Deutsch
als
Fremd-und
Minderheitensprache
in
Ungarn:
Historische
Entwicklung,
aktuelle
Tendenzen
und
Zukunftsperspektiven
Pädagogische
Hochschule
Karlsruhe
Eötvös-Loránd-Universität
Budapest
Herausgeber
Frank
Kostrzewa/Roberta
V.
Rada
(Hgg.)
Unter
Mitarbeit
von
Elisabeth
Knipf-Komlósi
Vorwort
Bei dem vorliegenden Band zur Situation der deutschen Sprache in Ungarn
handelt es sich um eines der Ergebnisse einer Kooperation der germanistischen
Abteilungen der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe und der Eötvös-Loránd-
Universität in Budapest im Rahmen des Erasmus Programms.
Die von den ungarischen Kolleginnen und Kollegen verfassten Beiträge
umfassen thematisch ein breites Spektrum und fokussieren dabei zum einen
auf Fragen der Sprachenpolitik und Möglichkeiten der Sprachförderung (vgl.
den Beitrag von Rada: „Sprach(en)politik und Möglichkeiten der gezielten
Sprachförderung im Bereich DaF in Ungarn“) und zum anderen auf Fragen
der deutschsprachigen Hochschulausbildung außerhalb (vgl. den Beitrag von
Szabó: „Deutschsprachige Hochschulausbildungen (außer Germanistik) in Ungarn“)
und innerhalb der Germanistik (vgl. den Beitrag von Orosz/Rada:
„Germanistik in Ungarn. Herausforderungen und Perspektiven“).
Andere thematische Schwerpunkte betreffen den deutschsprachigen Fachunterricht
in Ungarn und die damit verbundenen Implikationen für die Lehrerausbildung
(vgl. den Beitrag von Árkossy: „Deutschsprachiger Fachunterricht
in Ungarn -Lehrerausbildung für den bilingualen Geschichtsunterricht an der
Eötvös-Loránd-Universität in Budapest“) sowie die Situation des Deutschunterrichts
an ungarischen Schulen (vgl. den Beitrag von Müller: „Die Situation
des Deutschunterrichts in Ungarn“).
Einweiterer Beitrag MártaMüllersfokussiert aufdie Situationdes Schulwesens
für diedeutsche Minderheit in Ungarnund nimmt hierbeidie vorschulische
und schulische Situation in den Blick.
Im Beitrag von Maria Erb „Sprachgebrauch der Ungarndeutschen: Geschichte
-Tendenzen -Perspektiven“ steht die Untersuchung der Sprachgegenwart
der Ungarndeutschen unter Berücksichtigung der historischen Dimensionen
im Zentrum der Analyse. Dabei kommt die Verfasserin zu dem Schluss,
dass die Dialekte im Rückgang begriffen sind und eine Tendenz zur Orientierung
an der Standardvarietät zu beobachten ist. Damit gingen erhebliche
funktionelle und strukturelle Verluste einher.
Gábor Kerekes beschäftigt sich in seinem Beitrag „Goethe, Golf, Adolf und
die Toten Hosen -Das Bild der Ungarn von Deutschland und den Deutschen“
mit der Frage „was für ein Bild über Deutschland in Ungarn vorherrschte, wie
undauf welcheWeise Deutschland unddie deutsche KulturinUngarn vertreten
waren und welches Bild sich in Ungarn auf Grund welcher Repräsentanten
Deutschlands verbreitet und festgesetzt hat“. In seiner Analyse berücksichtigt
er auch die Rolle des Ungarndeutschtums.
Der letzte Beitrag dieses Bandes von András Komáromy stellt die gegenwärtige
Situation des Sprachenprofils „Wirtschaftsdeutsch“ in Ungarn dar.
iii
Hierbei wird vor allem die Bedeutung deutscher Sprachkenntnisse in deutsch-
ungarischen Wirtschaftsbeziehungen beleuchtet.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal herzlich allen an diesem Band beteiligtenungarischenKolleginnenundKollegenfürdieerfolgreicheundangenehme
Zusammenarbeitdanken. EinbesondererDankgebührtabschließendauchmeiner
wissenschaftlichen Hilfskraft, Frau Hannah Kloidt, für ihre kenntnisreiche
und gründliche redaktionelle Bearbeitung der Beiträge.
Frank Kostrzewa
Der vorliegende Band ist Ergebnis eines gemeinsames Projekts zwischen
der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe und dem Germanistischen Institut
der Eötvös-Loránd-Universität in Budapest, das im Rahmen einer ERASMUS-
Partnerschaft entstanden ist. Der Anlass zu diesem Projekt mit dem Rahmenthema
„Deutsch in Ungarn” geht zurück auf die Initiative von Kollegen und
Studenten beider Institute, die es für wichtig erachteten, ein gerafftes, doch in
seinen wesentlichen Zügen umrissenes Gesamtbild über die Repräsentanz des
Deutschen (der deutschen Sprache und Kultur) in Ungarn zu erhalten. Dieses
Gesamtbild ist einerseits für die aus Deutschland anreisenden ERASMUS
Studenten wichtig, dass sie ein Bild über die Rolle und Positionierung des
Deutschen im heutigen Ungarn bekommen. Zum anderen ist es auch für die
DaF-und DaM (d.h. Deutsch als Minderheitensprache) Studenten in Ungarn
wichtig, dass sie mehrere Aspekte und Facetten der deutschen Sprache, Kultur
sowie des Deutschunterrichts in Ungarn in einem Überblick ins Auge fassen
können. Somit haben wir zugleich die Zielgruppen angegeben: gemeint sind
Studierende und Interessenten der Germanistik auf dem deutschen Sprachgebiet,
die im Rahmen eines Austauschprogramms für kürzere oder längere Zeit
zu ihren Studien an einer ungarischen Universität einen weiteren Horizont über
die deutsch-ungarischen Beziehungen bekommen, zum anderen sind die Germanistikstudenten
in Ungarn als Zielgruppe gemeint, die als Einstieg in ihre
Germanistikstudien die vielfältigen Handlungszusammenhänge des Deutschen
in Ungarn besser verstehen können. Vor diesem Hintergrund haben wir das
Themenspektrum weit gefasst: Wir trachteten danach, die gegenwärtige Situation
der deutschen Sprache in Ungarn aus soziolinguistischen, literaturhistorischen,
kontaktologischen sowie aus Aspekten der Bildung und des Unterrichts
auf verschiedenen Stufen und Bildungsebenen zeitnah zu beleuchten. Die
deutsche Sprache ist in der Geschichte Ungarns seit dem 10. Jahrhundert fest
verankert, es gab sogar Zeiten, als Deutsch als einzige offizielle Sprache und
Schulsprache des Landes galt. Nach der Wende in den 90er Jahren des vorigen
Jahrhunderts erlebte die deutsche Sprache eine wahrhaftige Renaissance, die
jedoch in unseren Tagen – entsprechend den weltweit wahrnehmbaren Tendenzen
– beachtlich zurückging. Dennoch kann in Ungarn die deutsche Sprache
iv
nach Englisch als die zweit meistgewählte Fremdsprache eine gute Position ihr
eigen nennen. Die Handlungsfelder, in denen sie relevante gesellschaftlichen
Funktionen in Ungarn innehat, sind immer noch: Deutsch als Fremdsprache
(DaF), Deutsch als Minderheitensprache, als die Sprache der zweitgrößten nationalen
Minderheit in Ungarn, mit bestimmten Aspekten der Bilingualität der
Sprecher dieser Sprachgemeinschaft. Drittens ist Deutsch als Arbeitssprache in
bestimmten Segmenten im wirtschaftlichen Sektor (ausländische Firmen) vorhanden.
Die Beiträge in diesem Band widerspiegeln die inhaltlich-thematische
Akzentsetzungdieser Funktionen. DiegenanntendreiBereicheundFunktionen
des Deutschen in Ungarn umfassen somit Teilbereiche der Wissenschaft (Forschungen
in der Germanistik zur germanistischen Literatur, Linguistik, Kultur,
Unterrichtswesen), der Bildung und Kultur sowie Segmente der Wirtschaft, in
denen die deutsche Sprache und Kultur in Ungarn präsent ist und positioniert
ist.
Die Beiträge des vorliegenden Bandes stammen von Kolleginnen und Kollegen
des Germanistischen Instituts der ELTE, die als kundige und zum Thema
forschende Experten bekannt sind. An dieser Stelle sei ihnen allen ein Dankeschön
für ihre hilfsbereite Mitarbeit ausgesagt, dem Mitherausgeber, Prof.
Dr. Frank Kostrzewa für die Initiative und freundliche Kooperation sowie für
sein Engagement, den Band in Deutschland bei dem renommierten Schneider
Verlag publizieren zu können.
Budapest, im August 2010
Elisabeth Knipf-Komlósi und
Roberta V. Rada (Budapest)
v
vi
Inhaltsverzeichnis
Vorwort iii
Sprach(en)politik und Möglichkeiten der gezielten Sprachförderung
im Bereich DaF in Ungarn 1
Roberta V. Rada
Deutschsprachige Hochschulausbildungen (außer Germanistik) in
Ungarn 37
Dezsõ Szabó
Germanistik in Ungarn. Herausforderungen und Perspektiven 49
Magdolna Orosz/Roberta V. Rada
Deutschsprachiger Fachunterricht in Ungarn – Lehrerausbil-dung
für den bilingualen Geschichtsunterricht an der Eötvös-Loránd-
Universität Budapest 65
Katalin Árkossy
Die Situation des Deutschunterrichts in Ungarn 74
Márta Müller
Die Situation des Schulwesens für die deutsche Minderheit in Ungarn.
Vom Kindergarten bis zur Schule 96
Márta Müller
Sprachgebrauch der Ungarndeutschen: Geschichte – Tenden-zen –
Perspektiven 118
Maria Erb
Goethe, Golf, Adolf und die Toten Hosen. Das Bild der Ungarn von
Deutschland und den Deutschen
Gábor Kerekes
147
Wirtschaftsdeutsch in Ungarn
András Komáromy
180
vii
viii
Sprach(en)politik und Möglichkeiten der
gezielten Sprachförderung im Bereich DaF in
Ungarn
Dr. Roberta V. Rada (PhD)
Eötvös-Loránd-Universität
Germanistisches Institut
Rákóczi út 5.
1088 Budapest
Einleitung
Es ist fast schon bis zum Überdruss bekannt, dass Ungarn hinsichtlich der
Fremdsprachenkenntnisse seiner erwachsenen Bevölkerung im internationalen
Vergleich ziemlich schlecht abschneidet, das Land nimmt einen der letzten
Plätze unter den EU-Staaten ein. Aus den 90er Jahren stehen uns Daten des
Ungarischen Statistischen Zentralamtes zur Verfügung, die uns darüber informieren,
dass auf der Basis der persönlichen Einschätzung der Fremdsprachen-
Kenntnisse insgesamt 4,4% der ungarischen Bevölkerung Deutsch, 2,2% Englisch,
1,5 % Russisch und 0,5% Französisch sprechen. Nelde / Vandermeeren /
Wölck 1991 charakterisieren die Situation, gestützt auf empirische Daten, wie
folgt: „der Besucher [wird] (...) von einem so erstaunlich hohen Grad von
Einsprachigkeit überrascht“ und „ein Fremder [hat – R.R.] ohne gute Sprachkenntnisse
des Ungarischen große Verständigungsschwierigkeiten“ (Nelde /
Vandermeeren / Wölck 1991: 80). Zehn Jahre später hat sich die Situation
nicht wesentlich verbessert. Aus der Untersuchung des Meinungsforschungsinstituts
Gallup geht hervor, dass Anfang der 90er Jahre lediglich ein Viertel der
Ungarn von sich behauptete, an einem in deutscher, englischer oder französicher
Sprache geführten Gespräch auf einem bestimmten Niveau teilnehmen zu
können, wobei 2001 die meist gesprochene Fremdsprache (FS) in Ungarn das
Deutsche war (vgl. www1, www2). Es ist jedoch weniger bekannt, dass die Ungarn
im neuen Jahrtausend so manche Erfolge bezüglich ihrer FS-Kenntnisse
erzielen konnten. Die Zahl der Ungarn, die von sich selbst behaupten, eine FS
sprechen zu können, beläuft sich mittlerweile auf 42%. Eine vergleichbare Prozentzahl
ergab sich bei der Bevölkerung der mediterranen Länder, die übrigens
Weltsprachen als Muttersprache sprechen. Ein vielversprechendes Zeichen ist
1
Roberta V. Rada
des Weiteren, dass der Anteil der Ungarn, die zwei FS sprechen, 27% beträgt,
während etwa 20% der Befragten behaupteten, in drei FS kommunizieren zu
können. Die meisten Ungarn scheinen auch dem wichtigsten sprachenpolitischen
Prinzip der EU verpflichtet zu sein, zumal zwei Drittel der Befragten es
für wichtig halten, neben der Muttersprache zwei FS beherrschen zu können
(vgl. Vágó 2006: 1).
Dieser Erfolg basiert grundsätzlich auf der Verbesserung der FS-Kenntnisse
der jüngeren Generation. Zwischen 2002 und 2005 haben in Ungarn 531.433
Personen eine staatliche Sprachprüfung erfolgreich bestanden, beinahe die
Hälfte dieser Gruppe bildeten Jugendliche zwischen 14 und 19 Jahren (vgl.
Vágó ebd.). Auch aus diesen Daten geht hervor, dass in Ungarn – wie auch
in anderen europäischen Ländern – die öffentliche Bildung als Motor des
Fremdsprachenunterrichts anzusehen ist.
Imfolgenden Beitrag wird der Versuch unternommen, den institutionalisierten
Fremdsprachenunterricht vor dem Hintergrund der ungarischen Sprachen-
und Bildungspolitik unter die Lupe zu nehmen, und zwar mit besonderer Berücksichtigung
von Deutsch als Fremdsprache.
In Ungarn hat der Deutschunterricht eine lange Tradition. Dies kann einerseits
historisch begründet werden, zumal die deutsche „Sprache, Literatur
und Kultur in Ungarn eine Geschichte [haben], die so alt ist wie die Geschichte
der Nachbarschaft der beiden Sprachgebiete“(Rainer 2001: 1544). Andererseits
beherbergt Ungarn eine deutschsprachige Minderheit, die sowohl zahlenmäßig
als auch kulturell gesehen die bedeutendste in Ungarn ist.
Die institutionalisierte Tradition von Deutsch als Fremdsprache datiert Rainer
seit der Sprachverordnung von dem Habsburger Kaiser Josef II. Im Sinne
der am 26. April 1784 erlassenen Verordnung sollte Latein, die bisherige Amtsund
Schulsprache, auf dem ganzen Gebiet des Habsburgerreiches durch das
Deutsche abgelöst werden. Im selben Jahr wurde an der Pester Universität
ein Lehrstuhl für Germanistik gegründet, der sich mit der Erforschung und
Lehre des Deutschen befasste. Dieser Lehrstuhl war der Vorläufer des heutigen
Germanistischen Instituts an der Eötvös-Loránd-Universität in Budapest, und
somit der zweitälteste nach Wien in Europa. Bis 1918 wurden weitere vier
germanistische Lehrstühle gegründet. Einer in Klausenburg, der nach 1921
wegen der Abtretung von ungarischen Gebieten im Sinne des Friedensvertrags
von Trianon nach Szeged verlagert wurde, ein zweiter in Debrecen, ein dritter
in Pressburg (der nach dem 1. Weltkrieg der Slowakei zugesprochen wurde)
und ein vierter in Pécs. Bis zum zweiten Weltkrieg galt Deutsch sowohl in der
öffentlichen Bildung, als auch im Hochschulbereich, als die wichtigste FS (vgl.
Rainer 2001: 1544).
Der Aufschwung des organisatorischen und fachlichen Ausbaus der wissenschaftlichen
Germanistik aber auch die Priorität des Deutschen als FS in der
öffentlichen Bildung haben mit dem verlorenen zweiten Weltkrieg einen enor
2
Roberta V. Rada
men Einbruch erlitten, so dass Ende 1949 beispielsweise das Fach Deutsch nur
noch in Budapest existierte, die anderen Lehrstühle in Szeged, Debrecen und
Pécs wurden aufgelöst. In der öffentlichen Bildung wurde generell das RussischealsPflichtfremdspracheeingeführt.
EinenneuenAufschwungbrachtedann
die politische Wende 1989 mit sich, die die frühere führende Position von DaF
wieder herzustellen vermochte. Für heute, knapp 20 Jahre nach der politischen
Wende hat sich die Situation des FSU jedoch wieder wesentlich verändert und
diesmal erneut zu Ungunsten des Deutschen.
Um die in der ungarischen Sprachen-und Bildungspolitik verankerten
Gründe der gegenwärtigen Situation skizzieren zu können, werden zuerst die
verwendeten linguistischen Termini geklärt, um die Arbeit theoretisch fundieren
zu können. Im darauf folgenden Schritt wird ein kurzer geschichtlicher
Überblick über den Fremdsprachenunterricht in Ungarn vom zweiten Weltkrieg
bis zur politischen Wende (im Ungarischen „Systemwechsel“ genannt) gegeben,
zumal dieses Ereignis nicht nur in der Politik, Wirtschaft und in der gesellschaftlichen
Struktur, sondern auch in dem Bildungswesen, das heißt auch im
FSU, markante Veränderungen herbeigeführt hat.
Darauf hin erfolgt im dritten Schritt – ohne Anspruch auf Vollständigkeit
– die Erörterung von jenen relevanten bildungspolitischen Maßnahmen in der
ungarischen Sprachenpolitik, die die heutige Situation des Fremdsprachen-beziehungsweise
des DaF-Unterrichtes prägen.
Erläuterung der Terminologie
Der Umgang mit den Sprachen gehört auch zu den Maßnahmen, die die erfolgreiche
oder zumindest reibungslose Funktion der Verwaltung in einem Staat
sowohl nach Außen als auch nach Innen garantieren, daher gilt die Sprach-
Politik als wichtigster Bereich der Politik.
BeidiesemweitenBegriffderSprach-PolitikwirdinAnlehnunganHaarman
1988 zwischen Sprachpolitik und Sprachenpolitik unterschieden. Die SprachpolitikrichtetsichaufeineeinzigeSpracheundbetrifftpolitischeEingriffeinderen
Struktur und Verwendung, zum Beispiel durch offiziell verordnete Sprachregelungen,
Sprachgesetze. Die Sprachenpolitik dagegen bezieht sich auf die politische
Situation in einer mehrsprachigen Gemeinschaft und regelt den rechtlichen
Status und die Funktion der einzelnen Sprachen und somit das Verhältnis von
diesen zu einander (zum Beispiel National-, Regional-oder Minderheitensprache)
(vgl. Haarmann 1988: 1661 f.). Ammon (2006: 25) verwendet die Begriffe
Spachpolitik und Sprachkorpus-Politik (in Anlehnung an die Unterscheidung
von Sprachkorpusplanung vs. Sprachstatusplanung von Kloss 1969) synonym,
zumal Sprachpolitik die von dem Staat ausgehende und initiierte Regelung des
Sprachgebrauchs meint. Die Sprachpolitik im Sinne von Sprachkorpus-Politik
befasst sich beispielsweise mit Entscheidungen zum Schreibsystem (vgl. die
3
Roberta V. Rada
Rechtschreibreform im Deutschen), Vereinheitlichung des Aussprachesystems,
trifft soziosemantische Entscheidungen überdie lexikalischen Quellen der Wortschatzerweiterung
usw. (vgl. Janich 2004: 494 ff.). Die Sprachenpolitik als
Sprachstatus-Politik meint dagegen die Sprachgesetzgebung und schafft somit
den rechtlichen, politischen und/oder gesellschaftlichen Status von Sprachen
(vgl. Janich 2004: 482). Zu den Handlungsfeldern der Sprachenpolitik gehören
beispielsweise die Wiederbelebung „toter“ Sprachen, die Verschriftung einer
bisher nur gesprochenen Sprache, die Verdrängung existierender Sprachen (vgl.
Janich 2004: 488 ff.), aber auch die Festigung der Stellung einer Sprache als Arbeitssprache
in bestimmten internationalen Institutionen (vgl. Ammon 2006:
25).
Die rechtliche Regelung des institutionalisierten Fremdsprachenunterrichts
kann zu einem Tätigkeitsbereich der Sprachenpolitik (vgl. Bosch 2001: 1361,
Balázs 1998: 39), genauer zur sogenannten „sprachlichen Innenpolitik“(Ammon
2006: 25) gezählt werden, da sich die Regelung des FSU jeweils auf das eigene
Staatsgebiet beschränkt. Der institutionalisierte Fremdsprachenunterricht bildet
darüber hinaus einen wichtigen Inhalt der Bildunsgpolitik, indem die Zahl
und der Typ der im Rahmen des Schulwesens unterrichteten Fremdsprachen
vom betreffenden Staat beziehungsweise von den für die Bildung verantwortlichen
Organen festgelegt werden. Die Sprachen-und Bildungspolitik überschneiden
sich also an diesem Punkt, der Fremdsprachenpolitik genannt wird.
Generell gilt, dass in Ungarn der institutionalisierte FSU mittels Verordnungen
der Regierung geregelt wird.
3 Die sprachenpolitische Situation in Ungarn
Bevor die sprachen-und bildungspolitische Regelung des FSU beziehungsweise
des Unterrichts von DaF erörtert wird, soll kurz die allgemeine sprachenpolitische
Situation in Ungarn als Rahmenvoraussetzung umrissen werden.
3.1
Die allgemeine sprachenpolitische Charakterisierung
der ungarischen Sprache
Die Skizzierung der sprachenpolitischen Situation in Ungarn umfasst die von
Balász (vgl. Balász 1998: 40 ff.) erstellte Kriterienliste, die sich aus Kriterien
demographischer, geographischer, geschichtlicher und funktionaler Art zusammensetzt:
•
Das demographische Kriterium meint die Zahl der Muttersprachler (vgl.
nummerische Stärke einer Sprache bei Ammon 1997) in einem gegebenen
Land. Das bekannte Stereotyp in Bezug auf das Ungarische lautet,
4
Roberta V. Rada
dassdasUngarischeeine„kleine“, „nicht bedeutende“, (geographisch)„isolierte“
Sprache sei (Balász 1998: 40). Die Zahl der Muttersprachler des
Ungarischen beläuft sich auf ca. 14-15 Mio., davon leben ca. 10 Mio. in
Ungarn selbst, die anderen vor allem in den Nachbarländern, wie Rumänien,
Süd-Ost-Slowakei, West-Ukraine beziehungsweise Nord-Kroatien.
Mit dieser numerischen Stärke steht das Ungarische auf dem 40. Platz
in der Rangliste der Sprachen der Welt, unter den 67 Sprachen Europas
nimmt das Ungarische Platz 12 ein.
•
Beim geographischen Kriterium gilt die Größe des Sprachgebietes, sowie
die Dichte der Bevölkerung (vgl. geographische Verteilung bei Ammon
1997). Wird eine Sprache in einem geographisch zusammenhängenden
Gebiet als Muttersprache verwendet, ist auch deren politischer Status
stärker als etwa im Falle von Sprachinselsprachen. Geographisch gesehen
hat das Ungarische im Karpatenbecken eine zentrale Rolle. Es leben
etwa 13 Mio. ungarische Muttersprachler in diesem relativ großen zusammenhängenden
geographischen Raum des Karpatenbeckens, der restliche,
wesentlich kleinere Teil dagegen, lebt weltweit verstreut auf Sprachinseln.
•
Das geschichtliche Kriterium bezieht sich auf die Tradition und Kultur
einer Sprache. Das Ungarische gehört zu den ältesten europäischen Sprachen.
Seine Schriftlichkeit reicht bis ins 13. Jahrhundert zurück. Zur
Zeit wird diese Sprache und Kultur an 100 Universitäten der Welt unterrichtet,
in 12 Ländern gibt es ungarische Kulturinstitute.
•
Das funktionale Kriterium meint, in welchen Bereichen und in welchem
Maße die gegebene Sprache ihre Funktion(en) erfüllen kann. Hiervon ist
auchihrPrestigeabhängig. DasUngarischegiltaufdemGebietderRepublik
Ungarn als die Mehrheitssprache und funktioniert de facto als einzige
Nationalsprache beziehungsweise solo-offizielle Amtssprache. Der genaue
Status des Ungarischen als Sprache der Mehrheit wird jedoch weder in
der Verfassung noch in einem alle in dem Land gesprochenen Sprachen
umfassendenSprachgesetzgeregelt. EsgibtlediglicheinigeVerordnungen
und Gesetze, die den Gebrauch des Ungarischen zu regeln beabsichtigen,
dies jedoch ausschließlich im wirtschaftlichen Bereich. Das Gesetz 2001
XCVI1
verpflichtet im Interesse des Schutzes der ungarischen Sprache
vor den ständigen und zunehmenden fremdsprachlichen Einwirkungen,
zur alleinigen beziehungsweise parallelen Verwendung des Ungarischen
in bestimmten kommunikativen Bereichen, wie in Wirtschaftswerbungen,
bei Ladenaufschriften sowie in bestimmten öffentlichen Bekanntmachungen.
Es versucht gleichzeitig auch die besondere Bedeutung des Ungarischen
als Nationalsprache zu bestimmen. In der Präambel des Gesetzes
1Die Quelle aller Gesetzestexte in diesem Beitrag bildete (www3), eine online erreichbare
Datenbasis.
5
Roberta V. Rada
wird betont, dass die ungarische Sprache die wichtigste Äußerung der
nationalen Existenz, der wichtigste Ausdruck der nationalen Zugehörigkeit,
der Träger der ungarischen Kultur und Wissenschaft sowie der Informationsvermittlung
sei. Daher gelte als gemeinsame Verantwortung
der heute lebenden Generationen, die ungarische Sprache zu schützen,
sie an die Nachfolger zu vererben, ihre sprachliche Umgebung zu bewahren
und ihre gesunde Anpassungsfähigkeit aufrecht zu erhalten. In
der Schlussbestimmung wird jedoch festgelegt, dass die Wirtschaftswerbungen
und Aufschriften in den Siedlungen mit gesetzlich festgelegten
Minderheitensprachen von diesem Gesetz nicht betroffen sind.
Unter den Sprachen deruralischen Sprachfamilie, zu dessen finno-ugrischem
Zweig das Ungarische genealogisch gehört, gilt gerade das Ungarische als die
numerischstärkste, aufeinemkonzentrierten undgeschlossenen geographischen
Gebiet gesprochene Sprache mit der ältesten Schriftlichkeit und vielleicht auch
mit dem größten Prestige.
3.2 Sprachliche Minderheiten in Ungarn
Ungarn bildete in der Vergangenheit eine recht lange Zeit entweder als Teil
verschiedener vielsprachiger Staatsgebilde (zum Beispiel vom Habsburgerreich
im 16-19. Jahrhundert), aber auch als selbstständiges Land (zum Beispiel das
mittelalterliche ungarische Königreich im 15. Jahrhundert) einen Vielvölkerund
vielsprachigen Staat. Es war unter den Bürgern des ehemaligen Königreichs
Ungarn, aber eigentlich auch später in der Donaumonarchie, „eine
Selbstverständlichkeit, dass die zweite oder gar die erste Bildungssprache die
deutsche war, ohne dass dies das vaterländische Zugehörigkeitsbewusstsein gestört
hätte.“(Vízkelety 2009: 17).2
Ungarn adeliger Herkunft aber auch reiche
Kaufleute und Handwerker trachteten bewusst danach, ihren Kindern meistens
mehrere Fremdsprachen, vor allem Deutsch und Französisch, durch Hauslehrer
oder durch fremdsprachige Erzieherinnen beibringen zu lassen. Zu diesem
Zweck wurde auch die Form des Kinderaustausches gerne gewählt. Doch für die
breiteren Schichten der ungarischsprachigen Bevölkerung war das überhaupt
nicht charakteristisch, zumal diese mit den anderssprachigen Mitbürgern des
mehrsprachigen Landes kaum sprachlichen Kontakt pflegen konnten (vgl. Vízkelety
ebd.).
Nach dem ersten Weltkrieg wurde Ungarn zu einem Nationalstaat mit einer
homogenen Ethnie. Dieser Prozess wurde nach dem II. Weltkrieg durch
Bevölkerungsaussiedlungen und -austausch nur noch verstärkt. In der Zeit der
2Vízkelety berichtet über seinen Großvater, der im 19. Jahrhundert als Notar in der ungarischen
transdanubischen Stadt Tata die juristischen Gespräche mit den Bürgern des einen
Nachbardorfes auf Slowakisch, mit denen des anderen auf Deutsch, und mit den Bewohnern
seiner Heimatstadt auf Ungarisch führte (vgl. Vízkelety 2009: 18).
6
Roberta V. Rada
Nationalität Anzahl im Jahre 2001
Romas 190 046
Deutsche 62 233
Slowaken 17 693
Kroaten 15 620
Rumänen 7 995
Ukrainer 5 070
Serben 3 816
Slowenen 3 040
Polen 2 962
Griechen 2 509
Bulgaren 1 358
Russen 1 098
Armenier 620
Tabelle
1:
Quelle: www 5
kommunistischen Diktatur von János Kádár hat sich der überwiegende Teil der
Nationalitäten integriert.
Laut der letzten offiziellen Volkszählung im Jahre 2001 bekannten sich
314.061 Personen, d.h 3% der Gesamtbevölkerung Ungarns, zu einer anderssprachigen
Nationalität, wobei die tatsächlichen Anteile um die 8-10% liegen
dürften.
Die Republik Ungarn ist heute weder ethnisch noch sprachlich homogen.
Zur Zeit werden in Ungarn folgende 13 anderssprachige Nationalitäten, darunter
eine ethnische (Romas) und 12 nationale Minderheiten offiziell anerkannt:
Deutsche, Slowaken, Slowenen, Ukrainer, Rumänen, Serben, Kroaten, Russen,
Griechen, Bulgaren, Polen, Armenier. Tabelle 1 veranschaulicht die zahlenmäßige
Verteilung der einzelnen Nationalitäten in Ungarn.
1993wurdevomUngarischenParlamentdasGesetzLXXVII,dassog. „Minderheitengesetz“
ratifiziert. Im Sinne dieses Gesetzes können die in Ungarn beheimateten
Nationalitäten sogenannte Minderheitenselbstverwaltungen gründen.
Zur Gründung einer solchen Selbstverwaltung braucht man im Falle der
Siedlungen mit weniger als 10.000 Einwohnern mindestens 50, bei Siedlungen
mitmehrals10.000Einwohnernmindestens100gültigeStimmen. Dieselokalen
Minderheitenselbstverwaltungen haben die Aufgabe, die Feste der Minderheiten
festzulegen, ihre Medien, ihre öffentliche Bildung, die Pflege ihrer Traditionenaufrecht
zuerhaltenundStipendienundBewerbungen auszuschreiben. Die
Landesminderheitenselbstverwaltung als Dachorganisation der örtlichen Minderheitenselbstverwaltungen
bestimmt die Landesfeste der betreffenden Minderheiten.
Sie soll Theater, Museen, Bibliotheken, wissenschaftliche und kulturelleInstitute,
Verlage, Mittel-oderHochschulensowie Rechtshilfe betreiben.
7
Roberta V. Rada
Ihr wichtigstes Recht besteht darin, alle die Minderheiten betreffenden Rechtsregeln
zu begutachten.
Die Sprache dieser Nationalitäten weist lediglich den Status einer Minderheitensprache
auf. Die Verfassung von Ungarn sieht keine Nutzung dieser
Minderheitensprachen als Amtssprachen oder Regionalsprachen vor (vgl. auch
Witt 2001: 100). Die sprachlichen Rechte der Minderheiten werden im §68
Absatz 2 der Verfassung festgelegt. Generell gilt, dass in dem Ungarn des 21.
Jahrhunderts die Verwendung der Muttersprache bei den Minderheiten theoretisch
zugelassen wird, dies jedoch ohne institutionelle Garantien (vgl. Szarka
2003: 31)(vgl. dazu ausführlich Erb und Müller in diesem Band).
3.3
Fremdsprachen-und DaF-Kentnisse der ungarischen
Bevölkerung im gegebenen sprachenpolitischen Kontext
In Anlehnung an Hessky (1995: 64 ff.) kann behauptet werden, dass die FS-
Kenntnisse der Bewohner eines Landes einerseits die Aufnahmebereitschaft der
einzelnen FS, andererseits die Bereitschaft des jeweiligen Staates, im Rahmen
einer bestimmten (Fremd)Sprachenpolitik Interesse für eine oder mehrere FS
zu wecken, aufrechtzuerhalten und zu befriedigen, widerspiegeln. Die Aufnahmebereitschaft
kann sich sowohl auf der individuellen Ebene (emotionale
und/oder pragmatische Einstellung einer FS gegenüber wie subjektive Einschätzung
nach Schönheit, Erlernbarkeit, Verwendbarkeit, sowie Familienkontakte,
Zukunfts-und Berufsvorstellungen, erreichbare Lernangebote, Person
des FS-Lehrers, Einschätzung des Lernerfolgs usw.) wie auch auf der Ebene
der offiziellen Politik manifestieren. Auf dieser letzteren Ebene ergeben sich
Fragen wie:
•
Welche Bedeutung misst man den FS-Kenntnissen der Bürger generell
bei?
•
Die Förderung welcher FS steht mit den politischen Grundsätzen des
Staates am meisten im Einklang?
•
Welche Sprachen sind für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes am
nützlichsten?
Stimmen wirtschaftliche sowie politische und pragmatische Überlegungen des
Staates mit den Interessen und Bedürfnissen der Bürger überein, kann eine
adäquate (fremd)sprachenpolitische Konzeption entwickelt werden, die zu effektiven
FS-Kenntnissen bei den Sprachteilhabern führt/führen kann.
Auf beiden Ebenen spielt die Tradition eine wesentliche Rolle. Auf individueller
Ebene als Überlegung, welche FS in der Familie bekannt sind, durch
welche FS Aufenthalte im Zielsprachenland verwirklicht werden können, usw..
8
Roberta V. Rada
Auf politischer Ebene geht es um die Tradition einer FS als Schulfach samt qualifiziertenFS-
Lehrern, den entsprechendenLehrmaterialien, derfachdidaktischmethodischer
Kultur, usw..
In Ungarn sind ausgehend von den bisherigen Erörterungen im konkreten
sprachenpolitischen UmfeldinBezugauf den Erwerb einer FS folgende Aspekte
relevant:
•
sprachliche Isoliertheit: Ungarisch als finno-ugrische Sprache umgeben
von lauter indogermanischen Sprachen in einem geschlossenen geographischen
Raum,
•
anderssprachige Minderheiten in der ethnisch und sprachlich heterogenen
Republik Ungarn,
•
die wirtschaftliche Abhängigkeit Ungarns von der Weltwirtschaft wegen
Mangel an Rohstoffen beziehungsweise das Angewiesensein auf den Außenhandel.
In Bezug auf DaF gesellen sich folgende Faktoren hinzu:
•
mehr als tausendjährige, vielfältige und rege Sprach-und Kulturkontakte
mit dem deutschen Sprachgebiet, Jahrhunderte lange Zweisprachigkeit
zur Zeit der Habsburger Monarchie,
•
Rolle der deutschsprachigen Minderheit im Land,
•
Traditionen des DaF-Unterrichts.
Aus diesen Fakten kann zumindest prinzipiell die Schlussfolgerung gezogen
werden, dass in Ungarn der Erwerb von FS, vielleicht am meisten von Deutsch,
in höchstem Maße motiviert ist und daher eine große Bereitschaft besteht,
fremde Sprachen zu erlernen. Doch die Realität zeigt gerade das Gegenteil,
selbst wenn sich in der jüngsten Gegenwart positive Tendenzen abzeichnen
(vgl. Einleitung).
Historischer Rückblick auf den Fremdsprachnunterricht
in Ungarn nach 1945
Deutscher Sprachunterricht in den ungarischen Schulen wurde durch die 1777
erlassene Verordnung von Maria Theresia „Ratio educationis“ zuerst gesetzlich
verordnet, wobei der Unterricht nur von geringem Erfolg war (vgl. Vízkelety
2009: 17). Seit der Sprachverordnung von Josef II. im Jahre 1784 (vgl.
Einleitung) fungierte das Deutsche bis zum zweiten Weltkrieg ununterbrochen
als die obligatorische lebendige Fremdsprache (neben der obligatorischen toten
9
Roberta V. Rada
Sprache Latein) in allen ungarischen Grundschulen beziehungsweise Gymnasien
und Realgymnasien (vgl. Rainer 2001: 1546). Der schulische Fremdsprachenunterricht
war damals jedoch in dem Sinne durch eine sprachliche Vielfalt
gekennzeichnet, dass die Gymnasialschüler insgesamt drei Fremdsprachen, neben
Latein und Deutsch je nach Wahl eine dritte FS, zum Beispiel Englisch,
Französisch oder Italienisch lernen mussten. Der FSU wies jedoch (auch) in
dieser Periode wenig Erfolg auf. In den Gymnasien für Jungen behaupteten in
den 20er Jahren etwa 15% der Befragten, dass sie Deutsch, nur 2-3%, dass sie
Französisch und geringe 1-3 %, dass sie Englisch sprechen würden (vgl. Vágó
2006: 2).
DieGründe fürdie schwachenFS-Kenntnisse sindin dieserZeitspannegrößtenteils
historisch verankert. Die Legitimierung des Ungarischen als Nationalsprache
war nämlich im Vergleich zu den anderen europäischen Sprachen stark
verspätet. Das Ungarische konnte erst 1844 den Status einer Staats-beziehungsweise
Schulsprache erlangen. In dem vielsprachigen Ungarn als Teil der
Habsburger Monarchie mit Deutsch als Amts-und Schulsprache fungierte die
Verwendung des Ungarischen als Symbol der nationalen Identität und bewussten
Rebellion gegen die Habsburger Unterdrücker. Die Abneigung gegen das
Deutsche ist die logische Folge der Abneigung gegen die deutschsprachigen Unterdrücker.
Auch entwickelte sich der Unterricht des Faches lebendige Fremdsprache aus
dem Lateinunterricht heraus. Das Lateinische als Sprache des europäischen
Schulwesens galt in Ungarn Jahrhunderte lang als komplexes Unterrichtsfach
mit vielfältigen Funktionen, als Maßstab der Bildung. Später fungierte es als
Mittel der Elitebildung. Damit lässt sich auch erklären, dass das Lateinische
(wie übrigens auch die andere tote Sprache, das Griechische) erst relativ spät
aus dem schulischen Fremdsprachenunterricht in Ungarn verdrängt (Griechisch
1938, Latein 1960) und durch lebendige Fremdsprachen ersetzt werden konnte
(vgl. Vágó ebd.). Heutzutage dient das Lateinische in Ungarn zur Bewahrung
von klassischen Werten in Form einer Wahlfremdsprache in der öffentlichen Bildung
beziehungsweise von universitären Fachrichtungen im Bereich klassischer
Philologie (vgl. Szépe 2001: 212).
Das Jahr 1945 brachte ein neues Staatsgebilde, neue Staatsgrenzen, die
Flucht und Vertreibung sowie die Aussiedlung der deutschsprachigen Bevölkerung
und den staatlich initiierten und organisierten Austausch von ungarischen
und slowakischen Bevölkerungsgruppen mit sich. Nach dem II. Weltkrieg zeigt
sich die Dominanz des Russischen in der offiziellen Sprachenpolitik Ungarns.
Von 1949 an wurde Russisch als obligatorisches Schulfach in den ungarischen
Grundschulen und Mittelschulen eingeführt, dessen Unterricht bis 1989 dauerte.
Westeuropäische Sprachen wurden aus bekannten politischen Gründen
absichtlich vernachlässigt. Von den 1950er Jahren an lernten die Schüler ab
der fünften, später ab der vierten Klasse der Grundschule diese einzige Fremd
10
Roberta V. Rada
sprache.3
Den Russischunterricht als einzige obligatorische FS zwischen 1949
und 1989 betrachtet man in der ungarischen Bildungsgeschichte als den größten
Misserfolg, der sich auf den ganzen schulischen FSU negativ ausgewirkt
hat (vgl. Szépe 2001: 110). Der Misserfolg kann auf unterschiedliche Ursachen
zurückgeführt werden. Der Russischunterricht hatte in Ungarn keine Tradition
und galt für die meisten Ungarn als eine Äußerungsform der sowjetischen Unterdrückung.
Die – noch dazu – verbindlich unterrichtete Sprache der Besetzer
lernte man daher nur zwangsweise und mit Widerstand, es fehlte jegliche Motivation
sowohl bei den Schülern als auch bei den Lehrern (vgl. Szilvási: 1, auch
Mátyás 2001: 115).
Die damalige Einstellung zum Pflichtfach Russich veranschaulicht ein Witz,
der aber erst nach der Wende erzählt worden ist:
„Warum konnten die Türken Ungarn 150 Jahre lang besetzt halten, die
Russen aber nur 46 Jahre? Antwort: Weil die Türken nie verlangt haben, dass
die Ungarn den Tag der Schlacht bei Mohács4
jedes Jahr als Nationalfeiertag
feiern, weil die Türken nie behauptet haben, dass sie bloß vorläufig in Ungarn
blieben und weil sie nie die türkische Sprache als Pflichtfach in den Schulen
eingeführt haben.“(Pusztai 2009: 31).
Bei der Einführung des Russischen fehlten dieelementaren Voraussetzungen
des Unterrichts (Lehrmaterialien, Lehrer), so dass es einfach unmöglich war,
einen niveauvollen Unterricht von den Lehrern sowie funktionsfähige Sprachkenntnisse
von den Lernenden zu erwarten. Von den 70er Jahren an, als die
politisch-ideologischen Zwänge auch im Bildungswesen aufgelockert wurden,
wurde dieser Quasi-Russischunterricht akzeptabel, und in den 80er Jahren als
die viel günstigere Lern-und Lehrkonstellationen einen effektiv(er)en Russischnunterricht
ermöglicht hätten, hat sich in dieser Hinsicht wenig verändert.
Die Schulen in Ungarn waren Jahrzehnte lang mit keinerlei Anforderungen
an den Fremdsprachenunterricht konfrontiert. Sie mussten im Vergleich zu
anderen Lehrfächern, wie Mathematik, Biologie oder Geschichte, keinerlei Verantwortung
für die Effektivität des FSU übernehmen.
Die Möglichkeit des Erlernens einer anderen, einer „westlichen“, Sprache als
zweiter Wahlfremdsprache bestand in dieser Zeit ausschließlich in der gymnasialen
Stufe. Doch bereits Mitte der 80er Jahre lernten nur insgesamt 20% der
Gymnasialschüler eine zweite FS, und nur 5 % in einer Stundenzahl, die die
einer Entwicklung rudimentärer Kommunikationsfähigkeit in der zweiten FS
3Wenn man bedenkt, dass ungarische Jugendliche wegen der allgemeinen Schulpflicht bis
zum 18. Lebensjahr das Russische 8 Jahre lang gelernt haben, dann ist es höchst überraschend,
dass die Russischkenntnisse der Ungarn eigentlich nicht erwähnenswert sind.
4Die 1526 in der Nähe der ungarischen Stadt Mohács verlorene Schlacht bedeutet in der
ungarischen Geschichte den Beginn einer 150 Jahre lang dauernden türkischen Besetzung.
Der Witz enthält auch eine Anspielung auf einen früheren nationalen Feiertag in Ungarn, den
7. November, an dem der Sieg der Proletarierrevolution in Russland 1918 gefeiert wurde.
11
Roberta V. Rada
ermöglichte. Die Möglichkeit Deutsch als FS innerhalb des Schulsystems zu
lernen, war relativ gering (vgl. Rainer 2001: 1546).5
SeitMitteder60erJahrekonntedieungarischeAußenwirtschaftauchinden
westlichen Ländern Fuss fassen. Der Tourismus erfuhr durch die Öffnung des
Landes einen Aufschwung, so dass sich auch ein objektiver Bedarf an Kenntnissen
westlicher Sprachen ergab. Da aber – wie bereits erwähnt – das allgemeinbildende
Schulwesen diesen gesellschaftlichen Bedarf an Kenntnissen in den
westlichen Fremdsprachen nicht decken durfte/konnte, wurde das FS-Lernen
im Privatunterricht/Privatstunden sowie seit 1981 in privaten Sprachschulen
zugelassen. Bis 1993 erreichte die Zahl der Sprachschulen 220, die Zahl der
akkreditierten Sprachschulen erreichte bis 1997 die Anzahl 20, in 15 Sprach-
schulen wurde auch Deutsch als FS unterrichtet (vgl. Rainer 2001: 1547).
Das primäre Ziel der FS-Lerner war in dieser Zeit das erfolgreiche Bestehen
einer staatlichen Sprachprüfung auf Mittel-oder Oberstufenniveau, zumal der
Nachweis einer solchen Prüfung beträchtliche Lohnzuschläge bedeutete. Die
staatlichen Sprachprüfungen wurden zentralisiert in dem sogenannten „Institut
für Weiterbildung in Fremdsprachen“ 6
organisiert und abgewickelt. Immerhin,
die Existenz solcher Sprachschulen blieb nicht ohne positive Wirkung auf den
schulichen FSU. In beiden Bereichen waren nämlich dieselben Lehrer tätig, die
immer mehr neue Methoden, Konzepte und Lehrwerke, Unterrichtstechniken –
u.a. auch im Rahmen von Weiterbildunsgkursen in Deutschland und England
– kennen gelernt und in den öffentlichen Schulen eingesetzt haben.
DasSchulwesenreagierteaufdieVeränderungdesBedarfsanFS-Kenntnissen
mit dem Schulgesetz von 1984, das den örtlichen Schulträgern die Einrichtung
von speziellen Sprachenklassen oder Klassen mit erweitertem FSU gestattete.
Die ersten bilingualen Gymnasien wurden bereits in den 80er Jahren eingerichtet,
1997 gab es landesweit 18 Gymnasien mit Deutsch als Unterrichtssprache
(vgl. Rainer ebd.).
In der Zeit vor der politischen Wende 1989 verfügte Ungarn also über eine
bescheidene Tradition des Fremdsprachenunterrichts, der durch unmotivierte
Sprachlernende und -lehrer, sowie durch das Fehlen jeglicher fachlicher Kontrolle
gekennzeichnet war (vgl. Vágó 2006: 3). Seit Ende der 70er, Anfang der
80er Jahre bahnten sich jedoch positive Tendenzen im Bereich FSU an. Nach
der Wende konnte man ausschließlich auf diese wenigen positiven Erfahrungen
zurückgreifen.
5Dabei muss auch erwähnt werden, dass ab den 80er Jahren der Unterricht von Deutsch
als Minderheitensprache gestartet werden konnte.
6Übersetzt aus dem Ungarischen „Idegennyelvi Továbbképzõ Központ“.
12
Roberta V. Rada
Unmittelbare Folgen der politische Wende in
der Bildungspolitik Ungarns
Eine markante Änderung in der Fremdsprachenpolitik Ungarns brachte die politische
Wende von 1989 mit sich, die von Faktoren, wie der Globalisierung, der
Öffnung der Landesgrenzen und später auch des internationalen Arbeitsmarktes
begleitet war. Immer mehr Ungarn hatten die Möglichkeit ins Ausland zu
reisen. Auch die Zahl der nach Ungarn reisenden Touristen stieg an, ganz zu
schweigen von der Mobilität der vor allem jüngeren ungarischen Arbeitnehmer,
was den Bedarf der Sprachkenntnisse westlicher FSn in wesentlich erhöht hat.
Dabei waren bei den bildungspolitischen Entscheidungen unmittelbar nach der
politischen Wende zwei Aspekte wegweisend. Einerseits „die Orientierung der
Kultur und Bildungspolitik nach Westen“, andererseits „die Liberalisierung des
Schulwesens“(Rainer 2001: 1547).
Als Folge der Orientierung nach Westen wurden zahlreiche Kulturabkommen
zwischen Ungarn und Österreich beziehungsweise Deutschland abgeschlossen,
es nahmen eine Reihe von kulturellen Mittlerorganisationen die Arbeit auf,
zum Beispiel das Goethe-Institut, Aktion Österreich-Ungarn, usw.. Die Möglichkeiten
für Kontakte kultureller und wissenschaftlicher Art mit den deutschsprachigen
Ländern nahmen beachtlich zu. Dazu gesellten sich gut funktionierende
wirtschaftliche Beziehungen zu den deutschsprachigen Ländern sowie die
Nähe des deutschsprachigen Raumes (Östereich als Nachbarstaat) (vgl. Mátyás
2001: 118). Diese Bedingungen konnten die Stellung des Deutschen als
Fremdsprache eindeutig verbessern.
Eine erste Äußerung der Orientierung nach Westen war die Abschaffung
des Russischen als obligatorischer Pflichtsprache in allen staatlichen Bidlungseinrichtungen.
Parallel zum Ende der Hegemonie des Russischen wuchs das
Interesse beziehungsweise die Nachfrage für „westliche“ Sprachen, wie Deutsch
und Englisch, sprunghaft an. Aber auch Französisch und Italienisch waren gefragte
Fremdsprachen. Im Unterschied zum früheren FSU wurden aber nach
der politischen Wende das Erlernen beziehungsweise der Unterricht von keiner
Fremdsprache als obligatorisch vorgeschrieben, die Wahl der Fremdsprachen
im schulischen Unterricht ist frei geworden. Das Russische, welches wie jede
andere Sprache nur Wahlfach wurde, erlebte einen dramatischen Einbruch. Die
Tabellen (2) und (3) mögen dies in der öffentlichen Bildung (2) sowie im Hochschulbereich
(3) veranschaulichen.
Die Folgen der Abschaffung des obligatorischen Russischunterrichts waren
mannigfaltig (vgl. Lamb 2004: 3 ff.). Zunächst einmal entstand ein Überfluss
an Russischlehrern, die nun ohne jegliche Berufsperspketive dastanden. Andererseits
gab es wegen des sprungartig angestiegenen Bedarfs einen akuten
Mangel an qualifizierten Deutsch-und Englischlehrern. Laut Schätzungen bedeutete
dies einen Mehrbedarf an ca. 15.000 Sprachlehrern (vgl. Tóth 1991).
13
Roberta V. Rada
Schujahr Englisch
Grundschule
Englisch
Mittelschule
Deutsch
Grundschule
Deutsch
Mittelschule
Russisch
Grundschule
Russisch
Mittelschule
1989/90 33 120 96 758 41.889 88.475 655.218 230.783
1995/96 277 404 217 698 346.
460
207.927 12.661 19.786
Tabelle
2:
DieAnzahlderFremdsprachenlernendenindenGrund-undMittelschulen
Ungarns (Angaben bei Szilvási : 3)
Akademisches
Jahr
Englisch
als FS
Englisch
als Fach
Deutsch
als FS
Deutsch
als Fach
Russisch
als FS
Russisch
als Fach
1989/90 18 889 10.153 17.241
1998/99 36.772 6.074 20.210 4.720 1966 788
Tabelle
3:
Die Anzahl der Studierenden in Ungarn, die eine FS als Fremdsprache
lernen oder als Fach studieren (Angaben bei Szilvási : 4)
Einer solchen Herausforderung war man aber nicht gewachsen und um diesen
Mehrbedarf erst eimal quantitativ decken zu können, griff man zu einer
Notlösung, die weit von der idealen entfernt war (vgl. Pusztai 2009: 32): Einstellung
von un-oder unterqualifizierten Lehrern, kurzfristige Umschulung von
ehemaligen Russischlehren oder Lehrern anderer Fächer an ungarischen Hochschulen
und Universitäten. Die Voraussetzung bei letzteren war die staatlich
anerkannte Mittelstufensprachprüfung.
Die Umschulung einer Vielzahl von Russischlehrern führte zu einem quantitativen
Aufschwung im ungarischen Hochschulbereich. Die Zahl der Deutschlehrstühle
hat sich in einigen Jahren vervielfacht, „es war die Zeit des Massenunterrichtes“(
Hessky 2008: 14). Englisch und Deutsch florierten und zogen von
Jahr zu Jahr immer mehr Studenten an. Sowohl die deutschsprachigen Länder
als auch England und die USA waren gleich zur Hilfe bereit. 1998 wurde
Ungarn von der Weltbank ein großzügiger Kredit für die Durchführung eines
umfassenden Entwicklungsprogramms im Hochschulbereich gewährt (vgl. dazu
ausführlich Medgyes/Miklósy 2000). Diese Finanzquelle ermöglichte auch die
EinführungeinerdreijährigenAusbildungfürDeutsch-undEnglischlehrer. Das
Deutschstudium wurde ein Massenbetrieb, Jahrgänge mit 150-170 Studenten
waren keine Ausnahme7
(vgl. Pusztai 2009: 32, vgl. auch Tab.2).
Die Liberaliserung des Schulwesens bestand im Sinne des Bildungsgesetzes
von 1989 (als Modifikation des Bildungsgesetzes von 1985) unter anderem
7Vgl. dazu den ausführlichen Beitrag von Orosz/V. Rada in diesem Band.
14
Roberta V. Rada
darin, dass die Schulen der öffentlichen Bildung in das Eigentum der neu entstandenen
örtlichen Verwaltungsorgane, der sogenannten Selbtsverwaltungen
übergegangen sind. Auch die Kirchen bekamen – je nach Wunsch und Bedarf
– ihre ehemaligen Schulen zurück. Die Finanzierung der Schulen erfolgte
auf Grund der, aus dem staatlichen Haushalt für Unterrichtszwecke gewährten,
normativen Unterstützung.
Infolge der Liberalisierung bildete sich ein hochdifferenziertes, pluralistisches
Schulsystem mit den unterschiedlichsten Schulorganisationsformen heraus,
in dem neben den achtklassigen Grundschulen parallel vier,-sechs-und
achtklassige Mittelschulen ins Leben gerufen wurden.
