichte ins Leben gerufen. Später sollen jedoch auch weitere Sachfächer in die Planungen einbezogen werden. Die Entscheidung, mit dem Sachfach Geschichte zu beginnen, hatte mehrere Gründe: • Geschichte ist das am häufigsten bilingual unterrichtete Schulfach in Ungarn. • Mit dieser Fächerkombination gibt es an unserer Universität eine ausreichend hohe Anzahl von Studierenden. • Geschichte ist ein Fach, in dem Reformen dringend benötigt werden. 3 Curriculum des Zusatzstudiums Um für den Zusatzstudiengang ein sinnvolles Curriculum zu konzipieren, haben wir uns zuerst die Frage gestellt, welche Qualifikationen für die unterrichtenden Lehrpersonen unerlässlich sind. An dieser Stelle sollen nur die besonders wichtigen genannt werden, wie zum Beispiel sachfachrelevante Kompetenzen in der Fremdsprache, die Beherrschung eines breiten Repertoires an Methoden für Sachfach und Fremdsprache, die Fähigkeit, fremdsprachliche Unterrichtsmaterialien für das Fach zu beschaffen und zu adaptieren. Darüber hinaus sind aber auch lernpsychologische Kenntnisse über Bilingualismus beziehungsweise den bilingualen Unterricht nötig. Auf der Grundlage dieser Überlegungen entstand das Curriculum des Zusatzstudiums. Es umfasst zwölf zusätzliche Lehrveranstaltungen in drei Bildungsbereichen (Linguistik, Methodik-Didaktik und Sprachpraxis) mit insgesamt sechs SWS auf vier Semester verteilt. 66 Katalin Árkossy Lehrveranstaltungen WST 1 Kreditpunkte Allgemeindidaktische und Fachdidaktische Grundlagen 2 3 Unterrichtsbeobachtung, Unterrichtsplanung 2 3 Unterrichtsversuche: Planung, Durchführung, Reflektieren 2 3 Vorbereitung auf das Schulpraktikum, Unterrichtsbegleitendes Seminar 2 3 Schulpraktikum 7 Tabelle 1: Methodik-Didaktik Lehrveranstaltungen WST Kreditpunkte Linguistische Grundlagen der Fachsprache 2 3 Fachtexte im Geschichtsunterricht 2 3 Wortbildungsregeln im DFU 2 3 Tabelle 2: Linguistik Lehrveranstaltungen WST Kreditpunkte Fachsprachentraining 2 3 Fachsprachliche Terminologie Übersetzungsübungen 2 3 Übungen zur Wortbildung in der Fachsprache 2 3 Übungen zur mündlichen und schriftlichen fachsprachlichen Kommunikation 2 3 Tabelle 3: Sprachpraxis 4 Beschreibung der Studieninhalte 4.1 Didaktik und Methodik des Deutschsprachigen Fachunterrichts Ziel dieser Veranstaltung ist die theoretische Erarbeitung von didaktischen und methodischen Prinzipien des bilingualen Unterrichts beziehungsweise ihre praktische Realisierung. In den Seminarsitzungen werden neben den theoretischen Grundlagen hauptsächlich unterrichtspraktische Themen analysiert und erprobt. Einen wichtigen Teil dieses Bildungsbereiches bilden die Unterrichtsbeobachtung und die Unterrichtsplanung. 67 Katalin Árkossy Das Hauptanliegen bei dieser Studieneinheit war die Frage: Wie sollen die Studenten in der Theorie möglichst praxisnah für den bilingualen Unterricht ausgebildet werden? Schnell wurde deutlich, dass die Studenten als Erstes möglichst nah an die Praxis herangeführt werden müssen, indem sie an unterschiedlichen Schulen in verschiedenen Jahrgangsstufen bei möglichst vielen Lehrkräften hospitieren. Doch darf dies nicht zu einem Selbstzweck werden, die Studierenden benötigen zuvor das theoretische Gerüst, um sinnvoll hospitieren zu können. Aus diesem Grund bildet die Unterrichtsplanung im Seminar einen Schwerpunkt. Wichtig ist dabei, dass die Studierenden ihre didaktischen und methodischen Überlegungen erörtern. Dabei soll kein Unterrichtsentwurf im klassischen Sinne entstehen, da die Studierenden nicht in der Theorie für eine fiktive Schülergruppe etwas planen, sondern lernen sollen, worauf sie sich in der Unterrichtsvorbereitung in der Praxis konzentrieren müssen. Dies hört sich für erfahrene Lehrkräfte nach einer Selbstverständlichkeit an, bedeutet aber für Studierende generell eine Schwierigkeit. Aus diesem Grunde wirdzuBeginndieserStudieneinheitdieklassischeUnterrichtsplanungthematisiert. Über die didaktischen Überlegungen, die Sachanalyse, die Lernvoraussetzungen, die methodische Analyse, die Lernziele und die Materialien gelangen die Studierenden zu einem Planungsraster, welches universell einsetzbar ist. Bei diesem Planungsraster fällt schnell auf, dass zuvor sehr gut überlegt sein muss, wie und an welcher Stelle die Spracharbeit berücksichtigt werden soll, da der Unterricht im Sachfach bei uns weitgehend in der jeweiligen Fremdsprache erteilt wird, diese ist jedoch nicht Lerngegenstand, sondern – in diesem Falle -Vermittlungsinstrument. Also gilt es, die Planung so anzulegen, dass der Unterrichtsgegenstand im Vordergrund steht und die Sprachenkompetenz der Lernenden gleichzeitig erhöht wird. Im Seminar wird dies dadurch versucht, dass die Studierenden zu einem selbst gewählten Schwerpunkt Material erstellen. Die Verzahnung mit den sprachpraktischen Seminaren ist an dieser Stelle besonders wichtig, so dass diese zwei Lehrveranstaltungen ganz früh aufeinander abgestimmt wurden. Doch damit werden die Studierenden zwar praxisnah ausgebildet, sind aber immernochnichtinderPraxis. EswirdihnenindiesemTeilderAusbildungjedoch immer deutlicher, welch bedeutenden Stellenwert die Unterrichtsplanung einnimmt. Dies gilt besonders dahingehend, dass sie merken, welche Sicherheit eine solide Planung für sie bedeutet – vor allem in sprachlicher Hinsicht. Diesen Aspekt darf man nie aus den Augen verlieren: Auch für die Studierenden ist die Zielsprache der Lernenden eine Fremdsprache. Nach der theoretischen Planung gilt es als Nächstes zu erfahren, was und wie es die anderen Kolleginnen und Kollegen machen. Dieser Weg weist ganz deutlich in die Schulen, in denen bereits bilingual Geschichte unterrichtet wird. Da Geschichte das meistunterrichtete bilinguale Unterrichtsfach in Ungarn ist, ist es gelungen, ein Netzwerk von Schulen aufzubauen, an denen die Studieren 68 Katalin Árkossy den gern gesehene Gäste sind und zwei-bis dreimal je Semester die Gelegenheit erhalten, bei Kolleginnen und Kollegen zu hospitieren. Wichtig ist dabei, dass die Studierenden auf diese Weise verschiedene Schulen mit unterschiedlichen Profilen kennen lernen. Dies reicht von bilingualen, über Minderheitenschulen bis hin zu einer deutschen Begegnungsschule. Gemeinsam ist allerdings allen: Geschichte wird auf Deutsch unterrichtet. Durch die intensive Auseinandersetzung mit der Planung wissen die Studierenden jetzt, warum der Unterricht so abläuft, wie sie ihn erleben. Sie können die Spracharbeit und die inhaltliche Arbeit erkennen -und beurteilen. Erst durch diese kritische Auseinandersetzung erfahren sie den Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Die Unterrichtsplanung und die Hospitationen in Schulen mit deutschsprachigemFachunterrichtbedeuteneineersteVorbereitungaufeinFachpraktikum. Unterrichtsversuche innerhalb der Universitätsseminare stellen die zweite Phase dar. Zur Durchführung des Fachpraktikums gehören dann die ersten Erfahrungen mit selbst erteiltem bilingualem Unterricht in Schulen mit deutschsprachigem Fachunterricht und ein dreiwöchiges Schulpraktikum im Ausland, auf dem deutschen Sprachgebiet. Zu dem Schulpraktikum die Meinung eines Studenten des Zusatzstudiums: „Die Praktika gehörten ohne Zweifel zu den wichtigsten Bestandsteilen unseres Studienganges. Sie haben die verschiedenen thematischen Schwerpunkte unserer DFU-Seminare verbunden. Hätte es sie nicht gegeben, hätte auch unsere ganze theoretische Ausbildung ihr Ziel nicht erreichen können. Sie haben uns immer eine gute Rückmeldung darüber gegeben, wie wir uns entwickelt haben. Wir hatten in diesem Praktikum echte pädagogische Aufgaben in einer authentischen Umgebung zu lösen. Ganz oft ging es um ganz triviale Kleinigkeiten, die man aber nur im Klassenzimmer lernen kann. Unser Studiengang ist deshalb eine grüne Oase in dem heutigen ungarischen theorieorientierten Hochschulwesen, da er imstande ist, Theorie und Praxis miteinander ins Gleichgewicht zu bringen.“ 4.2 Linguistik und Sprachpraxis Die Lehrveranstaltungen dieser Bereiche vermitteln die linguistischen Grundlagen der Fachsprache und fokussieren vor allem auf Wortbildungsregeln, auf die Struktur der Fachsprachen und auf textlinguistische Grundlagen zum Verstehen von Fachtexten. Wichtige Themenbereiche der Lehrveranstaltungen sind nicht zuletzt: • Syntaktische und morphologische Eigenheiten des Fachwortschatzes • Fachtexte im Geschichtsunterricht -Methoden zur Analyse 69 Katalin Árkossy • Die Möglichkeiten der Erweiterung des Wortschatzes • Mittel und Modelle der Wortbildung • Arbeit mit dem Fachtext: „Modelle zur Texterschließung“. Die theoretischen Grundlagen werden in den sprachpraktischen Übungen erprobt, eingeübt und automatisiert. Fokussiert wird dabei auf sachfachspezifische Sprech-und Schreibprozesse im Bereich der Geschichte, beziehungsweise auf das Einüben von fachlichen Sprachstrukturen. Eine ganz wichtige Rolle spielt dabei die Textarbeit, der Umgang mit verschiedenen Lehrbuchtexten, fachwissenschaftlichen Texten, populärwissenschaftlichen Texten sowie mit Lexikontexten und zwar sowohl hinsichtlich der Textrezeption als auch der Textproduktion. 5 Teilnahme am internationalen Projekt „Für Geschichtsbewusstsein“ Die Entscheidung, den deutschsprachigen Fachunterricht mit dem Sachfach Geschichte zu beginnen, bedeutete für uns gleichzeitig auch ein Stück Verantwortung für die Erneuerung des Geschichtsunterrichts zu übernehmen. So wurden parallel zur Gründung des Studienganges DFU Maßnahmen zur Förderung des reflektierten Geschichtsbewusstseins getroffen. Wir nahmen am internationalen Projekt „Für Geschichtsbewusstsein “ teil. In den deutschen und bilingualen Schulen, wo unsere Studierenden hospitieren beziehungsweise ihr Praktikum machen, wurden Lehrerarbeitskreise mit der Zielsetzung gebildet, bei den Schülern das reflektierte Geschichtsbewusstsein zu fördern. So hat das Projekt den Lehrerinnen und Lehrern, die Reformen anstreben, den Rücken gestärkt. Das Projekt verfolgt die Zielsetzung, zur Entwicklung des Geschichtsunterrichts weg vom Paukfach hin zum Denkfach beizutragen. „Geschichte denken statt pauken“ ist das Motto der Initiative. Innerhalb des Projekts wurden Schule und Universität miteinander verknüpft. Theoretisch Ausgearbeitetes wurde anschließend in den Schulen erprobt. In der ersten Phase wurde die Theorieentwicklung vorangetrieben, um die Zielsetzung eines entsprechenden Unterrichts zu präzisieren. Ein Gewicht wurde darauf gelegt, die Kompetenzen, die die Schüler mit Hilfe des Geschichtsunterrichts entwickeln sollen, präzise zu bestimmen. Vor allem wurde daran gearbeitet, die Lernprogression bei der Entwicklung historischer Kompetenzen mitzubedenken. Im zweiten, stärker unterrichtsbezogenen Schritt, ging es darum, in Zusammenarbeit mit Geschichtslehrkräften Anregungen und Materialien zu entwickeln, um einen 70 Katalin Árkossy derartigen Geschichtsunterricht in den einzelnen Ländern mit ihren jeweils eigenen Schultraditionen durchzuführen. Im dritten Schritt sollte dann die Implementierung in den Mittelpunkt gestellt und noch weiter forciert werden. Im Rahmen des Projekts „Für Geschichtsbewusstsein“ fanden mehrere Teilprojekte statt, an denen sowohl Schülerinnen und Schüler als auch Studierende des viersemestrigen bilingualen Zusatzstudiengangs beteiligt waren. Hier sollen drei der wichtigsten Projekte vorgestellt werden: Erstens das Anfangsprojekt „Die Vertreibung der Ungarndeutschen in Folge des zweiten Weltkrieges“ und zweitens das Schulbuchprojekt „Geschichtsbilder zur Wende 1989/1990. Schüler vergleichen Schulbücher und planen Unterricht“. Drittens ein Museumsprojekt „Vergleich musealer Erinnerungskulturen in Deutschland und Ungarn“. In allen genannten Projekten wurde die europäische Dimension, sowie die europäische Perspektivenerweiterung von Anfang an verstärkt beachtet. 5.1 Teilprojekt: „Die Vertreibung der Ungarndeutschen in Folge des zweiten Weltkrieges“ Das erste Projekt war ein internationales Zeitzeugenprojekt, das in bilingualen und deutschsprachigen Schulen in Ungarn durchgeführt wurde. Ziel des Projekts war, bei den Schülerinnen und Schülern die Fähigkeit und Bereitschaft zu einem reflektierten Umgang mit Geschichte zu fördern, durch Multiperspektivität Toleranz den anderen gegenüber aufzubauen und die Auseinandersetzung mit Minderheitenschicksalen zur Entwicklung der eigenen Identität zu nutzen. Als Hauptquelle wurden in diesem Projekt Zeitzeugengespräche in den Mittelpunkt gestellt. Zur Einordnung beziehungsweise Objektivierung der QuellengattungZeitzeugewurden Bildquellen, Archivmaterialausdem Sektor Gesetze, überregionale und regionale Verwaltung und Presse eingesetzt, aber auch unterschiedliche Geschichtsdarstellungen, neben Literatur zum Beispiel auch ein Dokumentarfilm. Eine ganz besondere Möglichkeit lag darin, dass bei den Befragungen die Schülerinnen und Schüler aktiv werden und auch selbstständig Interviews durchführen konnten, da meistens in ihrer eigenen Familie oder im Dorf noch Betroffene leben, die berichten können. Auf diese Weise erfuhren die Lernenden, die bislang gewohnt waren, fertige Rekonstruktionen zu pauken, welche Herausforderung das Ziel der aktiven Re-Konstruktion bedeuten kann. Das Motto „Geschichte denken“ gelangte dadurch in ihren Erfahrungshorizont. Während des Projekts haben die Teilnehmenden Strategien entwickelt, die sie auchbeianderenProjekten anwendenkönnenunddadurcheineKompetenzzur Rekonstruktion und Dekonstruktion erworben, die ihnen nun den gewünschten reflektierten Umgang mit Geschichte ermöglicht. 71 Katalin Árkossy 5.2 Teilprojekt: „Geschichtsbilder zur Wende 1989/1990. Schüler vergleichen Schulbücher und planen Unterricht“ Das im Jahre 2007 durchgeführte Projekt ist ein Schulbuchprojekt mit dem Titel: „Geschichtsbilder zur Wende 1989/1990. Schüler vergleichen Schulbücher und planen Unterricht“. Da die Wende in den Schulbüchern aller europäischen Länder sehr unterschiedlich dargestellt wird und den Schülern und Schülerinnen und den Studierenden dies im Regelfall nicht bewusst wird, weil sie nur mit dem eigenen Schulbuch arbeiten, sah man den Bedarf eines Projekts, in dessen Rahmen Geschichtsbücher verglichen werden. Denn erst der Vergleich kann ihnen den Blick auf Gemeinsames und Unterschiedliches eröffnen. Die Schülerinnen und Schüler und die Studierenden sollten sich selbst Gedanken darüber machen, wie ein gutes Geschichtsbuch für sie aussieht. Nachdem sie zuvor zu Hause Lehrbücher untersucht hatten, waren sie zu einem Internationalen Workshop zur Schulbuchanalyse eingeladen. Auf diese Weise konnten sie Zusatzinformationen von Experten erhalten. Die Ergebnisse des Workshops sollen in arbeitsfähige Materialien für den Geschichtsunterricht münden, und es sollen Materialien für den Unterricht entstehen. Dieses Projekt war für unsere DFU-Studierenden besonders wichtig, weil sie später in der Praxis sehr oft in die Situation geraten werden, selber nach geeigneten Materialien zu suchen beziehungsweise Entscheidungen zu treffen, welche Lehrbücher sie in ihrer Klasse einsetzen wollen. 5.3 Teilprojekt: „Die Massenbewegung und -gewalt im Nationalsozialismus, Vergleich musealer Erinnerungskulturen in Deutschland und Ungarn“ Das dritte Projekt ist ein gemeinsames deutsch-ungarisches Museumsprojekt mit dem Thema „Die Massenbewegung und -gewalt im Nationalsozialismus, Vergleich musealer Erinnerungskulturen in Deutschland und Ungarn“. Es ist ein gemeinsames Projekt von Studenten der Katholischen Universität Eichstätt und der Eötvös-Loránd-Universität Budapest. Das zentrale Ziel des Projekts war, die museale Rezeption und Präsentation der Themenfelder ‚Massenbewegung und Massenmord’ im Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände Nürnberg, im Ort der Information unter dem Stelenfeld des Denkmals für die ermordeten Juden Europas in Berlin und im Holocaust Memorial Center in Budapest zu untersuchen und zu vergleichen. Für die Arbeit wurden gemischtnationale Gruppen gebildet, die die einzelnen Schwerpunkte für den Museumsvergleich erarbeiteten, und bei der Ausarbeitung auf kulturell bedingte Unterschiede und übernationale/globale Gemeinsamkeiten fokussierten. Die auf der Homepage präsentierten Untersu 72 Katalin Árkossy chungsergebnisse sind in einem gemeinsamen Diskussions-und Erarbeitungsprozess entstanden. Eine Herausforderung war das Ziel der aktiven Dekonstruktion, das kritische Hinterfragen der Ausstellungen und das konsequente Ausdiskutieren der Meinungsverschiedenheiten in den Gruppen. Das ständige Reflektieren, das Akzeptieren der unterschiedlichen Denkweisen, Arbeitsmethoden und der anderen Meinungen haben den Studenten geholfen zueinander zu finden, die Schwierigkeiten zu überwinden und haben letztendlich zum Gelingen des Projektvorhabens geführt. Ein großer Verdienst der gemeinsamen Arbeit sind die Solidarität, Hilfsbereitschaft und Toleranz, die unter den Projektteilnehmern während des Projekts immer mehr gewachsen sind und damit einen Beweis dafür liefern, wie Vorurteile und Barrieren durch eine gemeinsame Arbeit abgebaut werden können. Die objektivierbaren Wahrnehmungen der beiden Gruppen; ihre unterschiedlichen Bewertungen sagen sehr viel über die interkulturellen Unterschiede aus. Die Auseinandersetzung mit diesen Unterschieden hilft, das Fremde besser zu verstehen, aber es kann auch dazu beitragen, dass man das Eigene bewusster erlebt beziehungsweise kritisch hinterfragen lernt. Die Untersuchungsergebnisse, die in einem gemeinsamen Diskussions-und Erarbeitungsprozess entstanden sind, wurden auf der Hompage: http://www.museumsvergleich-holocaust.eu/ veröffentlicht. Literatur Árkossy, Katalin (2007): Zeitzeugenprojekte mit europäischer Dimension im Geschichtsunterricht: „Mit den Sichtweisen der anderen umgehen lernen“ In: Bernd Schönemann/Hartmut Voigt(Hrsg.): Europa in historisch-didaktischen Perspektiven. Idstein, 2007, 286-294. Bach, Gerhard/Niemeier, Susanne (2000) (Hgg.): Bilingualer Unterricht. Grundlagen, Methoden, Praxis, Perspektiven. Frankfurt am Main, 2000. Leisen, Josef (2005): „Standardsituationen im bilingualen beziehungsweise deutschsprachigen Fachunterricht (DFU). “ In: Der deutsche Lehrer im Ausland, 1(2005), 48-52. Schreiber, Waltraud (2004) (Hgg.): Erste Begegnungen mit Geschichte – Grundlagen historischen Lernens. Bd.1 u. 2, zweite erweiterte Auflage. Neuried, 2004. 73 Die Situation des Deutschunterrichts in Ungarn Dr. Márta Müller (PhD) Eötvös-Loránd-Universität Ungarndeutsches Forschungs-und Lehrerausbildungszentrum Rákóczi út 5. 1088 Budapest 1 Einführung Über den Fremdsprachenunterricht hinaus, der im schulischen Rahmen – d. h. in den verschiedenen Schultypen wie dem Gymnasium, der Fachmittelschule1 , der Berufsschule beziehungsweise auf unterschiedlichen Schulstufen wie dem Primarbereich oder der Sekundarbereich I und II in den Wochenstundenplan eingebaut–angebotenwird,kanndiedeutscheSprachealsFremdsprache(DaF) aufzweierleiWegenerworbenwerden: erstensinSprachschulen,indenenfürdie Inanspruchnahme des Fremdsprachenunterrichts Kursgebühren bezahlt werden müssen und zweitens in Form von Einzelunterricht, der nach individueller Terminvereinbarung meistens in der häuslichen Umgebung der Lehrkraft oder des Lerners stattfindet und für welchen ebenfalls Stundengebühren zu entrichten sind. Dieser Beitrag geht, da für die Beschreibung der zweiten Form des Fremdsprachenunterrichts – Privatstunden bei einem Fremdsprachenlehrer – keine zuverlässigenQuellenzurVerfügungstehen, nuraufdieUmständedesDeutschunterrichts an öffentlichen Bildungseinrichtungen beziehungsweise an privaten Sprachschulen zwischen 1945 und 1989 sowie nach der Wende ein. 1Fachmittelschulen sind eine Hybridform von Gymnasien und Berufsschulen: sie bereiten ihre Schüler in vier Jahren auf das Abitur vor und geben ihnen darüber hinaus Grundkenntnisse eines Berufes, dessen Erlernen an das Abitur gekoppelt ist. Die Dauer der Schulzeit in Fachmittelschulen dauert vier + eins bis vier + zwei Jahre, je nach Komplexität des zu erlernenden Berufes. 74 Márta Müller 2 Im Schatten der Politik: Deutschunterricht in Ungarn 1945-1989 2.1 Deutschunterricht an den öffentlichen ungarischen Bildungseinrichtungen 1945-1989 Wie verwunderlich es auch klingen mag, Russisch als Fremdsprache wurde in Ungarn – nach einer Verordnung des Bildungsministers Géza Teleki vom 26. Februar 1945 – an allen Mittelschulen und Berufsschulen als Schulfach schon Monate vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges eingeführt, sofern die personellen und gegenständlichen Bedingungen (das heißt die Anzahl der Lehrer mit entsprechender sprachlicher Qualifikation sowie das Vorhandensein von Lehrwerken) der Schulen dies ermöglichten (vgl. Szilágyiné Hodossy 2006: 29). Durch die Einführung der russischen Sprache als Pflichtschulfach versuchte die ungarische Regierung die sehr starke Präsenz des Deutschen in den Sekundarstufen I und II zu schwächen. Da aber in der Sekundarstufe I sowie in den Gymnasien vorwiegend Fremdsprachenlehrer des Deutschen und nur in geringer Anzahl Fremdsprachenlehrer anderer Sprachen angestellt waren, konnte diese Verordnung kurzfristig die Struktur des Fremdsprachenunterrichts, der an öffentlichen ungarischen Bildungseinrichtungen angeboten wurde, nicht beeinflussen (vgl. ebd. 32f). 1946 erschien der erste Lehrplan, der die Bildungsinhalte und Erziehungsziele sowie grundsätzliche Empfehlungen für den Unterricht der achtjährigen Grundschulen beinhaltete. In diesem Lehrplan wiesen die Verfasser darauf hin, dass die deutsche Sprache in Europa sowohl kulturell als auch wirtschaftlich ein hohes Potenzial besitzt, und dass sich zu ihrem Erlernen ab der 5. Grundschulklasse die vermittelnde Methode sich am besten eigne (vgl. Részletes 1946: 1f). Über die Reform der öffentlichen Bildung hinaus wurden neue – den veränderten Bedingungen des Unterrichts angepasste – Lehrbücher2 herausgegeben. In der kurzen Periode der parlamentarischen Demokratie in Ungarn (1. Februar 1946 – 23. August 1949), die auch als „Zweite Ungarische Republik“ bezeichnet wird, lernten – wohl auch infolge der elterlichen Sprachpräferenzen einerseits und des Mangels an qualifizierten Lehrkräften andererseits – immer noch 53% der Schüler Deutsch, 30% Englisch, 29% Französisch und nur 3% Russisch als Fremdsprache in den Mittelschulen (vgl. Szávai 1949: 489). Im Jahre 1949 begann – parallel zur Gleichschaltung des ganzen Landes – allmählich die Durchpolitisierung des allgemeinen Schulwesens und infolge dieser auch die des Fremdsprachenunterrichts. Nachdem 1948 alle Schulen 2So zum Beispiel für den Unterricht der deutschen Sprache an den achtjährigen Grundschulen von demAutorenduoGyulaSemjénundGyörgyMihályVajdafürdie5. –8. Klassen; sowie von Gyula Benigny für die Klassen fünf bis sieben. Den Autoren dieser Sprachbücher war es gleich, dass sie auf politisch-ideologische Themen verzichteten. Im Mittelpunkt ihrer Lehrstoffprogression standen allgemeine Sprechsituationen und kulturspezifische Themen. 75 Márta Müller verstaatlicht wurden (vgl. Kardos/Kornidesz 1990: 259), verordnete das Bildungsministerium ab dem Schuljahr 1949/1950 für die 5. – 6. Klassen der Grundschulen sowie für die 1. – 2. Klassen der Mittelschulen die verbindliche EinführungdesRussischenalsSchulfach. ZugleichwurdederUnterrichtinallen anderen Fremdsprachen an allen Schultypen und in allen Schulstufen in Ungarn verboten. Dieses Verbot wurde erst 1955 zunächst für die Gymnasien gelockert und 1958, zwei Jahre nach der Revolution schließlich auch für die Grundschulen aufgehoben3: Der Unterricht in einer zweiten Fremdsprache (Deutsch, Englisch oder Französisch) wurde in den 5. – 8 Klassen im Umfang von zwei Wochenstunden erlaubt. Die allgemeinen Inhalte des Deutschunterrichts, der gemäß der Empfehlung des im Jahre 1961 erlassenen Lehrplans mit der direkten Methode gestaltet werden sollte, wurdenum DDR-spezifische landeskundlicheund politische Themen (wie zum Beispiel landwirtschaftliche ProduktionsgenossenschafteninderDDR; dieLandkartederDDR)ergänzt(vgl. Tanterv1961). Die 1962 in Hamburg veranstaltete UNESCO-Konferenz mit dem Thema „Foreign Languages in Primary Education“ führte aufgrund ihrer Intention dazu, dass mit dem Erlernen der ersten Fremdsprache in eigens für Versuchszwecke ausgewählten Kindergärten, beziehungsweise in Schulen ab der 3. Grundschulklasse begonnen wurde. Diese Versuche beabsichtigten die Vermittlung von grundlegenden Kenntnissen in einer fremden – so unter anderem auch deutschen – Sprache und dadurch die Erleichterung des Wechsels in die weiterführenden Schulen. 1967 wurden die bildungspolitischen Voraussetzungen geschaffen, um an den ungarischen Schulen spezielle Klassenzüge zu starten, in denen moderne Fremdsprachen – Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Russisch und Spanisch – in den 3. – 4. Klassen mit drei Wochenstunden, danach mit fünf Wochenstunden unterrichtet wurden. In diesen speziellen Klassenzügen wurde die russische Sprache als zweite Fremdsprache ab der 5. Klasse eingeführt (vgl. Tanterv 1967). In den Schulen, die die personellen und materiellen BedingungensolcherspeziellenKlassenzügenichterfüllenkonnten,botder1984 erlassene Lehrplan, der übrigens den 1961er Lehrplan ablöste, eine Möglichkeit, Fremdsprachenunterricht in Form von frei wählbaren (sog. fakultativen) Schul- fächern ab der 7. Grundschulklasse zu organisieren. In den Zielsetzungen des Lehrplans über den fakultativen deutschsprachigen Unterricht wurde betont, dass im Mittelpunkt der deutschsprachigen Beschäftigungen die Vorbereitung auf die mündliche Kommunikation in alltäglichen Situationen, die Vermittlung von Kenntnissen über die DDR sowie das Erwecken und das längerfristige Aufrechterhalten des Interesses am Sprachenlernen für die weiterführenden Schulen stehen sollen (vgl. Az általános 1984). Die 1967er Lehrpläne wurden in der ersten Hälfte der 1980er Jahre überarbeitet, einerseits damit das ungarische 3Während der 1956er Revolution wurde an vielen Schulen der Unterricht der russischen Sprache unverzüglich eingestellt und stattdessen wieder Deutsch unterrichtet (vgl. Szilágyiné Hodossy 2006). 76 Márta Müller Schulwesen mit den pädagogischen Entwicklungstendenzen in Europa Schritt halten konnte, andererseits, weil sich die Wochenstundenzahlen in allen Schul- fächern wegen des Übergangs von sechstägigen zu fünftägigen Arbeits-und Unterrichtswochen ab dem 1. Januar beziehungsweise in den Schulen ab dem 1. September 1982 verringerten (vgl. Sáska 2001: 49). Es ist unmöglich, den Anfang der Wende in der ungarischen Politik genau zu fixieren, denn verschiedene Umstände wie die Unzulänglichkeiten der ungarischen Planwirtschaft und damit verbunden die Verschlechterung des Lebensstandards seit den 1970ern (vgl. Nagy 1989: 55), die Schwächung der politischen Macht der Sowjetunion und die Herausbildung einer reformkommunistisch gesinnten Generation in der ungarischen Parteiführung haben gebündelt und in einem über Jahre hinweg dauernden Prozess zu den politischen Umwälzungen geführt (vgl. Romsics 2005: 522). Als entscheidender Punkt in der unmittelbaren Vorwendezeit wird der auf der Parteitagung der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei im Mai 1988 vollzogene Sturz von János Kádár4 betrachtet (vgl. Gergely/Izsák 2000: 435). Die Folgen des Sturzes ließen auch in der Bildungspolitik nicht lange auf sich warten: Im Jahre 1989 wurde die Gründung von Schulen mit nichtstaatlichen Trägern erlaubt und die Verordnung des verbindlichen Russischunterrichts wurde für alle Schultypen und -stufen des Landes aufgehoben. Genau wie während der 1956er Revolution, wurde vielerorts wieder Deutsch als erste Fremdsprache eingeführt (vgl. Szilágyiné Hodossy 2006: 117). Sechs Jahre später, 1995 wurde der Nationale Grundlehrplan erlassen, der auf ungarische und europäische humanistische Erziehungs-und Bildungsinhalte fokussierte und den Schulen einheitliche Anforderungen aber auch Differenzierungsmöglichkeiten im Unterricht ermöglichte. 5 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es in Ungarn während der Ära des Sozialismus, abgesehen von der Dekade zwischen 1949 und 1958 – die zeitlich übrigens beinah völlig mit dem kommunistischen Staatsterror unter der Parteiführung von Mátyás Rákosi zusammenfiel – vor allem in den weiterführenden Schulen wie im Gymnasium, seltener an Fachmittelschulen und ab den 1980ern auch in der Sekundarstufe I möglich war, Deutsch als Fremdsprache zu lernen. Um den Fremdsprachenunterricht war es in den Berufsschulen am schlechtesten bestellt: In den meisten Berufsschulen wurde am Anfang der 1980er Jahre überhaupt keine Fremdsprache unterrichtet (vgl. Vágó 2000: 674). Mitte der 1980er Jahre lernten nur 5% der Mittelschüler eine zweite Fremdsprache – meist Deutsch – in einer Stundenzahl, durch welche motivierte Lerner zu einer Sprachkundigenprüfung der Mittelstufe hätten hingeführt werden können (vgl. Paul 2001: 1546). 4Kádár vermochte als Generalsekretär derselben Partei zwischen 1956 und 1988 sowohl die Innen-als auch die Außenpolitik des Landes maßgeblich zu beeinflussen. 5Ausführlich zu den unmittelbaren Folgen der bildungspolitischen Wende sowie zu den detaillierten Inhalten des Nationalen Grundlehrplans vgl. Rada in diesem Band. 77 Márta Müller Die Umstände des Deutschlehrens und -lernens waren aber – mit Ausnahme einiger Versuchsprojekte – mehr als ungünstig, ja katastrophal. In einer sehr niedrigen Wochenstundenzahl (in 2-3 Stunden pro Woche) wurde in Klassen mit nicht selten über 30 Schülern auf der Basis der Grammatik- Übersetzungsmethode aus sowohl sprachlich als auch methodisch mangelhaften Lehrwerken ohne jeglichen technischen Hintergrund (wie etwa Tonband, Sprachlabor oder Videorecorder) überwiegend frontal unterrichtet. Die deutschsprachigen Lehrwerke boten im Vergleich zu ihren Pendants in englischer, französischer aber auch in russischer Sprache, über den Sprachstoff hinaus zahlenmäßig die allerwenigsten landeskundlich-kulturellen Texte an (vgl. Szilágyiné Hodossy 2006: 112f), so dass der Deutschunterricht auch nicht durch den Sachstoff – wie etwa durch Einblicke in die (westliche) Kultur und den Alltag der deutschsprachigen Länder – eine motivierende Kraft auf die Lerner ausüben konnte (vgl. Zalán-Szablyár 1987: 23). Auch der in den Stunden zu bewältigende Sprachstoff beziehungsweise die Lernziele ließen viel zu wünschen übrig, einerseits wegen der oben bereits angeschnittenen Umstände des Unterrichts, andererseits weil die in der Deutschstunde auch nur simulierte Kommunikation außerhalb der Schulen in verschwindend wenigen Bereichen des Lebens – zum Beispiel im Tourismus, im Außenhandel oder in der Diplomatie – mit deutschsprachigen Ausländern in realen Situationen umgesetzt werden konnte. Die überwiegende Mehrheit der Ungarn lebte zwischen 1945 und 1989 nicht nur im Gefängnis einer von außen her auf sie oktroyierten Ideologie, sondern auch im Gefängnis einer Sprache, nämlich dem der eigenen Muttersprache. 2.2 Deutschunterricht außerhalb der öffentlichen Bildungseinrichtungen 1945-1989 In Anbetracht der Tatsache, dass ein Lerner mit durchschnittlichen Lernfähigkeiten erst nach etwa 500-600 Lernstunden solide Sprachkenntnisse aufweisen kann, und dass die ungarischen Gymnasien in den 1970er und 1980er Jahren in den vier Jahren des Gymnasiums, das heißt vom Eintritt in die Schule bis zur Reifeprüfung im Schnitt nur 350 Stunden für den Unterricht einer (modernen westlichen) Fremdsprache einräumen konnten, ist die Folgerung, dass die (In)Effizienz dieser Unterrichtsform mit den labilen und lückenhaften Sprachkenntnissen der Abiturienten korrelierte, rational (vgl. Dörnyei/Medgyes 1987: 31). Um die Fremdsprachenkenntnisse nachzuholen, die die öffentlichen Schulen – meist Mittel-und Hochschulen – aus den oben bereits tangierten Gründen gezwungenermaßen versäumt hatten erfolgreich zu vermitteln, wandten sich vor allem junge Erwachsene an die Vertreter der tertiären Wirtschaft: an die im Sozialismus nach der vorsichtigen Einführung der Privatwirtschaft Ende der 78 Márta Müller 1950er, Anfang der 1960er Jahre gegründeten unter anderem auch Sprachkurse anbietenden eingetragenen Vereine und Sprachschulen in staatlicher TrägerschaftwiedieTIT( TudományosIsmeretterjesztõTársulat,dt. Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse), die Arany János Nyelviskola (dt. Arany János Sprachschule) oder das Élõ Nyelvek Szemináriuma (dt. Seminar der lebenden Sprachen). Die Teilnehmer der Sprachkurse waren entweder Mittelschüler und Studierende, die ihre Sprachdefizite beheben und dadurch eine bessereBenotungimRegelunterrichterzielenwolltenoderAngestelltevorallem aus der sozialen Gruppe der Intelligenz, denen, falls sie eine Sprachkundigenprüfung nachweisen konnten, automatisch eine Gehaltszulage6 gewährt wurde. Das Angebot der Sprachschulen sowie die Anzahl der Teilnehmer der einzelnen Sprachkurse wurden vor der Wende offiziell nicht erhoben – die Statistiken hätten den Status des Russischen schwächen können – doch war es weitläufig bekannt, dass man sich in die Sprachschulen hatte einschreiben lassen, um westliche Fremdsprachen erlernen zu können (vgl. Vágó 2000: 671). Die Anzahl der Sprachschulen stieg in den 1980er Jahren stark an: Einerseits dankderwirtschaftlichen Reformen, diedie Gründung vonGenossenschaften (ung. szövetkezet) – unter anderem auch Fremdsprachen unterrichtenden Genossenschaften – ermöglicht haben, andererseits weil im Zuge der behutsamen und von der Sowjetunion ständig überwachten politischen Öffnung das Interesse am Fremdsprachenlernen in der Bevölkerung allmählich wuchs. Die neugegründetenprivatenSprachschulenhabenimGegensatzzudenstaatlichen Sprachschulen, die sich seit den 1950er Jahren in Monopolstellung wussten, aus multinationalen Lehrwerken, mit authentischen Audio-und Videomaterialien kommunikativ unterrichtet. Die Eröffnung von privaten Sprachschulen forderte von den Gründern unglaublich geringe Investitionen: Nachdem die Kursgebühren entrichtet worden waren, wurden aus diesem im Nu entstandenen Kapital die für den Unterricht nötigen Materialien und Geräte angeschafft sowie in Schulgebäuden Räumlichkeiten gemietet (vgl. Laki 2006: 886). 3 Deutschunterricht in Ungarn nach der Wende 3.1 Deutschunterricht an den öffentlichen ungarischen Bildungseinrichtungen in den 1990er Jahren Die Ausrufung der Ungarischen Republik am 23. Oktober 1989 – dem 33. Jahrestag der 1956er Revolution – sowie die darauf folgende Erneuerung des 6Bei staatlichen Unternehmen oder in der öffentlichen Verwaltung Angestellte haben im Besitz einer staatlich akkreditierten Sprachprüfung der Mittelstufe (entspricht etwa der Niveaustufe B2 im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen der Sprachen, GERS) eine Gehaltszulage von 8%, der Oberstufe (C1) eine Gehaltszulage von 15% bekommen. Die Höhe der Gehaltszulagen durfte 45% des Grundgehaltes nicht überschreiten. 79 Márta Müller ungarischen Staatswesens erforderte auch von den Vertretern des öffentlichen und privaten Bildungswesens eine rasche Reaktion. Das Bildungsministerium hat den Status des Fremdsprachenunterrichts in den Lehrplänen gestärkt, und versuchte die plötzlich entstandene Knappheit an Sprachlehrern dadurch zu mildern, dass es einerseits für 80 bis 100 Prozent der Kosten für die Umschulung von Russischlehrern7, die an öffentlichen Bildungseinrichtungen verbeamtet waren, zu Englisch-oder Deutschlehrern aufkam. Andererseits ließ das Ministerium die Anzahl der Studienplätze im Direktstudium für moderne Philologien landesweit erhöhen.8 Kulturabkommen zwischen den deutschsprachigen Ländern Europas und Ungarn wurden geschlossen, infolge derer Lektoren aus Deutschland, Österreich sowie aus der Schweiz9 an ungarischen öffentlichen Bildungseinrichtungen ihre Arbeit aufnahmen. Das Bildungsgesetz aus dem Jahre 1993 (Nr. LXXIX) formte das bis dahin streng zentralisierte ungarische Schulwesen auf der Basis der demokratischen Freiheit um: Die freie Schulwahl wurde in die Rechte der Eltern beziehungsweise Schüler, die freie Unterrichtsgestaltung – inklusive der freien Methoden-und Lehrwerkwahl – in die Rechte der Pädagogen delegiert (vgl. Petneki/Szablyár 1998: 63). Vier Jahre später durften Schulen, die mindestens drei Schulfächer in derselben Fremdsprache unterrichteten, den Status einer zweisprachigen Schule und die damit verbundene erhöhte normative Unterstützung beantragen. Im Schuljahr 1995/1996 gab es in Ungarn drei Schulen, in denen die Unterrichtssprache ungarisch-englisch und sechs Schulen, in denen die Unterrichtssprache ungarisch-deutsch war. Der Bedarf an zweisprachigen Schulen wuchs aber stetig, so dass 1997 landesweit schon 18 Schulen mit deutscher Unterrichtssprache10 existierten (vgl. Paul 2001: 1547). An diesen 7EsisteineIroniedesSchicksals,dassnach1945v.a. Deutsch-undEnglischlehrer(seltener auch Französischlehrer) zu Russischlehrern umgeschult worden waren. 8Dass die politische Umwälzung 1989/1990 und die darauf folgende notwendige Umorientierung u.a. auch im Bildungswesen überraschend schnell stattfand, bezeugt die Tatsache, dass das Bildungsministerium 1988, das heißt ein Jahr vor der Deklarierung des freien Fremdsprachenunterrichts an den Schulen, mehr Studienplätze für werdende Russischlehrer an den ungarischen Universitäten und Hochschulen bestimmte als für Englisch-oder Deutschlehrer. Die von dem Bildungsministerium in die Wege geleitete Umschulung von Russischlehrern kann nicht eindeutig als erfolgreiche Aktion beurteilt werden, wenn man betrachtet, dass von den 15.000 Russischlehrern, die im ungarischen Bildungswesen verbeamtet waren, bis 1998 nur 3.200 ein neues Studium (Englisch oder Deutsch als Fremdsprache) absolvierten. Ein Drittel derjenigen, die an diesen Umschulungsprogrammen teilgenommen haben, haben nie einen Russisch-Abschluss gehabt (Vágó 2000: 676f) – Sie haben einfach nur die Gelegenheit, ein weiteres Diplom kostenlos zu erwerben, wahrgenommen. 9Der DAAD entsandte seit 1988 Lektoren nach Ungarn und in demselben Jahr wurde auch das Budapester Goethe-Institut gegründet. Näheres über die deutschsprachigen Mittlerorganisationen für Kultur und Schulwesen bei Paul (2001). 10Dass das Englische die deutsche Sprache langsam hinter sich lässt, bestätigen auch die Statistiken über die Anzahl der zweisprachigen Schulen: Um die Jahrtausendwende 2000/2001 wurde in Ungarn ungarisch-englischer Unterricht bereits an zehn Schulen, ungarisch-deutscher aber nur noch an neun angeboten. 