Als Folge der freien Schulwahl war nun jede Einrichtung der öffentlichen
Bildung daran interessiert, so viele Schüler wie nur möglich für sich zu gewinnen.
Daher mussten sie sich an die Erwartungen und Ansprüche der Eltern
auch bezüglich des FSU anpassen. Seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre
erfolgte eine bedeutende Expansion des FSU. Immer mehr Schüler lernten eine
FS, in immer mehr wöchentlichen Unterrichtsstunden, in Kleingruppen, immer
länger, man konnte aus einer immer größeren Palette von FS im Rahmen des
institutionalisierten FSUs wählen. Dieser FSU war jedoch stark differenziert, je
nach Schultyp, Siedlungstyp und dem finaziellem beziehungsweise familiärem
Hintergrund der Schüler.
Auch das bisher streng zentralisierte Bildungswesen, das Lehrpläne, LehrbücherundMethodenvonobeneinheitlichfestlegte,
wurdebereitsimBildungsgesetz
1985 dezentralisiert. Doch die vollständige Aufgabe der staatlichen Kontrolle
konnte erst durch das Bildungsgesetz von 1989 durchgesetzt werden. Den
Lehrern wurde größere Selbstständigkeit, Freiheit sowohl bei der Lehrplanausbildung,
alsauch beiderAuswahlvon Lehrmaterialienund -methodengewährt.
Dies war möglich, weil die Reform des Lehrbuchmarktes schon früher vollzogen
worden war (vgl. Halász 2006) und der ungarische Markt nach dem Fall
des Eisernen Vorhanges mit ausländischen Lehrwerken für den FSU überflutet
wurde. Die gewonnene Autonomie paarte sich aber mit chaotischen Zuständen
auf dem Lehrbuchmarkt, so dass die Fremdsprachenlehrer oft keine Ahnung
hatten, mit welchen Lehrbüchern sie unterrichten sollten. Um den Wegfall
von vorgeschriebenen Lehrmethoden auszugleichen, wurden neue stukturelle,
pädagogische und didaktische Ansätze und Formen aus dem Westen übernommen
und die Durchsetzung der Prinzipien eineskommunikativ orientierten FSU
empfohlen. Dies führte mehr zu Unsicherheit als zur echten Neuorientierung.
DieUnterrichtspraxis wurde dabeiimWesentlichen vomungarischen fremdsprachlichen
Prüfungssystem beeinflusst. Die staatliche Sprachprüfung hatte
– wie auch oben angedeutet – ein besonders hohes Ansehen, bedeutete Bonuspunkte
bei den Aufnahmprüfungen an Hochschulen und Universitäten und
Lohnzuschüsse an gewissen Arbeitsplätzen. Gegen Ende der 90er Jahre bildeten
diese Sprachprüfungen die Voraussetzung für den Abschluss des Studiums
15
Roberta V. Rada
im Hochschulbereich. Man musste neben dem Absolutorium über mindestens
eine staatliche Mittelstufensprachprüfung verfügen, um das Diplom bekommen
zu können. Eine Zeit lang berechtigte sogar der Besitz einer Sprachprüfung die
Schülerin denMittelschuleneinerBefreiungvomfremdsprachlichen Unterricht.
Die Erlangung des Zertifikats einer Staatsprüfung wurde – vor allem im (mittel)
schulischen FSU – zum wichtigsten motivierenden Faktor, obwohl die Vorbereitung
auf die externe Sprachprüfung nie zu den Aufgaben des schulischen
FSU gehört hat. In welchem Maße nun der schulische FSU und in welchem, die
von den Eltern finanzierten Privatstunden oder Sprachkurse tatsächlich zu den
erfolgreichen staatlichen Sprachprüfungen geführt haben, bleibt im Dunklen.
Im Endeffekt mag dieser Prozess zur Verbesserung der FS-Kenntnissse der Ungarn
(vgl. Kap. 1) geführt haben.
Was den Hochschulbereich anbelangt, ließ das Hochschulgesetz 1993 LXXX
die Universitäten und Hochschulen im Eigentum des Staates. Doch die Finanzierung
wurde auch in diesem Bereich einer Reform unterzogen und zwar durch
die Einführung der studentischen Unterstützung in Form von Studiengebühren,
die jedoch 1998 mit dem Regierungswechsel abgeschaftt wurden. Das Hochschulgesetz
1993 sicherte darüber hinaus die Autonomie der ungarischen Hochschulen
und Universitäten, setzte aber dieser Autonomie von Institutionen und
vom Unterricht durch unterschiedliche Regelungs-und Kontrollmechanismen
Grenzen. Der „Wissenschaftliche Rat des Hoschschulbereiches“(„Felsõoktatási
Tudományos Tanács“), ist beispielsweise für die Finanzierung und für das Starten
von neuen Fachrichtungen zuständig, die „Ungarische Akkreditierungskommission“(„
Magyar Akkreditációs Bizottság“) sorgt für die Qualitätssicherung.
Die neuen Verhältnisse nach 1989 führten somit im Bereich des institutionalisierten
FSUs zu erheblichen Problemen. Es tauchten eine Reihe Probleme
und Schwierigkeiten auf, die die Sprachenpolitik der Zeitspanne zwischen 1989
und 1995 charakterisiert haben (vgl. Hessky 1995: 71-72). Es fehlte an einer
kohärenten, klaren und in allen wesentlichen Punkten durchdachten Konzeption,
die man wegen des stürmischen Tempos des Wandels (damals übrigens
in allen Lebensbereichen) von heute auf morgen nicht vorlegen konnte. Neue
Maßnahmen sind immer kostenaufwendig und die finanziellen Eigenmittel der
neuen ungarischen Regierung waren dazu in der behandelten Zeitspanne sehr
bescheiden. Hinzu kamen Mängel der fachlichen Kompetenz auf der Entscheidungsebene.
Was die Situation von DaF in den 90er Jahren betrifft, bewertet sie Hessky
(2008: 13) eindeutig positiv, zumal sie trotz der oben geschilderten Probleme
sowohl qualitativ wie auch quantitativ gesehen durch einen Aufschwung gekennzeichnet
war.
16
Roberta V. Rada
6
Das Bildungsgesetz von 1995 – der „Nationale
Grundlehrplan“
6.1 Allgemeines
Die wesentlichsten inhaltlichen Neuerungen in der öffentlichen Bildung – so
auch in Bezug auf den institutionalisierten FSU – wurden erst im Bildungsgesetz
130/1995 (X.26.) (Verordnung der Regierung) erlassen, und in dem sog.
„Nemzeti Alaptanterv“, wortwörtlich „Nationalen Grundlehrplan“, zusammengefasst,
den man im Ungarischen als NAT abzukürzen pflegt. Der NAT gilt als
Grunddokument der öffentlichen Bildung in der Republik Ungarn und bildet
die einheitliche Grundlage für die schulische Ausbildung.
Im NAT werden teils einheitliche Grundanforderungen formuliert, teils wird
eine Differenzierung auf dieser Basis ermöglicht. Der NAT hat in allen ungarischen
Schulen Geltung und möchte die grundlegenden Lerninhalte in allen
Schultypen einheitlich und ausgewogen gelten lassen. Er beschreibt das gemeinsame
Unterrichtsprogramm für die zehnjährige Schulpflicht, das heißt von
der ersten Klasse der Grundschule bis zur zweiten Klasse des Gymnasiums
(das heisst für die zehnte Klasse) in zehn Bildungsbereichen. Die fehlenden
Ziele, Inhalte usw. für die elfte und 12. Klasse, d.h. bis zum Abitur, wurden
durch die Erweiterung der allgemeinen Schulpflicht bis zum 18. Lebensjahr im
modifizierten Gesetz von 2002 festgelegt.
Der NAT deckt nur 50-70% der vollständigen Unterrichtszeit ab, lässt also
ergänzende Inhalte und Anforderungen als lokale Initiativen zu. Es soll ein flexibles
Schulsystem entstehen, den Bildunsgeinrichtungen wird eine wesentlich
größere Freiheit und Selbstständigkeit eingeräumt. Statt geschlossener Lehrpläne
mit ihren genau vorgeschriebenen Inhalten und allgemein formulierten
Zielen regt der NAT dazu an, auf Grund des Grundlehrplans sog. lokale Lehrpläne
zu erstellen, das heißt Curricula selbst zu entwickeln, Lehrmaterialien
und Methoden selbst auszuwählen beziehungsweise zu gestalten.
Bereits zwei Jahre nach der Einführung des NAT stellte sich in einer Umfrage
des Bildungsministeriums heraus, dass die Lehrer mit der Entwicklung
von Lokalplänen völlig überfordert waren (vgl. Jelentés 1997). Deshalb wurden
im Auftrag des Ministeriums etliche Modelllehrpläne herausgearbeitet, die
bei vielen lokalen Lehrplänen als Orientierung fungierten (vgl. Mátyás 2001:
114).
Der NAT legt nicht ein festes Sytem von Lehrfächern sondern zehn sogenannte
Bildungsbereiche fest, wie Ungarische Sprache und Literatur, Mathematik,
Mensch und Gesellschaft, Mensch und Natur, Unsere Erde und Umwelt,
Künste, Informatik, Sport, Lebensführung sowie Lebendige Sprachen. Im letzteren
Bildungsbereich beziehen sich die Ziele, Inhalte und Anforderungen auf
alle Fremdsprachen als eine Einheit.
17
Roberta V. Rada
Dabei fanden die im Maastrichter Vertrag formulierten Prioritäten besondere
Beachtung. Auch in den ungarischen Bildungseinrichtungen sollten nicht
festgelegte Bildungsstoffe, sondern Fertigkeiten und Kompetenzen vermittelt
werden, die die Integration in die Gesellschaft und in den Arbeitsmarkt fördern
sowie ein lebenslanges Lernen ermöglichen. Alle Bildungsbereiche sind,
ebenfalls im Sinne des Maastrichter Vertrags, durchdrungen von:
•
Heimat-und Volkskunde, (Bewahrung nationaler Traditionen, Entwicklung
des nationalen Identitätsgefühls)
•
Anschluss an Europa sowie an die Welt (Vermittlung des europäischen,
humanistischenWertesystems, StärkungdesZugehörigkeitsgefühlszuEuropa,
Öffnung nach Europa, Toleranz gegenüber anderen Kulturen)
•
Umwelterziehung
•
Kommunikationskultur
•
Körperliche und seelische Gesundheit
•
Lebenslanges Lernen
•
Berufsorientierung
6.2 Fremdsprachenunterricht im NAT
In Bezug auf den Bildungsbereich Moderne Sprachen wird im NAT im Rahmen
des Grundschulunterrichtes eine obligatorische FS vorgeschrieben. Jeder
ungarische Schüler soll ab dem sechsten bis zehnten Lebensjahr im Rahmen
der öffentlichen Bildung eine FS erlernen und eine zweite im Alter zwischen
dem 12. und 16. Lebensjahr kennen lernen, wobei für diese zweite, nicht obligatorische
FS, im NAT keine Rahmenbedingungen angegeben werden. Für
den Beginn der ersten obligatorischen Fremdsprache wird die vierte Klasse der
Grundschule (zehntes Lebensjahr) empfohlen. Bei der Wahl der zweiten FS
sollten neben den am meisten verbreiteten Sprachen (Englisch und Deutsch)
auch Sprachen in Frage kommen, wie Französisch, Italienisch, Spanisch, Russisch,
oder die Sprache einer in Ungarn lebenden nationalen Minderheit. Auch
Latein beziehungsweise Griechisch können als FS gelernt werden, je nach den
personalen Bedingungen an den Schulen. Für den Unterricht der obligatorischen
FS werden im NAT zwei bis drei Wochenstunden vorgesehen. Unmittelbar
nach der Einführung des NAT konnten die ungarischen Grundschulen aus
finanziellen Gründen jedoch nur eine einzige obligatorische FS anbieten, die
entweder Deutsch oder Englisch war.
Die Bedeutung des Fremdsprachenunterrichts wird im NAT darin gesehen,
dass er den Lernenden eine Wirklichkeit zu erschließen hilft, die außerhalb ihres
18
Roberta V. Rada
eigensprachlichen Erfahrungsbereiches liegt. Durch den Erwerb einer Fremdsprache
werden der Horizont der Lernenden erweitert, der Blick für Gemeinsamkeiten
und Unterschiede geschärft, Vorurteile abgebaut und Grundlagen
für den Austausch zwischen den Kulturen geschaffen (vgl. Feld-Knapp 2009).
Bei der Umsetzung dieser Ziele kommt dem Lehrstoff und den Lehrmethoden
eine besondere Bedeutung zu.
Im NAT wird der Begriff des Lehrstoffs anders als bisher definiert. Darunter
sind nämlich nicht nur der Sprachstoff, sondern ein ganzer Komplex von
zu behandelnden Themenbereichen, Inhalten und eine Vielfalt von möglichen
Unterrichtsmaterialien zu verstehen. Der Sprachstoff macht nur einen Teil des
Lehrstoffes aus, dem Sprachlehrer werden Freiräume zugestanden, und er kann
das gesamte Material selbstständig zusammenstellen. Hinsichtlich des zu verwendenden
methodischen Instrumentariums in der Schule wird vom NAT ein
ParadigmenwechselvonderGrammatik-Übersetzungsmethodezurpragmatisch
und kommunikativ orientierten FS-Didaktik bevorzugt. Bis in die 60er Jahre
hinein herrschte nämlich in der Methodik des FSU in Ungarn die synthetischdeduktive
Grammatik-Übersetzungs-Methode (GÜM), deren Hauptinhalt im
Unterricht die Vermittlung der Grammatikregeln sowie deren praktische Anwendung
in einem Übersetzungstext war. Das bedeutete, dass die Aneignung
der Grammatik mit dem Inhalt des Unterrichts identisch war. Offensichtlich
wurden die Methoden des Unterrichts in den alten Sprachen auf die Vermittlung
der modernen Sprachen übertragen, und die Sprache wurde im Unterricht
nicht in ihrer Grundfunktion als Mittel zur menschlichen Kommunikation gesehen.
Es wurde im Unterricht nicht in der Fremdsprache, sondern über die
Fremdsprache gesprochen. Es wird zwar viel über die Vorteile des kommunikativen
Unterrichts gesprochen, aber in Wirklichkeit ist es sehr lehrer-und
schulabhängig, was und wie unterrichtet wird (vgl. Feld-Knapp ebd.).
Der NAT sieht auch eine veränderte Rolle der Sprachlehrer vor, die als
Moderatoren und Helfer die Persönlichkeit, die Interessen und Bedürfnisse der
Schüler im Unterrichtsprozess weitgehend berücksichtigen sollen.
Im 18. Lebensjahr muss jeder ungarische Schüler in einer FS obligatorisch
eine Abiturprüfung ablegen. Das Niveau dieser Prüfung soll mindestens dem
einerMittelstufensprachprüfungentsprechen. DasAbiturineinerFSkonntebis
2005 durch den Nachweis der staatlichen Mittelstufenprüfung ersetzt werden.
Zur Illustration sollen an dieser Stelle die allgemeinen Anforderungen für
die 12. Klasse, das heißt für das Abitur, in den modernen Sprachen kurz
zusammengefasst werden:
•
Anforderungen bezüglich der Kommunikationsfähigkeit der Schüler: Sie
sollten fähig sein, die FS verständlich zu verwenden, Personen und Gegenstände
in der betreffenden FS zu beschreiben, Vergleiche anzustellen,
ihre Gefühle, Meinungen auszudrücken, um Informationen und Erklärungen
bitten, beziehungsweise solche geben, Informationen zu sammeln und
19
Roberta V. Rada
weiterzugeben,Hinweisezuverstehen,zubefolgenundzuerteilen,anRollenspielen
teilzunehmen sowie Gespräche zu initiieren beziehungsweise zu
führen.
•
Anforderungen bezüglich der Kooperationsfähigkeiten: Die Schüler sollenanPaar-
undGruppenarbeitteilnehmen, lebensnaheAufgabenplanen
und durchführen (Interviews, Schulzeitung, Theaterspiele), an Lernspielen
und Wettbewerben teilnehmen.
•
Anforderungen in Bezug auf die Entwicklung der selbstständigen Lernfähigkeiten:
Den Schülern soll die Möglichkeit gegeben werden, selbstständig,
unter Zuhilfenahme unterschiedlicher Hilfsmittel zu arbeiten.
Im Mittelpunkt des FSU sollte also im Sine von NAT die Entwicklung der
kommunikativen Kompetenz stehen, wobei auch kognitive (zum Beispiel Informationen
sammeln und weitergeben, Hinweise verstehen, befolgen und erteilen)
und affektive Fähigkeiten (zum Beispiel Kooperationsfähigkeiten) berücksichtigt
worden sind. Was die detaillierten Anforderungen anbelangt, wird
der Lernstoff in Form von kommunikativen Funktionen (zum Beispiel gratulieren,
sich bedanken, sich entschuldigen usw.), kommunikativen Situationen
(zum Beispiel Patient oder Begleiter beim Arzt, Gast oder Kellner im Restaurant
usw.), und semantisch-grammatischen Kategorien (zum Beispiel Satztypen,
Aktiv-Passiv-Konstruktion, Konjunktionen, usw.) sowie Themenbereichen
(zum Beispiel Umwelt, Reise, Technik, Beruf usw.) angegeben. Die zu
entwickelnden Kompetenzen sind in den Fertigkeiten Sprechen, Schreiben, Lesen
und Hören sowie Wortschatz ausführlich genannt. Es wird ein der kommunikativen
Situation/Absicht angemessener, abwechslungsreicher allgemeinsprachlicher
Wortschatz verlangt.
6.3
Die durch den NAT generierten Probleme des FSU
in der öffentlichen Bildung
Die durch den NAT tatsächlich geprägte Situation des FSU in Ungarn bewertet
Szépe Ende der 90er Jahre nicht mehr so optimistisch (vgl. Szépe 2001: 212ff).
Es ist für einen Schüler in der ungarischen öffentlichen Bildung unmöglich,
sich
1. eine zu einem anderen Sprachtyp gehörende fremde Sprache,
2. beginnend im 10. Lebensjahr,
3. im Laufe von 4 Schuljahren,
4. in 2-3 Wochenstunden,
20
Roberta V. Rada
5. in Klassen mit 25-30 Schülern,
6. auf einem Niveau anzueignen, dass
7. er im Stande ist,
8. die betreffende FS in allen ihren relevanten Funktionen zu benutzen.
Ad 1. Die überwiegende Mehrheit der ungarischen Fremdsprachenlerner
mit einer finno-ugrischen Sprache als Muttersprache lernt eine indoeuropäische
Sprache als FS. Das ist selbstverständlich keine dramatische Opposition, zumal
die ungarische Sprache – unter anderem auch in Folge der Globalisierung –
mittlerweile indoeuropäische Züge angenommen hat. Doch ist es für einen
Deutschen, Schweden oder Holländer wesentlich leichter, Englisch zu lernen
als für einen Ungarn. Auch Gemeinsamkeiten beziehungsweise Unterschiede
kultureller Art können die Effektivität des FSU beeinflussen.
Ad 2. In psycholinguistischen Untersuchungen wurde die Relevanz des frühenBeginnsdesFS-
Erwerbseindeutig nachgewiesen. DerBeginndesErlernens
der ersten FS in der ungarischen Schulstruktur ist mit dieser Präferenz in Widerspruch
geraten.
Ad 3. Im Sinne der linearen Lehrplan-Struktur kumulieren sich die im
Laufe der einzelnen Schuljahre erworbenen FS-Kenntnisse. Doch keine (oder
nur relativ wenige) menschliche Tätigkeit(en) kann/können sich innerhalb von
4 Jahren im Rahmen eines linearen Prozesses angeeignet werden.
Ad 4. Der Unterricht in einer FS mit insgesamt 2-3 Wochenstunden kann
notwendigerweise nur auf einem relativ niedrigen Niveau erfolgen. Die Erweiterung
der FS-Kenntnisse ist für einen ungarischen Schüler erst im außerschulischen
Bereich möglich (Privatstunden, Kurse in Sprachschulen, sowie Ferienlager
mit Schwerpunkt FS im Sommer).
Ad 5. Bis vor einigen Jahren wurden die schülerstarken Klassen in den
Sprachstunden geteilt, wovon eine größere Effektivität erwartet wurde. Gegenwärtig
ist das jedoch aus finanziellen Gründen nicht mehr durchzuführen. In
Dorfschulen ist diese Lücke in der Finanzierung nicht unbedingt mit Niveauverlust
verbunden, zumal hier die Klassen aus demographischen Gründen kleiner
geworden sind. Nicht so aber in den Städten, in deren Grundschulen viel mehr
Schüler eine FS lernen.
Ad6. DieschulischenAnforderungeninBezugaufdieFremdsprachenkenntnisse
sind relativ konturenhaft, in Anlehnung an das threshold-level-System, im
Sinne der Empfehlungen der Kommission für Kultur des Europarates, auf das
Minimum beschränkt. Aus diesem Grunde sind die schulischen Anforderungen
mit den außerschulischen sprachlichen Anforderungen größtenteils nicht kompatibel.
Ad 7. Hier geht es vor Allem um ein altersspezifisches Problem. Die Schüler
im Teenager-Alter kommunizieren nämlich am häufigsten und liebsten mit
21
Roberta V. Rada
ihren Altersgenossen. Eine Kommunikation unter Gleichaltrigen in einer FS
ist für einen alltäglichen ungarischen Schüler im schulischen Rahmen nur sehr
selten möglich, und dies eher mit einem Ad-hoc-Charakter (zum Beispiel mit
einem Schulchor ab und zu für wenige Tage ins Ausland fahren). Schüleraustauschprogramme
können von der Schule allein nicht finanziert werden, selbst
in solchen Fällen müssen die Eltern tief in die Tasche greifen. Die Schulkinder
müssen sich jedoch beim FSU gleichzeitig auch bestimmte kommunikative
Bedürfnisse von Erwachsenen im Voraus aneignen.
Ad 8. Die Funktionsfähigkeit der fremdsprachlichen Kommunikation bedarf
einer Differenzierung. Es muss näher bestimmt werden, welche FS-Kenntnisse
je nach Alter und Beruf relevant sind beziehungsweise wie sie erworben werden
können (vgl. Szépe 2001: 213 ff.).
Die von Szépe formulierten Probleme stellen eindeutig unter Beweis, dass
trotz dessteigenden Bedarfs anfremdsprachlichenKenntnissen im NAT für den
BereichdesFSUnichtdielangfristigestrategischeKonzeptionzurGeltungkam,
die den Grundbaustein des schulischen FSU bilden müsste. Insgesamt kann die
Schlussfolgerunggezogenwerden, dassderFSU(auch)inderzweitenHälfteder
90er Jahre nicht „zu den zentralen Entwicklungsbereichen der Bildungspolitik
gehört hat“(Mátyás 2001: 115).
Global gesehen zielt die ungarische Bildungspolitik nach der Jahrtausend-
wende, alsoinderGegenwart, daraufab, denFSUentlangeinemodermehreren
dieser Parameter aufzulockern (vgl. unten).
Betrachtet man die Situation im Bereich DaF bis zur Jahrtausendwende, so
steht in der öffentlichen Bildung die Zahl der Deutschlernenden noch über der
der Englischlernenden, die Zahl der in Deutsch abgelegten staatlichen Sprachprüfungen
ist auch höher als beim Englischen (vgl. Rainer 2001: 9). Die
Verteilung richtet sich nach Schul-, Siedlungstypen, Schichten-und Raumverteilung:
Je weiter vom deutschem Sprachgebiet entfernt, je größer die Siedlung,
je höher das Bildungsniveau der Eltern, desto weniger wird Deutsch gewählt.
Im Hochschulwesen wird jedoch eindeutig mehr Englisch als Deutsch gewählt.
Das Deutsche wurde in der Zeitspanne zwischen 1989 und Ende der 90er Jahre
von den meisten Ungarn noch als Lingua franca in Ostmitteleuropa betrachtet.
Darüber hinaus fungierten das Französische, das Spanische sowie das Italienische
als Wahlfremdsprachen.
Zur Jahrtausendwende wurde auch die Reform des staatlichen Sprachprüfungssystemsvollzogen,
diedasMonopoldesZentralenSprachprüfungsinstituts
aufhebt und die Gründung von weiteren Sprachprüfungsinstituten mit anderen
Sprachprüfungen (wie TELC, BME usw.) erlaubt und akzeptiert (vgl. Szépe
2001: 112).
22
Roberta V. Rada
Die Neuregelung des Abiturs 2002
Die ungarische Bildunsgpolitik wurde dank des EU-Beitritts Ungarns 2004 in
den 2000er Jahren in sehr starkem Maße durch die geltenden bildungspolitischen
Strategien der EU geprägt (vgl dazu ausführlich Kecskés 2003). Darüber
hinaus wurde sie auch von den in den 2000er Jahren duchgeführten PISA-
Untersuchungen, in denen die ungarischen Schüler nicht besonders gut abgeschnitten
haben, beeinflusst.
Die neue bildungspolitische Situation wurde in der öffentlichen Bildung in
erster Linie durch die Reform des Abiturs markiert, das neue Gesetz (Entscheidung
des Bildungsministers 40/2002 (V.24) trat aber erst 2005 in Kraft.
Im selben Jahr wurde an allen Mittelschulen das zweistufige Abitur eingeführt.
Die Reform des Abitursystemsbeabsichtigt die Standardisierung, die Prüfungsmöglichkeit
auf unterschiedlichen Stufen sowie die neue Regelung des Einstiegs
in das Universitätsstudium. Demnach kann die Abiturprüfung auf zwei Stufen,
auf einer mittleren sowie auf einer oberen Stufe, abgelegt werden.
Das generelle Ziel der Abiturprüfung in der Fremdsprache ist das Messen
der kommunikativen Fremdsprachenkenntnisse. Die Abiturprüfung ist immer
einsprachig, wird also in der betreffenden Fremdsprache abgelegt.
Die generellen Anforderungen der Abiturprüfung in einer Fremdsprache
sind von den Empfehlungen des Europarates in Bezug auf den FSU geleitet,
die Bestimmung der Stufen richtet sich nach der EU-Skala. Das Niveau der AbiturprüfungaufmittlererStufeentsprichtderStufeA2-
B1, dasderoberenStufe
dem Niveau B2. In der einschlägigen Regelung werden die ausführlichen Prüfungsanforderungen
ähnlich wie im NAT (vgl. Kapitel 5.2) je nach Fertigkeiten
(Lesen, Hören, Sprechen und Schreiben) formuliert, verlangte Textsorten,
Themenbereiche, kommunikative Situationen und Absichten, grammatische
Konstruktionen sowie Wortschatzbereiche angegeben. Die Prüfunganforderungen
werden im Zusammenhang mit den Empfehlungen des Europarates je
nach Stufe (mittlere oder obere Stufe) differenziert.8
Auch der Ablauf der
Abiturprüfung wird beschrieben. Die Prüfung besteht auf beiden Stufen aus
einem schriftlichen und einem mündlichen Teil, im Rahmen beider Prüfungsteile
werden sowohl die grammatische wie auch die lexikalische Kompetenz
gemessen.9
Parallel zum neuen Abitur wurden die Aufnahmeprüfungen für die Universitäten
abgeschafft und ein kompliziertes Punktesystem anstelle der Aufnah
8Beispielsweise wird auf der mittleren Stufe verlangt, einen Einladungs-oder einen Grußkartentext
zu produzieren, auf der oberen Stufe dagegen sollten die Abiturienten einen Leserbrief
oder einen Beitrag für eine Schülerzeitung verfassen können.
9Die Einführung des neuen Abiturs galt übrigens als eine riesengroße logistische Herausforderung
und führte bereits 2005 wegen Durchsickerung der Abiturfragen eine ernste
bildungspolitische Krise herbei.
23
Roberta V. Rada
meprüfungen für die Zulassung zum Studium ausgearbeitet. Aus Platzgründen
muss auf die ausführliche Erläuterung dieses Punktesystems verzichtet werden
(vgl. dazu detailliert: www 4).
8 Das Hochschulgesetz 2005
Das Hochschulgesetz CXXXIX von 2005 setzt sich zum Ziel, den ungarischen
Hochschulbereich – nach dem EU-Beitritt des Landes – den Beschlüssen der
Konferenz der EU-Bildungsministern in Bologna entsprechend EU-konform zu
gestalten. Die ungarischen Hochschulen und Universitäten sollen moderne
Kenntnisse vermitteln, im internationalen Maßstab konkurrenzfähig sein und
mittelbar oder unmittelbar der technologischen Innovation dienen. Sie sollen
neben den traditionellen, die in der Magna Charta Europäischer Universitäten
festgelegten Werte bewahren, um sich der Europäischen Hochschul-und Forschungslandschaft
anschließen zu können. Die hohe Qualität des Unterrichts
und der Forschung soll mit der Anpassung an die realen wirtschaftlichen, sozialenundfinanziellenVerhältnissedesLandesHandinHandgehen,
ergänztdurch
die Gewährung der studentischen Chancengleichheit und die erfolgreiche Praktizierung
der Begabtenförderung. Im Interesse der Mobilität von Studenten
und Lehrkräften wurde die gesetzliche Möglichkeit des Anschlusses an internationale
Projekte (wie TEMPUS, ERASMUS) bereits am Anfang der 2000er
Jahre gewährt.
Desweiteren sollen drei wesentliche Aspekte dieses Hochschulgesetzes hervorgehoben
werden, die den FSU und dadurch auch den DaF-Unterricht im
ungarischen Hochschulbereich maßgeblich – samt den durch das Gesetz generierten
Problemen – geprägt haben und auch zur Zeit prägen.
8.1 Integration im Hochschulbereich
Das Hochschulgesetz verordnet die Integration von ansonsten überwuchernden
Hochschulen und Universitäten diverser Profile, wodurch eine Reduzierung der
Hochschullandschaft angestrebt werden sollte. Die Zahl der Instutionen im
Hochschulbereich ist dadurch wesentlich gesunken, was auch den FS-Bereich
stark betroffen hat.
8.2 Einführung der modularisierten Studiengänge
Im Sinne des Hochschulgesetzes 2005wurden ein Jahr späterauch in dem ungarischen
Hochschulbereich die modularisierten Studiengänge mit den Abschlüssen
Bachelor und Master sowie die höhere Fachausbildung – für Erwachsene
mit Abitur – ohne akademischen Abschluss und die fachliche Weiterbildung
von Erwachsenen mit abgeschlossener akademischer Ausbildung eingeführt.
24
Roberta V. Rada
Allgemeines Ziel der dreijährigen BA-Studiengänge ist die Ausbildung von
Fachleuten, die über gute sprachliche Kompetenz verfügen und sich in den
wichtigsten Teilbereichen sehr gut auskennen. Bei einer modernen FS betrifft
das neben der Sprache die Literatur, die Landeskunde, die Kultur, die Politik,
etc.. Diese Ausbildung ist praxisorientiert, nach dem Abschluss sollen
die Absolventen auf dem Arbeitsmarkt ihre erworbenen Kenntnisse umsetzen
können (vgl. Bassola 2008: 18-19). Die sechssemestrige Ausbildung stellt eine
Grundausbildung dar, die noch kein Universitätsdiplom nach sich zieht und damit
auch nicht zur Unterrichtstätigkeit in einer FS (auf keiner Stufe) befähigt.
Die entsprechende akademische Ausbildung können die Studierenden auf der
MA-Ebene erwerben.
Auf der BA-Stufe soll im Sinne des Hochschulgesetzes von 2005, also gesetzlich
vorgeschrieben, auf die Vermittlung wissenschaftlier Ergebnisse verzichtet
werden. Das hat zur Folge, dass die Studenten, die mit einem BA-Diplom
aussteigen, keine ausreichenden theoretischen Grundlagen erhalten, wodurch
auch ihre Grundlagen für die MA-Ausbildung nicht gesichert sind. Die MA-
Ausbildung geht im fremdsprachlichen Bereich in zwei Richtungen: zum einen
gibt es das Lehramtsstudium und zum anderen gibt es den Master in Philologie.
Die Zeit mit vier Semestern auf der MA-Stufe ist viel zu kurz, um die von
der BA-Stufe mitgebrachten Defizite nachzuholen. Besonders problematisch
wird es für die Lehramtstudierenden auf MA-Stufe sein, zumal sie zwei Fächer
studieren müssen (vgl. Bassola 2008: 19).
Des Weiteren veranschaulicht das Hochschulgesetz, wie sich im FSU der
Wandel des traditionellen Wertesystems, der abnehmende Einfluss und die
ins Negative geschlagene Beurteilung der humanen Bildung durch die Gesellschaft
niederschlägt. Die Konvertibilität der Grundausbildung in einer FS nach
sechs Semestern ist übrigens von vielen Bedingungen abhängig: zunächst von
den Sprachkenntnissen und Kompetenzen der Studierenden zu Beginn der BA-
Ausbildung, aber auch davon, inwieweit von den Studierenden die gegebenen
Spielräume bei der Wahl der nicht-obligatorischen Module und differenzierten
Spezialisierungen genutzt werden.
Die durch den Bologna-Prozess ausgelöste wichtigste Herausforderung für
alle Universitäten, die sich mit FSU beschäftigen, besteht nach Kertész darin,
dass die traditionellen Werte des Fremdsprachunterrichts radikal infrage gestellt
werden (vgl. Kertész 2008: 30). Die Pflege einer fremdsprachigen Kultur,
die Anwendung hochkarätiger Ergebnisse der Sprach-und Literaturtheorie
auf die Untersuchung der betreffenden FS und Literatur werden nicht mehr
benötigt. Statt dessen wird erwartet, den Studenten praktische Fertigkeiten
in einer Fachsprache, im Fremdenverkehr, in fremdsprachiger Administration
oder Informationstechnologie zu vermitteln (vgl. Kertész 2008: 30).
Es ist fraglich, ob diese Ausbildung zur Verbesserung der Situation des
FSU in Ungarn beitragen wird. Das Bologna-Modell ist in Ungarn in der
25
Roberta V. Rada
Erprobungsphase, seine Ergebnisse und Erfahrungen stehen deshalb noch aus.
Zu den konkreten Inhalten, Methoden und Problemen in der BA-und MA-
Ausbildung im Bereich Germanistik gibt es eine ganze Reihe von aktuellen
einschlägigen Publikationen (vgl. Orosz/V. Rada in diesem Band).
8.3 Veränderung der Finanzierung
EinweitererAspektdesHochschulgesetzesvon2005, welcherdenFSUimHochschulbereich
stark beeinflusst, ist, dass der Staat auf seine Dominanz bei der
Verteilung finanzieller Quellen in den Bereichen Wissenschaft und Kultur und
Unterricht verzichtet, was zur radikalen Änderung in den Mechanismen der
Finanzierung geführt hat (vgl. Kertész 2008: 33).
Erstens erfolgt die an eingeschränkte staatliche Finanzierung in Form einer
normativen Unterstützung, wobei der Staat für jedes akademische Jahr
für jedes Fach / jede Fachrichtung die Zahl der staatlich finanzierten Studienplätze
festlegt. Über diese Quote hinaus besteht auch noch die Möglichkeit
der Eigenfinanzierung der Studien. Die normative Unterstützung durch den
Staatshaushalt wird auf der Grundlage von messbaren Leistungsmerkmalen,
wie zum Beispiel die Zahl der Studierenden je nach Fachrichtung, die Zahl der
qualifizierten Lehrkräfte (mit PhD,Habilitation usw.), dasVolumender Doktorandenausbildung,
die Zahl und Qualität der wissenschaftlichen Publikationen
der Mitarbeiter, das Maß ihrer Teilnahme an in-und ausländischen Konferenzen,
die Teilnahme an in-und ausländischen wissenschaftlichen Projekten usw.
festgelegt.
Zweitens überlässt der Staat den Hochschulen die Finanzierungsquellen,
die nicht aus dem Staatshaushalt (zum Beispiel Bewerbungen) stammen. Die
einzelnen Institutionen müssen daher Drittmittel aller Art auftreiben, um die
fehlende Finanzierung kompensieren zu können (vgl. auch Dezsõ 2009). Universitäten
und Hochschulen müssen wie eine Firma oder ein Unternehmen pro-
fitorientiert denken und handeln, sie sind zur selbstständigen Wirtschaftstätigkeit
gezwungen. Dies wiederum führt notwendigerweise zur Herausbildung
von ganz neuen Universitätstypen, die unter den neuen vom Markt diktierten
Bedingungen das sogenannte Humboldtsche Modell europäischer Universitäten
immer mehr ablösen (vgl. Kertész 2008: 33 ff.). Einer dieser neuen Universitätstypen
wird wirtschaftlich orientiert sein und Dienstleistungen anbieten und
sie kann sogar durch die Kooperation mit wirtschaftlichen Unternehmen die
Forschung organisieren, was unmittelbarem wirtschaftlichen und industriellen
Interessen dient. Somit funktionieren solche Universitäten wie Großunternehmen.
Genau das wollte das Hochschulgesetz von 2005 beschleunigen. Für
manche Universitäten wären Probleme solcher Art wegen ihres Profils durchaus
zu bewältigen, nur dass die Voraussetzungen dafür in Ungarn in absehbarer
Zeit nicht vorhanden sind.
26
Roberta V. Rada
Die Institute der geisteswissenschaftlichen Fakultäten haben es in dieser Situation
besonders schwierig. Sie versuchen meistens den wirtschaftlichen Notwendigkeiten
in minimal erforderlichem Maße nachzugehen, können aber ihren
definitorischen Aufgaben in Lehre und Forschung immer schwieriger nachkommen.
Die Möglichkeiten des Erwerbs von Drittmitteln in Form von finanzierten
Projekten werden im geisteswissenschaftlichen Bereich generell Jahr für Jahr
geringer.
Doch dass die Umstellung auf die neuen Verhältnisse bereits im Bereich
moderner FS funktionieren kann, zeigt die Initiative des Germanistischen Instituts
der Universität Debrecen. Das Institut hat einen Partner in der Privatwirtschaft
gefunden, der bereit ist, einen finanziellen Beitrag für Lehre und
Forschung zu leisten (vgl. Katschthaler 2008: 26 ff). Die deutsche Firma IT-
Services hatte ihren Wunsch an das Germanistische Institut geäußert, einen
Teil ihrer potentiellen zukünftigen Mitarbeiter über einen längeren Vetragszeitraum
auszubilden, wobei es hier um die fremdsprachliche Ausbildung geht.
Im Sinne des abgeschlossenen Kooperationsvertrags wird im Rahmen der germanistischen
BA-Ausbildung in Debrecen eine Spezialisierung angeboten, die
spezielle IT-bezogene Sprach-und grundlegende IT-Kenntnisse in deutscher
Sprache vermittelt. Eine solche Entscheidung wirft natürlich eine Reihe von
Fragen fachlicher, ethischer aber auch wirtschaftlicher Art auf. Da nennenswerte
Erfahrungen noch nicht vorhanden sind, bleibt abzuwarten, wie der erste
Versuch dieser Art eines Germanistischen Instituts in Ungarn endet.
9
Die jüngsten Regelungen in Bezug auf den institutionalisierten
FSU
9.1
Bevorzugung des Englischen als obligatorische FS in
der öffentlichen Bildung
In den letzten Jahren etablierte sich weltweit ein FSU, der als Folge solcher
Entwicklungstendenzen, wie Globalisierung und Internationalisierung, die kulturellen,
historischen und sozialen Erfahrungen und Traditionen der einzelnen
Länder in den Hintergrund drängte. Dabei wird Englisch als Lingua franca
von einem konkreten kulturellen Kontext losgelöst gelehrt und gelernt und als
Weltsprache allgemein akzeptiert. Viele denken – so auch in Ungarn –, dass die
BeherrschungderenglischenSprachedieKenntnisandererSprachenüberflüssig
macht.
Laut einer neuen Regelung soll jede allgemeinbildende Schule ab 2010 die
Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Schüler Englisch in der Schule lernen
können. Durch den zunehmenden Einfluss der Globalisierung sinkt das
Interesse für Deutsch, Französisch, Italienisch sowie die übrigen FS, auch die
27
Roberta V. Rada
Schuljahr Englisch
Grundschule
Englisch
Mittelschule
Deutsch
Grundschule
Deutsch
Mittelschule
2003/04 362.193 344.490 250.056 278.371
2007/08 376.098 372.153 185.624 259.904
Tabelle
4:
DieAnzahl derDeutsch und Englisch Lernenendenin ungarischen Grund-
und Mittelschulen in den 2000er Jahren (Angaben bei Szilvási: 3)
Sprachen der Nachbarländer, in der öffentlichen Bildung, immer deutlicher.
Der neuen Regelung zufolge ist zu befürchten, dass Englisch in Zukunft nicht
nur als erste, sondern als die einzige Fremdsprache in Ungarn unterrichtet wird,
während andere Fremdsprachen als zweite oder dritte Fremdsprache angeboten
werden. Gleichzeitig wird diese Gesetzesänderung wahrscheinlich mit sich bringen,
dass ab 2010 der FSU sowohl in den Grund-als auch in den Mittelschulen,
und vor allem in denen, die es sich nicht leisten können, ihren Schülern mehrere
FS anzubieten, auf das Englische beschränken wird (vgl. Szilvási: 5).
Zwar kann dadurch die Verbesserung der Fremdsprachenkenntnisse der ungarischen
Bevölkerung erwartet werden, doch sind deswegen bis zu einem gewissen
Grad alle anderen FS gefährdet, aber am meisten sicherlich Deutsch mit
seiner traditionsreichen Vergangenheit und mit einer beinahe 100 Mio. Menschen
umfassenden Sprachgemeinschaft unmittelbar an der westlichen Grenze
Ungarns, wobei die Situation des Deutschen insgesamt nicht besonders günstig
ist (vgl. Tabelle 4).
DiemöglichenFolgendieserEntwicklungenwerdendabeiinUngarninFachkreisenheftigdiskutiert.
InBezugaufdieinderEUdeklarierteSprachenpolitik
bemerkt Hessky, dass durch eine solcheRegelungdesFSUdas„multilingale und
multikulturelle Europa (...) notwendigerweise (...) auf der Strecke“ bleibt
(Hessky 2008: 15). Ausgehend von der in der EU praktizierten Sprachenpolitik
sei betont, dass die faktischen Arbeitsprachen der EU, Englisch, Deutsch
und Französisch beziehungsweise eine von diesen für einen jeden erwachsenen
ungarischen Arbeitnehmer von Belang seien. Daher dürfe die Zahl der zu unterrichtenden
Fremdsprachen nicht weiter verringert werden. Dies wiederum
könne erreicht werden, wenn in der öffentlichen Bildung mindestens zwei FS
gelernt werden könnten (vgl. Szépe 1998: 80).
Darüber hinaus wäre es für ungarische Muttersprachler aus Fremdspracherwerbsgründen
und psycholinguistischen Gründen günstig, mit einer morphologisch
schwierigeren Fremdsprache (Deutsch, Französisch, Spanisch oder Russisch)
zu beginnen, der dann als zweite obligatorische FS das morphologisch
einfachere Englisch folgen sollte (vgl. Knipf-Komlósi 2009: 29).
28
Roberta V. Rada
9.2
Regierungsordnungüber dieQualifikation„Forschungsuniversität“
Im Sinne der Regierungsordnung 276/2009 (XII. 4.) kann an Hochschulen und
Universitäten, die über den im Hochschulgesetz 2005 festgelegten Bedingungen
hinaus bestimmten Qualitätskriterien Genüge leisten, für drei Jahre als Ergebnis
eines entsprechenden Bewerbungsprozesses die Qualifikation „Forschungsuniversität“
vergeben werden. Der Begriff „Forschungsuniversität“ erscheint
bereits im Hochschulgesetz 2005, Anfang 2006 wurde sogar ein entsprechender
Entwurf vorgelegt, aber es dauerte noch 3 Jahre, bis das Gesetz in Kraft getreten
ist (vgl. Mihaletzky 2009). Im Gesetzestext werden die Prinzipien und
Kriterien aufgelistet, die die Vergabe der Qualifikation bedingen. Die zukünftigen
Forschungsuniversitäten müssen folgende Bedingungen erfüllen:
•
kontinuierliche und strategische Tätigkeit im Bereich der Grundlagenforschung
und der angewandten Forschung,
•
Durchführung bedeutender in-und ausländischer Forschung und Innovation,
deren Ergebnisse in Publikationen hoher Qualität veröffentlicht und
im Unterrichtsprozess vermittelt werden,
•
Begabtenförderung und -betreuung auf allen Ebenen der Ausbildung, mit
besonderer Berücksichtigung der hervorragenden Leistung in der Doktorandenausbildung,
•
weitgefächerte internationale Zusammenarbeit sowohl in der Forschung
als auch im Unterricht,
•
hoher Anteil von qualifizierten vollbeschäftigten Lehrkräften und Forschern,
•
auch international relevante Publikationstätigkeit der Mitarbeiter,
•
international anerkannte Doktorandenausbildung in mehreren Bereichen,
•
erhebliche in-oder ausländische Forschungs-, Entwicklungs-und Innovationseinkünfte
auf Grund unmittelbarer Bestellung oder erfolgreicher
Bewerbungen,
•
dieBewerberuniversitätsolldankihresWissens-undTechnologietransfers
die Beziehung zwischen dem Hochschulbereich und dem wirtschaftlichen
Bereich organisieren und stärken,
•
die Bewerberuniversität soll Forschungsstellen, die von der Ungarischen
Wissenschaftlichen Akademie unterstützt werden, beherbergen,
29
Roberta V. Rada
•
die Bewerberuniversität soll an entsprechenden EU-Programmen teilnehmen
und die Qualitätssicherung unterstützen,
•
die Bewerberuniversität soll Kooperationsabkommen mit bedeutenden
ausländischen Hochschulen, Universitäten und Forschungsstellen aufweisen
können,
•
an der Bewerberuniversität sollen fremdsprachliche Kurse angeboten,
ausländische Studierende und Doktoranden empfangen werden; anerkannte
ausländische Professoren oder Dozenten haben die Möglichkeit,
eigene Kurse zu initiieren etc.
Aufgrund dieser Auflistung kann die eindeutige Zielsetzung der Verordnung
ermittelt werden, nach deutschem Muster auch in Ungarn Elite-Universitäten
zu schaffen, in denen auf allen Ebenen, von der Grund-über die Master-bis
hin zur Doktorandenausbildung eine Unterrichtstätigkeit auf hohem Niveau
durchgeführt wird, die mit einer Forschungstätigkeit besonders hoher Qualität
verbunden ist.
Was die finanzielle Unterstützung der Forschungsuniversitäten anbelangt,
verfügt das Gesetz recht knapp: Den Universitäten mit der Qualifikation „Forschungsuniversität“
kann auf Grund eines Sonderverfahrens eine zusätzliche
finanzielle Unterstützung gewährt werden. Das heißt, die Qualifikation ist ab
ovo mit keiner finanziellen Untestützung verbunden, ihre Vergabe wird von
der Finanzierung getrennt. Sie gilt lediglich als Voraussetzung für die Bewerbung
um zusätzliche finanzielle Unterstützung im Rahmen eines weiteren
Bewerbungsverfahrens. Daskanndazuführen,dassnichtdieForschungsuniversitäten
selbst sondern konkrete Forschungsprogramme finanziert werden (vgl.
Mihaletzky 2009: 13).
Da die meisten potentiellen Forschungsuniversitäten stark unterfinanziert
sind, besteht die Gefahr, dass die zusätzlichen finanziellen Mittel dazu benutzt
werden, die finanziellen Lücken im Haushalt zu schließen, zum Beispiel Löhne
zu korrigieren, Renovierungen durchzuführen, usw.. Das ursprüngliche Ziel,
die Integration in die europäische Hochschulregion darf dabei auf keinen Fall
aus dem Blickwinkel geraten.
Die Qualifikation „Forschungsuniversität“ bildet – zumindest rein theoretisch
gesehen – gerade für die geisteswissenschaftlichen Fakultäten, die hervorragende
Forschung und Lehre leisten können, nicht nur eine gute Alternative,
ja sogar eine Chance. Sie signalisiert nämlich für die zukünftigen Studenten
das Forschungs-und Unterrichtsniveau der betreffenden Universität, die dadurch
über ein höheres Prestige verfügt und mehr Studenten anziehen kann.
Forschungsuniversitäten können jedoch nur auf der Basis einer hervorragenden
Forschungsfinanzierung, wie etwa in Deutschland (vgl. Spiegel online 04.
Juni 2009), funktionieren. In Anbetracht der skizzierten Unsicherheiten kann
im Voraus nicht beurteilt werden, wie lange es in Ungarn noch dauern wird,
30
Roberta V. Rada
bis wir von einer gut funktionierenden Institution der Forschungsuniversitäten
sprechen dürfen. Immerhin wird die Initiative von den Betreffenden in Ungarn
einstimmig mit Begeisterung begrüßt (vgl. Mihaletzky 2009).
10
Fazit und Ausblick -Zukunftschancen des
Deutschen als Fremdsprache in Ungarn
Seit der politischen Wende 1989 erlebt Ungarn – unter anderem auch im Bildungsbereich
– eine Identitätskrise und versucht krampfhaft seinen Platz in
der EU zu finden. Diese Suche ist bis heute nicht abgeschlossen. Der FSU in
der öffentlichen Bildung, also in den Grund-und Mittelschulen Ungarns wird
– trotz der öffentlich oft diskutierten, schwerwiegenden Probleme – am Ende
des ersten Jahrzehntes des 21. Jahrhunderts grundsätzlich noch immer von
dem mehrfach modifizierten „Nationalen Grundlehrplan“(NAT) aus dem Jahre
1995 geprägt. Die Wende brachte im Hochschulbereich die enorme Erhöhung
der Institutionen-und der Studentenzahl mit sich. Durch diese quantitative
Expansion ist momentan der ungarische Staat bei der Aufrechterhaltung des
Systems vor allem finanziell überfordert. Der Massenunterricht müsste nun
durch einen Unterricht von hoher Qualität ersetzt werden. Für den ungarischen
Hochschulbereich gibt es jedoch zur Zeit keine allgemein akzeptierte,
kohärente sprachen-beziehungsweise bildungspolitische Strategie, die eine solche
Umstellung ermöglichen würde. Dies mag damit zusammenhängen, dass
der ungarische Hochschulbereich außer Acht gelassen hat, seine eigene Identität
nachderpolitischenWendezubestimmen: WasistdieFunktiondesHochschulbereiches,
der Studenten, der Lehrkräfte, der Akademiker mit einem philologischen
Diplom, der Intellektuellen in den Geisteswissenschaften im Ungarn des
21. Jahrhunderts? In der heutigen Situation kann die hoffnungsvolle neueste
Verordnung über die Qualifikation „Forschungsuniversität“ sowohl bei der
Identitätsfindung als auch bei der Beantwortung der Frage helfen, wie sich ungarische
Hochschulen und Universitäten in der europäischen Hochschulregion
erfolgreich behaupten können. Die Forschungsuniversität stellt eine verheißungsvolle
Chance auch für Universitäten mit Fremdsprachenausbildung dar.
Die finanzielle Unterstützung der durch die erworbene Qualifikation verlangten
niveauvollen Forschungs-und Unterrichtstätigkeit ist jedoch damit noch nicht
garantiert. Trotzdem scheint die Institution der Forschungsuniversitäten die
einzige vernünftige Alternative für den FSU im Hochschulbereich zu bedeuten
und die Möglichkeit, die sie bietet, darf auf keinen Fall verpasst werden.
In Bezug aufdie gegenwärtige Situationdes institutionalisiertenFSUinUngarn
kann die generelle Schlussfolgerung gezogen werden, dass Ungarn sowohl
im Bereich der öffentlichen Bildung wie auch in dem Hochschulbereich noch
viele Probleme zu bewältigen hat. Von etwaigen sich langsam abzeichnenden
31
Roberta V. Rada
positiven Tendenzen kann zur Zeit noch kaum gesprochen werden.
Die allgemeine Situation des FSU in der öffentlichen Bildung prägt grundsätzlich
auch den DaF-Unterricht. Dieser befindet sich zur Zeit in Ungarn in
einer Umbruchsituation, und zwar sowohl in qualitativer wie auch in quantitativer
Hinsicht. Die Schrumpfung der Schülerzahl im DaF-Bereich sowie der
Studenten-und Mitarbeiterzahlen im Fach Germanistik erzwang die Notwendigkeit
von inhaltlichen Innovationen und neuen Profilen innerhalb des Faches.
Die Suche nach entsprechenden Lösungen und Mitteln ist bereits im Gange.
Versucht man die Chancen des Deutschen als FS in Ungarn nach objektiven
Kriterien zu beurteilen, so kommen folgende Aspekte in Frage (vgl. Földes
2009: 24):
a) regionale Faktoren: Nachbarschaftslage zum deutschen Sprachgebiet,
direkter Kontakt mit deutschen Muttersprachlern, problemloser Zugriff auf
deutschsprachige Medien,
b) ethnische Faktoren: Deutsch gilt in Ungarn als Minderheitensprache der
zahlenmäßig stärksten nationalen Minderheit,
c) kulturelle Faktoren: Die deutsche Sprache und der Deutschunterricht
blicken auf lang bewährte Traditionen in Ungarn zurück. Die Germanistik gilt
als ein durchaus etabliertes akademisches Fach mit reichen Traditionen und
mit einem hohen akademischen Leistungsanspruch, das auch internatonal gute
Reputation genießt10
,
d) politisch-ökonomische Faktoren: deutschsprachige Länder bilden den
wichtigsten Wirtschaftspartner Ungarns, Gesellschaften aus Deutschland,
Österreich und der Schweiz gelten als die wichtigsten Investoren11. Mit dem
Deutschen sind also zahlreiche günstige wirtschaftliche Möglichkeiten und
Vorteile verbunden.
Hinsichtlich der Beziehung des Englischen und des Deutschen im ungarischen
FSU in Ungarn sollte keinesfalls von einer Rivalität gesprochen werden.
Deutsch und Englisch haben nämlich in dem europäischen Kontext eine völlig
andere Funktion: Englisch sollte als International-Airport-Englisch, als weltweit
gebrauchte Wissenschaftssprache und vorherrschende Lingua franca in der
Weltfürdie ZweckeeinerglobalenKommunikationbetrachtetwerden, während
Deutsch als „regionale Kontaktsprache für die Kommunikation zwischen Mitteleuropäischen
Nachbarn“ fungieren könnte (Knipf 2009: 29). Mitunter wird
besonders von den ungarischen Jugendlichen eindeutig erkannt, dass sie in der
modernen globalisierten Welt über Englischkenntnisse verfügen müssen, aber
auch, dass die Kenntnisse dieser einen FS nicht ausreichen, um sich in der Berufszukunft
erfolgreich behaupten zu können. In diesem komplexen Kontext
stehen meines Erachten die Chancen des Deutschen, selbst wenn es vorläufig
eher „nur“ als zweite FS fungieren kann, gar nicht so schlecht.
10Vgl. dazu ausführlich den Beitrag von Orosz/v. Rada in diesem Band
11Vgl. dazu ausführlich den Beitrag von Komáromy in diesem Band
32
Roberta V. Rada
11 Literatur
Ammon, Ulrich (2006): Schwerpunkte und Probleme der Sprachenpolitik
Deutschlands. In: Feld-Knapp, Ilona (Hg.): Lernen lehren – Lehren lernen.
Budapest: ELTE Germanistisches Institut 2006, 22-36.
Ammon, Ulrich (1997): Schwierigkeiten bei der Verbreitung der deutschen
Sprache heute. In Muttersprache 1/97: 17-34.
Balázs, Géza (1998): Magyar nyelvkultúra az ezredfordulón [Ungarische
Sprachkultur an der Jahrtausendwende]. Budapest 1998.
Bassola, Péter (2008): Wohin steuert die ungarische Germanistik? In:
Tichy, Ellen/Masát, András (Hg.): Jahrbuch der ungarischen Germanistik
2007. Budapest/Bonn 2008, 18-20.
Bosch, Gloria (2001): Sprachenpolitik und Fremdsprachenunterricht. In:
Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch. Hrsg. von Helbig,
G., Götze, L., Henrici, G., Krumm, H-J. Zweiter Halbbd. Berlin/New York
2001, 1361-1367.
Dezsõ, Tamás (2009): Merre tart a magyar felsõoktatás? [Wohin steuert
das ungarische Hochschulwesen?] In: Trefort-kert II. Jahrgang/3, 7-11.
Feld-Knapp, Ilona (2009): Traditionen und neue Wege. Zur Sprachpolitik
in Ungarn. In: Hornung, Antonie (Hrsg.): Lingue di cultura in pericolo Bedrohte
Wissenschaftssprachen. L’italiano e il tedesco di fronte alla sfida
dell’internazionalizzazione -Deutsch und Italienisch vor den Herausforderungen
der Internationalisierung. Tübingen 2009, 37-53.
Földes, Csaba (2009): Germanistikunterricht in Ungarn und Deutsch als
europäische Lingua franca. Böttger, Lydia/Masát, András (Hg.): Jahrbuch
der ungarischen Germanistik 2008. Budapest/Bonn 2009, 22-25.
Haarmann, Harald (1988): Sprache und Sprachenpolitik. In: Sociolonguistics.
Soziolinguistik. Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft
von Sprache und Gesellschaft. An International Handbook of the Science
of Language and Society. Hrsg. von Ammon, Ulrich, Dittmar, Norbert,
Mattheier, Klaus J. Zweiter Halbbd. Berlin/New York 1988, 1660-1678.
Hessky, Regina (1995): Die Rolle der großen Verkehrssprachen in Ostmitteleuropa
am Beispiel Ungarn. In: Wodak, Ruth/de Cilla, Rudolf (Hrsg.):
33
Roberta V. Rada
Sprachenpolitik in Mittel-und Osteuropa. Wien 1995, 63-74.
Hessky, Regina (2008): Wo liegt der Hund begraben? Ein Beitrag von der
Grenzlinie. In: Tichy, Ellen/Masát, András (Hg.): Jahrbuch der ungarischen
Germanistik 2007. Budapest/Bonn 2008, 13-17.
Janich, Nina (2006): Sprachplanung. In: Knapp, Karlfried et al. (Hrsg.):
Angewandte Linguistik. Ein Lehrbuch. Tübingen und Basel 2006, 481-501.
Jelentés 1997=Jelentés a magyar közoktatásról 1997 [Bericht über die
öffentliche Bildung in Ungarn 1997]. Szerk. Halász, Gábor/Lannert, Judit.
Országos Közoktatási Intézet. Budapest 1997.
Katschthaler, Karl (2009): Germanistikunterricht in Ungarn und Deutsch
als europäische Lingua franca. Böttger, Lydia/Masát, András (Hg.): Jahrbuch
der ungarischen Germanistik 2008. Budapest/Bonn 2009, 26-27.
Kertész, András (2008): Sind germanistische Forschungen noch zu retten?
Bemerkungen zur Situation der Geisteswissenschaften im Ungarn der Jahrtausendwende.
In: Tichy, Ellen/Masát, András (Hg.): Jahrbuch der ungarischen
Germanistik 2007. Budapest/Bonn 2008, 30-44.
Kloss, Heinz (1969): Research possibilities on group bilingualism: A report.
International Center of Researh on Bilingualism, Publication B-18. Qébec
1969.
Knipf-Komlósi, Elisabeth (2009): Germanistikunterricht in Ungarn und
Deutsch als europäische Lingua franca. Böttger, Lydia/Masát, András (Hg.):
Jahrbuch der ungarischen Germanistik 2008. Budapest/Bonn 2009, 28-30.
Medgyes, Péter/Miklósy, Katalin (2000): The language situation in
Hungary. Current Issues in Language Planning, 1(2)148-242.
Mihaletzky, György (2009): Egy lépés elõre [Ein Schritt nach vorne]. In:
Trefort-kert II. Jahrgang/4, 10-13.
Nelde, P.H./Vandermeeren, S./Wölck, W. (1991): Interkulturelle Mehrsprachigkeit.
Eine kontaktlinguistische Umfrage in Fünfkirchen. Bonn 1991.
Pusztai, Gábor (2009): Tiefflug ohne Absturz. Zukunftsperspektiven der
Germanistik in Ungarn. In: Böttger, Lydia/Masát, András (Hg.): Jahrbuch
der ungarischen Germanistik 2008. Budapest/Bonn 2009, 31-34.
34
Roberta V. Rada
Rainer, Paul (2001): Deutschunterricht und Germanistikstudium in
Ungarn. In: Deutsch als Fremdsprache. Handbücher zur Sprach-und
Kommunikationswissenschaft. Berlin/New York 2001, 1544-1551.
Statisztikai Zsebkönyv 1991 [Statistisches Taschenbuch 1991]. Budapest
1992.
Szarka, László (2003): Államnyelv, hivatalos nyelv – kisebbségi nyelvi
jogok Kelet-Közép-Európában [Staatssprache, offizielle Sprache – Sprachrechte
von Minderheiten in Ost-Mitteleuropa]. In: Nádor, Orsolya/Szarka, László
(Hg.): Nyelvi jogok [Sprachrechte]. Budapest 2003, 15-34.
Szépe, György (1998): Az európai „csatlakozás“ néhány nyelvi vonatkozása
[Einige sprachlichen Bezugspunkte der europäischen „Integration“ ]. In: G.
Molnár, Barbara (Hg.): Nyelvpolitika [Sprachpolitik]. Budapest 1998, 75-85.
Szépe, György (2001): Nyelvpolitika: múlt és jövõ [Sprachpolitik: Vergangenheit
und Zukunft]. Pécs 2001.
Tóth, Pál (1991): Studie zum gegenwärtigen Stand der sprachlichkommunikativen
und soziokulturellen Qualifikation von Studenten und
Hochschullehrern in Ungarn in den von TEMPUS als vorrangig bestimmten
Bereichen als Voraussetzung für Mobilität und Kooperation mit Westeuropa.
Institut für Deutsch als Fremdsprache. Manuskript. Budapest 1991.
Vízkelety, András (2009): Zur Geschichte des Deutschen als ’lingua franca’
in Ost-Mitteleuropa. In: Böttger, Lydia/Masát, András (Hg.): Jahrbuch der
ungarischen Germanistik 2008. Budapest/Bonn 2009, 17-21.
Witt, Jörg (2001): Wohin steuern die Sprachen Europas? Probleme der
EU-Sprachenpolitik. Tübingen 2001.
Internetquellen
www1: http://www.gallup.hu/gallup/release/mo_eu_020322.htm,
18.09.2009
www 2: www.nepszamlalas.hu/hun/kerdoiv/ger_4.html, 18.09.2009
www 3: www.complex.hu,
35
Roberta V. Rada
www 4: http://www.oki.hu/oldal.php?tipus=erettsegi
www 5: http://hu.wikipedia.org/wiki/Magyarország_nemzetiségei
Halász, Gábor (2006): Oktatáspolitika Magyarországon 1990 és
2005 között [Bildungspolitik in Ungarn zwischen 1990 und 2005].
www.oki.hu/halasz/download/PESTI%20tanulmany%20(FINAL).htm-496k)
heruntergeladen am 22.08.2009.
Kecskés, Balázs (2003): Az EU oktatáspolitikája, és magyarországi
vonatkozásai [Die Bildungspolitik der EU und ihre ungarischen Bezüge].
www.iroga.hu/Magyarorszag_EU/kecskes.htm
heruntergeladen
am 22.08.2009.
Lamb, Rike 2004: Fremdsprachenunterricht in Ungarn: Aspekte einer
Lehr-und Lernsituation aus Sicht von Fremdsprachenlehrern. In: ZIF
9(3), 20004. (online:http://zif.spz.tu-darmstadt.de/jg-09-3/beitrag/
Lamb3.htmheruntergeladenam13.08.2009.
Mátyás, Emese (2001): Fremdsprachenunterricht im gymnasialen Kontext.
http://epa.oszk.hu/01300/01368/00013/pdf/2001_101_134.pdf
heruntergeladen am 13.08.2009.
Szilvási, Zsuzsanna: Tendenzen im Fremdsprachenunterricht in der
ungarischen öffentlichen Erziehung – mehr Englisch? www.51959387.fr.
strato-hosting.eu/plurilinguisme/images/Evenements/2e_Assises/
Contributions/text%20szilv%E1si.docheruntergeladen am 10.08.2009.
Vágó, Irén (2006): Nyelvtanulási utak Magyarországon [Wege des
Fremdspracherwerbs in Ungarn]. www.oki.hu/oldal.php?tipus=cikk&kod=
fokuszban_a_nyelvoktatas-06_vago_iren
heruntergeladen am 11.08.2009.
http://www.gallup.hu/gallup/release/mo_eu_020322.htm
heruntergeladen
am 18.08.2009
36
Deutschsprachige Hochschulausbildungen (außer
Germanistik) in Ungarn
Dr. Dezsõ Szabó (PhD)
Eötvös-Loránd-Universität
Ungarndeutsches Forschungs-und Lehrerausbildungszentrum
Rákóczi út 5.
1088 Budapest
„Die Zukunft der deutschen Sprache entscheidet sich in Europa, denn hier
hat sie ihren Schwerpunkt. Sie wurde nicht durch Kolonialismus in der Welt
verbreitet “
(Goethe-Institut, Dossier Deutsche Sprache, 2004. S. 1).
Einleitung
1999 beschlossen die Bildungsminister von 29 Staaten bei ihrer Konferenz in
Bologna, einen gemeinsamen „Hochschulraum Europa “ zu schaffen. Der europäische
Traum: ein Studium ohne Grenzen für die über 15 Millionen Studenten
an über 5000 europäischen Hochschulen -mit freiem Wechsel, ohne
Visa-Probleme und lästigen Anerkennungsstreit über unterschiedliche Schulzeugnisse.
Dabei wollte man flächendeckend gestufte Studiengänge mit den
Abschlüssen Bachelor und Master einführen, die Mobilitätshindernisse für die
Studierenden abbauen und Instrumente zur Qualitätssicherung einführen.
Aus obigen Informationen wäre durchaus zu vermuten, dass die Perspektiven
für Deutsch als Fremdsprache und noch mehr: für Deutsch als europäische
SpracheeinerosigeZukunftversprechen. Betrachtet manjedochdieStatistiken
des Fremdsprachenerwerbs in Ungarn, so ist seit Jahren zu beobachten, dass
sich die deutsche Sprache auch in Ungarn auf dem Rückzug befindet, es wird
immermehrEnglischgesprochenundgelernt. EnglischistnichtnurdieSprache
der Wirtschaft, sondern zunehmend auch die Sprache der Wissenschaft, und
nicht zuletzt die offizielle Sprache des Bologna-Prozesses, der bekanntlich zur
Verwirklichung des Europäischen Hochschulraumes führen soll. Diese Feststellungen
münden notwendigerweise in der Fragestellung: Wie sieht es bezüglich
der deutschen Sprache im ungarischen Hochschulwesen aus?
37
Dezsõ Szabó
2 Das ungarische Hochschulsystem
Ungarn begann -anders als andere osteuropäische Staaten -schon vor dem
Ende des Sozialismus in Osteuropa, das Bildungswesen zu demokratisieren:
1988 stellte die kommunistische Partei ihre Arbeit an den Hochschulen ein,
die obligatorischen „Ideologiefächer “ wurden abgeschafft. Nach 1989 erhielt
die Reform neue Impulse und wurde 1993 durch das Gesetz für Hochschulbildung,
das endlich die lang ersehnte Autonomie der Hochschulen festgelegt
hatte, abgerundet. Der Prozess wurde durch das Ungarische Hochschulgesetz
von 2005 gekrönt und stellte gleichzeitig die Weichen für die weitere Entwicklung.
Ungarns akademische Bildungslandschaft setzt sich aus Universitäten
und Colleges, im Ungarischen „Hochschulen“ genannt, zusammen. Viele von
diesen bieten neben dem ungarischsprachigen Studium auch fremdsprachige –
meist auf Englisch und/oder Deutsch – Studiengänge an. Dabei ist es um die
deutsche Sprache nicht nur in Ungarn, sondern generell in Mittel-Ost-Europa
sehr gut bestellt, manche bezeichnen die Region sogar als eine Hochburg des
Deutschen, Deutsch ist neben dem Englischen die meist beherrschte Fremdsprache.
1
3 Ausländische StudentInnen in Ungarn
Aus unserer Sicht ist es ebenfalls interessant, die Zahlen der in Ungarn studierenden
Ausländer nach dem ländermäßigen Anteil zu vergleichen, denn vor
allem die Zahlen der StudentInnen aus den europäischen Ländern sind mit
Vorsicht zu betrachten (vgl. Rédei 2007): vgl. Tabelle 1.
Die Spitze wurde mit dem Studienjahr 2006/2007 erreicht. In diesem Jahr
kamen über 15 000 ausländische Studenten aus 118 Ländern nach Ungarn und
stellten damit 3,8% der an Hochschulen Studierenden dar. Damit wurde der
Durchschnitt der Europäischen Union (bis zu 15%!) noch lange nicht erreicht.
Dieser Trend zeigt einen aufsteigenden Prozess und eine wachsende geographische
Ausbreitung. Bedauerlicherweise steht uns keine Statistik darüber zur
Verfügung, welchen Zeitraum die Studienzeit die ausländischen StudentInnen
im Durchschnitt in Ungarn beträgt. Wir wissen auch wenig darüber, welche
Stipendien sie hierzu in Anspruch nehmen.
Die geographische Verteilung der Studenten blieb unverändert: etwa 79%
kommt aus den europäischen Ländern, 16% aus Asien, 3% aus Nord-Amerika
und etwa 2% aus einem afrikanischen Land. Darüber hinaus sieht man, dass
mehr als die Hälfte der ausländischen Studenten aus den Nachbarländern
kommt. Es ist nicht überraschend, dass dieser Umstand stark mit der Präsenz
1Wobei man bei der Interpretation dieser Aussage freilich die Rolle der Deutschkenntnisse
der ungarndeutschen Bevölkerung mit berücksichtigen sollte.
38
Dezsõ Szabó
Abbildung
1:
Quelle: Bildungsministerium Ungarn
der ungarischen Minderheiten in diesen Ländern zusammenhängt. Berücksichtigt
man diese spezielle Situation, so lässt sich feststellen, dass die deutschen
Gaststudenten eine dominante Position im Kreis der ausländischen Studenten
einnehmen.
Mobilität deutscher Studierender nach Ungarn
(1999-2007) einschließlich ERASMUS /
LEONARDO
Wie sehen nun die Zahlen des deutsch-ungarischen Austausches aus? UntersuchtmandieletztenzehnJahre,
soergebensichfolgendeZahlen: sieheTabelle
2.
Hier ist bis 2006 eine steigende Tendenz zu beobachten, ab 2007 zeigt das
Bild eine geringfügig sinkende Häufigkeit.
Im ungarischen Hochschulwesen sind die nicht-ungarischen Staatsbürger
nur zu den kostenpflichtigen Studiengängen zugelassen, wobei die Empfän
39
Dezsõ Szabó
Entsenderland Zahl der StudentInnen
Rumänien 3300
Slowakei 2300
Deutschland 2050
Ukraine 2000
Serbien 1650
Israel 700
Norwegen 700
Iran 500
Zypern 290
Schweden 250
USA 250
Russland 200
Tabelle
1:
In Ungarn studierende Ausländer
1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007
551 585 671 764 768 706 914 962 884
Tabelle
2:
Deutsch-ungarischer Austausch, Quelle: Bildungsministerium Ungarn
ger der staatlichen Stipendien und EU-Stipendien (in der Regel ERASMUS-
Stipendien) eine Ausnahme bilden. Daran änderte der Beitritt Ungarns in
die EU im Jahre 2004 auch nichts Wesentliches, denn die fremdsprachlichen
Studiengänge folgen der Logik der Annäherung des Profiterwerbs (revenue generating)
(vgl. Hatos 2009).
ImFolgendenstellen wir die deutschsprachigen Studiengänge vor, wobeidas
Fach Germanistik nicht berücksichtigt wird 2
(vgl. dazu auch Orosz/V. Rada
in diesem Band).
5
DeutschsprachigeBildungenandenHochschulen
Das Ungarische Bildungsministerium erkennt insgesamt 25 Einrichtungen (davon
18 staatliche und 7 „nicht staatliche“) als Universitäten an. Des Weiteren
gibt es 45 (davon 11 staatliche und 34 „nicht staatliche“) Hochschulen in Ungarn,
die die Berechtigung haben, akademische Titel zu verleihen. Ungarn hat
für Studierende aus dem deutschsprachigen Raum tatsächlich einige Vorteile zu
bieten: Einen Numerus clausus gibt es nicht; ein Wechsel auf eine deutsche Uni
2Über die deutsche Sprache und die ungarische Germanistik gibt es zahlreiche Darstellungen,
siehe stellvertretend: Földes 1998.
40
Dezsõ Szabó
ist nach dem Physikum möglich; Diplome und Dr.-Titel werden in Deutschland
problemlos anerkannt. Für Abiturienten, die Physik, Chemie und Biologie abgewählt
oder nur eine Durchschnittsnote über 2,5 erreicht haben, veranstalten
die vier Hochschulen gemeinsam ein Vorbereitungsjahr. Bei den anfänglichen
Schwierigkeiten bei der Anmeldung, Krankenversicherung und Wohnungssuche
hilft -
ebenfalls schon seit 20 Jahren -
das College International Student
Service Center. Die Ausbildung in Budapest ist nach der Meinung vieler Absolventen
sogar besser als in den USA. Die Studiengebühren sind niedriger, und
das gleiche lässt sich hinsichtlich der Lebenshaltungskosten feststellen. Die
Miete einer Zwei-Zimmer-Wohnung kostet im Monat etwa 300 Euro, die Krankenversicherung
230 Euro pro Jahr, ein Mensa-Essen 2 Euro -und ein Bier in
der Kneipe etwa 1 Euro. Laut einer UNESCO-Untersuchung ist Budapest eine
der preiswertesten Städte Europas -und Szeged in der südungarischen Provinz
ist natürlich noch günstiger. Für den Studienort Budapest sprechen auch die
kulturellen Angebote einer mitteleuropäischen Metropole (www1). Die zuständigen
ungarischen Institutionen (Campus Hungary, Study Transfer, Educatio
GmbH unter anderem) führen regelmäßig Untersuchungen durch, um die Feedbacks
ehemaliger ausländischer StudentInnen über ihre Studienzeit in Ungarn
zu bearbeiten. Diese zeigen gewöhnlich ein positives Bild, die meisten erinnern
sich gerne an den in Ungarn verbrachten Zeitraum zurück und können sich
sogar vorstellen, dauerhaft in Ungarn zu leben.
Folgende ungarische Hochschuleinrichtungen bieten deutschsprachige Studiengänge
an (www2):
•
Corvinus-Universität Budapest (voller Name: Corvinus-Universität für
Wirtschaftswissenschaften und Staatsverwaltung)
•
Technische und Wirtschaftswissenschaftliche Universität Budapest
•
Universität Debrecen
•
Loránd-Eötvös-Universität Budapest
•
Universität Kaposvár (in) Kaposvár
•
Ferenc-Liszt-Musikakademie Budapest
•
Ungarische Akademie der Bildenden Künste Budapest
•
Universität Miskolc
•
Moholy-Nagy-Universität für Kunsthandwerk und Gestaltung Budapest
•
Universität Pécs
•
Semmelweis-Universität Budapest
41
Dezsõ Szabó
•
István-Széchenyi-Universität Gyõr
•
Universität Szeged
•
Szent-István-Universität Gödöllõ
•
Akademie für Schauspiel und Film Budapest
•
Westungarische Universität Sopron
•
Pannonische Universität Veszprém
•
Miklós-Zrínyi-Universität für Nationale Verteidigung Budapest
Im Folgenden werden einige Beispiele etwas näher vorgestellt.
6 Beispiele
6.1
Bereich Technik: Kooperation der TU Budapest und
Karlsruhe
Als die Rektoren der (ehemaligen) Technischen Universitäten in Budapest und
Karlsruhe am 8. Mai 1970 den Kooperationsvertrag zur Förderung der wissenschaftlichen
und kulturellen Kontakte zwischen den beiden Hochschulen unterzeichneten,
war die erste offizielle Partnerschaft zwischen einer Universität der
Volksrepublik Ungarn und einer Universität der Bundesrepublik Deutschland
nach dem Zweiten Weltkrieg besiegelt – und zwar vor der Aufnahme offizieller
diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden Staaten. Seit damals sind
über 700 Budapester Wissenschaftler zu Forschungsaufenthalten nach KarlsruhegelangtundetwaebensovieleausKarlsruheinBudapestgewesen.
Früchte
dieser Partnerschaft sind zahlreiche gemeinsame Forschungsprojekte, Publikationen,
Promotionen und Habilitationen. Der Erfolg motivierte die beiden
Hochschulen, 1992 die „Deutschsprachige Ingenieurausbildung“ an der Technischen
Universität Budapest in den Fächern Bauingenieurwesen, Maschinenbau,
Elektrotechnik/Informatik und Verkehrswesen einzurichten. Dieser Studiengang
ist einer der größten seiner Art zwischen einer deutschen Hochschule und
einer Hochschule in Osteuropa.
„Während wir derzeit vor allem in der Bundesrepublik mit Vorwürfen konfrontiert
sind, die uns mangelndes Engagement im internationalen Rahmen
vorwerfen, ist dieser gemeinsame Studiengang ein lebendiges Zeichen intensiv
gelebter Kooperation und wissenschaftlichen Austausches“, unterstrich 1997
bei der feierlichen Übergabe der ersten Diplome Rektor Prof. Dr. Ing. Sigmar
Wittig die Bedeutung der „Deutschsprachigen Ingenieurausbildung“, die
auf der Grundlage der bereits seit 1970 bestehenden wissenschaftlichen Kooperation
zwischen der TU Budapest und Universität Karlsruhe gegründet wurde.
42
Dezsõ Szabó
Unter vergleichbarengemeinsamen Programmen deutscher undosteuropäischer
Hochschulen ist damit die „Deutschsprachige Ingenieurausbildung “ in den Studiengängen
Bauingenieurwesen, Verkehrswesen, Maschinenbau, Elektrotechnik
und Informatik die umfangreichste -sowohl was die Ausbildung mit zwei Studienaufenthalten
an der Universität Karlsruhe als auch die Zahl der Studierenden
betrifft.
In diesem Beispielfall wurden die Curricula für die deutschsprachigen Studiengänge
an der TU Budapest so gestaltet, dass sie mit denen an der Universität
Karlsruhe kompatibel sind. Dabei findet die Ausbildung in den ersten vier
Fachsemestern an der TU Budapest mit ungarischen Dozenten ausschließlich
in deutscher Sprache statt. Das fünfte Fachsemester verbringen bis zu 50 Studierende
an der Universität Karlsruhe und setzen vom sechsten Fachsemester
an ihr Studium an der TU Budapest in ungarischer Sprache fort. Die abschließende
Diplomarbeit wird an Karlsruher Instituten betreut. Trotz der auch in
Ungarn zurückgehenden Zahlen von Studienbewerbern für die Ingenieurwissenschaften
erfreut sich das deutschsprachige Studienprogramm der TU Budapest
großer Beliebtheit. Die Absolventen haben hervorragende Berufsaussichten:
In der Regel werden beinahe jedem von ihnen schon vor Ende des Studiums
Arbeitsplatzangebote insbesondere von deutsch-ungarischen Unternehmen in
Ungarn gemacht. Durch die Unterstützung des DAAD sowie des Ministeriums
für Wissenschaft, Forschung und Kunst in Stuttgart können Jahr für Jahr mehr
als 50 ungarische Studierende in ungarischer und deutscher Sprache ausgebildet
werden. DieRollederdeutschenSprachkenntnisseistdabeinicht zuübersehen.
6.2
BereichHumanmedizin: Semmelweis-UniversitätBudapest
Die längste Erfahrung mit deutschen Studenten hat allerdings die Semmel-
weis Universität für Medizinische Wissenschaften in Budapest. Eine Aufnahmeprüfung
gibt es nicht. Die Auswahl erfolgt aufgrund der vom Bewerber
eingebrachten Unterlagen. Bevorzugt werden Bewerber unter dem 30. Lebensjahr.
DadasStudiumanungarischenUniversitäten starknaturwissenschaftlich
ausgerichtet ist, werden jene Bewerber bevorzugt, die – neben aufzuweisenden
Abiturleistungen – naturwissenschaftliche Fächer absolviert haben oder im Gesundheitswesen
tätig waren. An der Fakultät für Medizin der Semmelweis Universität
wurde im Studienjahr 1983/84 ein Studiengang in deutscher Sprache
eingeführt. Das Studium dauert sechs Jahre und folgt dem in Ungarn gültigen
Lehrplan. Unterrichtet wird nach deutscher Fachliteratur, die im Heimatland
zu erwerben und zum Studium mitzubringen ist. Ab dem dritten Studienjahr
setzen die Praktika und Famulaturen eine, für den Umgang mit den Patienten
erforderliche, Kenntnis der ungarischen Sprache voraus. Nach verteidigter
FacharbeitundbestandenerhumanmedizinischerAbschlussprüfungwerdenden
43
Dezsõ Szabó
Studierenden das Diplom und der Titel „Dr. med.“ verliehen. Damit sind alle
fachlichen Voraussetzungen erfüllt, um in Ungarn den ärztlichen Beruf uneingeschränkt
ausüben zu können beziehungsweise die Approbation zum Arzt zu
erlangen. Außerhalb Ungarns ist die Anerkennung des in Ungarn erworbenen
Diploms von den Bestimmungen des jeweiligen Landes abhängig. In den EU-
Ländern wird das Diplom anerkannt.
Seit 2008 erfolgt übrigens die klinische Ausbildung ab dem 3. Studienjahr auch
am Asklepios Campus Hamburg, wobei Studienordnung und Studienablauf mit
dem der Semmelweis Universität identisch sind. Etwas komplizierter sind die
Regelungen, wennmansichfüreinStudiumderZahnmedizinindeutscherSprache
bewerben möchte. In diesem Fall muss man sich nämlich für die ersten zwei
Studienjahre für das Studium der Humanmedizin immatrikulieren lassen und
die speziellen zahnmedizinischen Fächer des theoretischen Moduls (Präventive
Zahnheilkunde, Materialkunde, Odontotechnologie, Konservierende zahnärztliche
Propädeutik), beginnend ab dem 2. Semester, werden dazu parallel nur in
englischer Sprache angeboten. Hierfür sind zusätzliche Gebühren zu entrichten.
Sollte man sich für diesen Weg entschließen und einen Studienplatz erhalten,
so wird nach Absolvierung des vorklinischen Studienabschnittes (theoretisches
Modul) ein Studienplatz an der Fakultät für Zahnheilkunde ab dem 3. Studienjahr
im englischsprachigen Studiengang garantiert. Anträge zwecks Fortsetzung
des Studiums in deutscher Sprache werden individuell beurteilt. Nach
verteidigter Facharbeit und bestandener zahnmedizinischer Abschlussprüfung
werden das Diplom und der Titel „Dr. med. dent.“ verliehen. Damit sind
alle fachlichen Voraussetzungen erfüllt, um in Ungarn den zahnärztlichen Beruf
uneingeschränkt ausüben zu können beziehungsweise die Approbation zum
Zahnarzt zu erlangen. Außerhalb Ungarns ist die Anerkennung des in Ungarn
erworbenen Diploms von den Bestimmungen des jeweiligen Landes abhängig.
In den EU-Ländern wird das Diplom anerkannt.
Die Situation ist an den Universitäten auf dem Lande ähnlich, es gibt lediglich
lokale Unterschiede. Charakteristisch ist zum Beispiel die Mischung der Sprachen
Deutsch und Englisch bei der Gestaltung des Studienplanes. So etwa besteht
an der Universität Szeged seit dem Studienjahr 1999/2000 an der Medizinischen
Fakultät auch ein deutschsprachiger Studiengang, jedoch nur für die ersten
zwei Studienjahre. Nach den zwei erfolgreich abgeschlossenen Jahren kann
das Medizinstudium in dem englisch-oder ungarischsprachigen Studiengang
der Universität Szeged, beziehungsweise dem deutschsprachigen Studiengang
der Semmelweis Universität in Budapest fortgesetzt werden. Das Medizinstudium
kann an dem englischsprachigen (oder ungarischsprachigen) Studiengang
der Universität Szeged, beziehungsweise dem deutschsprachigen Studiengang
der Semmelweis Universität in Budapest fortgesetzt werden. Das Medizinstudium
dauert sechs, das Pharmaziestudium fünf Jahre. Die Unterrichtssprache
der vier vorklinischen Semester ist Deutsch oder Englisch. Ab dem dritten
44
Dezsõ Szabó
Studienjahr setzen die Praktika und Famulaturen jedoch die Kenntnis der ungarischen
Sprache voraus.
6.3
Bereich Veterinärmedizin: Szent-István-Universität
Gödöllõ
An der Veterinärmedizinischen Fakultät der Szent-István-Universität Gödöllõ
in Budapestbestehtseit September 1989 ein Studiengang in deutscher Sprache,
der auf die ersten vier Semester, das heißt auf den vorklinischen Studienabschnitt
(Vorphysikum und Physikum) beschränkt ist. Dieser Studienabschnitt
ist der jüngsten deutschen Tierärztlichen Approbationsordnung (TAppO) angepasst.
3
Nach Abschluss der einzelnen Fächer werden den Studenten Bescheinigungen
über die Prüfungen ausgestellt, die den in Deutschland üblichen Bestätigungen
entsprechen. Das klinische Studium, das gemäß der gegenwärtigen
Studienordnung weitere drei Jahre dauert, kann von Absolventen der vorklinischen
Studien in englischer oder ungarischer Sprache in Budapest fortgesetzt
werden. Nach bestandener tiermedizinischer Abschlussprüfung wird das Diplom
und der Titel „Dr. vet. med.“ verliehen. Damit sind alle fachlichen
Voraussetzungen erfüllt, um die Approbation zum Tierarzt zu erlangen. Außerhalb
Ungarns ist die Anerkennung des in Budapest erworbenen Tierarztdiploms
von den Bestimmungen des jeweiligen Landes abhängig. In Deutschland
wird die ungarische tierärztliche Ausbildung unter der Bedingung als gleichwertig
anerkannt, dass Absolventen der Veterinärmedizinischen Fakultät in Budapest
zur Approbation in Deutschland in den sogenannten rechtsrelevanten
Fächern (Arzneimittel, Berufs-, Fleischhygiene-, Futtermittel-, Lebensmittel-,
Milchhygiene-, Tierschutz-, Tierseuchen-, Tierzucht-und Strahlenschutzrecht)
Ergänzungsprüfungen ablegen.
6.4
Bereich Wirtschaft: Corvinus-Universität
Ein schönes Beispiel für eine gelungeneZusammenarbeit einerungarischenUniversität
mit einem Bundesland – in diesem Fall mit dem Freistaat Bayern
– stellt der deutschsprachige Studiengang (DSG) für Betriebswirtschaftslehre
an der Corvinus-Universität dar, der seit 1993 in Budapest besteht. Er wird
von der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Passau fachlich
und organisatorisch betreut. Am Projekt sind 6 Lehrstühle der Corvinus-
Universität und 10 Lehrstühle der Universität Passau beteiligt. Im Rahmen
des DSG wird Betriebswirtschaftslehre nach internationalem Standard überwiegend
integriert, aber auch ergänzend zu der grundständigen Ausbildung
der ungarischen Studenten (mit einem ersten berufsbefähigenden Abschluss)
36DasheißtdieFortsetzungdesStudiums aneinerHochschuleinDeutschlandistjederzeit
möglich, wenn der Student dort einen Studienplatz erhält.
45
Dezsõ Szabó
vollständig in deutscher Sprache gelehrt. Der DSG umfasste bisher ein Doppeldiplomprogramm.
Derzeit sind ca. 130 Studenten im DSG zum Studium
zugelassen.
6.5
Sonderfall 1: die Andrássy Gyula Deutschsprachige
Universität
Einen Sonderfall stellt die Budapester deutschsprachige Andrássy-Universität
dar. Die Jahre 1989 und 1990 brachten eine Wende historischen Ausmaßes
für Mitteleuropa. Die Region gewann ihre politische, wirtschaftliche und kulturelle
Freiheit zurück und damit auf längere Sicht auch die Möglichkeit des
Beitritts zur Europäischen Union. Die Idee der Errichtung der Andrássy Gyula
Deutschsprachigen Universität Budapest (AUB) kam im Zusammenhang mit
der bevorstehenden Erweiterung der Europäischen Union auf. Im Jahre 2001
haben der ungarische Ministerpräsident, die Ministerpräsidenten des FreistaatesBayernundBaden-
WürttembergsundderösterreichischeBundeskanzlerdie
Ulmer Erklärung über die Grundidee der Gründung der Andrássy-Universität
unterzeichnet. Sie will zum Beitrittsprozess des mitteleuropäischen Raumes zu
Europa durch die Ausbildung von Führungskräften für den auswärtigen Dienst
beitragen. Die Universität will Fachkräfte ausbilden, die mit der historischen
und kulturellen Vergangenheit und der Gegenwart Mitteleuropas vertraut sind
und Verständnis für sowie Fachkenntnisse über die Besonderheiten der Region
haben. Die AUB bietet seit September 2002 zweijährige postgraduale Studiengänge
und ab 2008 Masterausbildungen in deutscher Sprache für Weiterbildungswillige
an. Die Andrássy-Universität ist ein Projekt der Republiken Ungarn
und Österreich sowie der Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg.
Die Absolventen sollen durch die Studienprogramme in die Lage versetzt werden,
jene umfassenden juristischen, ökonomischen und diplomatischen Kenntnisse
zu erwerben beziehungsweise über jene historischen und kulturellen Zusammenhänge
in Mitteleuropa informiert zu sein, die sie benötigen, um sich als
Diplomaten, nationale oder internationale Beamte, als Politiker, als Führungskräfte
in der Wirtschaft oder als Wissenschaftler in den nachstehenden Bereichen
beziehungsweise Institutionen bewähren zu können. Dementsprechend
sollten die Studiengänge (Vergleichende Staats-und Rechtswissenschaften, Internationale
Beziehungen und Mitteleuropäische Studien) aufgebaut werden.
Die UniversitäterhebtStudiengebühren(inHöhevonzurZeitHUF165.000 pro
Semester); Studierende können sich aber für eines der zahlreichen Stipendien
bewerben(DAAD,AktionÖsterreich-Ungarn, Erasmus, Carl-LutzStipendium,
Stipendium des Freistaates Bayern, Baden-Württemberg Stipendium, Stipendium
des Deutschen Volkes usw.).
46
Dezsõ Szabó
6.6
Sonderfall 2: Studienzentrum der Fernuniversität
Hagen in Budapest
Die Fernuniversität Hagen (FH) unterhält Studienzentren in Österreich (3), in
der Schweiz(2) in der Russischen Föderation (1) sowie in Ungarn(1). Die FH
hat insgesamt 4.200 Studierende mit ausländischer Staatsangehörigkeit darunter
über 200 Studierende mit ungarischer Staatsangehörigkeit. Die FH ist
seit vielen Jahren die deutsche Hochschule mit der höchsten Zahl ungarischer
Studierender. 1990/91 erfolgte die Etablierung des Fernstudienzentrums Budapest
mit Mitteln des europäischen TEMPUS-PHARE Programms (1990-1993).
Seit 1991 bietet die FH deutschsprachige Studiengänge und Weiterbildungsprogramme
in Ungarn an. 1994 erfolgte die offizielle Genehmigung des ungarischen
Bildungsministeriums, als ausländische Hochschule in Ungarn tätig zu
sein. Seitdem nahmen Hunderte von ungarischen StudentInnen die Möglichkeit
wahr, in Ungarn auf Deutsch studieren zu können. In der Gegenwart nutzen
300-400 ungarische Staatsbürger Jahr für Jahr diese Möglichkeit. Ein Teil von
ihnen besitzt bereits ein ungarisches Diplom, der andere Teil studiert gleichzeitig
an einer ungarischen Hochschuleinrichtung, die mit der FH in Kontakt
steht. Die FH organisiert nicht nur die Seminare und Konsultationen, sondern
sichert auch die Möglichkeit, die fälligen Prüfungen in Budapest ablegen zu
können.
7 Zusammenfassung und Ausblick
Die ausländischen StudentInnen berücksichtigen bei ihrer Wahl nicht nur die
Höhe der Studiengebühren – ein Glück für Ungarn, denn diese sind mittlerweile
auch hier deutlich angestiegen -sondern auch das Prestige der Universität, die
Qualität der Bildung, die Rechtssicherheit und die allgemeine Situation im
Land. So gesehen hat Ungarn erhebliche Vorteile aufzuweisen, für die Studierenden
aus Asien oder aus den arabischen Ländern ist der Unterschied zwischen
Budapest und Bukarest allerdings wahrnehmbar. Die Grundfrage ist,
ob sich ein Land im Fall der ausländischen Studenten auf die Quantität oder
auf die Qualität konzentriert. Die europäischen Beispiele zeigen jedenfalls eindeutig,
dass die nicht-englischsprachigen Länder hier nur dann eine Chance
haben, wenn sie mit qualitativen Bildungsangeboten auf dem internationalen
Markt erscheinen können, die eine Lücke schließen. Dies erfordert auch einen
Sichtwechsel: in Westeuropa ist eines der primären Ziele die Beibehaltung der
hochqualifizierten Ausländer nach ihrem ungarischen Studium. Gerade in Ungarn,
wo Tausende vondeutschen Unternehmeneine Filialehaben, könnte diese
Erkenntnis im Fall der deutschsprachigen Studiengänge von großer Bedeutung
sein und im optimalen Fall für neue Impulse in der Kooperation des Bildungssektors
und der Unternehmen sorgen.
47
Dezsõ Szabó
8 Literatur
Földes, Csaba (1998): Zur Situation der deutschen Sprache, der Hochschulgermanistik
und der germanistischen Forschungen in Ungarn. Eine
überarbeitete Fassung des Beitrages des Autors in: Grucza, Franciszek
(Hg.): Deutsch und Auslandsgermanistik in Mitteleuropa. Geschichte-Stand-
Ausblicke. Warsaw, 66-79.
Internetquellen
www1: www.ungarnstudium.hu
www2:http://www.okm.gov.hu/doc/upload/200901/higher_
education_2008.doc
Hatos, Pál (2009): Nemzetközi hallgatói mobilitás: magyarországi helyzetkép.
www.scholarship.hu/static/rolunk/.../hazaihelyzetkep.pdf
heruntergeladen am 18.07.2009.
Rédei, Mária (2007): A külföldi hallgatók jellemzõi. Modern Geográfia,
2007/4. http://www.moderngeografia.hu/tanulmanyok/kulturalis_
foldrajz/redei_maria_2007_4.pdf
heruntergeladen am 17.07.2009.
48
Germanistik in Ungarn. Herausforderungen und
Perspektiven
Prof. Dr. Magdolna Orosz
Dr. Roberta V. Rada (PhD)
Eötvös-Loránd-Universität
Germanistisches Institut
Rákóczi út 5.
1088 Budapest
Einleitung
In Folge der 1999 durch die von 29 europäischen Bildungsministern unterzeichneten
sogenannten Bologna-Erklärung setzten tiefgreifende Veränderungen im
europäischen Hochschulwesen ein. Der Kreis der an diesem Prozess beteiligten
Staaten hat sich im Laufe der Jahre vergrößert, so dass ihre Anzahl auf
der Jubiläums-Ministerkonferenz 2010 in Budapest/Wien mit der Aufnahme
von Kasachstan inzwischen auf 47 gestiegen ist. Durch die Schaffung eines gemeinsamen
Hochschulwesens in Europa sollte die Mobilität der Studierenden
und Lehrkräfte, die erhöhte internationale Wettbewerbsfähigkeit europäischer
Hochschulabschlüsse und die Beschäftigungsfähigkeit der Absolventen erreicht
werden.
Dieser Beitrag wird die gegenwärtige Situation der ungarischen Germanistik
erläutern und kritisch unter die Lupe zu nehmen. Dabei wird der Frage
nachgegangen, wie sich das Bologna-System im ungarischen Hochschulwesen,
auf den Bereich der traditionsreichen Germanistik bezogen, durchgesetzt hat.
Es werden die Struktur und die globalen Inhalte des Germanistikstudiums auf
den Ebenen Bachelor und Master vorgestellt. Obwohl das Bologna-Modell in
Ungarn erst vor kurzem eingeführt worden ist, zeigten sich bereits unmittelbar
nach der Umstellung zahlreiche Probleme, die wegen der verpflichtenden
gesetzlichen Vorgaben aufgetreten sind. Dazu gesellten sich Schwierigkeiten,
derer man sich erst in der Erprobungsphase, das heißt im Laufe der Arbeit mit
den ersten Bologna-Studiengängen, bewusst geworden sind.
Über die ersten Erfahrungen und Probleme der Umwandlung der ungarischenHochschullandschaftwurdeneineReihevonfachinternenPodiumsgesprächen
geführt, an denen sich Vertreter der verschiedenen Universitäten, wichtige
Persönlichkeiten des Faches, zu der Lage der Germanistik in Ungarn geäußert
49
Magdolna Orosz/Roberta V. Rada
haben. Auch die relevanten Aspekte dieser Diskussionen sollen skizziert werden.
2
Besorgnis um die Zukunft des Faches Germanistik
Die Situation des Faches Germanistik im ungarischen Hochschulwesen wird
kurz vor Ende des ersten Jahrzehntes des 21. Jahrhunderts einstimmig als besorgniserregend
und ernst (bis krisenhaft) bezeichnet (vgl. JuG 2007, 2008).
Überraschenderweise waren die ungarischen Vortragenden auf dem 2002 zum
Thema „Zukunftsperspektiven der deutschen Sprache in Mittel-, Südost-und
Osteuropa“ veranstalteten Grazer Humboldt-Kolleg im Zusammenhang mit
der Zukunft der Germanistik an ungarischen Universitäten und Hochschulen
noch eindeutig optimistisch. Der Optimismus basierte auf der stabilen Stellung
des Deutschen als Fremsdsprache (FS) in Ungarn, was sich auch auf die Germanistik
positiv ausgewirkt hat: hohe Studentenzahlen, Lehrveranstaltungen,
Prüfungen undLehrerfortbildungskurseindeutscherSprache, deutschsprachige
Periodika für Germanisten und sogar für Deutschlehrer usw.. Nach dem plötzlichen
und rapiden Aufschwung des DaF-Unterrichts auf allen Ebenen in den
1990er Jahren hat man 10 Jahre später die ersten Probleme1
konstatieren können
(zum Beispiel Handicaps der Studierenden im Bereich des Denk-und Reflexionsvermögens,
fehlende Textkompetenzen, Desinteresse und Unmotiviertheit
der Studierenden, Zulassung des Ein-Fach-Studiums, Sorgen um die Eingliederungschancen
der jungen Wissenschaftler in die internationale Germanistik,
Erhöhung des Prestiges des Lehrerberufs usw.) und Gedanken über die Notwendigkeit
von Reformen der Ausbildungsstrukturen und -inhalte formuliert
(zum Beispiel Notwendigkeit des modularen Systems, Modernisierung der Studieninhalte
in Richtung Berufsorientierung usw.). Am Anfang der 2000er Jahre
schienen die Bedingungen, auch die finanziellen, für eine globale Umstrukturierung
des ungarischen Hochschulwesens im Wesentlichen vorhanden zu sein.
Binnen fünf bis sechs Jahren hat sich die Situation zu Ungunsten des Deutschen
als FS verändert, zumal das Deutsche seine Position als FS europaweit
eingebüßt hat. Dies konnte in Ungarn unter anderem an der Zahl von Studierenden,
die Deutsch beziehungsweise Germanistik als Hauptfach studieren wollen,
eindeutig abgelesen werden. Im Studienjahr 2001/2002 haben etwa 3.000
Jugendliche die deutsche Sprache und Literatur an ungarischen Hochschulen
studiert. Auf Grund dieser Daten lautete die optimistische Prognose 2002 noch
wie folgt: „Mit einem plötzlichen Trendwechsel ist auch künftig nicht zu rechnen.“(
Bernáth/Csúri2004: 137). Trotzdemhaben2008landesweitnurnochgut
1Zu den Problemen und Lösungsvorschlägen vgl. die Beiträge in Goltschnigg, Dietmar/
Schwob, Anton (2004)
50
Magdolna Orosz/Roberta V. Rada
250 Direktstudenten das Fach Germanistik als Hauptfach gewählt. Ein Drittel
von diesen in Budapest an der Eötvös-Loránd-Universität, die anderen verteilt
auf die sechs weiteren Universitäten und Hochschulen in Ungarn, wie Szeged
(ca. 40 Anmeldungen) oder Debrecen (ca. 30). Es gibt sogar Hochschulen,
wo anscheinend überhaupt kein Interesse mehr an Germanistik vorhanden ist,
zum Beispiel Székesfehérvár mit einer einzigen Anmeldung (Kegelmann 2008:
21). Deutsch ist im ungarischen Hochschulwesen von einer großen Sprache zu
einer mittleren oder anderorts einer kleinen Sprache geworden.
Der Rückgang der Studentenzahlen hatte in der gegenwärtigen politischwirtschaftlichen
und bildungpolitischen Situation auch die Verminderung der
Personalstellen in Germanistik zur Folge. Zunächt musste auf die Arbeit der
Lehrbeauftragten verzichtet werden, im darauf folgenden Schritt durften auch
die Stellen der pensionierten Kolleginnen und Kollegen nicht mehr besetzt werden.
So weit die Diagnose. Um ausgehend von der Diagnose eine Therapie skizzieren
zu können, müssen die vielfältigen Gründe erörtert werden.
Gründe für die gegenwärtige Situation der
Germanistik
An erster Stelle ist der (oben angedeutete) Imageverlust der deutschen Sprache
in Ungarn zu erwähnen, dessen Gründe in folgenden Faktoren gesucht werden
(vgl. Földes 2009: 23). Zunächst sind es der internationale Vormarsch
der Allerweltssprache Englisch und die Globalisierung, wobei aus diesen Entwicklungstendenzen
(auch?) in Ungarn auf der Ebene der Bildunsgpolitik die
Schlussfolgerung abgeleitet worden ist, dass ein jeder Ungar Englisch lernen
sollte.2
Dieser bildungspolitische Schritt wurde, wenn auch unbewusst, durch
die sprachpolitische Praxis der EU (im Gegensatz zum deklarierten Konzept
des mehrsprachigen Europas) bedingt und gerechtfertigt.
Beklagt werden darüber hinaus die mangelnde Attraktivität der deutschen
Sprache in der gegenwärtigen ungarischen Schulkultur und die von manchen
als katastrophal bezeichneten sprachlichen Kenntnisse der jungen Generation
im Deutschen, einschließlich ungarischer Germanistikstudenten. Das niedrige
Niveau der Sprachkenntnisse wird übrigens auf die Durchsetzung der sogenannten
kommunikativen Lehrmethode im FS-Unterricht zurückgeführt (vgl. Hessy
2008: 14).
Aber auch juristisch-administrative Aspekte, die durch die Einführung des
neuen zweistufigen Abitursystems entstanden sind, müssen erwähnt werden.
Während man praktisch alle anderen Fächer auch im Besitz des Mittelstufena
2Zu der ausführlichen Behandlung der einschlägigen ungarischen bildungspolitischen Entscheidungen
im Hochschulbereich vgl. den Beitrag von Rada in diesem Band
51
Magdolna Orosz/Roberta V. Rada
biturs absolvieren kann, ist für Germanistik ein Oberstufenabitur3
in Deutsch
die Voraussetzung. Im Vergleich zu einem 5jährigen Jura-oder Medizinstudium,
indenenbis2009einMittelstufenabiturerforderlichwar,istdasOberstufenabitur
für eine dreijährige BA-Ausbildung in Germanistik eine Zumutung.
Diese administrative Hürde scheint viele Interessenten abzuschrecken.
Von einem Mentalitätswandel zeugt, dass sich die meisten Studierenden in
Ungarn in der letzten Zeit in erster Linie die praktische Anwendbarkeit von FS-
Kenntnissen vor Augen halten. Mit guten aus der Mittelschule mitgebrachten
Deutschkenntnissen wählt man kein Germanistik-Studium oder ein Lehramtstudium
in Deutsch, zumal der Lehrerberuf in Ungarn schlechthin unattraktiv
ist und Deutschlehrer darüber hinaus bei weitem nicht so gefragt sind, wie
früher. Die guten FS-Kenntnisse möchte man eher in den Bereichen Jura,
Ökonomie oder Informatik anwenden, mit guten FS-Kenntnissen kann man
mit besseren Chancen für ein Auslandstipendium oder gar mit einer besseren
Stelle im Ausland oder Inland rechnen (vgl. Pusztai 2009: 32-33).
Die Krisensituation in der Germanistik wird schließlich auch mit der Einführung
des Bologna-Modells im Hochschulbereichin Zusammenhang gebracht,
dasbisdahinmehrodermindergutfunktionierendeundkonsistenteStrukturen
zerstört hat und nicht ohne negative Folgen geblieben ist.
3Seit 2005 können in Ungarn die Abiturprüfung auf zwei Stufen, auf einer mittleren sowie
auf einer oberen Stufe, abgelegt werden. Die generellen Anforderungen der Abiturprüfung
in einer Fremdsprache sind von den Empfehlungen des Europarates in Bezug auf den FSU
geleitet, die Bestimmung der Stufen richtet sich nach der EU-Skala. Das Niveau der Abiturprüfung
auf mittlerer Stufe entspricht der Stufe A2-B1, das der oberen Stufe dem Niveau B2
(vgl. dazu mehr: Rada in diesem Band). Die Unterscheidung zwischen dem Mittelstufen-
und Oberstufenabitur in den anderen Fächern liegt teils auf inhaltlicher Ebene und bedeutet
höhere inhaltliche Anforderungen. Auf der oberen Stufe werden die Kenntnis von mehreren
Sachinformationen, eineReflexions-undAbstraktionsfähigkeitaufhöheremNiveau sowieeine
komplexere Gedankenentwicklung erwartet. Auf beiden Stufen gibt es sowohl eine schriftliche
als auch eine mündliche Prüfung. Die Prüfungstests werden sowohl beim Mittel-als
auch beim Oberstufenabitur in allen Fächern zentral, das heißt vom Bildungsministerium,
zusammengestellt, aber von den Schülern in ihren eigenen Schulen an – vom Bildungsministerium
– festgelegten Prüfungstagen gelöst. Die Tests werden dann an Ort und Stelle, das
heißt von den LehrerInnen der betreffenden Schule, korrigiert und bewertet. Die Themen
für die mündliche Prüfung werden von der Lehrkraft der einzelnen Schulen abhängig von
den behandelten Lehrinhalten und Lehrmaterialien bestimmt. Die Prüfung selbst wird auch
schulintern organisiert. Sie wird vor einer Prüfungskomission abgelegt, deren Mitglieder die
für die AbiturientInnen vertrauten LeherInnen der betreffenden Schule sind. Die/der Komissionsvorsitzende(
r) muss aber von auswärts, das heißt aus einer anderen Schule kommen. Das
Oberstufenabitur dagegen versteht sich als eine externe Prüfung, die sich von den bekannten
LehrerInnen der eigenen Schule völlig loslöst. Die schriftlichen Prüfunsgtests werden nicht in
der eigenen Schule der AbiturientInnen korrigiert und bewertet, auch die mündliche Prüfung
wird vor einer fremden Prüfungskomission abgelegt.