80 Márta Müller zweisprachigen Schulen wurde die deutsche Sprache schon im Primarbereich als selbstständiges Schulfach, beziehungsweise als Schulfach in der betreffenden Fremdsprache – zum Beispiel Sport, Musik oder Umweltkunde auf Deutsch – unterrichtet (vgl. Szilágyiné Hodossy 2006: 128). Mit dem sich plötzlich expandierenden Bedarf an Fremdsprachenunterricht ging jedoch keine erhöhte Anzahl an der qualifizierten Sprachlehrern – so auch Deutschlehrern – einher: In den 1990ern haben an vielen Grundschulen, aber auch an manchen Mittelschulen Pädagogen Deutsch unterrichtet, die für den Sprachunterricht nicht oder unterqualifiziert11 waren, aber eine Sprachkundigenprüfung (Oberstufe, C1 oder Mittelstufe, B2) besaßen (vgl. Vágó 2000: 676). Die Not war auch aus demografischem Grunde groß, weil die Kinder der in der sog. Ratkó-Ära12 Geborenen gerade Ende der 1980er, Anfang der 1990erindieMittelschuleneintraten. Beidenverzweifeltenundlängerfristigoft kontraproduktiven Versuchen der Schulrektoren, in Eile Personen zu finden, die Fremdsprachenunterrichtzuerteilenbereitwaren, hatdasBildungsministerium in Ermangelung einer besseren Lösung ein Auge zugedrückt, denn von seiner Seite gab es für die (sprach)pädagogische Arbeit an den öffentlichen Schulen seit Ende der 1980er Jahre keine qualitätssichernde Kontrolle und dementsprechend bei eventuellen Unzulänglichkeiten keine Sanktionen.13 Die Wende ging auch mit der Liberalisierung des Lehrbuchmarktes einher. Dennoch hat das ungarische Schulwesen in der ersten Hälfte der 1990er Jahre nur einen geringen Zuwachs an neuen regionalen Sprachbüchern – inklusive DaF-Lehrwerken – verzeichnen können, welche von ungarischen Autoren, die die hiesigen Umstände des Fremdsprachenunterrichts kennen, geschrieben wurden. Der Grund hierfür lag erstens darin, dass die Deutschlehrer, die bis 1989/1990 gezwungen waren, aus einem einzigen Lehrwerk zu unterrichten, das Recht auf freie Lehrwerkwahl nutzend in allen Schultypen und -stufen auf multinationale Lehrwerke umgestiegen sind14 . Zweitens dauerte es nicht selten fünf bis sechs Jahre, bis eine mehrere Jahrgangsstufen um 11Das Bildungsminsiterium verschärfte die Bedingungen für die Einstellung von Fremdsprachenlehrern erst 2002. Im September 2002 trat eine Modifizierung des Bildungsgesetzes [128. §(3)] in Kraft, nach der Fremdsprachen an den öffentlichen Schulen nur von qualifizierten Lehrern mit abgeschlossenem Sprachstudium unterrichtet werden dürfen. 12Anna Ratkó war zwischen 1949 und 1953 Gesundheitsministerin sowie Ministerin für Soziales. Sie führte die Kinderlosigkeitssteuer in Ungarn ein und verordnete das allgemeine Abtreibungsverbot, ohne zu ahnen, welche Folgen die demografische Explosion für das Schulwesen, die Wirtschaft sowie die Sozial-und Rentenversicherung mit sich bringen würde. 13Ausführlich zu den Evaluationsverfahren und Qualitätskontrolle der Schulen vgl. Müller in diesem Band. 14Der Umstieg auf multinationale Lehrwerke zum Beispiel der Verlage Hueber, Klett oder Langenscheidt nahm die Deutschlehrer oft nicht in Anspruch. Vor der Wende wurden an privaten Sprachschulen – an denen um ihre Saläre aufzustocken nachmittags, abends oder am Wochenende dieselben Lehrer unterrichteten, die vormittags am Gymnasium Fremdsprachenunterricht erteilten – bereits multinationale Sprachbücher oder Raubkopien derselben benutzt. 81 Márta Müller fassende Lehrwerkfamilie aufgrund der veränderten politisch-wirtschaftlichen Gegebenheiten entweder aktualisiert, um Stoffverteilungspläne, Audiomaterialien und Lehrerhandbücher ergänzt oder neu verfasst beziehungsweise anschließend vom Bildungsministerium in einem wiederum langen Prozess als Lehrwerk für die öffentliche Bildung zertifiziert wurde. Drittens konzentrierten sich die ungarischen Lehrbuchverlage hinsichtlich ihrer Herausgeberschaft auf das sich erst nach der Wende etablierte Terrain des frühen Fremdsprachenunterrichts im Primarbereich (vgl. Szilágyiné Hodossy 2006: 130). Über die regionalen und multinationalen Deutschlehrwerke hinaus wurden für spezielle BereichedesFremdsprachenlernensergänzendeUnterrichtsmaterialien( zumBeispiel Hörtexte, grammatische Testbücher und Übungsgrammatiken für verschiedene Sprachkundigenprüfungen) entwickelt, so dass 1995 schon 88 Deutschbücher auf dem ungarischen Lehrbuchmarkt erhältlich waren. Nach einer 1998 unter Schulrektoren durchgeführten Umfrage ging es in 79% der in Lehrerkonferenzen geführten Diskussionen um die Wahl der im Unterricht benutzten Lehrwerke (vgl. Nikolov 2000: 852f). Bei der Wahl der Sprachbücher war in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre in der überwiegenden Mehrheit der Auseinandersetzungen unter Pädagogen bereits der erschwingliche Preis (und nicht die gute Qualität) das ausschlaggebende Argument, auch wenn billige – meist regionale – Sprachbücher ihren multinationalen Pendants sowohl inhaltlich als auch drucktechnisch-typographisch deutlich unterlegen waren. Aufgrund der Statistiken des ungarischen Bildungsministeriums (siehe Tabelle 1) lässt sich feststellen, dass in den Grundschulen von 1989 bis 1995 die Zahl der DaF-Lerner zunächst gestiegen, danach aber – mit der einzigen Ausnahme des Schuljahres 1997/1998 – parallel zum Rückgang der Anzahl der Kinder im Grundschulalter, kontinuierlich gesunken ist. In den Berufsschulen, indenenabdemSchuljahr1998/1999Deutschauchindenneuntenundzehnten Jahrgängen unterrichtet wird sowie in den Fachmittelschulen und Gymnasien hat die Zahl der DaF-Lerner in den 1990er Jahren eindeutig zugenommen. Vor der Wende wurde DaF eher in der Grundschule als an weiterführenden Schulen gelehrt. Nach der Wende stieg das Prestige des Deutschen – wegen seiner massiven Ressourcen in Ungarn und weil es in der mitteleuropäischen Region als Korrespondenzsprache der Wirtschaft fungierte – in allen Schulstufen und Schultypen. Im Hinblick auf das Englische darf nicht unbemerkt bleiben, dass in den 1990ern sowohl an den Grundschulen, als auch an den Mittelschulen die Anzahl der Deutsch und Englisch Lernenden annähernd den gleichen Prozentsatz erreichte, das Englisch jedoch allmählich aufholte (vgl. Tabelle 2). Soziolinguistisch betrachtet lässt sich eine eindeutige Funktions-und Domänenverteilung zwischen Deutsch und Englisch feststellen: Ersteres wurde wegen seines „Volksfremdsprache“ -Charakters eher von Kindern aus geringer qualifizierten Familien, außerhalb Budapest in den westlichen Teilen des Lan 82 Márta Müller Schuljahr Grundschule Berufsschule Fachmittelschule Gymnasium 1989/1990 41889 11928 30632 45915 1990/1991 186017 13165 46668 54118 1991/1992 260107 13750 64207 64051 1992/1993 325408 14921 76763 72159 1993/1994 350522 17769 83989 77086 1994/1995 354341 24316 87666 82614 1995/1996 346460 26790 92612 88525 1996/1997 328115 27831 99918 93054 1997/1998 364351 30907 102484 98712 1998/1999 355683 36517 104664 101757 1999/2000 347802 40098 105541 103456 Tabelle 1: Anzahl der Deutsch als Fremdsprache Lernenden in den Grund-, Berufs-, Fachmittelschulen und Gymnasien Ungarns zwischen 1989 und 2000 (Quelle: Ungarisches Bildungsministerium) 1992/1993 1997/1998 1999/2000 Fremdsprache Grundschule Mittelschule Grundschule Mittelschule Grundschule Mittelschule Englisch 32,0 42,2 43,6 46,6 47,7 48,2 Deutsch 46,5 36,7 51,7 39,8 49 39,6 Französisch 1,7 7,2 1,2 5,5 1,0 5,1 Tabelle 2: Fremdsprachenlernerin denGrund-undMittelschulenindrei Schuljahren (%) (Quelle: Vágó 2000: 207) 83 Márta Müller des gelernt. Letzteres wegen seiner globalen Nützlichkeit eher von Kindern aus bildungsorientiertenFamilieninder(Haupt-)Stadterworben(vgl. Földes2000: 286). Die 1990er Jahre können im bildungspolitischen Sinne als eine sich über ein Jahrzehnt erstreckende Wendezeit bezeichnet werden, weil sich sowohl das allgemeine Schulwesen, als auch der Fremdsprachenunterricht als dessen Bestandteil in Ungarn eine beispiellose Umstrukturierung erfuhren. Aller Anstrengungen zum Trotz war es leider unmöglich, sich nach dem zehnten Lebensjahr, in vier Schuljahren, in zwei bis drei Wochenstunden, in einer Klasse von 2530 Schülern ungarischer Muttersprache eine indogermanische – die deutsche – Sprache auf einem Vantage Level (B2) anzueignen. Auch dann nicht, wenn viele Schulen für die Sommerferien Sommercamps mit Schwerpunkt Fremdsprache organisierten und die Klassen im Deutschunterricht zum Zwecke der effektiveren Stundenführung in mindestens zwei Lernergruppen aufteilten. Der Fremdsprachenunterricht blieb auch aus dem Grunde dürftig, weil die Inhalte, Ziele sowie die Marker des schulischen Fremdsprachenunterrichts endozentrisch waren: Benotung und Abitur im Schulfach Deutsch hatten nur innerhalb der jeweiligen Schulen Belang, außerhalb der Schulen galt immer noch der Nachweis einer Sprachkundigenprüfung als Beleg für kompetente Sprachkenntnisse (vgl. Szépe 2000: 642ff). In quantitativer Hinsicht waren die bildungspolitischen Veränderungen in den 1990er Jahren mehr als beachtenswert, aber infolge dieser verbesserte sich die Qualität der Sprach-, inklusive Deutschkenntnisse der Schüler in Ungarn nur in einem viel bescheideneren Maße. 3.2 Deutschunterricht außerhalb der öffentlichen Bildungseinrichtungen in den 1990er Jahren In den 1990er Jahren haben deutsche Firmen im großen Umfang in den ungarischen Industrie-und Dienstleistungssektor (zum Beispiel Autoindustrie, Energieversorgung, Telekommunikation, Bau, Transport und Internet) investiert. Die deutschen Unternehmen unterstützten das Fremdsprachenlernen ihrer Angestellten durch die Organisierung von kostenlosen firmeninternen Sprachkursen während der Arbeitszeit. Die ungarischen Hochschulen und Universitäten gewährten in ihren Zulassungsprüfungen Pluspunkte für den Nachweis von Sprachprüfungen und machten gleichzeitig das Aushändigen des Diploms von denselben abhängig. Breite Schichten der Gesellschaft – vor allem Arbeitnehmer bei multinationalen Firmen, Studierende und Mittelschüler mit Studien- vorhaben – verfügten aber nur über unzureichende Fremdsprachenkenntnisse, und hofften diese Mängel in den Sprachkursen privater Sprachschulen zu beheben hofften. Die Sprachschulen griffen – natürlich gegen erhöhten Stundenlohn – auch den Schulrektoren unter die Arme: Sie vermittelten an die öffentlichen 84 Márta Müller Schulen, in denen Fremdsprachenlehrer ihre Stellen während des Schuljahres kündigten, schnell neue Arbeitskräfte. Unmittelbar nach der Wende entstanden mehr als 200 Sprachschulen im Land, von denen manche nur auf den schnellen Profit bedacht, in jeder Hinsicht miserable Kurse anboten: Die Stunden wurden in umständlich zugänglichen Gebäuden, von unqualifizierten Lehrern oder Studierenden gehalten und auch von Lernern besucht, die sich nur aus Mode, aber nicht mit einer klaren Lernintention in die Kurse eingeschrieben hatten. Um den an Sprachkursen Interessierten einen klaren Blick auf den Markt zu verschaffen, wurde 1992 die Kammer der Sprachschulen (ungarisch Nyelviskolák Kamarája) (für weitere Recherche siehe: www1) gegründet, die jene Sprachschulen vertrat, welche sich hinsichtlich ihres Managements, ihrer Infrastruktur und ihrer sprachpädagogischen Arbeit von den Inspektoren der Kammer zertifizieren ließen. 1993 trugen elf Sprachschulen das Gütesiegel dieser Kammer, 1997 betrug ihre Zahl bereits 20, von denen 15 Schulen auch DaF unterrichteten (vgl. Paul 2001: 1547). 1995 wurde, um die hohen Defizite im Staatshaushalt und in der außenwirtschaftlichen Leistungsbilanz zu mindern, ein Wirtschaftspaket15 von dem damaligen Wirtschaftsminister erlassen, das kurzfristig zu einem dramatischen Einbruch des Lebensstandards führte, infolge dessen der allgemeine Konsum und damit das Interesse an Sprachkursen zurückging. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre existierten von den am Anfang des Jahrzehnts errichteten 200 Sprachschulen – trotz des kurzen Aufschwungs, der durch die Vorbereitungsarbeiten des EU-Beitritts hervorgerufen wurde – nur noch etwa 50. Die Sprachschulen erkannten, dass sie nur dann bestehen können, wenn sie mehrere Dienstleistungenwie Abnahmevon akkreditiertenSprachprüfungen, Organisierung von Sprachkursen im Zielsprachenland, Jobvermittlung ins Ausland, Dolmetschen, Übersetzen und Herausgabe von Unterrichtsmaterialien gebündelt anbieten (vgl. Laki 2001: 898f). Die sprachpädagogische Arbeit an den zertifizierten Sprachschulen war effektiver als der Fremdsprachenunterricht an den öffentlichen Schulen, denn sie arbeiteten – im Gegensatz zu den Schulen – unter realen Marktbedingungen. Trotzdem zogen sich langsam die multinationalen Firmen, die mit den Sprachkenntnissen ihrer Mitarbeiter weiterhin nicht zufrieden waren, aus dem Fremdsprachenmarkt zurück, weil sie die Kosten für den Erwerb von Fremdsprachen zunehmend den Angestellten zuschoben (vgl. ebd. 2001: 896f). 15Das Wirtschaftspaket des Wirtschaftsministers Lajos Bokros beinhaltete folgende Maßnahmen: Abwertung des Forint, Einführung des Zollzuschlags, Abbau von Stellen sowie Einführung von Studiengebühren im Hochschulwesen, Beschränkung der Erhöhung der Nominallöhne, Aufhebung der kostenlosen zahnärztlichen Versorgung, Erhöhung des Rentenalters und Verschärfung der Berechtigung auf Kindergeld. 85 Márta Müller Schuljahr 1980/ 1981 1990/ 1991 1995/ 1996 2000/ 2001 2005/ 2006 2010/ 2011 Az. Schüler in Grundschulen 1.197.777 1.166.076 987.561 957.850 859.315 755.000 Tabelle 3: Anzahl der Schüler in den Grundschulen Ungarns zwischen 1980 und 2010 (Quelle: Ungarisches Bildungsministerium) 3.3 Deutschunterricht an den öffentlichen ungarischen Bildungseinrichtungen nach der Jahrtausendwende Die Erwartungen der Gesellschaft gegenüber den Leistungen der Schulen und ihrerSchülerhinsichtlichdereinzelnenSchulfächersindseitderWendeinBezug auf die Fremdsprachen am ausgeprägtesten formuliert worden. Die Eltern können über die Wahl der ersten und zweiten Fremdsprache an den Schulen oft nur mittelbar entscheiden: Die Wahl der Schule als ganzes Bildungsangebot hat nämlich Vorrang vor der Wahl der darin später zu erlernenden Fremdsprachen. Die Attitüde der ungarischen Erwachsenenbevölkerung gegenüber Fremdsprachen ist eindeutig positiv. Diese positive Einstellung hat auch auf die Schüler einen entscheidenden Einfluss: Bei einer in 1993, 1999 undschließlich2004unterAchtklässlerndurchgeführtenErhebungenstelltesich heraus, dass die Schüler wegen der Integrativität, das heißt der positiven Emotionen gegenüber der Sprache, der positiven Attitüde gegenüber den nativen Sprechern und der Kultur, in der die Sprache eingebettet existiert, als erste Fremdsprache am liebsten Englisch16 und als zweite Deutsch lernen würden (vgl. Csizér/Dörnyei/Németh 2004: 401). Zwischen 2001 und 2008 ist die Anzahl der DaF-Lernenden in den Grundschulen stark, in den Fachmittelschulen leicht zurückgegangen. Ersteres hängt eindeutig auch mit dem allgemeinen Rückgang der Kinderzahl zusammen (vgl. Tabelle 3). In den Berufsschulen und Gymnasien ist die Anzahl der DaF-Lerner – trotz der Tatsache, dass von Jahr zu Jahr weniger Schüler in die Schulen eintreten – leicht angestiegen. Eine Übersicht der Veränderungen der Schülerzahl von DaF-Lernern stellt Tabelle 4 dar. Es ist verwunderlich, wie hoch die Motivation der Schüler ist, Englisch oder Deutsch zu lernen, wenn man bedenkt, mit welchen konservativen, ja maroden 16Bemerkenswert ist es, dass im Falle des Englischen die Korrelation zwischen Integrativität und Sprachpräferenz zwischen 1993 und 2004 beinahe um ein Drittel sank: Englisch scheint seinen exklusiven Status einzubüßen. Diesen Prozess wird die Verordnung des Bildungsministeriums im Jahre 2006, Englisch ab 2010 an allen Mittelschulen als obligatorisches Schulfach zu unterrichten, höchstwahrscheinlich beschleunigen. 86 Márta Müller Schuljahr Grundschule Berufsschule Fachmittelschule Gymnasium 2001/2002 275.652 51.295 99.179 116.577 2002/2003 267.868 55.053 99.792 121.523 2003/2004 250.056 54.925 99.693 123.753 2004/2005 237.448 54.217 97.284 122.151 2005/2006 218.575 55.971 92.781 119.462 2006/2007 201.008 53.196 88.619 119.280 2007/2008 185.624 55.534 85.659 118.711 Tabelle 4: Anzahl der Deutsch als Fremdsprache Lernenden in den Grund-, Berufs-, Fachmittelschulen und Gymnasien Ungarns zwischen 2001 und 2008 (Quelle: Ungarisches Bildungsministerium) Methoden Fremdsprachen an den öffentlichen Schulen immer noch unterrichtet werden. 2000 wurden landesweit 12, 14 und 16 Jahre alte Jugendliche befragt, wie der Lernstoff in den Deutsch-und Englischstunden bearbeitet wird. Den Ergebnissen zufolge wurde im Fremdsprachenunterricht am häufigsten übersetzt, laut vorgelesen und grammatische Übungen mündlich oder schriftlich gelöst. Am seltensten wurden Situationen und Dialoge in der Zielsprache vorgetragen, audiovisuelle Materialien (zum Beispiel Filmsequenzen) bearbeitet, Lernspiele gespielt beziehungsweise grundsätzlich in Gruppen gearbeitet. Höchstens zwei Drittel der Lehreranweisungen wurden in der Zielsprache geäußert, dadurch hielten die Lehrer ihre Schüler weit unter ihren Fähigkeiten (vgl. Nikolov 2003: 52). Warum das Sprachenlernen für viele ein Leben lang ein erfolgloses Unterfangen bleibt, ist eindeutig teils auch der überholten Unterrichtsgestaltung der Lehrer geschuldet. 2003 wurde vom Bildungsminister das Programm „Welt – Sprache“ (ung. Világ – nyelv) verkündet, dessen Ziel es war, dass die Absolventen der Mittelschulen unbedingt eine respektive zwei Fremdsprachen kennen sollten und dass jeder Schüler die Möglichkeit erhält Englisch zu lernen. Im gleichen Jahr wurden an 64 Mittelschulen sprachliche Vorbereitungskurse – sogenannte NullJahrgängefürdie14- jährigen –gestartet, indenendieSchülerinelf-15Wochenstunden in Fremdsprachen, EDV, Mathematik, Ungarisch und einigen Fertigkeitsfächern unterrichtet wurden. An diesen 64 Schulen haben 67% der Schüler Englisch und nur 33% Deutsch gewählt (vgl. Petneki 2003: 53). Zwei Jahre später wurde die Situation des Fremdsprachenunterrichts auch an den Fachmittelschulen geregelt: Ab 2005 wurde der Unterricht mindestens einer fremden Sprache, mindestens vier Jahre lang und mit mindestens drei Wochenstunden vorgeschrieben. Darüber hinaus müssen die Abiturienten der Fachmittelschulen auch in einer Fremdsprache geprüft werden und zwar aufgrund derselben Anforderungen wie ihre Mitschüler an den ungarischen Gym 87 Márta Müller nasien. Diese Verordnung führte zu heftigen Diskussionen unter den an Fachmittelschulen und Gymnasien angestellten Fremdsprachenlehrern, denn leider sind die Input-Sprachkompetenzen der Fachmittelschüler, der Grad ihrer Motivation sowie die soziokulturellen Umstände ihres Fremdspracherwerbs mit denen der Gymnasiasten bei weitem nicht zu vergleichen. Ein zusätzlicher UnterschiedzwischendemFremdsprachenunterrichtderFachmittelschülerundder Gymnasiasten besteht in der Vermittlung von berufsbezogenen Inhalten in der Fremdsprache –kurzderFachsprache.17 IndenerstenvierJahren, dasheißtbis zum Abitur werden in den Fachmittelschulen nur Fremdsprachen – ohne fachsprachliche Bezüge unterrichtet. Für den Fachsprachenunterricht bleibt dann meistens nur ein Schuljahr übrig, mit verheerenden Folgen für seine Effizienz (vgl. Einhorn 2000: 698f). In der Debatte, die sich um die offizielle Bekanntmachung der Gesetzesmodifizierung (2006/ LXXI.) über die Einführung von Studiengebühren und die Erhöhung der Wochenstundenzahl18 der verbeamteten Lehrer etablierte, ging eine weitere Ankündigung des Bildungsministeriums, dass nämlich Englisch ab September 2010 an allen Mittelschulen des Landes als Pflichtschulfach gelernt werden soll, unter (vgl. Petneki 2006: 50). Zwar überlagerte sich die Intention des Bildungsministeriums mit den Ergebnissen einer 2005/2006 durchgeführten Umfrage der EU (www2) über die Europäer und ihre Sprachen, der 85% nach der befragten Ungarn die Meinung vertraten, dass die Kinder Englisch als erste Fremdsprache erlernen sollten, doch hat das Bildungsministerium in seiner wohlwollenden Eile vergessen, einerseits die Interessen der verbeamteten Lehrer zu vertreten, die für den Unterricht von anderen Fremdsprachen qualifiziert sind19, andererseits die weiteren Ergebnisse der europäischen Erhebung zu berücksichtigen. Denn die Ungarn haben als zweitwichtigste Fremdsprache – deutlich über dem Durchschnitt der Befragungsergebnisse anderer Unionsmitglieder – die deutsche angegeben. IndenungarischenGrundschulenwurdebiszurJahrtausendwende1990/2000 unter den Fremdsprachen DaF am häufigsten gelehrt und gelernt (vgl. Petneki 2003: 50). In dieser Schulstufe ist die Anzahl der DaF-Lehrer die höchste: 17Mit der sich nicht selten auch selbst die Fremdsprachenlehrer schwer tun, da sie eine philologische und keine berufsspezifische Ausbildung durchlaufen haben. 18Die Stundenzahl der Grundschul-und Mittelschullehrer stieg von 20 auf 22 Wochenstunden. Über die Studiengebühren wurde in Form einer Volksabstimmung entschieden, welche am 9. März 2008 stattfand. 82,22% der gültigen abgegebenen Stimmen waren gegen sie. 192014 werden das erste Mal die Schüler das Abitur ablegen, die Englisch schon im Schulfachkanon angeboten bekommen haben. Die Anzahl der Abiturprüfungen in anderen Fremdsprachen wird wahrscheinlich zurückgehen, dadurch spart das Bildungsministerium einen nicht unerheblichen Teil der Abiturvorbereitungen (zum Beispiel Honorare für die Zusammenstellung der Testfragen und für die Abwicklung der Prüfungen). Der Tätigkeitsbereich von Lehrern anderer Fremdsprachen wird schrumpfen. Dies wird auch für das Hochschulwesen Folgen haben: Auch an den Universitäten wird man früher oder später Kapazitäten in der Fremdsprachenlehrer-Ausbildung abbauen müssen. 88 Márta Müller erstens wegen der traditionellen Sprachpräferenzen der Eltern, zweitens weil sich viele Russischlehrer, die an Grundschulen arbeiteten, nach der Wende zu Deutschlehrern umschulen ließen, da sie die für die Umschulung erforderlichen Kenntnisse in der deutschen (und nicht etwa in der englischen) Sprache nachweisen konnten. Bereits 2002 lag die Anzahl der DaF-Lerner auch schon in den Grundschulen niedriger als die der Englisch-Lerner (vgl. Tabellen 5, 6, 7): Schuljahr Deutsch Englisch Französisch 2002/03 267.868 357.193 4004 2003/04 250.056 362.193 3709 2004/05 237.448 373.172 3519 2005/06 218.575 372.670 3309 Tabelle 5: Deutschunterricht in den Grundschulen (Klassen 1-8) 2002-2006 (Quelle: Ungarisches Bildungsministerium) Schuljahr Deutsch Englisch Französisch 2002/03 121.523 160.888 21.329 2003/04 123.753 166.842 21.357 2004/05 122.151 170.450 22.302 2005/06 119.462 170.736 23.520 Tabelle 6: Deutschunterricht in den Gymnasien (Klassen 9-12) 2002-2006 (Quelle: Ungarisches Bildungsministerium) Schuljahr Deutsch Englisch Französisch 2002/03 99.792 136.0941 5.983 2003/04 99.693 143.145 5.586 2004/05 97.284 146.790 4.882 2005/06 92.781 146.593 4.356 Tabelle 7: Deutschunterricht in den Fachmittelschulen (Klassen 9-12) 2002-2006 (Quelle: Ungarisches Bildungsministerium) Aus diesen Zahlen geht hervor, dass Deutsch vom Englischen verdrängt wird, jedoch nicht in einem beängstigenden Maße. Deutsch driftet hinsichtlich seiner Beliebtheit und Instrumentalisierbarkeit auf das Niveau der traditionell von wenigen Schulen angebotenen Fremdsprachen wie Französisch, Italienisch oder Spanisch ab. Auf jeden Fall stärkt Englisch seine Positionen nicht unbedingt auf Kosten des Deutschen, denn es gibt Schuljahre, in denen beide Fremdsprachen einen Zuwachs erfuhren. 89 Márta Müller Die Infrastruktur des Deutschunterrichts verbesserte sich seit 1990 zweifellos: Im Schuljahr 2000/2001 gab es 38-mal mehr Deutschlehrwerke und ergänzende Unterrichtsmaterialien auf dem Markt als 10 Jahre zuvor. Die große Auswahl lässt hoffen, dass sich auch die Brauchbarkeit und Beschaffenheit der Sprachbücherverbesserthat. DiesistauchdeswegenvonBelang, weildieMehrheit der ungarischen Deutschlehrer im Regelunterricht nur das Lehrwerk – aber keineZusatzmaterialien –verwendet. Eskommtvor,dassSprachbücher,diefür ein Schuljahr konzipiert sind, 3-4 Jahre lang in der Klasse behandelt werden, weil die Lehrer Wichtiges vom Unnötigen nicht trennen können oder weil die Lehrwerke über dem Sprachniveau der Schüler liegen. Auf der anderen Seite werden Klassen – wegen der Fluktuation der Lehrer – innerhalb eines Schuljahres von mehreren Lehrern aus zwei bis drei verschiedenen Sprachbüchern, meist mit der Grammatik-Übersetzungsmethode unterrichtet. Die ungarischen Sprachlehrer betrachten Lehrwerke immer noch als Mittel zur Bestimmung der didaktischen Fragestellung „Was soll ich unterrichten¿‘ – und nicht zur Bestimmung der methodischen Fragestellung „Wie soll ich unterrichten¿‘. Lokale Lehrpläne werden aufgrund des Inhaltsverzeichnisses der Sprachbücher geschrieben (vgl. Paul 2001: 1548). Schließlich sind die modernen Deutschlehrwerke einsprachig – ein Manko für die meisten Lehrer, die teils mit großen zielsprachlichen Mängeln zu kämpfen haben (vgl. Nikolov 2000: 853). Zwar ist die Unterbezahlung der verbeamteten Lehrer und ihre hohe Arbeitsbelastung ein ständiges Diskussionsthema auf den bildungspolitischen Foren, doch ist die Kontraselektion – die Abwanderung besser qualifizierter Deutschlehrer in den Wirtschaftssektor – nicht mehr so stark wie in den 1990ern. Wegen des demografischen Wandels werden Stellen, die aus welchem Grund auch immer frei geworden sind, nicht mit verbeamteten Lehrern, sondern mit provisorischen Vertretungen besetzt oder gestrichen. Auch die seit 2008/2009 entfaltende Wirtschaftskrise trägt dazu bei, dass ein bescheideneres, doch sicheres Einkommen unter den Lehrern höher geschätzt wird, als eine besser bezahlte, doch mit Risiken verbundene Stelle im Wirtschaftssektor. 3.4 Deutschunterricht außerhalb der öffentlichen Bildungseinrichtungen nach der Jahrtausendwende Während die privaten Sprachschulen in den 1980er Jahren im Grunde genommen jenen Fremdsprachenunterricht vertraten, der von den öffentlichen Bildungseinrichtungen nicht geleistet worden war, reduzierte sich ihre Tätigkeit in den 1990ern nur auf die Korrektur des von den Schulen angebotenen Fremdsprachunterrichts (vgl. Imre 2000: 711). In den 1990er Jahren schrieben sich überwiegend Studierende und Erwachsene in die Sprachschulen ein. Nach 2000 beschränkt sich die Zielgruppe der Sprachkurse beinahe völlig auf Teenager und junge Erwachsene zwischen 14 und 23 Jahren, die sich auf eine akkredi 90 Márta Müller tierte Sprachprüfung vorbereiten wollen.20 Im Februar 2010 sind landesweit 51 zertifizierte Sprachschulen bei der Kammer der Sprachschulen registriert, davon ist Deutsch zwar im Profil von 46 Sprachschulen vorhanden, doch werden Deutschkurse wegen der heute schon sehr zurückgegangenen Nachfrage nicht immer angeboten. Fazit Nach dem Zweiten Weltkrieg ist der Unterricht von Fremdsprachen in Ungarn beinahe ein halbes Jahrhundert lang zum Spielball der Politik geworden. Deutsch wurde durch das Russische als Pflichtschulfach aus seiner bis dahin prestigeträchtigen Position in allen Schultypen und -stufen ausgestochen. Auch nach 1958, als es wieder möglich geworden ist, Deutsch zunächst in den weiterführenden Schulen, dann ab den 1970ern auch in den Grundschulen zu lernen, waren die desolaten Umstände seines Unterrichts – niedrige Wochenstunden- zahl, mangelhafte Lehrwerke und schulische Infrastruktur und die weitläufig verbreitete grammatikalisierende Unterrichtsmethode – dafür verantwortlich, dassnurWenigeSprachkundigenprüfungen aufgrunddesinder Schuleerworbenen Wissens ablegen konnten. In den 1980er Jahren stieg – infolge der Öffnung des Landes gegenüber den kapitalistischen Ländern – die Motivation in der Bevölkerung, Fremdsprachen zulernen. DasInteresseerstrecktesich vor allemauf das Deutsche, weil Deutsch – da deutschsprachige Kenntnisse sowohl beruflich als auch privat von Vorteil waren – im mittel-und südost-europäischen Raum für die regionale Verkehrssprache par excellence gehalten wurde. Die 1990er Jahre können als das goldene Jahrzehnt der Sprachen in Ungarn bezeichnet werden, denn das Zusammenwirken mehrerer Faktoren hat ergeben, dass das bis dahin nur vor sich hinvegetierende, meist ziellose und uneffektive Fremdsprachenlernen wieder belebt werden konnte. Solche Faktoren waren die Liberalisierung der Fremdsprachenwahl in den Schulen; die steigenden Ansprüche der ungarischen und multinationalen Firmen; die Gründung von Schulen, die frühen Fremdsprachenunterricht oder zweisprachigen Unterricht angeboten haben oder die Einführung der zweiten Fremdsprache in den Grundschulen. Der stürmischen Expansion bot nur der Mangel an sprachlich und sprachpädagogisch qualifizierten Fremdsprachenlehrern Einhalt. Deutsch hat seine Spitzenposition unter den frei wählbaren Fremdsprachen bis zur Mitte der 1990er Jahre halten können, in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts wurde zunächst an den Mittelschulen zunehmend Englisch als Fremdsprache gewählt. Nach der Wende wurden in Ungarn die wichtigsten, zum erfolgreichen Fremdsprachenlernen nötigen Peripherien in 10 Jahren erschaffen: Seit dem Jahr 2000 ist das Angebot an regionalen und multinationalen Lehrwerken sehr 20Bis 2005 konnte das Abitur in einer fremden Sprache durch den Nachweis einer akkreditierten Mittelstufenprüfung abgelöst werden. 91 Márta Müller groß; alle Mittelschulen und die meisten Grundschulen haben Räumlichkeiten, in denen mit audiovisuellen Medien oder mit Sprachlernsoftware in geteilten oder ganzen Klassen gearbeitet werden kann. Das Bildungsministerium versucht häufiger mit Verordnungen, seltener mit Programmen – wie 2003 mit der Einführung der sprachlichen Vorbereitungskurse in den Null-Jahrgängen der Mittelschulen – auf die Bedürfnisse der Eltern und Schüler sowie auf die internationalen Veränderungen zu reagieren. Der Markt der Sprachschulen scheint sich – nach der Hochkonjunktur in der ersten Hälfte der 1990er Jahre – beruhigt zu haben, ein Indiz dafür, dass auch das Niveau des Fremdsprachenunterrichts an den öffentlichen Bildungseinrichtungen und infolge dessen die allgemeinen Fremdsprachenkenntnisse der Ungarn gestiegen sind. Die jüngste Geschichte des Fremdsprachenunterrichts in Ungarn ist von raschen Umorientierungen gekennzeichnet: Nach 1945 wurden Deutschlehrer zu Russischlehrern umgeschult, 45 Jahre später dann erfolgte die Umschulung in umgekehrter Richtung. Eine weitere Umstrukturierung ist nach dem Inkrafttreten der 2006 verkündeten Verordnung des Englischen als Pflichtschulfach ab 2010 zu befürchten: Der Bedarf an Englisch und den entsprechenden Lehrkräften wird zum Nachteil anderer Fremdsprachen und ihrer Lehrer wachsen, letztere werden aus Existenzgründen womöglich wieder zu Zusatzstudien gezwungen. Zwar wird vom Bildungsministerium durch diese Verordnung eine gewisse Chancengleichheit angestrebt, doch eine gerade durch diese bildungspolitische Maßnahme bedingte Polarisierung der Gesellschaft ist nicht auszuschließen: Die Schere zwischen Schulen, die sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht vorzüglichen Fremdsprachenunterricht anbieten können, und Schulen, in denen nur Englisch unterrichtet wird, wird sich beträchtlich öffnen. Deutsch blieb im Zeitalter der Globalisierung im Wettlauf mit Englisch auf der Strecke: Aus einer führenden, dann gleichgestellten Position vor beziehungsweise nach der Wende fiel es auf den Rang der zweitwichtigsten Fremdsprache in Ungarn zurück. Nichts deutet darauf hin, dass es in der nahen Zukunft an Dominanz zunehmen könnte. Viel wichtiger wäre daher zu verhindern, dass Deutsch nur zu einer von vielen Fremdsprachen in Ungarn wird. Hierfür liegen bisher noch nicht ausreichend ausgeschöpfte Möglichkeiten in dem fächerübergreifenden Deutschunterricht, in dessen Rahmen der Sprachstoff an den Sachstoff anderer Schulfächer gekoppelt vermittelt wird (zum Beispiel wird die Komparation der deutschen Adjektive mithilfe der Beschreibung der Renngeschwindigkeit verschiedener Tiere geübt) beziehungsweise in dem zweisprachigen Unterricht. 92 Márta Müller Literatur Az általános iskolai nevelés és oktatás terve. A fakultatív foglalkozások programja. Orosz, angol, német és francia nyelv (1984) [Erziehungs-und Bildungslehrplan für die Grundschulen. Russisch, Englisch, Deutsch und Französisch (1984)]. Budapest. Csizér, Kata/Dörnyei, Zoltán Németh, Nóra (2004): A nyelvi attitûdök és az idegen nyelvi motiváció változásai 1993 és 2004 között Magyarországon [Veränderungen in den sprachlichen Attitüden und in der fremdsprachlichen Motivation zwischen 1993 und 2004 in Ungarn ]. In: Magyar Pedagógia. 2004/4. 393-408. 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Vom Kindergarten bis zur Schule Dr. Márta Müller (PhD) Eötvös-Loránd-Universität Ungarndeutsches Forschungs-und Lehrerausbildungszentrum Rákóczi út 5. 1088 Budapest 1 Einführung Das Deutsche besitzt in Ungarn sowohl historisch-politisch als auch wirtschaftlichfundierteTraditionen, mandenkeeinerseitsandiemitHilfederbayerischen Ritter und Missionare vollzogene Staatsgründung, die Österreich-Ungarische Monarchie, die Einführung des Deutschen als Amtssprache in den ungarischen Schulen im Jahre 1784 und andererseits an die Brückenfunktion des Deutschen zwischen Ost und West in und nach der Ära des Sozialismus. Dieses weit in die Geschichte Ungarns zurückreichende Verbundenheitsgefühl zwischen Deutschem und Ungarischem ist auch in der ungarischen öffentlichen Meinung fest verankert. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die letzte, im Jahre 2001 landesweit durchgeführte Volkszählung, die deutsche Sprache als Gewinner des Wettrennens in der Kategorie „meist gesprochene Fremdsprache in Ungarn“ hervorbrachte (www1).1 Zurzeit wird die deutsche Sprache an den ungarischen Schulen in zwei Unterrichtsformen angeboten: Sie kann entweder als Fremdsprache (Deutsch als Fremdsprache, DaF) oder als Minderheitensprache (Deutsch als Minderheitensprache, DaM) gelernt werden. Letztere UnterrichtsformwirdvondenSchulenaußerhalbvonBudapestvoralleminjenenRegionen des Landes angeboten, in denen noch nicht völlig assimilierte deutschstämmige Ungarn leben.2 Infolge der seit dem 19. Jahrhundert andauernden starken Magyarisierungstendenz, aber besonders nach dem Zweiten Weltkrieg, verloren 1Auf dem sogenannten „Personenfragebogen“ der Volkszählung, der übrigens in 15 Sprachenerstelltwurde, beschäftigtsichFrageNr. 22mitdenSprachkenntnissenderBevölkerung. 2Die drei großen Siedlungsräume der Ungarndeutschen sind die folgenden: (1.) Südungarn, das heißt überwiegend in den Komitaten Branau/Baranya, Schomodei/Somogy, Tolnau/ Tolna und Batschka/Bácska; (2.) Ungarisches Mittelgebirge inklusive Agglomerationsgebiet Budapest; (3.) österreichisch-ungarische Grenze. 96 Márta Müller dievondenUngarndeutschengesprochenendeutschen Mundarten dermaßen an Prestige und aktivem Gebrauch, dass sie von ihren autochthonen Sprechern im 21. Jahrhundert weder in der privaten Sphäre noch in der lokalen, zum Beispiel dörflichen Öffentlichkeit als funktionale Erstsprache verwendet werden. Diese Rolle hat bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die ungarische Spracheübernommen, welcheauchzuVeränderungdesungarndeutschenSchulwesens geführt und neue Herausforderungen und Aufgaben hervorgebracht hat. Erstens musste die tradierende Funktion hinsichtlich der Literatur, Geschichte und Kultur der Ungarndeutschen von den Kindergärten sowie den verschiedenen Bildungseinrichtungen übernommen werden, zweitens mussten die betreffenden Institutionen die Möglichkeiten wahrnehmen und nutzen, die in der (wirtschaftlichen) Potenz der in den ungarndeutschen Schulen unterrichteten deutschen Standardsprache wurzeln (vgl. Erb / Knipf 1999: 187). Im vorliegenden Beitrag wird vorgestellt, welche Entwicklung die ungarndeutsche Schullandschaft seit der Wende durchlaufen hat: Zuerst wird auf das Minderheiten-und Bildungsgesetz als gesetzliche Grundlage für die spätere Etablierung des ungarndeutschen Schulwesens eingegangen. Danach wird kurz umrissen, wie die Minderheitenschulen, die spezielle Aufgaben erfüllen, finanziert werden, welche Ziele diese Schulen verfolgt und wie die von der Schulleitung, den Pädagogen und Schülern erbrachten Leistungen kontrolliert werden. Schließlich werden Probleme aufgeführt, die, falls sie nicht rechtzeitig behoben werden können, zu Konfliktquellen für das gesamte ungarische – das heißt implizit auch für das ungarndeutsche – Schulwesen werden können. Gesetzlicher Hintergrund Der Unterricht für die deutsche Minderheit in Ungarn wird von dem Minderheitengesetz (Nr. LXXVII) und von dem allgemeinen Bildungsgesetz (Nr. LXXIX) – beide aus dem Jahre 1993 – ermöglicht und geregelt. §43. Absatz (2) erlaubt, dass Kinder jedweder anerkannter Minderheit in Ungarn3 Unterricht in ihrer Muttersprache beziehungsweise den Unterricht der Muttersprache als Einzelfach erhalten dürfen. Wenn aber die Eltern von mindestens acht Schülern, die der selben Minderheit angehören, auf einen Minderheitenunterricht Anspruch erheben, wird aus der allgemeinen Geltung der Verordnung eine zwingende: Der von den Eltern beantragte Minderheitenunterricht muss von der lokalen Selbstverwaltung4 organisiert werden, ohne dass die dadurch zu3Nach der Wende haben insgesamt 13 nationale und ethnische Gemeinschaften ihren Willenzur Gründungvon lokalenundLandesselbstverwaltungensignalisiert: dieBulgaren,Kroaten, Roma, Griechen, Polen, Deutschen, Armenier, Rumänen, Ruthenen, Serben, Slowaken, Slowenen und die Ukrainer. 4Das heißt von der Selbstverwaltung des betreffenden Dorfes, der Stadt, oder im Falle der Hauptstadt des betreffenden Bezirkes. 97 Márta Müller sätzlich entstehenden Kosten die Eltern belasten würden (vgl. Doncsev 2004). Nach der Verabschiedung des Minderheitengesetzes wurden in Ungarn vielerorts Minderheitenschulen gegründet, oder zumindest Minderheitenklassenzüge gestartet. Dies geschah auch aus dem Grund, dass die Schulen, die Minderheitenunterricht angeboten hatten, von dem Staat erhöhte normative Unterstützung erhielten, die dann nicht nur zum Zwecke der Förderung der Minderheitenschüler, sondern auch für die Deckung von Ausgaben anderer Art genutzt werden konnte. Dass das Minderheitengesetz nicht ins Detail gehend ausgearbeitet war, hat sich erst nach mehr als 15 Jahren gezeigt: Der Parlamentsbeauftragte (Ombudsmann) für die Rechte der nationalen und ethnischen Minderheiten Ungarns beanstandet in seinem Jahresbericht5 über die Formen des Minderheitenschulwesens, welche im Jahre 2008 in Ungarn vorzufinden waren, dass Eltern mit Minderheitenhintergrund nur und ausschließlichzumZeitpunkt der Einschulung des Kindes darüber entscheiden dürfen, ob das Kind am Minderheitenunterricht teilnehmen soll (www2). Wird nämlich das Kind in eine ausschließlich Minderheitenunterricht anbietende Schule eingeschult und wird dieses den zusätzlichen Anforderungen der betreffenden Schule nicht gerecht, kann es vom Minderheitenunterricht nicht enthoben werden. Dies bedeutet, dass das Kind, um einen Ausweg finden zu können, an eine andere Schule vor Ort oder in einer nahe liegenden Ortschaft wechseln muss. Dass diese Mahnung des Ombudsmannes nicht aus der Luft gegriffen ist, beweist die Erfahrung vieler Grundschulrektoren und Deutschlehrer6 vor allem an Schulen, die von Schülern verschiedener Minderheiten besucht werden. LautBeilageNr. 