52
Magdolna Orosz/Roberta V. Rada
Die Durchsetzung des Bologna-Prozesses im
ungarischen Hochschulwesen
In Ungarn wurde der gesetzliche Rahmen für die Umsetzung des Bologna-
Prozesses durch das (seitdem mehrmals modifizierte) Hochschulgesetz CXXXIX
von 2005 geschaffen. Damit sollten auch in Ungarn die wichtigsten Ziele
des Bologna-Prozesses, nämlich die Schaffung eines Systems vergleichbarer Abschlüsse,
die Schaffung eines einheitlichen zweistufigen Systems der Studien
(BA-/MA-System) und die Einführung eines vergleichbaren Kreditpunktesystems
(ECTS) realisiert werden.
Die praktische Umsetzung des gesetzlich vorgesehenen Systems nahm bereits2004mitdenDiskussionenüberdieAusgestaltungderneuenStudiengänge
ihren Anlauf, um nach einer Phase der Konzipiereung und Gründung sowie
Akkreditierung der neuen BA-Studiengänge diese 2006 landesweit einzuführen
und zu starten. Die Jahre 2005-2006 waren der Konzipierung und den ersten
Akkreditierungsverfahren der MA-Studiengänge gewidmet, ab 2007 wurden die
erstenMA-StudiengängegegründetundnachdenAkkreditierungsverfahrender
neuen MA-Studiengänge starteten diese im Herbst 2009 landesweit an den für
dieses Studium zugelassenen Universitäten und Hochschulen.
Ab September 2006 laufen demgemäß auch die Germanistikstudien in 3
Bildungszyklen:
1. im ersten Zyklus umfasst das BA-Studium Germanistik die Fachrichtungen
Deutsche Sprache und Literatur, Deutsch als Minderheitensprache,
Niederlandistik und Skandinavistik. Dieses Studium beträgt im Regelfall
6 Semester und schreibt den Erwerb von 180 Kreditpunkten (ECTS) vor;
2. im zweiten Zyklus sind innerhalb der MA-Studien die disziplinären StudiengängeMAinDeutscheSprache,
LiteraturundKultur, MAinDeutsch
alsMinderheitensprache undLiteratur, MA inNiederlandistikund MAin
Skandinavistik im Bereich der germanistischen Fächer akkreditiert worden.
FürdieseStudiensindimRegelfall4Semestervorgesehen,innerhalb
derer 120 Kreditpunkte erbracht werden sollen.
Ebenfalls im Rahmen der MA-Studien findet die Lehramtausbildung
statt, die mit einem MA/ Lehramt in Deutsch als Fremdsprache oder
MA/ Lehramt in Deutsch als Minderheitensprache als Abschluß ebenfalls
nach 4 Semestern mit der Erbringung von 120 Kreditpunkten endet.
3. als dritter Zyklus der Studien können postgraduale (=PhD-)Studien absolviertwerden.
DiesindfürdiebestenStudierendenalsVorbereitungauf
eine künftige wissenschaftliche/akademische Laufbahn vorgesehen und
umfassen 6 Semester und 180 Kreditpunkte, wofür Lehrveranstaltungen
zu absolvieren sind, sowie Publikationen/ Konferenzbeiträge/ Teilnahme
53
Magdolna Orosz/Roberta V. Rada
an Forschungsprojekten und eventuell Lehre verlangt werden. Die PhD-
Studien werden nach Wissenschaftsbereichen strukturiert, so ist die germanistischeSprachwissenschaftalsPhD-
ProgramminnerhalbderSprachwissenschaft,
die germanistische Literaturwissenschaft (mit der Niederlandistik)
als PhD-Programm innerhalb der Literaturwissenschaft situiert.
Diese Neustrukturierung der Germanistik-Studien impliziert, wie es bereits
in der jetzigen Phase absehbar ist, inzwischen solche Problemquellen, die sich
aus den nicht unbedingt nahtlosen Übergängen zwischen den BA-, MA-und
PhD-Zyklen ergeben können und (vorübergehend) zu einer Ebbe der PhD-
Neuzugänge führen können.
5 BA-Studien in Germanistik
5.1 Die Struktur der BA-Studien
Die BA-sowie die MA-Studien laufen in einer modularisierten und vielfach aufgefächerten
Struktur, und sind in einem landesweiten gemeinsamen Rahmen,
aber mit individuellen institutionellen Inhalten und Mikrostrukturen herausgebildet
worden, woraus inhaltliche und teilweise auch strukturelle Unterschiede
der Modulprogramme in den einzelnen Germanistik-Instituten resultieren.
Die Modulstruktur der dreijährigen, praxisnahen und berufsqualifizierenden
BA-Ausbildung in Germanistik (hier: Fachrichtung Deutsche Sprache und
Literatur) ist im landesweiten gemeinsamen Rahmen folgenderweise aufgeteilt:
siehe Tabelle 1.
Der BA-Studiengang Germanistik in der Fachrichtung Deutsche Sprache,
Literatur und Kultur (die anderen germanistischen Fachrichtungen weisen
ebenfall diese Struktur auf) gliedert sich demnach in zwei größere Teile: einerseits
in die Module des Faches beziehungsweise der Fachrichtung, die 120
Kreditpunkte umfassen, andererseits in die Wahlmodule, die ein zweites Fach
(eigentlich ein Nebenfach oder eine Spezialisierung), sowie frei wählbare oder
auf ein späteres Lehramtstudium vorbereitende Kurse umfassen (50 + 10
Kreditpunkte). Die Lehreinheiten der Fachrichtung selbst umfassen einerseits
ein Einführungsmodul mit 10 Kreditpunkten, das allgemeine philologische
Lehreinheiten wie Einführungskurse in die Sprach-und Literaturwissenschaft,
Philosophie, Bibliothekswesen und Informatik beinhaltet andererseits gehören
innerhalb der Fachrichtung Grundmodule und differenzierte Fach-und
Wahlpflichtmodule (110 Kreditpunkte) zu den Studien. Sie umfassen ein für
ungarische Muttersprachler, die sonst mit Sprachkenntnissen auf B2-Niveau
zum Studium zugelassen werden, notwendiges sprachliches Vertiefungsmodul,
außerdem Module in Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft.
In letzteren sollen Grundkenntnisse und Fertigkeiten, jedoch keine
54
Magdolna Orosz/Roberta V. Rada
BA-Studiengang Germanistik, Fachrichtung Deutsche Sprache und
Literatur 180 Kreditpunkte
Module im Fach / in der Fachrichtung
120 Kreditpunkte
Wahlmodule außerhalb der Fachrichtung
60 Kreditpunkte
Einführungsmodul
Philologie 10
Kreditpunkte
Grundmodule,
differenzierte
Fach-und Wahlpflichtmodule
110 Kreditpunkte
(sprachliche
Vertiefung,
Sprachwissenschaft,
Literaturwissenschaft,
Kulturwissenschaft
+ Wahlpflichtmodul;
Abschlussarbeit)
Wahlmodul I.
50 Kreditpunkte
(in einem anderen
Fach oder
in einer anderen
Fachrichtung
des Faches
Germanistik)
Wahlmodul II.
10 Kreditpunkte
(Lehreinheiten
nach freier Wahl
oder zur Vorbereitung
eines
späteren Lehramtstudiums)
Tabelle
1:
Aufteilung der BA-Ausbildung in Germanistik
besonderen disziplinären Kenntnisse vermittelt werden. Das Ziel dieses Studienabschnittes
ist es, die Studierenden in die Denkweise und Strukturen der
Geisteswissenschaften einzuführen, die ersten Schritte wissenschaftlicher Arbeit
zu gehen beziehungsweise zu zeigen, welche Fragestellungen und Probleme
in einem wissenschaftlichen Diskurs der gewählten Fachrichtung/en auftauchen
und diskutiert werden.
Ergänzt werden diese Module der Fachrichtung durch Wahlpflichtmodule,
die spezielle thematische Schwerpunkte wie zum Beispiel Interkulturalität
und Literatur, deutsch-ungarische kulturelle und literarische Beziehungen,
Sprachpolitik, Translatologie oder Grundkenntnisse in Wirtschaftsdeutsch,
EU-Studien usw. anbieten. Im Rahmen der facettenreichen Wahlmodule
erhalten die Studierenden über eine Einführung hinausgehende Einblicke in
die Teilgebiete und wissenschaftliche Fragestellungen des Faches, es wird die
Vertiefung fachspezifischer Grundkenntnisse und die Erlangung differenzierter
Fachkenntnisse erzielt.
Die Wahlmodule außerhalb der Fachrichtung, die insgesamt 60 Kreditpunkte
einnehmen, sind wiederum zweigeteilt: einerseits gibt es ein Wahlmodul
mit 50 Kreditpunkten, die ein Nebenfach oder Spezialisierung beinhaltet,
das weitere Berufsqualifikationen liefern kann oder (für künftige LehramtsstudentInnen)
ein zweites Unterrichtsfach vorbereitet (so müssen zum Beispiel
künftige DaF-LehrerInnen neben der Fachrichtung Deutsche Sprache, Litera
55
Magdolna Orosz/Roberta V. Rada
tur und Kultur ein späteres zweites Fach bereits im BA-Studium mit einem
50-Kreditpunkte-Modul zum Beispiel in Geschichte, ungarische Sprache und
Literatur, Englisch, Französisch usw. wählen). Andererseits gibt es noch
ein Modul mit 10 Kreditpunkten, das von künftigen LehramtstudenInnen in
Pädagogik-Psychologie absolviert werden muss, dessen Inhalte für andere jedoch
völlig frei wählbar sind. Die Abschlussarbeit, die die AbsolventInnen zum
Abschluss des BA-Studiums vorlegen müssen, wird je nach Interesse der Studierenden
in germanistischer Sprach-, Literatur-oder Kulturwissenschaft verfasst
und ist weniger wissenschaftlich vertieft als eher praktisch-analytisch, auf
bestimmte Detailfragen konzentriert zu konzipieren. Die BA-Studien werden
mit einer Prüfung abgeschlossen, in der der Nachweis über deutsche Sprachkennnisse
auf C1-Niveau erbracht werden soll, sowie neben der Verteidigung
der Abschlussarbeit die erworbenen Kenntnisse in Sprach-, Literatur und/oder
Kulturwissenschaft geprüft werden. Grundsätzlich gibt es hier durch die relativ
strikte Aufeinanderfolge der oben gezeigten Studienabschnitte eine strenge
Linearität, die relativ wenig freie Wahl beim Belegen der Kurse lässt. Die gewählten
Module müssen beispielsweise komplett belegt werden, es gibt keinen
Übergang zwischen ihnen.
Der BA-Abschluss befähigt für den Zugang zum Arbeitsmarkt, wobei die
bisherigen Erfahrungen mit dem ersten 2009 absolvierten Jahrgang noch wenig
Aussagekraft über den Wert des BA-Diploms besitzen. Der BA-Abschluss ist
auch für den Zugang zum MA-Studium erforderlich, ein BA-Diplom in Germanistik
mit Fachrichtung Deutsche Sprache, Literatur und Kultur kann aber
nicht nur zu einem germanistischen MA-Studium befähigen, sondern auch zu
solchen MA-Studiengängen wie Europastudien oder die sehr gerne gewählten
Dolmetscher-und Übersetzer-Studien.
5.2 Erfahrungen und Herausforderungen
Die fachinternen Reflexionen über die BA-Ausbildung sind kontrovers. Einerseits
wird kritisch bemerkt, dass in der BA-Ausbildung die Vermittlung praktischer
Kenntnisse auf Kosten der traditionell germanistischen Bereiche so wie
der Landeskunde einen wesentlichen Raum einnimmt. Die BA-Absolventen
beenden ihre Ausbildung ohne ausreichende Grundlagen in der Germanistik.
Genau aus demselben Grunde können sie auch die neuen Erkenntnisse in den
Forschungsbereichen nicht weiter verfolgen. Hinzu kommt, dass die gegenwärtigen
Ausbildungsformen den Studierenden zu enge Grenzen setzen und durch
die neuen Lehrinhalte werden sie nicht wie früher befähigt, ihre erworbenen
Kenntnisse selbstständig weiter entwickeln zu können, wo auch immer sie auf
dem Arbeitsmarkt beschäftigt werden (Bassola 2008: 18ff). Kegelmann dagegen
vermisst die Vermittlung mehr praxisorientierter Kenntnisse und Konzepte
und behauptet, dass sich die Germanistik in Ungarn auf die „Verlagerung von
einem wissenschaftlichen auf einen praxisorientierten Fokus bislang nicht genü
56
Magdolna Orosz/Roberta V. Rada
gend eingestellt [hat] und tendenziell noch in einem Zustand der Beibehaltung
alter Inhalte unter neuem Label [verharrt].“ (Kegelmann 2008: 22). Szendi
fasst die beiden Standpunkte treffend zusammen: Das neue BA-Programm sei
für die praktischen Anforderungen zu theoretisierend, während es in seiner akademischen
Qualität für die Vorbereitung des Magister-Programms nicht immer
ausreiche (vgl. Szendi 2008: 26).
Dazu gesellt sich, dass die potentiellen Studierenden immer weniger Interesse
für die traditionellen philologischen und wissenschaftlichen Studieninhalte
zeigen, sondern vielmehr pragmatische und berufsbezogene Qualifikationen bevorzugen.
Mit einer philologischen Ausbildung, zum Beispiel im Bereich Germanistik,
kann man in dem heutigen Ungarn kaum eine Stelle finden. Sogar
sehr gut qualifizierte jüngere Germanisten müssen auf dem Arbeitsmarkt nach
einer Stelle suchen, auf eine vernünftige akademische Einstellung haben sie
nämlich wenig Chance. Ein Germanistikstudium scheint im heutigen Ungarn
finanziell nicht rentabel zu sein.
6 Die Struktur der MA-Studien in Germanistik
6.1 Die disziplinären MA-Studien
Die Modulstruktur der disziplinären MA-Studien in den germanistischen MA-
Studiengängen im landesweiten gemeinsamen Rahmen sieht tabellarisch zusammengefasst
folgenderweise aus: siehe Tabelle 2.
MA-Studiengang Deutsche Sprache, Literatur und Kultur 120 Kreditpunkte
Grundmodule 40 Kreditpunkte Aufbaumodule 80 Kreditpunkte
Grundlagenmodul
(Sprachund
Literatur-
wissenschaft)
8-12
Kreditpunkte
Vertiefungsmodule
(sprachliche
Vertiefung,
Sprachwissenschaft,
Literaturwissenschaft,
Kulturwissenschaft)
28-32 Kreditpunkte
Spezialisierungsmodul
(Pflichtwahlmodul,
institutionell
definierte
Spezialisierungen)
40-50 Kreditpunkte
Wahlmodul
min. 10
Kreditpunkte
Diplomarbeit
20 Kreditpunkte
Tabelle
2:
Aufteilung der MA-Ausbildung in Germanistik
57
Magdolna Orosz/Roberta V. Rada
Der disziplinäre MA-Studiengang MA in Deutscher Sprache, Literatur
und Kultur sowie die anderen disziplinären germanistischen MA-Studiengänge
gliedern sich demgemäß in Grund-und Aufbaumodule. Die Grundmodule
umfassen 40 Kreditpunkte mit einem Grundlagenmodul in Sprach-sowie Literaturwissenschaft,
die wissenschaftsgeschichtliche und methodologische Kenntnisse
vermitteln, außerdem mit Vertiefungsmodulen in Sprach-, Literatur
und Kulturwissenschaft, die unter anderem disziplinäre Fragen innerhalb der
Sprachwissenschaft (Pragmatik, Semantik, Varietätenlinguistik, Grammatikalisierung),
Sprachgeschichte und Sprachpolitik behandeln sowie ältere deutsche
Literatur, gattungstheoretische und -historische Fragestellungen, kulturwissenschaftliche
Methoden, ferner theoretische und praktische textanalytische Kurse
anbieten. Die Spezialisierungsmodule, die Pflichtwahlmodule mit institutionell
variabel definierten speziellen Inhalten bedeuten, bieten den Studierenden die
Möglichkeit, sich in Sprachwissenschaft oder Literatur-und Kulturwissenschaft
zu vertiefen und spezielle Inhalte sowie Fertigkeiten anzueignen (hier ergibt
sich auch die Möglichkeit, für eventuelle künftige PhD-Studien entsprechende
Vorbereitungen zu treffen) und die Diplomarbeit, die in diesen Studien einen
größeren Akzent erhält, durch entsprechende Kurse und Konsultationen zu
fundieren. Das Wahlmodul kann – in Abhängigkeit des Wahlpflichtmoduls –
in Literatur-oder Sprachwissenschaft, in bestimmten Institutionen eventuell
in anderen Fächern belegt werden.
6.2 MA-Studien Lehramt für DaF
Die DaF-Lehrerausbildung erfährt im Bologna-System in Ungarn tiefgreifende
Veränderungen. Nach 1990 etablierte sich ein gemischtes System der Lehrerausbildung:
Nach der Abschaffung des obligatorischen Russischunterrichts
ist neben Englisch die deutsche Sprache die am häufigsten gewählte und unterrichtete
Sprache geworden, und es entstand damit ein erhöhter Bedarf an
Sprachlehrern (es war die Zeit der Russischlehrerumschulung). Die Lehrerausbildung
erfolgte für unterschiedliche Schultypen auf unterschiedlichen Ebenen:
für die Primarstufe war ein Lehramt-, das heißt Hochschuldiplom in 8 Semestern,
für die Sekundarstufe ein Lehramt-Magisterstudium in 10 Semestern vorgesehen,
wobeidienach1990eingeführtedreijährige(sechssemestrige)Deutschbeziehungsweise
Sprachlehrerausbildung allmählich auf unterschiedlichen Unterrichtsstufen
und Schultypen angenommen wurde.
Im Bologna-System erfolgt die Lehrerausbildung (und somit auch die
Sprachlehrerausbildung) in einem einheitlichen System ausschließlich auf MA-
Ebene, wobei alle Lehramtstudierenden zwei Fächer belegen müssen. Die
Lehrerausbildung auf MA-Ebene umfasst vier Semester mit 120 zu leistenden
Kreditpunkten und ein Semester Referendarzeit in der Schule, in der noch 30
Kreditpunkte zu erwerben sind. Innerhalb der germanistischen Lehrerausbildung
sind im neuen Systemdie Studiengänge MAin Deutsch als Fremdsprache,
58
Magdolna Orosz/Roberta V. Rada
MA in Deutsch als Minderheitensprache akkreditiert worden, die Akkreditierung
des Lehramtstudiengangs MA in Niederländisch als Fremdsprache steht
unmittelbar bevor.
DaimneuenSystemindenLehramtsstudienaufMA-Ebeneobligatorischerweise
zwei Fächer zu absolvieren sind, ergeben sich daraus die unterschiedlichsten
Fächerkombinationen: Neben zwei geisteswissenschaftlichen und/oder
philologischen Fächern sind auch Kombinationen wie ein naturwissenschaftliches
mit einem geisteswissenschaftlichen Fach denkbar. Die in den BA-Studien
erfolgte Aufteilung der Studieninhalte und -module führt jedoch – obwohl
dies nicht zugegeben wird – notwendigerweise zu einer Hauptfach-Nebenfach-
Konstellation der Lehramtstudien.
Die allgemeine Modulstruktur der MA-Lehramtstudien in Bezug auf das
Fach DaF sieht folgenderweise aus (mit den beiden Studienvarianten DaF als
Hauptfach, siehe Abbildung 1 beziehungsweise DaF als Nebenfach, siehe Abbildung
2).
MA-Studiengang Lehramt für Deutsche Sprache, Literatur und Kultur (DaF
als Hauptfach)
120 Kreditpunkte
1. Fach (=Hauptfach)
40 ECTS-Punkte
2. Fach (=Nebenfach)
40 ECTS-Punkte
Pädagogik /
Psychologie
40 ECTS-
Punkte
Sprachwissen-
schaft /
Literaturwissen-schaft
(28 ECTS-
Punkte)
frei wählbare
Lehreinheit (2
Kreditpunkte)
Methodik/
Didaktik DaF
(7
Kreditpunkte)
+
Schulpraktikum DaF (3
Kreditpunkte)
Fachkenntnisse im Fach
zum Beispiel
Geschichte,
ungarische
Sprache und
Literatur,
Mathematik,
Chemie usw.
Methodik/
Didaktik
des
gegebenen Faches
5. Semester:
Referendarzeit
(30 ECTS-
Punkte)
Abbildung
1:
Deutsch als Hauptfach
Der entscheidende Unterschied zwischen dem MA-Lehramtstudiengang in
Deutsch als Fremdsprache als Hauptfach beziehungsweise als Nebenfach (offiziell
werden diese auch nicht als solche bezeichnet) besteht nicht in den im Laufe
des MA-Studiengangs zu absolvierenden Lehreinheiten, denn sie sind sowohl
für das Haupt-als auch für das Nebenfach identisch: sie umfassen insgesamt
40 Kreditpunkte, worin bestimmte Module in Sprach-sowie Literatur-und
59
Magdolna Orosz/Roberta V. Rada
MA-Studiengang Lehramt für Deutsche Sprache, Literatur und Kultur (DaF
als Nebenfach)
120 Kreditpunkte
1. Fach (=Hauptfach)
40 ECTS-Punkte
2. Fach (=Nebenfach)
40 ECTS-Punkte
Pädagogik /
Psychologie
40 ECTS-
Punkte
Fachkenntnisse im Fach
zum Beispiel
Geschichte,
ungarische
Sprache und
Literatur,
Mathematik,
Chemie usw.
Methodik/
Didaktik
des
gegebenen Faches
Sprachwissen-
schaft /
Literaturwissen-schaft
(28 ECTS-
Punkte)
frei wählbare
Lehreinheit (2
Kreditpunkte)
Methodik/
Didaktik DaF
(7
Kreditpunkte)
+
Schulpraktikum DaF (3
Kreditpunkte)
5. Semester:
Referendarzeit
(30 ECTS-
Punkte)
Abbildung
2:
Deutsch als Nebenfach
Kulturwissenschaft (insgesamt 28 + 2 Kreditpunkte) sowie ein Modul für Methodik/
Didaktik des Faches DaF und ein Schulpraktikum (insgesamt 10 Kreditpunkte)
vorgesehen sind. Der Unterschied zwischen Haupt-und Nebenfach
besteht in den in den BA-Studien erworbenen Voraussetzungen: Während die
StudierendenmitderFachrichtungDeutscheSprache, LiteraturundKultur120
Kreditpunkte im Fach erworben haben, sind es bei den Studierenden, die eine
Spezialisierung (ein sog. Minorfach4) in Deutsche Sprache, Literatur und Kultur
absolviert haben, ohne Rücksicht auf disziplinäre Studienvoraussetzungen
nicht mehr als 50 Kreditpunkte.
6.3 Probleme
Da die ersten MA-Studierenden ihre Germanistikstudien noch nicht absolviert
haben, können die ermittelten Probleme und Schwierigkeiten erst in Bezug auf
den Input formuliert werden. Wie oben angedeutet, ist durch die Vermittlung
der praktischen Kenntnisse für die BA-Stufe die Grundlage der theoretischen
Kenntnisse für die MA-Stufe nicht gesichert. Dies bereitet denen, die im Masterstudiengang
weiterstudieren möchten, ein grundlegendes Problem. Die Zeit
mit vier Semestern ist zu kurz, um dies nachzuholen (vgl. Bassola 2008: 19).
Dementsprechend sind auch bislang in Ungarn ausgesprochen wenige Master
4Minorfach = Nebenfach
60
Magdolna Orosz/Roberta V. Rada
studiengänge akkreditiert worden (vgl. Kegelmann 2008: 21).
Besonders problematisch wird es für die Lehramt-Studierenden sein, zumal
sie zwei Fächer studieren müssen. So kämpfen die künftigen Lehrer, die DaF
als Nebenfach studieren, mit erheblichen fachlichen Schwierigkeiten. Eine weitereProblemquellebedeutetdieGewichtungderdisziplinärenInhalteinnerhalb
der Fachbereiche im Fach 1 und Fach 2, wo ein Viertel der Kreditpunkte für
Didaktik/Methodik vorgesehen ist, wobei ein Drittel der Gesamtstudien (40
Kreditpunkte) auch schon im großen Modul für Pädagogik-Psychologie verbraucht
wird. Die Einführung der Referendarzeit im zusätzlichen 5. Semester
ist als eine günstige Entwicklung zu begrüßen, insgesamt trägt sie aber auch
zu einem Übergewicht an pädagogisch-didaktischen Modulen bei, wohingegen
– nicht zuletzt wegen der Struktur und der Konzeption der vorangehenden BA-
Studien – das für Lehrer unentbehrliche gut fundierte disziplinäre Fachwissen
letzten Endes zu kurz kommt.
Bassola fasst das Wesen wie folgt zusamen: Will man die Grundfunktion
der Universität beibehalten, nämlich den Studierenden über die Kentnisvermittlung
hinaus auch noch das logische Denken und das Schritthalten bei der
Entwicklung des eigenen Faches beizubringen, so müsste man zur Grundlegung
der theoretischen Kenntnisse zurückkehren (vgl. Bassola 2008: 19).
Fazit: Zukunftsaussichten
Trotz der oben skizzierten schwerwiegenden Probleme wird die gegenwärtige
Situation der ungarischen Germanistik als eine Übergangsphase betrachtet
und ihre Zukunftchancen werden im Allgemeinen eher optimistisch beurteilt:
„Im Hochschulbereich [ist und bleibt] (...) die Germanistik die alte Hochburg“(
Hessky 2008: 16). Zur Überbrückung der Übergangszeit werden unterschiedliche
Vorschläge formuliert.
Ein Teil der Vorschläge zielt darauf ab, wie Germanstikstudenten zu gewinnen
sind und ihnen durch neue Ausbildungsinhalte vernünftige Chancen auf
dem Arbeitsmarkt zu zeigen (vgl. Knipf-Komlósi 2009: 16).
•
Institutionelle Einstellung auf die Studierenden, die nicht mehr mit einem
hohen Motivationsgrad ihr Studium beginnen wie früher, und leider
auch nicht die soliden Grundkenntnisse aus der Mittelschule mitbringen.
Vieles, was jedoch dort versäumt worden ist, kann mit entsprechender
Strategie in den Germanistikstudien nachgeholt werden.
•
Innovationen und neue Profile innerhalb des Fachs durchsetzen. Neue
Akzente in der Ausbildung zu setzen heißt in erster Linie Studieninhalte
abzuändern. Diese Änderung betrifft die permanente Anpassung
der Studieninhalte an die Bedürfnisse und Erwartungen des Arbeitsmarktes,
ohne den utilitaristischen Erwartungen und Druckmitteln der
61
Magdolna Orosz/Roberta V. Rada
Marktwirtschaft nachzugeben aber gleichzeitg ohne die Anforderungen
der Wissenschaftlichkeit aus den Augen zu verlieren (vgl. Hessky
2008: 17). Schließlich soll man fundiertes Wissen und Können vermitteln,
das den Arbeitnehmer befähigt, im Besitz einer soliden Basis sich
selbst den aktuellen Bedürfnissen seines Arbeitgebers anzupassen. Im
Sinne dieses Konzeptes werden die Hinwendung zur Interdisziplinarität,
die Zusammenarbeit mit Fachbereichen, wie Wirtschafts-, Rechts-
oder Kommunikationswissenschaft sowie die stärkere Berücksichtigung
der Forschungsergebnisse der interkulturellen Germanistik (vgl. Földes
2009: 23-24) empfohlen. Linguistische Bereiche, die in der nächsten
Zeit wichtige Objekte der Forschung in der ungarischen Germanistik
sein sollten, sind nach Bassola Geschichte und Sprachgeschichte der
Deutschen in Ungarn (Editionen, Erforschung Analyse, Auswertung
der Sprachdenkmale), Volkskunde der Ungarndeutschen, Lexikographie,
Sprachkontaktforschung, kontrastive Untersuchungen (vgl. Bassola 2008:
20).
In zahlreichen Fällen werden gleichzeitig Forderungen formuliert, in denen
man versucht, dem Prestige-und Positionsverlust des Deutschen mit entsprechenden
sprachpolitischen Entscheidungen entgegen zu wirken. Sowohl auf der
EU-Ebene als auch auf der Landesebene (vgl. Knipf-Komlósi 2009: 29) sollte
man bewusst auf die Mehrsprachigkeit zusteuern. Im Sinne des Barcelona-
Prinzips wird empfohlen, in Ungarn Deutsch als erste und Englisch als zweite
FS, in der Funktion einer internationalen Verkehrssprache zu erlernen und zu
unterrichten (vgl. Földes 2009: 25, bereits Földes 2004: 13ff.). Die erste FS
wird ja in Ungarn in der Regel umfassender und tiefgründiger erlernt als die
weiteren. Darüber hinaus, jedoch eng im Zusammenhang mit diesem Aspekt
wird auch die Hoffnung geäußert, dass die deutschsprachigen Staaten im Jahr
2011 ihre Arbeitsmärkte für die EU-Beitrittsländer öffnen, wodurch Deutsch
(nicht nur) in Ungarn erneut als Wirtschaftsfaktor ins Blickfeld rücken und
an Prestige gewinnen könnte. In diesem Fall würde man gerade im Deutschen
bessereKenntnisseundauchkulturellfundierteKompetenzbeständebenötigen.
„Nur wenn sich nämlich im öffentlichen Bewusstsein verankert, dass es sich
lohnt, Germanistik zu studieren, weil sich dadurch die Chancen auf dem Arbeitsmarkt
tatsächlich verbessern, wird die Nachfrage nach einem solchen Studium
wieder spürbar zunehmen“, bemerkt Kegelmann (2008: 24) mit Recht.
Die ungarische Germanistik kann sich selbst auch durch Kräftevereinigung
helfen, und zwar durch:
•
bessere Zusammenarbeit zwischen den germanistischen Lehrstühlen und
Instituten, zum Beispiel regelmäßiger Austausch von Erfahrungen in Arbeitsgruppen
(welcher Unterrichtstoff ist wichtig, welche Fächer sind notwendig,
usw.), institutionsübergreifende Erabeitung von Unterrichtsmaterialien
(vgl. Kegelmann 2008: 23-24).
62
Magdolna Orosz/Roberta V. Rada
•
größtmögliche finanzielle Anpassung, wie Erwirtschaftung diverser Drittmittel,
Starten von internationalen Projekten, selbst wenn es auch außerordentlich
energie-und kraftaufwändig ist, sowie die Teilnahme an
laufenden internationalen Forschunsgprojekten.
•
fachinterne Interessensvertretung aber auch Kooperation mit den Vertretern
anderer Wissenschaftsbereiche (zum Beispiel mit Naturwissenschaftlern)
statt Aufsplitterung der Wissenschaftsgebiete.
•
die Integration in den Europäischen Forschungsraum (vgl. Kertész 2008:
39 ff.).
Wie auch aus diesem Katalog der möglichen „Auswege“ ersichtlich ist, gibt
es keinen „Königsweg, keine allumfassende, unmittelbare und sofortigen Erfolg
bringende Lösung. Was getan werden muss, sind kleine, aber konsequent
durchgeführte Schritte auf mehreren uns zugänglichen Gebieten“(Kertész 2008:
43).
Literatur
Bassola, Péter (2008): Wohin steuert die ungarische Germanistik? In:
Tichy, Ellen/Masát, András (Hg.): Jahrbuch der ungarischen Germanistik
2007. Budapest/Bonn 2008, 18-20.
Bernáth, Árpád/Csúri, Károly (2004): Die deutsche Sprache im ungarischen
Hochschulwesen. Bemerkungen zu ihren Zukunftsperspektiven. In:
Goltschnigg, Dietmar/Schwob, Anton (Hrsg): Zukunftsperspektiven der deutschen
Sprache in Mittel-, Südost-und Osteuropa. Grazer Humboldt-Kolleg
20.-24. November 2002. Wien 2004, 137-140.
Földes, Csaba (2004): Überlegungen aus der Sicht einer „Anrainer-
Germanistik“. In: Goltschnigg, Dietmar/Schwob, Anton (Hrsg): Zukunftsperspektiven
der deutschen Sprache in Mittel-, Südost-und Osteuropa. Grazer
Humboldt-Kolleg 20.-24. November 2002. Wien 2004, 100-105.
Földes, Csaba (2009): Germanistikunterricht in Ungarn und Deutsch als
europäische Lingua franca. In: Böttger, Lydia/Masát, András (Hg.): Jahrbuch
der ungarischen Germanistik 2008. Budapest/Bonn 2009, 22-25.
Goltschnigg, Dietmar/Schwob, Anton (Hrsg): Zukunftsperspektiven der
deutschen Sprache in Mittel-, Südost-und Osteuropa. Grazer Humboldt-
Kolleg 20.-24. November 2002. Wien 2004, 188-193.
63
Magdolna Orosz/Roberta V. Rada
Hessky, Regina (2008): Wo liegt der Hund begraben? Ein Beitrag von der
Grenzlinie. In: Tichy, Ellen/Masát, András (Hg.): Jahrbuch der ungarischen
Germanistik 2007. Budapest/Bonn 2008, 13-17.
JuG 2007 = Tichy, Ellen/Masát, András (Hg.): Jahrbuch der ungarischen
Germanistik 2007. Budapest/Bonn 2008.
JuG 2008 = Böttger, Lydia/Masát, András (Hg.): Jahrbuch der ungarischen
Germanistik 2008. Budapest/Bonn 2009.
Kegelmann, René (2008): Nicht ganz subjektive Bemerkungen zum
Zustand der Germanistik in Ungarn nebst einigen Vorschlägen. In: Tichy,
Ellen/Masát, András (Hg.): Jahrbuch der ungarischen Germanistik 2007.
Budapest/Bonn 2008, 21-24.
Kertész, András (2008): Sind germanistische Forschungen noch zu retten?
Bemerkungen zur Situation der Geisteswissenschaften im Ungarn der Jahrtausendwende.
In: Tichy, Ellen/Masát, András (Hg.): Jahrbuch der ungarischen
Germanistik 2007. Budapest/Bonn 2008, 30-44.
Knipf-Komlósi, Elisabeth (2009): Germanistikunterricht in Ungarn und
Deutsch als europäische Lingua franca. Böttger, Lydia/Masát, András (Hg.):
Jahrbuch der ungarischen Germanistik 2008. Budapest/Bonn 2009, 28-30.
Pusztai, Gábor (2009): Tiefflug ohne Absturz. Zukunftsperspektiven der
Germanistik in Ungarn. In: Böttger, Lydia/Masát, András (Hg.): Jahrbuch
der ungarischen Germanistik 2008. Budapest/Bonn 2009, 31-34.
Szendi, Zoltán (2008): Wohin steuert die ungarische Germanistik? In:
Tichy, Ellen/Masát, András (Hg.): Jahrbuch der ungarischen Germanistik
2007. Budapest/Bonn 2008, 25-29
64
Deutschsprachiger Fachunterricht in Ungarn –
Lehrerausbildung für den bilingualen
Geschichtsunterricht an der
Eötvös-Loránd-Universität Budapest
Dr. Katalin Árkossy
Eötvös-Loránd-Universität
Germanistisches Institut
Rákóczi út 5.
1088 Budapest
Einleitung
Das Unterrichten von Sachfächern in einer Fremdsprache ist ein dynamisches
Reformprojekt innerhalb der schulischen Praxis in vielen Teilen Europas. Ungarn
bildet hiermit keine Ausnahme.
Die Aktualität des Bilingualen Unterrichts entstand durch den wachsenden
Bedarf an Sprachkenntnissen, hervorgerufen durch die Veränderungen innerhalb
Europas, wie zum Beispiel:
•
Die Erweiterung der Europäischen Union,
•
Das Entstehen neuer politischer, wirtschaftlicher und kultureller Kontakte
•
Wissenschaftliche Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, wie Informatik,
Technik, etc.
•
Internationalisierung des Arbeitsmarktes
•
Tourismus
65
Katalin Árkossy
2 Deutschsprachiger Fachunterricht am Germa
nistischen Institut der Eötvös -Loránd -Uni
versität
Eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Erweiterung des deutschsprachigenFachunterrichtssindgutausgebildeteFachlehrer,
denn fürdas Unterrichten
eines Schulfaches in der Fremdsprache sind eine Reihe von besonderen Qualifikationen
erforderlich. Diese kann man sich nicht einfach nebenbei aneignen,
sie sind vielmehr gezielt in einem langen Ausbildungsprozess zu entwickeln und
aufzubauen. Aus dieser Überlegung heraus wurde in Budapest am Germanistischen
Institut der Eötvös-Loránd-Universität ein viersemestriger Zusatzstudiengang
erarbeitet, mit dem Ziel, Studierenden die Chance zu geben, grundlegende
Kenntnisse in diesem Bereich und ein zusätzliches Diplom zu erwerben.
Der Zusatzstudiengang wurde zunächst für Studierende mit der Fächerkombination
Deutsch und Geschichte ins Leben gerufen. Später sollen jedoch auch
weitere Sachfächer in die Planungen einbezogen werden. Die Entscheidung, mit
dem Sachfach Geschichte zu beginnen, hatte mehrere Gründe:
•
Geschichte ist das am häufigsten bilingual unterrichtete Schulfach in Ungarn.
•
Mit dieser Fächerkombination gibt es an unserer Universität eine ausreichend
hohe Anzahl von Studierenden.
•
Geschichte ist ein Fach, in dem Reformen dringend benötigt werden.
3 Curriculum des Zusatzstudiums
Um für den Zusatzstudiengang ein sinnvolles Curriculum zu konzipieren, haben
wir uns zuerst die Frage gestellt, welche Qualifikationen für die unterrichtenden
Lehrpersonen unerlässlich sind. An dieser Stelle sollen nur die besonders
wichtigen genannt werden, wie zum Beispiel sachfachrelevante Kompetenzen
in der Fremdsprache, die Beherrschung eines breiten Repertoires an Methoden
für Sachfach und Fremdsprache, die Fähigkeit, fremdsprachliche Unterrichtsmaterialien
für das Fach zu beschaffen und zu adaptieren. Darüber hinaus sind
aber auch lernpsychologische Kenntnisse über Bilingualismus beziehungsweise
den bilingualen Unterricht nötig.
Auf der Grundlage dieser Überlegungen entstand das Curriculum des Zusatzstudiums.
Es umfasst zwölf zusätzliche Lehrveranstaltungen in drei Bildungsbereichen
(Linguistik, Methodik-Didaktik und Sprachpraxis) mit insgesamt
sechs SWS auf vier Semester verteilt.
66
Katalin Árkossy
Lehrveranstaltungen WST 1
Kreditpunkte
Allgemeindidaktische und Fachdidaktische
Grundlagen
2 3
Unterrichtsbeobachtung, Unterrichtsplanung
2 3
Unterrichtsversuche: Planung, Durchführung,
Reflektieren
2 3
Vorbereitung auf das Schulpraktikum,
Unterrichtsbegleitendes Seminar
2 3
Schulpraktikum 7
Tabelle
1:
Methodik-Didaktik
Lehrveranstaltungen WST Kreditpunkte
Linguistische Grundlagen der Fachsprache
2 3
Fachtexte im Geschichtsunterricht 2 3
Wortbildungsregeln im DFU 2 3
Tabelle
2:
Linguistik
Lehrveranstaltungen WST Kreditpunkte
Fachsprachentraining 2 3
Fachsprachliche Terminologie Übersetzungsübungen
2 3
Übungen zur Wortbildung in der Fachsprache
2 3
Übungen zur mündlichen und schriftlichen
fachsprachlichen Kommunikation
2 3
Tabelle
3:
Sprachpraxis
4 Beschreibung der Studieninhalte
4.1
Didaktik und Methodik des Deutschsprachigen Fachunterrichts
Ziel dieser Veranstaltung ist die theoretische Erarbeitung von didaktischen
und methodischen Prinzipien des bilingualen Unterrichts beziehungsweise ihre
praktische Realisierung. In den Seminarsitzungen werden neben den theoretischen
Grundlagen hauptsächlich unterrichtspraktische Themen analysiert und
erprobt. Einen wichtigen Teil dieses Bildungsbereiches bilden die Unterrichtsbeobachtung
und die Unterrichtsplanung.
67
Katalin Árkossy
Das Hauptanliegen bei dieser Studieneinheit war die Frage: Wie sollen die
Studenten in der Theorie möglichst praxisnah für den bilingualen Unterricht
ausgebildet werden? Schnell wurde deutlich, dass die Studenten als Erstes
möglichst nah an die Praxis herangeführt werden müssen, indem sie an unterschiedlichen
Schulen in verschiedenen Jahrgangsstufen bei möglichst vielen
Lehrkräften hospitieren. Doch darf dies nicht zu einem Selbstzweck werden, die
Studierenden benötigen zuvor das theoretische Gerüst, um sinnvoll hospitieren
zu können. Aus diesem Grund bildet die Unterrichtsplanung im Seminar einen
Schwerpunkt. Wichtig ist dabei, dass die Studierenden ihre didaktischen und
methodischen Überlegungen erörtern. Dabei soll kein Unterrichtsentwurf im
klassischen Sinne entstehen, da die Studierenden nicht in der Theorie für eine
fiktive Schülergruppe etwas planen, sondern lernen sollen, worauf sie sich in
der Unterrichtsvorbereitung in der Praxis konzentrieren müssen.
Dies hört sich für erfahrene Lehrkräfte nach einer Selbstverständlichkeit an,
bedeutet aber für Studierende generell eine Schwierigkeit. Aus diesem Grunde
wirdzuBeginndieserStudieneinheitdieklassischeUnterrichtsplanungthematisiert.
Über die didaktischen Überlegungen, die Sachanalyse, die Lernvoraussetzungen,
die methodische Analyse, die Lernziele und die Materialien gelangen
die Studierenden zu einem Planungsraster, welches universell einsetzbar ist.
Bei diesem Planungsraster fällt schnell auf, dass zuvor sehr gut überlegt sein
muss, wie und an welcher Stelle die Spracharbeit berücksichtigt werden soll,
da der Unterricht im Sachfach bei uns weitgehend in der jeweiligen Fremdsprache
erteilt wird, diese ist jedoch nicht Lerngegenstand, sondern – in diesem
Falle -Vermittlungsinstrument. Also gilt es, die Planung so anzulegen, dass
der Unterrichtsgegenstand im Vordergrund steht und die Sprachenkompetenz
der Lernenden gleichzeitig erhöht wird. Im Seminar wird dies dadurch versucht,
dass die Studierenden zu einem selbst gewählten Schwerpunkt Material
erstellen. Die Verzahnung mit den sprachpraktischen Seminaren ist an dieser
Stelle besonders wichtig, so dass diese zwei Lehrveranstaltungen ganz früh
aufeinander abgestimmt wurden.
Doch damit werden die Studierenden zwar praxisnah ausgebildet, sind aber
immernochnichtinderPraxis. EswirdihnenindiesemTeilderAusbildungjedoch
immer deutlicher, welch bedeutenden Stellenwert die Unterrichtsplanung
einnimmt. Dies gilt besonders dahingehend, dass sie merken, welche Sicherheit
eine solide Planung für sie bedeutet – vor allem in sprachlicher Hinsicht. Diesen
Aspekt darf man nie aus den Augen verlieren: Auch für die Studierenden ist
die Zielsprache der Lernenden eine Fremdsprache.
Nach der theoretischen Planung gilt es als Nächstes zu erfahren, was und
wie es die anderen Kolleginnen und Kollegen machen. Dieser Weg weist ganz
deutlich in die Schulen, in denen bereits bilingual Geschichte unterrichtet wird.
Da Geschichte das meistunterrichtete bilinguale Unterrichtsfach in Ungarn ist,
ist es gelungen, ein Netzwerk von Schulen aufzubauen, an denen die Studieren
68
Katalin Árkossy
den gern gesehene Gäste sind und zwei-bis dreimal je Semester die Gelegenheit
erhalten, bei Kolleginnen und Kollegen zu hospitieren. Wichtig ist dabei, dass
die Studierenden auf diese Weise verschiedene Schulen mit unterschiedlichen
Profilen kennen lernen. Dies reicht von bilingualen, über Minderheitenschulen
bis hin zu einer deutschen Begegnungsschule. Gemeinsam ist allerdings allen:
Geschichte wird auf Deutsch unterrichtet. Durch die intensive Auseinandersetzung
mit der Planung wissen die Studierenden jetzt, warum der Unterricht so
abläuft, wie sie ihn erleben. Sie können die Spracharbeit und die inhaltliche
Arbeit erkennen -und beurteilen.
Erst durch diese kritische Auseinandersetzung erfahren sie den Unterschied
zwischen Theorie und Praxis.
Die Unterrichtsplanung und die Hospitationen in Schulen mit deutschsprachigemFachunterrichtbedeuteneineersteVorbereitungaufeinFachpraktikum.
Unterrichtsversuche innerhalb der Universitätsseminare stellen die zweite
Phase dar.
Zur Durchführung des Fachpraktikums gehören dann die ersten Erfahrungen
mit selbst erteiltem bilingualem Unterricht in Schulen mit deutschsprachigem
Fachunterricht und ein dreiwöchiges Schulpraktikum im Ausland, auf dem
deutschen Sprachgebiet.
Zu dem Schulpraktikum die Meinung eines Studenten des Zusatzstudiums:
„Die Praktika gehörten ohne Zweifel zu den wichtigsten Bestandsteilen unseres
Studienganges. Sie haben die verschiedenen thematischen Schwerpunkte unserer
DFU-Seminare verbunden. Hätte es sie nicht gegeben, hätte auch unsere
ganze theoretische Ausbildung ihr Ziel nicht erreichen können. Sie haben uns
immer eine gute Rückmeldung darüber gegeben, wie wir uns entwickelt haben.
Wir hatten in diesem Praktikum echte pädagogische Aufgaben in einer authentischen
Umgebung zu lösen. Ganz oft ging es um ganz triviale Kleinigkeiten, die
man aber nur im Klassenzimmer lernen kann. Unser Studiengang ist deshalb
eine grüne Oase in dem heutigen ungarischen theorieorientierten Hochschulwesen,
da er imstande ist, Theorie und Praxis miteinander ins Gleichgewicht zu
bringen.“
4.2 Linguistik und Sprachpraxis
Die Lehrveranstaltungen dieser Bereiche vermitteln die linguistischen Grundlagen
der Fachsprache und fokussieren vor allem auf Wortbildungsregeln, auf die
Struktur der Fachsprachen und auf textlinguistische Grundlagen zum Verstehen
von Fachtexten. Wichtige Themenbereiche der Lehrveranstaltungen sind
nicht zuletzt:
•
Syntaktische und morphologische Eigenheiten des Fachwortschatzes
•
Fachtexte im Geschichtsunterricht -Methoden zur Analyse
69
Katalin Árkossy
•
Die Möglichkeiten der Erweiterung des Wortschatzes
•
Mittel und Modelle der Wortbildung
•
Arbeit mit dem Fachtext: „Modelle zur Texterschließung“.
Die theoretischen Grundlagen werden in den sprachpraktischen Übungen
erprobt, eingeübt und automatisiert. Fokussiert wird dabei auf sachfachspezifische
Sprech-und Schreibprozesse im Bereich der Geschichte, beziehungsweise
auf das Einüben von fachlichen Sprachstrukturen. Eine ganz wichtige
Rolle spielt dabei die Textarbeit, der Umgang mit verschiedenen Lehrbuchtexten,
fachwissenschaftlichen Texten, populärwissenschaftlichen Texten sowie
mit Lexikontexten und zwar sowohl hinsichtlich der Textrezeption als auch der
Textproduktion.
5
Teilnahme am internationalen Projekt „Für
Geschichtsbewusstsein“
Die Entscheidung, den deutschsprachigen Fachunterricht mit dem Sachfach Geschichte
zu beginnen, bedeutete für uns gleichzeitig auch ein Stück Verantwortung
für die Erneuerung des Geschichtsunterrichts zu übernehmen.
So wurden parallel zur Gründung des Studienganges DFU Maßnahmen zur
Förderung des reflektierten Geschichtsbewusstseins getroffen. Wir nahmen am
internationalen Projekt „Für Geschichtsbewusstsein “ teil. In den deutschen
und bilingualen Schulen, wo unsere Studierenden hospitieren beziehungsweise
ihr Praktikum machen, wurden Lehrerarbeitskreise mit der Zielsetzung gebildet,
bei den Schülern das reflektierte Geschichtsbewusstsein zu fördern. So
hat das Projekt den Lehrerinnen und Lehrern, die Reformen anstreben, den
Rücken gestärkt.
Das Projekt verfolgt die Zielsetzung, zur Entwicklung des Geschichtsunterrichts
weg vom Paukfach hin zum Denkfach beizutragen. „Geschichte denken
statt pauken“ ist das Motto der Initiative. Innerhalb des Projekts wurden
Schule und Universität miteinander verknüpft. Theoretisch Ausgearbeitetes
wurde anschließend in den Schulen erprobt. In der ersten Phase wurde die
Theorieentwicklung vorangetrieben, um die Zielsetzung eines entsprechenden
Unterrichts zu präzisieren. Ein Gewicht wurde darauf gelegt, die Kompetenzen,
die die Schüler mit Hilfe des Geschichtsunterrichts entwickeln sollen, präzise
zu bestimmen. Vor allem wurde daran gearbeitet, die Lernprogression
bei der Entwicklung historischer Kompetenzen mitzubedenken. Im zweiten,
stärker unterrichtsbezogenen Schritt, ging es darum, in Zusammenarbeit mit
Geschichtslehrkräften Anregungen und Materialien zu entwickeln, um einen
70
Katalin Árkossy
derartigen Geschichtsunterricht in den einzelnen Ländern mit ihren jeweils eigenen
Schultraditionen durchzuführen. Im dritten Schritt sollte dann die Implementierung
in den Mittelpunkt gestellt und noch weiter forciert werden.
Im Rahmen des Projekts „Für Geschichtsbewusstsein“ fanden mehrere Teilprojekte
statt, an denen sowohl Schülerinnen und Schüler als auch Studierende
des viersemestrigen bilingualen Zusatzstudiengangs beteiligt waren. Hier sollen
drei der wichtigsten Projekte vorgestellt werden:
Erstens das Anfangsprojekt „Die Vertreibung der Ungarndeutschen in Folge
des zweiten Weltkrieges“ und zweitens das Schulbuchprojekt „Geschichtsbilder
zur Wende 1989/1990. Schüler vergleichen Schulbücher und planen Unterricht“.
Drittens ein Museumsprojekt „Vergleich musealer Erinnerungskulturen
in Deutschland und Ungarn“. In allen genannten Projekten wurde die europäische
Dimension, sowie die europäische Perspektivenerweiterung von Anfang an
verstärkt beachtet.
5.1
Teilprojekt: „Die
Vertreibung
der
Ungarndeutschen
in
Folge
des
zweiten
Weltkrieges“
Das erste Projekt war ein internationales Zeitzeugenprojekt, das in bilingualen
und deutschsprachigen Schulen in Ungarn durchgeführt wurde. Ziel des Projekts
war, bei den Schülerinnen und Schülern die Fähigkeit und Bereitschaft zu
einem reflektierten Umgang mit Geschichte zu fördern, durch Multiperspektivität
Toleranz den anderen gegenüber aufzubauen und die Auseinandersetzung
mit Minderheitenschicksalen zur Entwicklung der eigenen Identität zu nutzen.
Als Hauptquelle wurden in diesem Projekt Zeitzeugengespräche in den Mittelpunkt
gestellt. Zur Einordnung beziehungsweise Objektivierung der QuellengattungZeitzeugewurden
Bildquellen, Archivmaterialausdem Sektor Gesetze,
überregionale und regionale Verwaltung und Presse eingesetzt, aber auch unterschiedliche
Geschichtsdarstellungen, neben Literatur zum Beispiel auch ein
Dokumentarfilm. Eine ganz besondere Möglichkeit lag darin, dass bei den Befragungen
die Schülerinnen und Schüler aktiv werden und auch selbstständig
Interviews durchführen konnten, da meistens in ihrer eigenen Familie oder im
Dorf noch Betroffene leben, die berichten können. Auf diese Weise erfuhren die
Lernenden, die bislang gewohnt waren, fertige Rekonstruktionen zu pauken,
welche Herausforderung das Ziel der aktiven Re-Konstruktion bedeuten kann.
Das Motto „Geschichte denken“ gelangte dadurch in ihren Erfahrungshorizont.
Während des Projekts haben die Teilnehmenden Strategien entwickelt, die sie
auchbeianderenProjekten anwendenkönnenunddadurcheineKompetenzzur
Rekonstruktion und Dekonstruktion erworben, die ihnen nun den gewünschten
reflektierten Umgang mit Geschichte ermöglicht.
71
Katalin Árkossy
5.2
Teilprojekt: „Geschichtsbilder
zur
Wende
1989/1990.
Schüler
vergleichen
Schulbücher
und
planen
Unterricht“
Das im Jahre 2007 durchgeführte Projekt ist ein Schulbuchprojekt mit dem Titel:
„Geschichtsbilder zur Wende 1989/1990. Schüler vergleichen Schulbücher
und planen Unterricht“. Da die Wende in den Schulbüchern aller europäischen
Länder sehr unterschiedlich dargestellt wird und den Schülern und Schülerinnen
und den Studierenden dies im Regelfall nicht bewusst wird, weil sie nur
mit dem eigenen Schulbuch arbeiten, sah man den Bedarf eines Projekts, in
dessen Rahmen Geschichtsbücher verglichen werden. Denn erst der Vergleich
kann ihnen den Blick auf Gemeinsames und Unterschiedliches eröffnen. Die
Schülerinnen und Schüler und die Studierenden sollten sich selbst Gedanken
darüber machen, wie ein gutes Geschichtsbuch für sie aussieht. Nachdem sie
zuvor zu Hause Lehrbücher untersucht hatten, waren sie zu einem Internationalen
Workshop zur Schulbuchanalyse eingeladen. Auf diese Weise konnten sie
Zusatzinformationen von Experten erhalten. Die Ergebnisse des Workshops
sollen in arbeitsfähige Materialien für den Geschichtsunterricht münden, und
es sollen Materialien für den Unterricht entstehen. Dieses Projekt war für unsere
DFU-Studierenden besonders wichtig, weil sie später in der Praxis sehr
oft in die Situation geraten werden, selber nach geeigneten Materialien zu suchen
beziehungsweise Entscheidungen zu treffen, welche Lehrbücher sie in ihrer
Klasse einsetzen wollen.