3. desallgemeinenBildungsgesetzesdürfenineinerKlasse, in der Minderheitenunterricht erteilt wird, in den Klassenstufen 1-4. höchstens 26 Schüler, in den Klassenstufen 5-8. beziehungsweise in den Klassenstufen 9-10. der Berufsschulen höchstens 30 Schüler eingeschult werden. Diese Verordnung ist verbindlich, in den ungarndeutschen Schulen in Südungarn jedoch, wo die deutsche Minderheit vornehmlich in kleineren Siedlungen mit niedriger Schülerzahl lebt, schaffen es die Minderheitenschulen nicht, sich diesem Limit auch nur anzunähern7 – was zu fatalen Folgen führt, vor allem bei An 5Jahresbericht des Parlamentsbeauftragten für die Rechte der nationalen und ethnischen Minderheiten Ungarns, Dr. Ernõ Kállai, über die Formen des Minderheitenschulwesens im Jahre 2008, heruntergeladen am 29.10.2009. 6In Tschawa/Piliscsaba wurde nach der Wende eine zweisprachige Grundschule für die deutsche Minderheit gegründet, in die nicht nur Ungarndeutsche, sondern auch Romakinder und Kinder mit singulär ungarischer Abstammung aufgenommen werden. Der zweisprachige Unterricht stellt manche Kinder vor überhöhte Anforderungen, deswegen wurde von einigen Eltern der Schulleitung gegenüber signalisiert, dass sie ihre Kinder gerne aus dem Minderheitenunterricht nehmen würden, ohne dass das Kind die Schule wechseln müsste. Dies ist aber per Gesetz nicht möglich. Laut Aussage einer Grundschullehrerin führe das Unverständnis der Eltern gegenüber der Gesetzeslage teilweise zu verbalen Attacken an Schulleitung und Lehrer, welche die Zusammenarbeit zwischen Lehrern und Eltern insgesamt erschwert. 7Das allgemeine Bildungsgesetz erlaubt die Organisierung von Minderheitenunterricht, auch wenn die Anzahl der Minderheitenschüler pro Jahrgang unter acht bleibt. In solchen 98 Márta Müller tragstellungen dieser Schulen (zum Beispiel für die Finanzierung verschiedener Projekte) beim Bildungsministerium. Das Recht auf Minderheitenunterricht wird im Minderheitengesetz sowohl demIndividuumalsauchderbetreffendenGemeinschaftzugesprochen. DieUngarndeutschen haben dementsprechend das Recht, die Voraussetzungen für die Minderheitenerziehung und den Minderheitenunterricht vom Kindergarten bis hin zur Universität zu schaffen. Die lokalen Selbstverwaltungen, in deren Trägerschaft die Minderheitenkindergärten und -schulen gehören, sind verpflichtet, die Eltern darüber zu informieren, dass sie fürihre Kinder ihrer nationalen oder ethnischen Zugehörigkeit entsprechende Kindergärten und Schulen suchen können, und dass die Minderheitenerziehung und der Minderheitenunterricht nicht identisch mit dem Fremdsprachenunterricht ist.8 Letzteres wird deshalb in der Verordnung hervorgehoben, weil die Angebote der Minderheiteninstitutionen der Ungarndeutschen – wohl wegen der wirtschaftlichen Bedeutung der deutschen Sprache – nicht selten auch von Schülern beziehungsweise Studierenden anderer Minderheiten sowie der Mehrheitsnation genutzt werden. Die Erklärung, dass der Minderheitenunterricht kein Fremdsprachenunterricht sei, ist seitens des Gesetzgebers verständlich: Der Staat will einerseits das Geld der Steuerzahler nicht für die Erfüllung zweckentfremdeter Aufgaben ausgeben, andererseits will er in erster Linie gerade für die betreffenden Minderheiten einen speziellen Unterricht sichern.9 Das Unterrichtsangebot der Institutionen der deutschen Minderheit in Ungarn ist aber nicht exklusiv. Es kann im Zeichen der gegenseitigen Toleranz nicht nur von den deutschstämmigen, sondern von jedem Staatsbürger Un- Fällen müssen die betroffenen Schüler aus höchstens drei Jahrgängen zusammengezogen werden und der Minderheitenunterricht wird in diesen „zusammengezogenen“ Klassen erteilt. Die Stundenpläne der verschiedenen Jahrgangsstufen werden aufeinander so abgestimmt, dass allen Schülern ermöglicht ist, am Minderheitenunterricht teilzunehmen. 8Verordnung des Bildungsministeriums Nr. 32 aus dem Jahre 1997 über die Richtlinien der Erziehung und des Unterrichts an Minderheitenkindergärten und -schulen. Bei Meinungen darüber, ob die an den Minderheitenschulen unterrichtete deutsche Sprache selbst für die Ungarndeutschen eine fremde Sprache sei, scheiden sich die Geister. In gewisser Hinsicht wird die deutsche Sprache auch von denen, die in der Mundart sozialisiert wurden, beinahe als eine fremde Sprache empfunden, vor allem im Falle jener Mundarten (so zum Beispiel der bairischen), deren Aussprache, Morphosyntax und Lexik stark von der – auch in den Schulen unterrichteten – gegenwärtigen deutschen Standardsprache divergieren. Die Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre beziehungsweise später geborenen ungarndeutschen Generationen wurden von ihren Eltern aus politisch-sozialen Gründen zunehmend auf ungarisch erzogen, für sie beziehungsweise die Kinder dieser Generationen – die übrigens gerade zur Zeit der Entstehung dieses Beitrags die schulische Ausbildung durchlaufen – ist die deutsche Standardsprache tatsächlich eine fremde. 9Dennoch hat die Erklärung keine Wirkung, denn die Eltern nehmen – auch wenn sie sich mit einer anderen Minderheit oder der Mehrheitsnation verbunden fühlen – dafür, dass Deutsch mindestens 5 Stunden pro Woche beziehungsweise bestimmte Schulfächer auf Deutsch unterrichtet werden, gerne in Kauf, dass ihre Kinder mit kulturspezifischen Inhalten über die Ungarndeutschen bekannt gemacht werden. 99 Márta Müller garns wahrgenommen werden.10 In Anbetracht dessen, wie schwer und wie lange die deutsche Minderheit in Ungarn nach dem Zweiten Weltkrieg entrechtet und stigmatisiert wurde, ist die positive Einstellung gegenüber den ungarndeutschen Institutionen eine zwar rationale, aber auch willkommene Wendung in der Attitüde der ungarischen Mehrheitsnation gegenüber den Ungarndeutschen. Von dieser positiven Attitüde profitieren sowohl die Schüler als auch die Träger der ungarndeutschen Institutionen, weil die normative Unterstützung auf der Basis der Schülerzahlen (nichtungarndeutschen und ungarndeutschen) errechnet wird. 3 FinanzierungderspeziellenAufgaben derMinderheitenerziehung und des Minderheitenunterrichts: diezusätzlichenormative Unterstützung Der ungarische Staat stellt für die Verwirklichung der Minderheitenerziehung (im Kindergarten) und des Minderheitenunterrichts (in der Schule) über die allgemeinen Quellenhinaus einejeweils fürein Kalenderjahr errechnete, zusätzliche normative Unterstützung bereit. Die Höhe dieses Beitrags und die Bedingungen seiner Inanspruchnahme werden jedes Jahr vom ungarischen Parlament im Rahmen des Gesetzes über den Haushaltsetat beschlossen. Im Jahre 2009 berechnete sich diese zusätzliche normative Unterstützung im Falle der zweisprachigenSchulenauf75.000,- Ft/Schüler/Jahr.11 Diesezusätzlichenormative Unterstützung darf von den Trägern der Kindergärten und Schulen abgerufen werden, wenn letztere unter Beweis stellen können, dass sie den speziellen Anforderungen der Minderheitenerziehung beziehungsweise des Minderheitenunterrichts nachkommen können, das heißt wenn ihre Gründungsurkunde eine 10So willkommen die positive Einstellung der nichtungarndeutschen Eltern, die ihre Kinder in ungarndeutsche Minderheitenschulen einschreiben lassen, gegenüber den ungarndeutschen Schulen auch ist, so wirkt sich gerade dieser Umstand beeinträchtigend auf das Bild aus, welches man sich von denrealen Gegebenheitendes ungarndeutschen Bildungswesens machen kann, denn es ist unmöglich festzustellen, wie viele Kinder tatsächlich deutscher Herkunft die Schule besuchen (Imre 2004). 1175.000,-Ft entsprechen am 31.10.2009 bei einem Wechselkurs von 275 Ft/1 Euro etwa 273,269 Euro. Im Jahre 2006 haben dieselben Minderheitenschulen für denselben zweisprachigen Unterricht eine zusätzliche normative Unterstützung von 71.500,-Ft (260,516 Euro) bekommen. Die Inflationsrate betrug dem Bericht der Ungarischen Nationalbank vom 19.01.2009 zufolge im Jahre 2008 etwa 6,1% – von der Inflationsrate der Jahre 2007 und vor allem 2009 ganz zu schweigen. Es wird aus den Zahlen leicht ersichtlich, dass die Summe der normativen Unterstützung sich im Laufe der Jahre nicht einmal nach der Höhe der allgemeinen Inflationsrate richten konnte: die zusätzliche staatliche Unterstützung für den Minderheitenunterricht nimmt von Jahr zu Jahr ab. 100 Márta Müller Erklärung über die Erfüllung der zusätzlichen Aufgaben der Minderheitenerziehung und des Minderheitenunterrichts beinhaltet.12 Das Schulwesen der Deutschen in Ungarn wird hauptsächlich durch die finanzielle Unterstützung seitens des ungarischen Staates und der jeweiligen Träger gesichert, in den Jahren 2007 und 2008 konnte man aber auch durch Bewerbungen bei Programmausschreibungen der ungarischen Nationalen Entwicklungsagentur13 an bedeutende finanzielle Quellen kommen, die für die Verbesserung der schulischen Infrastruktur hätten genutzt werden können.14 Um das Problem der geringen Schülerzahl als Hindernis bei der Ausführung von gesetzlich zwingend vorgeschriebenen unterrichtspolitischen Aufgaben aus dem Weg zu schaffen, treffen immer mehr kommunale -und Minderheitenselbstverwaltungen von kleineren Ortschaften die Entscheidung, sich zusammenzuschließen oder ihre einzelnen kleineren bis dahin selbständigen Kindergärten und Schulen in größere (Schul)Formationen15 einzugliedern (Hock-Englender 2007: 9): Dadurch wächst rein administrativ die Anzahl der Minderheitenschüler einerseits, andererseits werden einige, durch die Integration überflüssig gewordene Leitungsposten in dem Haushaltsetat der lokalen Selbstverwaltung gestrichen und somit letzten Endes sogar Geld gespart.16 12Wenn es in der Ortschaft einer Minderheiteninstitution keine Selbstverwaltung der betreffenden Minderheit gibt, muss man bei der Landesselbstverwaltung eine Stellungnahme darüber einholen, dass der Kindergarten beziehungsweise die Schule eine Minderheitenerziehung und/oder einen Minderheitenunterricht erteilt, die beziehungsweise der den gesetzlichen Vorschriften entspricht. 13Die Nationale Entwicklungsagentur [ung. Nemzeti Fejlesztési Ügynökség] wurde 2006 von der Gyurcsány-Regierung gegründet, um die effektive Verteilung und Verwendung der EU-Gelder in Ungarn zu koordinieren. 14Zwar können durch die Ausschreibungen der Nationalen Entwicklungsagentur die Unterschiede zwischen den einzelnen Schulen besser berücksichtigt werden, jedoch birgt die Teilnahme an einem solchen Ausschreiben den großen Nachteil der akribischen und äußerst zeit-beziehungsweise energieaufwendigen Vorbereitung, Abwicklung und Nachbereitung der manchmal die Grenze der Unübersichtlichkeit erreichenden Fragebögen und Unterlagen, der viele Schulen von der Bewerbung selbst und dadurch mittelbar von der Möglichkeit der Weiterentwicklung abschreckt. Darüber hinaus, dass weder die Schulen noch ihre Träger Kapazitäten für die Zusammenstellung irgendwelcher Bewerbungen um EU-Gelder haben, können manche Ausschreibungen Bedingungen beinhalten, die gerade Minderheiteninstitutionen – zu deren Zwecke diese Ausschreibungen im Grunde genommen erstellt wurden – aus der Bewerbung ausschließen und dadurch diskriminieren. 15Die Kreiszentralisierung hat die ungarischen – samt ungarndeutschen – Schulen nach 35-40 Jahren wieder ereilt: zuerst wurden in den 1970er Jahren kleine Dorfschulen und Gehöfteschulen in Ungarn zwangszentralisiert (vgl. Kerner 2004: 45). 16UndeswirdindenlokalenSelbstverwaltungenan allen Ecken undEndengespart, denn es wird zwar die zusätzliche normative Unterstützung für die den Minderheitenunterricht erteilenden Schulen auf das Konto der Selbstverwaltungen, in deren Trägerschaft die betreffenden Schulen sind, überwiesen, doch die Selbstverwaltungen selbst sehen sich wegen der Unterfinanzierung ihrer anderen, per Gesetz ebenfalls vorgeschriebenen Funktionen (zum Beispiel im lokalen Gesundheitswesen, Kinderschutz oder in den Sozialleistungen) gezwungen, ihre eigene Unterstützung um die Summe der staatlichen zusätzlichen normativen Unterstützung zukürzen. VielenMinderheitenschulen,dieüber denDurchschnitthinausgehendenAufgaben 101 Márta Müller 4 Minderheitenerziehung im Kindergarten Der Kindergartenalltag muss gemäß der Verordnung Nr. 32. des Bildungsministeriums aus dem Jahre 1997 entweder (a) völlig in der Minderheitensprache Deutsch oder (b) zweisprachig, das heißt teils ungarisch, teils deutsch organisiert werden. In welchem Verhältnis die zwei Sprachen von den Kindergärtnerinnen und den Kindern im Kindergartenalltag benutzt werden sollen, wird in den lokalen Erziehungsprogrammen der einzelnen Kindergärten festgelegt. Meistens beinhalten die lokalen Erziehungsprogramme den Hinweis, dass der Gebrauch der zwei Sprachen von den muttersprachlichen Kompetenzen der eingeschriebenen Kinder abhängt. Gerade diese Klausel macht es leider möglich, die deutschsprachige Kommunikation im Kindergarten auf ein suboptimales Minimum zu reduzieren. Zwar wird der Ausgleich der ungarischen und der deutschen Sprachkompetenz als höchstes Ziel in der Erziehung der Kinder im Vorschulalter angestrebt (vgl. Frank 2001: 9), doch dieses Ziel bleibt – zumindest bis zum Ende der im Kindergarten verbrachten drei Jahre – auch in vielen zweisprachigen Minderheitenkindergärten ein unerfüllter Wunsch. AuseinerBestandsaufnahme, durchgeführtvonderLandesselbstverwaltung der Ungarndeutschen im Jahre 2002, stellte sich heraus, dass Sprechanlässe (zum Beispiel Begrüßung; für etwas danken; sich über das eigene Befinden äußern; den Wohnort nennen) während des Tagesablaufes in den meisten ungarndeutschen Kindergärten nicht genutzt wurden, um die deutsche Sprache den Kindern näher zu bringen (vgl. Mammel 2004: 72). Ein schulreifes Kind von sechs bis sieben Jahren ist imstande in seiner Muttersprache über Themen, die seinem Alter und dem egozentrischen kindlichen Weltbild entsprechen, in einfachen zusammenhängenden Sätzen zu sprechen. Kinder, die eine zweisprachige, ungarisch-deutsche Minderheitenerziehung genossen haben, können sich nur auf der Wortebene oder höchstens in Kernsätzen, die sich auf Alltagsroutinen beschränken, auf Deutsch verständigen. Der Grund hierfür liegt höchstwahrscheinlich darin, dass die funktionale Erstsprache der Kindergärtnerinnen die ungarische ist, und mit der durchgehend standarddeutschen Erziehung sich selbst die sprachlich und methodisch gebildeten Minderheitenkindergärtnerinnenschwertun. AndieserSituationkönntenurdadurchetwasgeändertwerden, wenn die Kindergärtnerinnen der deutschen Minderheit in Ungarn eine fundier nachkommen, welche notgedrungen mit Extraausgaben verbunden sind, müssen mit exakt denselben Finanzen klarkommen, die auch den Minderheitenaufgaben nicht erfüllenden ungarischen Schulen zur Verfügung stehen (vgl. Márkus 2007: 117). Solche Extraausgaben sind zum Beispiel die Einstellung und die ebenfalls durch Ministerialverordnung zwingend vorgeschriebene Weiterbildung von Lehrern, die DaM sowie Fachunterricht (meistens Volkskunde der Ungarndeutschen, Geschichte, Geographie, Musik und Sport) in der deutschen Sprache erteilen können oder die Anschaffung von deutschsprachigen Lehrwerken, Lehrmaterialien und die dazu nötigen Medien. Berufstätige Pädagogen sind verpflichtet, 7-jährlich an akkreditierten Fortbildungen teilzunehmen (vgl. Bildungsgesetz §19, Abs. [5]; zit. nach Heves 2004: 23). 102 Márta Müller tere deutschsprachige (fach-und allgemeinsprachliche) Ausbildung absolvieren müssten. Darüber hinaus wäre ein in die Ausbildungscurricula integrierter Austausch von ungarischen und deutschsprachigen Studierenden wünschenswert. Eine seitens der deutschsprachigen Länder Europas kommende gezielte Unterstützung und Förderung hierfür17 wäre natürlich eine sehr große Hilfe (vgl. Földes 2006: 979). Solange aber das sprachliche Niveau der überwiegenden Mehrheit der KindergärtnerinnenandenMinderheitenkindergärtennichterhöhtwird, kannauch nicht damit gerechnet werden, dass sich die deutschsprachigen Kompetenzen der Vorschulkinder verbessern. Der Bedarf an Minderheitenkindergärten, die eine deutschsprachige Erziehung anbieten, ist seit Jahren ungebrochen groß. Ein Indiz dafür, dass viele Eltern auch das deutschsprachige Minimum, mit dem die sechsjährigen Kinder den Minderheitenkindergarten verlassen, sehr hoch schätzen. Minderheitenerziehung und -unterricht in der Schule An den Minderheitenschulen werden über die allgemeinen Inhalte hinaus, die auch an den ungarischen Schulen gelehrt und gelernt werden, die Bildung der deutschen Minderheit in der deutschen Sprache und das Kennenlernen der Geschichte, Kultur und Rechte der deutschen Nationalität in Ungarn angestrebt. Für die Gestaltung der lokalen Lehrpläne der ungarischen Schulen geben zwei zentral erlassene Dokumente verbindliche Richtlinien: Einerseits der ungarische Nationale Grundlehrplan [ung. Nemzeti Alaptanterv] aus dem Jahre 1995, der die allgemeinen Prinzipien des Unterrichts sowie der schulischen Erziehung beinhaltet, andererseitsdiesiebenJahrespäter(2002)erlasseneVerordnungdes BildungsministeriumsüberdiesogenanntenRahmenlehrpläne.18 Letzterebein 17Wenn entweder die Studierenden des Studienganges Kindergartenpädagogik DaM mindestens ein ganzes Jahr an deutschsprachigen Kindergärten im Ausland verbringen könnten, oder die Minderheitenkindergärten in Ungarn deutschsprachige Studentinnen aus dem Ausland empfangen könnten. Es gibt zu der Zeit der Entstehung dieses Beitrags erste – erfolgreiche – Initiativen, durch die Praktikantinnen aus Deutschland unterstützt durch den Europäischen Freiwilligendienst an ungarndeutsche Nationalitätenkindergärten und -schulen geholtwerden,wo sieinden Deutschunterrichteingebunden werden. Eine derartigeKooperation unterstützt sowohl die natürliche als auch die institutionell gesteuerte Sprachvermittlung und schafft auch für die ungarischen Erzieherinnen und Lehrerinnen eine multikulturelle Umgebung, in der beide Parteien nicht nur in puncto Sprache voneinander lernen können (vgl. Lamperth-Molich 2009: 98). 18Die Rahmenlehrpläne sind im Vergleich zu dem Nationalen Grundlehrplan detaillierter verfasste Dokumente, die gerade deswegen mit dem schnellen Wandel der Gesellschaft nicht Schritt halten können. So fordert Hock-Englender bereits 5 Jahre nach ihrer Erstellung ihre Überarbeitung und Erneuerung, da in ihnen die Parallelen zu dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen der Sprachen, die Entwicklung der Schlüsselkompetenzen und u. a. 103 Márta Müller halten im Gegensatz zu den ziemlich allgemein formulierten Leitsätzen des Nationalen Grundlehrplans bereits ins Konkrete gehende Anweisungen und Mindestanforderungen für die Gestaltung der lokalen pädagogischen Programme – bestehend aus dem Erziehungsprogramm und aus dem lokalen Lehrplan der einzelnen Schulen.19 Der Minderheitenunterricht an den ungarndeutschen Schulen darf aufgrund des Minderheitengesetzes auf allen Schulstufen (Primarbereich: Klassen 1. bis 4; Sekundarstufe I.: Klassen 5 bis 8 und Sekundarstufe II.: Klassen 9 bis 12) in drei Formen angeboten werden. Im (a) sogenannten muttersprachlichen Programm werden alle Schulfächer – mit Ausnahme der ungarischen Sprache und Literatur – auf Deutsch unterrichtet. Schulen für die deutsche Minderheit in Ungarn, die diesemKriterium völligentsprechen, existieren zurZeit der Entstehung vorliegenden Beitrags nicht (vgl. Frank 2001: 7), einerseits, weil die Eltern befürchten, ihre Kinder könnten sich bei dem ungarischsprachigen Abitur, das als Zulassungsprüfung für die ungarischsprachigen B.A.-Studiengänge gilt, anderen gegenüber, die ungarischsprachige Schulen besucht haben, im Nachteil befinden. Andererseits – und dies trifft auch für die nächste Form des Minderheitenunterrichts, den zweisprachigen Unterricht zu –, weil es landesweit an Lehrern, die deutschsprachigen Fachunterricht erteilen können, mangelt. Die zweite Form der ungarndeutschen Schulen, in der (b) der Unterricht zweisprachig erteilt wird, hat am Anfang der 1990er Jahre eine wahre Hochkonjunktur erlebt, aber ihre Anzahl ist nach dem Erlass der Ministerialverordnung 1997 „Richtlinien zum schulischen Unterricht der nationalen und ethnischen Minderheit“ stark zurückgegangen. In den Richtlinien wurden die Qualifikationsbedingungen für die zusätzliche staatliche normative Unterstützung verschärft (vgl. Frank 2001: 8), so dass einige Schulen, die diesen Bedingungen nicht Genüge leisten konnten, ihren Minderheitenunterricht eingestellt und dadurch den Status einer Minderheitenschule verloren haben. Im zweisprachigen Programm müssen in mindestens 50% der Wochenstunden, das heißt mindestens drei Schulfächern – zum Beispiel im Primarbereich deutsche Sprache und Literatur, Volkskunde der Ungarndeutschen, Musik, Sport, Umwelt- die Liste der für den deutschsprachigen Literaturunterricht kanonisierten literarischen Werke fehlen (vgl. Hock-Englender 2007: 13). 19Den Nationalen Grundlehrplan und den Rahmenlehrplan als Grundlage nehmend erstellte das ungarische Landesbildungsbüro für Dienstleistungen [ung. Országos Közoktatási Szolgáltató Iroda] im Einverständnis mit der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen und mit Bestätigung des Bildungsministeriums, 1995 und 1996 zwei Dokumente: den Lehrplan Deutsch als Nationalitätensprache. Jahrgangsstufen 1-10. (1995) und die Lehrstoffempfehlungen aufgrund des Nationalen Grundlehrplanes für ungarndeutsche Nationalitäten- schulen. Jahrgangsstufen 1-10. (1996). Sie beinhalten Lehrstoffempfehlungen und Minimalanforderungen für die Schulfächer DaM sowie für den deutschsprachigen Unterricht der Schulfächer Geschichte, Volkskunde der Ungarndeutschen, Kunsterziehung und Musik. In den beiden Dokumenten wird darauf hingewiesen, dass die einzelnen Schulen ihre eigenen lokalen Lehrpläne um Inhalte, die sich aus der spezifischen Kultur, Geschichte und Sprache der ungarndeutschen Ortsgemeinschaften ergeben, ergänzen sollten. 104 Márta Müller kunde; im Sekundarbereich darüber hinaus am häufigsten Geographie oder Geschichte (vgl. Hock-Englender 2007. 18) zehn -15 Stunden pro Woche auf Deutsch gehalten werden. Die Entscheidung darüber, welche Schulfächer auf Deutsch unterrichtet werden, fällt unter Berücksichtigung der vor Ort vorhandenen Personalressourcen – das heißt der für den Minderheitenunterricht qualifizierten Lehrkräfte – die Arbeitsgemeinschaft der lokalen Selbstverwaltungen, welche für den Minderheitenunterricht zuständig ist, in Zusammenarbeit mit der Schulleitung. Die dritte Form der ungarndeutschen Schulen bietet (ca) entweder ein einfaches Sprachlehrprogramm, oder (cb) ein erweitertes Sprachlehrprogramm an.20 Innerhalb des einfachen Sprachlehrprogramms ist generell die ungarische Sprache die Unterrichtssprache. Das Deutsche als Minderheitensprache bildet, zwar in erhöhter Wochenstundenzahl, lediglich ein einziges Schulfach ab der 1. Klasse. Das erweiterte Sprachlehrprogramm setzt sich das Ziel, die Schüler auf den zweisprachigen oder muttersprachlichen Minderheitenunterricht in der nächsten Schulstufe vorzubereiten. Innerhalb dieses erweiterten Sprachlehrprogramms müssen mindestens drei Schulfächer in mindestens 35% der Wochenstunden auf Deutsch unterrichtet werden. Die Schulen, die Minderheitenunterricht in einem erweiterten Sprachlehrprogramm (cb) anbieten, gehen nicht selten zum Typ (ca) über, da das erweiterte Sprachlehrprogramm im Vergleich zum einfachen Sprachlehrprogramm vom ungarischen Staat keinerlei zusätzliche Subventionen mehr erhält (vgl. Hock-Englender 2007: 9) und eine kostenträchtigere Unterrichtsform aus bescheideneren Quellen von den Trägern und der Schulleitung nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Wenn man die Leistungen der verschiedenen Schulformen miteinander vergleicht (vgl. Márkus 2007: 116), stellt sich heraus, dass die deutschsprachigen Kompetenzenderjenigen Schüleramgeringstensind, dieeineinfachesoderaber erweitertes Sprachlehrprogramm anbietende Schulen besucht haben.21 20Wenn es die Anzahl der Schüler, die in einer Siedlung derselben Minderheit angehören, nicht ermöglicht, dass die kommunale Selbstverwaltung und Schule für sie Minderheitenunterricht organisiert, können sich die Eltern an die Landesselbstverwaltung der betreffenden Minderheit wenden. Auf die Initiative letzterer wird der (cc) sog. „zusätzliche Minderheitenunterricht“ – in Form einer Lernergruppe vor Ort oder mithilfe von mobilen Minderheitenpädagogen – von der Komitatsselbstverwaltung oder im Falle der Hauptstadt von der Budapester Selbstverwaltung organisiert. Diese Form des Minderheitenunterrichts (cc) wird von den Deutschen in Ungarn nicht genutzt. 21Die Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen will deswegen absichtlich nur die zweisprachigen Unterricht erteilenden Schulen fördern, weil diese Schulen eine geeignete Übergangsform zur Einführung des von der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen angestrebten einsprachigen deutschen Minderheitenunterrichts darstellen (vgl. Frank 2001: 10). 105 Márta Müller 6 Ziele und Lehrwerkversorgung des Schulfaches Deutsch als Minderheitensprache Nach der Wende ist der Umgang mit der deutschen Sprache in Ungarn, dank den deutschsprachigen Minderheitenkindergärten, dem deutschsprachigen Kabelfernsehen und dem mühelos gewordenen Verkehr ins (deutschsprachige) Ausland, viel unkomplizierter geworden. Von diesen Veränderungen bleiben auch die (Vor)Schulkinder nicht unberührt: Immer mehr Kinder kommen mit deutschsprachigen Vorkenntnissen völlig verschiedenen Niveaus in die Schulen, die dann von den Grundschullehrerinnen so weit wie möglich in den Unterricht eingeflochten werden müssen. Nach der Wende, als in kürzester Zeit viele Min- derheitenschulen gegründet wurden, gab es eine heftige Debatte im öffentlichen Diskurs, ob der frühe Fremdsprachenunterricht bei den Kindern nicht eine Störung des Muttersprachenerwerbs verursacht.22 Der altersgemäß aufgebaute frühe Fremdsprachenunterricht befähigt (gesunde) Kinder – falls sie auch mit akzentfreien sprachlichen Mustern konfrontiert werden – sich eine authentische Aussprache anzueignen (vgl. Boeckmann 2008: 7). Darüber hinaus erleichtert der frühe Kontakt mit einer fremden Sprache die Erlernbarkeit von weiteren Fremdsprachen, er steigert die Fähigkeit der Lautsegmentierung nicht nur in der fremden, sondern auch in der Muttersprache. Erst das Erlernen einer weiteren Sprache – außer der dominanten – macht den Kindern bewusst, dass die individuelle Ausdrucksweise von den im mentalen Lexikon gespeicherten lexikalischen Mitteln und Regeln abhängt. Diese Erkenntnis kann letzten Endes die Kinder zur universell wirksamen – das heißt sprachenunabhängigen – verbal-kognitiven Kreativität führen. Der Deutschunterricht an den Minderheitenschulen basiert auf deutschsprachigen Lehrwerken, dievon einigen Lehrwerkverlagen,23 mitbedeutender staatlicher Unterstützung eigens zum Zwecke des Minderheitenunterrichts, erstellt werden. Der Lehrbuchmarkt für den ungarndeutschen Minderheitenunterricht ist heute bedeutend bunter, als vor zehn -15 Jahren – ganz zu schweigen von der Situation vor der Wende, als das ganze Unterrichtswesen Ungarns dermaßen zentralisiert war, dass überall im Lande, an jedweder Schule desselben Typs, in derselben Klassenstufe zu demselben Zeitpunkt des Jahres, 22Zwar kann der Frühbeginn bei manchen Kindern die Herausbildung von Sprechfehlern (zum Beispiel Stottern) sowie Legasthenie begünstigen, doch nur in Fällen, in denen die entsprechenden Dysfunktionen im Kinde bereits latent vorhanden sind: Bestimmte LautBuchstaben- Zuordnungen und das muttersprachliche Rechtschreibregelwissen besitzen im Fremdsprachenunterricht keine Gültigkeit mehr. Bei Legasthenikern empfiehlt es sich daher eher mit Fremdsprachen anzufangen, deren Rechtschreibung lauttreu ist, wie zum Beispiel mit dem – mit einigen Ausnahmefällen – überwiegend lauttreu geschriebenen Deutschen, und nicht mit dem Englischen (vgl. Brezing 2002). 232009 konnten nur bei folgenden Verlagen Lehrwerke für die verschiedenen Schulfächer des ungarndeutschen Minderheitenunterrichts bestellt werden: Nemzeti Tankönyvkiadó Zrt., Konsept-H Kiadó und Croatica Kulturális, Információs és Kiadó Nonprofit Kft. 106 Márta Müller aus demselben einzigen Lehrbuch dieselbe Lektion unterrichtet werden musste – doch noch längst nicht an die Bedürfnisse des Minderheitenunterrichts angepasst: „es [fehlt] an angemessenen Lehrbüchern in fast allen Bereichen des Nationalitätenunterrichts“ (Hock-Englender 2007: 13), aber vor allem in dem deutschsprachigen Fachunterricht in den Schulfächern Geschichte, Geographie, Physik etc. Nachdem der Lehrbuchmarkt geöffnet worden war, haben einerseits multinationale Lehrbücher24 Einzug – auch in den Minderheitenunterricht DaM – gehalten, andererseits haben mehr Fachkundige den Mut gefasst, moderne Lehrwerke für den DaM-Unterricht zu schreiben. Es war höchste Zeit, dass letzteres geschieht, denn multinationale Lehrwerke des Deutschen sind im Ausland konzipierte, verfasste und redigierte Sprachbücher, die zwar im Vergleich zu den von Ungarn geschriebenen Lehrwerken ein angenehmeres Layout aufweisen, authentischer wirken, und bei weitem weniger (grammatische, lexikalische, pragmatische, orthographische und methodische) Fehler beinhalten als ihre regionalen ungarischen Pendants. Allerdings sind sie auf einen europäischen Durchschnittsschüler maßgeschneidert, und können gerade aus letzterem Grund weder ein dem ungarischen Rahmenlehrplan angepasstes Minimum/ Optimum abgrenzen noch die (finno-ugrischen) ausgangssprachlichen Besonderheiten der ungarischen Schüler berücksichtigen. Der ungarische Staat übt auch auf dem Lehrbuchmarkt der Minderheiten – genauso, wie in anderen Bereichen des Minderheitenschulwesens – eine Kontrollfunktion aus: Im Minderheitenunterricht dürfen nur die Lehrwerke benutzt werden, die auf der offiziellen Lehrwerkliste des Bildungsministeriums stehen. Die Minderheitenlehrwerke25 werden nämlich in einer geringen Auflage gedruckt, dementsprechend sind ihre Erstellungskosten, von welchen ein erheblicher Teil nicht von den Eltern, sondern vom Staat, in Form von an die Minderheitenschulen gerichteten Zuschüssen getragen wird, ziemlich hoch. Deswegen ist es verständlich – wirtschaftspolitisch sogar wohlerwogen – dass der Staat die Benutzung der mit so viel Aufwand hergestellten Minderheitenlehrwerke restriktiv vorschreibt. Zwar werden von dem Gesetzgeber alle Rechte gesichert, für die deutsche 24Von den ungarischen und ungarndeutschen Deutschpädagogen werden in ihrem Sprachunterricht sehr oft Lehrwerke bevorzugt, die im Hueber Verlag (Ismaning) oder im Ernst Klett Verlag (Stuttgart) erschienen sind. Nicht selten werden in den verbindlichen Unterrichtsdokumentender Schulen die bibliographischen Angaben der für die deutsche Minderheit erstellten, regionalen Sprachlehrwerke angegeben, doch im Unterrichtsalltag werden multinationale Sprachbücher benutzt, weil diese detaillierter und überdachter ausgebaute Peripherien wie zum Beispiel Arbeitsbücher, Lehrerhandreichungen, Empfehlungen für die Lehrstoffverteilung über das ganze Jahr, Testhefte, zweisprachige Glossare, Audiomaterialien, Aussprachetrainings beinhalten. Darüber hinaus betreiben die erwähnten deutschen Verlage in Ungarn, in Form von regelmäßigen Präsentationen, auf denen die Teilnehmer kostenlose Freiexemplare der neuesten Lehrwerkentwicklungen zum Ausprobieren geschenkt bekommen, ein offenbar effektives Marketing, welches auch die ungarischen Verlage beherzigen könnten. 25Eine Übersicht über die vom Bildungsministerium zertifizierten Lehrwerke für den Sprach-und Fachunterricht der Minderheiten in Ungarn – inkl. der Deutschen – gibt folgende Homepage: www 107 Márta Müller Minderheit in Ungarn deutschsprachigen Unterricht in allen Schulstufen und an allen Schultypen anzubieten, doch die personellen Umstände, vor allem der Mangel an sprachlich gut ausgebildeten Fachlehrern sowie das Desinteresse der Eltern gegenüber Schulen, die – mit der einzigen Ausnahme des Ungarischen – alle Schulfächer auf Deutsch unterrichten würden, hindert die Verwirklichung des muttersprachlichen Schultyps (Typ [a]). Die überwiegende Mehrheit der Minderheitenschulen – inklusive ihrer Träger und der Eltern – gibt sich mit dem sprachlehrenden Minderheitenunterricht zufrieden, auch wenn die Deutschkenntnisse der Schüler, die „nur“ einen sprachlehrenden DaM- Unterricht genossen haben, im Vergleich zu dem Sprachniveau ihrer Altersgenossen, welche am zweisprachigen Minderheitenunterricht teilgenommen haben, weit zurück bleiben (vgl. Márkus 2007: 116, 125). Da die Ungarndeutschen, die im 21. Jahrhundert eine schulische Ausbildung durchlaufen haben oder noch durchlaufen werden, in ihren Familien nach ihrem Eintritt in die Schule, also ab dem sechsten bis siebten Lebensjahr beinahe ausnahmslos ungarisch erzogen wurden und werden, nimmt die Verantwortung der Bildungsträger zu, die im schulischen Rahmen zweisprachig ablaufende Sozialisation für die Eltern attraktiv zu machen und somit für die Zukunft der deutschen Minderheit im Bildungswesen zu sorgen. 7 Evaluation und Qualitätskontrolle Gemäß §40., Absatz 10 des Bildungsgesetzes aus dem Jahre 1993 muss jede Bildungseinrichtung in Ungarn ihre eigene Qualitätspolitik bestimmen, damit die Erfüllung der Erziehungs-und Bildungsaufgaben sowie ihre Überprüfung auf einem höchstmöglichen Niveau vollzogen werden können. Der Qualitätspolitik soll ein Bündel von (die von der jeweiligen Bildungseinrichtung angestrebte Qualität sichernden) Maßnahmen angeschlossen werden, die es ermöglichen, dass über die Arbeit der Pädagogen ein ständiges Feedback an die Pädagogen selbst, an die Schulleitung und an die Träger gegeben werden kann. Auf diese Weise können Störungen und Konflikte rechtzeitig behoben sowie eine positive personelle und fachliche Entwicklung erzielt werden. In Ungarn gibt es seit Ende der 1980er Jahre keine regelmäßige, von außen her kommende und deswegen objektiven Kriterien folgende pädagogische Kontrolle. Daran hat auch das Bildungsgesetz 1993 de facto nichts geändert, da die von dem Gesetz angeordnete Qualitätspolitik und ihre Steuerung in der Hand der Schulleitung beziehungsweise ihrer Träger liegen. Im Rahmen der eigenen Qualitätspolitik muss jede Bildungseinrichtung – unter der Leitung der Schulrektoren, stellvertretenden Schulrektoren und Vorgesetzten der schulischen Arbeitsgemeinschaften26 und der Mitwirkung der Angestellten und 26Unter einer „Arbeitsgemeinschaft“(synonym auch: Fachbereich) werden alle Lehrer der Schule verstanden, die einen ganz bestimmten Kreis von Schulfächern unterrichten, zum Bei 108 Márta Müller selbst der Schüler – eine Selbstevaluation durchführen. Diese Evaluation, die in der Mehrheit der Schulen mittels (selbst, vor Ort erstellter) Fragebögen durchgeführt werden, erstreckt sich sowohl auf die Schulleitung27 und die Pädagogen als auch auf die weiteren Mitarbeiter28 der Schule. Die interne Beurteilung der schulischen Arbeit führt – trotz ihres differenzierten Wesens – höchstens zu einem subjektiven Ergebnis, das nur eine begrenzte Gültigkeit besitzt und ersetzt nicht die äußere Kontrolle. Die dargelegten Evaluierungsmaßnahmen erstrecken sich auf alle schulischen Gebiete gleichermaßen. Eine Qualitätskontrolle, die die minderheitenspezifischen Elemente der Bildungsarbeit an Kindergärten und Schulen begutachten würde, darf entweder die jeweilige lokale Minderheitenselbstverwaltung oder die Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen – unter der Mitwirkung von zertifizierten ungarndeutschen Bildungssachverständigen – in die Wege leiten. Über dieErgebnissederdurchgeführtenQualitätskontrollesollsowohldielokaleMinderheitenselbstverwaltung als auch die Landesselbstverwaltung der Ungarn- deutschen informiert werden, auch wenn weder die eine noch die andere im Falle von Unzulänglichkeiten rechtliche Folgen einleiten darf. Die Lizenz zum Minderheitenunterricht kann nur vom ungarischen Bildungsministerium, das heißt von dem für das ungarische (inklusive ungarndeutsche) Schulwesen verantwortlichen Schulamt eingezogen werden. Im Jahre 2003 wurde das – auch die ungarndeutsche Minderheit betreffende – Bildungsgesetz an mehreren Stellen modifiziert: Neu ist die Ergänzung hinzugekommen, dass das Bildungsministerium für die landesweite Organisation von pädagogischen Dienstleistungen zur Unterstützung und Beratung der Erziehungsarbeit und des Minderheitenunterrichts an den Bildungseinrichtungen der Minderheiten sorgen soll (vgl. Kerner 2004: 56) und unter §40, Abs. 10 spiel Arbeitsgemeinschaft der DaM-Pädagogen an einer Schule; der Realfächer betreuenden Pädagogen, der Fertigkeitsfächer unterrichtenden Pädagogen usw. 27Die Schulleitung wird von den Pädagogen und den weiteren Mitarbeitern der Schule mit einem Fragebogen bewertet, auf dem Aussagen über Führungstätigkeit des Schulrektors Punkte von 0 (stimmt überhaupt nicht) bis 3 (stimmt immer) zugeordnet werden. Die Aussagen beziehen sich auf Tätigkeiten, die im Arbeitsbereich der Schulleitung liegen, wie zum Beispiel „Der Schulrektor verteilt die administrativen und organisatorischen Aufgaben fristgemäßunterdenPädagogen.“; „ErkontrolliertundbewertetalleMitarbeiterregelmäßig.“; „Er hält engen Kontakt zu dem Träger, den Eltern und weiteren Institutionen der Siedlung.“; „Sein Arbeitsethos, seine menschlichen Qualitäten sichern eine gute Arbeitsatmosphäre an der Schule“; „Er nimmt an Antragausschreiben des Bildungsministeriums, die für die Schule von innovativem Belang sind, regelmäßig teil.“ usw. 28InvorliegenderArbeitwirddetaillierternuraufdasEvaluierungsverfahrenderPädagogen eingegangen. Nichtsdestotrotz soll angemerkt werden, dass die Arbeit der Angestellten, die nicht in einem pädagogischen Bereich tätig sind, nicht weniger bedeutend ist, als die der Lehrer. DienichtpädagogischenAngestelltenwerdenvondenSchulrektoren,stellvertretenden Schulrektoren und dem Leiter der Wirtschaftsangelegenheiten evaluiert je nachdem, was für eine Einstellung sie zu ihrem Arbeitsbereich haben, wie kooperationsfreudig und flexibel sie sind, was für eine Beziehung sie zu den Schülern und ihren Eltern haben, ob sie bereit sind, sich fortzubilden und sich in neuen Arbeitsbereichen auszuprobieren. 109 Márta Müller wurde dem Bildungsgesetz eine neue Regelung der Qualitätssicherung der schulischen Arbeit hinzugefügt. Über diese hinaus kann jene Verordnung als eine weitere – vom ungarischen Staat vorgeschriebene – qualitätssichernde Maßnahme29 betrachtet werden, die als Beschäftigungskriterium im Minderheitenunterricht ab September 2003 einen DaM-Hochschulabschluss als zwingende Voraussetzung bestimmt. Der Bildungsausschuss der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen sowie die Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen selbst haben – wie dies aus dem oben bereits Aufgeführten hervorgeht – keinerlei Befugnisse in die erzieherische Arbeit sowie in den Unterricht an Minderheitenschulen Einsicht zu nehmen (vgl. Hock-Englender 2007: 10). Dafür wurde 2005 von der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen das Ungarndeutsche Pädagogische Institut (UdPI,http://udpi.hu) ins Leben gerufen, das unter anderem die Aufgabe hat, die im Minderheitenbereich tätigen Pädagogen zu betreuen, und fürsieFortbildungenvorOrtundimAuslandzuorganisierensowieUnterrichtsdokumente und -materialien für den Minderheitenunterricht zu entwickeln und anzubieten. 