5.3
Teilprojekt: „Die
Massenbewegung
und
-gewalt
im
Nationalsozialismus,
Vergleich
musealer
Erinnerungskulturen
in
Deutschland
und
Ungarn“
Das dritte Projekt ist ein gemeinsames deutsch-ungarisches Museumsprojekt
mit dem Thema „Die Massenbewegung und -gewalt im Nationalsozialismus,
Vergleich musealer Erinnerungskulturen in Deutschland und Ungarn“. Es ist
ein gemeinsames Projekt von Studenten der Katholischen Universität Eichstätt
und der Eötvös-Loránd-Universität Budapest.
Das zentrale Ziel des Projekts war, die museale Rezeption und Präsentation
der Themenfelder ‚Massenbewegung und Massenmord’ im Dokumentationszentrum
Reichsparteitagsgelände Nürnberg, im Ort der Information unter
dem Stelenfeld des Denkmals für die ermordeten Juden Europas in Berlin und
im Holocaust Memorial Center in Budapest zu untersuchen und zu vergleichen.
Für die Arbeit wurden gemischtnationale Gruppen gebildet, die die einzelnen
Schwerpunkte für den Museumsvergleich erarbeiteten, und bei der Ausarbeitung
auf kulturell bedingte Unterschiede und übernationale/globale Gemeinsamkeiten
fokussierten. Die auf der Homepage präsentierten Untersu
72
Katalin Árkossy
chungsergebnisse sind in einem gemeinsamen Diskussions-und Erarbeitungsprozess
entstanden. Eine Herausforderung war das Ziel der aktiven Dekonstruktion,
das kritische Hinterfragen der Ausstellungen und das konsequente
Ausdiskutieren der Meinungsverschiedenheiten in den Gruppen. Das ständige
Reflektieren, das Akzeptieren der unterschiedlichen Denkweisen, Arbeitsmethoden
und der anderen Meinungen haben den Studenten geholfen zueinander
zu finden, die Schwierigkeiten zu überwinden und haben letztendlich zum Gelingen
des Projektvorhabens geführt. Ein großer Verdienst der gemeinsamen
Arbeit sind die Solidarität, Hilfsbereitschaft und Toleranz, die unter den Projektteilnehmern
während des Projekts immer mehr gewachsen sind und damit
einen Beweis dafür liefern, wie Vorurteile und Barrieren durch eine gemeinsame
Arbeit abgebaut werden können. Die objektivierbaren Wahrnehmungen
der beiden Gruppen; ihre unterschiedlichen Bewertungen sagen sehr viel
über die interkulturellen Unterschiede aus. Die Auseinandersetzung mit diesen
Unterschieden hilft, das Fremde besser zu verstehen, aber es kann auch
dazu beitragen, dass man das Eigene bewusster erlebt beziehungsweise kritisch
hinterfragen lernt. Die Untersuchungsergebnisse, die in einem gemeinsamen
Diskussions-und Erarbeitungsprozess entstanden sind, wurden auf der Hompage:
http://www.museumsvergleich-holocaust.eu/
veröffentlicht.
Literatur
Árkossy, Katalin (2007): Zeitzeugenprojekte mit europäischer Dimension
im Geschichtsunterricht: „Mit den Sichtweisen der anderen umgehen lernen“ In:
Bernd Schönemann/Hartmut Voigt(Hrsg.): Europa in historisch-didaktischen
Perspektiven. Idstein, 2007, 286-294.
Bach, Gerhard/Niemeier, Susanne (2000) (Hgg.): Bilingualer Unterricht.
Grundlagen, Methoden, Praxis, Perspektiven. Frankfurt am Main, 2000.
Leisen, Josef (2005): „Standardsituationen im bilingualen beziehungsweise
deutschsprachigen Fachunterricht (DFU). “ In: Der deutsche Lehrer im
Ausland, 1(2005), 48-52.
Schreiber, Waltraud (2004) (Hgg.): Erste Begegnungen mit Geschichte
– Grundlagen historischen Lernens. Bd.1 u. 2, zweite erweiterte Auflage.
Neuried, 2004.
73
Die Situation des Deutschunterrichts in Ungarn
Dr. Márta Müller (PhD)
Eötvös-Loránd-Universität
Ungarndeutsches Forschungs-und Lehrerausbildungszentrum
Rákóczi út 5.
1088 Budapest
1 Einführung
Über den Fremdsprachenunterricht hinaus, der im schulischen Rahmen – d. h.
in den verschiedenen Schultypen wie dem Gymnasium, der Fachmittelschule1
,
der Berufsschule beziehungsweise auf unterschiedlichen Schulstufen wie dem
Primarbereich oder der Sekundarbereich I und II in den Wochenstundenplan
eingebaut–angebotenwird,kanndiedeutscheSprachealsFremdsprache(DaF)
aufzweierleiWegenerworbenwerden: erstensinSprachschulen,indenenfürdie
Inanspruchnahme des Fremdsprachenunterrichts Kursgebühren bezahlt werden
müssen und zweitens in Form von Einzelunterricht, der nach individueller Terminvereinbarung
meistens in der häuslichen Umgebung der Lehrkraft oder des
Lerners stattfindet und für welchen ebenfalls Stundengebühren zu entrichten
sind.
Dieser Beitrag geht, da für die Beschreibung der zweiten Form des Fremdsprachenunterrichts
– Privatstunden bei einem Fremdsprachenlehrer – keine
zuverlässigenQuellenzurVerfügungstehen, nuraufdieUmständedesDeutschunterrichts
an öffentlichen Bildungseinrichtungen beziehungsweise an privaten
Sprachschulen zwischen 1945 und 1989 sowie nach der Wende ein.
1Fachmittelschulen sind eine Hybridform von Gymnasien und Berufsschulen: sie bereiten
ihre Schüler in vier Jahren auf das Abitur vor und geben ihnen darüber hinaus Grundkenntnisse
eines Berufes, dessen Erlernen an das Abitur gekoppelt ist. Die Dauer der Schulzeit
in Fachmittelschulen dauert vier + eins bis vier + zwei Jahre, je nach Komplexität des zu
erlernenden Berufes.
74
Márta Müller
2
Im Schatten der Politik: Deutschunterricht in
Ungarn 1945-1989
2.1
Deutschunterricht an den öffentlichen ungarischen
Bildungseinrichtungen 1945-1989
Wie verwunderlich es auch klingen mag, Russisch als Fremdsprache wurde in
Ungarn – nach einer Verordnung des Bildungsministers Géza Teleki vom 26.
Februar 1945 – an allen Mittelschulen und Berufsschulen als Schulfach schon
Monate vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges eingeführt, sofern die personellen
und gegenständlichen Bedingungen (das heißt die Anzahl der Lehrer mit
entsprechender sprachlicher Qualifikation sowie das Vorhandensein von Lehrwerken)
der Schulen dies ermöglichten (vgl. Szilágyiné Hodossy 2006: 29).
Durch die Einführung der russischen Sprache als Pflichtschulfach versuchte die
ungarische Regierung die sehr starke Präsenz des Deutschen in den Sekundarstufen
I und II zu schwächen. Da aber in der Sekundarstufe I sowie in den
Gymnasien vorwiegend Fremdsprachenlehrer des Deutschen und nur in geringer
Anzahl Fremdsprachenlehrer anderer Sprachen angestellt waren, konnte
diese Verordnung kurzfristig die Struktur des Fremdsprachenunterrichts, der
an öffentlichen ungarischen Bildungseinrichtungen angeboten wurde, nicht beeinflussen
(vgl. ebd. 32f).
1946 erschien der erste Lehrplan, der die Bildungsinhalte und Erziehungsziele
sowie grundsätzliche Empfehlungen für den Unterricht der achtjährigen
Grundschulen beinhaltete. In diesem Lehrplan wiesen die Verfasser darauf hin,
dass die deutsche Sprache in Europa sowohl kulturell als auch wirtschaftlich ein
hohes Potenzial besitzt, und dass sich zu ihrem Erlernen ab der 5. Grundschulklasse
die vermittelnde Methode sich am besten eigne (vgl. Részletes 1946: 1f).
Über die Reform der öffentlichen Bildung hinaus wurden neue – den veränderten
Bedingungen des Unterrichts angepasste – Lehrbücher2
herausgegeben. In
der kurzen Periode der parlamentarischen Demokratie in Ungarn (1. Februar
1946 – 23. August 1949), die auch als „Zweite Ungarische Republik“ bezeichnet
wird, lernten – wohl auch infolge der elterlichen Sprachpräferenzen einerseits
und des Mangels an qualifizierten Lehrkräften andererseits – immer noch 53%
der Schüler Deutsch, 30% Englisch, 29% Französisch und nur 3% Russisch als
Fremdsprache in den Mittelschulen (vgl. Szávai 1949: 489).
Im Jahre 1949 begann – parallel zur Gleichschaltung des ganzen Landes
– allmählich die Durchpolitisierung des allgemeinen Schulwesens und infolge
dieser auch die des Fremdsprachenunterrichts. Nachdem 1948 alle Schulen
2So zum Beispiel für den Unterricht der deutschen Sprache an den achtjährigen Grundschulen
von demAutorenduoGyulaSemjénundGyörgyMihályVajdafürdie5. –8. Klassen;
sowie von Gyula Benigny für die Klassen fünf bis sieben. Den Autoren dieser Sprachbücher
war es gleich, dass sie auf politisch-ideologische Themen verzichteten. Im Mittelpunkt ihrer
Lehrstoffprogression standen allgemeine Sprechsituationen und kulturspezifische Themen.
75
Márta Müller
verstaatlicht wurden (vgl. Kardos/Kornidesz 1990: 259), verordnete das Bildungsministerium
ab dem Schuljahr 1949/1950 für die 5. – 6. Klassen der
Grundschulen sowie für die 1. – 2. Klassen der Mittelschulen die verbindliche
EinführungdesRussischenalsSchulfach. ZugleichwurdederUnterrichtinallen
anderen Fremdsprachen an allen Schultypen und in allen Schulstufen in Ungarn
verboten. Dieses Verbot wurde erst 1955 zunächst für die Gymnasien gelockert
und 1958, zwei Jahre nach der Revolution schließlich auch für die Grundschulen
aufgehoben3: Der Unterricht in einer zweiten Fremdsprache (Deutsch, Englisch
oder Französisch) wurde in den 5. – 8 Klassen im Umfang von zwei Wochenstunden
erlaubt. Die allgemeinen Inhalte des Deutschunterrichts, der gemäß
der Empfehlung des im Jahre 1961 erlassenen Lehrplans mit der direkten Methode
gestaltet werden sollte, wurdenum DDR-spezifische landeskundlicheund
politische Themen (wie zum Beispiel landwirtschaftliche ProduktionsgenossenschafteninderDDR;
dieLandkartederDDR)ergänzt(vgl. Tanterv1961). Die
1962 in Hamburg veranstaltete UNESCO-Konferenz mit dem Thema „Foreign
Languages in Primary Education“ führte aufgrund ihrer Intention dazu, dass
mit dem Erlernen der ersten Fremdsprache in eigens für Versuchszwecke ausgewählten
Kindergärten, beziehungsweise in Schulen ab der 3. Grundschulklasse
begonnen wurde. Diese Versuche beabsichtigten die Vermittlung von grundlegenden
Kenntnissen in einer fremden – so unter anderem auch deutschen –
Sprache und dadurch die Erleichterung des Wechsels in die weiterführenden
Schulen. 1967 wurden die bildungspolitischen Voraussetzungen geschaffen, um
an den ungarischen Schulen spezielle Klassenzüge zu starten, in denen moderne
Fremdsprachen – Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Russisch
und Spanisch – in den 3. – 4. Klassen mit drei Wochenstunden, danach mit
fünf Wochenstunden unterrichtet wurden. In diesen speziellen Klassenzügen
wurde die russische Sprache als zweite Fremdsprache ab der 5. Klasse eingeführt
(vgl. Tanterv 1967). In den Schulen, die die personellen und materiellen
BedingungensolcherspeziellenKlassenzügenichterfüllenkonnten,botder1984
erlassene Lehrplan, der übrigens den 1961er Lehrplan ablöste, eine Möglichkeit,
Fremdsprachenunterricht in Form von frei wählbaren (sog. fakultativen) Schul-
fächern ab der 7. Grundschulklasse zu organisieren. In den Zielsetzungen des
Lehrplans über den fakultativen deutschsprachigen Unterricht wurde betont,
dass im Mittelpunkt der deutschsprachigen Beschäftigungen die Vorbereitung
auf die mündliche Kommunikation in alltäglichen Situationen, die Vermittlung
von Kenntnissen über die DDR sowie das Erwecken und das längerfristige Aufrechterhalten
des Interesses am Sprachenlernen für die weiterführenden Schulen
stehen sollen (vgl. Az általános 1984). Die 1967er Lehrpläne wurden in der
ersten Hälfte der 1980er Jahre überarbeitet, einerseits damit das ungarische
3Während der 1956er Revolution wurde an vielen Schulen der Unterricht der russischen
Sprache unverzüglich eingestellt und stattdessen wieder Deutsch unterrichtet (vgl. Szilágyiné
Hodossy 2006).
76
Márta Müller
Schulwesen mit den pädagogischen Entwicklungstendenzen in Europa Schritt
halten konnte, andererseits, weil sich die Wochenstundenzahlen in allen Schul-
fächern wegen des Übergangs von sechstägigen zu fünftägigen Arbeits-und
Unterrichtswochen ab dem 1. Januar beziehungsweise in den Schulen ab dem
1. September 1982 verringerten (vgl. Sáska 2001: 49).
Es ist unmöglich, den Anfang der Wende in der ungarischen Politik genau
zu fixieren, denn verschiedene Umstände wie die Unzulänglichkeiten der
ungarischen Planwirtschaft und damit verbunden die Verschlechterung des Lebensstandards
seit den 1970ern (vgl. Nagy 1989: 55), die Schwächung der
politischen Macht der Sowjetunion und die Herausbildung einer reformkommunistisch
gesinnten Generation in der ungarischen Parteiführung haben gebündelt
und in einem über Jahre hinweg dauernden Prozess zu den politischen
Umwälzungen geführt (vgl. Romsics 2005: 522). Als entscheidender Punkt
in der unmittelbaren Vorwendezeit wird der auf der Parteitagung der Ungarischen
Sozialistischen Arbeiterpartei im Mai 1988 vollzogene Sturz von János
Kádár4
betrachtet (vgl. Gergely/Izsák 2000: 435). Die Folgen des Sturzes
ließen auch in der Bildungspolitik nicht lange auf sich warten: Im Jahre 1989
wurde die Gründung von Schulen mit nichtstaatlichen Trägern erlaubt und die
Verordnung des verbindlichen Russischunterrichts wurde für alle Schultypen
und -stufen des Landes aufgehoben. Genau wie während der 1956er Revolution,
wurde vielerorts wieder Deutsch als erste Fremdsprache eingeführt (vgl.
Szilágyiné Hodossy 2006: 117). Sechs Jahre später, 1995 wurde der Nationale
Grundlehrplan erlassen, der auf ungarische und europäische humanistische
Erziehungs-und Bildungsinhalte fokussierte und den Schulen einheitliche
Anforderungen aber auch Differenzierungsmöglichkeiten im Unterricht ermöglichte.
5
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es in Ungarn während der Ära
des Sozialismus, abgesehen von der Dekade zwischen 1949 und 1958 – die zeitlich
übrigens beinah völlig mit dem kommunistischen Staatsterror unter der
Parteiführung von Mátyás Rákosi zusammenfiel – vor allem in den weiterführenden
Schulen wie im Gymnasium, seltener an Fachmittelschulen und ab den
1980ern auch in der Sekundarstufe I möglich war, Deutsch als Fremdsprache
zu lernen. Um den Fremdsprachenunterricht war es in den Berufsschulen am
schlechtesten bestellt: In den meisten Berufsschulen wurde am Anfang der
1980er Jahre überhaupt keine Fremdsprache unterrichtet (vgl. Vágó 2000:
674). Mitte der 1980er Jahre lernten nur 5% der Mittelschüler eine zweite
Fremdsprache – meist Deutsch – in einer Stundenzahl, durch welche motivierte
Lerner zu einer Sprachkundigenprüfung der Mittelstufe hätten hingeführt werden
können (vgl. Paul 2001: 1546).
4Kádár vermochte als Generalsekretär derselben Partei zwischen 1956 und 1988 sowohl
die Innen-als auch die Außenpolitik des Landes maßgeblich zu beeinflussen.
5Ausführlich zu den unmittelbaren Folgen der bildungspolitischen Wende sowie zu den
detaillierten Inhalten des Nationalen Grundlehrplans vgl. Rada in diesem Band.
77
Márta Müller
Die Umstände des Deutschlehrens und -lernens waren aber – mit Ausnahme
einiger Versuchsprojekte – mehr als ungünstig, ja katastrophal. In
einer sehr niedrigen Wochenstundenzahl (in 2-3 Stunden pro Woche) wurde
in Klassen mit nicht selten über 30 Schülern auf der Basis der Grammatik-
Übersetzungsmethode aus sowohl sprachlich als auch methodisch mangelhaften
Lehrwerken ohne jeglichen technischen Hintergrund (wie etwa Tonband,
Sprachlabor oder Videorecorder) überwiegend frontal unterrichtet. Die
deutschsprachigen Lehrwerke boten im Vergleich zu ihren Pendants in englischer,
französischer aber auch in russischer Sprache, über den Sprachstoff
hinaus zahlenmäßig die allerwenigsten landeskundlich-kulturellen Texte an
(vgl. Szilágyiné Hodossy 2006: 112f), so dass der Deutschunterricht auch nicht
durch den Sachstoff – wie etwa durch Einblicke in die (westliche) Kultur und
den Alltag der deutschsprachigen Länder – eine motivierende Kraft auf die
Lerner ausüben konnte (vgl. Zalán-Szablyár 1987: 23). Auch der in den Stunden
zu bewältigende Sprachstoff beziehungsweise die Lernziele ließen viel zu
wünschen übrig, einerseits wegen der oben bereits angeschnittenen Umstände
des Unterrichts, andererseits weil die in der Deutschstunde auch nur simulierte
Kommunikation außerhalb der Schulen in verschwindend wenigen Bereichen
des Lebens – zum Beispiel im Tourismus, im Außenhandel oder in der Diplomatie
– mit deutschsprachigen Ausländern in realen Situationen umgesetzt
werden konnte. Die überwiegende Mehrheit der Ungarn lebte zwischen 1945
und 1989 nicht nur im Gefängnis einer von außen her auf sie oktroyierten
Ideologie, sondern auch im Gefängnis einer Sprache, nämlich dem der eigenen
Muttersprache.
2.2
Deutschunterricht außerhalb der öffentlichen Bildungseinrichtungen
1945-1989
In Anbetracht der Tatsache, dass ein Lerner mit durchschnittlichen Lernfähigkeiten
erst nach etwa 500-600 Lernstunden solide Sprachkenntnisse aufweisen
kann, und dass die ungarischen Gymnasien in den 1970er und 1980er Jahren
in den vier Jahren des Gymnasiums, das heißt vom Eintritt in die Schule bis
zur Reifeprüfung im Schnitt nur 350 Stunden für den Unterricht einer (modernen
westlichen) Fremdsprache einräumen konnten, ist die Folgerung, dass die
(In)Effizienz dieser Unterrichtsform mit den labilen und lückenhaften Sprachkenntnissen
der Abiturienten korrelierte, rational (vgl. Dörnyei/Medgyes 1987:
31).
Um die Fremdsprachenkenntnisse nachzuholen, die die öffentlichen Schulen
– meist Mittel-und Hochschulen – aus den oben bereits tangierten Gründen
gezwungenermaßen versäumt hatten erfolgreich zu vermitteln, wandten sich
vor allem junge Erwachsene an die Vertreter der tertiären Wirtschaft: an die
im Sozialismus nach der vorsichtigen Einführung der Privatwirtschaft Ende der
78
Márta Müller
1950er, Anfang der 1960er Jahre gegründeten unter anderem auch Sprachkurse
anbietenden eingetragenen Vereine und Sprachschulen in staatlicher TrägerschaftwiedieTIT(
TudományosIsmeretterjesztõTársulat,dt. Gesellschaft zur
Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse), die Arany János Nyelviskola (dt.
Arany János Sprachschule) oder das Élõ Nyelvek Szemináriuma (dt. Seminar
der lebenden Sprachen). Die Teilnehmer der Sprachkurse waren entweder Mittelschüler
und Studierende, die ihre Sprachdefizite beheben und dadurch eine
bessereBenotungimRegelunterrichterzielenwolltenoderAngestelltevorallem
aus der sozialen Gruppe der Intelligenz, denen, falls sie eine Sprachkundigenprüfung
nachweisen konnten, automatisch eine Gehaltszulage6
gewährt wurde.
Das Angebot der Sprachschulen sowie die Anzahl der Teilnehmer der einzelnen
Sprachkurse wurden vor der Wende offiziell nicht erhoben – die Statistiken
hätten den Status des Russischen schwächen können – doch war es weitläufig
bekannt, dass man sich in die Sprachschulen hatte einschreiben lassen, um
westliche Fremdsprachen erlernen zu können (vgl. Vágó 2000: 671).
Die Anzahl der Sprachschulen stieg in den 1980er Jahren stark an: Einerseits
dankderwirtschaftlichen Reformen, diedie Gründung vonGenossenschaften
(ung. szövetkezet) – unter anderem auch Fremdsprachen unterrichtenden
Genossenschaften – ermöglicht haben, andererseits weil im Zuge der behutsamen
und von der Sowjetunion ständig überwachten politischen Öffnung das
Interesse am Fremdsprachenlernen in der Bevölkerung allmählich wuchs. Die
neugegründetenprivatenSprachschulenhabenimGegensatzzudenstaatlichen
Sprachschulen, die sich seit den 1950er Jahren in Monopolstellung wussten, aus
multinationalen Lehrwerken, mit authentischen Audio-und Videomaterialien
kommunikativ unterrichtet. Die Eröffnung von privaten Sprachschulen forderte
von den Gründern unglaublich geringe Investitionen: Nachdem die Kursgebühren
entrichtet worden waren, wurden aus diesem im Nu entstandenen Kapital
die für den Unterricht nötigen Materialien und Geräte angeschafft sowie in
Schulgebäuden Räumlichkeiten gemietet (vgl. Laki 2006: 886).
3 Deutschunterricht in Ungarn nach der Wende
3.1
Deutschunterricht an den öffentlichen ungarischen
Bildungseinrichtungen in den 1990er Jahren
Die Ausrufung der Ungarischen Republik am 23. Oktober 1989 – dem 33.
Jahrestag der 1956er Revolution – sowie die darauf folgende Erneuerung des
6Bei staatlichen Unternehmen oder in der öffentlichen Verwaltung Angestellte haben im
Besitz einer staatlich akkreditierten Sprachprüfung der Mittelstufe (entspricht etwa der Niveaustufe
B2 im Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen der Sprachen, GERS) eine
Gehaltszulage von 8%, der Oberstufe (C1) eine Gehaltszulage von 15% bekommen. Die
Höhe der Gehaltszulagen durfte 45% des Grundgehaltes nicht überschreiten.
79
Márta Müller
ungarischen Staatswesens erforderte auch von den Vertretern des öffentlichen
und privaten Bildungswesens eine rasche Reaktion. Das Bildungsministerium
hat den Status des Fremdsprachenunterrichts in den Lehrplänen gestärkt, und
versuchte die plötzlich entstandene Knappheit an Sprachlehrern dadurch zu
mildern, dass es einerseits für 80 bis 100 Prozent der Kosten für die Umschulung
von Russischlehrern7, die an öffentlichen Bildungseinrichtungen verbeamtet
waren, zu Englisch-oder Deutschlehrern aufkam. Andererseits ließ das
Ministerium die Anzahl der Studienplätze im Direktstudium für moderne Philologien
landesweit erhöhen.8
Kulturabkommen zwischen den deutschsprachigen
Ländern Europas und Ungarn wurden geschlossen, infolge derer Lektoren
aus Deutschland, Österreich sowie aus der Schweiz9
an ungarischen öffentlichen
Bildungseinrichtungen ihre Arbeit aufnahmen.
Das Bildungsgesetz aus dem Jahre 1993 (Nr. LXXIX) formte das bis dahin
streng zentralisierte ungarische Schulwesen auf der Basis der demokratischen
Freiheit um: Die freie Schulwahl wurde in die Rechte der Eltern beziehungsweise
Schüler, die freie Unterrichtsgestaltung – inklusive der freien
Methoden-und Lehrwerkwahl – in die Rechte der Pädagogen delegiert (vgl.
Petneki/Szablyár 1998: 63). Vier Jahre später durften Schulen, die mindestens
drei Schulfächer in derselben Fremdsprache unterrichteten, den Status
einer zweisprachigen Schule und die damit verbundene erhöhte normative Unterstützung
beantragen. Im Schuljahr 1995/1996 gab es in Ungarn drei Schulen,
in denen die Unterrichtssprache ungarisch-englisch und sechs Schulen, in
denen die Unterrichtssprache ungarisch-deutsch war. Der Bedarf an zweisprachigen
Schulen wuchs aber stetig, so dass 1997 landesweit schon 18 Schulen mit
deutscher Unterrichtssprache10
existierten (vgl. Paul 2001: 1547). An diesen
7EsisteineIroniedesSchicksals,dassnach1945v.a. Deutsch-undEnglischlehrer(seltener
auch Französischlehrer) zu Russischlehrern umgeschult worden waren.
8Dass die politische Umwälzung 1989/1990 und die darauf folgende notwendige Umorientierung
u.a. auch im Bildungswesen überraschend schnell stattfand, bezeugt die Tatsache,
dass das Bildungsministerium 1988, das heißt ein Jahr vor der Deklarierung des freien Fremdsprachenunterrichts
an den Schulen, mehr Studienplätze für werdende Russischlehrer an den
ungarischen Universitäten und Hochschulen bestimmte als für Englisch-oder Deutschlehrer.
Die von dem Bildungsministerium in die Wege geleitete Umschulung von Russischlehrern
kann nicht eindeutig als erfolgreiche Aktion beurteilt werden, wenn man betrachtet, dass von
den 15.000 Russischlehrern, die im ungarischen Bildungswesen verbeamtet waren, bis 1998
nur 3.200 ein neues Studium (Englisch oder Deutsch als Fremdsprache) absolvierten. Ein
Drittel derjenigen, die an diesen Umschulungsprogrammen teilgenommen haben, haben nie
einen Russisch-Abschluss gehabt (Vágó 2000: 676f) – Sie haben einfach nur die Gelegenheit,
ein weiteres Diplom kostenlos zu erwerben, wahrgenommen.
9Der DAAD entsandte seit 1988 Lektoren nach Ungarn und in demselben Jahr wurde
auch das Budapester Goethe-Institut gegründet. Näheres über die deutschsprachigen Mittlerorganisationen
für Kultur und Schulwesen bei Paul (2001).
10Dass das Englische die deutsche Sprache langsam hinter sich lässt, bestätigen auch
die Statistiken über die Anzahl der zweisprachigen Schulen: Um die Jahrtausendwende
2000/2001 wurde in Ungarn ungarisch-englischer Unterricht bereits an zehn Schulen,
ungarisch-deutscher aber nur noch an neun angeboten.
80
Márta Müller
zweisprachigen Schulen wurde die deutsche Sprache schon im Primarbereich
als selbstständiges Schulfach, beziehungsweise als Schulfach in der betreffenden
Fremdsprache – zum Beispiel Sport, Musik oder Umweltkunde auf Deutsch –
unterrichtet (vgl. Szilágyiné Hodossy 2006: 128).
Mit dem sich plötzlich expandierenden Bedarf an Fremdsprachenunterricht
ging jedoch keine erhöhte Anzahl an der qualifizierten Sprachlehrern – so auch
Deutschlehrern – einher: In den 1990ern haben an vielen Grundschulen, aber
auch an manchen Mittelschulen Pädagogen Deutsch unterrichtet, die für den
Sprachunterricht nicht oder unterqualifiziert11
waren, aber eine Sprachkundigenprüfung
(Oberstufe, C1 oder Mittelstufe, B2) besaßen (vgl. Vágó 2000:
676). Die Not war auch aus demografischem Grunde groß, weil die Kinder
der in der sog. Ratkó-Ära12
Geborenen gerade Ende der 1980er, Anfang der
1990erindieMittelschuleneintraten. Beidenverzweifeltenundlängerfristigoft
kontraproduktiven Versuchen der Schulrektoren, in Eile Personen zu finden, die
Fremdsprachenunterrichtzuerteilenbereitwaren, hatdasBildungsministerium
in Ermangelung einer besseren Lösung ein Auge zugedrückt, denn von seiner
Seite gab es für die (sprach)pädagogische Arbeit an den öffentlichen Schulen
seit Ende der 1980er Jahre keine qualitätssichernde Kontrolle und dementsprechend
bei eventuellen Unzulänglichkeiten keine Sanktionen.13
Die Wende ging auch mit der Liberalisierung des Lehrbuchmarktes einher.
Dennoch hat das ungarische Schulwesen in der ersten Hälfte der 1990er
Jahre nur einen geringen Zuwachs an neuen regionalen Sprachbüchern – inklusive
DaF-Lehrwerken – verzeichnen können, welche von ungarischen Autoren,
die die hiesigen Umstände des Fremdsprachenunterrichts kennen, geschrieben
wurden. Der Grund hierfür lag erstens darin, dass die Deutschlehrer,
die bis 1989/1990 gezwungen waren, aus einem einzigen Lehrwerk zu unterrichten,
das Recht auf freie Lehrwerkwahl nutzend in allen Schultypen und
-stufen auf multinationale Lehrwerke umgestiegen sind14
. Zweitens dauerte
es nicht selten fünf bis sechs Jahre, bis eine mehrere Jahrgangsstufen um
11Das Bildungsminsiterium verschärfte die Bedingungen für die Einstellung von Fremdsprachenlehrern
erst 2002. Im September 2002 trat eine Modifizierung des Bildungsgesetzes
[128. §(3)] in Kraft, nach der Fremdsprachen an den öffentlichen Schulen nur von qualifizierten
Lehrern mit abgeschlossenem Sprachstudium unterrichtet werden dürfen.
12Anna Ratkó war zwischen 1949 und 1953 Gesundheitsministerin sowie Ministerin für
Soziales. Sie führte die Kinderlosigkeitssteuer in Ungarn ein und verordnete das allgemeine
Abtreibungsverbot, ohne zu ahnen, welche Folgen die demografische Explosion für das Schulwesen,
die Wirtschaft sowie die Sozial-und Rentenversicherung mit sich bringen würde.
13Ausführlich zu den Evaluationsverfahren und Qualitätskontrolle der Schulen vgl. Müller
in diesem Band.
14Der Umstieg auf multinationale Lehrwerke zum Beispiel der Verlage Hueber, Klett oder
Langenscheidt nahm die Deutschlehrer oft nicht in Anspruch. Vor der Wende wurden an
privaten Sprachschulen – an denen um ihre Saläre aufzustocken nachmittags, abends oder
am Wochenende dieselben Lehrer unterrichteten, die vormittags am Gymnasium Fremdsprachenunterricht
erteilten – bereits multinationale Sprachbücher oder Raubkopien derselben
benutzt.
81
Márta Müller
fassende Lehrwerkfamilie aufgrund der veränderten politisch-wirtschaftlichen
Gegebenheiten entweder aktualisiert, um Stoffverteilungspläne, Audiomaterialien
und Lehrerhandbücher ergänzt oder neu verfasst beziehungsweise anschließend
vom Bildungsministerium in einem wiederum langen Prozess als Lehrwerk
für die öffentliche Bildung zertifiziert wurde. Drittens konzentrierten sich die
ungarischen Lehrbuchverlage hinsichtlich ihrer Herausgeberschaft auf das sich
erst nach der Wende etablierte Terrain des frühen Fremdsprachenunterrichts
im Primarbereich (vgl. Szilágyiné Hodossy 2006: 130). Über die regionalen
und multinationalen Deutschlehrwerke hinaus wurden für spezielle BereichedesFremdsprachenlernensergänzendeUnterrichtsmaterialien(
zumBeispiel
Hörtexte, grammatische Testbücher und Übungsgrammatiken für verschiedene
Sprachkundigenprüfungen) entwickelt, so dass 1995 schon 88 Deutschbücher
auf dem ungarischen Lehrbuchmarkt erhältlich waren. Nach einer 1998 unter
Schulrektoren durchgeführten Umfrage ging es in 79% der in Lehrerkonferenzen
geführten Diskussionen um die Wahl der im Unterricht benutzten Lehrwerke
(vgl. Nikolov 2000: 852f). Bei der Wahl der Sprachbücher war in der zweiten
Hälfte der 1990er Jahre in der überwiegenden Mehrheit der Auseinandersetzungen
unter Pädagogen bereits der erschwingliche Preis (und nicht die gute
Qualität) das ausschlaggebende Argument, auch wenn billige – meist regionale
– Sprachbücher ihren multinationalen Pendants sowohl inhaltlich als auch
drucktechnisch-typographisch deutlich unterlegen waren.
Aufgrund der Statistiken des ungarischen Bildungsministeriums (siehe Tabelle
1) lässt sich feststellen, dass in den Grundschulen von 1989 bis 1995 die
Zahl der DaF-Lerner zunächst gestiegen, danach aber – mit der einzigen Ausnahme
des Schuljahres 1997/1998 – parallel zum Rückgang der Anzahl der
Kinder im Grundschulalter, kontinuierlich gesunken ist. In den Berufsschulen,
indenenabdemSchuljahr1998/1999Deutschauchindenneuntenundzehnten
Jahrgängen unterrichtet wird sowie in den Fachmittelschulen und Gymnasien
hat die Zahl der DaF-Lerner in den 1990er Jahren eindeutig zugenommen.
Vor der Wende wurde DaF eher in der Grundschule als an weiterführenden
Schulen gelehrt. Nach der Wende stieg das Prestige des Deutschen – wegen
seiner massiven Ressourcen in Ungarn und weil es in der mitteleuropäischen
Region als Korrespondenzsprache der Wirtschaft fungierte – in allen Schulstufen
und Schultypen.
Im Hinblick auf das Englische darf nicht unbemerkt bleiben, dass in den
1990ern sowohl an den Grundschulen, als auch an den Mittelschulen die Anzahl
der Deutsch und Englisch Lernenden annähernd den gleichen Prozentsatz
erreichte, das Englisch jedoch allmählich aufholte (vgl. Tabelle 2).
Soziolinguistisch betrachtet lässt sich eine eindeutige Funktions-und Domänenverteilung
zwischen Deutsch und Englisch feststellen: Ersteres wurde
wegen seines „Volksfremdsprache“ -Charakters eher von Kindern aus geringer
qualifizierten Familien, außerhalb Budapest in den westlichen Teilen des Lan
82
Márta Müller
Schuljahr Grundschule
Berufsschule
Fachmittelschule
Gymnasium
1989/1990 41889 11928 30632 45915
1990/1991 186017 13165 46668 54118
1991/1992 260107 13750 64207 64051
1992/1993 325408 14921 76763 72159
1993/1994 350522 17769 83989 77086
1994/1995 354341 24316 87666 82614
1995/1996 346460 26790 92612 88525
1996/1997 328115 27831 99918 93054
1997/1998 364351 30907 102484 98712
1998/1999 355683 36517 104664 101757
1999/2000 347802 40098 105541 103456
Tabelle
1:
Anzahl der Deutsch als Fremdsprache Lernenden in den Grund-, Berufs-,
Fachmittelschulen und Gymnasien Ungarns zwischen 1989 und 2000 (Quelle: Ungarisches
Bildungsministerium)
1992/1993 1997/1998 1999/2000
Fremdsprache
Grundschule
Mittelschule
Grundschule
Mittelschule
Grundschule
Mittelschule
Englisch 32,0 42,2 43,6 46,6 47,7 48,2
Deutsch 46,5 36,7 51,7 39,8 49 39,6
Französisch
1,7 7,2 1,2 5,5 1,0 5,1
Tabelle
2:
Fremdsprachenlernerin denGrund-undMittelschulenindrei Schuljahren
(%) (Quelle: Vágó 2000: 207)
83
Márta Müller
des gelernt. Letzteres wegen seiner globalen Nützlichkeit eher von Kindern aus
bildungsorientiertenFamilieninder(Haupt-)Stadterworben(vgl. Földes2000:
286).
Die 1990er Jahre können im bildungspolitischen Sinne als eine sich über ein
Jahrzehnt erstreckende Wendezeit bezeichnet werden, weil sich sowohl das allgemeine
Schulwesen, als auch der Fremdsprachenunterricht als dessen Bestandteil
in Ungarn eine beispiellose Umstrukturierung erfuhren. Aller Anstrengungen
zum Trotz war es leider unmöglich, sich nach dem zehnten Lebensjahr,
in vier Schuljahren, in zwei bis drei Wochenstunden, in einer Klasse von 2530
Schülern ungarischer Muttersprache eine indogermanische – die deutsche –
Sprache auf einem Vantage Level (B2) anzueignen. Auch dann nicht, wenn
viele Schulen für die Sommerferien Sommercamps mit Schwerpunkt Fremdsprache
organisierten und die Klassen im Deutschunterricht zum Zwecke der
effektiveren Stundenführung in mindestens zwei Lernergruppen aufteilten. Der
Fremdsprachenunterricht blieb auch aus dem Grunde dürftig, weil die Inhalte,
Ziele sowie die Marker des schulischen Fremdsprachenunterrichts endozentrisch
waren: Benotung und Abitur im Schulfach Deutsch hatten nur innerhalb der
jeweiligen Schulen Belang, außerhalb der Schulen galt immer noch der Nachweis
einer Sprachkundigenprüfung als Beleg für kompetente Sprachkenntnisse
(vgl. Szépe 2000: 642ff).
In quantitativer Hinsicht waren die bildungspolitischen Veränderungen in
den 1990er Jahren mehr als beachtenswert, aber infolge dieser verbesserte sich
die Qualität der Sprach-, inklusive Deutschkenntnisse der Schüler in Ungarn
nur in einem viel bescheideneren Maße.
3.2
Deutschunterricht außerhalb der öffentlichen Bildungseinrichtungen
in den 1990er Jahren
In den 1990er Jahren haben deutsche Firmen im großen Umfang in den ungarischen
Industrie-und Dienstleistungssektor (zum Beispiel Autoindustrie, Energieversorgung,
Telekommunikation, Bau, Transport und Internet) investiert.
Die deutschen Unternehmen unterstützten das Fremdsprachenlernen ihrer Angestellten
durch die Organisierung von kostenlosen firmeninternen Sprachkursen
während der Arbeitszeit. Die ungarischen Hochschulen und Universitäten
gewährten in ihren Zulassungsprüfungen Pluspunkte für den Nachweis von
Sprachprüfungen und machten gleichzeitig das Aushändigen des Diploms von
denselben abhängig. Breite Schichten der Gesellschaft – vor allem Arbeitnehmer
bei multinationalen Firmen, Studierende und Mittelschüler mit Studien-
vorhaben – verfügten aber nur über unzureichende Fremdsprachenkenntnisse,
und hofften diese Mängel in den Sprachkursen privater Sprachschulen zu beheben
hofften. Die Sprachschulen griffen – natürlich gegen erhöhten Stundenlohn
– auch den Schulrektoren unter die Arme: Sie vermittelten an die öffentlichen
84
Márta Müller
Schulen, in denen Fremdsprachenlehrer ihre Stellen während des Schuljahres
kündigten, schnell neue Arbeitskräfte.
Unmittelbar nach der Wende entstanden mehr als 200 Sprachschulen im
Land, von denen manche nur auf den schnellen Profit bedacht, in jeder Hinsicht
miserable Kurse anboten: Die Stunden wurden in umständlich zugänglichen
Gebäuden, von unqualifizierten Lehrern oder Studierenden gehalten und
auch von Lernern besucht, die sich nur aus Mode, aber nicht mit einer klaren
Lernintention in die Kurse eingeschrieben hatten. Um den an Sprachkursen
Interessierten einen klaren Blick auf den Markt zu verschaffen, wurde 1992 die
Kammer der Sprachschulen (ungarisch Nyelviskolák Kamarája) (für weitere
Recherche siehe: www1) gegründet, die jene Sprachschulen vertrat, welche sich
hinsichtlich ihres Managements, ihrer Infrastruktur und ihrer sprachpädagogischen
Arbeit von den Inspektoren der Kammer zertifizieren ließen. 1993 trugen
elf Sprachschulen das Gütesiegel dieser Kammer, 1997 betrug ihre Zahl bereits
20, von denen 15 Schulen auch DaF unterrichteten (vgl. Paul 2001: 1547).
1995 wurde, um die hohen Defizite im Staatshaushalt und in der außenwirtschaftlichen
Leistungsbilanz zu mindern, ein Wirtschaftspaket15
von dem
damaligen Wirtschaftsminister erlassen, das kurzfristig zu einem dramatischen
Einbruch des Lebensstandards führte, infolge dessen der allgemeine Konsum
und damit das Interesse an Sprachkursen zurückging. In der zweiten Hälfte
der 1990er Jahre existierten von den am Anfang des Jahrzehnts errichteten
200 Sprachschulen – trotz des kurzen Aufschwungs, der durch die Vorbereitungsarbeiten
des EU-Beitritts hervorgerufen wurde – nur noch etwa 50. Die
Sprachschulen erkannten, dass sie nur dann bestehen können, wenn sie mehrere
Dienstleistungenwie Abnahmevon akkreditiertenSprachprüfungen, Organisierung
von Sprachkursen im Zielsprachenland, Jobvermittlung ins Ausland, Dolmetschen,
Übersetzen und Herausgabe von Unterrichtsmaterialien gebündelt
anbieten (vgl. Laki 2001: 898f).
Die sprachpädagogische Arbeit an den zertifizierten Sprachschulen war effektiver
als der Fremdsprachenunterricht an den öffentlichen Schulen, denn sie
arbeiteten – im Gegensatz zu den Schulen – unter realen Marktbedingungen.
Trotzdem zogen sich langsam die multinationalen Firmen, die mit den Sprachkenntnissen
ihrer Mitarbeiter weiterhin nicht zufrieden waren, aus dem Fremdsprachenmarkt
zurück, weil sie die Kosten für den Erwerb von Fremdsprachen
zunehmend den Angestellten zuschoben (vgl. ebd. 2001: 896f).
15Das Wirtschaftspaket des Wirtschaftsministers Lajos Bokros beinhaltete folgende Maßnahmen:
Abwertung des Forint, Einführung des Zollzuschlags, Abbau von Stellen sowie Einführung
von Studiengebühren im Hochschulwesen, Beschränkung der Erhöhung der Nominallöhne,
Aufhebung der kostenlosen zahnärztlichen Versorgung, Erhöhung des Rentenalters
und Verschärfung der Berechtigung auf Kindergeld.
85
Márta Müller
Schuljahr 1980/
1981
1990/
1991
1995/
1996
2000/
2001
2005/
2006
2010/
2011
Az.
Schüler
in Grundschulen
1.197.777 1.166.076 987.561 957.850 859.315 755.000
Tabelle
3:
Anzahl der Schüler in den Grundschulen Ungarns zwischen 1980 und
2010 (Quelle: Ungarisches Bildungsministerium)
3.3
Deutschunterricht an den öffentlichen ungarischen
Bildungseinrichtungen nach der Jahrtausendwende
Die Erwartungen der Gesellschaft gegenüber den Leistungen der Schulen und
ihrerSchülerhinsichtlichdereinzelnenSchulfächersindseitderWendeinBezug
auf die Fremdsprachen am ausgeprägtesten formuliert worden.
Die Eltern können über die Wahl der ersten und zweiten Fremdsprache an
den Schulen oft nur mittelbar entscheiden: Die Wahl der Schule als ganzes
Bildungsangebot hat nämlich Vorrang vor der Wahl der darin später zu erlernenden
Fremdsprachen. Die Attitüde der ungarischen Erwachsenenbevölkerung
gegenüber Fremdsprachen ist eindeutig positiv. Diese positive Einstellung
hat auch auf die Schüler einen entscheidenden Einfluss: Bei einer in 1993, 1999
undschließlich2004unterAchtklässlerndurchgeführtenErhebungenstelltesich
heraus, dass die Schüler wegen der Integrativität, das heißt der positiven Emotionen
gegenüber der Sprache, der positiven Attitüde gegenüber den nativen
Sprechern und der Kultur, in der die Sprache eingebettet existiert, als erste
Fremdsprache am liebsten Englisch16
und als zweite Deutsch lernen würden
(vgl. Csizér/Dörnyei/Németh 2004: 401).
Zwischen 2001 und 2008 ist die Anzahl der DaF-Lernenden in den Grundschulen
stark, in den Fachmittelschulen leicht zurückgegangen. Ersteres hängt
eindeutig auch mit dem allgemeinen Rückgang der Kinderzahl zusammen (vgl.
Tabelle 3).
In den Berufsschulen und Gymnasien ist die Anzahl der DaF-Lerner – trotz
der Tatsache, dass von Jahr zu Jahr weniger Schüler in die Schulen eintreten
– leicht angestiegen. Eine Übersicht der Veränderungen der Schülerzahl von
DaF-Lernern stellt Tabelle 4 dar.
Es ist verwunderlich, wie hoch die Motivation der Schüler ist, Englisch oder
Deutsch zu lernen, wenn man bedenkt, mit welchen konservativen, ja maroden
16Bemerkenswert ist es, dass im Falle des Englischen die Korrelation zwischen Integrativität
und Sprachpräferenz zwischen 1993 und 2004 beinahe um ein Drittel sank: Englisch
scheint seinen exklusiven Status einzubüßen. Diesen Prozess wird die Verordnung des Bildungsministeriums
im Jahre 2006, Englisch ab 2010 an allen Mittelschulen als obligatorisches
Schulfach zu unterrichten, höchstwahrscheinlich beschleunigen.
86
Márta Müller
Schuljahr Grundschule
Berufsschule
Fachmittelschule
Gymnasium
2001/2002 275.652 51.295 99.179 116.577
2002/2003 267.868 55.053 99.792 121.523
2003/2004 250.056 54.925 99.693 123.753
2004/2005 237.448 54.217 97.284 122.151
2005/2006 218.575 55.971 92.781 119.462
2006/2007 201.008 53.196 88.619 119.280
2007/2008 185.624 55.534 85.659 118.711
Tabelle
4:
Anzahl der Deutsch als Fremdsprache Lernenden in den Grund-, Berufs-,
Fachmittelschulen und Gymnasien Ungarns zwischen 2001 und 2008 (Quelle: Ungarisches
Bildungsministerium)
Methoden Fremdsprachen an den öffentlichen Schulen immer noch unterrichtet
werden. 2000 wurden landesweit 12, 14 und 16 Jahre alte Jugendliche
befragt, wie der Lernstoff in den Deutsch-und Englischstunden bearbeitet
wird. Den Ergebnissen zufolge wurde im Fremdsprachenunterricht am häufigsten
übersetzt, laut vorgelesen und grammatische Übungen mündlich oder
schriftlich gelöst. Am seltensten wurden Situationen und Dialoge in der Zielsprache
vorgetragen, audiovisuelle Materialien (zum Beispiel Filmsequenzen)
bearbeitet, Lernspiele gespielt beziehungsweise grundsätzlich in Gruppen gearbeitet.
Höchstens zwei Drittel der Lehreranweisungen wurden in der Zielsprache
geäußert, dadurch hielten die Lehrer ihre Schüler weit unter ihren Fähigkeiten
(vgl. Nikolov 2003: 52). Warum das Sprachenlernen für viele ein Leben
lang ein erfolgloses Unterfangen bleibt, ist eindeutig teils auch der überholten
Unterrichtsgestaltung der Lehrer geschuldet.
2003 wurde vom Bildungsminister das Programm „Welt – Sprache“ (ung.
Világ – nyelv) verkündet, dessen Ziel es war, dass die Absolventen der Mittelschulen
unbedingt eine respektive zwei Fremdsprachen kennen sollten und
dass jeder Schüler die Möglichkeit erhält Englisch zu lernen. Im gleichen Jahr
wurden an 64 Mittelschulen sprachliche Vorbereitungskurse – sogenannte NullJahrgängefürdie14-
jährigen –gestartet, indenendieSchülerinelf-15Wochenstunden
in Fremdsprachen, EDV, Mathematik, Ungarisch und einigen Fertigkeitsfächern
unterrichtet wurden. An diesen 64 Schulen haben 67% der Schüler
Englisch und nur 33% Deutsch gewählt (vgl. Petneki 2003: 53).
Zwei Jahre später wurde die Situation des Fremdsprachenunterrichts auch
an den Fachmittelschulen geregelt: Ab 2005 wurde der Unterricht mindestens
einer fremden Sprache, mindestens vier Jahre lang und mit mindestens drei
Wochenstunden vorgeschrieben. Darüber hinaus müssen die Abiturienten der
Fachmittelschulen auch in einer Fremdsprache geprüft werden und zwar aufgrund
derselben Anforderungen wie ihre Mitschüler an den ungarischen Gym
87
Márta Müller
nasien. Diese Verordnung führte zu heftigen Diskussionen unter den an Fachmittelschulen
und Gymnasien angestellten Fremdsprachenlehrern, denn leider
sind die Input-Sprachkompetenzen der Fachmittelschüler, der Grad ihrer Motivation
sowie die soziokulturellen Umstände ihres Fremdspracherwerbs mit
denen der Gymnasiasten bei weitem nicht zu vergleichen. Ein zusätzlicher UnterschiedzwischendemFremdsprachenunterrichtderFachmittelschülerundder
Gymnasiasten besteht in der Vermittlung von berufsbezogenen Inhalten in der
Fremdsprache –kurzderFachsprache.17
IndenerstenvierJahren, dasheißtbis
zum Abitur werden in den Fachmittelschulen nur Fremdsprachen – ohne fachsprachliche
Bezüge unterrichtet. Für den Fachsprachenunterricht bleibt dann
meistens nur ein Schuljahr übrig, mit verheerenden Folgen für seine Effizienz
(vgl. Einhorn 2000: 698f).
In der Debatte, die sich um die offizielle Bekanntmachung der Gesetzesmodifizierung
(2006/ LXXI.) über die Einführung von Studiengebühren und die
Erhöhung der Wochenstundenzahl18
der verbeamteten Lehrer etablierte, ging
eine weitere Ankündigung des Bildungsministeriums, dass nämlich Englisch ab
September 2010 an allen Mittelschulen des Landes als Pflichtschulfach gelernt
werden soll, unter (vgl. Petneki 2006: 50). Zwar überlagerte sich die Intention
des Bildungsministeriums mit den Ergebnissen einer 2005/2006 durchgeführten
Umfrage der EU (www2) über die Europäer und ihre Sprachen, der 85%
nach der befragten Ungarn die Meinung vertraten, dass die Kinder Englisch
als erste Fremdsprache erlernen sollten, doch hat das Bildungsministerium in
seiner wohlwollenden Eile vergessen, einerseits die Interessen der verbeamteten
Lehrer zu vertreten, die für den Unterricht von anderen Fremdsprachen qualifiziert
sind19, andererseits die weiteren Ergebnisse der europäischen Erhebung
zu berücksichtigen. Denn die Ungarn haben als zweitwichtigste Fremdsprache
– deutlich über dem Durchschnitt der Befragungsergebnisse anderer Unionsmitglieder
– die deutsche angegeben.
IndenungarischenGrundschulenwurdebiszurJahrtausendwende1990/2000
unter den Fremdsprachen DaF am häufigsten gelehrt und gelernt (vgl. Petneki
2003: 50). In dieser Schulstufe ist die Anzahl der DaF-Lehrer die höchste:
17Mit der sich nicht selten auch selbst die Fremdsprachenlehrer schwer tun, da sie eine
philologische und keine berufsspezifische Ausbildung durchlaufen haben.
18Die Stundenzahl der Grundschul-und Mittelschullehrer stieg von 20 auf 22 Wochenstunden.
Über die Studiengebühren wurde in Form einer Volksabstimmung entschieden, welche
am 9. März 2008 stattfand. 82,22% der gültigen abgegebenen Stimmen waren gegen sie.
192014 werden das erste Mal die Schüler das Abitur ablegen, die Englisch schon im Schulfachkanon
angeboten bekommen haben. Die Anzahl der Abiturprüfungen in anderen Fremdsprachen
wird wahrscheinlich zurückgehen, dadurch spart das Bildungsministerium einen
nicht unerheblichen Teil der Abiturvorbereitungen (zum Beispiel Honorare für die Zusammenstellung
der Testfragen und für die Abwicklung der Prüfungen). Der Tätigkeitsbereich
von Lehrern anderer Fremdsprachen wird schrumpfen. Dies wird auch für das Hochschulwesen
Folgen haben: Auch an den Universitäten wird man früher oder später Kapazitäten in
der Fremdsprachenlehrer-Ausbildung abbauen müssen.