8 Probleme, Schwierigkeiten, Desiderate Im Vergleich zu der Situation in den 1950er und 1960er Jahren hat sich in dem Schulwesen der deutschen Minderheit in Ungarn enorm viel verändert. Die eindeutig positive Entwicklungstendenz der letzten zwanzig Jahre scheint aber angesichts der sich langsam aber stetig häufenden Probleme des ungarndeutschen Schulwesens nach der Jahrtausendwende ins Stocken zu geraten: Schuld daran sind erstens die Unzulänglichkeiten in der gegenständlichen und personellen Infrastruktur der ungarndeutschen Bildungseinrichtungen; zweitens die bis dato nicht gelöste Problematik der weiterführenden Schulen – vor allem der Berufsschulen – sowie der Ausbildung von Minderheitenpädagogen; und drittens die immer spärlicher werdenden finanziellen Möglichkeiten der Träger der Bildungseinrichtungen. 29Der verbindliche DaM-Hochschulabschluss als Voraussetzung für die Pädagogenbeschäftigung im Minderheitenbereich darf nur als eine relative Verschärfung interpretiert werden, da in Ungarn DaM-Studiengänge von den Studierenden als eine sekundäre Entscheidung nachnichtgeschaffterZulassungsprüfungfürDaF-Studiengänge wahrgenommen werden. Der DaM-Abschluss ist daher für die meisten gewissermaßen nur zweite Wahl. Durch diese Regelung wurde aber zumindest erreicht, dass die Pädagogen, die selber nicht deutscher Herkunft sind, die aber an Minderheitenschulen deutschsprachige Schulfächer unterrichten, wenigstens während ihres Studiums Inhalte minderheitenbezogener Wissenschaften kennen lernen. 110 Márta Müller 8.1 Gegenständliche und personelle Schwächen Unter den gegenständlichen und personellen Schwächen steht der Mangel an sprachlich authentisch wirkenden Erziehenden, Deutschlehrern und deutschsprachigen Fachlehrern an erster Stelle. Es herrscht kein Pädagogenmangel – nur die Zahl der Pädagogen, die Deutsch in der zweisprachigen Umgebung des Kindergartens oder der Minderheitenschule authentisch und grammatisch korrekt beherrschen und vermitteln könnten, ist niedrig. Diese Situation ist äußerst prekär, denn wie kann man gerade von den Pädagogen, die sich selbst in ihrem Metier nicht sicher fühlen, erwarten, dass sie einen anspruchsvollen deutschsprachigen Unterricht anbieten? Würde man nach dem Unterricht am Vormittag auch die Nachmittagsbeschäftigungen im Schulhort der Minder- heitenschulen betrachten, so würde man feststellen müssen, dass die deutschsprachige Betreuung der Minderheitenschüler am Nachmittag vielerorts nicht gesichert ist, da im Schulhort nur in Ausnahmefällen Pädagogen mit einem Deutsch-oder gar Minderheitenabschluss angestellt sind. Um die Deutschkenntnisse der Minderheitenpädagogen an manchen Schulen ist es schlecht bestellt, weder eine kurzfristige noch eine langfristige Besserung dieser Lage ist in Sicht, da freiwillige sprachliche Fortbildungen nur im deutschsprachigen Ausland (zum Beispiel durch die Vermittlung von 2-4-wöchigen Sommerkursen durch das Goethe-Institut) für eine begrenzte Anzahl der Minderheitenpädagogen angeboten werden können. Die bereits seit Jahren oder Jahrzehnten verbeamteten Deutschlehrer werden die Bürde der Selbstbildung nicht aus eigenem Antrieb auf sich nehmen. Auch kann man nicht davon ausgehen, dass die in der nahen Zukunft ihr Studium absolvierenden Lehrergenerationen eloquenter sein werden, als ihre routinierteren, bereits verbeamteten Kollegen. Diese Tatsache betont das Bedürfnis nach einer von außen her wirkenden regelmäßigen Qualitätskontrolle, die nicht von Instanzen der Minderheitenorganisationen durchgeführt werden würde, noch mehr, denn nur diejenigen Stellen können valide und deswegen reliable Gutachten30 über die pädagogische Arbeit der Minderheitenschulen erstellen, die von den Interessen der Akteure der Minderheiteneinrichtungen unabhängig messen und bewerten können. Als eine Lösung,diedieobjektiveQualitätskontrolleergänzenwürde,wäreauchdieEinstellung von deutschsprachigen Gastlehrern, Referendaren oder Studierenden in allen Stufen der Minderheitenerziehung und des Unterrichts zu betrachten, die die Schüler und die Kollegen dazu bewegen könnten, Deutsch nicht als eine fremde Sprache sondern als eine Verkehrssprache aufzufassen. 30Die nicht von den jeweiligen Komitatsselbstverwaltungen oder der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen, sondern von außen – zum Beispiel vom Goethe-Institut – her gesteuerten Qualitätskontrollen würden auch den Leistungsvergleich der einzelnen Minder- heitenschulen jeglichen Typs ermöglichen – ein weiterer Gewinn der Fremdbewertung. 111 Márta Müller 8.2 Schwierigkeiten der Lehrwerkversorgung Eine weitere Lücke des ungarndeutschen Schulwesens ist die bereits im Kapitel 4.1 angeschnittene Problematik der Lehrwerke. Nicht nur der deutschsprachige Fachunterricht kann sich nicht auf den kurstragenden Einsatz von Fachbüchern stützen, die die spezifischen Umstände des Minderheitenunterrichts in Ungarn berücksichtigen. Selbst die Kontinuität des Deutschunterrichts ist nicht durch Deutschbücher gesichert, die alle Klassenstufen von der 1. bis zur 8. (oder gar 12.) Klasse abdecken, konzentrisch-progressiv vorgehen würden, und kompetenzorientiert strukturiert wären. Auch wenn geeignete Lehrwerke vorhanden wären, sind die 45 Minuten langen, im Rahmen der DaM-Stunden durchgeführten Sprachförderungsaktivitäten nicht ausreichend, nur für die Minderheitenschüler ein Sprachmilieu zu bieten, in dem sich eine funktionale Zweisprachigkeit entfalten könnte. Wäre aber das Sprachmilieu gegeben, würde man auch dann nichts Objektives über die Zweckmäßigkeit dieses Sprachmilieus erfahren können, da keine standardisierten Messungen in Ungarn existieren, die die DaM-Kenntnisse von Minderheitenschülern systematisch erheben könnten. Schulrektoren bedauern in den letzten drei bis fünf Jahren die Neigung der Eltern, dass zunehmend Englisch vor DaM präferiert wird: In Parallelklassen, in denen Englisch als erste Fremdsprache in vier bis fünf Wochenstunden unterrichtet wird, werden mehr Kinder eingeschrieben, als in die, die DaM als (erste Fremd-oder) Zweitsprache anbieten. Die sensible Phase des Schulwechsels – von der Grundschule auf eine Mittelschule – wird auch durch den Umstand erschwert, dass eine berufliche Weiterbildung und Lehre in der Minderheitensprache Deutsch in Ungarn nicht gesichert ist, es gibt nur vereinzelt Beispiele dafür, dass eine Mittelschule berufliche Ausbildung in deutscher Sprache31 anbietet. Wenn die Schüler nach der Grundschule in ein Minderheitengymnasium aufgenommen werden, unddies mit einemzweisprachigenAbitur beenden, können sie nur unter einer sehr begrenzten Anzahl von minderheitenbezogenen Studiengängen – in der überwiegenden Mehrheit von Lehramtsstudiengängen – wählen. Der soziale Aufstieg, die gesellschaftliche Mobilität und die Existenzgründung sind in Ungarn – mit der Ausnahme von White-Collar-Jobs bei ungarischen Niederlassungen von deutschen Großunternehmen32 – mit der ungarischen Sprache verbunden, weswegen das zweisprachige Unterrichtsangebot der ungarndeutschen Mittelschulen für viele Eltern als weniger attraktiv erscheint. 31Zum Beispiel das Friedrich Schiller Berufliches Gymnasium in Werischwar/Pilisvörösvár mit Schwerpunkt Wirtschaftslehre. 32Unter dem Begriff „White-Collar-Jobs“ werden Stellen bei Niederlassungen und Filialen deutscher Firmen in Ungarn verstanden, bei denen der jeweilige Arbeitsbereich ein Diplom und sehr gute Deutschkompetenzen voraussetzt, da die interne Firmenkommunikation in deutscher Sprache abgewickelt wird. 112 Márta Müller 8.3 Finanzierungsschwierigkeiten DievonständigenFinanzierungsschwierigkeitengeplagtenMinderheitenkindergärten und -schulen einer Ortschaft oder mehrerer, benachbarter Siedlungen werden von ihren Trägern immer öfter zu größeren Schulformationen zusammengeschlossen (vgl. Kap. 2.). Über die normative Unterstützung hinaus können sich Bildungseinrichtungen bei der ungarischen Nationalen Entwicklungsagentur und dem ungarischen Bildungsministerium um zusätzliche finanzielle Mittel bewerben, welche an die Erfüllung bestimmter Aufgaben und Ziele gebunden sind. Doch diese Ausschreibungen können von kleineren Bildungseinrichtungen, die eine infrastrukturelle Investition am besten gebrauchen könnten, wegen ihrer suboptimalen Kapazitätsnutzung nicht wahrgenommen werden, was ein eklatantes Beispiel dafür ist, dass der Spruch „Den letzten beißen die Hunde“ nicht nur im deutschen Kulturraum Gültigkeit besitzt. Von den Finanzierungsschwierigkeiten bleiben auch die Pädagogengehälter nicht unberührt. In Ungarn werden die Pädagogen nach einer einheitlichen Lohntabelle für öffentliche Angestellte bezahlt, je nach M.A.-oder B.A.Abschluss und der Anzahl der im Dienst verbrachten Jahre rückt man in der Lohntabelle höher, doch sowohl das Einstiegsgehalt für Berufsanfänger, als auch der Unterschied zwischen den einzelnen Gehaltsstufen sind so gering, dass Pädagogen sich sehr oft um Zweitjobs bemühen müssen. Ein Pädagogengehalt33 – vor allem in den ersten 15-20 Berufsjahren – reicht nicht aus, um sich eine Grundlage für eine bescheidene Existenz zu schaffen. Es ist unvorstellbar, dass Träger einer (Minderheiten)Schule ihren Pädagogen eine zusätzliche Gehaltserhöhung geben würden. Man freut sich darüber, wenn den Minderheitenpädagogen die ihnen per Verordnung zustehende – doch nicht zwingend vorgeschriebene – Minderheitenzulage nicht gestrichen wird. Die Pädagogen nämlich, die in einem Minderheitenkindergarten oder in einer Minderheitenschule fest angestellt sind, und in mindestens 50% ihrer PflichtstundenzahlinderMinderheitenerziehungoderimMinderheitenunterrichttätig sind, können eine Minderheitenzulage oder eine Fremdsprachenkenntnis-Zulage erhalten (§15, Abs. [2] der Regierungsverordnung 138/1992; zitiert nach Heves 33Kindergärtner und Grundschullehrer (= Qualifikationsvoraussetzung: vierjähriges B.A.Studium) ohne Berufserfahrung bekommen 122.000,-Ft brutto (netto etwa 90.000,-Ft; 327 Euro); nach 33 Jahren Berufserfahrung 196.000,-Ft brutto (netto etwa 140.000,-Ft; 509 Euro). LehrerInnen in der Sekundarstufe I. und II. (= Qualifikationsvoraussetzung: M.A.Studium) bekommen ohne Berufserfahrung 129.500,-Ft brutto (netto etwa 95.000,-Ft; 345 Euro); nach 33 Jahren Erfahrung 227.300,-Ft brutto (netto etwa 152.000,-Ft; 552 Euro). Von dem Bruttogehalt wird von dem Arbeitgeber ungefähr ein Drittel für die Gesundheitsund Rentenversicherung sowie Steuerabgaben abgezogen. Den Angestellten wird nur das Nettogehalt überwiesen. Freundliche Mitteilung von Frau Mária Karádi, Leiterin des Nationalitätenkindergartens Werischwar/Pilisvörösvár. 113 Márta Müller 2004: 24). Von dieser Zulage wird aber – wenn überhaupt – durch die Träger der Minderheiteninstitutionen nur ein Minimum34 ausbezahlt. 9 Fazit DasGesamtbildderungarndeutschenSchullandschaftisteinunbestreitbarkonträres35 – einerseits genießt die deutsche Minderheit in Ungarn die Freiheit, zur Aufrechterhaltung und Pflege der Minderheitensprache und ihrer Kultur, Bildungseinrichtungenvon demKindergarten bishin zur Universitätsebeneerrichten zu dürfen. Andererseits ist die Erziehungs-und Unterrichtsarbeit in diesen Bildungseinrichtungen auf die Vermittlung der deutschen Standardsprache und auf einige Schulfächer (meistens Musik, Geschichte, Geographie, Sport, Naturkunde) beschränkt, ohne dass weitere, ein breiteres Publikum ansprechende Möglichkeiten – wie die zweisprachige Berufsausbildung oder deutschsprachige Studiengänge – genutzt werden würden. Unter den Minderheitenkindergärten und -schulen des Landes können große Qualitätsunterschiede festgestellt werden, die entweder auf die finanziellen Engpässe oder auf die gegenständlichen und personellen Umstände der pädagogischen Arbeit zurückgeführt werden können. Manche der in der allgemeinen Gründungsfreude der 1990er Jahre entstandenen ungarndeutschen Bildungseinrichtungen werden entweder in die Kategorie „ungarisch“ zurückgestuft, andere halten ihr erreichtes Niveau nur mit größter Mühe. Es bleibt zu hoffen, dass die Deutschen in Ungarn – auch als zweitgrößte Minderheit des Landes – ihre mit viel Mühe errichteten Bildungseinrichtungen sowie die in diesen geleistete Arbeit werden nicht nur bewahren, sondern auch weiterentwickeln können. 10 Literatur Boeckmann, Klaus-Börge (2008): Der Mensch als Sprachwesen – das Gehirn als Sprachorgan. In: Fremdsprache Deutsch 2008/38, 5-11. Brezing, Hermann (2002): Fremdsprachen lernen: Unbelasteter Neubeginn oder altvertraute Schwierigkeiten? In: Schulte-Körne, Gerd: Legasthenie: 34Die Pädagogen, die in den Minderheitenkindergärten in Werischwar/Pilisvörösvár angestellt sind, erhalten eine Durchschnittszulage von brutto (!) 2.500,-Ft monatlich. Diese Summeentspricht am31.10.2009beieinemWechselkurs von 275Ft/1Euroetwa 9,-Euro. An anderen Minderheitenkindergärten und -schulen wird diese nicht verbindlich vorgeschriebene Zulage gar nicht ausbezahlt. 35Dass das ungarndeutsche Schulwesen sich am Scheideweg befinde, hat Brenner bereits 2003 in seinem Aufsatz über dasselbe zur Sprache gebracht. 114 Márta Müller Ursachen, Diagnostik, Förderung. Bochum 2002. Erb Mária/Knipf Erzsébet (1999): Új lehetõségek és kihívások – új kommunikációs stratégiák? A magyarországi németek körében végzett nyelvismereti felmérés tanulságai [Neue Möglichkeiten und Herausforderungen – neue Kommunikationsstrategien? Ergebnisse einer Umfrage über die Sprachkenntnisse, durchgeführt unter den Ungarndeutschen]. In: Kisebbségkutatás. 1999/2, 176-187. Frank, Gábor (2001): Zur Unterrichtssituation der Ungarndeutschen. In: Heinek, Otto (Hg.): Deutschunterricht der Ungarndeutschen um die Jahrhundertwende. Sprache und Identitätsbildung. Budapest 2001, 7-11. Földes, Csaba (2006): Deutschunterricht und Deutschdidaktik in Ostmitteleuropa. 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Doncsev Toso (2004): A magyarországi kisebbségi törvény [Das ungarische Minderheitengesetz]. In: Kisebbségkutatás, 2004/1.http://www.hhrf. org/kisebbsegkutatas/kk_2004_01/cikk.php?id=1020 heruntergeladen am 29.10.2009. 117 Sprachgebrauch der Ungarndeutschen: Geschichte – Tendenzen – Perspektiven Dr. Maria Erb (PhD) Eötvös-Loránd-Universität Rákóczi út 5. 1088 Budapest 1 Einleitende Gedanken Bei der letzten Volkszählung in Ungarn im Jahre 2001 gaben 33.192 Personen Deutsch als Muttersprache an, 62.233 bekannten sich zur deutschen Nationalität, 88.416 Befragte bekundeten ihre Bindung an die deutsche Kultur und 53.040 den Gebrauch der deutschen Sprache im Familien-und Freundeskreis. Das erste Mal in der Geschichte der staatlichen Volkszählungen wurden zur statistischen Erfassung der im Lande lebenden ethnischen und nationalen Minderheiten Angaben nicht nur durch die zwei traditionell-obligatorischen (Muttersprache und Nationalität), sondern durch insgesamt vier, unterschiedlich fokussierte Fragen eingeholt. Dass diese, auf Bestreben der Minderheitenselbstverwaltungen hin erfolgte Differenzierung begründet und notwendig war, bestätigen auch die Diskrepanzen bei obigen Zensusdaten der deutschen Minderheit. Sie deuten nicht nur darauf hin, dass die sprachliche und die ethnische Selbstbestimmung auseinanderdriften, sondern auch auf Divergenzen, Umstrukturierungen und veränderte Präferenzen bezüglich der Trias Sprache – Kultur – Identität. 2 Deutsche in Ungarn: kurzer historischer Exkurs Auf dem jeweiligen Hoheitsgebiet des traditionell multiethnischen ungarischen Staates ist das deutsche Element seit der Staatsgründung kontinuierlich vertreten. Hierbei waren von den drei Phasen der Entstehung von deutschen Sprachinseln, die mittelalterliche bis zum 13. Jh., die durch die Reformation ausgelöste zwischen dem 16.-18. Jh. und die ökonomisch bedingte vom 18. Jh. bis zum Ersten Weltkrieg, die erste und die letzte von Bedeutung. Da als 118 Maria Erb historischer Einschnitt die Befreiung Ungarns von der Türkenherrschaft, insbesondere die Zurückeroberung von Ofen/Buda im Jahre 1686, angesehen wird, spricht man über eine vor-und eine nachtürkische Phase der Einwanderung. Bereits im 10. und 11. Jh. strömten im Zusammenhang mit dem Ausbau des ungarischen Staatsorganismus nach christlich-feudalem Muster deutsche Geistliche, Ritter, Handwerker, Beamte und Kaufleute ins Land, die aber binnen einiger Generationen im Ungarntum aufgegangen sind. Ab dem 13. Jh. lassen sichingroßerAnzahldeutscheBürger, HandwerkerundKaufleutenieder, ihnen kommt in der Herausbildung der Städtekultur, des Gewerbes, Zunftwesens und Handels in Ungarn eine bestimmende Rolle zu. Nachhaltig, bis ins 20. Jahrhundert hinein haben sich demgegenüber einerseits die als natürliche Ausläufer des deutschen Sprachgebietes geltenden deutschen Siedlungen in Westungarn, entlang der österreichisch-ungarischen Grenze behaupten können, andererseits die im 12. Jahrhundert aus mitteldeutschen, vor allem westmitteldeutschen Gebieten planmäßig angesiedelten und mit königlich verbrieften Sonderrechten ausgestatteten sogenannten „Sachsen“ in der Zips und in Siebenbürgen. Die zweite große Epoche der Ansiedlung von Deutschen setzte unmittelbar nach der Zurückeroberung von Ofen im Jahre 1686 ein. Aufgrund staatlicher und privatherrschaftlicher Initiative wurden während des 18. Jahrhunderts in mehreren Wellen deutsche Kolonisten, vor allem Bauern aber auch Handwerker, ins Land geholt. Die Ursprungslandschaften der Siedler – die im Sinne der merkantilistischen Wirtschaftpolitik („Ubi populus, ibi obulus“) zur Wiederbevölkerung und Urbarmachung des Landes nach der Türkenherrschaft angeworben wurden –, lagenimmittel-undoberdeutschen (vorallem imwestmittel-und ostoberdeutschen) Raum1. DurchdieseplanmäßigenAktionenentstanden,neben den mittelalterlichen, weitere sechs deutsche Siedlungsgebiete: das Ungarische Mittelgebirge (der Buchenwald, das Schildgebirge und das Ofner Bergland), Südtransdanubien (die sogenannte „Schwäbische Türkei“ mit den Komitaten Brana, Tolnau und Schomodei), Ostungarn (das Komitat Sathmar), Slawonien und Syrmien, die Batschka und das Banat. Parallel dazu ließen sich im 18. 19. Jahrhundert – ähnlich wie im Mittelelter – deutsche Bürger, Beamte und HandwerkeringroßerZahlinungarischenStädten nieder undprägtendiesevie1Die nachtürkischen Deutschen, dieser sich aus vielen Sprach-und Kulturregionen (Nationen) zusammensetzende „Neustamm der Deutschen“ enthielt gerade von der Mehrheitsnation der Ungarn den Namen „Schwaben“ – eine „pars pro toto-Bezeichnung“ nach den ersten Ansiedlern, die tatsächlich aus schwäbischen Landen gekommen sind. Diese Sammelbezeichnunghaben dieSiedlerdes18. JahrhundertsdannalsSelbstbezeichnungübernommen und akzeptiert, trotz der Tatsache, dass dies den Herkunftslandschaften der überwiegenden Mehrheit der Siedler widersprach. Innerhalb der heutigen Landesgrenzen machen die „Sprachschwaben“ nur ungefähr 2% aus, die anderen 98% sind „Nennschwaben“. Diese Volksbezeichnung wurde in einem Analogverfahren auch zur Sprachbezeichnung, bei der nicht das Genetische, sondern das Varietätenspezifische das Tertium comparationis bildete: Schwäbisch/ Schwobisch/Schwowisch wird in der Bedeutung ’Dialekt, Mundart’ verwendet, verstanden wird darunter der Ortsdialekt, ungeachtet dessen Ausprägung. 119 Maria Erb lerorts. Die letzte große Welle der Einwanderung von Deutschen nach Ungarn setzte nach dem Ausgleich im Jahre 1867 ein. Bedingt durch den enormen wirtschaftlichen Aufschwung und die rasche Industrialisierung benötigte das Land qualifizierte Facharbeiter. Dieser Bedarf wurde aus Deutschland und Österreich gedeckt. Als Folge der beiden nachtürkischen Ansiedlungswellen erhöhte sich die Anzahl der Deutschen in Ungarn in bedeutendem Maße: im Jahre 1720 waren es 606 000 Personen, 1805 schon 1.100 000 (12,5% der Gesamtbevölkerung), und im Jahre 1910 sogar 2.037 435 (9,8% der Gesamtbevölkerung) – laut Zensusdaten die Höchstzahl, die sich allerdings nicht lange halten konnte. Als Folge der nach dem Ausgleich (1867) immer mehr um sich greifenden, auf die Magyarisierung der nichtungarischen Bevölkerungsteile des Landes ausgerichteten Assimilierungsbestrebungen ist das urbane Deutschtum Anfang des 20. JahrhundertsfastvölliginseinerungarischenUmgebungaufgegangen. Zurweiteren, sehr deutlichen Reduzierung des ungarnländischen Deutschtums führten die Friedensbeschlüsse nach dem Ersten Weltkrieg. Durch die neue Grenzziehung hat Ungarn zwei Drittel seines Territoriums an die Nachbarstaaten verloren, und da dies Gebiete mit bedeutenden deutschen Bevölkerungsteilen waren, erlitt auch das Deutschtum verheerende Verluste: 1920 beträgt die Zahl der Deutschen in Ungarn nur 550.062 Personen, fast anderthalb Millionen weniger, als zehn Jahre zuvor. Der nächste tiefe Einschnitt erfolgte nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Vertreibung von ungefähr 180-190.000 Personen die Zahl der Ungarndeutschen fast halbierte. Das Deutschtum in Ungarn blickt auf eine tausendjährige, abwechslungsreiche Geschichte zurück. Es bildet heute – nach den Roma – die zweitgrößte Minderheit des Landes. Seine Angehörigen sind mehrheitlich Nachkommen jener, vorwiegend dem Bauernstand angehörenden Kolonisten aus mittel-und oberdeutschen Gebieten, die sich nach der Vertreibung der Türken im Rahmen von geplanten Siedlungsaktionen während des 18. Jahrhunderts in Ungarn niederließen. Vortürkischen Ursprungs dagegen sind die deutschen Siedlungen in Westungarn, entlang der österreichischen Grenze sowie Deutschpilsen/ Nagybörzsöny im Pilsner Gebirge, deren deutsche Bevölkerung allerdings nur einen Bruchteil des heutigen Ungarndeutschtums bildet. Die weiteren Ausführungen des Beitrags beziehen sich auf dieses Deutschtum, innerhalb der heutigen Landesgrenzen, eine Bezugnahme auf andere, historisch fassbare ungarndeutsche Gemeinschaften erfolgt nur bei besonderer Relevanz. 3 Kommunikationsprofil der Ungarndeutschen bis 1945 Im Folgenden sollen im Rahmen eines historischen Überblicks Konstanz und Dynamik der sprachlichen Binnen-und Außenstruktur der Ungarndeutschen 120 Maria Erb bis 1945 skizziert werden. Da nach dem Zweiten Weltkrieg jene markanten VeränderungenimBedingungsgefügederSprach-undIdentitätsbewahrungeinsetzen, die auch die Gegenwartweitestgehend mitbestimmen, wird dieser Phase anschließend besondere Aufmerksamkeit geschenkt. 3.1 Sprachliche Binnenstruktur Die wichtigste Konstituente der sprachlichen Binnenstruktur ungarndeutscher Gemeinschaften bildet der Ortsdialekt. Die Siedler der nachtürkischen Kolonisation sprachen ihren Herkunftsgebieten entsprechend verschiedene mittel-und oberdeutsche (vor allem westmittel-und ostoberdeutsche) Mundarten als Muttersprache: Bairisch, Rheinfränkisch-hessisch, Pfälzisch, Ostfränkisch, Schwäbisch, Alemannisch. Aus diesen Erstsiedlerdialekten bildeten sich in einem Mischungs-und Ausgleichsprozess die einzelnen Ortsmundarten heraus, die somit – im Gegensatz zu den Dialekten auf dem geschlossenen deutschen Sprachgebiet –, nicht das Ergebnis einer natürlichen, kontinuierlichen, organischen Entwicklung sind, sondern Siedlungsmundarten bzw. echte Sprachinselmundarten. SiedecktenbisMittedes20. JahrhundertspraktischalsVollsprachendie kommunikativen Bedürfnisse der ruralen, mehrheitlich dem Bauernstand angehörenden Einzelgemeinschaften miteinem geringenKommunikationsradius fast vollständig ab, galten aber darüber hinaus auch als markante Abzeichen der lokalen Identität. Den gleichen Status besitzen die vortürkischen Ortsmundarten in Westungarn. Sie unterscheiden sich jedoch einerseits in ihrer Genese von den neuzeitlichen, „da sie infolge der linearen Ausbreitung von Dialekten der ostösterreichischen Länder (Niederösterreich, Steiermark) entstanden und organische Fortsetzungen der letzteren auf ungarischem Boden sind.“ (Hutterer 1991: 263) Andererseits sind sie – daraus resultierend – Grenzmundarten und befanden sich seit jeher in geografischer Kontaktstellung zum deutschen Sprachraum. Nachstehende Übersichtskarte beinhaltet die Zuordnung der einzelnen Ortsmundarten innerhalb der heutigen Landesgrenzen zu Hauptdialekten des geschlossenen deutschen Sprachgebietes unter Heranziehung von vorwiegend (obligatorischen) lautlichen Merkmalen klassisch dialektologischer Provenienz.2 . Die sprachliche Binnenstruktur ungarndeutscher Gemeinschaften wies noch zwei weitere, höhere Sprachformen auf – den Verkehrsdialekt und die Standardvarietät –, deren Bedeutung für das interne Kommunikationsprofil allerdings weit hinter der des Ortsdialektes zurückblieb. Der als Ergebnis der zweiten Stufe des horizontalen Ausgleichs entstandene, „räumlich-soziologisch bestimmte“ (Hutterer 1991: 324) Verkehrsdialekt hatte im heterogenen, quanti 2In Rückgriff auf weitere, fakultative Dialektmerkmale ist auch eine differenziertere, kleinräumigereZuordnungdereinzelnenBasisdialekteinnerhalbderHauptdialektemöglich. Dazu und zu den Mechanismen und Steuerungsfaktoren des sprachlichen Ausgleichs siehe detaillierter Hutterer 19912/a, 19912/b und Schwob (1971). 121 Maria Erb ! Abbildung 1: Deutsche Siedlungsgebiete und Dialekte in Ungarn tativ dennoch von westmitteldeutschen Basismundarten dominierten südungarischen Siedlungsraum eine rheinfränkisch-hessische Prägung. Im Ungarischen Mittelgebirge dagegen war er – begründet durch das Übergewicht der bairischösterreichischen Ortsdialekte – ostdonaubairisch ausgerichtet, genauso wie in Westungarn, wo der sprachraummäßige Zusammenhang mit Österreich und die Nähe von Wien als zusätzliche Steuerungsfaktoren und Bezugsgrößen anzusehen sind. Gemäß ihrer Funktion und dem geringen Kommunikationsradius der Sprecher fand die Verkehrsmundart nur bei den wenigen Aktivitäten außerhalb der Einzelsiedlungen Verwendung – zu diesen gehören unter anderem die Marktbesuche, die Dienstjahre der Mädchen und Burschen bzw. die Militärzeit Letzterer – und zeigte im Vergleich zu den beständigen und (relativ) homogenen Systemen der Ortsdialekte deutlich instabilere Strukturmerkmale. Was die dritte Konstituente, die Standardvarietät anbelangt, müssen eingehend folgende Tatsachen und Ausgangspositionen festgehalten werden: Die als Ergebnis der im europäischen Vergleich relativ spät entstandene Normvarietät des Deutschen etablierte sich zunächst als Schriftsprache, Tendenzen zu einer medialen Ausweitung ihres Geltungsbereiches auf die gesprochene Sprache zeichnen sich – mit einer sowohl areal als auch sozial deutlich gestaffelten Intensität – erst ab Ende des 18., vor allem aber im 19. Jahrhundert ab. Bei denUngarn-Auswandererndes18. Jahrhundertskönnendaher –wieauchbeim damaligen Bauernstand im binnendeutschen Raum schlechthin – Kenntnis und 122 Maria Erb Gebrauch der Standardvarietät im heutigen Sinne nicht, oder nur in sehr beschränktem Maße und – entsprechend den zeitgenössischen deutschen Sprachverhältnissen – in deutlich (groß)regionaler Ausprägung vorausgesetzt werden. Auch in der neuen Heimat spielte die „Leitvarietät“ nur eine marginale Rolle in ihrem Kommunikationsprofil und konnte sich – teils aus Mangel an Möglichkeiten teils aus Mangel an Bedürfnis – nicht maßgebend in ihre Kompetenz-und Sprachgebrauchsstruktur eingliedern. Als Siedlungs-bzw. Sprachinselminderheit ohne geographische Kontaktstellung zum geschlossenen deutschen Sprachgebiet hatte das Ungarndeutschtum – mit der Ausnahme von Westungarn – keinen unmittelbaren Zugang zu den ausgebauten, überregionale(re)n Varietäten seiner Muttersprache, empfing aber auch keine nennenswerten Impulse aus dem binnendeutschen Raum für sachnotwendige sprachliche Innovationen, die sich im Zuge des Modernisierungsprozesses ab Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr abzeichnen. Dennoch darf der besondere Status des (österreichischen) Deutschen innerhalb der Habsburgermonarchie, so auch in Ungarn nach der Befreiung von den Türken im 18. Jahrhundert bis zum Ausgleich im Jahre 1867, nicht unerwähnt bleiben. Das Ungarische – Muttersprache von nur etwa 44-48% der Bevölkerung des Vielvölkerstaates –, wurde erst 1844 zur Staatssprache erklärt, die höheren Sprachfunktionen – so vor allem in der Verwaltung und der Behördenadministration aber teilweise auch in der Literatur, Wissenschaft und im Unterricht auf gymnasialer und Hochschulebene – bekleidete neben dem Lateinischen, als Konkurrenzsprache auch das Deutsche, was bei der Mittel-und Oberschicht zur Herausbildung einer „kulturellen Zweisprachigkeit“ führte (Kosáry 1980: 64, Mollay 1989: 243f, 248). Durch diese horizontal wie vertikal bedeutende Präsenz des Deutschen – zu der neben den politischen Gründen auch die hohe Zahl der deutschen Muttersprachler in nicht unerheblichem Maße beitrug (s. Kap. 1) –, wäre die Erweiterung des linguistischen Repertoires ungarndeutscher Gemeinschaften um die Standardvarietät und damit die Schaffung eines Eigendachs potentiell möglich gewesen. Dass dies in der behandelten Periode jedoch nicht erfolgt ist, hat seinen Grund neben den mangelnden Kontakte zwischen dem ruralen und urbanen Deutschtum vor allem in der Tatsache, dass für das rurale, mehrheitlich dem Bauernstand angehörige Deutschtum mit einem seiner geringen Mobilität entsprechenden eingeschränkten Kommunikationsradius zur Bewältigung seiner eher alltags- weltlichen, sprechsprachlichen kommunikativen Bedürfnisse dazu keine zwingende Notwendigkeit bestand.3 Nach dem Ausgleich versiegt auch diese poten 3Eine Wirkung „höherer“ Sprachformen vor allem bairisch-österreichischer (wienerischer) Prägung lässt sich – wenn auch nicht auf sprachstruktureller Ebene –, aber in Form von lexikalischen Infiltraten in den Orts-und Verkehrsdialekten dennoch feststellen. Ausstrahlungsherdewaren neben Wien bzw. Ofen v.adiedamals nochmehrheitlichdeutschsprachigen Städte von Ungarn, die – begründet durch ihr höheres Sozialprestige – (auch) mit sprachlichem Mehrwert behaftetes Wortgut an das Deutschtum ihres Umlandes vermittelten. Als besonders beweiskräftig für diesen Einfluss gelten die Austriazismen in den rheinfränkisch 123 Maria Erb tielle Quelle: Die deutsche Sprache musste ihre ehemals breit aufgefächerten Geltungsbereiche an die sich immer mehr emanzipierende Staatssprache, das Ungarische abtreten. Das deutschsprachige Städtebürger-und Beamtentum wird sehr rasch, fast binnen einer Generation, bis Ende des 19. Jahrhunderts fast vollständig assimiliert – mit weit reichenden, sowohl sprachlichen als auch soziokulturellen Konsequenzen für die deutschen Dorfgemeinschaften und ihre Mundarten. Mit der Auflösung der Standard-oder standardnahen Varietäten ausihremgeographischenNähebereichverschwindetnichtnurdieletzteChance für einen Anschluss an die höheren Varietäten ihrer Muttersprache und für die Eingliederung dieser in ihre Kompetenzstruktur, sie verlieren damit gleichzeitig auch die Möglichkeit, ihren Bedarf an sprachlichen Innovationen aus der eigenen Sprache zu decken, wie dies in den Dialekten des geschlossenen deutschen Sprachgebietes der Fall ist (Näheres dazu im nächsten Kapitel). Eine andere Folge der Einschmelzung des urbanen Deutschtums weist über das konkret Sprachliche hinaus und tangiert das Problem der durchgehenden versus nicht durchgehenden sozialen Schichtung einer Minderheit/Sprachgemeinschaft, insbesonderedieWichtigkeitderbildungstragendenSchichten: „[D]as ungarndeutsche Volk [ist] um die Jahrhundertwende seiner Intelligenz verlustig geworden“, womitauch „die stärkste Stütze der Entfaltungsmöglichkeit der deutschen Hochsprache in Ungarn in jener Zeit gefallen [ist]“ (Hutterer 1991: 333). Dennoch können Kenntnis und Gebrauch der Hochsprache nicht gänzlich abgestritten werden. Erworben wurde sie auf gesteuertem Wege in der Schule, daher stehen Quantität und Qualität der Sprachkenntnisse in einem engen Junktimverhältnis zu den jeweiligen minderheiten-und vor allem bildungspolitischenMaßnahmen. 1880konnten56,8%,190067%,191070,4%derDeutschen in Ungarn lesen und schreiben, unter allen ethnischen Gruppen des Landes4 sind dies – nach der jüdischen Bevölkerung – die zweithöchsten Prozentwerte. Stellt man diesen Angaben jedoch weitere zur Seite, wird ersichtlich, dass die Domäne Schule ihrer zentralen Rolle in der Muttersprachvermittlung immer weniger nachkommen konnte5: Die Zahl der deutschsprachigen Volksschulen betrug 1880 noch 867, im Jahre 1900 allerdings nur noch 383, über Mittelschulen und Gymnasien mit deutscher Unterrichtssprache verfügten nur die Siebenbürger Sachsen.6 In der Einführung des Ungarischen zuerst als Pflichtfach im Jahre 1879, und anschließend immer mehr als Unterrichtssprache an Stelle der Minderheitensprachen erblickte man bereits im Dualismus aber noch hessischen Mundarten von Südungarn (vgl. dazu Wild 2003). 4Zusammen mit Kroatien und Siebenbürgen 5Bis Ende der 1880-er Jahre, das heißt bis zum Gesetz Nr. XVIII. vom Minister für Unterricht und Religionsausübung Ágost Trefort aus dem Jahre 1879 verlief der Unterricht ausschließlich in der Minderheitensprache. Auch das liberale Bildungs-und Nationalitätengesetz von Eötvös aus dem Jahre 1868 enthielt diesbezüglich keine Einschränkungen. 6Der Anteil der deutschen Absolventen von vier bzw. acht Klassen der Mittelschule an der männlichen Bevölkerung im Jahre 1910 machte übrigens nur 4,1% bzw. 1,7% aus. 124 Maria Erb mehr in der Zwischenkriegszeit ein effektives Werkzeug zur Assimilierung der nichtungarischen Bevölkerungsteile im Dienste der Schaffung der ungarischen Einheitsnation. Diese Bestrebungen wurden auch gesetzlich verankert. Laut Gesetz Nr. XVI. aus dem Jahre 1891 hatten die Kindergärten ihre Zöglinge „in die Kenntnis der ungarische Sprache als Staatssprache einzuführen“. Das 1907verabschiedeteberühmt-berüchtigte„Lex-Apponyi“ verpflichtetedieSchulen mit nichtungarischer Unterrichtssprache unter anderem dazu, den Schülern bis Ende des vierten Schuljahres die Landessprache auf einem Niveau beizubringen, dass diese sich in Wort und Schrift verständlich ausdrücken können7 . Die 1923 getroffene Neuregelung sah, je nach Anteil der Minderheitensprache, drei Schultypen vor: im sogenannten A-Typ wurden alle Fächer in der Minderheitensprache und Ungarisch als Pflichtfach unterrichtet, im B-Typ verlief der Unterricht zweisprachig, das heißt, dass die eine Hälfte der Fächer in der Minderheitensprache, die andere auf Ungarisch erteilt wurde, und im C-Typ – als spiegelverkehrtes Ebenbild vom A-Typ – verlief der Unterricht gänzlich auf Ungarisch, die Minderheitensprache wurde lediglich als Pflichtfach erteilt. Nach den Angaben für Schuljahr 1926/27 waren nur 43 ungarndeutsche Volksschulen echte Minderheitenschulen (A-Typ), 63 Einrichtungen gehörten zum B-Typ und 308 (!) Schulen hatten Ungarisch als Unterrichtssprache. Bedenkt man noch, dass die Schulpflicht nur bis zum 12. Lebensjahr dauerte, des Weiteren, dass die überwiegende Mehrheit der ungarndeutschen Kinder – bedingt durch den Bauernstatus ihrer Familien – dementsprechend höchstens die sechs Klassen der Volksschule absolvierte, ist die bittere Bilanz, die Jakob Bleyer in seiner Parlamentsrede am 9. Mai 1933 zieht, nicht verwunderlich: „Die Jugend deutscher Muttersprache mit Volksschulausbildung kann bis zu 70% auch nicht halbwegs deutsch lesen und schreiben, die Jugend deutscher Muttersprache mit Mittelschulbildung kann bis zu 90% keinen richtigen deutschen Brief schreiben, ja keinen richtigen deutschen Satz abfassen, wie man das von einem gebildeten deutschen Menschen erwarten müsste“ (Sonntagsblatt 1933. 14.05). Die Kenntnis sowohl der mündlichen als auch der schriftlichen Form der Hochsprache ging bei den Ungarndeutschen – mit verschwindend wenigen Ausnahmen – kaum über die Rezeptivität hinaus, ihr, auch von dialektalen Interferenzen nicht freier Gebrauch erstreckte sich vor allem auf wenige Bereiche beziehungsweise Textsorten der Schriftlichkeit, so auf Briefe oder Buchhaltung, und nur in Ausnahmefällen auf natürliche, mündliche Interaktionen. Vertreten war sie außer in der Schule noch auf der Kanzel und dadurch in der Seelsorge und Glaubensausübung – in einer Domäne, die wegen ihrer Formelhaftigkeit von den Gläubigen eher rezeptiv-rezitative und nicht kreativ-produktive Kompetenzen erfordert. Summierend lässt sich feststellen: Gewisse sprachliche Impulse und In 7Infolge des Lex-Apponyi verringerte sich die Gesamtzahl der Minderheitenschulen des Landes zwischen 1906/07 und 1913/14 um 25%, von 4395 auf 3321 (Bellér 1973: 13). 125 Maria Erb novationen aus den standardnahen Varietäten des binnendeutschen Raumes, vor allem aber aus dem geographischen Nähebereich erreichten das ländliche Deutschtum zweifelsohne, doch vermochten diese – vornehmlich unterdemEinfluss von außersprachlichen Steuerungsfaktoren – die feste Eingliederung der eigensprachlichenLeitvarietätinseineKompetenz- undSprachgebrauchsstruktur nicht zu bewirken. Auch die andere Möglichkeit, Erwerb der Standardvarietät via Schule und Unterricht, war ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zum Scheitern verurteilt, vor allem wegen der engstirnigen, auf Assimilierung bedachten Minderheitenpolitik des Landes. Über die bis zum heutigen Tage wirksamen folgenschweren Konsequenzen, die sich daraus ergeben, soll weiter unten näher eingegangen werden. 3.2 Kontaktstruktur Sprachinseln sind „Sprach-und Siedlungsgemeinschaften in einem anderssprachigen, relativ größerem Gebiet“ (Wiesinger 1980: 491) oder um mit Hutterer zu sprechen: sie stellen „räumlich abgrenzbare [...] Siedlungsräume einer sprachlichen Minderheit inmitten einer sprachlichen Mehrheit“ (Hutterer 1982: 178) dar. Da geographische Nähe bei Transfer-und Austauschprozessen schon seit jeher als einer der wirksamsten Stimulierungs-und Steuerungsfaktorengilt, weisenSprachinselnvonvornhereineinhohesKontaktpotentialauf,das seinen Niederschlag – durch verschiedene Intensitätsgrade und Ausprägungen gekennzeichnet –, auch in ihrer jeweiligen, im Vergleich zu den Ursprungslandschaften und -gemeinschaften spezifischen sprachlich-kulturellen Ausstattung findet. Die Ungarndeutschen als Sprachinselminderheit leben im Prinzip seit ihrer Ansiedlung in einer koarealen bi-ethnischen – durch die traditionell bunte ethnische Zusammensetzung Ungarns in vielen Siedlungsgebieten sogar in einer multi-ethnischen –Dauerkontaktsituation. DaherumfasstihräußeresKontaktprofil – allerdings mit einer lokal-regional und sozial unterschiedlichen Ausprägung – einerseits die zahlreichen anderen Minderheitensprachen des Landes samt ihren (vor allem dialektalen) Varietäten, so unter anderem das Serbische, dasRumänische, dasSlowakische, dasKroatischeusw.; andererseitsalswichtigsteKontaktsprache– mitvondiesendeutlichabweichendenStatusmerkmalen–, die Sprache des staatsbildenden Mehrheitsvolkes, das Ungarische. Die daraus resultierenden kurz-und langfristigen Wirkungen sind vielfältig und manifestieren sich sowohl im Sprachsystem der ungarndeutschen Dialekte als auch in der Kompetenz-und Sprachgebrauchsstruktur ihrer Sprecher(gemeinschaften). Die von verschiedenen exogenen und endogenen Dominanten gesteuerte Quantität und Qualität der Kontakte und deren Auswirkungen zeigen eine zeitliche Staffelung kumulativen Intensitätsgrades. Sie führen aber gleichzeitig auch zu „vielfältigen Wandlungen im ungarndeutschen Sprachleben“ (Hutterer 1996: 314) und sind somit unumgängliche Bestimmungselemente „der ungarndeutschen Sprachgeschichte der letzten zweieinhalb Jahrhunderte“ (ebd.). 