88
Márta Müller
erstens wegen der traditionellen Sprachpräferenzen der Eltern, zweitens weil
sich viele Russischlehrer, die an Grundschulen arbeiteten, nach der Wende zu
Deutschlehrern umschulen ließen, da sie die für die Umschulung erforderlichen
Kenntnisse in der deutschen (und nicht etwa in der englischen) Sprache nachweisen
konnten. Bereits 2002 lag die Anzahl der DaF-Lerner auch schon in den
Grundschulen niedriger als die der Englisch-Lerner (vgl. Tabellen 5, 6, 7):
Schuljahr Deutsch Englisch Französisch
2002/03 267.868 357.193 4004
2003/04 250.056 362.193 3709
2004/05 237.448 373.172 3519
2005/06 218.575 372.670 3309
Tabelle
5:
Deutschunterricht in den Grundschulen (Klassen 1-8) 2002-2006 (Quelle:
Ungarisches Bildungsministerium)
Schuljahr Deutsch Englisch Französisch
2002/03 121.523 160.888 21.329
2003/04 123.753 166.842 21.357
2004/05 122.151 170.450 22.302
2005/06 119.462 170.736 23.520
Tabelle
6:
Deutschunterricht in den Gymnasien (Klassen 9-12) 2002-2006 (Quelle:
Ungarisches Bildungsministerium)
Schuljahr Deutsch Englisch Französisch
2002/03 99.792 136.0941 5.983
2003/04 99.693 143.145 5.586
2004/05 97.284 146.790 4.882
2005/06 92.781 146.593 4.356
Tabelle
7:
Deutschunterricht in den Fachmittelschulen (Klassen 9-12) 2002-2006
(Quelle: Ungarisches Bildungsministerium)
Aus diesen Zahlen geht hervor, dass Deutsch vom Englischen verdrängt
wird, jedoch nicht in einem beängstigenden Maße. Deutsch driftet hinsichtlich
seiner Beliebtheit und Instrumentalisierbarkeit auf das Niveau der traditionell
von wenigen Schulen angebotenen Fremdsprachen wie Französisch, Italienisch
oder Spanisch ab. Auf jeden Fall stärkt Englisch seine Positionen nicht unbedingt
auf Kosten des Deutschen, denn es gibt Schuljahre, in denen beide
Fremdsprachen einen Zuwachs erfuhren.
89
Márta Müller
Die Infrastruktur des Deutschunterrichts verbesserte sich seit 1990 zweifellos:
Im Schuljahr 2000/2001 gab es 38-mal mehr Deutschlehrwerke und ergänzende
Unterrichtsmaterialien auf dem Markt als 10 Jahre zuvor. Die große
Auswahl lässt hoffen, dass sich auch die Brauchbarkeit und Beschaffenheit der
Sprachbücherverbesserthat. DiesistauchdeswegenvonBelang, weildieMehrheit
der ungarischen Deutschlehrer im Regelunterricht nur das Lehrwerk – aber
keineZusatzmaterialien –verwendet. Eskommtvor,dassSprachbücher,diefür
ein Schuljahr konzipiert sind, 3-4 Jahre lang in der Klasse behandelt werden,
weil die Lehrer Wichtiges vom Unnötigen nicht trennen können oder weil die
Lehrwerke über dem Sprachniveau der Schüler liegen. Auf der anderen Seite
werden Klassen – wegen der Fluktuation der Lehrer – innerhalb eines Schuljahres
von mehreren Lehrern aus zwei bis drei verschiedenen Sprachbüchern,
meist mit der Grammatik-Übersetzungsmethode unterrichtet. Die ungarischen
Sprachlehrer betrachten Lehrwerke immer noch als Mittel zur Bestimmung
der didaktischen Fragestellung „Was soll ich unterrichten¿‘ – und nicht zur
Bestimmung der methodischen Fragestellung „Wie soll ich unterrichten¿‘. Lokale
Lehrpläne werden aufgrund des Inhaltsverzeichnisses der Sprachbücher
geschrieben (vgl. Paul 2001: 1548). Schließlich sind die modernen Deutschlehrwerke
einsprachig – ein Manko für die meisten Lehrer, die teils mit großen
zielsprachlichen Mängeln zu kämpfen haben (vgl. Nikolov 2000: 853). Zwar
ist die Unterbezahlung der verbeamteten Lehrer und ihre hohe Arbeitsbelastung
ein ständiges Diskussionsthema auf den bildungspolitischen Foren, doch
ist die Kontraselektion – die Abwanderung besser qualifizierter Deutschlehrer
in den Wirtschaftssektor – nicht mehr so stark wie in den 1990ern. Wegen des
demografischen Wandels werden Stellen, die aus welchem Grund auch immer
frei geworden sind, nicht mit verbeamteten Lehrern, sondern mit provisorischen
Vertretungen besetzt oder gestrichen. Auch die seit 2008/2009 entfaltende
Wirtschaftskrise trägt dazu bei, dass ein bescheideneres, doch sicheres
Einkommen unter den Lehrern höher geschätzt wird, als eine besser bezahlte,
doch mit Risiken verbundene Stelle im Wirtschaftssektor.
3.4
Deutschunterricht außerhalb der öffentlichen Bildungseinrichtungen
nach der Jahrtausendwende
Während die privaten Sprachschulen in den 1980er Jahren im Grunde genommen
jenen Fremdsprachenunterricht vertraten, der von den öffentlichen Bildungseinrichtungen
nicht geleistet worden war, reduzierte sich ihre Tätigkeit
in den 1990ern nur auf die Korrektur des von den Schulen angebotenen Fremdsprachunterrichts
(vgl. Imre 2000: 711). In den 1990er Jahren schrieben sich
überwiegend Studierende und Erwachsene in die Sprachschulen ein. Nach 2000
beschränkt sich die Zielgruppe der Sprachkurse beinahe völlig auf Teenager
und junge Erwachsene zwischen 14 und 23 Jahren, die sich auf eine akkredi
90
Márta Müller
tierte Sprachprüfung vorbereiten wollen.20
Im Februar 2010 sind landesweit 51
zertifizierte Sprachschulen bei der Kammer der Sprachschulen registriert, davon
ist Deutsch zwar im Profil von 46 Sprachschulen vorhanden, doch werden
Deutschkurse wegen der heute schon sehr zurückgegangenen Nachfrage nicht
immer angeboten.
Fazit
Nach dem Zweiten Weltkrieg ist der Unterricht von Fremdsprachen in Ungarn
beinahe ein halbes Jahrhundert lang zum Spielball der Politik geworden.
Deutsch wurde durch das Russische als Pflichtschulfach aus seiner bis dahin
prestigeträchtigen Position in allen Schultypen und -stufen ausgestochen. Auch
nach 1958, als es wieder möglich geworden ist, Deutsch zunächst in den weiterführenden
Schulen, dann ab den 1970ern auch in den Grundschulen zu lernen,
waren die desolaten Umstände seines Unterrichts – niedrige Wochenstunden-
zahl, mangelhafte Lehrwerke und schulische Infrastruktur und die weitläufig
verbreitete grammatikalisierende Unterrichtsmethode – dafür verantwortlich,
dassnurWenigeSprachkundigenprüfungen aufgrunddesinder Schuleerworbenen
Wissens ablegen konnten. In den 1980er Jahren stieg – infolge der Öffnung
des Landes gegenüber den kapitalistischen Ländern – die Motivation in der Bevölkerung,
Fremdsprachen zulernen. DasInteresseerstrecktesich vor allemauf
das Deutsche, weil Deutsch – da deutschsprachige Kenntnisse sowohl beruflich
als auch privat von Vorteil waren – im mittel-und südost-europäischen Raum
für die regionale Verkehrssprache par excellence gehalten wurde.
Die 1990er Jahre können als das goldene Jahrzehnt der Sprachen in Ungarn
bezeichnet werden, denn das Zusammenwirken mehrerer Faktoren hat ergeben,
dass das bis dahin nur vor sich hinvegetierende, meist ziellose und uneffektive
Fremdsprachenlernen wieder belebt werden konnte. Solche Faktoren waren die
Liberalisierung der Fremdsprachenwahl in den Schulen; die steigenden Ansprüche
der ungarischen und multinationalen Firmen; die Gründung von Schulen,
die frühen Fremdsprachenunterricht oder zweisprachigen Unterricht angeboten
haben oder die Einführung der zweiten Fremdsprache in den Grundschulen.
Der stürmischen Expansion bot nur der Mangel an sprachlich und sprachpädagogisch
qualifizierten Fremdsprachenlehrern Einhalt. Deutsch hat seine Spitzenposition
unter den frei wählbaren Fremdsprachen bis zur Mitte der 1990er
Jahre halten können, in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts wurde zunächst an
den Mittelschulen zunehmend Englisch als Fremdsprache gewählt.
Nach der Wende wurden in Ungarn die wichtigsten, zum erfolgreichen
Fremdsprachenlernen nötigen Peripherien in 10 Jahren erschaffen: Seit dem
Jahr 2000 ist das Angebot an regionalen und multinationalen Lehrwerken sehr
20Bis 2005 konnte das Abitur in einer fremden Sprache durch den Nachweis einer akkreditierten
Mittelstufenprüfung abgelöst werden.
91
Márta Müller
groß; alle Mittelschulen und die meisten Grundschulen haben Räumlichkeiten,
in denen mit audiovisuellen Medien oder mit Sprachlernsoftware in geteilten
oder ganzen Klassen gearbeitet werden kann. Das Bildungsministerium versucht
häufiger mit Verordnungen, seltener mit Programmen – wie 2003 mit
der Einführung der sprachlichen Vorbereitungskurse in den Null-Jahrgängen
der Mittelschulen – auf die Bedürfnisse der Eltern und Schüler sowie auf die
internationalen Veränderungen zu reagieren. Der Markt der Sprachschulen
scheint sich – nach der Hochkonjunktur in der ersten Hälfte der 1990er Jahre –
beruhigt zu haben, ein Indiz dafür, dass auch das Niveau des Fremdsprachenunterrichts
an den öffentlichen Bildungseinrichtungen und infolge dessen die
allgemeinen Fremdsprachenkenntnisse der Ungarn gestiegen sind.
Die jüngste Geschichte des Fremdsprachenunterrichts in Ungarn ist von raschen
Umorientierungen gekennzeichnet: Nach 1945 wurden Deutschlehrer zu
Russischlehrern umgeschult, 45 Jahre später dann erfolgte die Umschulung in
umgekehrter Richtung. Eine weitere Umstrukturierung ist nach dem Inkrafttreten
der 2006 verkündeten Verordnung des Englischen als Pflichtschulfach ab
2010 zu befürchten: Der Bedarf an Englisch und den entsprechenden Lehrkräften
wird zum Nachteil anderer Fremdsprachen und ihrer Lehrer wachsen,
letztere werden aus Existenzgründen womöglich wieder zu Zusatzstudien gezwungen.
Zwar wird vom Bildungsministerium durch diese Verordnung eine
gewisse Chancengleichheit angestrebt, doch eine gerade durch diese bildungspolitische
Maßnahme bedingte Polarisierung der Gesellschaft ist nicht auszuschließen:
Die Schere zwischen Schulen, die sowohl in qualitativer als auch in
quantitativer Hinsicht vorzüglichen Fremdsprachenunterricht anbieten können,
und Schulen, in denen nur Englisch unterrichtet wird, wird sich beträchtlich
öffnen.
Deutsch blieb im Zeitalter der Globalisierung im Wettlauf mit Englisch auf
der Strecke: Aus einer führenden, dann gleichgestellten Position vor beziehungsweise
nach der Wende fiel es auf den Rang der zweitwichtigsten Fremdsprache
in Ungarn zurück. Nichts deutet darauf hin, dass es in der nahen
Zukunft an Dominanz zunehmen könnte. Viel wichtiger wäre daher zu verhindern,
dass Deutsch nur zu einer von vielen Fremdsprachen in Ungarn wird.
Hierfür liegen bisher noch nicht ausreichend ausgeschöpfte Möglichkeiten in
dem fächerübergreifenden Deutschunterricht, in dessen Rahmen der Sprachstoff
an den Sachstoff anderer Schulfächer gekoppelt vermittelt wird (zum Beispiel
wird die Komparation der deutschen Adjektive mithilfe der Beschreibung
der Renngeschwindigkeit verschiedener Tiere geübt) beziehungsweise in dem
zweisprachigen Unterricht.
92
Márta Müller
Literatur
Az általános iskolai nevelés és oktatás terve. A fakultatív foglalkozások
programja. Orosz, angol, német és francia nyelv (1984) [Erziehungs-und
Bildungslehrplan für die Grundschulen. Russisch, Englisch, Deutsch und
Französisch (1984)]. Budapest.
Csizér, Kata/Dörnyei, Zoltán Németh, Nóra (2004): A nyelvi attitûdök
és az idegen nyelvi motiváció változásai 1993 és 2004 között Magyarországon
[Veränderungen in den sprachlichen Attitüden und in der fremdsprachlichen
Motivation zwischen 1993 und 2004 in Ungarn ]. In: Magyar Pedagógia.
2004/4. 393-408.
Dörnyei, Zoltán/Medgyes, Péter (1987): Nyelvoktatás – kisvállalkozásban
[Sprachunterricht – im Kleinunternehmen]. In: Kritika. 1987/12, 31-35.
Einhorn, Ágnes (2000): Idegennyelv-tanítás a szakképzõ iskolákban
[Fremdsprachenunterricht an den Fachmittelschulen]. In: Educatio. 2000/4,
691-700.
Földes, Csaba (2000): Was ist die deutsche Sprache wert? Fakten und
Potenzen. In: Wirkendes Wort. 2000/2, 275-296.
Gergely, Jenõ/Izsák, Lajos (2000): A huszadik század története [Die
Geschichte des 20. Jahrhunderts]. O.O.: Pannonica. (= Ungarische Jahrhunderte
Bd. 10)
Imre, Anna (2000): Idegennyelv-oktatás a 90-es években [Fremdsprachenunterricht
in den 90er Jahren]. In: Educatio. 2000/4, 701-716.
Kardos, József/Kornidesz, Mihály (1990): Dokumentumok a magyar
oktatáspolitika történetébõl I. (1945-1950) [Dokumente aus der Geschichte der
ungarischen Bildungspolitik I. (1945-1950)]. Budapest: 1990.
Laki, Mihály (2006): Az idegennyelv-oktatási piac átalakulása [Der Wandel
des Fremdsprachenunterricht anbietenden Marktes]. In: Közgazdasági Szemle.
2006/10, 880-901.
Nagy, Lajos Géza (1989): A kettészakadt társadalom [Die zweigeteilte
Gesellschaft]. In: Jel-Kép. 1989/4, 55.
Nikolov, Marianne (2000): Nyelvkönyvekrõl – rendhagyóan [Über Sprachbücher
– mal anders]. In: Educatio. 2000/4, 852-854.
93
Márta Müller
Nikolov, Marianne (2003): Az idegennyelv-tanítás megújulásának hatásai
[Auswirkungen der Erneuerung des Fremdsprachenunterrichts]. In: Új Pedagógiai
Szemle. 2003/3, 46-57.
Paul, Rainer (2001): Deutschunterricht und Germanistikstudium in
Ungarn. In: Helbig, Gerhard / Götze, Lutz / Henrici, Gert / Krumm,
Hans-Jürgen (Hg.): Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch.
Berlin / New York 2001, 1544-1551.
Petneki, Katalin (2006): Mit ér a nyelvtudás, ha nem angol? [Was sind
Fremdsprachenkenntnisse wert, wenn sie nicht englische sind?] In: Modern
Nyelvoktatás. 2006/2, 50-56.
Petneki, Katalin/Szablyár Anna (1998): Lehrbücher und Lehrwerke des
Deutschen im ungarischen Kontext. Budapest 1998.
Részletes útmutatások az általános iskola tantervéhez. Német nyelv (1946)
[Detaillierte Hinweise zum Lehrplan der Grundschule. Deutsche Sprache
(1946)]. 19. füzet. Budapest.
Romsics, Ignác (2005): Magyarország története a XX. században [Die
Geschichte Ungarns im 20. Jahrhundert]. Budapest 2005.
Sáska, Géza (2001): „Jó, hogy vége a nyolcvanas éveknek és nem jön újra
el¡‘ [„Gut, dass es mit den achtziger Jahren vorbei ist und dass sie nicht wieder
kommen¡‘ ]. In: Iskolakultúra. 2001/2, 45-62.
Szávai, Nándor (1949): Pedagógusaink és az új tanév [Unsere Pädagogen
und das neue Schuljahr]. In: Köznevelés. 1949/18, 489-490.
Szépe, György (2000): Nyelvészeti és nyelvpolitikai megjegyzések [Linguistische
und sprachpolitische Anmerkungen]. In: Educatio. 2000/4, 639-650.
Szilágyiné Hodossy, Zsuzsanna (2006): Általános iskolai idegennyelvoktatás:
történet, elemzés (1945-1995) [Fremdsprachenunterricht in der
Grundschule: Geschichte, Analyse (1945-1995)]. Budapest 2006.
Tanterv és utasítás (1961). Az általános iskolai német nyelvi tanfolyamok
számára [Lehrplan und Verordnung (1961). Für die Deutschkurse in den
Grundschulen]. Budapest 1961.
94
Márta Müller
Tanterv és utasítás (1967). Az általános iskolák szakosított tantervû idegen
nyelvi osztályai számára [Lehrplan und Verordnung (1967). Für die speziellen
fremdsprachlichen Klassenzüge in den Grundschulen]. Budapest 1967.
Vágó, Irén (2000): Az idegennyelv-oktatás fõ tendenciái a 80-as és 90-es
években [Die wichtigsten Tendenzen des Fremdsprachenunterrichts in den
’80er und ’90er Jahren]. In: Educatio. 2000/4, 668-690.
Vágó, Irén (2000): Az oktatás tartalma [Der Inhalt des Unterrichts]. In:
Halász, Gábor/Lannert, Judit (Hg.): Jelentés a magyar közoktatásról 2000.
Budapest 2000, 169-238.
Zalán-Szablyár, Anna (1987): Deutsche Lehrwerke aus Verbrauchersicht –
Lehrwerke mit multinationalen und soziologisch undefinierten Zielgruppen –
und ihr Für und Wider. In: DUfU. 1987/2-3, 21-34.
Internetquellen
www1: www.nyelviskola.hu
www2: http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/ebs/ebs_
243_sum_hu.pdf
www 3: http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/ebs/ebs_
243_sum_hu.pdf
Erhebung der EU von 2005 zum Thema „Die Europäer und
ihre Sprachen“.
95
Die Situation des Schulwesens für die deutsche
Minderheit in Ungarn. Vom Kindergarten bis
zur Schule
Dr. Márta Müller (PhD)
Eötvös-Loránd-Universität
Ungarndeutsches Forschungs-und Lehrerausbildungszentrum
Rákóczi út 5.
1088 Budapest
1 Einführung
Das Deutsche besitzt in Ungarn sowohl historisch-politisch als auch wirtschaftlichfundierteTraditionen,
mandenkeeinerseitsandiemitHilfederbayerischen
Ritter und Missionare vollzogene Staatsgründung, die Österreich-Ungarische
Monarchie, die Einführung des Deutschen als Amtssprache in den ungarischen
Schulen im Jahre 1784 und andererseits an die Brückenfunktion des Deutschen
zwischen Ost und West in und nach der Ära des Sozialismus. Dieses weit in
die Geschichte Ungarns zurückreichende Verbundenheitsgefühl zwischen Deutschem
und Ungarischem ist auch in der ungarischen öffentlichen Meinung fest
verankert. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die letzte, im Jahre 2001
landesweit durchgeführte Volkszählung, die deutsche Sprache als Gewinner des
Wettrennens in der Kategorie „meist gesprochene Fremdsprache in Ungarn“
hervorbrachte (www1).1
Zurzeit wird die deutsche Sprache an den ungarischen
Schulen in zwei Unterrichtsformen angeboten: Sie kann entweder als
Fremdsprache (Deutsch als Fremdsprache, DaF) oder als Minderheitensprache
(Deutsch als Minderheitensprache, DaM) gelernt werden. Letztere UnterrichtsformwirdvondenSchulenaußerhalbvonBudapestvoralleminjenenRegionen
des Landes angeboten, in denen noch nicht völlig assimilierte deutschstämmige
Ungarn leben.2
Infolge der seit dem 19. Jahrhundert andauernden starken
Magyarisierungstendenz, aber besonders nach dem Zweiten Weltkrieg, verloren
1Auf dem sogenannten „Personenfragebogen“ der Volkszählung, der übrigens in 15 Sprachenerstelltwurde,
beschäftigtsichFrageNr. 22mitdenSprachkenntnissenderBevölkerung.
2Die drei großen Siedlungsräume der Ungarndeutschen sind die folgenden: (1.) Südungarn,
das heißt überwiegend in den Komitaten Branau/Baranya, Schomodei/Somogy, Tolnau/
Tolna und Batschka/Bácska; (2.) Ungarisches Mittelgebirge inklusive Agglomerationsgebiet
Budapest; (3.) österreichisch-ungarische Grenze.
96
Márta Müller
dievondenUngarndeutschengesprochenendeutschen Mundarten dermaßen an
Prestige und aktivem Gebrauch, dass sie von ihren autochthonen Sprechern im
21. Jahrhundert weder in der privaten Sphäre noch in der lokalen, zum Beispiel
dörflichen Öffentlichkeit als funktionale Erstsprache verwendet werden. Diese
Rolle hat bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die ungarische
Spracheübernommen, welcheauchzuVeränderungdesungarndeutschenSchulwesens
geführt und neue Herausforderungen und Aufgaben hervorgebracht hat.
Erstens musste die tradierende Funktion hinsichtlich der Literatur, Geschichte
und Kultur der Ungarndeutschen von den Kindergärten sowie den verschiedenen
Bildungseinrichtungen übernommen werden, zweitens mussten die betreffenden
Institutionen die Möglichkeiten wahrnehmen und nutzen, die in der
(wirtschaftlichen) Potenz der in den ungarndeutschen Schulen unterrichteten
deutschen Standardsprache wurzeln (vgl. Erb / Knipf 1999: 187).
Im vorliegenden Beitrag wird vorgestellt, welche Entwicklung die ungarndeutsche
Schullandschaft seit der Wende durchlaufen hat: Zuerst wird auf das
Minderheiten-und Bildungsgesetz als gesetzliche Grundlage für die spätere
Etablierung des ungarndeutschen Schulwesens eingegangen. Danach wird kurz
umrissen, wie die Minderheitenschulen, die spezielle Aufgaben erfüllen, finanziert
werden, welche Ziele diese Schulen verfolgt und wie die von der Schulleitung,
den Pädagogen und Schülern erbrachten Leistungen kontrolliert werden.
Schließlich werden Probleme aufgeführt, die, falls sie nicht rechtzeitig behoben
werden können, zu Konfliktquellen für das gesamte ungarische – das heißt
implizit auch für das ungarndeutsche – Schulwesen werden können.
Gesetzlicher Hintergrund
Der Unterricht für die deutsche Minderheit in Ungarn wird von dem Minderheitengesetz
(Nr. LXXVII) und von dem allgemeinen Bildungsgesetz (Nr.
LXXIX) – beide aus dem Jahre 1993 – ermöglicht und geregelt. §43. Absatz
(2) erlaubt, dass Kinder jedweder anerkannter Minderheit in Ungarn3
Unterricht
in ihrer Muttersprache beziehungsweise den Unterricht der Muttersprache
als Einzelfach erhalten dürfen. Wenn aber die Eltern von mindestens acht
Schülern, die der selben Minderheit angehören, auf einen Minderheitenunterricht
Anspruch erheben, wird aus der allgemeinen Geltung der Verordnung eine
zwingende: Der von den Eltern beantragte Minderheitenunterricht muss von
der lokalen Selbstverwaltung4
organisiert werden, ohne dass die dadurch zu3Nach
der Wende haben insgesamt 13 nationale und ethnische Gemeinschaften ihren Willenzur
Gründungvon lokalenundLandesselbstverwaltungensignalisiert: dieBulgaren,Kroaten,
Roma, Griechen, Polen, Deutschen, Armenier, Rumänen, Ruthenen, Serben, Slowaken,
Slowenen und die Ukrainer.
4Das heißt von der Selbstverwaltung des betreffenden Dorfes, der Stadt, oder im Falle der
Hauptstadt des betreffenden Bezirkes.
97
Márta Müller
sätzlich entstehenden Kosten die Eltern belasten würden (vgl. Doncsev 2004).
Nach der Verabschiedung des Minderheitengesetzes wurden in Ungarn vielerorts
Minderheitenschulen gegründet, oder zumindest Minderheitenklassenzüge
gestartet. Dies geschah auch aus dem Grund, dass die Schulen, die Minderheitenunterricht
angeboten hatten, von dem Staat erhöhte normative Unterstützung
erhielten, die dann nicht nur zum Zwecke der Förderung der Minderheitenschüler,
sondern auch für die Deckung von Ausgaben anderer Art genutzt
werden konnte. Dass das Minderheitengesetz nicht ins Detail gehend ausgearbeitet
war, hat sich erst nach mehr als 15 Jahren gezeigt: Der Parlamentsbeauftragte
(Ombudsmann) für die Rechte der nationalen und ethnischen Minderheiten
Ungarns beanstandet in seinem Jahresbericht5
über die Formen des
Minderheitenschulwesens, welche im Jahre 2008 in Ungarn vorzufinden waren,
dass Eltern mit Minderheitenhintergrund nur und ausschließlichzumZeitpunkt
der Einschulung des Kindes darüber entscheiden dürfen, ob das Kind am Minderheitenunterricht
teilnehmen soll (www2). Wird nämlich das Kind in eine
ausschließlich Minderheitenunterricht anbietende Schule eingeschult und wird
dieses den zusätzlichen Anforderungen der betreffenden Schule nicht gerecht,
kann es vom Minderheitenunterricht nicht enthoben werden. Dies bedeutet,
dass das Kind, um einen Ausweg finden zu können, an eine andere Schule vor
Ort oder in einer nahe liegenden Ortschaft wechseln muss. Dass diese Mahnung
des Ombudsmannes nicht aus der Luft gegriffen ist, beweist die Erfahrung
vieler Grundschulrektoren und Deutschlehrer6
vor allem an Schulen, die von
Schülern verschiedener Minderheiten besucht werden.
LautBeilageNr. 3. desallgemeinenBildungsgesetzesdürfenineinerKlasse,
in der Minderheitenunterricht erteilt wird, in den Klassenstufen 1-4. höchstens
26 Schüler, in den Klassenstufen 5-8. beziehungsweise in den Klassenstufen
9-10. der Berufsschulen höchstens 30 Schüler eingeschult werden. Diese Verordnung
ist verbindlich, in den ungarndeutschen Schulen in Südungarn jedoch,
wo die deutsche Minderheit vornehmlich in kleineren Siedlungen mit niedriger
Schülerzahl lebt, schaffen es die Minderheitenschulen nicht, sich diesem
Limit auch nur anzunähern7
– was zu fatalen Folgen führt, vor allem bei An
5Jahresbericht des Parlamentsbeauftragten für die Rechte der nationalen und ethnischen
Minderheiten Ungarns, Dr. Ernõ Kállai, über die Formen des Minderheitenschulwesens im
Jahre 2008, heruntergeladen am 29.10.2009.
6In Tschawa/Piliscsaba wurde nach der Wende eine zweisprachige Grundschule für die
deutsche Minderheit gegründet, in die nicht nur Ungarndeutsche, sondern auch Romakinder
und Kinder mit singulär ungarischer Abstammung aufgenommen werden. Der zweisprachige
Unterricht stellt manche Kinder vor überhöhte Anforderungen, deswegen wurde von einigen
Eltern der Schulleitung gegenüber signalisiert, dass sie ihre Kinder gerne aus dem Minderheitenunterricht
nehmen würden, ohne dass das Kind die Schule wechseln müsste. Dies ist aber
per Gesetz nicht möglich. Laut Aussage einer Grundschullehrerin führe das Unverständnis
der Eltern gegenüber der Gesetzeslage teilweise zu verbalen Attacken an Schulleitung und
Lehrer, welche die Zusammenarbeit zwischen Lehrern und Eltern insgesamt erschwert.
7Das allgemeine Bildungsgesetz erlaubt die Organisierung von Minderheitenunterricht,
auch wenn die Anzahl der Minderheitenschüler pro Jahrgang unter acht bleibt. In solchen
98
Márta Müller
tragstellungen dieser Schulen (zum Beispiel für die Finanzierung verschiedener
Projekte) beim Bildungsministerium.
Das Recht auf Minderheitenunterricht wird im Minderheitengesetz sowohl
demIndividuumalsauchderbetreffendenGemeinschaftzugesprochen. DieUngarndeutschen
haben dementsprechend das Recht, die Voraussetzungen für die
Minderheitenerziehung und den Minderheitenunterricht vom Kindergarten bis
hin zur Universität zu schaffen. Die lokalen Selbstverwaltungen, in deren Trägerschaft
die Minderheitenkindergärten und -schulen gehören, sind verpflichtet,
die Eltern darüber zu informieren, dass sie fürihre Kinder ihrer nationalen oder
ethnischen Zugehörigkeit entsprechende Kindergärten und Schulen suchen können,
und dass die Minderheitenerziehung und der Minderheitenunterricht nicht
identisch mit dem Fremdsprachenunterricht ist.8
Letzteres wird deshalb in der
Verordnung hervorgehoben, weil die Angebote der Minderheiteninstitutionen
der Ungarndeutschen – wohl wegen der wirtschaftlichen Bedeutung der deutschen
Sprache – nicht selten auch von Schülern beziehungsweise Studierenden
anderer Minderheiten sowie der Mehrheitsnation genutzt werden. Die Erklärung,
dass der Minderheitenunterricht kein Fremdsprachenunterricht sei, ist
seitens des Gesetzgebers verständlich: Der Staat will einerseits das Geld der
Steuerzahler nicht für die Erfüllung zweckentfremdeter Aufgaben ausgeben, andererseits
will er in erster Linie gerade für die betreffenden Minderheiten einen
speziellen Unterricht sichern.9
Das Unterrichtsangebot der Institutionen der deutschen Minderheit in Ungarn
ist aber nicht exklusiv. Es kann im Zeichen der gegenseitigen Toleranz
nicht nur von den deutschstämmigen, sondern von jedem Staatsbürger Un-
Fällen müssen die betroffenen Schüler aus höchstens drei Jahrgängen zusammengezogen werden
und der Minderheitenunterricht wird in diesen „zusammengezogenen“ Klassen erteilt.
Die Stundenpläne der verschiedenen Jahrgangsstufen werden aufeinander so abgestimmt,
dass allen Schülern ermöglicht ist, am Minderheitenunterricht teilzunehmen.
8Verordnung des Bildungsministeriums Nr. 32 aus dem Jahre 1997 über die Richtlinien
der Erziehung und des Unterrichts an Minderheitenkindergärten und -schulen. Bei Meinungen
darüber, ob die an den Minderheitenschulen unterrichtete deutsche Sprache selbst für
die Ungarndeutschen eine fremde Sprache sei, scheiden sich die Geister. In gewisser Hinsicht
wird die deutsche Sprache auch von denen, die in der Mundart sozialisiert wurden, beinahe
als eine fremde Sprache empfunden, vor allem im Falle jener Mundarten (so zum Beispiel
der bairischen), deren Aussprache, Morphosyntax und Lexik stark von der – auch in den
Schulen unterrichteten – gegenwärtigen deutschen Standardsprache divergieren. Die Ende
der 1960er, Anfang der 1970er Jahre beziehungsweise später geborenen ungarndeutschen Generationen
wurden von ihren Eltern aus politisch-sozialen Gründen zunehmend auf ungarisch
erzogen, für sie beziehungsweise die Kinder dieser Generationen – die übrigens gerade zur
Zeit der Entstehung dieses Beitrags die schulische Ausbildung durchlaufen – ist die deutsche
Standardsprache tatsächlich eine fremde.
9Dennoch hat die Erklärung keine Wirkung, denn die Eltern nehmen – auch wenn sie
sich mit einer anderen Minderheit oder der Mehrheitsnation verbunden fühlen – dafür,
dass Deutsch mindestens 5 Stunden pro Woche beziehungsweise bestimmte Schulfächer auf
Deutsch unterrichtet werden, gerne in Kauf, dass ihre Kinder mit kulturspezifischen Inhalten
über die Ungarndeutschen bekannt gemacht werden.
99
Márta Müller
garns wahrgenommen werden.10
In Anbetracht dessen, wie schwer und wie
lange die deutsche Minderheit in Ungarn nach dem Zweiten Weltkrieg entrechtet
und stigmatisiert wurde, ist die positive Einstellung gegenüber den ungarndeutschen
Institutionen eine zwar rationale, aber auch willkommene Wendung
in der Attitüde der ungarischen Mehrheitsnation gegenüber den Ungarndeutschen.
Von dieser positiven Attitüde profitieren sowohl die Schüler als auch die
Träger der ungarndeutschen Institutionen, weil die normative Unterstützung
auf der Basis der Schülerzahlen (nichtungarndeutschen und ungarndeutschen)
errechnet wird.
3
FinanzierungderspeziellenAufgaben derMinderheitenerziehung
und des Minderheitenunterrichts:
diezusätzlichenormative Unterstützung
Der ungarische Staat stellt für die Verwirklichung der Minderheitenerziehung
(im Kindergarten) und des Minderheitenunterrichts (in der Schule) über die
allgemeinen Quellenhinaus einejeweils fürein Kalenderjahr errechnete, zusätzliche
normative Unterstützung bereit. Die Höhe dieses Beitrags und die Bedingungen
seiner Inanspruchnahme werden jedes Jahr vom ungarischen Parlament
im Rahmen des Gesetzes über den Haushaltsetat beschlossen. Im Jahre 2009
berechnete sich diese zusätzliche normative Unterstützung im Falle der zweisprachigenSchulenauf75.000,-
Ft/Schüler/Jahr.11
Diesezusätzlichenormative
Unterstützung darf von den Trägern der Kindergärten und Schulen abgerufen
werden, wenn letztere unter Beweis stellen können, dass sie den speziellen
Anforderungen der Minderheitenerziehung beziehungsweise des Minderheitenunterrichts
nachkommen können, das heißt wenn ihre Gründungsurkunde eine
10So willkommen die positive Einstellung der nichtungarndeutschen Eltern, die ihre Kinder
in ungarndeutsche Minderheitenschulen einschreiben lassen, gegenüber den ungarndeutschen
Schulen auch ist, so wirkt sich gerade dieser Umstand beeinträchtigend auf das Bild aus,
welches man sich von denrealen Gegebenheitendes ungarndeutschen Bildungswesens machen
kann, denn es ist unmöglich festzustellen, wie viele Kinder tatsächlich deutscher Herkunft
die Schule besuchen (Imre 2004).
1175.000,-Ft entsprechen am 31.10.2009 bei einem Wechselkurs von 275 Ft/1 Euro etwa
273,269 Euro. Im Jahre 2006 haben dieselben Minderheitenschulen für denselben zweisprachigen
Unterricht eine zusätzliche normative Unterstützung von 71.500,-Ft (260,516
Euro) bekommen. Die Inflationsrate betrug dem Bericht der Ungarischen Nationalbank vom
19.01.2009 zufolge im Jahre 2008 etwa 6,1% – von der Inflationsrate der Jahre 2007 und vor
allem 2009 ganz zu schweigen. Es wird aus den Zahlen leicht ersichtlich, dass die Summe
der normativen Unterstützung sich im Laufe der Jahre nicht einmal nach der Höhe der
allgemeinen Inflationsrate richten konnte: die zusätzliche staatliche Unterstützung für den
Minderheitenunterricht nimmt von Jahr zu Jahr ab.
100
Márta Müller
Erklärung über die Erfüllung der zusätzlichen Aufgaben der Minderheitenerziehung
und des Minderheitenunterrichts beinhaltet.12
Das Schulwesen der Deutschen in Ungarn wird hauptsächlich durch die
finanzielle Unterstützung seitens des ungarischen Staates und der jeweiligen
Träger gesichert, in den Jahren 2007 und 2008 konnte man aber auch durch
Bewerbungen bei Programmausschreibungen der ungarischen Nationalen Entwicklungsagentur13
an bedeutende finanzielle Quellen kommen, die für die Verbesserung
der schulischen Infrastruktur hätten genutzt werden können.14
Um das Problem der geringen Schülerzahl als Hindernis bei der Ausführung
von gesetzlich zwingend vorgeschriebenen unterrichtspolitischen Aufgaben aus
dem Weg zu schaffen, treffen immer mehr kommunale -und Minderheitenselbstverwaltungen
von kleineren Ortschaften die Entscheidung, sich zusammenzuschließen
oder ihre einzelnen kleineren bis dahin selbständigen Kindergärten
und Schulen in größere (Schul)Formationen15
einzugliedern (Hock-Englender
2007: 9): Dadurch wächst rein administrativ die Anzahl der Minderheitenschüler
einerseits, andererseits werden einige, durch die Integration überflüssig
gewordene Leitungsposten in dem Haushaltsetat der lokalen Selbstverwaltung
gestrichen und somit letzten Endes sogar Geld gespart.16
12Wenn es in der Ortschaft einer Minderheiteninstitution keine Selbstverwaltung der betreffenden
Minderheit gibt, muss man bei der Landesselbstverwaltung eine Stellungnahme
darüber einholen, dass der Kindergarten beziehungsweise die Schule eine Minderheitenerziehung
und/oder einen Minderheitenunterricht erteilt, die beziehungsweise der den gesetzlichen
Vorschriften entspricht.
13Die Nationale Entwicklungsagentur [ung. Nemzeti Fejlesztési Ügynökség] wurde 2006
von der Gyurcsány-Regierung gegründet, um die effektive Verteilung und Verwendung der
EU-Gelder in Ungarn zu koordinieren.
14Zwar können durch die Ausschreibungen der Nationalen Entwicklungsagentur die Unterschiede
zwischen den einzelnen Schulen besser berücksichtigt werden, jedoch birgt die
Teilnahme an einem solchen Ausschreiben den großen Nachteil der akribischen und äußerst
zeit-beziehungsweise energieaufwendigen Vorbereitung, Abwicklung und Nachbereitung der
manchmal die Grenze der Unübersichtlichkeit erreichenden Fragebögen und Unterlagen, der
viele Schulen von der Bewerbung selbst und dadurch mittelbar von der Möglichkeit der
Weiterentwicklung abschreckt. Darüber hinaus, dass weder die Schulen noch ihre Träger
Kapazitäten für die Zusammenstellung irgendwelcher Bewerbungen um EU-Gelder haben,
können manche Ausschreibungen Bedingungen beinhalten, die gerade Minderheiteninstitutionen
– zu deren Zwecke diese Ausschreibungen im Grunde genommen erstellt wurden – aus
der Bewerbung ausschließen und dadurch diskriminieren.
15Die Kreiszentralisierung hat die ungarischen – samt ungarndeutschen – Schulen nach
35-40 Jahren wieder ereilt: zuerst wurden in den 1970er Jahren kleine Dorfschulen und
Gehöfteschulen in Ungarn zwangszentralisiert (vgl. Kerner 2004: 45).
16UndeswirdindenlokalenSelbstverwaltungenan allen Ecken undEndengespart, denn es
wird zwar die zusätzliche normative Unterstützung für die den Minderheitenunterricht erteilenden
Schulen auf das Konto der Selbstverwaltungen, in deren Trägerschaft die betreffenden
Schulen sind, überwiesen, doch die Selbstverwaltungen selbst sehen sich wegen der Unterfinanzierung
ihrer anderen, per Gesetz ebenfalls vorgeschriebenen Funktionen (zum Beispiel
im lokalen Gesundheitswesen, Kinderschutz oder in den Sozialleistungen) gezwungen, ihre
eigene Unterstützung um die Summe der staatlichen zusätzlichen normativen Unterstützung
zukürzen. VielenMinderheitenschulen,dieüber denDurchschnitthinausgehendenAufgaben
101
Márta Müller
4 Minderheitenerziehung im Kindergarten
Der Kindergartenalltag muss gemäß der Verordnung Nr. 32. des Bildungsministeriums
aus dem Jahre 1997 entweder (a) völlig in der Minderheitensprache
Deutsch oder (b) zweisprachig, das heißt teils ungarisch, teils deutsch organisiert
werden. In welchem Verhältnis die zwei Sprachen von den Kindergärtnerinnen
und den Kindern im Kindergartenalltag benutzt werden sollen, wird
in den lokalen Erziehungsprogrammen der einzelnen Kindergärten festgelegt.
Meistens beinhalten die lokalen Erziehungsprogramme den Hinweis, dass der
Gebrauch der zwei Sprachen von den muttersprachlichen Kompetenzen der eingeschriebenen
Kinder abhängt. Gerade diese Klausel macht es leider möglich,
die deutschsprachige Kommunikation im Kindergarten auf ein suboptimales
Minimum zu reduzieren. Zwar wird der Ausgleich der ungarischen und der
deutschen Sprachkompetenz als höchstes Ziel in der Erziehung der Kinder im
Vorschulalter angestrebt (vgl. Frank 2001: 9), doch dieses Ziel bleibt – zumindest
bis zum Ende der im Kindergarten verbrachten drei Jahre – auch in vielen
zweisprachigen Minderheitenkindergärten ein unerfüllter Wunsch.
AuseinerBestandsaufnahme, durchgeführtvonderLandesselbstverwaltung
der Ungarndeutschen im Jahre 2002, stellte sich heraus, dass Sprechanlässe
(zum Beispiel Begrüßung; für etwas danken; sich über das eigene Befinden
äußern; den Wohnort nennen) während des Tagesablaufes in den meisten ungarndeutschen
Kindergärten nicht genutzt wurden, um die deutsche Sprache
den Kindern näher zu bringen (vgl. Mammel 2004: 72). Ein schulreifes Kind
von sechs bis sieben Jahren ist imstande in seiner Muttersprache über Themen,
die seinem Alter und dem egozentrischen kindlichen Weltbild entsprechen, in
einfachen zusammenhängenden Sätzen zu sprechen. Kinder, die eine zweisprachige,
ungarisch-deutsche Minderheitenerziehung genossen haben, können sich
nur auf der Wortebene oder höchstens in Kernsätzen, die sich auf Alltagsroutinen
beschränken, auf Deutsch verständigen. Der Grund hierfür liegt höchstwahrscheinlich
darin, dass die funktionale Erstsprache der Kindergärtnerinnen
die ungarische ist, und mit der durchgehend standarddeutschen Erziehung sich
selbst die sprachlich und methodisch gebildeten Minderheitenkindergärtnerinnenschwertun.
AndieserSituationkönntenurdadurchetwasgeändertwerden,
wenn die Kindergärtnerinnen der deutschen Minderheit in Ungarn eine fundier
nachkommen, welche notgedrungen mit Extraausgaben verbunden sind, müssen mit exakt
denselben Finanzen klarkommen, die auch den Minderheitenaufgaben nicht erfüllenden ungarischen
Schulen zur Verfügung stehen (vgl. Márkus 2007: 117). Solche Extraausgaben
sind zum Beispiel die Einstellung und die ebenfalls durch Ministerialverordnung zwingend
vorgeschriebene Weiterbildung von Lehrern, die DaM sowie Fachunterricht (meistens Volkskunde
der Ungarndeutschen, Geschichte, Geographie, Musik und Sport) in der deutschen
Sprache erteilen können oder die Anschaffung von deutschsprachigen Lehrwerken, Lehrmaterialien
und die dazu nötigen Medien. Berufstätige Pädagogen sind verpflichtet, 7-jährlich
an akkreditierten Fortbildungen teilzunehmen (vgl. Bildungsgesetz §19, Abs. [5]; zit. nach
Heves 2004: 23).
102
Márta Müller
tere deutschsprachige (fach-und allgemeinsprachliche) Ausbildung absolvieren
müssten. Darüber hinaus wäre ein in die Ausbildungscurricula integrierter
Austausch von ungarischen und deutschsprachigen Studierenden wünschenswert.
Eine seitens der deutschsprachigen Länder Europas kommende gezielte
Unterstützung und Förderung hierfür17
wäre natürlich eine sehr große Hilfe
(vgl. Földes 2006: 979).
Solange aber das sprachliche Niveau der überwiegenden Mehrheit der KindergärtnerinnenandenMinderheitenkindergärtennichterhöhtwird,
kannauch
nicht damit gerechnet werden, dass sich die deutschsprachigen Kompetenzen
der Vorschulkinder verbessern. Der Bedarf an Minderheitenkindergärten, die
eine deutschsprachige Erziehung anbieten, ist seit Jahren ungebrochen groß.
Ein Indiz dafür, dass viele Eltern auch das deutschsprachige Minimum, mit
dem die sechsjährigen Kinder den Minderheitenkindergarten verlassen, sehr
hoch schätzen.
Minderheitenerziehung und -unterricht in der
Schule
An den Minderheitenschulen werden über die allgemeinen Inhalte hinaus, die
auch an den ungarischen Schulen gelehrt und gelernt werden, die Bildung der
deutschen Minderheit in der deutschen Sprache und das Kennenlernen der Geschichte,
Kultur und Rechte der deutschen Nationalität in Ungarn angestrebt.
Für die Gestaltung der lokalen Lehrpläne der ungarischen Schulen geben zwei
zentral erlassene Dokumente verbindliche Richtlinien: Einerseits der ungarische
Nationale Grundlehrplan [ung. Nemzeti Alaptanterv] aus dem Jahre 1995,
der die allgemeinen Prinzipien des Unterrichts sowie der schulischen Erziehung
beinhaltet, andererseitsdiesiebenJahrespäter(2002)erlasseneVerordnungdes
BildungsministeriumsüberdiesogenanntenRahmenlehrpläne.18
Letzterebein
17Wenn entweder die Studierenden des Studienganges Kindergartenpädagogik DaM mindestens
ein ganzes Jahr an deutschsprachigen Kindergärten im Ausland verbringen könnten,
oder die Minderheitenkindergärten in Ungarn deutschsprachige Studentinnen aus dem
Ausland empfangen könnten. Es gibt zu der Zeit der Entstehung dieses Beitrags erste –
erfolgreiche – Initiativen, durch die Praktikantinnen aus Deutschland unterstützt durch den
Europäischen Freiwilligendienst an ungarndeutsche Nationalitätenkindergärten und -schulen
geholtwerden,wo sieinden Deutschunterrichteingebunden werden. Eine derartigeKooperation
unterstützt sowohl die natürliche als auch die institutionell gesteuerte Sprachvermittlung
und schafft auch für die ungarischen Erzieherinnen und Lehrerinnen eine multikulturelle Umgebung,
in der beide Parteien nicht nur in puncto Sprache voneinander lernen können (vgl.
Lamperth-Molich 2009: 98).
18Die Rahmenlehrpläne sind im Vergleich zu dem Nationalen Grundlehrplan detaillierter
verfasste Dokumente, die gerade deswegen mit dem schnellen Wandel der Gesellschaft nicht
Schritt halten können. So fordert Hock-Englender bereits 5 Jahre nach ihrer Erstellung ihre
Überarbeitung und Erneuerung, da in ihnen die Parallelen zu dem Gemeinsamen Europäischen
Referenzrahmen der Sprachen, die Entwicklung der Schlüsselkompetenzen und u. a.
103
Márta Müller
halten im Gegensatz zu den ziemlich allgemein formulierten Leitsätzen des Nationalen
Grundlehrplans bereits ins Konkrete gehende Anweisungen und Mindestanforderungen
für die Gestaltung der lokalen pädagogischen Programme
– bestehend aus dem Erziehungsprogramm und aus dem lokalen Lehrplan der
einzelnen Schulen.19
Der Minderheitenunterricht an den ungarndeutschen Schulen darf aufgrund
des Minderheitengesetzes auf allen Schulstufen (Primarbereich: Klassen 1. bis
4; Sekundarstufe I.: Klassen 5 bis 8 und Sekundarstufe II.: Klassen 9 bis 12) in
drei Formen angeboten werden. Im (a) sogenannten muttersprachlichen Programm
werden alle Schulfächer – mit Ausnahme der ungarischen Sprache und
Literatur – auf Deutsch unterrichtet. Schulen für die deutsche Minderheit in
Ungarn, die diesemKriterium völligentsprechen, existieren zurZeit der Entstehung
vorliegenden Beitrags nicht (vgl. Frank 2001: 7), einerseits, weil die Eltern
befürchten, ihre Kinder könnten sich bei dem ungarischsprachigen Abitur,
das als Zulassungsprüfung für die ungarischsprachigen B.A.-Studiengänge gilt,
anderen gegenüber, die ungarischsprachige Schulen besucht haben, im Nachteil
befinden. Andererseits – und dies trifft auch für die nächste Form des Minderheitenunterrichts,
den zweisprachigen Unterricht zu –, weil es landesweit an
Lehrern, die deutschsprachigen Fachunterricht erteilen können, mangelt.
Die zweite Form der ungarndeutschen Schulen, in der (b) der Unterricht
zweisprachig erteilt wird, hat am Anfang der 1990er Jahre eine wahre Hochkonjunktur
erlebt, aber ihre Anzahl ist nach dem Erlass der Ministerialverordnung
1997 „Richtlinien zum schulischen Unterricht der nationalen und ethnischen
Minderheit“ stark zurückgegangen. In den Richtlinien wurden die Qualifikationsbedingungen
für die zusätzliche staatliche normative Unterstützung
verschärft (vgl. Frank 2001: 8), so dass einige Schulen, die diesen Bedingungen
nicht Genüge leisten konnten, ihren Minderheitenunterricht eingestellt und
dadurch den Status einer Minderheitenschule verloren haben. Im zweisprachigen
Programm müssen in mindestens 50% der Wochenstunden, das heißt
mindestens drei Schulfächern – zum Beispiel im Primarbereich deutsche Sprache
und Literatur, Volkskunde der Ungarndeutschen, Musik, Sport, Umwelt-
die Liste der für den deutschsprachigen Literaturunterricht kanonisierten literarischen Werke
fehlen (vgl. Hock-Englender 2007: 13).
19Den Nationalen Grundlehrplan und den Rahmenlehrplan als Grundlage nehmend erstellte
das ungarische Landesbildungsbüro für Dienstleistungen [ung. Országos Közoktatási
Szolgáltató Iroda] im Einverständnis mit der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen
und mit Bestätigung des Bildungsministeriums, 1995 und 1996 zwei Dokumente: den Lehrplan
Deutsch als Nationalitätensprache. Jahrgangsstufen 1-10. (1995) und die Lehrstoffempfehlungen
aufgrund des Nationalen Grundlehrplanes für ungarndeutsche Nationalitäten-
schulen. Jahrgangsstufen 1-10. (1996). Sie beinhalten Lehrstoffempfehlungen und Minimalanforderungen
für die Schulfächer DaM sowie für den deutschsprachigen Unterricht der
Schulfächer Geschichte, Volkskunde der Ungarndeutschen, Kunsterziehung und Musik. In
den beiden Dokumenten wird darauf hingewiesen, dass die einzelnen Schulen ihre eigenen
lokalen Lehrpläne um Inhalte, die sich aus der spezifischen Kultur, Geschichte und Sprache
der ungarndeutschen Ortsgemeinschaften ergeben, ergänzen sollten.
104
Márta Müller
kunde; im Sekundarbereich darüber hinaus am häufigsten Geographie oder
Geschichte (vgl. Hock-Englender 2007. 18) zehn -15 Stunden pro Woche auf
Deutsch gehalten werden. Die Entscheidung darüber, welche Schulfächer auf
Deutsch unterrichtet werden, fällt unter Berücksichtigung der vor Ort vorhandenen
Personalressourcen – das heißt der für den Minderheitenunterricht qualifizierten
Lehrkräfte – die Arbeitsgemeinschaft der lokalen Selbstverwaltungen,
welche für den Minderheitenunterricht zuständig ist, in Zusammenarbeit mit
der Schulleitung.
Die dritte Form der ungarndeutschen Schulen bietet (ca) entweder ein einfaches
Sprachlehrprogramm, oder (cb) ein erweitertes Sprachlehrprogramm
an.20
Innerhalb des einfachen Sprachlehrprogramms ist generell die ungarische
Sprache die Unterrichtssprache. Das Deutsche als Minderheitensprache
bildet, zwar in erhöhter Wochenstundenzahl, lediglich ein einziges Schulfach
ab der 1. Klasse. Das erweiterte Sprachlehrprogramm setzt sich das Ziel,
die Schüler auf den zweisprachigen oder muttersprachlichen Minderheitenunterricht
in der nächsten Schulstufe vorzubereiten. Innerhalb dieses erweiterten
Sprachlehrprogramms müssen mindestens drei Schulfächer in mindestens 35%
der Wochenstunden auf Deutsch unterrichtet werden. Die Schulen, die Minderheitenunterricht
in einem erweiterten Sprachlehrprogramm (cb) anbieten, gehen
nicht selten zum Typ (ca) über, da das erweiterte Sprachlehrprogramm im
Vergleich zum einfachen Sprachlehrprogramm vom ungarischen Staat keinerlei
zusätzliche Subventionen mehr erhält (vgl. Hock-Englender 2007: 9) und eine
kostenträchtigere Unterrichtsform aus bescheideneren Quellen von den Trägern
und der Schulleitung nicht mehr aufrechterhalten werden kann.
Wenn man die Leistungen der verschiedenen Schulformen miteinander vergleicht
(vgl. Márkus 2007: 116), stellt sich heraus, dass die deutschsprachigen
Kompetenzenderjenigen Schüleramgeringstensind, dieeineinfachesoderaber
erweitertes Sprachlehrprogramm anbietende Schulen besucht haben.21
20Wenn es die Anzahl der Schüler, die in einer Siedlung derselben Minderheit angehören,
nicht ermöglicht, dass die kommunale Selbstverwaltung und Schule für sie Minderheitenunterricht
organisiert, können sich die Eltern an die Landesselbstverwaltung der betreffenden
Minderheit wenden. Auf die Initiative letzterer wird der (cc) sog. „zusätzliche Minderheitenunterricht“
– in Form einer Lernergruppe vor Ort oder mithilfe von mobilen Minderheitenpädagogen
– von der Komitatsselbstverwaltung oder im Falle der Hauptstadt von der
Budapester Selbstverwaltung organisiert. Diese Form des Minderheitenunterrichts (cc) wird
von den Deutschen in Ungarn nicht genutzt.