126 Maria Erb Das Ende des Zweiten Weltkrieges kann diesbezüglich zweifelsohne als die einschneidenste und daher wichtigste Jahreszahl gewertet werden, wenn sich auch das davor liegende viertel Jahrtausend mit einer feineren, hierarchischen Periodisierung in kleinere Abschnitte zerlegen lässt – markiert durch die historisch prägenden Ereignisse wie der Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn im Jahre 1967 bzw. das Ende des Ersten Weltkrieges. Nach 1945 zeigen sich nämlich nicht nur in der Anzahl der Kontaktphänomene (rapide Vermehrung), sondern auch in ihrer Art gravierende Veränderungen im Vergleich zur vorangehenden Epoche. Was die Auswirkungen der Kontakte zum Ungarischen auf das Sprachsystem der Dialekte bis 1945 anbelangt lässt sich feststellen, dass sie ihren Niederschlag fast ausschließlich in Form von usualisierten Bezeichnungsentlehnungen finden, der einfachsten und daher meist vertretenen Form der Entlehnung in natürlichen sprachlichen Berührungsprozessen, zumal sie Kenntnis der Modellsprache auch nicht unbedingt voraussetzt8. Diese älteste, lexikalisierte und stabilisierte Lehnwortschicht zeigt eine höchstgradige formalgrammatische, das heißt phonetische und flexivische, Anpassung an die einzelnenOrtsdialekte, was neben der starken Stellung der Mundartenalsfunktionelle Erstsprachen auch von fehlenden bzw. mangelnden Ungarischkenntnissen der Sprecher zeugt. Der überlieferte Lehnwortbestand der einzelnen Ortsdialekte weist deutliche Gemeinsamkeiten auf, was auch darin zum Ausdruck kommt, dass ein Großteil dessen bestimmten Sachbereichen, thematischen Reihen bzw. Varietäten/ Lekten zugeordnet werden kann: Esskultur/Speisen, Kleidung/Tracht, Ackerbau/Viehzucht, Flora/Fauna, Anredeformen/Verhaltensmuster, Kindersprache und Offizialsprache. Diese Einzelortschaften übergreifende Systematik – die auch zu einer gewissen Konvergenz im Wortschatz der Dialekte führte –, berechtigt zur Annahme, dass der Lehnprozess von den gleichen Bedürfnissen und Interessen gesteuert wurde. Einen bedeutenden Teil der lexikalischen Integrate machen sogenannte Bedürfnisentlehnungen aus: Sie schlie en als Ethnorealien bei einer Eins-zu-Null-Äquivalenz jene Nominationslücken in den Dialekten, die sich vor allem durch die Konfrontation mit einer, anfangs noch fremdenSachkulturundeinemanderenStaatsaufbau,desWeiterenmitvonden eigenen zum Teil abweichenden Sozial-und Beziehungssystemen, Verhaltens- normen und Wirtschaftsstrukturen (einschließlich Flora und Fauna) aufgetan haben. Diese kulturspezifischen Lehnwörter sichern nicht nur die kommunikative Leistungsfähigkeit der Dialekte auch in der neuen Heimat – somit sind sie eindeutig als Zugewinn einzustufen –, sie dokumentieren zugleich auch vielschichtige Akkulturationsprozesse und sachlichen Kulturimport. Beim weitaus geringeren Teil der Lehnwörter – vor allem im bäuerlichen Grundwortschatz (Tierzucht, Ackerbau, Flora, Fauna) – lässt sich zwar das „Eintauschen des Mitgebrachten“ (Weber-Kellermann/Schenk 1977: 45) feststellen, doch haben 8Näheres zum Lehnwortschatz vor 1945 in: Erb 2001, 2003, 2004/a, 2004/b, 2006/a. 127 Maria Erb auch diese den indigen deutschen Charakter der Ortsdialekte nicht beeinträchtigt. Eine Wirkung des Ungarischen auf den Sprachgebrauch der Ungarndeutschen zeichnet sich ab Ende des 19. Jahrhunderts ab. Doch ist diese nicht einheitlich: Während in der Agglomeration um Budapest, in größeren Industriegebieten sowie in Streusiedlungen vor allem die junge Generation sich Ungarisch ziemlich früh aneignet und in der Kommunikation mit Ungarn auch verwendet, sind bei der Dorfbevölkerung im, von Deutschen dicht bewohnten Südungarn auch noch in der Zwischenkriegszeit nur sehr sporadische Ungarischkompetenzen, stellenweise sogar das vollständige Fehlen von Ungarischkenntnissen nachzuweisen. 4 Kommunikationsprofil nach 1945 Das Ende des Zweiten Weltkrieges markiert nicht nur in der europäischen Geschichte den Beginn einer neuen Ära, sondern auch in der Geschichte der Ungarndeutschen. Solange die davor liegenden 250 Jahre – wenn auch nicht ohne Abstriche – aber doch vorwiegend Konstanz, Kontinuität und Erhalt charakterisiert, leitet 1945 eine Epoche ein, die in allen Bereichen des Minderheitendaseins durch Divergenz, Diskontinuität und Verlust geprägt ist. Die bedeutendste Verantwortung hierfür lastet zweifelsohne auf den damals politisch führenden Kreisen von Ungarn – nicht ohne Dazutun der Alliierten Siegermächte –, deren Minderheitenpolitik nunmehr nicht nur auf die Assimilierung, sondern auf die Entledigung des Deutschtums ausgerichtet war. Doch gesellen sich zu diesem verheerenden „Auftakt“ in den kommenden Jahrzehnten weitere, sowohl sprachexterne als auch -interne Gestaltungskomponenten, die miteinander verwoben ein gänzlich verändertes, eindeutig negatives Bedingungsgefüge für die Bewahrung von Sprache, Kultur und Identität schaffen. Im Folgenden soll darauf näher eingegangen werden. 5 Rahmenbedingungen Die Ungarndeutschen hatten nach dem Zweiten Weltkrieg – wegen ihrer zweifachen Bindung: als Deutsche und als ungarische Staatsbürger – die schwere Last des doppelten Verlierers zu tragen. Infolge der Vertreibung, der Verschleppung und der Kriegsverluste hat sich ihre Zahl beinahe halbiert, verloren haben sie auch fast ihre ganze Intelligenzschicht. Zurückgeblieben ist eine Restminderheit, Rechnungen zufolge von ungefähr 200-220.000 Personen, die darüber hinaus durch Enteignung, Entrechtung und diverse Repressalien derart eingeschüchtert und gedemütigt war, dass auf ihrer pragmatisch-strategischen „Prioritätenliste“ nichtAbsonderung, sondernAnpassunganersterStellestand, 128 Maria Erb und zwar in jeder, so auch in sprachlicher Hinsicht. Sehr eklatant zeigen das die Bekenntnisdaten der Volkszählung im Jahre 1949 mit insgesamt 22.455 deutschen Muttersprachlern und mit nur 2.617 Personen deutscher Identität: „Nach dem Krieg war ich kein Deutscher“; „Es gab Zeiten, wo man Ungar sein musste“ ; „Da hat man nicht viel geprahlt mit dem Schwobische’“ ; „Mi@ ham füü Schleig kriegt ... die Leh’rin hot k’sogt, mi@ söün dahaam schwowisch rein.“ – so die Erinnerungen der heute ältesten Generation an diese Zeit9 . Verändert hat sich nicht nur ihre Gesamtzahl, sondern als eine sehr wichtige Folge dessen, sank auch der Anteil der deutschen Bevölkerung in den einzelnen Ortschaften in beträchtlichem Ma e, was zur Auflösung der intakten Dorfgemeinschaften führte10: An Stelle der vertriebenen Deutschen wurden Ungarn – aus der Slowakei (ehemals Oberungarn), Migranten aus östlichen Landesteilen und die sogenannten „Szekler“ aus der Bukowina – angesiedelt, was Kenntnis und tagtägliche Verwendung des Ungarischen – zumal hierfür auch eine sehr eindeutige Erwartungshaltung bestand – unumgänglich machte, gleichzeitig aber den deutschen Sprachgebrauch deutlich reduzierte. Die veränderte ethnische Zusammensetzung der Siedlungen begünstigt darüber hinaus auch die Exogamie, statt der vorher eher typischen Endogamie. Die im Rahmen der sozialistischen Umgestaltung des Landes vollzogene Kollektivierung der Landwirtschaft führte zur Auflösung der bäuerlichen Einzelwirtschaften. Durch die Gründung der staatlichen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) wurde jedoch nicht nur die grundlegende wirtschaftliche Existenzform des Ungarndeutschtums zerstört. Die Bauernfamilie bildet nicht nur eine soziale, sondern auch eine Wirtschaftseinheit und Arbeitsgemeinschaft, was sich bis 1945 spracherhaltend ausgewirkt hat. Im Gegensatz dazu war in allen Betrieben, so auch in den landwirtschaftlichen, in denen nach der Verstaatlichung ihrer Felder die meisten Ungarndeutschen eine Anstellung gefunden haben, Ungarisch die Arbeitssprache. Die Zeit nach 1945 ist auch durch tief greifende soziale Umstrukturierungen geprägt, von denen hier nur auf zwei kurz eingegangen werden soll. An Stelle der Drei-Generationen-Familie trat immer mehr die Nuklearfamilie mit den Eltern und ihren unmündigen Kindern. Die noch mundartfeste Erlebnisgeneration der Großeltern hatte somit nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, die Sprachwahl in der Familie zu beeinflussen bzw. zur Tradierung der Muttersprache an die nachwachsende Generationen im Rahmen einer (primär) deutschsprachigen Sozialisation beizutragen: „Bis die Oma da woar, wurde mehr Schwäbisch g’sproche’“ ; „Wenn die Großeltern da sind, reden wir auch 9Die hier zitierten und alle weiteren mündlichen Äußerungen von Gewährsleuten werden in ihrer (oft dialektalen) Originalform gebracht und mit einer literarischen Transkription wiedergegeben. Erhoben wurden sie von Verfasserin im Rahmen von empirischen Untersuchungen größtenteils in Tarian/Tarján 2003-2004 (näheres dazu in Fußnote11), einige im Ofner Bergland (1995). 10In Südungarn waren vor 1945 deutsche Mehrheitsdörfer keine Seltenheit. 129 Maria Erb Deutsch“ . Nach 1945 wurde der Zugang zu höheren Bildungsstufen auch für ungarndeutscheKinder ermöglicht, was eine bedeutendesozialeDifferenzierung der ehemals vorwiegend dem Bauernstand angehörigen Minderheit mit sich brachte. Allerdings war jedweder soziale Aufstieg an Ungarischkenntnisse gebunden, denn ein Bildungsweg war ausschließlich in ungarischer Sprache möglich, was sehr oft damit einherging, dass gerade die Söhne und Töchter mit einem höheren Schulabschluss das heißt Mitglieder der neuen Bildungselite, für das Ungarndeutschtum verloren gingen. Außer den Obigen zeigt der Bildungssektor noch weitere Implikationen – und zwar in Bezug auf den Deutschunterricht. In den unmittelbaren Nachkriegsjahren wurde dieser in den meisten Ortschaften und Bildungseinrichtungen gänzlich eingestellt, seine Wiederaufnahme als Unterrichtsfach erfolgt vor allem ab Mitte-Ende der 1950er Jahre. Das Deutsche war an den Grundschulen ungarndeutscher Ortschaften nur als wählbarer, nicht obligatorischer Gegenstand desSprachunterrichts präsent – als solcherauchnicht in denTagesablauf integriert, sondern mit vor/nach dem regulären Unterricht abgehaltenen Zusatzstunden verbunden –, nicht aber als Unterrichtssprache, somit besaß es den gleichen Status wie im Schultyp-B in der Zwischenkriegszeit (siehe weiter unten) Die geringe Stundenzahl, der Mangel an entsprechenden Lehrwerken und didaktischen Methoden (siehe weiter unten) wirken sich nachteilig auf die Effektivität des Unterrichts aus. Auf der mittleren Bildungsstufe boten bis in die 80er Jahre hinein insgesamt drei Nationalitätengymnasien – in Fünfkir- chen/Pécs, Baje/Baja und Budapest – neben wöchentlich 12 Deutschstunden – teilweise deutschsprachigen Fachunterricht an, dieser beschränkte sich auf Geschichte und Geographie, stellenweise auf Gesang/Musik, später kam noch als neues Fach Grundlagen unserer Weltanschauung dazu. Eine Fachausbildung war in deutscher Sprache ebenso wenig möglich, wie ein Hochschul-oder Universitätsstudium, sogar die Deutschlehrerausbildung unterlag diesbezüglich Einschränkungen. Bereits diese Tatsachen weisen in Richtung des Sprachverlustes, besonders wenn man bedenkt, dass zu dieser Zeit Deutsch im familiären und informellen Bereich bereits deutlich auf dem Rückzug ist. Doch muss im Zusammenhang mit dem Minderheitensprachunterricht auf einen weiteren Umstand hingewiesen werden, mit weitgehenden negativen Konsequenzen für die eigentliche Muttersprache, den Dialekt: Zielsprache war einzig und allein die Standardvarietät, deren Vermittlung mit Ungarisch als Ausgangssprache unter vollkommenem Ausschluss der Mundart angestrebt wurde. Ihre Mundartkenntnisse empfanden die Schüler wegen der vielen Interferenzen eindeutig als Nachteil: Denn weder fielen ihre dialektbedingten Fehler unter mildere Bewertung, nochwurden ihnendie Diskrepanzen zwischen demSystem derbeiden Varietäten bewusst gemacht – wie dies in Deutschland in den 70er Jahren im Rahmen der Sprachbarrierendiskussion angestrebt wurde –, um dadurch ihre sprachlichen Vorkenntnisse in den Dienst einer effektiveren Sprachvermittlung 130 Maria Erb zustellen. Dieals bürgerliches Herrschaftswissen abgestempelteSoziolinguistik bzw. dieindieserHinsichtrelevanteBernstein-HypotheseerreichteUngarnerst in den späten 70er Jahren, daher wurde das Problem im Rahmen der Minderheitenpädagogenausbildung gar nicht diskutiert. Die Standardfixiertheit des Sprachunterrichts – die dem Dialekt auf indirekte Weise den Status einer kohärenten Sprachvarietät mit einem in sich erklärbaren, daher folgerichtigen System absprach –, wirkte sich bei vielen nicht nur auf die Sprachkenntnisse in beiden Varietäten negativ aus, sondern führte auch zur Stigmatisierung des Dialektes als verdorbenes, nicht-richtiges, schlechtes Deutsch – mit Konsequenzen für seine Tradierung: „Die Enkelkinder lernen in der Schule die Hochsprache, man kann sie nicht irre machen, dann täten sie Deutsch mit dem Schwobischen mischen“ ;„Die Enkel fragen nach, weil sie es nicht verstehen, in der Schule haben sie was anderes gelernt.“; „Immer weniger sind es, die Dialekt verstehen und sprechen. Standarddeutsch hat einen Wert, das wird in der Schule unterrichtet.“ ; „Unsere Sprache [der Dialekt] ist keine richtige Sprache.“ Hinterfragt oder relativiert werden konnte diese Abstempelung des Dialektes bis Anfang der 90er Jahre so gut wie nicht: Wegen der geographischen Entfernung bzw. den Reisebeschränkungen besaß die überwiegende Mehrheit der Ungarn- deutschen kaum Kenntnisse und Erfahrungen über die bis zum heutigen Tage bestimmende Rolle der arealen Varietäten auf dem geschlossenen deutschen Sprachgebiet vor allem im sprechsprachlichen Bereich. Zu den bisher behandelten, mehrheitlich im sprachexternen Bereich angesiedelten Steuerungsfaktoren gesellt sich ein letzter, mehrschichtiger Fragekomplex eindeutig sprachlicher, vor allem varietätenlinguistischer Prägung. Wegen seiner Relevanz wurde er bereits in historischen Dimensionen erörtert (siehe Kapitel 2.1), teils haben ihn auch vorherige Ausführungen über den Minderheitensprachunterrichttangiert. DainunseremFalleAusgangzugleichEingang ist, sollen die zwei wichtigsten Charakteristika der sprachlichen Binnenstruktur um 1945 kurz in Erinnerung gerufen werden: Zum einen ist als Muttersprache ungarndeutscher Gemeinschaften der Ortsdialekt zu betrachten; Zum anderen konnten sich die höheren Varietäten – die Standardvarietät mit eingeschlossen – in ihre Kompetenz-und Sprachgebrauchsstruktur nicht (nennenswert) eingliedern. Dialekte unterliegen als Substandarde gewissen Beschränkungen: Sie sind räumlich begrenzt, nicht vollständig ausgebaut, vor allem in sprechsprachlichen Alltagssituationen leistungsfähig und weisen sowohl in ihrem Wortschatz als auch in ihrer Sprachstruktur – vor allem im Vergleich zur Standardvarietät – eine geringere Komplexität auf. Dennoch konnten die ungarndeutschen Basisdialekte die kommunikativen Bedürfnisse ihrer Sprechergemeinschaften – mehrheitlich fernab von Novationsgebieten gelegen, mit einer primär nicht an Sprache gebundenen Erwerbsstruktur und auch wenig extensiver Kommunikation – bis 1945 praktisch als Vollsprachen (siehe weiter oben) fast vollständig abdecken. In Folge der sozialen Umwälzungen, der größeren Mobilität, der 131 Maria Erb technisch-wissenschaftlichen Entwicklung und des immer mehr um sich greifenden Modernisierungsprozesses mit Häufung von Prestigegütern ändert sich die Situation ab den 1960er Jahre zusehends11 . In den Dialekten tun sich sehr bald in erdrückender Zahl Nominationslücken auf, die sie als sogenannte „dachlose Außenmundarten“ mit einem sehr geringen Modernisierungsstadium in Unkenntnis der eigenen Hochsprache bzw. in Ermangelung eines sprachlichen Überbaus und derKontakte zum deutschen Sprachgebiet nur mitHilfe des Ungarischen als Innovationssprache schließen können.12 Dieses kommunikative Defizit wird von den Sprechern nicht nur festgestellt, es veranlasst auch bekennende Mundartsprecher immer öfter dazu, vom Gebrauch bzw. Tradierung des Dialektes Abstand zu nehmen: „Was du von der Oma gelernt hast, damit kann man heute nichts mehr anfangen.“ ; „Es gibt Dinge, Begriffe, die man auf Deutsch [das heißt in der Mundart] nicht sagen kann.“ ; „Unser Wortschatz im Schwäbischen ist sehr arm.“ ; „Der Wortschatz des Dialektes hat sich nicht entwickelt.“ ; „Schwowisch ist zurückgeblieben.“ ; „Am Anfang hemm@r deutsch geredt mit den Kindern. Aber jetzt, wo man mehr zum sagen hat, als was man ausdrücke’ kann, ungarisch.“ Dieses komplexe, daher in seinen Auswirkungen in gesteigertem Maße wirksame, negative Bedingungsgefüge löst in Bezug auf die Minderheitensprache, den Dialekt intensive und vielschichtige Verlustprozesse aus, die heute bereits ein Stadium erreicht haben, wo sie nicht mehr gestoppt, geschweige denn umgekehrt werden können. Auch dann nicht, wenn ab Anfang der 90er Jahre, im Zusammenhang mit dem politischen Systemwechsel sich bestimmte positive Veränderungen abzeichnen, doch wirken sich diese primär nicht auf den Erhalt des Dialektes aus, sondern fördern – vor allem auf schulischem Wege und bei den heranwachsenden Generationen – die Etablierung der deutschen Standardvarietätund lassen dadurchdie vorerstnochvagen Konturen einesVarietätenwechsels innerhalb der Muttersprache (im weitesten Sinne) erkennen. Diese positiven Veränderungen zeichnen sich sowohl im privaten als auch im offiziellen Bereich ab. Erwähnt werden soll allen voran das 1993 verabschiedete Minderheitengesetz, das den 13 historischen, eingesessenen Minderheiten des Landes sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene weitgehende Rechte in der Ausübung und Bewahrung ihrer Sprache und Identität einräumt. Ermöglicht wurde dadurch unter anderem der Ausbau eines Netzwerkes von InstitutionenundOrganisationen, vondenenderhorizontalewievertikaleAusbau des ungarndeutschen Schulwesens und seine Neugestaltung sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht von besonderer Bedeutung sind, zumal die Bildungseinrichtungen und nicht die Familien in der Sprach-und Identi 11Im Bereits erwähnten Korpus der ungarischen Lehnwörter vor 1945 befinden sich insgesamt nur 16, die meisten sind Einzelbelege, die zu den sogenannten Sachmodernismen gezählt werden können. So unter anderem: óvoda/kisdedóvó ’Kindergarten’; mozi ’Kino’; posta ’Post’; postás ’Briefträger’; villanyos ’Straßenbahn’; vonat ’Zug’; zózó ’Stampfmaschine’. 12Sprachbeispiele s. dazu in Kap. 3.3. 132 Maria Erb tätsvermittlung die zentrale Rolle spielen.13 Immer mehr ungarndeutsche Eltern wollen ihren Kindern den Erwerb der deutschen Sprache auf schulischem Wege sichern, wozu das hohe Prestige und die Verwertbarkeit des Deutschen auf dem heimischen und internationalen Arbeitsmarkt in nicht unerheblichem Maße beitragen. Regelmäßige Kontakthaltung zum Mutterland fördert – durch neue Impulse – den Erhalt der Sprache und Kultur von Sprachinselminderheiten. Nach dem Zweiten Weltkrieg und in der Zeit des Kalten Krieges wurden von ungarischer Seite, wenn überhaupt, dann fast ausschließlich Kontakte zur DDR gefördert, da es aber den siedlungsgeschichtlichen Tatsachen gänzlich widersprach, haben die Ungarndeutschen die DDR als Mutterland auch nicht akzeptiert. Bis zur sogenannten ‚politischen Wende’ Ende der 80er Jahre waren die Kontakte zu Deutschland und Österreich sehr eingeschränkt. Ab Anfang der 1990er Jahre können auch in dieser Hinsicht positive Veränderungenfestgestellt werden: unter anderem Öffnung der Grenzen, Aufhebung der Reisebeschränkungen, Gründung von zahlreichen Siedlungs-und Institutionspartnerschaften, Stipendien-und Arbeitsmöglichkeiten im deutschsprachigen Ausland oder in deutschen/österreichischen Firmenniederlassungen. Und schließlich sollen die Massenmedien aus dem deutschsprachigen Ausland erwähnt werden, denn sie spielen – allen voran das Fernsehen – eine nicht unerhebliche Rolle in der Revitalisierung von Sprache und Kultur (vgl. Erb/Knipf 1995). Seit Ende der 1980er Jahre können in Ungarn auch deutschsprachige Fernsehsender empfangen werden und einschlägige Untersuchungen zeigen, dass von den Ungarndeutschen diese Möglichkeit auch in hohem Maße genutzt wird. Die vielschichtigen Programmangebote der öffentlichen und privaten Sender wirken nicht nur sprachfördernd, sie ermöglichen auch eine engere – wenn auch virtuelle – Einbindung in die Gemeinschaften der Mutternationen. 5.1 Sprachvermittlung, Sprachaneignung In der Tradierung von Minderheitensprachen kommt den Familien eine primäre Rolle zu. Bei den Ungarndeutschen umso mehr, da ihre als Muttersprache gesprochene Varietät des Deutschen ein Dialekt ist, dessen Aneignung nur in natürlichen Sprecherwerbsprozessen möglich ist. Nach 1945 lastet auf ihnen eine noch größere Verantwortung in dieser Hinsicht, denn in einer vom Ungarischen dominierten Umwelt ist weder die Entwicklung bzw. der Ausbau der Kenntnisse, geschweige denn der Erwerb der Muttersprache möglich. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges erfüllen die Familien diese Funktion – auch unterstützt durch die weite Geltung des Deutschen im Alltag – und sicherten dadurchdiesprachlicheKontinuitätzwischendenzahlreichenGenerationenseit der Ansiedlung. 13S. dazu den Beitrag von Müller über den DaM-Unterricht in Ungarn in diesem Band. 133 Maria Erb Solange eine ungarischsprachige primäre Sozialisation damals eher die Ausnahme war, und die Mehrheitssprache – wenn überhaupt – auf schulischem Wege und/oder durch Kontakte zu den Ungarn als Zweitsprache erworben wurde, ist sie heute die Regel. Nur eine verschwindend geringe Zahl der Familien praktiziert eine ausschließlich deutschsprachige Erziehung – vor allem in Südungarn, wo wegen der Kompaktheit des deutschen Siedlungsgebietes und derimmernochhohenAnzahlderSprecherderProzessdesSprachverlustesund des Sprachwechsels – im Vergleich zu anderen Gebieten – mit einer bestimmten Verzögerung vor sich geht14. Höher liegt die Zahl jener Familien, die ihre Kinder zweisprachig erziehen, oder in denen Dialekt als Familiensprache teilweise präsent ist, meist allerdings in der Kommunikation zwischen den Großeltern bzw. zwischen Eltern und Großeltern und nicht als bewusst vermittelte, an die Kinder gerichtete Sozialisationssprache. Dadurch ist der Erwerb bestimmter Kompetenzen zwar möglich, die vollständige Aneignung der Muttersprache jedochnicht, auchreichendieeingeschränktenundmeistnur passivenKenntnisse für einen aktiven Gebrauch nicht aus. Erwähnt werden soll noch ein wichtiger Umstand: Auch in Familien mit einer (teilweise) deutschsprachigen Erziehung wird vom Gebrauch des Deutschen nach der Einschulung der Kinder immer mehr Abstand genommen und die Proportionen der beiden Sprachen verschieben sich deutlich zu Gunsten des Ungarischen. 5.2 Sprach-und Varietätenkompetenzen15 Die ungarndeutschen Gemeinschaften erleben seit 1945 einen immer mehr um sich greifenden Sprachverlust (Dialektverlust) und befinden sich zugleich in einem permanenten, intensiven Sprachwechselprozess, der heute bereits ein sehr fortgeschrittenes Stadium erreicht hat. Charakteristisch für sie ist eine rezessive Zweisprachigkeit mit eindeutiger Dominanz der Mehrheitssprache. Wie sich dies in den aktiven und passiven Dialekt-, Standard-und Ungarischkompetenzen äußert, zeigt nachstehende Grafik:16 14Zur Rolle des Deutschen in der primären Sozialisation s. Jäger-Manz 2007. 15SeitMitteder1990erJahrenimmtdieZahlder empirischenUntersuchungen zumSprachgebrauch der Ungarndeutschen erfreulicher Weise zu. Siehe dazu unter anderem: Erb / Knipf 1998; Erb / Knipf 2000, 2001; Gerner 2003; Knipf 2003; Deminger 2004; Manz 2007. 16Die Statistiken basieren auf einer Teilmenge jener empirisch gewonnenen Daten, die im RahmeneineslandesweitenProjektesmitdemTitel„A nyelvimásságdimenziói: Akisebbségi nyelvek megõrzésének lehetõségei“(„Dimensionen des sprachlichen Andersseins: Möglichkeiten der Bewahrung von Minderheitensprachen“) von der Verfasserin des Beitrags erhoben wurden. Hauptzielsetzung des Projektes ist, statt der bisher praktizierten, auf einzelne Minderheiten beschränkten Forschungen die kontrastive Untersuchung des Sprachgebrauchs von sechs ungarländischen Minderheiten – der deutschen, der slowakischen, der serbischen, der kroatischen, der roma und der rumänischen –, mit besonderer Berücksichtigung der Symptome, der Steuerungsfaktoren, der Formen und Stadien des sich seit geraumer Zeit abzeichnenden Sprachwechsels in diesen ethnischen Gruppen. Die einzelnen Minderheiten wurden durch jeweils eine, als prototypisch erachtete Ortschaft repräsentiert, im Falle der Ungarn 134 Maria Erb ! Abbildung 2: Aktive und passive Sprachkompetenzen: ganze Stichprobe (N = 70) Abzulesen ist folgender Befund: Die besten Kompetenzen können die Probanden in der ungarischen Sprache vorweisen, gefolgt vom Dialekt und der Standardvarietät. Bei allen drei Sprachen liegen die passiven Kompetenzen naturgemäß höher als die aktiven, doch sollte man die Unterschiede zwischen den zwei Werten nicht außer Acht lassen. Diese sind beim Ungarischen nicht nur am geringsten, sondernverschwindend klein, beim Dialektdagegen am größten, was als Anzeichen für die Unsicherheit der Dialektkenntnisse und damit als ein Symptom des Sprachverlustes gewertet werden kann. Die ziemlich hohe Verstehenskompetenz lässt darauf schließen, dass die Mundart in der Kommunikation noch präsent ist, und von den Mitgliedern der Sprechergemeinschaft im Prinzip auch angeeignet werden kann. Dass dieses passive Wissen auf einem schlechteren Niveau produktiv umgesetzt wird, deutet darauf hin, dass der Dialekt im aktiven Sprachgebrauch – im Vergleich zum Ungarischen – eine eher untergeordnete Rolle spielt. Dass die Werte der Standardvarietät am niedrigsten sind, ist nicht verwunderlich, gliedert sie sich doch erst in letzter Zeit und lang deutschen war dies Tarian/Tarján im Komitat Gran-Komorn, 70 km von Budapest gelegen. DasBefragungsinstrumentbeinhaltet143, meistgeschlosseneGrundfragen,dieineinemstark strukturierten, auch auf Tonband festgehaltenen Interview zwischen Oktober 2004 und April 2005 abgefragt wurden. Die nach den sozialen Variablen Alter (21–40; 41–60; 61– 80), Geschlecht und Schulausbildung (Grundschule bzw. Berufsschule; Abitur; Hochschulabschluss) geschichtete Stichprobe umfasste 70 Probanden. Zum Messverfahren: Die Probanden wurden gebeten, ihre Kompetenzen auf einer Skala von 1 (= gar nicht) bis 5 (= ausgezeichnet), gleich dem Notensystem an ungarischen Schulen, einzuschätzen. Das Projekt (5/126/2001) wurde vom Ungarischen Wissenschaftsfond (NKFP) gefördert. 135 Maria Erb sam in die Kompetenzstruktur der Ungarndeutschen ein. Sowohl Sprachverlust als auch Sprachwechsel haben einen graduellen Charakter, daher erweist sich das Alter als wichtigste soziale Variable. Das führt gleichzeitig dazu, dass die Kompetenzstrukturen der einzelnen Generationen Unterschiede aufweisen: Abbildung 3: Aktive und passive Sprachkompetenzen nach Altersklassen: ganze Stichprobe (N = 70) Hinsichtlich der drei Sprachen kann folgendes festgestellt werden: Die Ungarischkenntnisse sind bei allen drei Altersgruppen die höchsten, mit fast identischen Werten. Im Gegensatz dazu zeigen die beiden autochtonen Varietäten – als Zeichen ihrer bereits beziehungsweise noch instabilen Position –, eine deutliche, und zwar adversative Staffelung in der Generationsabfolge: Die Dialektkompetenzen sinken von der alten in Richtung der jungen Generation, die StandardkenntnissevonderjungeninRichtungderaltenGeneration. Aufmerksamkeit geschenkt werden muss noch folgenden Tatsachen: Neben der Gradualität des Dialektverlustes ist auch abzulesen, dass dieser Prozess nicht gleichmäßig verlief. Aus den Kompetenzdaten ist zu entnehmen, dass er zwischen der mittleren und jungen Generation deutlich an Intensität gewinnt: Während der Unterschied zwischen den beiden älteren Altersklassen 0,15 bzw. 0,84 Noten ausmacht, beläuft er sich zwischen der mittleren und jungen Generation bereits auf 1,1 bzw. 1,21 Noten. Dies bekräftigen auch die Diskrepanzen zwischen aktiver und passiver Mundartkompetenz der einzelnen Altersgruppen (0,15 vs. 1,04 vs. 1,34 Noten). Die Jugend spricht bereits besser die Standardvarietät als den Dialekt, auch setzt sie ihre Verstehenskompetenzen mit mehr Sicherheit in die Sprachproduktion um, dennoch gehen ihre Kenntnisse über ein Mittelmaß (noch) nicht hinaus. Die Kenntnis der Hochsprache ist bei den über 61jährigen mehr als bescheiden und reicht für eine Konversation kaum aus: „Mi@r kcen@ kcoan Brief stark zamstell@ uf Taitsch.“ Ihre Verstehenskompetenzen, die immerhin mittelmäßig sind, haben sich erst in letzter Zeit entwickelt, vor allem durch die Fernsehsendungen aus dem deutschsprachigen Ausland, aber auch durch regelmäßige Kontakte zu Deutschsprachigen, die ab den 90er Jahren wieder möglich 136 Maria Erb waren. Die Wirkung der Massenmedien zeigt folgende Bemerkung einer Probandin sehr treffend: „Am Ofang hom’se so kschwindt geredt, dass ich hob’se pal net verstane. Jetzt rede’se awer schee staat, so dass ich sie a versteh’.“ Wenn die Angaben nicht nach Sprachen, sondern nach Altersklassen differenziert betrachtet werden, ergibt sich folgendes Bild: Das Tertium comparationis in den Kompetenzstrukturen bildet das Ungarische, es ist die Sprache, die alle drei Generationen am besten sprechen. In Kenntnis der beiden eigensprachlichen Varietäten unterscheiden sie sich aber deutlich, vor allem die alte von der jungen Altersgruppe. Das wirft die berechtigte Frage auf, ob in einer dieser Varietäten eine Kommunikation zwischen den Generationen möglich ist. 5.3 Sprach-und Varietätengebrauch Der gegenwärtige Sprachgebrauch der Ungarndeutschen ist mehrfach von Diskontinuität geprägt. Ihre funktionelle Erstsprache ist das Ungarische, das sie nichtnur ambesten beherrschen, sonderndaraus resultierend – sowohl inprivaten als auch in öffentlichen Bereichen – auch am meisten gebrauchen, wie dies nachfolgende Grafik (siehe Abbildung 4) mit dem proportionalen Anteil von Deutsch (vorwiegend Dialekt) und Ungarisch im Sprachgebrauch auch schildert17 . Der Dialekt spielt eine immer geringere Rolle in ihrer Kommunikation: Den Großteil seiner ehemaligen Funktionen als Vollsprache verloren, wird er – fast ausschließlich von der älteren, in Südungarn teils noch von der mittleren Generation – in informellen Situationen, im Familien-und Freundeskreis verwendet und ist auch in diesen Domänen der starken Konkurrenz des Ungarischen ausgesetzt. DiejungeGenerationverwendetsogutwieniedenDialekt: Siegiltmit ihren vorwiegend passiven Kompetenzen als halbsprachig, was sich gelegentlich in asymmetrischer Kommunikation äußert: Die Großeltern sprechen Dialekt, den die Enkel zwar noch verstehen, ihre sprachliche Reaktion kommt aber auf Ungarisch. Auch die Unterschiede im Kompetenzgrad der beiden autochtonen Varietäten begünstigen in der Kommunikation zwischen den Generationen eine auf das Ungarische als Tertium comparationis ausgerichtete Sprachwahl: „Ich kann nicht so gut Schwäbisch wie meine Mutter, sie wiederum kann kein Hochdeutsch, daher wechseln wir oft ins Ungarische.“ Funktionsverlustbzw. geringe Verwendungsbereitschaft auch seitens noch kompetenter Sprecher, liegen auch darin begründet, dass der Dialekt seiner Darstellungsfunktion immer weniger nachkommen kann. Ihren Bedarf an neuen Wörtern decken die Sprecher – wie bereits erwähnt – im Rückgriff auf das Ungarische. Von den zahlreichen, allgemein verbreiteten neueren Entlehnungen, die den Dialekten lautlich nicht angepasst werden, sollen hier nur einige Auswahlbeispiele stehen: porszívó ’Staub 17DieGrafikbeinhaltetdieAngaben zurSprachwahlinBezugauf27Domänen, Situationen und Gesprächspartner (n= 70). 137 Maria Erb ! Abbildung 4: Sprachwahl: ganze Stichprobe (N = 70; n= 1475) sauger’, hûtõ(szekrény) ‚Kühlschrank’, fürdõ (szoba) ’Bad’ kazán ’Heizungskessel’, központi fûtés ’Zentralheizung’, étkészlet ’Service/Tafelgeschirr’, híradó ’Tagesschau’, bérlet ’Monatskarte’, kukta ’Schnellkochtopf’, kuka ’Mülltonne’, jénai (tál) ’Geschirr aus hitzebeständigem Jenaer Glas’, fotel ’Sessel’, fûnyíró ’Rasenmäher’, mosogató ’Spülbecken’ mosogatószer ’Spülmittel’, egyetem ’Universität’, fregoli ’Wäschespinne’, TV (televízió) ’Fernseher’, távirányító ’Fernbedienung’, mikro(hullámú) sütõ ’Mikrowelle’, mobil ’Handy’, sorozat ’Fernsehsehrie’. Die Wirkung des Ungarischen auf den dialektalen Sprachgebrauch beschränktsichjedochnichtnuraufdiese Bedürfnisentlehnungen: Ihredominante Stellung in der Kompetenz-und Sprachgebrauchsstruktur der Sprecher äußert sich in einer breiten Palette von Kontaktphänomenen – Ad-hoc-Entlehnungen, Codeswitching, Codemixing, Codeshifting –, die zur Pidginisierung des Dialektes führen. Während sprachliche Äußerungen vor 1945 eindeutig dem Dialekt oder dem Ungarischen zuzuordnen waren, ist dies heute meist nicht mehr möglich. Auf der Basis der beiden Sprachsysteme und Wortschätze entstehen Mischvarietäten verschiedenster Ausprägung – mal mit Dialekt, mal mit Ungarisch als Matrixsprache –, die von den Sprechern nicht nur hochfrequent 138 Maria Erb gebraucht, sondern von den meisten auch akzeptiert werden18: „Hauptsach’, man kann sich verständige.“ ; „Wir sind doch in Ungarn, ein jeder versteht’s“ ; „Viel besser, wenn sie so schwäbisch sprechen, als wenn gar nicht.“ Ihnen wird auch eine reiche Vis comica zugeschrieben, kreative, ungewöhnliche Konstruktionen werden weitererzählt und sorgen für Witz und Belustigung: „Der jegyzõ hat gehímezt-gehámozt“ (ung. jegyzõ ’Notar’; ung. hímezni-hámozni ’hin und her reden, sich winden’). Neben dieser pragmatischen Einstellung gibt es auch kritische Töne in der Beurteilung, allerdings weniger: „schlechte Angewohnheit“ ; „Sie sollen entweder ungarisch sprechen oder deutsch“ ; „Die Verstehbarkeit für die Ausländer ist dann nicht mehr da.“ Der Sprachverlust äußert sich auch in neuen Funktionen des Dialektes. Einerseits wird er vor allem von der noch mundartfesten alten, teils auch von der mittleren Generation als Sprache der Ausgrenzung (Geheimsprache) eingesetzt, was auch in Anwesenheit von Kindern und Jugendlichen die Besprechung von bestimmten Erwachsenenangelegenheiten möglich macht. Andererseits ist er in Form von kürzeren Dialekt-Einschüben (Ein-Wort-Insertionen, Ein-Satz- Insertionen) in einer ansonsten vollkommen ungarischsprachigen Konversation ein Emblem für Witz und gute Laune – somit wohnt auch ihm eine Vis comica inne, wie dies dem Dialekt allgemein zugeschrieben wird: „Kummt’s esse¡‘ ; „I hob kca Zaait.“ ; „Mi lesz ma, Mama? Topfestruul¿‘ („Was gibt es heute, Oma? Topfenstrudel?¨). Bekanntlich wirkt sich Funktionsverlust und geringer Gebrauch einer Sprache auch auf ihre Struktur aus. Bestimmte Segmente, Systemeinheiten fallen aus, die Sprache erodiert, was den Verlust von noch weiteren Funktionen nach sich zieht. Am prägnantesten zeigt sich der Dialektabbau bei den Ungarndeutschen nach 1945 im Wortschatz. Betroffen davon ist zum einen der bäuerliche Grundwortschatz, wobei dieser Befund sehr stark mit wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungsprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg korrespondiert: Kollektivierung der Landwirtschaft und dadurch Auflösung der Bauernfamilien als Wirtschaftseinheiten, Industrialisierung, Modernisierung, Zugang zu höheren Bildungsebenen und dadurch Umstrukturierungen in der Berufsstruktur – um nur die wichtigsten in Erinnerung zu rufen. Sehr eklatant zeigt sich dieser Wortschwund im ersten Halbband/Südungarn des Ungarndeutschen Sprachatlas (UDSA)19, in dem die meisten Belege, die nicht mehr erinnert werden konnten, eben im bäuerlichen Grundwortschatz zu verzeichnen sind20: Siehe Abbildung 5. Wenn dies auch Verluste für die Wissenschaft, allen voran für die Dialektologie sind, beeinträchtigen sie die Leistungsfähigkeit der Mundarten nur in ge 18Vgl. dazu unter anderem Földes 2005. 19Brenner, Koloman / Erb, Maria / Manherz, Karl [in Zus.arbeit mit Dingeldein, Heinrich J.]: (2008) Ungarndeutscher Sprachatlas. Südungarn. Erster Halbband. Budapest: ELTE Germanisztikai Intézet. 20Die Gesamtzahl der Erhebungsorte beträgt 134. 139 Maria Erb Abbildung 5: Lemmata des UDSA mit den meisten fehlenden Belegen ringerem Maße. Eine andere Art des Abbaus, die sich immer mehr abzeichnet, schränkt dagegen die Ausdrucks-und Appelfunktion der Dialekte erheblich ein – nicht ohne negative Konsequenzen für ihren Gebrauch. Ihre beeindruckende Ausdifferenziertheit – vor allem im positiv-oder negativ-expressiven Bereich, in der Wahrnehmung von Sinneseindrücken, Bewegungsabläufen –, ihr Hang zu Kraftausdrücken, zur Bildhaftigkeit, zu parömiologischen Einheiten – festen Wortverbindungen, Redensarten, Sprichwörtern –, gehören im Allgemeinen zu den Stärken des Dialektes als Varietät. Werden diese abgebaut, haben wir es mit einer Uniformierung des sprachlichen Ausdrucks zu tun: Dialekte verlieren nicht nur ihre Vorzüge – sie werden blutleer, farb-und glanzlos –, sondern sind auch nicht mehr im Stande – wie vor 1945 –, zugleich als Sprache der Nähe und als Sprache der Distanz zu funktionieren. Nachstehende Auswahlbeispiele aus meinem Heimatdialekt (Wemend/Südungarn) sollen dies veranschaulichen: Man isst und trinkt nicht mehr kâx ’hastig’ sondern nur kšwind(ix); es gibt keinen kc¯ots@t ’männliche Katze: Kater’ mehr, lediglich nur eine kcats; auch heißt eine ’große, dicke Scheibe Brot’ nicht mehr ra­g@, sonder nur ’@ kros/tek štek (prôt), will man eine ganze Scheibe Brot haben, verlangt man ein štek/@ šaiw@ (prôt) nicht aber ein remštek; ein süßes, dickliches Kleinkind ist höchstens @ koltix ten­, aber kein pond@witsj@, wie auch der (meist runde) Zierkürbis’ kein pond@witsj@ mehr ist‚ sondern nur @n klan@ kcir@ps; ist jemand nach einer Krankheit oder nach einem Unwohlsein wieder auf dem Wege der 140 Maria Erb Besserung, dann ist er nicht all¯e@t, @s k¯et’n allenfalls wid@r pez@r; remklrak¯el tut man auch nicht mehr, man kraišt höchtens laut rem; ein ’kleines Messer mit Holzstiel, meist von schlechter Qualität’ ist kein šlap@rpeklj@, sondern nur @ kl¯a (šlext) mez@rje; bei einem Gewitter plitst’ts nur noch, es tut aber nicht mehr w¯ed@ropkc¯il ’Wetterleuchten’, bei dem nach einem kleinen Blitz/kurzer Erhellung des Himmels kein Donner folgt; man šmaiG@lt den Leuten nur noch, aber man mext kca kratsfisj@; das kc¯id@n’kichern, unerzogen rumlachen’ gibst auch nicht mehr, man laxt nur rem, höchstens trekix; Kinder suchen im Hühnerstall nur noch nach ¯ ai@r, nicht aber nach kakâtsi; großwüchsige Menschen sind nicht mehr la­ w¯i @ p¯on@šta­@, sondern nur noch krôs; trinkfeste Menschen mit einem bedeutenden Alkoholkonsum tren­@ fil, aber sauw@ nicht w¯i @n pi@št@pen­@; ein übergewichtiger Mensch hat allenfalls @nk@tixtig@n/tek@n oaš aber keinen oaš w¯i @n oxtoxtlts pau@r. Die deutsche Standardvarietät – als Fremdmuttersprache, ohne historische KontinuitätimKommunikationsprofilderUngarndeutschen –gliedertsichzwar in letzter Zeit langsam und in generationsmäßiger Staffelung in die Kompetenzstruktur ein, doch spielt sie im Sprachgebrauch neben Ungarisch und dem Dialekt bislang eine untergeordnete Rolle. Sie findet in Alltagsinteraktionen kaum Verwendung – mit der Ausnahme einer Gruppe von engagierten Ungarndeutschen, meist Intelligenzler, die die Standardvarietät (seltener den Dialekt) auch in privat-informellen Situationen, nicht zuletzt aus demonstrativen Zwecken und um andere zum Nachahmen zu animieren, gebrauchen. Auch für die ungarndeutsche Jugend, die als Standardgeneration bezeichnet wird, ist sie nicht die Sprache des natürlichen sprachlichen Umgangs, für die Schüler ist sie die Sprache der Unterrichtsstunden, nicht aber die der Pausen. Dennoch lässt sich feststellen – betrachtet man die Entwicklungstendenzen der letzten beiden Jahrzehnte –, dass sie sich in bestimmten Bereichen und Funktionen zunehmend zu etablieren scheint. Nach der klassischen, auf Komplementarität ausgerichteten Domänenverteilung zwischen Dialekt und Hochsprache wird sie in minderheitenbezogenen öffentlichen, offiziellen Situationen (unter anderem Kulturprogramme, Wettbewerbe, Sitzungen von Minderheitenselbstverwaltungen, Vereinen) eingesetzt bzw. findet Verwendung in der deutschsprachigen Schriftlichkeit (unter anderem Korrespondenz, Verträge, Bewerbungen, Presse) und nicht zuletzt in der Kontakthaltung mit dem deutschsprachigen Ausland. Abschließend soll noch eine weitere Folge des Sprachverlustes bzw. der instabilen Sprachsituation kurz tangiert werden: Für Sprachminderheiten ist die Muttersprache nicht nur ein Kommunikationsmittel, sondern als primäres Gruppenabzeichen zugleich auch das wichtigste identitätsstiftende Element. Ihre Muttersprache galt für die Ungarndeutschen bis vor kurzem als die primäre Bezugsgröße ihrer Selbstbestimmung – wie dies auch den einschlägigen Angaben der in zehnjährigen Abständen durchgeführten staatlichen Volkszählungen zu entnehmen ist: Die Bekenntnisdaten zur deutschen Muttersprache 141 Maria Erb lagen bis 1990 durchgehend immer höher als zur deutschen Identität. Ein deutlicher Wechsel stellt sich 2001 ein: Fast doppelt so viele bekannten sich zur deutschen Identität (62.233) als zur deutschen Muttersprache (33.192). Dieser Unterschied spiegelt einerseits die durch Status-und Funktionsverlust gekennzeichnete instabile Sprachsituation wider, gleichzeitig signalisiert diese Diskrepanz aber auch eine Umstrukturierung im Identitätsgefüge, in dem eine deutsche Identität auch ohne Deutsch als Muttersprache möglich ist. Die Sprache verliert ihre in dieser Hinsicht bestimmende Rolle, die immer mehr von kulturellen Repräsentationsformen – allen voran: Tanz, Gesang, Musik, aber auch Brauchtumspflege – übernommen wird. Dies bekräftigen nicht nur einschlägige empirische Untersuchungen, sondern auch die Tatsache, dass von allen Bekenntnisdaten des Jahres 2001 mit 88.416 Personen die Zahl derjenigen am höchsten lag, die eine Bindung an die deutsche Kultur angegeben haben. 6 Vage Blicke in die Zukunft Die SprachgegenwartderUngarndeutschen kennzeichnen –nebenUngarischals konstante Größe – in Hinblick auf die beiden autochtonen Varietäten dynamische Prozesse und enorme Instabilität: Der Dialekt ist im Gehen, die Standardvarietät im Kommen begriffen. Dass die Mundart für viele nicht mehr, und die Standardvarietät noch nicht die Kriterien einer Muttersprache erfüllt, beweisen auchdieeingangszitiertenZensusdatenausdemJahre2001sehrprägnant: Nur für 33.192 Personen besitzt Deutsch diesen Status, um 20.000 höher liegt die Zahl derjenigen, die Deutsch im Familien-und Freundeskreis zwar verwenden – allerdings ohne dieses Qualitätssiegel. In Anbetracht der erheblichen funktionellen und strukturellen Verluste einerseits, und der Generationsexklusivität von Kompetenz und Gebrauch andererseits, muss mit dem Verschwinden des Dialektes in absehbarer Zeit gerechnet werden. Umso wichtiger ist es, dass der eigensprachliche Varietätenwechsel zu Gunsten der Standardvarietät beschleunigt und vollzogen wird. Anzustreben ist die Ausdehnung des Geltungsbereichs des Deutschen sowohl im Privaten als auch im Öffentlichen und dadurch statt der rezessiven eine ausgeglichene Zweisprachigkeit. Den Bildungseinrichtungen21 – mit ihrer zentralen Rolle in der Tradierung von Sprache, Kultur und 21Seit 2004 erscheint in der Trägerschaft der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen und des Ungarndeutschen Forschungs-und Lehrerbildungszentrums die pädagogische Fachzeitschrift Deutsch revital. Die bisher erschienenen 6 Hefte enthalten vor allem praxisbezogene Beiträge für alle Stufen des ungarndeutschen Bildungswesens und ermöglichen einen fachlichen Austausch zwischen den einzelnen Pädagogen und Bildungseinrichtungen. Vor kurzem (Mai 2010) ist – das erste Mal in der Geschichte der Ungarndeutschen – ein Leitbild des ungarndeutschen Bildungswesens mit dem Titel „Wurzeln und Flügel“ erschienen – erstellt von einem Expertenteam, das sich in der zweiten Phase des Projektes ab September mit der Operationalisierung d.h. der Ausformulierung der nötigen Schritte und Maßnahmen befassen wird. 142 Maria Erb Identität – sowie den heranwachsenden Generationen kommt dabei eine Schlüsselposition zu: Werden sie als Eltern den Status der deutschen Sprache, die sie als Zweit-und Fremdsprache erlernt haben, ändern und sie als Erst-und Muttersprache in der Erziehung ihrer Kinder einsetzen, wird das Ungarndeutschtum auch in Zukunft als Sprachminderheit bestehen bleiben. Denn nicht nur die Nation, auch die Nationalität lebt in ihrer Sprache!22 Literatur Bellér, Béla (1973): A nemzetiségi iskolapolitika története Magyarországon a legújabb korban. In: Baranyai Mûvelõdés 4. Bleyer, Jakob (Hg.) 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Hierbei muss ebenfalls die Rolle des Ungarndeutschtums angesprochen werden, da es zum Bild der Ungarn über die Deutschen und Deutschland mit beigetragen hat. 2 Deutschland und Ungarn bis 1945 Eine umfassende Untersuchung der Beziehungen zwischen Deutschland und Ungarn darf natürlich nicht erst mit dem Jahr 1989 beginnen, können doch die beiden Nationen auf eine mehr als tausendjährige gemeinsame Geschichte zurückblicken. Bereits mit der Gründung des ungarischen Staates im Jahre 1000 beginnen die direkten Beziehungen mit Deutschland, in denen es natürlich im Laufe der Zeit neben friedlichen Phasen und Erscheinungen – so bereits seit der Staatsgründung Ungarns immer wieder die Ansiedlung von Deutschen in Ungarn – auch eine Reihe von kriegerischen Ereignissen gab, doch liegen die letzten unmittelbaren militärischen Konfrontationen zwischen Deutschland und Ungarn im fernen Mittelalter, so dass aus der Perspektive der ungarischen Menschendes20. und21. JahrhundertsimFalleDeutschlandsdieangenehmen Erinnerungen deutlich überwiegen, während dies hinsichtlich der unmittelbar benachbarten Länder – mit der Ausnahme Österreichs – nicht unbedingt der Fall ist. 147 Gábor Kerekes Im ungarischen Allgemeinbewusstsein verankert findet sich eine Reihe historischer Persönlichkeiten, die entweder als Deutsche aus Deutschland kommend beziehungsweise als Ungarn einige Zeit in Deutschland lebend und von dort zurückkehrend in der Geschichte Ungarns eine wichtige Rolle spielten. In diese Reihe der deutschen Persönlichkeiten, derer man in Ungarn bis in unser Jahrhundert immer noch gedenkt, gehört bereits die erste ungarische Königin, die aus Bayern stammende Herzogstochter Gisela (ca. 984-1060), in den Jahren 995-1038 Gemahlin König Stephan I., des Nationalheiligen Ungarns. Ebenso die gleichfalls aus Bayern stammende Herzogin Elisabeth Amalie Eugenie (1837-1898), heute besser bekannt als Sisi beziehungsweise Sissi, die ab 1867 als Königin von Ungarn große Verehrung genoss, da man ihr einen nicht unwesentlichen Einfluss auf ihren Mann Franz Joseph I. in der Frage des Ausgleichs zwischen Österreich und Ungarn zuschrieb und zudem ihre Sympathie für Ungarn allgemein bekannt war. (Erstaunlicherweise war diese Verehrung eine derart tief verwurzelte Angelegenheit, dass sie selbst die stalinistische Führung Ungarns nicht einmal in den 1950er Jahren anzutasten wagte. Zu keinem Zeitpunkt stand die Frage zur Debatte, ob denn die nach der Königin benannte Elisabethbrücke, der Stadtteil Elisabethstadt sowie die nach ihr benannte Straße – letztere sogar den Namen Straße der Königin Elisabeth ÿ[ung. Erzsébet Királyné útja] tragend – in Budapest alle einen neuen Namen erhalten sollten, während in anderen Fällen mit Umbenennungen nicht gezögert wurde.)1 Zeitlich zwischen den beiden Herzoginnen aus Bayern liegend gab es noch viele andere historische Personen, die im ungarischen Deutschlandbild verankert sind: Der Drucker des ersten Buches in Ungarn, András Hess (Andreas Hess), stammte aus Deutschland. Seine Herkunft verschwindet ebenso im Nebel der Geschichte wie nach seiner Tätigkeit in Buda zu Beginn der 1470er Jahre sein weiterer Lebensweg. Heltai Gáspár (Caspar Helth, 1490 oder 1510-1574) stammte aus einer sächsischen Familie aus Siebenbürgen, erlernte das Ungarische erst ab 1536 und besuchte 1543 die Universität in Wittenberg. Die dort auf ihn wirkenden Impulse 1Soviel sei zum Umgang mit Königin Elisabeth an dieser Stelle noch gesagt: Gerade in ihrem Fall hat sich in den vergangenen 20 Jahren auf Grund des Einflusses von Deutschland und des dort vorherrschenden Sissi-Bildes eine deutliche Verschiebung beobachten lassen. Während in Ungarn das traditionelle Elisabeth-Bild sich auf die souveräne Frau und Königinbezog, der Ungarn viel zu verdanken hat (vgl. Kerekes 1998), setzt sich seit der Übernahme der vor der politischen Wende in Ungarn verbotenen Sissi-Filme mit Romy Schneider in der Hauptrolle und der Veröffentlichung von Übersetzungen etlicher Mädchen-undJugendbücher sowie von Sissi-Romanheften des Bastei-Verlages immer stärker das Image des jungen Mädchens oder zumindest der jugendlichen Königin durch, das zumeist das Gesicht der 1982 in Paris verstorbenen Schauspielerin erhält. Ganz gleich, wie man diese Akzentverlagerung wertet, unübersehbar ist, wie hier sich ein in Deutschland entstandenes und verbreitetes Image gegenüber der ungarischen Tradition durchsetzt. 148 Gábor Kerekes machten ihn nicht nur zu einem Reformator, sondern er war maßgeblich an der 1555 herausgegebenen Bibelübersetzung ins Ungarische beteiligt und war einer der bedeutendsten Autoren der ungarischen Literatur des 16. Jahrhunderts. Doch auch wenn wir uns ungarischen Künstlern zuwenden, finden sich enge Verknüpfungen zu Deutschland und den Deutschen. Nicht nur die deutsche Literatur war spätestens seit dem 18. Jahrhundert für die ungarischen Autoren (so auch für die bedeutendsten unter ihnen, etwa Ferenc Kazinczy, Mihály Vörösmarty) ein Vorbild und eine Inspirationsquelle, sondern auch die deutsche Sprache: Sie ermöglichte für viele von ihnen als Vermittlersprache den Zugang zur englischen und französischen Literatur. Bei einer Reihe von Shakespeare- und Molière-Übersetzungen bildete der deutsche Text die Grundlage. Die erste ungarische Hamlet-ÜbersetzungfertigteKazinczyaufGrundeinerdeutschsprachigen Vorlage an. Goethe und Schiller, Tieck und Uhland gehörten zu den in Ungarn bekannten, gelesenen, zitierten und übersetzten Autoren, wobei – bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein – die Lektüre der deutschsprachigen Literaturen zu einem großen Teil in deutscher Sprache geschah (vgl. Kerekes 1987). Erst mit der immer stärker werdenden Magyarisierung im 20. Jahrhundert, die übrigens ungeachtet der sich verändernden politischen Ausrichtung des Landes beinahe das ganze Jahrhundert hindurch bestand, nahm die Lektüre dieser Literatur in ungarischer Sprache zu. Deutschland war jedoch nicht nur in den Sprachkünsten von Bedeutung für ungarische Künstler. Eine kaum zu überschätzende Rolle spielte die Münchner Akademie der Bildenden Künste, an der unter anderem bei Piloty, aber auch nach dessen Wirken später für die ungarische bildende Kunst bedeutende Maler studierten wie etwa István Csók, Károly Ferenczi, Simon Hollósy und Pál Szinyei Merse, von denen Ferenczi mit seinem Gemälde Oktober und Szinyei mit seinem Bild Picknick im Mai auch den Zuschauern der WDR-Produktion 100(0) Meisterwerke bekannt sein müssten, widmete man ihnen doch jeweils eine ganze Folge. Die Ungarn bildeten – vor den Polen – die zahlenstärkste Künstlerkolonie in München, Károly Lyka listete mehr als 200 ungarische Namen als Studenten in München auf (vgl. Lyka 1912). Die Kontakte zwischen Deutschland und Ungarn existierten aber nicht nur auf der Ebene der hohen Politik und innerhalb der Sphäre der auch international anerkannten Ausübenden der schönen Künste. Bereits seit dem 16. Jahrhundert besuchten ungarische Studenten Universitäten, Hochschulen und Schulen in Deutschland. Die Sitte, als Wanderstudent im Ausland zu lernen, bezeichnet man auf Ungarisch als „peregrináció“ (Peregrination, eigentlich: Wallfahrt, wobei der ungarische Begriff keine religiös-kirchliche Konnotation beinhaltet). Diese Peregrination der ungarischen Studenten lässt sich an über 50 Universitäten und Hochschulen in Deutschland belegen, wobei die Skala der besuchten Institutionen sowohl regional als auch dem Ausbildungsangebot nach sehr breit gefächert war. Zu den von ungarischen Studenten besuchten 149 Gábor Kerekes Universitäten und Hochschulen gehören norddeutsche (Christian-Albrechts- Universität zu Kiel, Universität Rostock, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald) ebenso wie süddeutsche (Ludwig-Maximilians-Universität München, Handelshochschule München, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen beziehungsweise Nürnberg), im Osten liegende (Albertus-Universität zu Königsberg, Schlesische Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau) ebenso wie im Westen beheimatete (Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg, AlbertLudwigs- Universität Freiburg in Breisgau, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen). Ungarische Studenten waren an den alten und auch heute noch international bekannten Universitäten (Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Universität Leipzig, GeorgAugust- Universität Göttingen, Universität Wittenberg) unter den Studierenden ebenso zu finden wie an Institutionen, die sich spezialisiert hatten, ganz gleich ob auf Handel (Handelshochschule Berlin, Akademie für Sozial-und Handelswissenschaften zu Frankfurt am Main, Städtische Handels-Hochschule Köln, Handelshochschule zu Leipzig), Technik (Technische Hochschule beziehungsweise Universität Berlin-Charlottenburg, Technische Hochschule Darmstadt, Technische Hochschule beziehungsweise Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig, Bergakademie Freiberg), Veterinärmedizin (Tierärztliche Hochschule Berlin), Forstwirtschaft (Forstliche Akademie beziehungsweise Hochschule Tharandt) oder natürlich auch auf künstlerische Bereiche wie das Kunstgewerbe (Königliche Kunstgewerbeschule in Nürnberg), die Musik (Königliche akademische Hochschule für Musik Berlin, Königliche Akademie der Tonkunst München, Großherzogliche Musikschule Weimar) sowie die Bildende Künste und dies über die oben bereits erwähnte Münchner Akademie hinaus auch an anderen Orten (Königliche Akademische Hochschule für die bildenden der Künste zu Berlin, Königliche Kunstakademie zu Düsseldorf, Königliche Kunstakademie Dresden, Großherzogliche Staatliche Hochschule für bildende Kunst in Weimar) (vgl. Leipold 2008, Szögi 2001, Békési 1993). Die angeführten Beispiele für traditionelle Kontakte zwischen Deutschland und Ungarn, die wesentlichen Einfluss auf das Deutschlandbild der Ungarn hatten und haben, sind nur willkürlich herausgegriffene Beispiele aus einem dichten Geflecht der Verbindungen zwischen den beiden Ländern, doch nichtsdestoweniger bezeichnend. Am Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahmen mit der allgemeinen Verbesserung der Mobilität, den umfassenderen Reisemöglichkeiten die Kontakte zwischen Deutschland und Ungarn weiter zu, Schichten der Gesellschaft, für die früher eine Reise nicht möglich war, machten nun eigene Erfahrungen mit Deutschland. Zugleich wurde mit der Einführung des Qualitätssiegels „Made in Germany“ noch vor dem Ersten Weltkrieg vielen Ungarn bewusst, woher die Industrieprodukte stammten, die sie zum Teil benutzten. Die Nähmaschinen, Fahr-und Motorräder von Opel sowie später deren 150 Gábor Kerekes PKWs sowie die PKWs von Daimler-Benz und BMW wurden auch für den einfachen Mann auf der Straße in Ungarn zu einem Begriff für die solide Industrieproduktion Deutschlands. Die deutsch-ungarischen Beziehungen bildeten ein dichtes Netzwerk. In Budapest erschien mit dem Pester Lloyd (1854-1945) eine angesehene Tageszeitung, in der unter anderem auch Thomas Mann publizierte, dessen Werke – so wie auch die anderer deutscher Autoren – zugleich in Ungarn in der Übersetzung zugänglich waren. Darüber hinaus gab es in diesem Zeitraum in Budapest sowie auch landesweit eine ansehnliche Zahl an regelmäßig erscheinenden deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften, auch solche, die teilweise Artikel in deutscher Sprache veröffentlichten. Obwohl es einen unübersehbaren Magyarisierungsdruck von staatlicher Seite gab und die Zahl der deutschsprachigen Presseerzeugnisse in diesen Jahrzehnten kontinuierlich abnahm, blieb die herausragende Stellung der deutschsprachigen Kultur in Ungarn – noch – weitgehend ungebrochen. Das Land der Dichter und Denker war in dieser Zeit vielen Ungarn ein Vorbild, so auch dem Dichter Attila József, einem der bedeutendsten Vertreter der ungarischen Lyrik des 20. Jahrhunderts, für den sich Deutschland in Thomas Mann manifestierte, dem er mit seinem Gedicht Thomas Mann üdvözlése (Begrüßung Thomas Manns) anlässlich des Besuchs des Nobelpreisträgers 1937 in Budapest seine Verehrung, gleichzeitig jedoch auch die Angst um die Kulturwerte Europas zum Ausdruck bringen wollte. Das Land der Richter und Henker wurde Ungarn bald danach zum Verhängnis. Im Zweiten Weltkrieg war das Königreich Ungarn aus Angst vor der Sowjetunion und in Hoffnung auf deutsche Hilfe bei der Wiederherstellung des im Friedensvertrag von Versailles/Trianon verkleinerten Staatsgebietes des so genannten „historischen Ungarn“ Verbündeter Deutschlands. Zwar gab es auch in der ungarischen politischen Führungsschicht unterschiedliche Meinungen und auch Kräfte, die mit den angelsächsischen Mächten sympathisierten, doch konnten letztere sich nicht durchsetzen, und Ungarn gelang nicht jenes Kunststück, das Rumänien vollbrachte: Im Weltkrieg an der Seite Deutschlands zu kämpfen, dann die Fronten zu wechseln, um sich auf Seiten der Sieger wieder zu finden. Ungarn sollte dafür einen hohen Preis zahlen müssen. Die Ungarn, die Deutschen und die Ungarn- deutschen von 1945 bis zur Aufweichung des politischen Systems in den 1960/70er Jahren Nach dem Zweiten Weltkrieg war auch in Ungarn unter dem Druck der Siegermächte alles Deutsche verpönt. Das schmerzhafteste Opfer hierfür musste das Ungarndeutschtum, das nach einzelnen Schätzungen vor dem Ersten Weltkrieg noch rund 2 Millionen Menschen (vgl. Fata 1999: 18) und danach in der Zwi 151 Gábor Kerekes schenkriegszeit etwa 550.000-600.000 Personen umfasst hatte (vgl. Fata 1999: 18sowieNawratil2007: 68)zahlen. IndenJahren1946-48wurdenetwa170.000 Menschen aus ihrer Heimat Ungarn vertrieben. Die Minderheit wurde durch die ungarisch bagatellisierend als „Aussiedlung“ (ung. „kitelepítés“) bezeichnete Vertreibung erschüttert und auf eine Gesamtzahl von etwa 270.00 (vgl. Nawratil 2007: 68) und 200.000 (vgl. Tóth 2006: 331) reduziert. Die Vertreibung war letztlich auf Initiative mehrerer unterschiedlicher ungarischer politischer Kräfte durchgeführt worden, die sich auf nicht existente internationale Beschlüsse und Verordnungen beriefen. Eine besonders prominent-unrühmliche Rolle spielte hierbei die konservative Nationale Bauernpartei, deren Generalsekretär Imre Kovács u. a. in seiner Rede am 10. April 1945 alle Ungarndeutschen als vermeintliche Nazis und Hitlersympathisanten hinstellend mit den für das Ungarndeutschtum zu einem Trauma gewordenen Worten resümierte: „Die Schwaben sind mit einem Bündel gekommen. Jetzt sollen sie auch mit einem Bündel gehen. Sie sollen am Schicksal der Deutschen teilhaben. Wir werden die Schwaben aussiedeln.“(Manherz 1998 a: 39)2 Betroffen waren all jene Schwaben, wie man die Ungarndeutschen in Ungarn zu bezeichnen pflegt, die sich bei der Volkszählung von 1941 als Deutsche bekannt hatten. Ihnen sollte die Staatsbürgerschaft aberkannt, ihr Hab und Gut konfisziert, und sie selbst vertrieben werden (vgl. ebd.). Dies erklärt auch, warum bei späteren Volkszählungen in Ungarn die Zahl der sich zu ihrem Deutschtum Bekennenden vermutlich weit unter der sich tatsächlich zur deutschen Volksgruppe, zur deutschen Kultur zugehörig Fühlenden lag. Genau wird sich nie mehr feststellen lassen, wie viele Personen aus Angst vor befürchteten späteren Vergeltungsmaßnahmen lieber ihr Deutschtum verheimlichten – ob diese Angst vor Sanktionen nun begründet oder unbegründet war, mag dahingestellt sein. Nachprüfbar sind lediglich die Zahlen der Volkszählung von 2001, bei der sich 62.233 Personen als zur deutschen Nationalität zugehörig bekannten (vgl. Népszámlálás 2001: tabl05). Die Zahl derer, die für sich das Gefühl einer Bindung an die kulturellen Werte und die Traditionen des Ungarndeutschtums deklarierten, lag zugleich mit 88.416 Personen deutlich höher (vgl. Népszámlálás 2001: tabl06), während das Deutsche als Muttersprache nur von 33.792 Befragten angegeben wurde (vgl. Népszámlálás 2001: tabl07).3 Die Vertreibung, dann Enteignung der Ungarndeutschen und die – alle betreffende –Kollektivierung gingnach1945mitderÄchtungalles Deutschenein 2Der ungarische Wortlaut: „A svábság egy batyuval jött ide. Egy batyuval is menjen. Most osztozzanak a németek sorsában. A svábokat ki fogjuk telepíteni.“(vgl. Manherz 1998 b: 37) 3Die Idee der „Aussiedlung“ der Ungarndeutschen war allerdings kein Novum, das erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden wäre. Bereits in der Zwischenkriegszeit gab es erste Überlegungen seitens der „ungarischen Sozialpolitiker“ hierüber: „Eine Aussiedlung der Ungarndeutschen hätte das Nationalvermögen beträchtlich vermehrt, da diese ihre wichtigsten Werte, den Boden und die landwirtschaftliche Ausrüstung, nicht hätten mitnehmen können.“(Ungváry 2006: 117) 152 Gábor Kerekes her. Das Deutsche oder der Deutsche war in der offiziellen Sprachregelung und Propaganda mehr oder weniger zum Synonym für das Böse geworden. Selbst außerhalb des Arbeitsplatzes und offiziell-politischer Begegnungsräume konnte manals(Ungarn)DeutscheroderalsSympathisantdesDeutschenimmerwieder auf Anfeindungen stoßen: Beinahe jedes Jahr folgte bis in die 1980er Jahre ein propagandistischer sowjetischer Weltkriegsfilm mit entsprechend humanen Sowjetsoldaten und niederträchtigen deutschen Landsern. Im Fernsehen, etwa in polnischen Fernsehserien, rollten vier gloriose Panzersoldaten mit ihrem Hund beinahe die gesamte deutsche Ostfront auf. Heroische polnische Ritter trieben die schon im Mittelalter sadistischen und feigen deutschen Ritter in den wohlverdienten Untergang. Mehr oder weniger unausgesprochen wehte in der Propaganda der nicht gerade zarte Hauch der Minderwertigkeit des Deutschtums und des Deutschen durch alle Ecken und Ritzen. Für die Ungarndeutschen war an eine Nationalitätenkultur in der eigenen Muttersprache zunächst nicht zu denken, die „Volksrepublik Ungarn“ und ihre offizielle Kulturpolitik verhinderten bis in die 1970er Jahre praktisch jedwedes kulturelles und vor allem literarisches Leben des Ungarndeutschtums. Zwar beinhaltetedie 1949erVerfassungdesLandesdieFormulierungder garantierten Gleichberechtigung aller Nationalitäten, doch war diese bis 1955 nicht mehr als nur eine leere Floskel. 1955 wurde immerhin der Kulturverband der Deutschen Werktätigen in Ungarn gegründet, der einerseits schon in seinem Namen keine Zweifel über die ihm von der ungarisch-stalinistischen staatlichen Kulturpolitik zugedachte politische Mission aufkommen lassen sollte, der aber andererseits zumindest eine institutionalisierte Form für die Ausübung von Minderheiten- rechten und – sicherlich eingeengt durch Rücksichtnahmen und Kompromisse – eine erste Form der Minderheitenvertretung darstellte. Eine deutschsprachige ungarische Zeitung gab es erst ab 1957. 1969 wurde der Kulturverband – angesichts der sich abzeichnenden Entspannungspolitik zwischen Ost und West, die zwar durch die Niederschlagung des Prager Frühlings im Jahr zuvor nicht unerheblich getrübt worden war – in Demokratischer Verband Ungarnländischer Deutscher umbenannt, das heißt man verzichtete im Namen demonstrativ auf die „Werktätigen“. Spätere Umbenennungen in den Jahren 1978 zum Demokratischen Verband der Ungarndeutschen und 1989 zum Verband der Ungarndeutschen veranschaulichen, welche politischen Veränderungen sich in den folgenden Jahrzehnten abgespielt hatten. Dies alles ist vor dem Hintergrund, dass noch hundert Jahre zuvor die deutschsprachige Kultur in Ungarn eine bedeutende Rolle gespielt hatte, eine Tragödie. Allerdings eine knapp ein Jahrhundert umfassende Tragödie, zu der die gemeinsamen und entschlossenen Magyarisierungsbestrebungen aller Schattierungen und Seiten des ungarischen politischen Lebens sowohl vor als auch nach 1945 beigetragen hatten, so dass man sich in Ungarn sich heute zumeist gar nicht bewusst ist, dass – um nur aus den verschiedensten Lebens-und 153 Gábor Kerekes Kulturbereichen ganz wenige Namen zu nennen – z. B. der Komponist der ungarischen Nationalhymne Ferenc Erkel (Franz Erkl, 1810-1893), der 1848er General Artúr Görgey (Arthur Görgey, 1818-1916), der Architekt des Budapester Parlamentsgebäudes Imre Steindl (Emerich Steindl, 1839-1902), der Bierbrauer Antal Dreher (Anton Dreher, 1841-1921), der zu den populärsten ungarischen Autoren der Vorkriegszeit gehörende, später von den Kommunisten geächtete Ferenc Herczeg (Franz Herzog, 1863-1954), die legendäre Schauspielerin Gizi Bajor (Gisela Beyer, 1893-1951), der im vergangenen Jahrzehnt auch international eine Renaissance erlebende Schriftsteller Sándor Márai (Alexander Großschmid, 1900-1989), der weltberühmte Fußballspieler Ferenc Puskás (Ferenc Purczeld, 1927-2006) den Reihen des Ungarndeutschtums stammten. Sie alle werden von den meisten Ungarn als reine Ungar, ohne ungarndeutsche Wurzeln gesehen. Die unbestreitbar konsequente Magyarisierung hatte zugleich auch deshalb Erfolg, weil sich den sich Assimilierenden in der ungarischen Gesellschaft – natürlich nur im Falle der Verleugnung der eigenen deutschen Herkunft – Aufstiegschancen anboten. Dies führte im 20. Jahrhundert zu dem, was von manchen Ungarndeutschen auch heute noch als der „Verrat der eigenen Intellektuellen“ bezeichnet wird und als dessen Ergebnis das Ungarndeutschtum des Großteils seiner Intelligenz (im Sinne von „intellektuelle Schicht“) beraubt worden ist. Eine Änderung begann erst – zunächst zögerlich, dann immer schneller – im Laufe der siebziger Jahre einzusetzen, als die politische Führung des Landes – auch als Alibi vor der Weltöffentlichkeit – eine langsame (Selbst-)Organisation des kulturellen Lebens der Minderheiten zuließ. Damit sollte einerseits die Toleranz des politischen Regimes unterstrichen werden, andererseits steckte dahinter auch die unausgesprochene Absicht und Hoffnung, die Lage der ungarischen Minderheit in Rumänien in Richtung auf Erleichterungen hin beeinflussen zu können, in dem man sich den Minderheiten innerhalb der Landesgrenzen Ungarns gegenüber selbst als großzügig präsentierte.4 Als Ergebnis des massiven staatlichen Drucks war die traditionelle Verbundenheit zu Deutschland und dem Deutschen in Ungarn vielleicht unterdrückt, jedoch nie wirklich ausgemerzt worden. Mit der Entspannungspolitik und der langsamen Öffnung der Grenzen für Einreisende sowie später – alle drei Jahre ein Mal – dann für ins westliche Ausland reisende Ungarn wurden alte Bindungen neu geknüpft, der Plattensee (Balaton) wurde auch zum Treffpunkt der Ost-und Westdeutschen, die sich im Ostblock in Ungarn am freiesten und offensten treffen konnten. Natürlich war die Volksrepublik Ungarn ein integrierter Bestandteil des 4Wobei man in Ungarn nur übersah, dass nicht einmal alle hier in Ungarn lebenden nationalen Minderheiten zusammen den prozentualen Anteil allein der in Rumänien beheimateten Ungarn erreichten, weshalb (auch) aus diesem Grunde die in Rumänien erhoffte Änderung in der Attitüde der dortigen Staatspolitik gegenüber der ungarischen Minderheit ausblieb. 154 Gábor Kerekes so genannten Ostblocks, eingegliedert in sowohl das militärische als auch das wirtschaftliche Bündnis, also in den Warschauer Vertrag – beziehungsweise Pakt, wie er im Westen hieß – und in den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe – beziehungsweise Comecon. Eine russische Oberhoheit war auch in Ungarn weder zu übersehen noch zu leugnen. Zugleich besaß Ungarn nach dem 1956er Volksaufstand und dem beginnenden innenpolitischen Tauwetter der 60er Jahre, das im Vergleich zum Westen natürlich nur ein relatives Tauwetter war, aber sich nicht mehr rückgängig machen ließ, eine Stellung im Ostblock, die im Westen durch die Slogans vom „Gulaschkommunismus“ beziehungsweise der „lustigsten Baracke im Lager“ bekannt war und benannt wurde. Problematisch für das ungarische Leben ab dem Ende der 1970er Jahre war, dass die politische Dominanz auf allen Gebieten des Lebens ebenso vorhanden war wie ein – wenn auch limitierter – freier Wettbewerb.5 Zusammenfassend gilt also: Ungarn besaß liberale Ansätze, doch das darf nicht zu dem Trugschluss verleiten, dass diese überall, in allen Bereichen des Lebens anzutreffen gewesen wären. Zur innenpolitischen Situation in Ungarn in dieser Zeit muss noch gesagt werden, dass im Grunde die direkte, offene Kritik am Staat, am politischen Systemkonsequentunterdrücktwurde. WurdendemOstblockentgegengerichtete Ideen als solche ausgesprochen, wurden als feindlich angesehene Symbole, Namen und Lehren benutzt, dann war der Staat mit seiner – im Vergleich zu den anderen Ostblockländern allerdings ziemlich dilettantischen – Polizei zur Stelle. Wurden kritische Bemerkungen mit der vermeintlichen Absicht, das „eigene sozialistische System zu reformieren“, vorgebracht, und als feindlich eingestufte Symbole nicht benutzt, dann ließ der Staat die Agierenden meistens – wenn auch nicht immer – gewähren.6 Die politische Komponente spielte bei allen Dingen, so natürlich vor allem bei der Veröffentlichung ausländischer Literatur eine zentrale Rolle, dabei zeigen die Veröffentlichungen ein sehr gemischtes Bild. Selbstverständlich war die LiteraturderDDRbestens vertreten: dielinientreuenSeghers,Marchwitza,Jo 5Das heißt konkret, dass es zum Beispiel in der Wirtschaft neben maroden Großbetrieben mit unfähigen, korrupten, vom Staat eingesetzten Firmenleitern schon Managertypen gab, die nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten agierten. Im wissenschaftlichen Leben finden wir Lebenswerke, die auf tatsächlichen Forschungen und Ergebnisse fußen. Oder um ein banaleres Thema zu nennen: in Budapest konnte man zu einer Zeit bereits ohne weiteres als Ungar für ungarisches Geld (west)deutsche, österreichische, aber auch französische, amerikanische und englische Presseerzeugnisse wie etwa den Spiegel, den Stern, die Süddeutsche Zeitung, Le Figaro, Newsweek, Time kaufen, als es z. B. in „Berlin – Hauptstadt der DDR“ Unter den Linden keine gute Idee war, sich mit einem dieser Blätter sehen zu lassen. 6So war es unmöglich, mit einer amerikanischen Fahne durch ungarische Straßen zu ziehen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, Orwells 1984 und Animal Farm wurden ebenso nicht verlegt, so wieauch der Existenzialismus als bürgerlich dekadente Weltsicht von derObrigkeit zurückgewiesen wurde. 155 Gábor Kerekes hannes R. Becher, Bredel, Noll, Kant, Strittmatter, Görlich wurden übersetzt, aber ebenso auch Christa Wolf, Stephan Heym und Christoph Hein, deren von der staatlichen Linie abweichende Haltung in Ungarn mitrezipiert wurde, die aber gerade mit dem Argument, dass es Autoren eines sozialistischen Bruderstaates sind, leichter veröffentlicht werden konnten. Der politische Gesichtspunkt spielte natürlich auch bei westlichen Autoren eine Rolle, was teils zu Verzerrungen im Bild von der jeweiligen Literatur führte. So wurden aus der Bundesrepublik mit Vorliebe die kritische Töne anschlagenden Autoren, wie Max von der Grün, Bernt Engelmann und Günter Wallraff verlegt, so dass man meinen konnte, sie stellten den Hauptstrom der westdeutschen Gegenwartsliteratur dar. Aber zum Glück bedeutete die Politik nicht alles. Günter Grass’ Blechtrommel lag schon 1974 – wenn auch um die hinsichtlich des Auftretens der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg kritischen Passagen gekürzt – auf ungarisch vor, die Bedeutung des Autors wurde nicht in Frage gestellt, und ebenso konnte man alle wichtigen Romane und Erzählungen Heinrich Bölls auf ungarisch lesen, bis auf Ansichten eines Clowns, der wegen des einen DDR-kritischen Kapitels verspätet, allerdings auch so noch lange vor der politischen Wende, im Jahre 1982 auf ungarisch erschien. Doch konnte der, der sich für die deutsche Literatur interessierende, diese aber nur auf Ungarisch Lesende, auch Romane und Erzählungen von Siegfried Lenz, Walter Jens, Martin Walser, Wolfgang Koeppen kennen. Auch „Sensationen“ aus dem Bereich der E-Literatur wie Lothar-Günther Buchheims Das Boot, lagen schon früh, ebenfalls 1982, auf ungarisch vor. Hinsichtlich der deutschen Autoren, die dem so genannten kulturellen Erbe zuzurechnen waren, gab es kaum Probleme. Die wichtigsten Werke von Büchner, Fontane, Grabbe, Heine, Lessing, Schiller, Storm und anderen waren in ungarischer Übersetzung zugänglich, welche Johann Wolfgang von Goethe seinesgleichen weit überragte. Er war der am häufigsten übersetzte deutsche Autor mit vielen Einzelveröffentlichungen und bekam zuerst 1963 eine fünfbändige und dann in den 1980er Jahren eine weitere, repräsentative, vom Design des Titelblattes her in der Gestaltung an die Umschläge der Reihe Heyne Geschichte des Wilhelm Heyne Verlages in den 1970-80er Jahren erinnernde mehrbändige SammlungseinerausgewähltenWerke, dieetwadoppeltsoumfangreichwarwie die 1963er Publikation. Darüber hinaus ist die Zahl der in ungarischer Sprache zugänglichen Biographien über sein Leben und Schaffen sowie seiner Epoche beträchtlich. Von den deutschen Autoren des 20. Jahrhunderts war bis zur politischen Wende Thomas Mann der dominierende Autor, mit einer zwölfbändigen Werkausgabe in den 1960er Jahren, während danach verstärkt Hermann Hesse veröffentlicht wurde, dessen beinahe gesamtes Lebenswerk inzwischen in ungarischer Sprache vorliegt (vgl. Kerekes 2005). Ungarn braucht sich angesichts der Leistung seiner Verlage, Lektoren und 156 Gábor Kerekes Übersetzer nicht zu schämen. Vor allem dann nicht, wenn man bedenkt, dass Ungarnein Land mit10 MillionenEinwohnern ist, also demMaßstab nach etwa mit Bayern oder Belgien und darüber hinaus in vielen anderen Dingen noch mit Portugal auf einem Niveau zu sehen ist. Ein Ungar, der des Deutschen nicht mächtig ist, sich aber trotzdem für moderne Literatur interessiert, kann sich dank der in Übersetzungen vorliegenden deutschen Literatur einen ganz guten Überblick in diesem Bereich verschaffen. Blickt man von heute aus auf die Buchveröffentlichungen der vergangenen fünfzig Jahre zurück, so muss man zu folgender paradoxen Feststellung gelangen: Das vorerst letzte goldene Zeitalter der ungarischen Übersetzungsliteratur stellen die1970er und 1980er Jahredar, währenddanach die sich durchsetzende Marktwirtschaft nach der politischen Wende zwar viele neue Verlage mit eigener, freier Verlagspolitik mit sich brachte, diese Verlage aber – bis auf einige wenige – nun mehr in erster Linie ökonomische Überlegungen anstellen, anstellen müssen oder anstellen zu müssen glauben, wodurch nicht nur die Zahl der Veröffentlichung moderner ausländischer Literatur zurückgegangen ist, sondern auch das Niveau der Übersetzungen.7 Die hohe Qualität der Übersetzungen vor der politischen Wende war außer der mehrfachen Kontrolle auch dem Umstand zu verdanken, dass eine große Zahl von ungarischen Intellektuellen, die in den 1950er und 1960er Jahren politische Probleme mit dem Regime hatten und nicht unter eigenem Namen veröffentlichen durften, als Übersetzer und Redakteure bei Verlagen arbeiten konnten – quasi als eine Möglichkeit der „Bewährung“. Hatten sie dort über Jahre zuverlässig gewirkt, durften sie gegebenenfalls wieder eigene Werke veröffentlichen. Das heutige Glück des Fehlens von politisch motivierten Veröffentlichungsverboten und das heutige Unglück der ausschließlich auf Gewinn kalkulierten Veröffentlichungen führte inzwischen in den Jahren nach der politischen Wende zu einer bedeutenden prozentualen Abnahme der Zahl der guten Übersetzungen in Ungarn.8 7Währendinder„kommunistischenZeit“ jedeÜbersetzungmehrfachauf –auch –sprachliche und stilistische Korrektheit kontrolliert worden war, da man sich unter den Funktionären der staatlichen Kulturpolitik im Falle einer falschen oder minderwertigen Übersetzung vor einer Blamage fürchtete – was damals ja ein Politikum darstellte und nicht einfach als fachliches Versagen gewertet worden wäre, sondern für die Betroffenen noch ganz andere Folgen hätte haben können –, sparen viele der nach der politischen Wende gegründeten Verlage, nun mehr von den alten Ängsten unbeschwert, aus ökonomischen Gründen an der Kontrolle derÜbersetzungen – was man, leider, diesen manchmal auch deutlich ansehen kann. 8Ausführlich zu all den Fragen siehe Bart 2000. 157 Gábor Kerekes 4 Das Deutschlandimage in Ungarn in den Jahren der politischen Wende Trotz aller antideutscher Agitation und später trotz aller antikapitalistischer Propaganda in den 1950-1970er Jahren war das Bild der Ungarn über die Deutschen positiv geprägt, wobei der Umstand auffällt, dass man trotz des Vorhandenseins der DDR in erster Linie die Bundesrepublik Deutschland als das „Land der Deutschen“ wahrnahm, was auch mit dem etwas verqueren und unentschlossenen Umgang des „Ersten Arbeiter-und Bauernstaates auf deutschem Boden“ mit der Frage der nationalen Selbstdefinition zusammenhing. Viel stärker dürfte dabei aber etwas anderes eine Rolle gespielt haben, worauf der amerikanische Historiker John Lukacs mehrfach hingewiesen hat: „Der Kommunismus ging in Ungarn deshalb unter, weil schon seit vielen Jahren niemand mehr an ihn geglaubt hatte, nicht einmal die Parteimitglieder.