21Die Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen will deswegen absichtlich nur die zweisprachigen
Unterricht erteilenden Schulen fördern, weil diese Schulen eine geeignete Übergangsform
zur Einführung des von der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen angestrebten
einsprachigen deutschen Minderheitenunterrichts darstellen (vgl. Frank 2001: 10).
105
Márta Müller
6
Ziele und Lehrwerkversorgung des Schulfaches
Deutsch als Minderheitensprache
Nach der Wende ist der Umgang mit der deutschen Sprache in Ungarn, dank
den deutschsprachigen Minderheitenkindergärten, dem deutschsprachigen Kabelfernsehen
und dem mühelos gewordenen Verkehr ins (deutschsprachige)
Ausland, viel unkomplizierter geworden. Von diesen Veränderungen bleiben
auch die (Vor)Schulkinder nicht unberührt: Immer mehr Kinder kommen mit
deutschsprachigen Vorkenntnissen völlig verschiedenen Niveaus in die Schulen,
die dann von den Grundschullehrerinnen so weit wie möglich in den Unterricht
eingeflochten werden müssen. Nach der Wende, als in kürzester Zeit viele Min-
derheitenschulen gegründet wurden, gab es eine heftige Debatte im öffentlichen
Diskurs, ob der frühe Fremdsprachenunterricht bei den Kindern nicht eine Störung
des Muttersprachenerwerbs verursacht.22
Der altersgemäß aufgebaute
frühe Fremdsprachenunterricht befähigt (gesunde) Kinder – falls sie auch mit
akzentfreien sprachlichen Mustern konfrontiert werden – sich eine authentische
Aussprache anzueignen (vgl. Boeckmann 2008: 7). Darüber hinaus erleichtert
der frühe Kontakt mit einer fremden Sprache die Erlernbarkeit von weiteren
Fremdsprachen, er steigert die Fähigkeit der Lautsegmentierung nicht nur in
der fremden, sondern auch in der Muttersprache. Erst das Erlernen einer
weiteren Sprache – außer der dominanten – macht den Kindern bewusst, dass
die individuelle Ausdrucksweise von den im mentalen Lexikon gespeicherten
lexikalischen Mitteln und Regeln abhängt. Diese Erkenntnis kann letzten Endes
die Kinder zur universell wirksamen – das heißt sprachenunabhängigen –
verbal-kognitiven Kreativität führen.
Der Deutschunterricht an den Minderheitenschulen basiert auf deutschsprachigen
Lehrwerken, dievon einigen Lehrwerkverlagen,23
mitbedeutender staatlicher
Unterstützung eigens zum Zwecke des Minderheitenunterrichts, erstellt
werden. Der Lehrbuchmarkt für den ungarndeutschen Minderheitenunterricht
ist heute bedeutend bunter, als vor zehn -15 Jahren – ganz zu schweigen
von der Situation vor der Wende, als das ganze Unterrichtswesen Ungarns
dermaßen zentralisiert war, dass überall im Lande, an jedweder Schule desselben
Typs, in derselben Klassenstufe zu demselben Zeitpunkt des Jahres,
22Zwar kann der Frühbeginn bei manchen Kindern die Herausbildung von Sprechfehlern
(zum Beispiel Stottern) sowie Legasthenie begünstigen, doch nur in Fällen, in denen die
entsprechenden Dysfunktionen im Kinde bereits latent vorhanden sind: Bestimmte LautBuchstaben-
Zuordnungen und das muttersprachliche Rechtschreibregelwissen besitzen im
Fremdsprachenunterricht keine Gültigkeit mehr. Bei Legasthenikern empfiehlt es sich daher
eher mit Fremdsprachen anzufangen, deren Rechtschreibung lauttreu ist, wie zum Beispiel
mit dem – mit einigen Ausnahmefällen – überwiegend lauttreu geschriebenen Deutschen, und
nicht mit dem Englischen (vgl. Brezing 2002).
232009 konnten nur bei folgenden Verlagen Lehrwerke für die verschiedenen Schulfächer
des ungarndeutschen Minderheitenunterrichts bestellt werden: Nemzeti Tankönyvkiadó Zrt.,
Konsept-H Kiadó und Croatica Kulturális, Információs és Kiadó Nonprofit Kft.
106
Márta Müller
aus demselben einzigen Lehrbuch dieselbe Lektion unterrichtet werden musste
– doch noch längst nicht an die Bedürfnisse des Minderheitenunterrichts angepasst:
„es [fehlt] an angemessenen Lehrbüchern in fast allen Bereichen des
Nationalitätenunterrichts“ (Hock-Englender 2007: 13), aber vor allem in dem
deutschsprachigen Fachunterricht in den Schulfächern Geschichte, Geographie,
Physik etc. Nachdem der Lehrbuchmarkt geöffnet worden war, haben einerseits
multinationale Lehrbücher24
Einzug – auch in den Minderheitenunterricht
DaM – gehalten, andererseits haben mehr Fachkundige den Mut gefasst, moderne
Lehrwerke für den DaM-Unterricht zu schreiben. Es war höchste Zeit,
dass letzteres geschieht, denn multinationale Lehrwerke des Deutschen sind im
Ausland konzipierte, verfasste und redigierte Sprachbücher, die zwar im Vergleich
zu den von Ungarn geschriebenen Lehrwerken ein angenehmeres Layout
aufweisen, authentischer wirken, und bei weitem weniger (grammatische,
lexikalische, pragmatische, orthographische und methodische) Fehler beinhalten
als ihre regionalen ungarischen Pendants. Allerdings sind sie auf einen
europäischen Durchschnittsschüler maßgeschneidert, und können gerade aus
letzterem Grund weder ein dem ungarischen Rahmenlehrplan angepasstes Minimum/
Optimum abgrenzen noch die (finno-ugrischen) ausgangssprachlichen
Besonderheiten der ungarischen Schüler berücksichtigen. Der ungarische Staat
übt auch auf dem Lehrbuchmarkt der Minderheiten – genauso, wie in anderen
Bereichen des Minderheitenschulwesens – eine Kontrollfunktion aus: Im
Minderheitenunterricht dürfen nur die Lehrwerke benutzt werden, die auf der
offiziellen Lehrwerkliste des Bildungsministeriums stehen. Die Minderheitenlehrwerke25
werden nämlich in einer geringen Auflage gedruckt, dementsprechend
sind ihre Erstellungskosten, von welchen ein erheblicher Teil nicht von
den Eltern, sondern vom Staat, in Form von an die Minderheitenschulen gerichteten
Zuschüssen getragen wird, ziemlich hoch. Deswegen ist es verständlich –
wirtschaftspolitisch sogar wohlerwogen – dass der Staat die Benutzung der mit
so viel Aufwand hergestellten Minderheitenlehrwerke restriktiv vorschreibt.
Zwar werden von dem Gesetzgeber alle Rechte gesichert, für die deutsche
24Von den ungarischen und ungarndeutschen Deutschpädagogen werden in ihrem Sprachunterricht
sehr oft Lehrwerke bevorzugt, die im Hueber Verlag (Ismaning) oder im Ernst
Klett Verlag (Stuttgart) erschienen sind. Nicht selten werden in den verbindlichen Unterrichtsdokumentender
Schulen die bibliographischen Angaben der für die deutsche Minderheit
erstellten, regionalen Sprachlehrwerke angegeben, doch im Unterrichtsalltag werden multinationale
Sprachbücher benutzt, weil diese detaillierter und überdachter ausgebaute Peripherien
wie zum Beispiel Arbeitsbücher, Lehrerhandreichungen, Empfehlungen für die Lehrstoffverteilung
über das ganze Jahr, Testhefte, zweisprachige Glossare, Audiomaterialien,
Aussprachetrainings beinhalten. Darüber hinaus betreiben die erwähnten deutschen Verlage
in Ungarn, in Form von regelmäßigen Präsentationen, auf denen die Teilnehmer kostenlose
Freiexemplare der neuesten Lehrwerkentwicklungen zum Ausprobieren geschenkt bekommen,
ein offenbar effektives Marketing, welches auch die ungarischen Verlage beherzigen könnten.
25Eine Übersicht über die vom Bildungsministerium zertifizierten Lehrwerke für den
Sprach-und Fachunterricht der Minderheiten in Ungarn – inkl. der Deutschen – gibt folgende
Homepage: www
107
Márta Müller
Minderheit in Ungarn deutschsprachigen Unterricht in allen Schulstufen und
an allen Schultypen anzubieten, doch die personellen Umstände, vor allem der
Mangel an sprachlich gut ausgebildeten Fachlehrern sowie das Desinteresse
der Eltern gegenüber Schulen, die – mit der einzigen Ausnahme des Ungarischen
– alle Schulfächer auf Deutsch unterrichten würden, hindert die Verwirklichung
des muttersprachlichen Schultyps (Typ [a]). Die überwiegende
Mehrheit der Minderheitenschulen – inklusive ihrer Träger und der Eltern
– gibt sich mit dem sprachlehrenden Minderheitenunterricht zufrieden, auch
wenn die Deutschkenntnisse der Schüler, die „nur“ einen sprachlehrenden DaM-
Unterricht genossen haben, im Vergleich zu dem Sprachniveau ihrer Altersgenossen,
welche am zweisprachigen Minderheitenunterricht teilgenommen haben,
weit zurück bleiben (vgl. Márkus 2007: 116, 125). Da die Ungarndeutschen,
die im 21. Jahrhundert eine schulische Ausbildung durchlaufen haben
oder noch durchlaufen werden, in ihren Familien nach ihrem Eintritt in die
Schule, also ab dem sechsten bis siebten Lebensjahr beinahe ausnahmslos ungarisch
erzogen wurden und werden, nimmt die Verantwortung der Bildungsträger
zu, die im schulischen Rahmen zweisprachig ablaufende Sozialisation
für die Eltern attraktiv zu machen und somit für die Zukunft der deutschen
Minderheit im Bildungswesen zu sorgen.
7 Evaluation und Qualitätskontrolle
Gemäß §40., Absatz 10 des Bildungsgesetzes aus dem Jahre 1993 muss jede Bildungseinrichtung
in Ungarn ihre eigene Qualitätspolitik bestimmen, damit die
Erfüllung der Erziehungs-und Bildungsaufgaben sowie ihre Überprüfung auf
einem höchstmöglichen Niveau vollzogen werden können. Der Qualitätspolitik
soll ein Bündel von (die von der jeweiligen Bildungseinrichtung angestrebte
Qualität sichernden) Maßnahmen angeschlossen werden, die es ermöglichen,
dass über die Arbeit der Pädagogen ein ständiges Feedback an die Pädagogen
selbst, an die Schulleitung und an die Träger gegeben werden kann. Auf diese
Weise können Störungen und Konflikte rechtzeitig behoben sowie eine positive
personelle und fachliche Entwicklung erzielt werden.
In Ungarn gibt es seit Ende der 1980er Jahre keine regelmäßige, von außen
her kommende und deswegen objektiven Kriterien folgende pädagogische
Kontrolle. Daran hat auch das Bildungsgesetz 1993 de facto nichts geändert,
da die von dem Gesetz angeordnete Qualitätspolitik und ihre Steuerung in
der Hand der Schulleitung beziehungsweise ihrer Träger liegen. Im Rahmen
der eigenen Qualitätspolitik muss jede Bildungseinrichtung – unter der Leitung
der Schulrektoren, stellvertretenden Schulrektoren und Vorgesetzten der
schulischen Arbeitsgemeinschaften26
und der Mitwirkung der Angestellten und
26Unter einer „Arbeitsgemeinschaft“(synonym auch: Fachbereich) werden alle Lehrer der
Schule verstanden, die einen ganz bestimmten Kreis von Schulfächern unterrichten, zum Bei
108
Márta Müller
selbst der Schüler – eine Selbstevaluation durchführen. Diese Evaluation, die in
der Mehrheit der Schulen mittels (selbst, vor Ort erstellter) Fragebögen durchgeführt
werden, erstreckt sich sowohl auf die Schulleitung27
und die Pädagogen
als auch auf die weiteren Mitarbeiter28
der Schule.
Die interne Beurteilung der schulischen Arbeit führt – trotz ihres differenzierten
Wesens – höchstens zu einem subjektiven Ergebnis, das nur eine
begrenzte Gültigkeit besitzt und ersetzt nicht die äußere Kontrolle. Die dargelegten
Evaluierungsmaßnahmen erstrecken sich auf alle schulischen Gebiete
gleichermaßen. Eine Qualitätskontrolle, die die minderheitenspezifischen Elemente
der Bildungsarbeit an Kindergärten und Schulen begutachten würde,
darf entweder die jeweilige lokale Minderheitenselbstverwaltung oder die Landesselbstverwaltung
der Ungarndeutschen – unter der Mitwirkung von zertifizierten
ungarndeutschen Bildungssachverständigen – in die Wege leiten. Über
dieErgebnissederdurchgeführtenQualitätskontrollesollsowohldielokaleMinderheitenselbstverwaltung
als auch die Landesselbstverwaltung der Ungarn-
deutschen informiert werden, auch wenn weder die eine noch die andere im
Falle von Unzulänglichkeiten rechtliche Folgen einleiten darf. Die Lizenz zum
Minderheitenunterricht kann nur vom ungarischen Bildungsministerium, das
heißt von dem für das ungarische (inklusive ungarndeutsche) Schulwesen verantwortlichen
Schulamt eingezogen werden.
Im Jahre 2003 wurde das – auch die ungarndeutsche Minderheit betreffende
– Bildungsgesetz an mehreren Stellen modifiziert: Neu ist die Ergänzung hinzugekommen,
dass das Bildungsministerium für die landesweite Organisation
von pädagogischen Dienstleistungen zur Unterstützung und Beratung der Erziehungsarbeit
und des Minderheitenunterrichts an den Bildungseinrichtungen
der Minderheiten sorgen soll (vgl. Kerner 2004: 56) und unter §40, Abs. 10
spiel Arbeitsgemeinschaft der DaM-Pädagogen an einer Schule; der Realfächer betreuenden
Pädagogen, der Fertigkeitsfächer unterrichtenden Pädagogen usw.
27Die Schulleitung wird von den Pädagogen und den weiteren Mitarbeitern der Schule
mit einem Fragebogen bewertet, auf dem Aussagen über Führungstätigkeit des Schulrektors
Punkte von 0 (stimmt überhaupt nicht) bis 3 (stimmt immer) zugeordnet werden. Die
Aussagen beziehen sich auf Tätigkeiten, die im Arbeitsbereich der Schulleitung liegen, wie
zum Beispiel „Der Schulrektor verteilt die administrativen und organisatorischen Aufgaben
fristgemäßunterdenPädagogen.“; „ErkontrolliertundbewertetalleMitarbeiterregelmäßig.“;
„Er hält engen Kontakt zu dem Träger, den Eltern und weiteren Institutionen der Siedlung.“;
„Sein Arbeitsethos, seine menschlichen Qualitäten sichern eine gute Arbeitsatmosphäre an
der Schule“; „Er nimmt an Antragausschreiben des Bildungsministeriums, die für die Schule
von innovativem Belang sind, regelmäßig teil.“ usw.
28InvorliegenderArbeitwirddetaillierternuraufdasEvaluierungsverfahrenderPädagogen
eingegangen. Nichtsdestotrotz soll angemerkt werden, dass die Arbeit der Angestellten, die
nicht in einem pädagogischen Bereich tätig sind, nicht weniger bedeutend ist, als die der
Lehrer. DienichtpädagogischenAngestelltenwerdenvondenSchulrektoren,stellvertretenden
Schulrektoren und dem Leiter der Wirtschaftsangelegenheiten evaluiert je nachdem, was für
eine Einstellung sie zu ihrem Arbeitsbereich haben, wie kooperationsfreudig und flexibel sie
sind, was für eine Beziehung sie zu den Schülern und ihren Eltern haben, ob sie bereit sind,
sich fortzubilden und sich in neuen Arbeitsbereichen auszuprobieren.
109
Márta Müller
wurde dem Bildungsgesetz eine neue Regelung der Qualitätssicherung der schulischen
Arbeit hinzugefügt. Über diese hinaus kann jene Verordnung als eine
weitere – vom ungarischen Staat vorgeschriebene – qualitätssichernde Maßnahme29
betrachtet werden, die als Beschäftigungskriterium im Minderheitenunterricht
ab September 2003 einen DaM-Hochschulabschluss als zwingende
Voraussetzung bestimmt.
Der Bildungsausschuss der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen
sowie die Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen selbst haben – wie dies
aus dem oben bereits Aufgeführten hervorgeht – keinerlei Befugnisse in die
erzieherische Arbeit sowie in den Unterricht an Minderheitenschulen Einsicht
zu nehmen (vgl. Hock-Englender 2007: 10). Dafür wurde 2005 von der Landesselbstverwaltung
der Ungarndeutschen das Ungarndeutsche Pädagogische
Institut (UdPI,http://udpi.hu) ins Leben gerufen, das unter anderem die
Aufgabe hat, die im Minderheitenbereich tätigen Pädagogen zu betreuen, und
fürsieFortbildungenvorOrtundimAuslandzuorganisierensowieUnterrichtsdokumente
und -materialien für den Minderheitenunterricht zu entwickeln und
anzubieten.
8 Probleme, Schwierigkeiten, Desiderate
Im Vergleich zu der Situation in den 1950er und 1960er Jahren hat sich in dem
Schulwesen der deutschen Minderheit in Ungarn enorm viel verändert. Die
eindeutig positive Entwicklungstendenz der letzten zwanzig Jahre scheint aber
angesichts der sich langsam aber stetig häufenden Probleme des ungarndeutschen
Schulwesens nach der Jahrtausendwende ins Stocken zu geraten: Schuld
daran sind erstens die Unzulänglichkeiten in der gegenständlichen und personellen
Infrastruktur der ungarndeutschen Bildungseinrichtungen; zweitens die
bis dato nicht gelöste Problematik der weiterführenden Schulen – vor allem der
Berufsschulen – sowie der Ausbildung von Minderheitenpädagogen; und drittens
die immer spärlicher werdenden finanziellen Möglichkeiten der Träger der
Bildungseinrichtungen.
29Der verbindliche DaM-Hochschulabschluss als Voraussetzung für die Pädagogenbeschäftigung
im Minderheitenbereich darf nur als eine relative Verschärfung interpretiert werden,
da in Ungarn DaM-Studiengänge von den Studierenden als eine sekundäre Entscheidung
nachnichtgeschaffterZulassungsprüfungfürDaF-Studiengänge wahrgenommen werden. Der
DaM-Abschluss ist daher für die meisten gewissermaßen nur zweite Wahl. Durch diese Regelung
wurde aber zumindest erreicht, dass die Pädagogen, die selber nicht deutscher Herkunft
sind, die aber an Minderheitenschulen deutschsprachige Schulfächer unterrichten, wenigstens
während ihres Studiums Inhalte minderheitenbezogener Wissenschaften kennen lernen.
110
Márta Müller
8.1 Gegenständliche und personelle Schwächen
Unter den gegenständlichen und personellen Schwächen steht der Mangel an
sprachlich authentisch wirkenden Erziehenden, Deutschlehrern und deutschsprachigen
Fachlehrern an erster Stelle. Es herrscht kein Pädagogenmangel
– nur die Zahl der Pädagogen, die Deutsch in der zweisprachigen Umgebung
des Kindergartens oder der Minderheitenschule authentisch und grammatisch
korrekt beherrschen und vermitteln könnten, ist niedrig. Diese Situation ist
äußerst prekär, denn wie kann man gerade von den Pädagogen, die sich selbst
in ihrem Metier nicht sicher fühlen, erwarten, dass sie einen anspruchsvollen
deutschsprachigen Unterricht anbieten? Würde man nach dem Unterricht
am Vormittag auch die Nachmittagsbeschäftigungen im Schulhort der Minder-
heitenschulen betrachten, so würde man feststellen müssen, dass die deutschsprachige
Betreuung der Minderheitenschüler am Nachmittag vielerorts nicht
gesichert ist, da im Schulhort nur in Ausnahmefällen Pädagogen mit einem
Deutsch-oder gar Minderheitenabschluss angestellt sind. Um die Deutschkenntnisse
der Minderheitenpädagogen an manchen Schulen ist es schlecht
bestellt, weder eine kurzfristige noch eine langfristige Besserung dieser Lage
ist in Sicht, da freiwillige sprachliche Fortbildungen nur im deutschsprachigen
Ausland (zum Beispiel durch die Vermittlung von 2-4-wöchigen Sommerkursen
durch das Goethe-Institut) für eine begrenzte Anzahl der Minderheitenpädagogen
angeboten werden können. Die bereits seit Jahren oder Jahrzehnten
verbeamteten Deutschlehrer werden die Bürde der Selbstbildung nicht aus eigenem
Antrieb auf sich nehmen. Auch kann man nicht davon ausgehen, dass
die in der nahen Zukunft ihr Studium absolvierenden Lehrergenerationen eloquenter
sein werden, als ihre routinierteren, bereits verbeamteten Kollegen.
Diese Tatsache betont das Bedürfnis nach einer von außen her wirkenden regelmäßigen
Qualitätskontrolle, die nicht von Instanzen der Minderheitenorganisationen
durchgeführt werden würde, noch mehr, denn nur diejenigen Stellen
können valide und deswegen reliable Gutachten30
über die pädagogische Arbeit
der Minderheitenschulen erstellen, die von den Interessen der Akteure der
Minderheiteneinrichtungen unabhängig messen und bewerten können. Als eine
Lösung,diedieobjektiveQualitätskontrolleergänzenwürde,wäreauchdieEinstellung
von deutschsprachigen Gastlehrern, Referendaren oder Studierenden
in allen Stufen der Minderheitenerziehung und des Unterrichts zu betrachten,
die die Schüler und die Kollegen dazu bewegen könnten, Deutsch nicht als eine
fremde Sprache sondern als eine Verkehrssprache aufzufassen.
30Die nicht von den jeweiligen Komitatsselbstverwaltungen oder der Landesselbstverwaltung
der Ungarndeutschen, sondern von außen – zum Beispiel vom Goethe-Institut – her
gesteuerten Qualitätskontrollen würden auch den Leistungsvergleich der einzelnen Minder-
heitenschulen jeglichen Typs ermöglichen – ein weiterer Gewinn der Fremdbewertung.
111
Márta Müller
8.2 Schwierigkeiten der Lehrwerkversorgung
Eine weitere Lücke des ungarndeutschen Schulwesens ist die bereits im Kapitel
4.1 angeschnittene Problematik der Lehrwerke. Nicht nur der deutschsprachige
Fachunterricht kann sich nicht auf den kurstragenden Einsatz von Fachbüchern
stützen, die die spezifischen Umstände des Minderheitenunterrichts in Ungarn
berücksichtigen. Selbst die Kontinuität des Deutschunterrichts ist nicht durch
Deutschbücher gesichert, die alle Klassenstufen von der 1. bis zur 8. (oder gar
12.) Klasse abdecken, konzentrisch-progressiv vorgehen würden, und kompetenzorientiert
strukturiert wären. Auch wenn geeignete Lehrwerke vorhanden
wären, sind die 45 Minuten langen, im Rahmen der DaM-Stunden durchgeführten
Sprachförderungsaktivitäten nicht ausreichend, nur für die Minderheitenschüler
ein Sprachmilieu zu bieten, in dem sich eine funktionale Zweisprachigkeit
entfalten könnte. Wäre aber das Sprachmilieu gegeben, würde man
auch dann nichts Objektives über die Zweckmäßigkeit dieses Sprachmilieus erfahren
können, da keine standardisierten Messungen in Ungarn existieren, die
die DaM-Kenntnisse von Minderheitenschülern systematisch erheben könnten.
Schulrektoren bedauern in den letzten drei bis fünf Jahren die Neigung der Eltern,
dass zunehmend Englisch vor DaM präferiert wird: In Parallelklassen, in
denen Englisch als erste Fremdsprache in vier bis fünf Wochenstunden unterrichtet
wird, werden mehr Kinder eingeschrieben, als in die, die DaM als (erste
Fremd-oder) Zweitsprache anbieten. Die sensible Phase des Schulwechsels –
von der Grundschule auf eine Mittelschule – wird auch durch den Umstand
erschwert, dass eine berufliche Weiterbildung und Lehre in der Minderheitensprache
Deutsch in Ungarn nicht gesichert ist, es gibt nur vereinzelt Beispiele
dafür, dass eine Mittelschule berufliche Ausbildung in deutscher Sprache31
anbietet.
Wenn die Schüler nach der Grundschule in ein Minderheitengymnasium
aufgenommen werden, unddies mit einemzweisprachigenAbitur beenden, können
sie nur unter einer sehr begrenzten Anzahl von minderheitenbezogenen
Studiengängen – in der überwiegenden Mehrheit von Lehramtsstudiengängen
– wählen. Der soziale Aufstieg, die gesellschaftliche Mobilität und die Existenzgründung
sind in Ungarn – mit der Ausnahme von White-Collar-Jobs
bei ungarischen Niederlassungen von deutschen Großunternehmen32
– mit der
ungarischen Sprache verbunden, weswegen das zweisprachige Unterrichtsangebot
der ungarndeutschen Mittelschulen für viele Eltern als weniger attraktiv
erscheint.
31Zum Beispiel das Friedrich Schiller Berufliches Gymnasium in Werischwar/Pilisvörösvár
mit Schwerpunkt Wirtschaftslehre.
32Unter dem Begriff „White-Collar-Jobs“ werden Stellen bei Niederlassungen und Filialen
deutscher Firmen in Ungarn verstanden, bei denen der jeweilige Arbeitsbereich ein Diplom
und sehr gute Deutschkompetenzen voraussetzt, da die interne Firmenkommunikation in
deutscher Sprache abgewickelt wird.
112
Márta Müller
8.3 Finanzierungsschwierigkeiten
DievonständigenFinanzierungsschwierigkeitengeplagtenMinderheitenkindergärten
und -schulen einer Ortschaft oder mehrerer, benachbarter Siedlungen
werden von ihren Trägern immer öfter zu größeren Schulformationen zusammengeschlossen
(vgl. Kap. 2.).
Über die normative Unterstützung hinaus können sich Bildungseinrichtungen
bei der ungarischen Nationalen Entwicklungsagentur und dem ungarischen
Bildungsministerium um zusätzliche finanzielle Mittel bewerben, welche an die
Erfüllung bestimmter Aufgaben und Ziele gebunden sind. Doch diese Ausschreibungen
können von kleineren Bildungseinrichtungen, die eine infrastrukturelle
Investition am besten gebrauchen könnten, wegen ihrer suboptimalen
Kapazitätsnutzung nicht wahrgenommen werden, was ein eklatantes Beispiel
dafür ist, dass der Spruch „Den letzten beißen die Hunde“ nicht nur im deutschen
Kulturraum Gültigkeit besitzt.
Von den Finanzierungsschwierigkeiten bleiben auch die Pädagogengehälter
nicht unberührt. In Ungarn werden die Pädagogen nach einer einheitlichen
Lohntabelle für öffentliche Angestellte bezahlt, je nach M.A.-oder B.A.Abschluss
und der Anzahl der im Dienst verbrachten Jahre rückt man in der
Lohntabelle höher, doch sowohl das Einstiegsgehalt für Berufsanfänger, als
auch der Unterschied zwischen den einzelnen Gehaltsstufen sind so gering,
dass Pädagogen sich sehr oft um Zweitjobs bemühen müssen. Ein Pädagogengehalt33
– vor allem in den ersten 15-20 Berufsjahren – reicht nicht aus, um
sich eine Grundlage für eine bescheidene Existenz zu schaffen.
Es ist unvorstellbar, dass Träger einer (Minderheiten)Schule ihren Pädagogen
eine zusätzliche Gehaltserhöhung geben würden. Man freut sich darüber,
wenn den Minderheitenpädagogen die ihnen per Verordnung zustehende – doch
nicht zwingend vorgeschriebene – Minderheitenzulage nicht gestrichen wird.
Die Pädagogen nämlich, die in einem Minderheitenkindergarten oder in einer
Minderheitenschule fest angestellt sind, und in mindestens 50% ihrer PflichtstundenzahlinderMinderheitenerziehungoderimMinderheitenunterrichttätig
sind, können eine Minderheitenzulage oder eine Fremdsprachenkenntnis-Zulage
erhalten (§15, Abs. [2] der Regierungsverordnung 138/1992; zitiert nach Heves
33Kindergärtner und Grundschullehrer (= Qualifikationsvoraussetzung: vierjähriges B.A.Studium)
ohne Berufserfahrung bekommen 122.000,-Ft brutto (netto etwa 90.000,-Ft; 327
Euro); nach 33 Jahren Berufserfahrung 196.000,-Ft brutto (netto etwa 140.000,-Ft; 509
Euro). LehrerInnen in der Sekundarstufe I. und II. (= Qualifikationsvoraussetzung: M.A.Studium)
bekommen ohne Berufserfahrung 129.500,-Ft brutto (netto etwa 95.000,-Ft; 345
Euro); nach 33 Jahren Erfahrung 227.300,-Ft brutto (netto etwa 152.000,-Ft; 552 Euro).
Von dem Bruttogehalt wird von dem Arbeitgeber ungefähr ein Drittel für die Gesundheitsund
Rentenversicherung sowie Steuerabgaben abgezogen. Den Angestellten wird nur das
Nettogehalt überwiesen. Freundliche Mitteilung von Frau Mária Karádi, Leiterin des Nationalitätenkindergartens
Werischwar/Pilisvörösvár.
113
Márta Müller
2004: 24). Von dieser Zulage wird aber – wenn überhaupt – durch die Träger
der Minderheiteninstitutionen nur ein Minimum34
ausbezahlt.
9 Fazit
DasGesamtbildderungarndeutschenSchullandschaftisteinunbestreitbarkonträres35
– einerseits genießt die deutsche Minderheit in Ungarn die Freiheit, zur
Aufrechterhaltung und Pflege der Minderheitensprache und ihrer Kultur, Bildungseinrichtungenvon
demKindergarten bishin zur Universitätsebeneerrichten
zu dürfen. Andererseits ist die Erziehungs-und Unterrichtsarbeit in diesen
Bildungseinrichtungen auf die Vermittlung der deutschen Standardsprache und
auf einige Schulfächer (meistens Musik, Geschichte, Geographie, Sport, Naturkunde)
beschränkt, ohne dass weitere, ein breiteres Publikum ansprechende
Möglichkeiten – wie die zweisprachige Berufsausbildung oder deutschsprachige
Studiengänge – genutzt werden würden. Unter den Minderheitenkindergärten
und -schulen des Landes können große Qualitätsunterschiede festgestellt
werden, die entweder auf die finanziellen Engpässe oder auf die gegenständlichen
und personellen Umstände der pädagogischen Arbeit zurückgeführt werden
können. Manche der in der allgemeinen Gründungsfreude der 1990er Jahre
entstandenen ungarndeutschen Bildungseinrichtungen werden entweder in die
Kategorie „ungarisch“ zurückgestuft, andere halten ihr erreichtes Niveau nur
mit größter Mühe.
Es bleibt zu hoffen, dass die Deutschen in Ungarn – auch als zweitgrößte
Minderheit des Landes – ihre mit viel Mühe errichteten Bildungseinrichtungen
sowie die in diesen geleistete Arbeit werden nicht nur bewahren, sondern auch
weiterentwickeln können.
10 Literatur
Boeckmann, Klaus-Börge (2008): Der Mensch als Sprachwesen – das
Gehirn als Sprachorgan. In: Fremdsprache Deutsch 2008/38, 5-11.
Brezing, Hermann (2002): Fremdsprachen lernen: Unbelasteter Neubeginn
oder altvertraute Schwierigkeiten? In: Schulte-Körne, Gerd: Legasthenie:
34Die Pädagogen, die in den Minderheitenkindergärten in Werischwar/Pilisvörösvár angestellt
sind, erhalten eine Durchschnittszulage von brutto (!) 2.500,-Ft monatlich. Diese
Summeentspricht am31.10.2009beieinemWechselkurs von 275Ft/1Euroetwa 9,-Euro. An
anderen Minderheitenkindergärten und -schulen wird diese nicht verbindlich vorgeschriebene
Zulage gar nicht ausbezahlt.
35Dass das ungarndeutsche Schulwesen sich am Scheideweg befinde, hat Brenner bereits
2003 in seinem Aufsatz über dasselbe zur Sprache gebracht.
114
Márta Müller
Ursachen, Diagnostik, Förderung. Bochum 2002.
Erb Mária/Knipf Erzsébet (1999): Új lehetõségek és kihívások – új kommunikációs
stratégiák? A magyarországi németek körében végzett nyelvismereti
felmérés tanulságai [Neue Möglichkeiten und Herausforderungen – neue Kommunikationsstrategien?
Ergebnisse einer Umfrage über die Sprachkenntnisse,
durchgeführt unter den Ungarndeutschen]. In: Kisebbségkutatás. 1999/2,
176-187.
Frank, Gábor (2001): Zur Unterrichtssituation der Ungarndeutschen.
In: Heinek, Otto (Hg.): Deutschunterricht der Ungarndeutschen um die
Jahrhundertwende. Sprache und Identitätsbildung. Budapest 2001, 7-11.
Földes, Csaba (2006): Deutschunterricht und Deutschdidaktik in Ostmitteleuropa.
In: Bredel, Ursula et al.: Didaktik der deutschen Sprache. Bd. 2.
Paderborn 2006, 969-981.
Heves, Franz (2004): Die Minderheiten-Kindererziehung und -Schulbildung
im Spiegel der Rechtsregelung. In: Deutsch revital. Pädagogische Zeitschrift
für das ungarndeutsche Bildungswesen. 2004/1, 12-44.
Hock-Englender, Ibolya (2007): Rolle und Aufgaben des Bildungsausschusses
der LdU im ungarndeutschen Schulwesen. In: Deutsch revital.
Pädagogische Zeitschrift für das ungarndeutsche Bildungswesen. 2007/4, 9-20.
Imre, Anna (2004): Nyelv, nyelvhasználat, identitás – nemzetiségi tanulók
körében [Sprache, Sprachgebrauch, Identität – unter Schülern, die am Minderheitenunterricht
teilnehmen]. In: Kisebbségkutatás, 2004/1.
Kerner, Anna (2004): Über die letzte Modifizierung des Bildungsgesetzes.
In: Deutsch revital. Pädagogische Zeitschrift für das ungarndeutsche Bildungswesen.
2004/1, 45-53.
Lamperth-Molich, Kornélia (2009): „Komm, spielen wir bujócskát!“–
Jugendliche Freiwillige im Valéria-Koch-Kindergarten oder: Wie kann man
gratis an Praktikantinnen aus Deutschland kommen? In: Deutsch revital.
Pädagogische Zeitschrift für das ungarndeutsche Bildungswesen. 2009/6,
98-100.
Lehrplan Deutsch als Nationalitätensprache. Jahrgangsstufen 1-10. (1995)
Budapest 1995.
115
Márta Müller
Lehrstoffempfehlungen aufgrund des Nationalen Grundlehrplanes für ungarndeutsche
Nationalitätenschulen. Jahrgangsstufen 1-10. (1996) Budapest
1996.
Mammel, Rosa (2004): Die zweisprachige Erziehung im Kindergarten. In:
Deutsch revital. Pädagogische Zeitschrift für das ungarndeutsche Bildungswesen.
2004/1, 70-73.
Márkus, Éva (2007): Kisebbségi oktatás – a magyarországi németek
[Minderheitenschulwesen – die Ungarndeutschen]. In: Fórum. Társadalomtudományi
Szemle 2007/11, 111-127.
Internetquellen
www1:http://www.nepszamlalas.hu/hun/kerdoiv/ger_4.html,
30.10.2009
www2:http://3ddigitalispublikacio.hu/media/ombudsman/2008/
beszamolo_2008.pdf
www3:http://www.rfmlib.hu/nemzetisegi/nemzetisegi_tankonyvek.
htm
http://www.kisebbsegiombudsman.hu/word/04-10-2008_11_34_34/
kis_konyv.html#_Toc143310316
Bericht des Parlamentsbeauftragten für die
Rechte der nationalen und ethnischen Minderheiten Ungarns über die Formen
des Minderheitenschulwesens, heruntergeladen am 29.10.2009.
http://3ddigitalispublikacio.hu/media/ombudsman/2008/
beszamolo_2008.pdf
Jahresbericht 2008 des Parlamentsbeauftragten für
Rechte der nationalen und ethnischen Minderheiten Ungarns, heruntergeladen
am 29.10.2009.
http://www.nepszamlalas.hu
Homepage des ungarischen Központi
Statisztikai Hivatal [Zentrales Statistisches Amt].
http://www.mnb.hu/Engine.aspx?page=mnbhu_monet_
kozlem&ContentID=12002
Pressemitteilung der Ungarischen Nationalbank
über den Basiszinssatz der Notenbank und die Inflationsrate am 19.01.2009,
heruntergeladen am 31.10.2009.
116
Márta Müller
Brenner, Koloman (2003): Das Schulsystem der deutschen Minderheit in
Ungarn auf dem Scheideweg. www.fuen.org/pdfs/20051106AGDM_Brenner.
pdf
heruntergeladen am 29.10.2009.
Doncsev Toso (2004): A magyarországi kisebbségi törvény [Das ungarische
Minderheitengesetz]. In: Kisebbségkutatás, 2004/1.http://www.hhrf.
org/kisebbsegkutatas/kk_2004_01/cikk.php?id=1020
heruntergeladen am
29.10.2009.
117
Sprachgebrauch der Ungarndeutschen:
Geschichte – Tendenzen – Perspektiven
Dr. Maria Erb (PhD)
Eötvös-Loránd-Universität
Rákóczi út 5.
1088 Budapest
1
Einleitende Gedanken
Bei der letzten Volkszählung in Ungarn im Jahre 2001 gaben 33.192 Personen
Deutsch als Muttersprache an, 62.233 bekannten sich zur deutschen Nationalität,
88.416 Befragte bekundeten ihre Bindung an die deutsche Kultur
und 53.040 den Gebrauch der deutschen Sprache im Familien-und Freundeskreis.
Das erste Mal in der Geschichte der staatlichen Volkszählungen wurden
zur statistischen Erfassung der im Lande lebenden ethnischen und nationalen
Minderheiten Angaben nicht nur durch die zwei traditionell-obligatorischen
(Muttersprache und Nationalität), sondern durch insgesamt vier, unterschiedlich
fokussierte Fragen eingeholt. Dass diese, auf Bestreben der Minderheitenselbstverwaltungen
hin erfolgte Differenzierung begründet und notwendig
war, bestätigen auch die Diskrepanzen bei obigen Zensusdaten der deutschen
Minderheit. Sie deuten nicht nur darauf hin, dass die sprachliche und die ethnische
Selbstbestimmung auseinanderdriften, sondern auch auf Divergenzen,
Umstrukturierungen und veränderte Präferenzen bezüglich der Trias Sprache
– Kultur – Identität.
2
Deutsche in Ungarn: kurzer historischer Exkurs
Auf dem jeweiligen Hoheitsgebiet des traditionell multiethnischen ungarischen
Staates ist das deutsche Element seit der Staatsgründung kontinuierlich vertreten.
Hierbei waren von den drei Phasen der Entstehung von deutschen
Sprachinseln, die mittelalterliche bis zum 13. Jh., die durch die Reformation
ausgelöste zwischen dem 16.-18. Jh. und die ökonomisch bedingte vom 18.
Jh. bis zum Ersten Weltkrieg, die erste und die letzte von Bedeutung. Da als
118
Maria Erb
historischer Einschnitt die Befreiung Ungarns von der Türkenherrschaft, insbesondere
die Zurückeroberung von Ofen/Buda im Jahre 1686, angesehen wird,
spricht man über eine vor-und eine nachtürkische Phase der Einwanderung.
Bereits im 10. und 11. Jh. strömten im Zusammenhang mit dem Ausbau des
ungarischen Staatsorganismus nach christlich-feudalem Muster deutsche Geistliche,
Ritter, Handwerker, Beamte und Kaufleute ins Land, die aber binnen
einiger Generationen im Ungarntum aufgegangen sind. Ab dem 13. Jh. lassen
sichingroßerAnzahldeutscheBürger, HandwerkerundKaufleutenieder, ihnen
kommt in der Herausbildung der Städtekultur, des Gewerbes, Zunftwesens und
Handels in Ungarn eine bestimmende Rolle zu. Nachhaltig, bis ins 20. Jahrhundert
hinein haben sich demgegenüber einerseits die als natürliche Ausläufer
des deutschen Sprachgebietes geltenden deutschen Siedlungen in Westungarn,
entlang der österreichisch-ungarischen Grenze behaupten können, andererseits
die im 12. Jahrhundert aus mitteldeutschen, vor allem westmitteldeutschen
Gebieten planmäßig angesiedelten und mit königlich verbrieften Sonderrechten
ausgestatteten sogenannten „Sachsen“ in der Zips und in Siebenbürgen. Die
zweite große Epoche der Ansiedlung von Deutschen setzte unmittelbar nach
der Zurückeroberung von Ofen im Jahre 1686 ein. Aufgrund staatlicher und
privatherrschaftlicher Initiative wurden während des 18. Jahrhunderts in mehreren
Wellen deutsche Kolonisten, vor allem Bauern aber auch Handwerker, ins
Land geholt. Die Ursprungslandschaften der Siedler – die im Sinne der merkantilistischen
Wirtschaftpolitik („Ubi populus, ibi obulus“) zur Wiederbevölkerung
und Urbarmachung des Landes nach der Türkenherrschaft angeworben
wurden –, lagenimmittel-undoberdeutschen (vorallem imwestmittel-und ostoberdeutschen)
Raum1. DurchdieseplanmäßigenAktionenentstanden,neben
den mittelalterlichen, weitere sechs deutsche Siedlungsgebiete: das Ungarische
Mittelgebirge (der Buchenwald, das Schildgebirge und das Ofner Bergland),
Südtransdanubien (die sogenannte „Schwäbische Türkei“ mit den Komitaten
Brana, Tolnau und Schomodei), Ostungarn (das Komitat Sathmar), Slawonien
und Syrmien, die Batschka und das Banat. Parallel dazu ließen sich im 18.
19. Jahrhundert – ähnlich wie im Mittelelter – deutsche Bürger, Beamte und
HandwerkeringroßerZahlinungarischenStädten nieder undprägtendiesevie1Die
nachtürkischen Deutschen, dieser sich aus vielen Sprach-und Kulturregionen (Nationen)
zusammensetzende „Neustamm der Deutschen“ enthielt gerade von der Mehrheitsnation
der Ungarn den Namen „Schwaben“ – eine „pars pro toto-Bezeichnung“ nach den
ersten Ansiedlern, die tatsächlich aus schwäbischen Landen gekommen sind. Diese Sammelbezeichnunghaben
dieSiedlerdes18. JahrhundertsdannalsSelbstbezeichnungübernommen
und akzeptiert, trotz der Tatsache, dass dies den Herkunftslandschaften der überwiegenden
Mehrheit der Siedler widersprach. Innerhalb der heutigen Landesgrenzen machen die
„Sprachschwaben“ nur ungefähr 2% aus, die anderen 98% sind „Nennschwaben“. Diese Volksbezeichnung
wurde in einem Analogverfahren auch zur Sprachbezeichnung, bei der nicht das
Genetische, sondern das Varietätenspezifische das Tertium comparationis bildete: Schwäbisch/
Schwobisch/Schwowisch wird in der Bedeutung ’Dialekt, Mundart’ verwendet, verstanden
wird darunter der Ortsdialekt, ungeachtet dessen Ausprägung.
119
Maria Erb
lerorts. Die letzte große Welle der Einwanderung von Deutschen nach Ungarn
setzte nach dem Ausgleich im Jahre 1867 ein. Bedingt durch den enormen wirtschaftlichen
Aufschwung und die rasche Industrialisierung benötigte das Land
qualifizierte Facharbeiter. Dieser Bedarf wurde aus Deutschland und Österreich
gedeckt. Als Folge der beiden nachtürkischen Ansiedlungswellen erhöhte
sich die Anzahl der Deutschen in Ungarn in bedeutendem Maße: im Jahre 1720
waren es 606 000 Personen, 1805 schon 1.100 000 (12,5% der Gesamtbevölkerung),
und im Jahre 1910 sogar 2.037 435 (9,8% der Gesamtbevölkerung) – laut
Zensusdaten die Höchstzahl, die sich allerdings nicht lange halten konnte. Als
Folge der nach dem Ausgleich (1867) immer mehr um sich greifenden, auf die
Magyarisierung der nichtungarischen Bevölkerungsteile des Landes ausgerichteten
Assimilierungsbestrebungen ist das urbane Deutschtum Anfang des 20.
JahrhundertsfastvölliginseinerungarischenUmgebungaufgegangen. Zurweiteren,
sehr deutlichen Reduzierung des ungarnländischen Deutschtums führten
die Friedensbeschlüsse nach dem Ersten Weltkrieg. Durch die neue Grenzziehung
hat Ungarn zwei Drittel seines Territoriums an die Nachbarstaaten
verloren, und da dies Gebiete mit bedeutenden deutschen Bevölkerungsteilen
waren, erlitt auch das Deutschtum verheerende Verluste: 1920 beträgt die Zahl
der Deutschen in Ungarn nur 550.062 Personen, fast anderthalb Millionen weniger,
als zehn Jahre zuvor. Der nächste tiefe Einschnitt erfolgte nach dem
Zweiten Weltkrieg, als die Vertreibung von ungefähr 180-190.000 Personen die
Zahl der Ungarndeutschen fast halbierte.
Das Deutschtum in Ungarn blickt auf eine tausendjährige, abwechslungsreiche
Geschichte zurück. Es bildet heute – nach den Roma – die zweitgrößte
Minderheit des Landes. Seine Angehörigen sind mehrheitlich Nachkommen jener,
vorwiegend dem Bauernstand angehörenden Kolonisten aus mittel-und
oberdeutschen Gebieten, die sich nach der Vertreibung der Türken im Rahmen
von geplanten Siedlungsaktionen während des 18. Jahrhunderts in Ungarn
niederließen. Vortürkischen Ursprungs dagegen sind die deutschen Siedlungen
in Westungarn, entlang der österreichischen Grenze sowie Deutschpilsen/
Nagybörzsöny im Pilsner Gebirge, deren deutsche Bevölkerung allerdings
nur einen Bruchteil des heutigen Ungarndeutschtums bildet. Die weiteren Ausführungen
des Beitrags beziehen sich auf dieses Deutschtum, innerhalb der
heutigen Landesgrenzen, eine Bezugnahme auf andere, historisch fassbare ungarndeutsche
Gemeinschaften erfolgt nur bei besonderer Relevanz.
3
Kommunikationsprofil der Ungarndeutschen
bis 1945
Im Folgenden sollen im Rahmen eines historischen Überblicks Konstanz und
Dynamik der sprachlichen Binnen-und Außenstruktur der Ungarndeutschen
120
Maria Erb
bis 1945 skizziert werden. Da nach dem Zweiten Weltkrieg jene markanten
VeränderungenimBedingungsgefügederSprach-undIdentitätsbewahrungeinsetzen,
die auch die Gegenwartweitestgehend mitbestimmen, wird dieser Phase
anschließend besondere Aufmerksamkeit geschenkt.
3.1 Sprachliche Binnenstruktur
Die wichtigste Konstituente der sprachlichen Binnenstruktur ungarndeutscher
Gemeinschaften bildet der Ortsdialekt. Die Siedler der nachtürkischen Kolonisation
sprachen ihren Herkunftsgebieten entsprechend verschiedene mittel-und
oberdeutsche (vor allem westmittel-und ostoberdeutsche) Mundarten als Muttersprache:
Bairisch, Rheinfränkisch-hessisch, Pfälzisch, Ostfränkisch, Schwäbisch,
Alemannisch. Aus diesen Erstsiedlerdialekten bildeten sich in einem
Mischungs-und Ausgleichsprozess die einzelnen Ortsmundarten heraus, die somit
– im Gegensatz zu den Dialekten auf dem geschlossenen deutschen Sprachgebiet
–, nicht das Ergebnis einer natürlichen, kontinuierlichen, organischen
Entwicklung sind, sondern Siedlungsmundarten bzw. echte Sprachinselmundarten.
SiedecktenbisMittedes20. JahrhundertspraktischalsVollsprachendie
kommunikativen Bedürfnisse der ruralen, mehrheitlich dem Bauernstand angehörenden
Einzelgemeinschaften miteinem geringenKommunikationsradius fast
vollständig ab, galten aber darüber hinaus auch als markante Abzeichen der
lokalen Identität. Den gleichen Status besitzen die vortürkischen Ortsmundarten
in Westungarn. Sie unterscheiden sich jedoch einerseits in ihrer Genese
von den neuzeitlichen, „da sie infolge der linearen Ausbreitung von Dialekten
der ostösterreichischen Länder (Niederösterreich, Steiermark) entstanden und
organische Fortsetzungen der letzteren auf ungarischem Boden sind.“ (Hutterer
1991: 263) Andererseits sind sie – daraus resultierend – Grenzmundarten
und befanden sich seit jeher in geografischer Kontaktstellung zum deutschen
Sprachraum. Nachstehende Übersichtskarte beinhaltet die Zuordnung
der einzelnen Ortsmundarten innerhalb der heutigen Landesgrenzen zu Hauptdialekten
des geschlossenen deutschen Sprachgebietes unter Heranziehung von
vorwiegend (obligatorischen) lautlichen Merkmalen klassisch dialektologischer
Provenienz.2
.
Die sprachliche Binnenstruktur ungarndeutscher Gemeinschaften wies noch
zwei weitere, höhere Sprachformen auf – den Verkehrsdialekt und die Standardvarietät
–, deren Bedeutung für das interne Kommunikationsprofil allerdings
weit hinter der des Ortsdialektes zurückblieb. Der als Ergebnis der zweiten
Stufe des horizontalen Ausgleichs entstandene, „räumlich-soziologisch bestimmte“
(Hutterer 1991: 324) Verkehrsdialekt hatte im heterogenen, quanti
2In Rückgriff auf weitere, fakultative Dialektmerkmale ist auch eine differenziertere, kleinräumigereZuordnungdereinzelnenBasisdialekteinnerhalbderHauptdialektemöglich.
Dazu
und zu den Mechanismen und Steuerungsfaktoren des sprachlichen Ausgleichs siehe detaillierter
Hutterer 19912/a, 19912/b und Schwob (1971).
121
Maria Erb
!
Abbildung
1:
Deutsche Siedlungsgebiete und Dialekte in Ungarn
tativ dennoch von westmitteldeutschen Basismundarten dominierten südungarischen
Siedlungsraum eine rheinfränkisch-hessische Prägung. Im Ungarischen
Mittelgebirge dagegen war er – begründet durch das Übergewicht der bairischösterreichischen
Ortsdialekte – ostdonaubairisch ausgerichtet, genauso wie in
Westungarn, wo der sprachraummäßige Zusammenhang mit Österreich und
die Nähe von Wien als zusätzliche Steuerungsfaktoren und Bezugsgrößen anzusehen
sind. Gemäß ihrer Funktion und dem geringen Kommunikationsradius
der Sprecher fand die Verkehrsmundart nur bei den wenigen Aktivitäten außerhalb
der Einzelsiedlungen Verwendung – zu diesen gehören unter anderem
die Marktbesuche, die Dienstjahre der Mädchen und Burschen bzw. die Militärzeit
Letzterer – und zeigte im Vergleich zu den beständigen und (relativ)
homogenen Systemen der Ortsdialekte deutlich instabilere Strukturmerkmale.
Was die dritte Konstituente, die Standardvarietät anbelangt, müssen eingehend
folgende Tatsachen und Ausgangspositionen festgehalten werden: Die
als Ergebnis der im europäischen Vergleich relativ spät entstandene Normvarietät
des Deutschen etablierte sich zunächst als Schriftsprache, Tendenzen zu
einer medialen Ausweitung ihres Geltungsbereiches auf die gesprochene Sprache
zeichnen sich – mit einer sowohl areal als auch sozial deutlich gestaffelten
Intensität – erst ab Ende des 18., vor allem aber im 19. Jahrhundert ab. Bei
denUngarn-Auswandererndes18. Jahrhundertskönnendaher –wieauchbeim
damaligen Bauernstand im binnendeutschen Raum schlechthin – Kenntnis und
122
Maria Erb
Gebrauch der Standardvarietät im heutigen Sinne nicht, oder nur in sehr beschränktem
Maße und – entsprechend den zeitgenössischen deutschen Sprachverhältnissen
– in deutlich (groß)regionaler Ausprägung vorausgesetzt werden.