“ 9 (Lukacs 2001: 227) Dementsprechend hat man in Ungarn auch die DDR als Staat nicht wirklich gemocht, zwar ihre militärisch-polizeilich-organisatorische Stärke respektiert, doch die ostdeutschen Durchschnittsbürger im Grunde bemitleidet. Der Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik hat sich in Ungarn in den Köpfen der Menschen mehr oder weniger von alleine durchgesetzt und wurde durch die Abneigung gegen das im sozialistischen Lager bestehende politische System und die allgemeine Bewunderung für die Wirtschaftsleistung des Westens unterstützt. Für viele Ungarn spielten Deutschland und die deutsche Sprache in der Anknüpfung an die (westliche) Welt immer noch eine bedeutende Rolle. Viele Personen aus dem Bereich des wissenschaftlichen und künstlerischen Lebens, darunter auch so international bekannte ungarische Intellektuelle wie der Komponist György Kurtág (im Jahre 1971), die Schriftsteller György Konrád (1977) und László Krasznahorkai (1987) waren als Stipendiaten des DAAD in der Bundesrepublik. Für den Durchschnittsungarn gehörte die Bundesrepublik Deutschland zu den begehrten Reisezielen, die er vor der politischen Wende legal alle drei Jahre einmal anvisieren durfte, zu Hause war aber für viele München durch die Europäische Zentrale von Radio Free Europe und die ungarischsprachigen Sendungen, die 1951-1993 ganztägig ausgestrahlt wurden, ein Begriff. Hier fanden sowohl an politischen Informationen als auch an frischer Popmusik Interessierte viele Informationen. Die Bundesrepublik Deutschland war für den Durchschnittsungarn in erster Linie als das Land von Volkswagen, Opel, Mercedes Benz, BMW, Grundig, Schneider, BASF, Gerd Müller, Sepp Maier, Franz Beckenbauer und Bayern München sowie deutsches Bier ein Begriff. Im Vergleich zu den anderen Ostblockstaaten fanden sich in Ungarn im Meer der Ladas, Trabants und Wartburgs ungleich viel mehr westliche – und 9„A kommunizmus azért bukott meg Magyarországon, mert már sok-sok éve senki sem hitt benne, még a párttagok sem.“(deutsche Übersetzung von mir, G.K.) 158 Gábor Kerekes unter ihnen dominant deutsche – PKWs, die auf wer weiß welche Weise ins Land gekommen waren, jedenfalls in der überwiegenden Mehrheit nicht über die streng kontrollierten Kanäle des zentralen staatlichen PKW-Handels. Im Bereich Sport gehörten besonders die westdeutschen Fußballer, die 1972 Europameister sowie 1974 Weltmeister geworden waren, und von den Klubs vor allem die dreimaligen Europapokalsieger (1974, 1975 und 1976), von Bayern München zu den Sportidolen. Deutsches Bier gab es dafür in Ungarn bis in die Zeit nach der politischen Wende nur ganz selten, und dann auch nur solches aus der DDR, Berliner Pilsner oder Radeberger. Erste Erscheinungen der politischen Aufweichung sind nachträglich leichter zu deuten als es in ihrer Zeit möglich war. Neben den kleinen Zeichen, die sich schleichend und in Form von politisch-wirtschaftlichen Erleichterungen und im ideologisch-kulturellen Bereich in der Veröffentlichung des einen oder anderen bis dahin nicht zugelassenen Textes äußerten, gab es auch spektakulärere Anzeichen für eine Veränderung. Zumindest ungewöhnlich war es, als 1982 nach dem Tod des sowjetischen Parteichefs Breschnew am 10. November in Ungarn öffentliche Großveranstaltungen, wie z. B. der ausverkaufte viertägige Konzertmarathon der über die Bundesrepublik und die dortigen Schallplattenveröffentlichungen bei Bellaphon international halbwegs bekannt gewordenen ungarischen Rockgruppe Omega am 11-14. November nicht aus Trauergründen abgesagt wurden. Hier zeigte sich, dass der wirtschaftliche Gesichtspunkt bereits wichtiger war als der ideologische. Neben den bereits erwähnten Veröffentlichungen westdeutscher Literatur trat auch der Neue deutsche Film seinen Siegeszug in den intellektuellen Kinos an, die Lebenswerke von Werner Herzog, Wim Wenders, Rainer Werner Fassbinder und Volker Schlöndorff konnte man in Ungarn im Wesentlichen schon vor 1989 kennen lernen. Die deutschen Weltstars der ernsten Musik blieben in dieser Zeit zwar noch aus, die Berliner Philharmoniker gaben ihr erstes Konzert in Ungarn in Budapest erst am 1. Mai 2005, jedoch für eher nach Rock-und Popmusik hungernde Jugendliche waren die ersten, in kleinen Hallen stattfindenden Budapester Konzerte der Toten Hosen (erstmals 1983, seitdem vielfach und regelmäßig) und das in der Budapester Sporthalle vollkommen ausverkaufte Konzert der damals auf dem Höhepunkt ihrer Karriere stehenden Nena am 4.10.1985 sicherlich erinnerungswürdige Ereignisse. Ihnen waren bereits die – ebenfalls ausverkauften – Auftritte der elektronische beziehungsweise Instrumentalmusik spielenden deutschen Gruppen Kraftwerk (1981, Kleinstadion, ung. Kisstadion) und Tangerine Dream (1982, Sporthalle, ung. Sportcsarnok) vorausgegangen. Auf allen Konzerten trugen die Musiker die Songtexte deutsch vor, im Umgang mit dem Publikum schwankten sie in der Kommunikation zwischen Deutsch und Englisch. All dies deutete bereits damals an, dass in Ungarn ideologische Gesichtspunkte gegenüber kommerziellen Erwägungen im Vergleich zu den Jahrzehnten 159 Gábor Kerekes davor in den Hintergrund zu treten begannen. Die wirkliche Tragweite der Veränderungen begann sich in der Dimension der deutsch-ungarischen Kontakte abzuzeichnen, als 1987 die Eröffnung eines Goethe-Institutes in Budapest vertraglich geregelt und 1988 dann das Institut in der Budapester Innenstadt – in dervornehmenGegendnebendemStaatlichenOpernhaus –tatsächlicheröffnet wurde. Das Vorbild Deutschland – genauer: Bundesrepublik Deutschland – hat auch bei der politischen Umgestaltung Ungarns im Jahr der politischen Wende 1989/90 eine wesentliche Rolle gespielt, ganz gleich, ob man hierbei an den von beinahe allen ungarischen politischen Kräften immer wieder als Ideal angeführten Grundsatz der „sozialen Marktwirtschaft“ oder etwa an die „Fünf- Prozent-Klausel“ denkt, die direkt aus dem deutschen Wahlrecht ins ungarische übernommen wurde. Als im Sommer 1990 die Verträge mit Opel über Investitionen in Ungarn geschlossen werden, wird das allgemein mit großer Genugtuung zur Kenntnis genommen. Spätestens jetzt begannen auch die größten Zweifler an einer politischen Umgestaltung des Landes daran zu glauben, dass die Zeit des Kommunismus vorbei war. 5 Das Bild von Deutschland und den Deutschen in Ungarn seit der politischen Wende Angesichts des bisher Ausgeführten dürfte es nicht überraschen, dass in Ungarn ein sehr positives Bild von Deutschland besteht. Konkrete Belege dafür findet maninMeinungsumfragensowiedenDatenderKultur-undWirtschaftssphäre. 2002 ging das Meinungsforschungsinstitut Gallup in Ungarn unter anderem der Frage nach, wie durch die Befragten in verschiedenen Ländern das Nationalbewusstsein und damit zusammenhängende Aspekte eingeschätzt werden (www1). Man fragte nach den unmittelbar an Ungarn angrenzenden Ländern sowie nach Deutschland, Frankreich, Polen und Tschechien. Erstaunlicherweise kam man zu dem Ergebnis, dass laut den Befragten der nationale Zusammenhalt (ung. „nemzeti összetartozás“) in Deutschland als weitaus am stärksten (und in der Ukraine als weitaus am schwächsten) vermutet wird. Im Falle Deutschlands spielten bei diesem Urteil offensichtlich der Mauerfall und die Bilder der Vereinigung sowie all das, was man über den „Aufbau Ost“ gehört hatte, eine Rolle. In der gleichen Umfrage stellte man auch die Frage, in welchem Land man leben möchte. Die ungarischen Befragten hatten die Möglichkeit, selbst ein Land ihrer Wahl zu nennen. Ungarn war für 67% die erste Wahl, an zweiter Stelle standen die USA (6%) und an dritter Deutschland (4%). Nur von 2% wurden Kanada, die Schweiz, Österreich und England genannt. Dies deutet 160 Gábor Kerekes darauf hin, dass objektiv betrachtet Deutschland das von allen anderen Ländern der Erde am meisten bevorzugte Land für den Durchschnittsungarn ist, denn obgleich die USA von 6% genannt wurden, so scheint doch dahinter viel mehr das von Hollywood, MTV und McDonald‘s geprägte Image des unerreichbaren Märchen-und Schlaraffenlandes zu stecken. Die Antworten dürften mit dem Bewusstsein im Hinterkopf gegeben worden sein, dass die Wahrscheinlichkeit nur sehr gering sein dürfte, tatsächlich jemals im Ausland oder gar in Amerika leben zu können.10 Zur Nuancierung der Frage, inwieweit für viele Ungarn die USA eine Art unerreichbares Traumland darstellen, während Deutschland für sie eine real erfahrbare Größe darstellt, mag die Frage der Beherrschung von Fremdsprachen in Ungarn behilflich sein. In einer Untersuchung des Gallup-Instituts im Jahre 2001 stand Ungarn unter 13 Ländern an elfter Stelle hinsichtlich der Kenntnis derwestlichengroßenFremdsprachen(www2). LediglicheinViertelderUngarn behauptete von sich, auf irgendeinem Niveau an einem Gespräch in englischer, französischer oder deutscher Sprache teilnehmen zu können. Als wichtigste Fremdsprachen wurden das Englische und das Deutsche genannt, wobei 14% der Befragten von sich behaupteten, sie könnten an einer englischen, und 13%, sie könnten an einer deutschen Konversation teilnehmen. An nächster Stelle folgte das Französische mit 2%, was zumindest die prominente Stellung der deutschen Sprache in der ungarischen öffentlichen Meinung unterstreicht. Verbindet mandie DatenderbeidenErhebungenmiteinander, soist unübersehbar, dass während es in der Beherrschung der offiziellen ersten Landessprache der USA und Deutschlands nur einen geringen Unterschied (etwa 8%) zwischen den Befragten Ungarn gibt, sich aber ein Drittel mehr der Ungarn für die USA als möglichen Wohnort aussprechen als für Deutschland – was ein Indiz für den Desiderativcharakter der Angaben für die USA ist.11 Im Übrigen sei zur Frage der Sympathie der Ungarn für Deutschland und 10Dass es bei dieser Prozentzahl eher um Träumerei als um reale Möglichkeiten sowie sicherlich nicht in erster Linie um Interesse an der angelsächsischen Kultur ging, deuteten ja bereits die relativ mageren 2% an, die sich für das real-geographisch von Ungarn aus leichter erreichbare England trotz der Queen, Shakespeare, Beatles und Manchester United als Wunschland aussprachen. 11Im Spiegel der Zahlen der an den Gymnasien das Deutsche Lernenden Schüler sowie der zum Universitätsstudium zugelassenen Bewerber lässt sich angesichts der Daten aus dem vergangenen Jahrzehnt beobachten, wie die Zahl der sich für das Deutsche Interessierenden in Ungarn abnimmt. Verzerrt werden die möglichen Schlussfolgerungen aber durch die Tatsachen, dass wir es hier 1. mit immer geburtenschwächeren Jahrgängen zu tun haben, 2. die Kosten für das Weiterlernen und das Studium in diesem Zeitraum rapide zugenommen haben und 3. staatlicherseits eine Drosselung der Zahl der zum Studium Zugelassenen vorgenommen worden ist. Im Wissen um diese Gesichtspunkte dürfte das Maß der Abnahme des Interesses für das Deutsche und die deutsche Kultur, das sich zum Beispiel in den Zahlen der zum Universitäts-und Hochschulstudium des Deutschen in Ungarn zugelassenen Bewerber widerspiegelt, zwar nicht zu leugnen, jedoch weniger dramatisch sein, als das auf den ersten Blick erscheint (vgl. dazu den Beitrag von Rada in diesem Band). 161 Gábor Kerekes das Deutsche kurz angemerkt: die positive Einschätzung beruht auf Gegenseitigkeit, denn auch das Bild der Deutschen über Ungarn ist ein recht gutes, wie dies eine internationale Untersuchung des Gallup-Institutes im Jahre 2000 ergab (www3). 76% der Deutschen haben über Ungarn ein positives bis eher positives Bild, welches besser als das der Österreicher mit 72% oder gar der Franzosen mit 45% war. Die positive Einschätzung des Deutschen erstreckt sich in Ungarn auch auf die Bewertung des Ungarndeutschtums durch die ungarische Bevölkerung. Das Meinungsforschungsinstitut Medián ging zwischen 1995 und 2007 vier Mal der Frage nach, wie die Ungarn ihre Minderheiten beurteilen. Dabei lagen die Sympathiewerte für die Ungarndeutschen 1995 an zweiter, danach aber immer an erster Stelle. (Das Ungarndeutschtum tauschte hier den Platz mit dem Judentum.) Die Werte für das Ungarndeutschtum betrugen auf einer Skala von 100 Punkten: 1995: 55, 2002: 57, 2006: 55 und 2007: 56 Punkte. (Die des Judentums 57, 52, 50 und 50). Weniger gut, mit fallender Tendenz wurden die Chinesen und mit steigender Tendenz die Rumänen sowie konstant die „Neger“ (sic!) eingeschätzt. Deutlich weniger Sympathie zeigt sich gegenüber den „Arabern“ (sic!) und noch weniger gegenüber den „Zigeunern“ (sic!) – ein Problem, vor dessen Lösung die ungarische Gesellschaft anscheinend ratlos steht. Im Vergleich mit den Juden, den Slowaken und „Zigeunern“ werden die Ungarndeutschen als die leiseste, fleißigste und sauberste Minderheit angesehen, deren Aggressivität, Rachsucht und Geiz am niedrigsten ausgeprägt sei (www4). Im Zusammenhalt würden sie von den Juden und „Zigeunern“, hinsichtlich der Bewahrung der Traditionen von den Juden und in ihrer Lebensfreude von den „Zigeunern“ übertroffen. Nur die Slowaken werden für noch weniger raffiniert gehalten als die Ungarndeutschen. In Stolz, Ausdauer, Disziplin, Sauberkeit, Fleiß und Pflichtbewusstsein übertreffen also die Ungarn- deutschen die anderen Minderheiten, während sie am wenigsten neidisch und angeberisch sind. Wie groß das Interesse in Ungarn für Deutschland, die deutsche Geschichte und Kultur ist, zeigen auch die Buchveröffentlichungen sowie die Theater-und Filmaufführungen zu diesen Aspekten in Ungarn. Nur als Eindruck soll hier kurz eine Auswahl von Werken stehen, die im Themenkreis Deutschland und deutsche Geschichte in den vergangenen zwanzig Jahren bei seriösen ungarischen Verlagen in ansprechenden Editionen erschienen sind: 1. von ungarischen Autoren: Kövics, Emma: Az európai egység kérdése és Németország 1919-1933 [Die Frage der europäischen Einheit und Deutschland 1919-1933]. Budapest: Akadémiai Kiadó 1992, 219 S. 162 Gábor Kerekes Weiszhár, Attila / Weiszhár, Balázs: Német királyok, római császárok. [Deutsche Könige, römische Kaiser]. Budapest: Maecenas Kiadó, 1998, 238 S. Dr. Pátrovics, Péter: Német kulturális és országismereti kislexikon [Kleines deutsches kulturelles und landeskundliches Wörterbuch]. Debrecen: Tóth Kiadó, 2000, 240 S. Györffy, Miklós: Német-magyar kulturális szótár [Deutsch-ungarisches Kulturwörterbuch]. Budapest: Corvina 2003, 248 S. Németh, István: Németország története a XX. században [Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert]. Budapest: Aula Kiadó, 2004, 622 S. Felkai, Gábor: A német szociológia története a századfordulótól 1933-ig [Die Geschichte der deutschen Soziologie von der Jahrhundertwende bis 1933]. 2 Bände. Budapest: Századvég Kiadó, 2006, 543 und 600 S. Mogyorósi, Géza: Német kancellárok (1949-tõl napjainkig) [Deutsche Kanzler (Von 1949 bis in unsere Tage)]. Budapest: Kapu Könyvek, 2006, 88 S. Ormos, Mária: Németország története a 20. században – Az egységtõl az egységig [Die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert – Von der Einheit zur Einheit]. Budapest: Rubicon-Ház Bt., 2008, 400 S. Németh, István: A német császárság 1871-1918 – Összegzés és dokumentumok [Das deutsche Kaiserreich 1871-1918 – Bilanz und Dokumente]. Budapest: L’Harmattan Kiadó, 2009, 372 S. 2. Übersetzungen aus dem Deutschen: Mann, Golo: Németország története 1919-1945 [Geschichte Deutschlands 1919-1945]. Budapest: Balassi Kiadó, 1997, 190 S. Deutscher Originaltitel: Deutsche Geschichte 1919-1945. Kohl, Helmut: Németország egységét akartam. Budapest: Zrínyi Kiadó, 1998, 300 S. Deutscher Originaltitel: Ich wollte Deutschlands Einheit. 163 Gábor Kerekes Elias, Norbert: A németekrõl [Über die Deutschen]. Budapest: Helikon Kiadó, 2002, 395 S. Deutscher Originaltitel: Studien über die Deutschen Görtemaker, Manfred: A Német Szövetségi Köztársaság története. Budapest: Korona Kiadó, 2003, 847 S. Deutscher Originaltitel: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Winkler, Heinrich August: Németország története a modern korban [Geschichte Deutschlands in der modernen Zeit] I-II. Budapest: Osiris Kiadó, 2005, 1248 S. Deutscher Originaltitel: Der lange Weg nach Westen. Haffner, Sebastian: Egy német története. Budapest: Európa Könyvkiadó, 2005, 360 S. Deutscher Originaltitel: Geschichte eines Deutschen. Kieslich,Sabine: Az ezerarcú Németország [Das tausendgesichtige Deutschland]. Pécs: Alexandra Kiadó, 2006, 428 S. Deutscher Originaltitel: Deutschland. Haffner, Sebastian: Az elárult forradalom – Németország 1918-19 [Die verratene Revolution – Deutschland 1918-19]. Budapest: Európa Könyvkiadó, 2007, 308 S. Deutscher Originaltitel: Die deutsche Revolution. Haffner, Sebastian: A Német Birodalom hét fõbûne az elsõ világháborúban. Budapest: EurópaKönyvkiadó,2008,208S.DeutscherOriginaltitel: Die sieben Todsünden des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg. 3. Übersetzungen aus anderen Sprachen: Fulbrook, Mary: Németország története [Geschichte Deutschlands]. Budapest: Maecenas 1993, 264 S. Originaltitel: A Concise History of Germany. Fulbrook, Mary: A német nemzeti identitás a holokauszt után [Die deutsche Nationalidentität nach dem Holocaust]. Budapest: Helikon Kiadó, 2001, 365 S. Originaltitel: German National Identity after the Holocaust. Bailey, George: Németek – Egy rögeszme története [Die Deutschen – Geschichte einer Besessenheit]. Budapest: Európa Könyvkiadó, 2003, 164 Gábor Kerekes 632 S. Originaltitel: Germans. The Biography of an Obsession. Stürmer, Michael: A Német Birodalom [Das Deutsche Reich]. Budapest: Európa Könyvkiadó, 2005, 200 S. Originaltitel: The German Empire. Stern, Fritz: Öt Németország és egy élet [Fünfmal Deutschland und ein Leben]. Budapest: Park Könyvkiadó, 2009, 640 S. Originaltitel: Five Germanies I have known. Ein Kapitel für sich stellt die in ungarischer Sprache vorliegende sehr umfangreiche Literatur über die Nazizeit, die emblematischen Gestalten des Dritten Reiches, den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg dar, wobei sich zu diesem Themenbereich sowohl in der Seriosität als auch in der Wirkungsabsicht sehr unterschiedliche Veröffentlichungen in ungarischer Sprache finden. Allein derzeit gibt es über 100 ungarischsprachige Veröffentlichungen, die aktuell im Buchhandel zu haben sind und die den Namen „Hitler“ in ihrem Titel führen. Einerseits gibt es in ihrem Geschichtsbild seriöse Publikationen, so etwa die Veröffentlichungen von Guido Knopp in ungarischer Sprache, über dessen PräsentationsstildieMeinungenzwarauchinDeutschlandgeteiltsind, dochdessen Absicht, politische Korrektheit und historische Ausgewogenheit in der Darbietung der historischen Faktenüber jeden Zweifel erhaben sein dürften.12 Für die politisch gegenüber dem Nationalsozialismus als Gegenkraft gegen den Marxismus eine eher relativierende Position einnehmende Leserschaft liegt Ernst Noltes Der Faschismus in seiner Epoche seit 2003 auf Ungarisch vor (A fasizmus korszaka [Das Zeitalter des Faschismus]. Budapest: Kairosz 2003, 670 S.). Nur in einzelnen Verkaufsstellen konnten und können sich Interessenten mit einer ungarischen Übersetzung von Mein Kampf eindecken, so zum Ende des vergangenen Jahrtausends mit einer Neuveröffentlichung einer 1935er Übersetzung (Harcom. Budapest: Stoker kft. O.J. [1997], 496 S.) oder zuletzt 2007 in einer Neuübersetzung, in der das Vorwort des Übersetzers Gyula Ungvári keinen Zweifel darüber zulässt, dass er Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion als einen vollkommen legitimen Akt der Selbstverteidigung betrachtet (Harcom. Budapest: Gede 2007, 623 S. beziehungsweise S. 49). 12Ne féljünk Hitlertõl! [Keine Angst vor Hitler!] Budapest: Magyar Könyvkiadó 1997, 322 S. [Deutscher Originaltitel: Hitler – eine Bilanz]; Hitler segédei [Hitlers Helfer]. Budapest: Magyar Könyvklub 2001, 359. S.; Hitler gyermekei [Hitlers Kinder]. Budapest: Magyar Könyvklub 2004, 376 S.; A nagy menekülés [Die große Flucht]. Budapest: Mérték Kiadó 2004, 376 S.; Históriák – Történetek a történelem árnyékában [Geschichten – Geschichten im Schatten der Geschichte]. Budapest: Mérték Kiadó 2006, 392 S. [Deutscher Originaltitel: History – Geheimnisse des 20. Jahrhunderts]; Hitler menedzserei [Hitlers Manager]. Budapest: M-érték kiadó 2008, 400 S.; Göring – Egy karrier története. [Göring – Geschichte einer Karriere]. Budapest: M-Érték kiadó, 2009, 272 S.) 165 Gábor Kerekes Die hier angedeutete Bandbreite der moralisch-politischen Bewertung und der Natur des Interesses an Veröffentlichungen zur Nazizeit und zum Zweiten Weltkrieg zeigt die unterschiedlichen Motivationen von Verfassern, Herausgebern und Lesern: Aufklärung, Auseinandersetzung, aber auch politische Agitation und unübersehbar Geschäftemacherei, da es eine Vielzahl von Publikationen gibt, die lediglich zeigen, dass ihre Herausgeber bei dem lukrativen Geschäft mit der „Nazithematik“ mitverdienen wollen. Ein sehr exotisches Beispiel ist in diesem Geschäftszweig der schon seit den 1970er Jahren publizierende ungarische Trivialschriftsteller István Nemere, der unter dem deutsch klingenden Pseudonym Stefan Niemayer reißerische Bücher zur Thematik der Nazizeit verfasst.13 Die Praxis der Wahl von Pseudonymen, die eine gewisse Authentizität der Ausgabe suggerieren sollen, ist international nichts Ungewöhnliches, in Deutschland vor allem im Bereich der Trivial-und Heftchenliteratur (Wahl von adligen Frauennamen als angebliche Autorinnen für Liebesromane im Adelsmilieu beziehungsweise amerikanisch klingenden Namen für Krimis) eine alltägliche Angelegenheit, man denke nur an die Romanhefte des Bastei-Verlages. Im Rahmen der Nazithematik ist dieser Kniff auch in Ungarn mehrmals angewandt worden, ein anderer Autorenname, der auf mehreren Dutzend Bänden steht, lautet sehr deutsch klingend „Kurt Rieder“, doch dahinter verbirgt sich der Ungar Zoltán Géczi. Diese Veröffentlichungen von „Niemayer“ und „Rieder“ sowie einer handvoll anderer Personen sind nichts anderes als krude zusammengeschusterte Texte ohne allzu genaue Faktentreue, die bestenfalls halbwegs logisch gehalten sind. Das Positivste, was man im Zusammenhang mit ihnen konstatieren kann, ist, dass sie zumindest versuchen, halbwegs politisch korrekt zu bleiben, und jedenfalls keine rückwärts gerichtete Propaganda betreiben.14 Die gleiche Verteilung von seriöser Forschung, populärer Aufklärung, Geschäftemacherei und Propaganda ist im Rahmen der sich mit der Nazithematik beschäftigenden Übersetzungen aus andere Sprachen auf dem ungarischen Buchmarkt nachzuvollziehen: Ian Kershaws Hitler-Biographie sowie anderer seiner Bücher sind ebenso ins Ungarische übersetzt wie mehrere BBC- Dokumentationen zu dieser Thematik, die ebenfalls in Buchform zugänglich, während dies auch für eine Vielzahl oberflächlicher internationaler Darstellun 13Bisher hat er schon 19 Bücher unter diesem Namen herausgebracht, in deren Zusammenhang das Wort „Niveau“ sicherlich fehl am Platze ist. Es genügt vielleicht darauf hinzuweisen, dass Nemere für 2009 insgesamt 19 Bücher angekündigt hat, mit denen er – wenn alle erscheinen – die Liste seiner Veröffentlichungen (www5) auf insgesamt 527 Bände aufgestockt haben wird. 14Auch die Struktur der Verlage, die diese Bücher herausbringen, ist nicht eindeutig klärbar, zumeist existiert keine Anschrift, sondern nur eine E-Mail-Adresse von ihnen, weshalb auch der begründete Verdacht besteht, dass hinter mehreren Verlagsnamen (u. a. Puedlo, Anno, Vagabundus) der gleiche Besitzer steht. 166 Gábor Kerekes gen und die Neuveröffentlichung einiger apologetischer Texte aus den 1930er Jahren zutrifft. Das Interesse für die deutsche Kultur erstreckt sich in Ungarn auch auf die so genannte schöngeistige Literatur Deutschlands, so dass sehr schnell Übersetzungen von Werken auf Ungarisch vorliegen, die auf dem deutschen Buchmarkt als bedeutend und wichtig erachtet werden, aber genauso auch auf die nichtfiktionale Literatur. Über die hohe Zahl von Übersetzungen literarischer Werke aus dem Deutschen hinaus sagt auch der Umstand deutlich etwas über die Wertschätzung der deutschen Literatur und Kultur aus, dass es auch in Ungarn veröffentlichte Literaturgeschichten speziell über die deutsche Literatur und weiterhin (die deutsche Literatur beinhaltend) über die europäische sowie die Weltliteratur gibt. Diese Art der Darstellung kann in Ungarn auf eine mehr als ein Jahrhundert alte Tradition zurückblicken. Es wurden seit 1900 folgende Literaturgeschichten zur deutschsprachigen Literatur beziehungsweise zur europäischen sowie zur Weltliteratur in Ungarn veröffentlicht: 1. Ungarischsprachig: Sime, James: A német irodalom története [Die Geschichte der deutschen Literatur]. Athenaeum: Budapest. 3. Auflage 1900. Übersetzt aus dem Englischen von Dávid Angyal. Heinrich, Gusztáv: A német irodalom története [Die Geschichte der deutschen Literatur]. Budapest: Franklin 1922 (Überarbeitete Ausgabe der zuerst 1886-1889 in zwei Bänden erschienenen deutschen Literaturgeschichte bis zum Ausgang des 17. Jahrhunderts.) Motz, Atanáz: A német irodalom története [Die Geschichte der deutschen Literatur]. Budapest: Szent István Társulat 1925. Juhász, Andor: A világirodalom élettörténete [Die Lebensgeschichte der Weltliteratur]. Budapest: Révai 1927. Pukánszky, Béla: A német irodalom kis tükre [Kleiner Spiegel der deutschen Literatur]. Budapest: Magyar Szemle Társaság 1930. Babits, Mihály: Az európai irodalom története [Die Geschichte der europäischen Literatur]. Budapest: Nyugat 1934 (vielfach neu aufgelegt). 167 Gábor Kerekes Upton Sinclair: Upton Sinclair irodalomtörténete [Upton Sinclairs Literaturgeschichte]. Budapest: Epocha 1937, erw. 1944. Übersetzt von Sándor Benamy. Amerikanischer Originaltitel: Mammonart. Szerb, Antal: A világirodalom története [Die Geschichte der Weltliteratur] Budapest: Révai 1941. (vielfach neu aufgelegt). Lukács, György: Az újabb német irodalom rövid története [Kurze Geschichte der neueren deutschen Literatur] Budapest: Athenaeum 1946. Titel der deutschsprachigen Ausgabe: Deutsche Literatur während des Imperialismus. Eine Übersicht ihrer Hauptströmungen, Berlin 1945 (von der 4. Ausgabe: Deutsche Literatur im Zeitalter des Imperialismus). Benedek, Marcell: Világirodalom [Weltliteratur]. In drei Bänden. Budapest: Minerva 1968/69. Halász, Elõd: A német irodalom története [Geschichte der deutschen Literatur]. Budapest: Gondolat 1971, 1987. Györffy, Miklós: A német irodalom rövid története [Kurze Geschichte der deutschen Literatur]. Budapest: Corvina 1995. Gintli, Tibor / Schein, Gábor: Az irodalom rövid története [Kurze Geschichte der Literatur]. Band 1. Pécs [Fünfkirchen]: Jelenkor 2003. Band 2. Pécs [Fünfkirchen]: Jelenkor 2007. Madarász, Imre (Hrsg.): Világirodalom [Weltliteratur]. Budapest: Pannonica 2004. Pál, József (Hrsg.): Világirodalom [Weltliteratur]. Budapest: Akadémia 2005. 2. Deutschsprachig: Siptár, Ernõ: Überblick über die deutsche Literaturgeschichte. Budapest: Lehrbuchverlag/Tankönykiadó 1965. Tarnói, László: Deutsche Literaturgeschichte II. Budapest: Lehrbuchverlag/ Tankönykiadó 1978. 168 Gábor Kerekes Bartyik, Beate / Thomas, Regine: Deutsche Literaturgeschichte III-IV. Budapest: Lehrbuchverlag/Tankönykiadó 1984, 1988, 1992; Budapest: Nationaler Lehrbuchverlag/Nemzeti Tankönyvkiadó 2002. Keiner, Karl / Kerekes, Gábor: Deutsche Literatur. Szombathely [Steinamanger]: BDTF 1994. Weiterhin ist die Zahl der Veröffentlichungen zu einzelnen Epochen (etwa Klassik), Autoren (z. B. Schiller) oder zu Werken oder Werkgruppen der deutschen Literatur ein Indiz für die Wertschätzung des Deutschen, doch ist die Zahl dieser Publikationen so hoch, dass allein ihre Aufzählung an dieser Stelle nicht möglich ist. Möchte man diese ersten Eindrücke konkretisieren und betrachtet man den Anteil der Werke von deutschen Autoren innerhalb der ins Ungarische übersetzten Bücher (also inklusive Sach-und Fachliteratur), so wird das bisher Ausgeführte bestätigt: auch in dieser Hinsicht ist der bedeutende Anteil des Deutschen nicht zu übersehen (www6). Blickt man auf den Zeitraum 20052008 zurück, so sind jedes Jahr etwa 2 Millionen Exemplare von 600-700 Titeln deutscher Autoren in ungarischer Sprache erschienen (vgl. Tabelle 1). Jahr Titel Exemplare 2005 670 2031264 2006 637 2233402 2007 747 2129105 2008 689 1801139 Tabelle 1: Titel deutscher Autoren erschienen in ungarischer Sprache Um dies in einer aussagekräftigen Relation zu sehen, sollen hier auch die gleichen Zahlen für Autoren aus den USA (siehe Tabelle 2), aus Großbritanien (siehe Tabelle 3) , aus Österreich (siehe Tabelle 4) und aus Frankreich (siehe Tabelle 5) angeführt werden. Jahr Titel Exemplare 2005 1552 7736704 2006 1631 7541255 2007 2098 9377446 2008 1957 8130943 Tabelle 2: Titel amerikanischer Autoren erschienen in ungarischer Sprache Da diese Zahlen sich auf alle übersetzten Einzelveröffentlichungen ins Ungarische (also etwa auch technische und pharmazeutische Texte) beziehen, ist 169 Gábor Kerekes Jahr Titel Exemplare 2005 599 1984524 2006 520 2026177 2007 587 2036036 2008 702 2439099 Tabelle 3: Titel englischer Autoren erschienen in ungarischer Sprache Jahr Titel Exemplare 2005 13 27526 2006 13 29655 2007 17 42204 2008 7 15000 Tabelle 4: Titel österreichischer Autoren erschienen in ungarischer Sprache Jahr Titel Exemplare 2005 209 591095 2006 188 522384 2007 228 665908 2008 272 888495 Tabelle 5: Titel französischer Autoren erschienen in ungarischer Sprache die Zahl der aus Deutschland stammenden Publikationen unübersehbar hoch, was auch im Vergleich zu den Übersetzungen aus den USA stimmt, wenn man dabei die Größe und das wirtschaftliche Gewicht von Deutschland mit dem der Vereinigten Staaten nicht aus den Augen verliert. Wirft man dann noch einen Blick auf die Veröffentlichungen aus Russland stammender Texte, so sind die Zahlen hier – sicherlich auch noch als eine ReaktionaufdiebeinahefünfzigJahredauerndeBesetzungundBevormundung Ungarns durch die Sowjetunion – erstaunlich niedrig (vgl. Tabelle 6). Macht man die umgekehrte Probe und untersucht die Zahlen der in Ungarn veröffentlichten fremdsprachlichen Publikationen, so finden sich folgende Angaben zu der Zahl der Titel (siehe Tabelle 7). Gemessen an all den bereits erwähnten Gesichtspunkten sind auch diese Zahlen ein Beleg für die herausragende Stellung der deutschen Kultur und Sprache in Ungarn. Ein Bereich, in dem das Deutsche sich aber nicht in dem Maße durchsetzen konnte wie in den bisher erwähnten, ist die Gattung des Films. Ein Blick auf die Herkunftsländer der in Ungarn in den Kinos aufgeführten Filme in den Jahren 2001-2005 zeigt, dass die Dominanz der US-amerikanischen Filme im 170 Gábor Kerekes Jahr Titel Exemplare 2005 56 128792 2006 46 229327 2007 53 136238 2008 51 99334 Tabelle 6: Titel russicher Autoren erschienen in ungarischer Sprache Jahr Englisch Deutsch Französisch Russisch 2005 260 100 12 7 2006 109 61 11 5 2007 147 59 7 6 2008 230 68 16 6 Tabelle 7: In Ungarn veröffentlichte fremdsprachliche Publikationen Augenblick unüberwindbar zu sein scheint, und auch Frankreich in Ungarn den Status einer cineastischen Großmacht besitzt, während sichder deutscheFilm – rein quantitativ – abgeschlagen mit dem fünften Platz15 begnügen muss (siehe Tabelle 8). Jahr 2001 2002 2003 2004 2005 Zahl der aufgeführten Filme 164 182 212 226 220 Herkunftsland: USA 93 108 109 112 103 Frankreich 21 20 30 23 22 Ungarn 23 19 21 28 17 Großbritannien 5 5 5 6 6 Italien 1 -4 5 4 Russland 1 -1 2 1 Tabelle 8: In Ungarn gezeigte Filme Ohne an dem Umstand, den die Zahlen widerspiegeln, etwas ändern zu können sei einschränkend zumindest soviel gesagt: Viele deutsche Filme kommen in Ungarn erst gar nicht ins Kino, weil sie entweder gleich im ungarischen Fernsehen gesendet oder aber auf DVD herausgegeben werden. Die überwiegende Mehrheit der Kinos hat sich auf Publikumsfilme spezialisiert, die gemeinhin als „Blockbuster“ oder als „Popcorn-Kino“ bezeichnet werden. Da der Anteil 15Központi Statisztikai Hivatal [Zentrales Amt für Statistik]: Mozik és filmek adatai 20012005 [Daten der Kinos und Filme 2001-2005]. Budapest: KSH 2006, S. 26 171 Gábor Kerekes solcher Produktionen am deutschen Film gering ist, kommen auch wenige deutsche Filme in die ungarischen Kinos. Seltene Ausnahmen wie Goodbye Lenin oder Der Schuh des Manitu schaffen es aber auch in Ungarn ein Erfolg zu werden. 6 Auf Deutsch über Deutschland in Ungarn Ein weiterer Gesichtspunkt, der eine kurze Betrachtung verdient, wäre der Aspekt, inwieweit heute in Ungarn Medien in deutscher Sprache zugänglich sind. In den ungarischen Bibliotheken findet sich ein alter deutschsprachiger Buchbestand, doch wird – je nach den finanziellen Möglichkeiten – dieser Bestand immer weiter aufgestockt. Hinsichtlich der Printmedien ist es in Ungarn – genauer gesagt in den zentralen Lagen der Großstädte – kein Problem, an Druckerzeugnisse aus Deutschlandzukommen. Verständlicherweisekannesnichtalleexistierendendeutschen Veröffentlichungen auch in Ungarn im Handel geben, dies wäre schon rein wirtschaftlich unsinnig. Doch trotzdem überrascht es, welch eine breite Angebotspalette deutscher Zeitungen und Zeitschriften in Ungarn erhältlich ist – wobei sie seit etwa der Jahrtausendwende in Budapest noch am Tag ihres Erscheinens vorliegen. Ganz gleich, ob man an Tageszeitungen (F.A.Z., Die Welt, Süddeutsche Zeitung, Bild), an seriöse Wochenzeitungen und Magazine (Die Zeit, Der Spiegel, Focus, Stern mit all ihren Sondernummern) oder an Boulevardmagazine und so genannte „Frauenzeitschriften“ der gehobenen (Bunte, Freundin, Für Sie) oder der einfachen Art (Bild der Frau, Super Illu, OK’, Neue Post, Goldenes Blatt und andere) denkt.16 Vergleicht man das Angebot der aus Deutschland stammenden Druckerzeugnisse, so sind sie stärker vertreten als die angloamerikanischen Veröffentlichungen – von den französischen und italienischen ganz zu schweigen. (Und hierbei sind zu den deutschsprachigenVeröffentlichungen dieebenfalls erhältlichenösterreichischenundSchweizer noch gar nicht hinzugerechnet.) Im Grunde ist nur ein Bereich der deutschsprachigen Zeitschriften in den vergangenenJahren gescheitert, und zwarsindesdiedeutschsprachigenComics und Kindermagazine. Man mag zwar über Donald Duck und die verschiede 16Das Angebot geht aber noch weiter: eine Vielzahl von Auto-und Motorradzeitungen (Auto – Motor – Sport, Auto Bild, Motor Klassik, Sport Auto, Wohnmobil, Motorradnews, EasyRiders u. a.),mehrereFernsehzeitungen(TV-Spielfilm,TV-Movie,TV-Direkt,NurTV, TV 4 x 7 u. a.), Computerfachzeitschriften sowohl seriöse (Chip, PC Welt, PC Magazin) als auch solche für PC-Spieler (Gamestar, PC Games), Modellbaumagazine (Modelleisenbahner, Modellfahrzeug u. a.), populär-bis pseudowissenschaftliche Lektüren (z. B. P.M.), Rock- und Popmagazine (Rock Hard, Musik Express, Bravo), Hobbymagazine (z. B. Eisenbahnkurier, Fisch und Fang) sowie eine breite Palette an Rätselzeitschriften aus Deutschland ist in der Budapester Innenstadt erhältlich – mehr als bei manch einem Zeitschriftenhändler in Deutschland. 172 Gábor Kerekes nen – letztlich ja amerikanischen – Superhelden-Comics lächeln, doch stimmt es etwas nachdenklich, dass gerade der Bereich der Printmedien, der sich an die Jüngsten wendet, an die man normalerweise doch die Hoffnung knüpft, sie würden Sprachen lernen wollen, vollkommen eingeknickt ist. Vielleicht ist der Grund aber auch ein banalerer: Hier hat sich eine ähnliche Entwicklung vollzogen wie bei den Fernsehprogrammen: Die Comics aus Deutschland waren sowieso nur Übersetzungen der amerikanischen Originalausgaben, die es inzwischen auch in ungarischer Sprache gibt, ungleich billiger als die deutschen Ausgaben. Ebenso sieht es mit den Kindermagazinen aus, die zumeist angelsächsischer Herkunft waren. Doch Bussi Bär, um ein Beispiel aus Deutschland zu nennen, ist als Buci Maci in ähnlicher Ausstattung auf Ungarisch erhältlich und noch dazu deutlich billiger. In diesen Fällen handelt es sich bei den deutschen und den ungarischen Ausgaben im Wesentlichen um identische Produkte, mit einem deutlich unterschiedlichen Preis. Im Falle der oben erwähnten anderen Zeitschriftenpublikationen muss man aber feststellen, dass es nur ganz wenige ungarische Publikationen gibt, die in Umfang, Informationsmenge und –dichte sowie Druckqualität an die deutschen Vorbilder herankommen. Und dies stimmt nicht nur, wenn man an die Qualitätszeitungen und -zeitschriften denkt, auch die Fernseh-, die Computer-und Musikzeitschriften sowie die Boulevardblätter aus Deutschland haben im Augenblick mehr zu bieten als ihre ungarischen Pendants. In diesem Umfeld besitzt selbst die Bunte einen gewissen Status. Bei den elektronischen Medien ist der Zugang zu den einzelnen Radiosendern aus Deutschland schon seit Jahrzehnten unproblematisch, eine viel attraktivere und aufwühlendere Erfahrung stellte für viele Menschen der Empfang westlicher Fernsehsender dar, der Ende der achtziger Jahre möglich zu werden begann. Zur Zeit der politischen Wende entstanden in Ungarn die ersten Kabelanbieter, die auch relativ viele deutschsprachige Kanäle anboten, zumeist ARD, 3SAT, RTL, SAT1, PRO7 und ORF. Später kamen dann VOX, RTL II, Kabel 1 und noch weitere Sender hinzu, die Zunahme im Angebot deutschsprachiger Fernsehprogramme war für die daran Interessierten eine angenehme Erfahrung. Die Entwicklung hat aber nach der Jahrtausendwende eine umgekehrte Richtung genommen. Tendenziell nahm nach dieser Zeit die Zahl der im jeweiligen Angebot der ungarischen Anbieter eingespeisten deutschsprachigen Sender kontinuierlich ab – in dem Maße, wie immer weitere neue ungarische Sender entstanden sind, die auf Kosten der deutschen Kanäle in das Angebot eingespeist werden wollen, und durch die die deutschen Sender langsam ersetzt werden. Bei manch einem Anbieter gibt es heute im Extremfall keinen einzigen deutschen Sender mehr. Doch ist dank des technischen Fortschritts ist der Empfang aller deutscher, über Satellit frei empfangbarer Fernsehsender, in Ungarn absolut kein Problem mehr. Die Kosten für eine Satellitenanlage zum Empfang über Astra entspre 173 Gábor Kerekes chen denen von etwa fünf bis sechs Monaten Kabelfernsehen. Für all jene, die ein Abonnement bei einem deutschen Pay-Sender eingehen wollen, bleibt die – natürlich in ihrer Umsetzung etwas mühsamere – Möglichkeit, dies in und über Wien zu tun. Im Rahmen der persönlichen deutschsprachigen Begegnung mit deutscher KulturkommtdemGoethe-InstituteinebesondereRollezu, wobeihierüberdie kulturellen Veranstaltungen des Institutes hinaus besonders die Tätigkeit der Bibliothek hervorgehoben werden muss, da im Rahmen der anderen Tätigkeit – Vorträge, Lesungen, Konferenzen, Aufführungen etc. – die Tendenz nicht zu übersehen ist, die jeweilige Veranstaltung auch für Besucher attraktiv zu machen, die des Deutschen nicht mächtig sind, weshalb oft auch eine simultane Übersetzung angeboten wird. Bei Auftritten deutscher Künstler in Ungarn ist generell die Tendenz zu beobachten, dass bei der Kommunikation mit dem Publikum nicht selten auf das Englische zurückgegriffen wird. Während die in den ungarischen elektronischen MedienhäufigmitebendiesenKünstlernaufEnglischgeführtenInterviewsauch darauf zurückgeführt werden könnten, dass die jeweiligen Fragenden das Deutsche nicht beherrschen, so scheint bei dem direkten Kontakt die Sprachwahl – sofern man nicht eine Fehlinformation durch die Veranstalter annehmen will – durch die dem modernen demokratischen Deutschland charakteristische Furcht davor motiviert zu sein, im Falle des Gebrauchs des Deutschen im Ausland quasi als „Sprachimperialist“ dazustehen. So entsteht die zwiespältige Situation, dass bei Auftritten in Ungarn deutsche Künstler, die in ihrem Programm Werke in deutscher Sprache vortragen, das Publikum auf Englisch ansprechen. Bei Politikerinterviews sieht es ähnlich aus – so etwa in den ungarischen Medien mehrfach auch im Falle von Joschka Fischer, dessen Familie ja selbst eine ungarndeutscheFamiliewarundderdeshalbübereigeneKenntnissedersprachlichen Situation in Ungarn verfügen dürfte. 7 WirtschaftlicheVerbindungenzwischenDeutschland und Ungarn Die bisher aufgezählten Angaben könnte man vielleicht als bloße Eindrücke abqualifizieren, doch ein Blick auf die Fakten im Bereich von Wirtschaft, Handel und Verkehr zeigen deutlich die engen Verbindungen zwischen Deutschland und Ungarn. Für Ungarn ist Deutschland der wichtigste Außenhandelspartner17, während umgekehrt Ungarn nur an 15. Stelle für Deutschland18 kommt. Auch im Tourismus stellt Deutschland einen wichtigen Faktor für Ungarn dar. 17Központi Statisztikai Hivatal: Statisztikai Tükör [Statistischer Spiegel]. Jg. III. Nr. 145 S. 3 18Központi Statisztikai Hivatal: Statisztikai Tükör. Jg. III. Nr. 145 S. 1 174 Gábor Kerekes Im Jahre 2008 kamen 3,1 Millionen deutsche Touristen nach Ungarn. Während sie zahlenmäßig damit nur 8 % der nach Ungarn einreisenden Touristen ausmachten, sind 20 % der Einnahmen aus dem Tourismus auf die Deutschen zurückzuführen, die insgesamt 212 Milliarden Forint ausgaben. Von der Gesprächsdauer der von Ungarn aus ins Ausland initiierten Telefonanrufen19 gingen 2008 90% nach Europa, und innerhalb dessen die meisten (19%) nach Deutschland, gefolgt von den benachbarten Ländern Rumänien (13%) und Österreich (11%). Die Dominanz der Anrufe nach Deutschland ist seit Jahren konstant, im Jahre 2007 waren 25,8% aller von Ungarn aus ins Ausland initiierten Anrufe nach Deutschland20 gerichtet. Die deutschen PKWs, aber auch die Nutzfahrzeuge haben in Ungarn einen guten Ruf. Besonders beliebt sind bei den ungarischen Käufern die Mittelklasse-und Kleinwagen von Opel und Volkswagen, wobei – ähnlich wie in Deutschland – der VW Golf einen besonderen Nimbus besitzt. Sieht man von den Verlaufszahlen ab, so besitzen die deutschen Hersteller, deren Wagen in die Luxuskategorie gehören, ein besonders hohes Ansehen, allen voran Daimler-Benz und Porsche sowie BMW und Audi. Betrachtet man dann, um die andere Seite dieser Medaille zu beachten, die Statistiken im Bereich Autodiebstahl, so ist die Vorliebe der Kriminellen dominant für Volkswagen, und innerhalb der Modellpalette der Wolfsburger für den VW Golf weder zu übersehen noch ist sie überraschend. An zweiter Stelle rangieren in dieser Statistik traditionell die Autos von Opel. Erst danach folgen die Marken Renault und Suzuki, wobei letztere in Ungarn auf Grund der Suzukifabrik in Esztergom/ Gran sehr weit verbreitet ist und geradezu den Status eines Volksautos genießt. Die niedrigen Werte für Audi, BMW, Mercedes und Porsche in dieser Statistik hängen allerdings auch mit den für ungarische Verhältnisse hohen Preisen der Wagen zusammen, weshalb von ihnen nur wenigere Exemplare auf den Straßen Ungarns zu finden sind, so dass sie auch nur weniger häufig gestohlen werden können (www7). Für die sportlich Interessierten Ungarn wird Deutschland in den vergangenen 20 Jahren in erster Linie von den international relativ erfolgreichen Fußballklubs wie Bayern München und Borussia Dortmund sowie durch erfolgreiche Einzelsportler wie Steffi Graf, Boris Becker und Michael Schumacher repräsentiert. Von Lothar Matthäus erhoffte man sich vergeblich, er könnte als ungarischer Nationaltrainer – in den Jahren 2004-2005 – mit der Auswahl die Qualifikation zur WM schaffen. Die Spiele der Bundesliga werden von ungarischen Fernsehsendern gern gezeigt, von ungarischen Pay-TV-Sendern auch in Direktübertragung. Im Alltag sind die Handelsketten Aldi, Lidl, Schlecker, dm (drogerie markt) 19Központi Statisztikai Hivatal: Statisztikai Tükör. Jg. III. Nr. 116 S. 3 20Központi Statisztikai Hivatal: Távközlés, Internet 2004 [Fernmeldewesen, Internet]. Budapest: KSH 2005, S. 26. 175 Gábor Kerekes und Plus für viele Ungarn fester Bestandteil beim Einkauf, die Liste der Produkte aus Deutschland ist schier endlos, ob es sich nun um Persil oder Beck’s handelt. 8 Fazit Deutschland und die deutsche Kultur werden in Ungarn in einem sehr breiten Spektrum wahrgenommen und rezipiert. Dabei umfasst dieses Spektrum so gut wie alle Bereiche des politischen und kulturellen Lebens sowohl hinsichtlich der politischen Orientierung als auch der verschiedenen kulturellen und subkulturellen Erscheinungen. Die politischen Parteien Deutschlands werden von den ungarischen Parteien beobachtet, dabei lehnen sich die jeweiligen politischen Richtungen in erster Linie gerne an die Erfahrungen und Aussagen ihrer Schwesterparteien in Deutschland an. Ebenso sieht es im kulturellen Bereich aus: Sowohl Schöpfungen der deutschen Hochkultur der Gegenwart werden in Ungarn übernommen, alsauchdieProduktederUnterhaltungsindustrie. WährendPinaBausch,Werner Herzog, Günter Grass, Sebastian Haffner, Rüdiger Safranski für die einen wichtige Leitbilder sind, vergnügen sich die anderen mit Tokio Hotel, Alarm für Cobra 11, Konsalik, den Romanheften des Bastei-Verlages – und die deutschen Vorbilder werden in Ungarn sowohl in der Hoch-als auch in der Trivialkultur als Vorbild genutzt, um nicht zu sagen „abgekupfert“, oder gar plump nachgeahmt. Insgesamt kann man feststellen, dass kaum ein Bereich dessen, was in Deutschland im Bereich von Politik, Wissenschaft sowie Hochkultur und populärer Kultur anzutreffen ist, in Ungarn nicht bekannt ist. Die Frage nach dem Deutschlandbild im Ungarn der Gegenwart lässt sich nur in der Hinsicht beantworten, dass es weitgehend eine positive Konnotation besitzt. Möchte man eine präzisere Bestimmung dessen, womit Deutschland für welche Werte steht, dann muss vorher genau umrissen werden, um welches Deutschlandbild welchen Bereichs der ungarischen Gesellschaft es sich handelt. Denneineskannmandeutlichfeststellen: EsgibtkeineinheitlichesDeutschlandbild in Ungarn, sondern verschiedene Deutschlandbilder der verschiedenen Kulturen, Subkulturen und gesellschaftlichen sowie politischen Strömungen. Dabei gibt es zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Gruppen sowie Subkulturen und ihrem Deutschlandbild kaum Übergänge. Ob Anne-Sophie Mutter, derVolkswagenGolf, dieBöhsenOnkelz, derHarz, AlbrechtDürer, Ludwigvan Beethoven, Marlene Dietrich, Ernst Jünger, Albert Einstein, Alarm für Cobra 11, Pina Bausch, Lothar Matthäus, Hans-Dietrich Genscher, Harald Schmidt, Michael Schuhmacher oder Frau Holle für den einen oder anderen Ungarn das Deutsche symbolisieren, mag unterschiedlich sein, das einzig verbindende bei alledem ist die positive Konnotation, die Deutschland besitzt: unter anderem für die ungarischen Autonarren, die ungarischen Literaturfreunde, die ungari 176 Gábor Kerekes schenHausfrauen, dieungarischenCineasten, dieungarischenFußballfans, aber auch Hooligans, die ungarischen Philosophen und Soziologen, die ungarischen Hobbyangler und Naturfreunde, aber auch für die Technikfreaks, die ungarischen Punks und die ungarischen Skins, die ungarischen Wagnerverehrer, und die ungarischen Germanisten sowieso. 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DieseTendenzwirdindernächstenZukunftvoraussichtlicherhaltenbleiben und sich sogar verstärken, da ab 2011 die Arbeitsmärkte der deutschsprachigen Mitgliedsländer der EU auch für ungarische Staatsbürger frei zugänglich sein werden. In Anbetracht der relativ hohen Arbeitslosenquote in Ungarn (zurzeit 10,3 %) beziehungsweise der durchschnittlich höheren Vergütung in Deutschland wird Wirtschaftsdeutsch (sowie die deutsche Sprache generell) für mehrere Berufsgruppen eine hohe Attraktivität haben (www1). Der Begriff ‚Wirtschaftsdeutsch‘ gilt trotz seiner Komplexität und Vagheit als allgemein akzeptierter und verwendeter Oberbegriff für ein bestimmtes Sprachenprofil. Man denke nur an die Kursangebote in Sprachschulen beziehungsweise an Hochschulen und an die standardisierten Sprachprüfungen der akkreditierten Prüfungsstellen, welche die generalisierende Bezeichnung „Wirtschaftsdeutsch“ (oder „Berufsdeutsch“) in ihrem Namen tragen. Der (außersprachliche) Faktor ‚Wirtschaft‘ lässt dabei – trotz großer Vielfalt der verschiedenen Branchen und Geschäftstätigkeiten – eine gewisse Vereinheitlichung zu, die für das Sprachenprofil die Angabe bestimmter grundlegender und wiederkehrender Kommunikationssituationen (wie geschäftliche Korrespondenz, Messebesuch usw.) und fachlicher Themenbereiche (wie Marketing, Finanzwesen, EU usw.) ermöglicht. 180 András Komáromy Da es im gebotenen Rahmen nicht möglich ist, auf alle Aspekte der Thematik einzugehen, werden folgende Einschränkungen gemacht: a. In erster Linie wird die Situation auf dem ungarischen Arbeitsmarkt geschildert – gestützt auf statistische Erhebungen und die Ergebnisse einer von mir selbst durchgeführten Umfrage bei ungarischen Firmen mit Kontakten zum deutschsprachigen Wirtschaftsraum. b. Bei der Darstellung des Bildungsangebots wird auf die Hochschulebene fokussiert, da dieser eine führende Rolle bei der Entwicklung fachsprachlicher Kompetenzen im Bildungssystem zukommt (vgl. Kurtán/Silye 2006: 6). Dies bedeutet die Ausklammerung der Fachoberschulen mit wirtschaftlicher OrientierungundderErwachsenenbildungbeziehungsweisederTätigkeitvonSprachschulen und Privatlehrern, wobei jedoch erwähnt werden muss, dass das Thema auch in diesen Bereichen eine gewisse Relevanz besitzt. Deutsch-ungarische Wirtschaftsbeziehungen Deutschlands Rolle wird nicht nur durch die Medien verdeutlicht, auch die starke Präsenz deutscher Unternehmen und die außerwirtschaftliche Relevanz betonen die regen wirtschaftlichen Beziehungen. Dies belegen auch die neuesten Zahlen des ungarischen Zentralen Statistischen Amtes (www2). Dem Konjunkturbericht zufolge ist Deutschland der wichtigste Außenhandelspartner Ungarns: 24,5 % des gesamten Imports (6441,6 Mio. Euro) und 26,2 % des gesamten Exports (7442,5 Mio. EUR) wurden zwischen Januar und Juni 2009 mit Deutschland abgewickelt. Damit steht Deutschland bezüglich beider Angaben eindeutig an erster Stelle, im Import gefolgt von China mit 1773,7 Mio. Euro und im Export von Frankreich mit 1523,9 Mio. Euro. Der klare Vorsprung hinsichtlich der wirtschaftlichen Beziehungen wird umso deutlicher, wenn man neben Deutschland weitere deutschsprachige Länder wie Österreich und die Schweiz hinzunimmt. So betrachtet kommen 31,7 % der Importe aus diesen Ländern und 32 % der Exporte gehen dorthin. Was diese Länder für den ungarischen Außenhandel noch attraktiver macht, ist die Tatsache, dass die Außenhandelsbilanz mit Deutschland und der Schweiz aus ungarischer Sicht positiv ist (1000,9 Mio. Euro beziehungsweise 122,5 Mio. Euro). Auch bei den Direktinvestitionen in Ungarn spielt Deutschland eine eminent wichtige Rolle. Laut Angaben der Deutsch-Ungarischen Industrie-und Handelskammer (DUIHK) (Bestand 2006) haben deutsche Direktinvestitionen einen Anteil von 27 %, für die DACH-Länder insgesamt beträgt dieser Anteil 40,7 % (www3). Auch hier kommt Deutschland eine führende Rolle zu. An zweiterStellederRanglistestehendieNiederlandemiteinemAnteilvon13,2%. DasVolumenderDirektinvestitionenausDeutschlandmachtmehralsdasDoppelte aus. Führende Branchen waren Fahrzeugbau, Verkehr und Telekommuni 181 András Komáromy kation, Handel und Gastgewerbe sowie Energie-und Wasserversorgung. Laut Angaben der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland beschäftigen deutsche Unternehmen in Ungarn rund 250.000 Mitarbeiter (www4). Die Zufriedenheit deutscher Investoren mit dem Standort Ungarn kann als relativ hoch eingeschätzt werden: 80,4% der hier ansässigen Firmen würden ihr Vermögen wieder in Ungarn investieren (www5). Diese Zahl gibt Anlass zur Vermutung, dass die Vorreiterrolle Deutschlands für die ungarische Wirtschaft auch in Zukunft anhalten wird. (Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrags wurde in Kecskemét trotz „Wirtschaftskrise“ der Grundstein für das erste Werk der Daimler-Benz AG in Mittelosteuropa gelegt, wodurch ab 2012 2500 neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Parallel zum Werk wurde auch eine Zweigstelle der Deutschen Schule Baja im September 2009 ins Leben gerufen.) Die Förderung der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen von deutscher Seite erfolgt in einem sog. 3-Säulen-Modell durch die Kooperation der Außenhandelskammer (AHK), des Wirtschaftsreferates der Deutschen Botschaft und der Bundesagentur für Außenwirtschaft (bfai). Die DUIHK in Budapest bietet einen umfassenden Informationsservice und weitere Dienstleistungen für ihre 900 (!) Mitglieder und für deutsche Investoren an. Des weiteren gibt sie regelmäßig Publikationen heraus, die relevante landesspezifische wirtschaftliche Informationen über den Standort Ungarn auch in deutscher Sprache beinhalten. Auch die Webseite des ungarischen Steuer-und Finanzprüfungsamtes wendet sich direkt an deutschsprachige Steuerzahler in Ungarn. Neben Englisch und Französisch werden Steuerrechtsnormen und sonstige Informationen für ausländische Investoren auch auf Deutsch zur Verfügung gestellt. DiegenaueZahlderFirmenmitdeutschem/deutschsprachigemHintergrund kann schwer geschätzt werden, aus den oben vorgestellten Zahlen geht jedoch hervor, dass sie einen bedeutenden Anteil am Wirtschaftsgeschehen in Ungarn haben. Was dasUmfeldvon WirtschaftsdeutschinUngarnbetrifft,muss jedenfalls auch eine beträchtliche Zahl von Dienstleistungs-beziehungsweise Export/ Importunternehmen als potenzielles Hinterland für Wirtschaftsdeutsch hinzu gerechnet werden. 3 DieRollederdeutschenSprachebeideutschen Firmen in Ungarn Die für Ungarn so wichtigen wirtschaftlichen Kontakte zu Deutschland müssten auch für den Deutschunterricht und das Profil ‚Wirtschaftsdeutsch‘ günstige Bedingungen bedeuten. Vor diesem Hintergrund ist die allgemeine und immer stärker werdende Vorliebe für Englisch als erste (und meistens leider einzige) Fremdsprachenichtdirekterklärbar, dieGründehierfürmüsstennochermittelt 182 András Komáromy und die Konsequenzen für die Sprachpolitik gezogen werden (vgl. auch die Diskussionen im JuG 2007 und 2008) (JuG). Eine mögliche Erklärung dafür könnte sein, dass nach den Erhebungen einer onlineJobbörsein68%deraktuellenStellenanzeigenFremdsprachenkenntnisse als Anforderung angegeben werden, wobei in 64 % der Fälle Englischkenntnisse undlediglichin13%derFälleDeutschkenntnisseerwartetwerden(www6). Immerhin ist damit das Deutsche an zweiter Stelle, die nächste Fremdsprache in der Rangliste der Erwartungen ist das Französische mit nur 3,8 %. Verblüffend ist jedoch das Ergebnis einer Umfrage der Ungarischen Industrie-und Handelskammer: 2003 waren 58 % der Firmen unzufrieden mit den Berufseinsteigern, unter den häufigsten Problemen wurden mangelnde Fremdsprachenkenntnisse genannt (vgl. Fazekas 2006: 18), was eine erhebliche Asymmetrie zwischen der Ausbildung und den Erwartungen des Arbeitsmarktes erkennen lässt (vgl. auch Kurtán/Silye 2006: 9). Um die tatsächliche Rolle der deutschen Sprache in geschäftlichen Kontakten beschreiben zu können, müssten Ergebnisse großangelegter empirischer Untersuchungen vorliegen, die zurzeit ein Desiderat darstellen.1 Um diesen Umstand zu ändern und wichtige Informationen über die Rolle der deutschen Sprache im Geschäftsleben zu erhalten, haben wir am Germanistischen Institut der Eötvös-Loránd-Universität eine kleine Umfrage bei Großunternehmen (Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern) mit Kontakten zum deutschsprachigen Raum in ungarischer Sprache durchgeführt.2 Die Auswahl der befragten Unternehmen erfolgte aufgrund des jährlich erscheinenden Mitgliederverzeichnisses der DUIHK (Kontakter 2008). Die Fragen (vgl. Anhang 1) bezogen sich allgemein auf die Rolle der deutschen Sprache in der Firmenkommunikation. Um uns einen ersten Überblick zu verschaffen, haben wir bei der Gestaltung des Fragebogens folgende Faktoren berücksichtigt: 1. Welcher Art sind die Beziehungen zu Deutschland / deutschen Firmen? 2. Spielen Deutschkenntnisse bei der Mitarbeiterauswahl eine Rolle? Wie werden diese geprüft? 3. In welchen Kommunikationssituationen wird Deutsch verwendet? 4. Werden neben Deutsch auch andere Fremdsprachen benutzt? Welche Rolle kommt dabei dem Deutschen zu? 5. Werden den Mitarbeitern Deutschkurse angeboten? 1mit der einzigen Ausnahme von Dannerer 1992, in dem aber die Verhältnisse kurz nach der Wende dargestellt werden 2An dieser Stelle möchte ich mich bei meiner Kollegin Katalin Horváth und bei Tamás Magyar für die Hilfe bei der Erhebung und Auswertung der Daten bedanken. 183 András Komáromy Den ausgewählten 119 Unternehmen wurden die Fragebögen per E-Mail zugeschickt, von denen 35 (knapp 30 %) ausgefüllt zurückgeschickt wurden (dies entspricht einer Mitarbeiterzahl von mindestens 17.500). Da eine sehr große Zahl auch von kleinen und mittelständischen Unternehmen mit deutschem Hintergrund in Ungarn tätig ist, haben wir auf die Befragung dieser aus Zeitgründen verzichtet. Es ist jedoch anzunehmen, dass bei diesen wegen der engeren persönlichen Kontakte zwischen den Mitarbeitern Deutschkenntnisse eine noch größere Rolle spielen als bei großen Unternehmen. Dies könnte jedoch nur in einer viel umfangreicheren und umfassenderen Untersuchung bewiesen werden. Was die Kontakte zu Deutschsprachigen betrifft, haben 83 % unserer antwortgebenden Firmen eine deutsche Mutterfirma, bei 20 % ist auch das Management deutsch, 60 % der Unternehmen haben deutsche Kunden und bei 40 % der Gesellschaften arbeiten auch deutsche Mitarbeiter. Diese Verhältnisse verraten an sich ziemlich viel über mögliche Kontaktsituationen mit Deutschsprachigen. Ob die Kommunikation in diesen Situationen tatsächlich auf Deutsch erfolgt, kann anhand der weiteren Ergebnisse nur mit Vorsicht behauptet werden. Über die Bedeutung der deutschen Sprache in den einzelnen Firmen werden die Fragen folgendermaßen beantwortet (vgl. auch Abb. 1 beziehungsweise Tab. 1 im Anhang): Bei 48,6 % der Firmen ist Deutsch die wichtigste Fremdsprache, bei 14,3 % ist Deutsch gleichrangig mit anderen Fremdsprachen und bei 37,1 % spielt die deutsche Sprache überraschenderweise eine untergeordnete Rolle. In allen Fragebögen bis auf zwei wurde neben Deutsch auch Englisch als weitere gebräuchliche Fremdsprache genannt. Andere Fremdsprachen sind, neben Deutsch, Spanisch (viermal), Französisch (dreimal), Italienisch und Russisch (jeweils zweimal) beziehungsweise Slowakisch und Rumänisch (jeweils einmal)(Siehe Abbildung 1). Die Situationen, in denenauf Deutsch kommuniziert wird, zeigeneine breite Streuung. Folgende Rangliste zeigt die verschiedenen Antworten (in Klammern steht die jeweilige Anzahl der Antworten): Kontakt halten mit Kunden(24), Kontakt halten mit der Mutterfirma (13), Meetings, Besprechungen und Sitzungen(13), Veranstaltungen(5), Ergebnisberichte für das Management (5), Weiterbildungen, Trainings, Workshops (5), Einweisung (5), Verhandlung (4), Dokumentation (3), Gespräche mit Kollegen (3), Rezeption (2), Ausstellungen (1), Werkbesuche (1), Präsentation (1), technische Besprechungen (1), Fachliteratur und Fachzeitschriften (1), ausländische Projekte (1), IT-Support (1). Die ersten drei häufigsten Antworten stellen Situationen dar, die sehr flexible und gut fundierte allgemeinsprachliche Kompetenzen und auch Fachsprachenkenntnisse in Wort und Schrift erfordern. Aus den Antworten lässt sich weiterhin darauf schließen, dass die Mitarbeiter im Durchschnitt über einen Komplex von fremdsprachlichen Kompetenzen verfügen müssen. Ein wichtiger Motivationsfaktor für Deutschlernende ist, wie wichtig 184 András Komáromy Abbildung 1: Wichtigkeit der deutschen Sprache in der Firma Deutschkenntnisse bei der Auswahl von Mitarbeitern sind (vgl. Abb. 2 und Tab. 2 im Anhang). Von den vier Antwortmöglichkeiten wurde die erste von keiner Firma gewählt: Unter den Antwortgebenden gibt es demnach kein Unternehmen, bei dem in allen Positionen Deutschkenntnisse erwartet werden. Bei 57,1 % bilden Deutschkenntnisse eine Voraussetzung in einigen Positionen. Von den insgesamt 20 Großunternehmen, die diese Antwort angaben, haben 15 die Antwort weiter spezifiziert. Demnach sind die Stellen, in denen Deutschkenntnisse erwartet werden, vor allem im Management (8 Antworten) und in administrativen Bereichen (5 Antworten) zu finden. Daneben wurden noch Kontaktpflege (3 Antworten), Logistik, Beschaffung, IT, Marketing, Vertrieb, HR, Controlling (jeweils 2 Antworten) sowie PR (1 Antwort) genannt. Bei 37,1 % der Firmen bedeuten Deutschkenntnisse einen Vorteil für den Bewerber und lediglich bei 5,7 % spielen Sprachkenntnisse überhaupt keine Rolle (Siehe Abbildung 2. Wie Sprachkenntnisse bei den Bewerbern geprüft werden, ist einerseits ein wichtiger Orientierungsfaktor für Fremdsprachenlerner, andererseits kann dieser Punkt gleichzeitig auch als eine gewisse Kritik an Prüfungsmethoden und am Unterricht des Wirtschaftsdeutschen interpretiert werden. Die Firmen vertrauen nämlich wenig auf erworbene Zertifikate und absolvierte Kurse ihrer 185 András Komáromy Abbildung 2: RollederdeutschenSprachkenntnissebeiderAuswahlderMitarbeiter Mitarbeiter (vgl. Abb. 3 und Tab. 3 im Anhang): 45, 7% der Firmen verlassen sich ausschließlich auf ihren firmeninternen Test, der in insgesamt 74,3% der Antworten als Option vorkommt. Lediglich 20 % der Firmen erkennen Sprachdiplome als Nachweis der Sprachkenntnisse der Bewerber an. Das lässt sich sicherlich mit der oben erwähnten Unzufriedenheit mit den Sprachkenntnissen der Mitarbeiter und den daraus folgenden schlechten Erfahrungen in Verbindung bringen und muss als Warnsignal für die Prüfungsstellen gedeutet werden (Siehe Abbildung 3). 65,7 %, das heißt die Mehrheit der Arbeitgeber bieten den Mitarbeitern die Möglichkeit, an vom Arbeitgeber organisierten Deutschkursen teilzunehmen. Der Grund dafür könnte einerseits sein, dass die vorhandenen Sprachkenntnisse der Arbeitnehmer als unzureichend beurteilt werden, besser gesagt, den (speziellen) Anforderungen des Tätigkeitsbereiches der Angestellten nicht ganz entsprechen. Andererseits könnte eine Notlage dazu geführt haben, dass Mitarbeiter mit entsprechenden Fach-aber fehlenden Sprachkenntnissen aufgenommen worden sind. In beiden Fällen müssen jedoch schwerwiegende Konsequenzen für die Fremdsprachenpolitik beziehungsweise die Effektivität des Fremdsprachenunterrichts gezogen werden, da der bestehende Bedarf des Marktes anscheinend nicht ganz gedeckt werden kann. 186 András Komáromy Abbildung 3: Wie werden die Sprachkenntnisse geprüft? Die sonstigen Anmerkungen in den Fragebögen, die in relativ großer Zahl freiwillig angegeben wurden und an dieser Stelle (ins Deutsche übersetzt) in ihrem Wortlaut zitiert werden, zeugen davon, dass das Englische eine immer wichtigere Rolle bei der geschäftlichen Kommunikation auch bei deutschen Firmen spielt. Wichtig scheint mir dabei festzuhalten, dass in vielen Fällen der große Vorteil angesprochen wurde, den man hat, wenn man deutsche Kollegen, Partner oder Kunden in ihrer Muttersprache anspricht. • Obwohl die Eigentümer Deutsche sind, ist die Arbeitssprache Englisch, auf Deutsch wird wenig kommuniziert. • Früher haben viele deutsche Kollegen bei der Firma gearbeitet, heute haben wir ausländische Mitarbeiter, mit denen wir aber auch auf Deutsch kommunizieren. • Obwohl das Deutsche die offizielle Arbeitssprache ist (bei der Kommunikation mit dem Geschäftsführer, in Meetings), wird bei ausländischen Projekten und bei der Korrespondenz in wichtigen, den Konzern betreffenden Angelegenheiten immer mehr Englisch benutzt. Englisch ist auch die gemeinsame Sprache auf größeren internationalen Treffen und Besprechungen. 187 András Komáromy • Das Deutsche wird vom Englischen schrittweise zurückgedrängt, trotzdem ist es ein wichtiger Standortvorteil, wenn man Deutsch kann (die deutschen Kollegen sind immer positiv überrascht, wenn wir außer Englisch auch Deutsch können). Neben den offiziellen Informationen (Englisch) erfährt man in informellen deutschsprachigen Gesprächen wichtige Sachen. • Am besten ist es, wenn Kenntnisse in beiden Sprachen vorliegen, heute werden aber auch nur Englischkenntnisse akzeptiert. • Bei Ingenieuren werden heute lediglich Englischkenntnisse erwartet. • Wir sind ein internationales Unternehmen, seit 1996 ist die offizielle Arbeitssprache Englisch. • Die meisten Bewerber verfügen über ein Sprachdiplom (das wird auch in den Vorstellungsgesprächen immer wieder hervorgehoben), aber in der Praxis sind sie nicht einmal in der Lage, über sich selbst 10 sinnvolle und korrekte Sätze zu äußern, geschweige denn Telefonate mit den Kunden zu führen und mit ihnen zu verhandeln. Andererseits sprechen unsere Partner mit Vorliebe Deutsch, sie vertreten sogar ziemlich aggressiv die Meinung, dass wir mit ihnen auf Deutsch kommunizieren müssen. Dabei wollen sie nicht einmal auf ihren Dialekt verzichten. Dies ruft bei vielen Missfallen hervor, die dann (dem Trend entsprechend) Englisch präferieren. • Bis 2002 war die erste Fremdsprache in der Firma das Deutsche. Bis zu diesem Zeitpunkt haben wir auch Deutschunterricht für die Mitarbeiter organisiert. Ab 2003 wurde das Englische die Sprache der externen Kontaktpflege, doch ist es von Vorteil, Deutsch sprechen zu können, weil wir so mit den Mitarbeitern unserer Mutterfirma reibungslos kommunizieren können. • Die offizielle Sprache unseres multinationalen Unternehmens mit Sitz in Deutschland ist das Englische, jedoch kommt es oft vor, dass die deutschen Kollegen ihre Muttersprache verwenden, da es für sie bequemer ist. Für uns bedeutet die Übersetzung aber Extrakosten und einen Zeitverlust, da unsere Mitarbeiter eher Englisch beherschen. Unser deutscher Geschäftsführer bevorzugt aus diesem Grund das Englische (auch mit seinen deutschen Kollegen), was in deutsch-ungarischer Relation ja demokratischer ist, da Englisch für beide Parteien eine Fremdsprache ist. Mit nicht deutschen ausländischen Partnern verwenden wir in den meisten Fällen Englisch. 188 András Komáromy • Im Oktober 2009 fusionierte unsere Firma mit dem japanischen TDK, so wird das Englische eine immer größere Rolle in der firmeninternen Kommunikation spielen. Bildungsangebot und Prüfungsmöglichkeiten Aus den Ergebnissen der Umfrage ist darauf zu schließen, dass die Nachfrage auf dem Markt für Wirtschaftsdeutsch-Kurse ziemlich groß ist, zumindest lässt die Tatsache, dass bei 65,7 % der befragten Firmen solche Kurse den Mitarbeitern angeboten werden, dies erkennen. Dementsprechend ist das Angebot auch relativ hoch: Die meisten Sprachschulen haben sich auch auf dieses Segment spezialisiert. EswärefürdieZukunftwichtigzuerkunden,wieindiesenKursen gearbeitet wird und wie hoch die Zufriedenheit der Firmen mit der Effektivität des Deutschunterrichts ist. Seit der Einführung der modularen BA-und MA-Ausbildung in Ungarn (2006) sind spezielle fachsprachliche Kurse in Wirtschaftsdeutsch nicht nur an wirtschaftlichen Universitäten und Fachhochschulen zu belegen, sondern auch in germanistischen Studiengängen. So bieten zum Beispiel Germanistische Institute der Eötvös-Loránd-Universität (Budapest), der Universität Debrecen und der Katholischen Pázmány Péter Universität im Rahmen der neuen Bachelor-Studiengänge Module/Spezialisationen in Wirtschaftsdeutsch an, um – im Sinne der Grundsätze des Bologna-Prozesses – den Erwartungen des Arbeitsmarktes entgegen zu kommen. Da die Ergebnisse unserer Umfrage gezeigt haben, dass Deutschkenntnisse neben den Führungspositionen auch in weiteren administrativen Bereichen eine Voraussetzung sind, kann behauptet werden, dass hier ein tatsächlich existierender Bedarf vermutet wurde. In Debrecen gibt es sogar eine enge Zusammenarbeit mit einem großen Unternehmen der IT-Branche (vgl. Katschthaler 2008), was die Bestimmung der Kursinhalte der Spezialisierung auf BA-Ebene und die Weiterbildung der Absolventen betrifft – eininder traditionsreichen ungarischen Germanistik bisher unbekanntes jedoch nachahmungswertes Phänomen. Vor dem Hintergrund obiger Ausführungen kann vermutet werden, dass eine umfassende Erkundung der Nachfrage hier noch mehr Möglichkeiten der besseren Zusammenarbeit aufdecken würde. Obige Tendenz wird höchstwahrscheinlich auch positive Auswirkungen auf die Lehrerausbildung haben und die Zahl der Lehrkräfte, die auch Wirtschafts- deutsch unterrichten können, erhöhen. In Bezug auf den Fachsprachenunterricht auf Hochschulebene kommen Kurtán/ Silye (2006: 10 ff.) bei der Beschreibung der Lage zu folgenden Schlussfolgerungen: • In den letzten Jahren entstanden Forschungsgemeinschaften auf dem Gebiet der Fachsprachenforschung, was eine begrüßenswerte Tendenz ist, da 189 András Komáromy es eine positive Auswirkung aufdie Qualität derfachsprachlichen Bildung habenwird –esgiltnun, dieseGemeinschaftenzufördernundihneneinen institutionellen Rahmen zu bieten. • Der Fachsprachenunterricht weist jedoch gewisse Mängel und Widersprüche auf, da trotz der Wichtigkeit von Fachsprachenkenntnissen bei dem Eintritt auf den Arbeitsmarkt der fachsprachliche Unterricht bei der Entwicklung der BA-und MA-Studiengänge nicht gebührend beachtet wurde. Beim letzten Punkt muss bemerkt werden, dass in wirtschaftswissenschaftlichen und militärischen Studiengängen im Gegensatz zu anderen Fächern fachliche Sprachprüfungen auf B2-Niveau als Ausgangsbedingungen gefordert werden (vgl. Kurtán/Silye 2006: 56 ff.), wodurch die Relevanz von Wirtschafts- deutsch im Rahmen der fachsprachlichen Ausbildung eindeutig wird. Auch bei den Sprachprüfungen ist das Angebot sehr breit. Insgesamt gibt es zurzeit sieben verschiedene Prüfungssysteme zur Bewertung der Kenntnisse in Wirtschaftsdeutsch auf zwei oder sogar drei Niveaustufen: ÖSD Diplome des Österreich Instituts, Zertifikat Deutsch für den Beruf und Prüfung Wirtschaftsdeutsch des Goethe Instituts, GazdálKODÓ (Székesfehérvár), OECONOM (Corvinus Universität, Budapest), Prüfungen der Wirtschaftshochschule Budapest, der Technischen Universität Budapest sowie Zöld út (Gödöllõ). Die einzelnen Prüfungen weisen große Unterschiede auf. Ein grundlegender Unterschied ist, ob sie auch Transfer-oder Übersetzungsaufgaben enthalten oder auf einsprachige Aufgaben reduziert sind. Weitere Unterschiede bestehen in den einzelnen Aufgabentypen, in den zu produzierenden Textsorten und dem Ausmaß an erwarteten wirtschaftswissenschaftlichen Kenntnissen. Einige Prüfungen scheinen sehr stark am Studiengang der veranstaltenden Hochschule ausgerichtet zu sein, einige erheben den Anspruch, international gültige Nachweise der wirtschaftssprachlichen Kenntnisse zu sein. Trotz des großen Angebots, das wahrscheinlich darauf zurückzuführen ist, dass für die Diplome in Ungarn fachliche Sprachprüfungen verlangt werden (Studierende vor ihrem Diplom sind ja die wichtigste Zielgruppe für diese Prüfungen), isteserstaunlich, dassnurwenigeFirmendieseZertifikateakzeptieren. An dieser Stelle sei angemerkt, dass eine kritische Prüfung der verschiedenen Testsysteme im Einklang mit den tatsächlichen Erwartungen des Arbeitsmarktes nötig wäre – dies betrifft auch die international eingesetzten Prüfungen des Goethe Instituts und des Österreich Instituts –, sonst könnte die Gefahr bestehen, dass die Prüfungen ihren ursprünglich formulierten Zielsetzungen nicht gerecht werden können. 190 András Komáromy 5 Schlussbemerkungen Insgesamt lässt sich feststellen, dass die (außersprachlichen) Bedingungen für das Sprachenprofil Wirtschaftsdeutsch in Ungarn sehr günstig sind. Im Zeitalter des Englischen als ‚Lingua franca‘ bekommt man immer häufiger die Devise zu hören: „Englisch ist ein Muss, Deutsch aber ein Plus“. Dass es keine leere Losung ist, ist in Anbetracht der ungarischen Verhältnisse und der Ergebnisse unserer Umfrage klar. Die Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind für KandidatenmitFremdsprachenkenntnissen deutlichbesser – inqualifiziertenPositionen sind Fremdsprachenkenntnisse sogar eine Voraussetzung. Dabei spielt in Ungarn neben Englisch das Deutsche immer noch eine eminent wichtige Rolle unter den Fremdsprachen. Für eine erfolgreiche Fremdsprachenpolitik wären großangelegte Untersuchungen über den tatsächlichen Bedarf dringend nötig. Die Ergebnisse könnten auch bestehende Probleme besser aufdecken (vgl. die untergeordnete Rolle von Sprachprüfungen) beziehungsweise Richtlinien für die Bestimmung von Kursinhalten geben. Eine stärkere Ausrichtung des Sprachunterrichts an Hochschulen und Universitäten auf die tatsächlichen Erwartungen des Arbeitsmarktes wäre eine wünschenswerte Entwicklung in der Zukunft. 6 Literatur Dannerer, Monika (1992): Wirtschaftsdeutsch in Ungarn. Eine empirische Studie über Bedarf und Probleme. In: Info DaF 19, 3 (1992), 335-349. JuG 2007 = Masát, András/Tichy, Ellen (Hg.): Jahrbuch der ungarischen Germanistik 2007. Budapest/Bonn: 2008. JuG 2008 = Böttger, Lydia/Masát, András (Hg.): Jahrbuch der ungarischen Germanistik 2008. Budapest/Bonn: 2009. Katschthaler, Karl (2009): Germanistikunterricht in Ungarn und Deutsch als europäische Lingua franca. In: Böttger, Lydia/Masát, András (Hg.): Jahrbuch der ungarischen Germanistik 2008. Budapest/Bonn 2009, 26-27. Internetquellen www 1: http://www.magyarorszag.hu/hirkozpont/hirek/ foglalkoztatas/ksh20091029.html, 5.11.2009 www 2: http://portal.ksh.hu/pls/ksh/docs/hun/xftp/gyor/kul/ kul20909.pdf, 5.11.2009 191 András Komáromy www 3: http://www.ahkungarn.hu/fileadmin/user_upload/ Dokumente/Wirtschaftsinfos/HU/Statistik/Ungarn_2008_web.pdf, 5.11.2009 www 4: http://www.budapest.diplo.de/Vertretung/budapest/de/05/ Wirtschaftliche__Zusammenarbeit/Bilaterale__WiBeziehungen__Seite. html, 5.11.2009 www 5: http://www.ahkungarn.hu/fileadmin/user_upload/ Dokumente/Bereich_CC/Publikationen/Konjunktur/2009/KB_MOE_2009_ FINAL.pdf, 5.11.2009 www 6: http://www.frissdiplomas.hu/index.php?s=1&f=3&hir=177, 3.12.2009 Fazekas, Márta (2006): Az idegennyelv-tudás, mint kulcskompetencia a magyar oktatási intézményekben az európai uniós ajánlások tükrében [Fremdsprachenkenntnisse als Schlüsselkompetenz im Spiegel der EU-Empfehlungen].http://www.okm.gov.hu/europai uniooktatas/ tanulmanyok/tanulmanyok heruntergeladen am 5.11.2009. Kurtán, Zsuzsa/Silye, Magdolna (2006): A szaknyelvi oktatás a magyar felsõoktatás rendszerében [Fachsprachenunterricht im ungarischen Hochschulsystem]. http://www.okm.gov.hu/europai-unio-oktatas/tanulmanyok/ tanulmanyok heruntergeladen am 5.11.2009. 7 Anhang Tab. 1: Wichtigkeit der deutschen Sprache in der Firma Frequency Percent Valid Percent Cumulative Percent Valid am wichtigsten 17 48,6 48,6 48,6 gleichrangig mit anderen Fremdsprachen 5 14,3 14,3 62,9 spielt eine untergeordnete Rolle 13 37,1 37,1 100,0 Total 35 100,0 100,0 192 András Komáromy Tab. 2: Die Rolle der deutschen Sprachkenntnisse bei der Auswahl von Mitarbeitern Frequency Percent Valid Percent Cumulative Percent Valid Voraussetzung in einigen Positionen 20 57,1 57,1 57,1 kann von Vorteil sein 13 37,1 37,1 94,3 zählt nicht 2 5,7 5,7 100,0 Total 35 100,0 100,0 Tab. 3: Wie werden Sprachkenntnisse geprüft? Frequency Percent Valid Percent Cumulative Percent Valid allgemeines Sprachdiplom 4 11,4 12,1 12,1 firmeninterner Test 16 45,7 48,5 60,6 allgemeines und fachliches Sprachdiplom und firmeninterner Test 4 11,4 12,1 72,7 allgemeines und fachliches Sprachdiplom 3 8,6 9,1 81,8 fachliches Sprachdiplom und firmeninterner Test 1 2,9 3,0 84,8 allgemeines Sprachdiplom und firmeninterner Test 5 14,3 15,2 100,0 Total 33 94,3 100,0 Missing keine Antwort 2 5,7 Total 35 100,0 193 András Komáromy Tab. 4: Fremdsprachenunterricht für die Mitarbeiter Frequency Percent Valid Percent Cumulative Percent Valid ja 23 65,7 65,7 65,7 nein 12 34,3 34,3 100,0 Total 35 100,0 100,0 194 András Komáromy 1. Welche Beziehungen hat Ihre Firma zu Deutschen / deutschen Firmen? (Auch mehrere Antworten sind möglich) a. Wir haben eine deutsche Mutterfirma. b. Unser Management ist deutsch. c. Wir haben deutsche Kunden. d. Wir haben auch deutsche Mitarbeiter. e. Sonstiges: ___________________________________________ 2. Sind Deutschkenntnisse ein Faktor bei der Auswahl künftiger Mitarbeiter? a. Ja, Deutschkenntnisse sind in allen Positionen eine Voraussetzung. b. In bestimmten Positionen sind Deutschkenntnisse eine Voraussetzung: _______________________________________ c. Es ist keine Voraussetzung, kann aber von Vorteil sein. d. Zählt nicht. (Gehen Sie zu Frage 4!) 3. Wie werden die Sprachkenntnisse der Bewerber geprüft? a. anhand eines allgemeinen Sprachdiploms b. anhand eines fachlichen Sprachdiploms c. mit Hilfe eines firmeninternen Tests d. Sonstiges: ____________________________________ 4. Zählen Sie einige wichtige oder häufig vorkommende Situationen auf, in denen auf Deutsch kommuniziert wird. (z.B.: Einweisung, Kontaktpflege, Veranstaltungen, Besprechungen usw.) _______________________________________________________ _______________________________________________________ 195 András Komáromy _______________________________________________________ ___________________________________________________ 5. Benutzen Sie neben dem Deutschen auch andere Fremdsprachen in ihrer Firma? a. Ja, folgende: _____________________________________ b. Nein. (Gehen Sie zu Frage 7 über!) 6. Unter den Fremdsprachen ist Deutsch… a. am wichtigsten. b. gleichrangig mit den anderen Fremdsprachen. c. nicht am wichtigsten. 7. Können/müssen Ihre Mitarbeiter an von der Firma organisierten deutschen Sprachkursen teilnehmen? a. Ja. b. Nein. 8. Anmerkungen _______________________________________________________ _______________________________________________________ _______________________________________________________ ___________________________________________________ 196