Auch in der neuen Heimat spielte die „Leitvarietät“ nur eine marginale Rolle in
ihrem Kommunikationsprofil und konnte sich – teils aus Mangel an Möglichkeiten
teils aus Mangel an Bedürfnis – nicht maßgebend in ihre Kompetenz-und
Sprachgebrauchsstruktur eingliedern. Als Siedlungs-bzw. Sprachinselminderheit
ohne geographische Kontaktstellung zum geschlossenen deutschen Sprachgebiet
hatte das Ungarndeutschtum – mit der Ausnahme von Westungarn –
keinen unmittelbaren Zugang zu den ausgebauten, überregionale(re)n Varietäten
seiner Muttersprache, empfing aber auch keine nennenswerten Impulse
aus dem binnendeutschen Raum für sachnotwendige sprachliche Innovationen,
die sich im Zuge des Modernisierungsprozesses ab Ende des 19. Jahrhunderts
immer mehr abzeichnen. Dennoch darf der besondere Status des (österreichischen)
Deutschen innerhalb der Habsburgermonarchie, so auch in Ungarn
nach der Befreiung von den Türken im 18. Jahrhundert bis zum Ausgleich
im Jahre 1867, nicht unerwähnt bleiben. Das Ungarische – Muttersprache von
nur etwa 44-48% der Bevölkerung des Vielvölkerstaates –, wurde erst 1844 zur
Staatssprache erklärt, die höheren Sprachfunktionen – so vor allem in der Verwaltung
und der Behördenadministration aber teilweise auch in der Literatur,
Wissenschaft und im Unterricht auf gymnasialer und Hochschulebene – bekleidete
neben dem Lateinischen, als Konkurrenzsprache auch das Deutsche,
was bei der Mittel-und Oberschicht zur Herausbildung einer „kulturellen Zweisprachigkeit“
führte (Kosáry 1980: 64, Mollay 1989: 243f, 248). Durch diese
horizontal wie vertikal bedeutende Präsenz des Deutschen – zu der neben den
politischen Gründen auch die hohe Zahl der deutschen Muttersprachler in nicht
unerheblichem Maße beitrug (s. Kap. 1) –, wäre die Erweiterung des linguistischen
Repertoires ungarndeutscher Gemeinschaften um die Standardvarietät
und damit die Schaffung eines Eigendachs potentiell möglich gewesen. Dass
dies in der behandelten Periode jedoch nicht erfolgt ist, hat seinen Grund neben
den mangelnden Kontakte zwischen dem ruralen und urbanen Deutschtum
vor allem in der Tatsache, dass für das rurale, mehrheitlich dem Bauernstand
angehörige Deutschtum mit einem seiner geringen Mobilität entsprechenden
eingeschränkten Kommunikationsradius zur Bewältigung seiner eher alltags-
weltlichen, sprechsprachlichen kommunikativen Bedürfnisse dazu keine zwingende
Notwendigkeit bestand.3
Nach dem Ausgleich versiegt auch diese poten
3Eine Wirkung „höherer“ Sprachformen vor allem bairisch-österreichischer (wienerischer)
Prägung lässt sich – wenn auch nicht auf sprachstruktureller Ebene –, aber in Form von
lexikalischen Infiltraten in den Orts-und Verkehrsdialekten dennoch feststellen. Ausstrahlungsherdewaren
neben Wien bzw. Ofen v.adiedamals nochmehrheitlichdeutschsprachigen
Städte von Ungarn, die – begründet durch ihr höheres Sozialprestige – (auch) mit sprachlichem
Mehrwert behaftetes Wortgut an das Deutschtum ihres Umlandes vermittelten. Als
besonders beweiskräftig für diesen Einfluss gelten die Austriazismen in den rheinfränkisch
123
Maria Erb
tielle Quelle: Die deutsche Sprache musste ihre ehemals breit aufgefächerten
Geltungsbereiche an die sich immer mehr emanzipierende Staatssprache, das
Ungarische abtreten. Das deutschsprachige Städtebürger-und Beamtentum
wird sehr rasch, fast binnen einer Generation, bis Ende des 19. Jahrhunderts
fast vollständig assimiliert – mit weit reichenden, sowohl sprachlichen als auch
soziokulturellen Konsequenzen für die deutschen Dorfgemeinschaften und ihre
Mundarten. Mit der Auflösung der Standard-oder standardnahen Varietäten
ausihremgeographischenNähebereichverschwindetnichtnurdieletzteChance
für einen Anschluss an die höheren Varietäten ihrer Muttersprache und für die
Eingliederung dieser in ihre Kompetenzstruktur, sie verlieren damit gleichzeitig
auch die Möglichkeit, ihren Bedarf an sprachlichen Innovationen aus der eigenen
Sprache zu decken, wie dies in den Dialekten des geschlossenen deutschen
Sprachgebietes der Fall ist (Näheres dazu im nächsten Kapitel). Eine andere
Folge der Einschmelzung des urbanen Deutschtums weist über das konkret
Sprachliche hinaus und tangiert das Problem der durchgehenden versus nicht
durchgehenden sozialen Schichtung einer Minderheit/Sprachgemeinschaft, insbesonderedieWichtigkeitderbildungstragendenSchichten:
„[D]as ungarndeutsche
Volk [ist] um die Jahrhundertwende seiner Intelligenz verlustig geworden“,
womitauch „die stärkste Stütze der Entfaltungsmöglichkeit der deutschen Hochsprache
in Ungarn in jener Zeit gefallen [ist]“ (Hutterer 1991: 333).
Dennoch können Kenntnis und Gebrauch der Hochsprache nicht gänzlich
abgestritten werden. Erworben wurde sie auf gesteuertem Wege in der Schule,
daher stehen Quantität und Qualität der Sprachkenntnisse in einem engen
Junktimverhältnis zu den jeweiligen minderheiten-und vor allem bildungspolitischenMaßnahmen.
1880konnten56,8%,190067%,191070,4%derDeutschen
in Ungarn lesen und schreiben, unter allen ethnischen Gruppen des Landes4
sind dies – nach der jüdischen Bevölkerung – die zweithöchsten Prozentwerte.
Stellt man diesen Angaben jedoch weitere zur Seite, wird ersichtlich, dass die
Domäne Schule ihrer zentralen Rolle in der Muttersprachvermittlung immer
weniger nachkommen konnte5: Die Zahl der deutschsprachigen Volksschulen
betrug 1880 noch 867, im Jahre 1900 allerdings nur noch 383, über Mittelschulen
und Gymnasien mit deutscher Unterrichtssprache verfügten nur die
Siebenbürger Sachsen.6
In der Einführung des Ungarischen zuerst als Pflichtfach
im Jahre 1879, und anschließend immer mehr als Unterrichtssprache an
Stelle der Minderheitensprachen erblickte man bereits im Dualismus aber noch
hessischen Mundarten von Südungarn (vgl. dazu Wild 2003).
4Zusammen mit Kroatien und Siebenbürgen
5Bis Ende der 1880-er Jahre, das heißt bis zum Gesetz Nr. XVIII. vom Minister für
Unterricht und Religionsausübung Ágost Trefort aus dem Jahre 1879 verlief der Unterricht
ausschließlich in der Minderheitensprache. Auch das liberale Bildungs-und Nationalitätengesetz
von Eötvös aus dem Jahre 1868 enthielt diesbezüglich keine Einschränkungen.
6Der Anteil der deutschen Absolventen von vier bzw. acht Klassen der Mittelschule an
der männlichen Bevölkerung im Jahre 1910 machte übrigens nur 4,1% bzw. 1,7% aus.
124
Maria Erb
mehr in der Zwischenkriegszeit ein effektives Werkzeug zur Assimilierung der
nichtungarischen Bevölkerungsteile im Dienste der Schaffung der ungarischen
Einheitsnation. Diese Bestrebungen wurden auch gesetzlich verankert. Laut
Gesetz Nr. XVI. aus dem Jahre 1891 hatten die Kindergärten ihre Zöglinge
„in die Kenntnis der ungarische Sprache als Staatssprache einzuführen“. Das
1907verabschiedeteberühmt-berüchtigte„Lex-Apponyi“ verpflichtetedieSchulen
mit nichtungarischer Unterrichtssprache unter anderem dazu, den Schülern
bis Ende des vierten Schuljahres die Landessprache auf einem Niveau beizubringen,
dass diese sich in Wort und Schrift verständlich ausdrücken können7
.
Die 1923 getroffene Neuregelung sah, je nach Anteil der Minderheitensprache,
drei Schultypen vor: im sogenannten A-Typ wurden alle Fächer in der Minderheitensprache
und Ungarisch als Pflichtfach unterrichtet, im B-Typ verlief
der Unterricht zweisprachig, das heißt, dass die eine Hälfte der Fächer in der
Minderheitensprache, die andere auf Ungarisch erteilt wurde, und im C-Typ
– als spiegelverkehrtes Ebenbild vom A-Typ – verlief der Unterricht gänzlich
auf Ungarisch, die Minderheitensprache wurde lediglich als Pflichtfach erteilt.
Nach den Angaben für Schuljahr 1926/27 waren nur 43 ungarndeutsche Volksschulen
echte Minderheitenschulen (A-Typ), 63 Einrichtungen gehörten zum
B-Typ und 308 (!) Schulen hatten Ungarisch als Unterrichtssprache. Bedenkt
man noch, dass die Schulpflicht nur bis zum 12. Lebensjahr dauerte, des Weiteren,
dass die überwiegende Mehrheit der ungarndeutschen Kinder – bedingt
durch den Bauernstatus ihrer Familien – dementsprechend höchstens die sechs
Klassen der Volksschule absolvierte, ist die bittere Bilanz, die Jakob Bleyer in
seiner Parlamentsrede am 9. Mai 1933 zieht, nicht verwunderlich: „Die Jugend
deutscher Muttersprache mit Volksschulausbildung kann bis zu 70% auch nicht
halbwegs deutsch lesen und schreiben, die Jugend deutscher Muttersprache mit
Mittelschulbildung kann bis zu 90% keinen richtigen deutschen Brief schreiben,
ja keinen richtigen deutschen Satz abfassen, wie man das von einem gebildeten
deutschen Menschen erwarten müsste“ (Sonntagsblatt 1933. 14.05). Die
Kenntnis sowohl der mündlichen als auch der schriftlichen Form der Hochsprache
ging bei den Ungarndeutschen – mit verschwindend wenigen Ausnahmen
– kaum über die Rezeptivität hinaus, ihr, auch von dialektalen Interferenzen
nicht freier Gebrauch erstreckte sich vor allem auf wenige Bereiche beziehungsweise
Textsorten der Schriftlichkeit, so auf Briefe oder Buchhaltung, und nur
in Ausnahmefällen auf natürliche, mündliche Interaktionen. Vertreten war sie
außer in der Schule noch auf der Kanzel und dadurch in der Seelsorge und
Glaubensausübung – in einer Domäne, die wegen ihrer Formelhaftigkeit von
den Gläubigen eher rezeptiv-rezitative und nicht kreativ-produktive Kompetenzen
erfordert.
Summierend lässt sich feststellen: Gewisse sprachliche Impulse und In
7Infolge des Lex-Apponyi verringerte sich die Gesamtzahl der Minderheitenschulen des
Landes zwischen 1906/07 und 1913/14 um 25%, von 4395 auf 3321 (Bellér 1973: 13).
125
Maria Erb
novationen aus den standardnahen Varietäten des binnendeutschen Raumes,
vor allem aber aus dem geographischen Nähebereich erreichten das ländliche
Deutschtum zweifelsohne, doch vermochten diese – vornehmlich unterdemEinfluss
von außersprachlichen Steuerungsfaktoren – die feste Eingliederung der eigensprachlichenLeitvarietätinseineKompetenz-
undSprachgebrauchsstruktur
nicht zu bewirken. Auch die andere Möglichkeit, Erwerb der Standardvarietät
via Schule und Unterricht, war ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts
zum Scheitern verurteilt, vor allem wegen der engstirnigen, auf Assimilierung
bedachten Minderheitenpolitik des Landes. Über die bis zum heutigen Tage
wirksamen folgenschweren Konsequenzen, die sich daraus ergeben, soll weiter
unten näher eingegangen werden.
3.2 Kontaktstruktur
Sprachinseln sind „Sprach-und Siedlungsgemeinschaften in einem anderssprachigen,
relativ größerem Gebiet“ (Wiesinger 1980: 491) oder um mit Hutterer
zu sprechen: sie stellen „räumlich abgrenzbare [...] Siedlungsräume einer
sprachlichen Minderheit inmitten einer sprachlichen Mehrheit“ (Hutterer
1982: 178) dar. Da geographische Nähe bei Transfer-und Austauschprozessen
schon seit jeher als einer der wirksamsten Stimulierungs-und Steuerungsfaktorengilt,
weisenSprachinselnvonvornhereineinhohesKontaktpotentialauf,das
seinen Niederschlag – durch verschiedene Intensitätsgrade und Ausprägungen
gekennzeichnet –, auch in ihrer jeweiligen, im Vergleich zu den Ursprungslandschaften
und -gemeinschaften spezifischen sprachlich-kulturellen Ausstattung
findet. Die Ungarndeutschen als Sprachinselminderheit leben im Prinzip seit
ihrer Ansiedlung in einer koarealen bi-ethnischen – durch die traditionell bunte
ethnische Zusammensetzung Ungarns in vielen Siedlungsgebieten sogar in einer
multi-ethnischen –Dauerkontaktsituation. DaherumfasstihräußeresKontaktprofil
– allerdings mit einer lokal-regional und sozial unterschiedlichen Ausprägung
– einerseits die zahlreichen anderen Minderheitensprachen des Landes
samt ihren (vor allem dialektalen) Varietäten, so unter anderem das Serbische,
dasRumänische, dasSlowakische, dasKroatischeusw.; andererseitsalswichtigsteKontaktsprache–
mitvondiesendeutlichabweichendenStatusmerkmalen–,
die Sprache des staatsbildenden Mehrheitsvolkes, das Ungarische. Die daraus
resultierenden kurz-und langfristigen Wirkungen sind vielfältig und manifestieren
sich sowohl im Sprachsystem der ungarndeutschen Dialekte als auch in
der Kompetenz-und Sprachgebrauchsstruktur ihrer Sprecher(gemeinschaften).
Die von verschiedenen exogenen und endogenen Dominanten gesteuerte Quantität
und Qualität der Kontakte und deren Auswirkungen zeigen eine zeitliche
Staffelung kumulativen Intensitätsgrades. Sie führen aber gleichzeitig auch
zu „vielfältigen Wandlungen im ungarndeutschen Sprachleben“ (Hutterer 1996:
314) und sind somit unumgängliche Bestimmungselemente „der ungarndeutschen
Sprachgeschichte der letzten zweieinhalb Jahrhunderte“ (ebd.).
126
Maria Erb
Das Ende des Zweiten Weltkrieges kann diesbezüglich zweifelsohne als die
einschneidenste und daher wichtigste Jahreszahl gewertet werden, wenn sich
auch das davor liegende viertel Jahrtausend mit einer feineren, hierarchischen
Periodisierung in kleinere Abschnitte zerlegen lässt – markiert durch die historisch
prägenden Ereignisse wie der Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn
im Jahre 1967 bzw. das Ende des Ersten Weltkrieges. Nach 1945 zeigen sich
nämlich nicht nur in der Anzahl der Kontaktphänomene (rapide Vermehrung),
sondern auch in ihrer Art gravierende Veränderungen im Vergleich zur vorangehenden
Epoche. Was die Auswirkungen der Kontakte zum Ungarischen
auf das Sprachsystem der Dialekte bis 1945 anbelangt lässt sich feststellen,
dass sie ihren Niederschlag fast ausschließlich in Form von usualisierten Bezeichnungsentlehnungen
finden, der einfachsten und daher meist vertretenen
Form der Entlehnung in natürlichen sprachlichen Berührungsprozessen, zumal
sie Kenntnis der Modellsprache auch nicht unbedingt voraussetzt8. Diese älteste,
lexikalisierte und stabilisierte Lehnwortschicht zeigt eine höchstgradige
formalgrammatische, das heißt phonetische und flexivische, Anpassung an die
einzelnenOrtsdialekte, was neben der starken Stellung der Mundartenalsfunktionelle
Erstsprachen auch von fehlenden bzw. mangelnden Ungarischkenntnissen
der Sprecher zeugt.
Der überlieferte Lehnwortbestand der einzelnen Ortsdialekte weist deutliche
Gemeinsamkeiten auf, was auch darin zum Ausdruck kommt, dass ein
Großteil dessen bestimmten Sachbereichen, thematischen Reihen bzw. Varietäten/
Lekten zugeordnet werden kann: Esskultur/Speisen, Kleidung/Tracht,
Ackerbau/Viehzucht, Flora/Fauna, Anredeformen/Verhaltensmuster, Kindersprache
und Offizialsprache. Diese Einzelortschaften übergreifende Systematik
– die auch zu einer gewissen Konvergenz im Wortschatz der Dialekte führte –,
berechtigt zur Annahme, dass der Lehnprozess von den gleichen Bedürfnissen
und Interessen gesteuert wurde. Einen bedeutenden Teil der lexikalischen Integrate
machen sogenannte Bedürfnisentlehnungen aus: Sie schlieen als Ethnorealien
bei einer Eins-zu-Null-Äquivalenz jene Nominationslücken in den Dialekten,
die sich vor allem durch die Konfrontation mit einer, anfangs noch
fremdenSachkulturundeinemanderenStaatsaufbau,desWeiterenmitvonden
eigenen zum Teil abweichenden Sozial-und Beziehungssystemen, Verhaltens-
normen und Wirtschaftsstrukturen (einschließlich Flora und Fauna) aufgetan
haben. Diese kulturspezifischen Lehnwörter sichern nicht nur die kommunikative
Leistungsfähigkeit der Dialekte auch in der neuen Heimat – somit sind
sie eindeutig als Zugewinn einzustufen –, sie dokumentieren zugleich auch vielschichtige
Akkulturationsprozesse und sachlichen Kulturimport. Beim weitaus
geringeren Teil der Lehnwörter – vor allem im bäuerlichen Grundwortschatz
(Tierzucht, Ackerbau, Flora, Fauna) – lässt sich zwar das „Eintauschen des
Mitgebrachten“ (Weber-Kellermann/Schenk 1977: 45) feststellen, doch haben
8Näheres zum Lehnwortschatz vor 1945 in: Erb 2001, 2003, 2004/a, 2004/b, 2006/a.
127
Maria Erb
auch diese den indigen deutschen Charakter der Ortsdialekte nicht beeinträchtigt.
Eine Wirkung des Ungarischen auf den Sprachgebrauch der Ungarndeutschen
zeichnet sich ab Ende des 19. Jahrhunderts ab. Doch ist diese nicht
einheitlich: Während in der Agglomeration um Budapest, in größeren Industriegebieten
sowie in Streusiedlungen vor allem die junge Generation sich Ungarisch
ziemlich früh aneignet und in der Kommunikation mit Ungarn auch
verwendet, sind bei der Dorfbevölkerung im, von Deutschen dicht bewohnten
Südungarn auch noch in der Zwischenkriegszeit nur sehr sporadische Ungarischkompetenzen,
stellenweise sogar das vollständige Fehlen von Ungarischkenntnissen
nachzuweisen.
4 Kommunikationsprofil nach 1945
Das Ende des Zweiten Weltkrieges markiert nicht nur in der europäischen Geschichte
den Beginn einer neuen Ära, sondern auch in der Geschichte der Ungarndeutschen.
Solange die davor liegenden 250 Jahre – wenn auch nicht ohne
Abstriche – aber doch vorwiegend Konstanz, Kontinuität und Erhalt charakterisiert,
leitet 1945 eine Epoche ein, die in allen Bereichen des Minderheitendaseins
durch Divergenz, Diskontinuität und Verlust geprägt ist. Die bedeutendste
Verantwortung hierfür lastet zweifelsohne auf den damals politisch
führenden Kreisen von Ungarn – nicht ohne Dazutun der Alliierten Siegermächte
–, deren Minderheitenpolitik nunmehr nicht nur auf die Assimilierung,
sondern auf die Entledigung des Deutschtums ausgerichtet war. Doch gesellen
sich zu diesem verheerenden „Auftakt“ in den kommenden Jahrzehnten weitere,
sowohl sprachexterne als auch -interne Gestaltungskomponenten, die miteinander
verwoben ein gänzlich verändertes, eindeutig negatives Bedingungsgefüge
für die Bewahrung von Sprache, Kultur und Identität schaffen. Im Folgenden
soll darauf näher eingegangen werden.
5 Rahmenbedingungen
Die Ungarndeutschen hatten nach dem Zweiten Weltkrieg – wegen ihrer zweifachen
Bindung: als Deutsche und als ungarische Staatsbürger – die schwere
Last des doppelten Verlierers zu tragen. Infolge der Vertreibung, der Verschleppung
und der Kriegsverluste hat sich ihre Zahl beinahe halbiert, verloren
haben sie auch fast ihre ganze Intelligenzschicht. Zurückgeblieben ist eine
Restminderheit, Rechnungen zufolge von ungefähr 200-220.000 Personen, die
darüber hinaus durch Enteignung, Entrechtung und diverse Repressalien derart
eingeschüchtert und gedemütigt war, dass auf ihrer pragmatisch-strategischen
„Prioritätenliste“ nichtAbsonderung, sondernAnpassunganersterStellestand,
128
Maria Erb
und zwar in jeder, so auch in sprachlicher Hinsicht. Sehr eklatant zeigen das
die Bekenntnisdaten der Volkszählung im Jahre 1949 mit insgesamt 22.455
deutschen Muttersprachlern und mit nur 2.617 Personen deutscher Identität:
„Nach dem Krieg war ich kein Deutscher“; „Es gab Zeiten, wo man Ungar sein
musste“ ; „Da hat man nicht viel geprahlt mit dem Schwobische’“ ; „Mi@
ham
füü Schleig kriegt ... die Leh’rin hot k’sogt, mi@
söün dahaam schwowisch
rein.“ – so die Erinnerungen der heute ältesten Generation an diese Zeit9
.
Verändert hat sich nicht nur ihre Gesamtzahl, sondern als eine sehr wichtige
Folge dessen, sank auch der Anteil der deutschen Bevölkerung in den einzelnen
Ortschaften in beträchtlichem Mae, was zur Auflösung der intakten Dorfgemeinschaften
führte10: An Stelle der vertriebenen Deutschen wurden Ungarn –
aus der Slowakei (ehemals Oberungarn), Migranten aus östlichen Landesteilen
und die sogenannten „Szekler“ aus der Bukowina – angesiedelt, was Kenntnis
und tagtägliche Verwendung des Ungarischen – zumal hierfür auch eine
sehr eindeutige Erwartungshaltung bestand – unumgänglich machte, gleichzeitig
aber den deutschen Sprachgebrauch deutlich reduzierte. Die veränderte
ethnische Zusammensetzung der Siedlungen begünstigt darüber hinaus auch
die Exogamie, statt der vorher eher typischen Endogamie. Die im Rahmen der
sozialistischen Umgestaltung des Landes vollzogene Kollektivierung der Landwirtschaft
führte zur Auflösung der bäuerlichen Einzelwirtschaften. Durch die
Gründung der staatlichen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften
(LPG) wurde jedoch nicht nur die grundlegende wirtschaftliche Existenzform
des Ungarndeutschtums zerstört. Die Bauernfamilie bildet nicht nur eine soziale,
sondern auch eine Wirtschaftseinheit und Arbeitsgemeinschaft, was sich
bis 1945 spracherhaltend ausgewirkt hat. Im Gegensatz dazu war in allen Betrieben,
so auch in den landwirtschaftlichen, in denen nach der Verstaatlichung
ihrer Felder die meisten Ungarndeutschen eine Anstellung gefunden haben, Ungarisch
die Arbeitssprache.
Die Zeit nach 1945 ist auch durch tief greifende soziale Umstrukturierungen
geprägt, von denen hier nur auf zwei kurz eingegangen werden soll. An
Stelle der Drei-Generationen-Familie trat immer mehr die Nuklearfamilie mit
den Eltern und ihren unmündigen Kindern. Die noch mundartfeste Erlebnisgeneration
der Großeltern hatte somit nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten,
die Sprachwahl in der Familie zu beeinflussen bzw. zur Tradierung der
Muttersprache an die nachwachsende Generationen im Rahmen einer (primär)
deutschsprachigen Sozialisation beizutragen: „Bis die Oma da woar, wurde
mehr Schwäbisch g’sproche’“ ; „Wenn die Großeltern da sind, reden wir auch
9Die hier zitierten und alle weiteren mündlichen Äußerungen von Gewährsleuten werden
in ihrer (oft dialektalen) Originalform gebracht und mit einer literarischen Transkription
wiedergegeben. Erhoben wurden sie von Verfasserin im Rahmen von empirischen Untersuchungen
größtenteils in Tarian/Tarján 2003-2004 (näheres dazu in Fußnote11), einige im
Ofner Bergland (1995).
10In Südungarn waren vor 1945 deutsche Mehrheitsdörfer keine Seltenheit.
129
Maria Erb
Deutsch“ . Nach 1945 wurde der Zugang zu höheren Bildungsstufen auch für
ungarndeutscheKinder ermöglicht, was eine bedeutendesozialeDifferenzierung
der ehemals vorwiegend dem Bauernstand angehörigen Minderheit mit sich
brachte. Allerdings war jedweder soziale Aufstieg an Ungarischkenntnisse gebunden,
denn ein Bildungsweg war ausschließlich in ungarischer Sprache möglich,
was sehr oft damit einherging, dass gerade die Söhne und Töchter mit
einem höheren Schulabschluss das heißt Mitglieder der neuen Bildungselite, für
das Ungarndeutschtum verloren gingen.
Außer den Obigen zeigt der Bildungssektor noch weitere Implikationen –
und zwar in Bezug auf den Deutschunterricht. In den unmittelbaren Nachkriegsjahren
wurde dieser in den meisten Ortschaften und Bildungseinrichtungen
gänzlich eingestellt, seine Wiederaufnahme als Unterrichtsfach erfolgt vor
allem ab Mitte-Ende der 1950er Jahre. Das Deutsche war an den Grundschulen
ungarndeutscher Ortschaften nur als wählbarer, nicht obligatorischer
Gegenstand desSprachunterrichts präsent – als solcherauchnicht in denTagesablauf
integriert, sondern mit vor/nach dem regulären Unterricht abgehaltenen
Zusatzstunden verbunden –, nicht aber als Unterrichtssprache, somit besaß es
den gleichen Status wie im Schultyp-B in der Zwischenkriegszeit (siehe weiter
unten) Die geringe Stundenzahl, der Mangel an entsprechenden Lehrwerken
und didaktischen Methoden (siehe weiter unten) wirken sich nachteilig auf die
Effektivität des Unterrichts aus. Auf der mittleren Bildungsstufe boten bis
in die 80er Jahre hinein insgesamt drei Nationalitätengymnasien – in Fünfkir-
chen/Pécs, Baje/Baja und Budapest – neben wöchentlich 12 Deutschstunden
– teilweise deutschsprachigen Fachunterricht an, dieser beschränkte sich auf
Geschichte und Geographie, stellenweise auf Gesang/Musik, später kam noch
als neues Fach Grundlagen unserer Weltanschauung dazu. Eine Fachausbildung
war in deutscher Sprache ebenso wenig möglich, wie ein Hochschul-oder
Universitätsstudium, sogar die Deutschlehrerausbildung unterlag diesbezüglich
Einschränkungen. Bereits diese Tatsachen weisen in Richtung des Sprachverlustes,
besonders wenn man bedenkt, dass zu dieser Zeit Deutsch im familiären
und informellen Bereich bereits deutlich auf dem Rückzug ist. Doch muss
im Zusammenhang mit dem Minderheitensprachunterricht auf einen weiteren
Umstand hingewiesen werden, mit weitgehenden negativen Konsequenzen für
die eigentliche Muttersprache, den Dialekt: Zielsprache war einzig und allein
die Standardvarietät, deren Vermittlung mit Ungarisch als Ausgangssprache
unter vollkommenem Ausschluss der Mundart angestrebt wurde. Ihre Mundartkenntnisse
empfanden die Schüler wegen der vielen Interferenzen eindeutig
als Nachteil: Denn weder fielen ihre dialektbedingten Fehler unter mildere Bewertung,
nochwurden ihnendie Diskrepanzen zwischen demSystem derbeiden
Varietäten bewusst gemacht – wie dies in Deutschland in den 70er Jahren im
Rahmen der Sprachbarrierendiskussion angestrebt wurde –, um dadurch ihre
sprachlichen Vorkenntnisse in den Dienst einer effektiveren Sprachvermittlung
130
Maria Erb
zustellen. Dieals bürgerliches Herrschaftswissen abgestempelteSoziolinguistik
bzw. dieindieserHinsichtrelevanteBernstein-HypotheseerreichteUngarnerst
in den späten 70er Jahren, daher wurde das Problem im Rahmen der Minderheitenpädagogenausbildung
gar nicht diskutiert. Die Standardfixiertheit des
Sprachunterrichts – die dem Dialekt auf indirekte Weise den Status einer kohärenten
Sprachvarietät mit einem in sich erklärbaren, daher folgerichtigen
System absprach –, wirkte sich bei vielen nicht nur auf die Sprachkenntnisse
in beiden Varietäten negativ aus, sondern führte auch zur Stigmatisierung des
Dialektes als verdorbenes, nicht-richtiges, schlechtes Deutsch – mit Konsequenzen
für seine Tradierung: „Die Enkelkinder lernen in der Schule die Hochsprache,
man kann sie nicht irre machen, dann täten sie Deutsch mit dem Schwobischen
mischen“ ;„Die Enkel fragen nach, weil sie es nicht verstehen, in der
Schule haben sie was anderes gelernt.“; „Immer weniger sind es, die Dialekt verstehen
und sprechen. Standarddeutsch hat einen Wert, das wird in der Schule
unterrichtet.“ ; „Unsere Sprache [der Dialekt] ist keine richtige Sprache.“ Hinterfragt
oder relativiert werden konnte diese Abstempelung des Dialektes bis
Anfang der 90er Jahre so gut wie nicht: Wegen der geographischen Entfernung
bzw. den Reisebeschränkungen besaß die überwiegende Mehrheit der Ungarn-
deutschen kaum Kenntnisse und Erfahrungen über die bis zum heutigen Tage
bestimmende Rolle der arealen Varietäten auf dem geschlossenen deutschen
Sprachgebiet vor allem im sprechsprachlichen Bereich.
Zu den bisher behandelten, mehrheitlich im sprachexternen Bereich angesiedelten
Steuerungsfaktoren gesellt sich ein letzter, mehrschichtiger Fragekomplex
eindeutig sprachlicher, vor allem varietätenlinguistischer Prägung. Wegen
seiner Relevanz wurde er bereits in historischen Dimensionen erörtert (siehe
Kapitel 2.1), teils haben ihn auch vorherige Ausführungen über den Minderheitensprachunterrichttangiert.
DainunseremFalleAusgangzugleichEingang
ist, sollen die zwei wichtigsten Charakteristika der sprachlichen Binnenstruktur
um 1945 kurz in Erinnerung gerufen werden: Zum einen ist als Muttersprache
ungarndeutscher Gemeinschaften der Ortsdialekt zu betrachten; Zum anderen
konnten sich die höheren Varietäten – die Standardvarietät mit eingeschlossen
– in ihre Kompetenz-und Sprachgebrauchsstruktur nicht (nennenswert) eingliedern.
Dialekte unterliegen als Substandarde gewissen Beschränkungen: Sie
sind räumlich begrenzt, nicht vollständig ausgebaut, vor allem in sprechsprachlichen
Alltagssituationen leistungsfähig und weisen sowohl in ihrem Wortschatz
als auch in ihrer Sprachstruktur – vor allem im Vergleich zur Standardvarietät
– eine geringere Komplexität auf. Dennoch konnten die ungarndeutschen
Basisdialekte die kommunikativen Bedürfnisse ihrer Sprechergemeinschaften –
mehrheitlich fernab von Novationsgebieten gelegen, mit einer primär nicht an
Sprache gebundenen Erwerbsstruktur und auch wenig extensiver Kommunikation
– bis 1945 praktisch als Vollsprachen (siehe weiter oben) fast vollständig
abdecken. In Folge der sozialen Umwälzungen, der größeren Mobilität, der
131
Maria Erb
technisch-wissenschaftlichen Entwicklung und des immer mehr um sich greifenden
Modernisierungsprozesses mit Häufung von Prestigegütern ändert sich
die Situation ab den 1960er Jahre zusehends11
. In den Dialekten tun sich
sehr bald in erdrückender Zahl Nominationslücken auf, die sie als sogenannte
„dachlose Außenmundarten“ mit einem sehr geringen Modernisierungsstadium
in Unkenntnis der eigenen Hochsprache bzw. in Ermangelung eines sprachlichen
Überbaus und derKontakte zum deutschen Sprachgebiet nur mitHilfe des
Ungarischen als Innovationssprache schließen können.12
Dieses kommunikative
Defizit wird von den Sprechern nicht nur festgestellt, es veranlasst auch bekennende
Mundartsprecher immer öfter dazu, vom Gebrauch bzw. Tradierung
des Dialektes Abstand zu nehmen: „Was du von der Oma gelernt hast, damit
kann man heute nichts mehr anfangen.“ ; „Es gibt Dinge, Begriffe, die man
auf Deutsch [das heißt in der Mundart] nicht sagen kann.“ ; „Unser Wortschatz
im Schwäbischen ist sehr arm.“ ; „Der Wortschatz des Dialektes hat sich nicht
entwickelt.“ ; „Schwowisch ist zurückgeblieben.“ ; „Am Anfang hemm@r deutsch
geredt mit den Kindern. Aber jetzt, wo man mehr zum sagen hat, als was man
ausdrücke’ kann, ungarisch.“
Dieses komplexe, daher in seinen Auswirkungen in gesteigertem Maße wirksame,
negative Bedingungsgefüge löst in Bezug auf die Minderheitensprache,
den Dialekt intensive und vielschichtige Verlustprozesse aus, die heute bereits
ein Stadium erreicht haben, wo sie nicht mehr gestoppt, geschweige denn umgekehrt
werden können. Auch dann nicht, wenn ab Anfang der 90er Jahre,
im Zusammenhang mit dem politischen Systemwechsel sich bestimmte positive
Veränderungen abzeichnen, doch wirken sich diese primär nicht auf den
Erhalt des Dialektes aus, sondern fördern – vor allem auf schulischem Wege
und bei den heranwachsenden Generationen – die Etablierung der deutschen
Standardvarietätund lassen dadurchdie vorerstnochvagen Konturen einesVarietätenwechsels
innerhalb der Muttersprache (im weitesten Sinne) erkennen.
Diese positiven Veränderungen zeichnen sich sowohl im privaten als auch
im offiziellen Bereich ab. Erwähnt werden soll allen voran das 1993 verabschiedete
Minderheitengesetz, das den 13 historischen, eingesessenen Minderheiten
des Landes sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene weitgehende
Rechte in der Ausübung und Bewahrung ihrer Sprache und Identität einräumt.
Ermöglicht wurde dadurch unter anderem der Ausbau eines Netzwerkes von InstitutionenundOrganisationen,
vondenenderhorizontalewievertikaleAusbau
des ungarndeutschen Schulwesens und seine Neugestaltung sowohl in quantitativer
als auch in qualitativer Hinsicht von besonderer Bedeutung sind, zumal
die Bildungseinrichtungen und nicht die Familien in der Sprach-und Identi
11Im Bereits erwähnten Korpus der ungarischen Lehnwörter vor 1945 befinden sich insgesamt
nur 16, die meisten sind Einzelbelege, die zu den sogenannten Sachmodernismen gezählt
werden können. So unter anderem: óvoda/kisdedóvó ’Kindergarten’; mozi ’Kino’; posta
’Post’; postás ’Briefträger’; villanyos ’Straßenbahn’; vonat ’Zug’; zózó ’Stampfmaschine’.
12Sprachbeispiele s. dazu in Kap. 3.3.
132
Maria Erb
tätsvermittlung die zentrale Rolle spielen.13
Immer mehr ungarndeutsche Eltern
wollen ihren Kindern den Erwerb der deutschen Sprache auf schulischem
Wege sichern, wozu das hohe Prestige und die Verwertbarkeit des Deutschen
auf dem heimischen und internationalen Arbeitsmarkt in nicht unerheblichem
Maße beitragen.
Regelmäßige Kontakthaltung zum Mutterland fördert – durch neue Impulse
– den Erhalt der Sprache und Kultur von Sprachinselminderheiten. Nach
dem Zweiten Weltkrieg und in der Zeit des Kalten Krieges wurden von ungarischer
Seite, wenn überhaupt, dann fast ausschließlich Kontakte zur DDR
gefördert, da es aber den siedlungsgeschichtlichen Tatsachen gänzlich widersprach,
haben die Ungarndeutschen die DDR als Mutterland auch nicht akzeptiert.
Bis zur sogenannten ‚politischen Wende’ Ende der 80er Jahre waren die
Kontakte zu Deutschland und Österreich sehr eingeschränkt. Ab Anfang der
1990er Jahre können auch in dieser Hinsicht positive Veränderungenfestgestellt
werden: unter anderem Öffnung der Grenzen, Aufhebung der Reisebeschränkungen,
Gründung von zahlreichen Siedlungs-und Institutionspartnerschaften,
Stipendien-und Arbeitsmöglichkeiten im deutschsprachigen Ausland oder in
deutschen/österreichischen Firmenniederlassungen.
Und schließlich sollen die Massenmedien aus dem deutschsprachigen Ausland
erwähnt werden, denn sie spielen – allen voran das Fernsehen – eine
nicht unerhebliche Rolle in der Revitalisierung von Sprache und Kultur (vgl.
Erb/Knipf 1995). Seit Ende der 1980er Jahre können in Ungarn auch deutschsprachige
Fernsehsender empfangen werden und einschlägige Untersuchungen
zeigen, dass von den Ungarndeutschen diese Möglichkeit auch in hohem Maße
genutzt wird. Die vielschichtigen Programmangebote der öffentlichen und privaten
Sender wirken nicht nur sprachfördernd, sie ermöglichen auch eine engere
– wenn auch virtuelle – Einbindung in die Gemeinschaften der Mutternationen.
5.1 Sprachvermittlung, Sprachaneignung
In der Tradierung von Minderheitensprachen kommt den Familien eine primäre
Rolle zu. Bei den Ungarndeutschen umso mehr, da ihre als Muttersprache gesprochene
Varietät des Deutschen ein Dialekt ist, dessen Aneignung nur in
natürlichen Sprecherwerbsprozessen möglich ist. Nach 1945 lastet auf ihnen
eine noch größere Verantwortung in dieser Hinsicht, denn in einer vom Ungarischen
dominierten Umwelt ist weder die Entwicklung bzw. der Ausbau
der Kenntnisse, geschweige denn der Erwerb der Muttersprache möglich. Bis
zum Ende des Zweiten Weltkrieges erfüllen die Familien diese Funktion – auch
unterstützt durch die weite Geltung des Deutschen im Alltag – und sicherten
dadurchdiesprachlicheKontinuitätzwischendenzahlreichenGenerationenseit
der Ansiedlung.
13S. dazu den Beitrag von Müller über den DaM-Unterricht in Ungarn in diesem Band.
133
Maria Erb
Solange eine ungarischsprachige primäre Sozialisation damals eher die Ausnahme
war, und die Mehrheitssprache – wenn überhaupt – auf schulischem
Wege und/oder durch Kontakte zu den Ungarn als Zweitsprache erworben
wurde, ist sie heute die Regel. Nur eine verschwindend geringe Zahl der Familien
praktiziert eine ausschließlich deutschsprachige Erziehung – vor allem in
Südungarn, wo wegen der Kompaktheit des deutschen Siedlungsgebietes und
derimmernochhohenAnzahlderSprecherderProzessdesSprachverlustesund
des Sprachwechsels – im Vergleich zu anderen Gebieten – mit einer bestimmten
Verzögerung vor sich geht14. Höher liegt die Zahl jener Familien, die ihre Kinder
zweisprachig erziehen, oder in denen Dialekt als Familiensprache teilweise
präsent ist, meist allerdings in der Kommunikation zwischen den Großeltern
bzw. zwischen Eltern und Großeltern und nicht als bewusst vermittelte, an die
Kinder gerichtete Sozialisationssprache. Dadurch ist der Erwerb bestimmter
Kompetenzen zwar möglich, die vollständige Aneignung der Muttersprache jedochnicht,
auchreichendieeingeschränktenundmeistnur passivenKenntnisse
für einen aktiven Gebrauch nicht aus. Erwähnt werden soll noch ein wichtiger
Umstand: Auch in Familien mit einer (teilweise) deutschsprachigen Erziehung
wird vom Gebrauch des Deutschen nach der Einschulung der Kinder immer
mehr Abstand genommen und die Proportionen der beiden Sprachen verschieben
sich deutlich zu Gunsten des Ungarischen.
5.2 Sprach-und Varietätenkompetenzen15
Die ungarndeutschen Gemeinschaften erleben seit 1945 einen immer mehr um
sich greifenden Sprachverlust (Dialektverlust) und befinden sich zugleich in einem
permanenten, intensiven Sprachwechselprozess, der heute bereits ein sehr
fortgeschrittenes Stadium erreicht hat. Charakteristisch für sie ist eine rezessive
Zweisprachigkeit mit eindeutiger Dominanz der Mehrheitssprache. Wie
sich dies in den aktiven und passiven Dialekt-, Standard-und Ungarischkompetenzen
äußert, zeigt nachstehende Grafik:16
14Zur Rolle des Deutschen in der primären Sozialisation s. Jäger-Manz 2007.
15SeitMitteder1990erJahrenimmtdieZahlder empirischenUntersuchungen zumSprachgebrauch
der Ungarndeutschen erfreulicher Weise zu. Siehe dazu unter anderem: Erb / Knipf
1998; Erb / Knipf 2000, 2001; Gerner 2003; Knipf 2003; Deminger 2004; Manz 2007.
16Die Statistiken basieren auf einer Teilmenge jener empirisch gewonnenen Daten, die im
RahmeneineslandesweitenProjektesmitdemTitel„A nyelvimásságdimenziói: Akisebbségi
nyelvek megõrzésének lehetõségei“(„Dimensionen des sprachlichen Andersseins: Möglichkeiten
der Bewahrung von Minderheitensprachen“) von der Verfasserin des Beitrags erhoben
wurden. Hauptzielsetzung des Projektes ist, statt der bisher praktizierten, auf einzelne Minderheiten
beschränkten Forschungen die kontrastive Untersuchung des Sprachgebrauchs von
sechs ungarländischen Minderheiten – der deutschen, der slowakischen, der serbischen, der
kroatischen, der roma und der rumänischen –, mit besonderer Berücksichtigung der Symptome,
der Steuerungsfaktoren, der Formen und Stadien des sich seit geraumer Zeit abzeichnenden
Sprachwechsels in diesen ethnischen Gruppen. Die einzelnen Minderheiten wurden
durch jeweils eine, als prototypisch erachtete Ortschaft repräsentiert, im Falle der Ungarn
134
Maria Erb
!
Abbildung
2:
Aktive und passive Sprachkompetenzen: ganze Stichprobe (N = 70)
Abzulesen ist folgender Befund: Die besten Kompetenzen können die Probanden
in der ungarischen Sprache vorweisen, gefolgt vom Dialekt und der
Standardvarietät. Bei allen drei Sprachen liegen die passiven Kompetenzen naturgemäß
höher als die aktiven, doch sollte man die Unterschiede zwischen den
zwei Werten nicht außer Acht lassen. Diese sind beim Ungarischen nicht nur
am geringsten, sondernverschwindend klein, beim Dialektdagegen am größten,
was als Anzeichen für die Unsicherheit der Dialektkenntnisse und damit als ein
Symptom des Sprachverlustes gewertet werden kann. Die ziemlich hohe Verstehenskompetenz
lässt darauf schließen, dass die Mundart in der Kommunikation
noch präsent ist, und von den Mitgliedern der Sprechergemeinschaft im Prinzip
auch angeeignet werden kann. Dass dieses passive Wissen auf einem schlechteren
Niveau produktiv umgesetzt wird, deutet darauf hin, dass der Dialekt
im aktiven Sprachgebrauch – im Vergleich zum Ungarischen – eine eher untergeordnete
Rolle spielt. Dass die Werte der Standardvarietät am niedrigsten
sind, ist nicht verwunderlich, gliedert sie sich doch erst in letzter Zeit und lang
deutschen war dies Tarian/Tarján im Komitat Gran-Komorn, 70 km von Budapest gelegen.
DasBefragungsinstrumentbeinhaltet143, meistgeschlosseneGrundfragen,dieineinemstark
strukturierten, auch auf Tonband festgehaltenen Interview zwischen Oktober 2004 und April
2005 abgefragt wurden. Die nach den sozialen Variablen Alter (21–40; 41–60; 61– 80), Geschlecht
und Schulausbildung (Grundschule bzw. Berufsschule; Abitur; Hochschulabschluss)
geschichtete Stichprobe umfasste 70 Probanden. Zum Messverfahren: Die Probanden wurden
gebeten, ihre Kompetenzen auf einer Skala von 1 (= gar nicht) bis 5 (= ausgezeichnet),
gleich dem Notensystem an ungarischen Schulen, einzuschätzen. Das Projekt (5/126/2001)
wurde vom Ungarischen Wissenschaftsfond (NKFP) gefördert.
135
Maria Erb
sam in die Kompetenzstruktur der Ungarndeutschen ein. Sowohl Sprachverlust
als auch Sprachwechsel haben einen graduellen Charakter, daher erweist sich
das Alter als wichtigste soziale Variable. Das führt gleichzeitig dazu, dass die
Kompetenzstrukturen der einzelnen Generationen Unterschiede aufweisen:
Abbildung
3:
Aktive und passive Sprachkompetenzen nach Altersklassen: ganze
Stichprobe (N = 70)
Hinsichtlich der drei Sprachen kann folgendes festgestellt werden: Die Ungarischkenntnisse
sind bei allen drei Altersgruppen die höchsten, mit fast identischen
Werten. Im Gegensatz dazu zeigen die beiden autochtonen Varietäten
– als Zeichen ihrer bereits beziehungsweise noch instabilen Position –, eine
deutliche, und zwar adversative Staffelung in der Generationsabfolge: Die Dialektkompetenzen
sinken von der alten in Richtung der jungen Generation, die
StandardkenntnissevonderjungeninRichtungderaltenGeneration. Aufmerksamkeit
geschenkt werden muss noch folgenden Tatsachen: Neben der Gradualität
des Dialektverlustes ist auch abzulesen, dass dieser Prozess nicht gleichmäßig
verlief. Aus den Kompetenzdaten ist zu entnehmen, dass er zwischen der
mittleren und jungen Generation deutlich an Intensität gewinnt: Während der
Unterschied zwischen den beiden älteren Altersklassen 0,15 bzw. 0,84 Noten
ausmacht, beläuft er sich zwischen der mittleren und jungen Generation bereits
auf 1,1 bzw. 1,21 Noten. Dies bekräftigen auch die Diskrepanzen zwischen aktiver
und passiver Mundartkompetenz der einzelnen Altersgruppen (0,15 vs.
1,04 vs. 1,34 Noten).
Die Jugend spricht bereits besser die Standardvarietät als den Dialekt, auch
setzt sie ihre Verstehenskompetenzen mit mehr Sicherheit in die Sprachproduktion
um, dennoch gehen ihre Kenntnisse über ein Mittelmaß (noch) nicht
hinaus. Die Kenntnis der Hochsprache ist bei den über 61jährigen mehr als bescheiden
und reicht für eine Konversation kaum aus: „Mi@r kcen@
kcoan Brief
stark zamstell@
uf Taitsch.“ Ihre Verstehenskompetenzen, die immerhin mittelmäßig
sind, haben sich erst in letzter Zeit entwickelt, vor allem durch die
Fernsehsendungen aus dem deutschsprachigen Ausland, aber auch durch regelmäßige
Kontakte zu Deutschsprachigen, die ab den 90er Jahren wieder möglich
136
Maria Erb
waren. Die Wirkung der Massenmedien zeigt folgende Bemerkung einer Probandin
sehr treffend: „Am Ofang hom’se so kschwindt geredt, dass ich hob’se
pal net verstane. Jetzt rede’se awer schee staat, so dass ich sie a versteh’.“
Wenn die Angaben nicht nach Sprachen, sondern nach Altersklassen differenziert
betrachtet werden, ergibt sich folgendes Bild: Das Tertium comparationis
in den Kompetenzstrukturen bildet das Ungarische, es ist die Sprache,
die alle drei Generationen am besten sprechen. In Kenntnis der beiden eigensprachlichen
Varietäten unterscheiden sie sich aber deutlich, vor allem die alte
von der jungen Altersgruppe. Das wirft die berechtigte Frage auf, ob in einer
dieser Varietäten eine Kommunikation zwischen den Generationen möglich ist.
5.3 Sprach-und Varietätengebrauch
Der gegenwärtige Sprachgebrauch der Ungarndeutschen ist mehrfach von Diskontinuität
geprägt. Ihre funktionelle Erstsprache ist das Ungarische, das sie
nichtnur ambesten beherrschen, sonderndaraus resultierend – sowohl inprivaten
als auch in öffentlichen Bereichen – auch am meisten gebrauchen, wie dies
nachfolgende Grafik (siehe Abbildung 4) mit dem proportionalen Anteil von
Deutsch (vorwiegend Dialekt) und Ungarisch im Sprachgebrauch auch schildert17
.
Der Dialekt spielt eine immer geringere Rolle in ihrer Kommunikation: Den
Großteil seiner ehemaligen Funktionen als Vollsprache verloren, wird er – fast
ausschließlich von der älteren, in Südungarn teils noch von der mittleren Generation
– in informellen Situationen, im Familien-und Freundeskreis verwendet
und ist auch in diesen Domänen der starken Konkurrenz des Ungarischen ausgesetzt.
DiejungeGenerationverwendetsogutwieniedenDialekt: Siegiltmit
ihren vorwiegend passiven Kompetenzen als halbsprachig, was sich gelegentlich
in asymmetrischer Kommunikation äußert: Die Großeltern sprechen Dialekt,
den die Enkel zwar noch verstehen, ihre sprachliche Reaktion kommt aber auf
Ungarisch. Auch die Unterschiede im Kompetenzgrad der beiden autochtonen
Varietäten begünstigen in der Kommunikation zwischen den Generationen eine
auf das Ungarische als Tertium comparationis ausgerichtete Sprachwahl: „Ich
kann nicht so gut Schwäbisch wie meine Mutter, sie wiederum kann kein Hochdeutsch,
daher wechseln wir oft ins Ungarische.“ Funktionsverlustbzw. geringe
Verwendungsbereitschaft auch seitens noch kompetenter Sprecher, liegen auch
darin begründet, dass der Dialekt seiner Darstellungsfunktion immer weniger
nachkommen kann. Ihren Bedarf an neuen Wörtern decken die Sprecher – wie
bereits erwähnt – im Rückgriff auf das Ungarische. Von den zahlreichen, allgemein
verbreiteten neueren Entlehnungen, die den Dialekten lautlich nicht angepasst
werden, sollen hier nur einige Auswahlbeispiele stehen: porszívó ’Staub
17DieGrafikbeinhaltetdieAngaben zurSprachwahlinBezugauf27Domänen, Situationen
und Gesprächspartner (n= 70).
137
Maria Erb
!
Abbildung
4:
Sprachwahl: ganze Stichprobe (N = 70; n= 1475)
sauger’, hûtõ(szekrény) ‚Kühlschrank’, fürdõ (szoba) ’Bad’ kazán ’Heizungskessel’,
központi fûtés ’Zentralheizung’, étkészlet ’Service/Tafelgeschirr’, híradó
’Tagesschau’, bérlet ’Monatskarte’, kukta ’Schnellkochtopf’, kuka ’Mülltonne’,
jénai (tál) ’Geschirr aus hitzebeständigem Jenaer Glas’, fotel ’Sessel’, fûnyíró
’Rasenmäher’, mosogató ’Spülbecken’ mosogatószer ’Spülmittel’, egyetem ’Universität’,
fregoli ’Wäschespinne’, TV (televízió) ’Fernseher’, távirányító ’Fernbedienung’,
mikro(hullámú) sütõ ’Mikrowelle’, mobil ’Handy’, sorozat ’Fernsehsehrie’.
Die Wirkung des Ungarischen auf den dialektalen Sprachgebrauch beschränktsichjedochnichtnuraufdiese
Bedürfnisentlehnungen: Ihredominante
Stellung in der Kompetenz-und Sprachgebrauchsstruktur der Sprecher äußert
sich in einer breiten Palette von Kontaktphänomenen – Ad-hoc-Entlehnungen,
Codeswitching, Codemixing, Codeshifting –, die zur Pidginisierung des Dialektes
führen. Während sprachliche Äußerungen vor 1945 eindeutig dem Dialekt
oder dem Ungarischen zuzuordnen waren, ist dies heute meist nicht mehr
möglich. Auf der Basis der beiden Sprachsysteme und Wortschätze entstehen
Mischvarietäten verschiedenster Ausprägung – mal mit Dialekt, mal mit
Ungarisch als Matrixsprache –, die von den Sprechern nicht nur hochfrequent
138
Maria Erb
gebraucht, sondern von den meisten auch akzeptiert werden18: „Hauptsach’,
man kann sich verständige.“ ; „Wir sind doch in Ungarn, ein jeder versteht’s“
; „Viel besser, wenn sie so schwäbisch sprechen, als wenn gar nicht.“ Ihnen
wird auch eine reiche Vis comica zugeschrieben, kreative, ungewöhnliche Konstruktionen
werden weitererzählt und sorgen für Witz und Belustigung: „Der
jegyzõ hat gehímezt-gehámozt“ (ung. jegyzõ ’Notar’; ung. hímezni-hámozni
’hin und her reden, sich winden’). Neben dieser pragmatischen Einstellung
gibt es auch kritische Töne in der Beurteilung, allerdings weniger: „schlechte
Angewohnheit“ ; „Sie sollen entweder ungarisch sprechen oder deutsch“ ; „Die
Verstehbarkeit für die Ausländer ist dann nicht mehr da.“
Der Sprachverlust äußert sich auch in neuen Funktionen des Dialektes. Einerseits
wird er vor allem von der noch mundartfesten alten, teils auch von
der mittleren Generation als Sprache der Ausgrenzung (Geheimsprache) eingesetzt,
was auch in Anwesenheit von Kindern und Jugendlichen die Besprechung
von bestimmten Erwachsenenangelegenheiten möglich macht. Andererseits ist
er in Form von kürzeren Dialekt-Einschüben (Ein-Wort-Insertionen, Ein-Satz-
Insertionen) in einer ansonsten vollkommen ungarischsprachigen Konversation
ein Emblem für Witz und gute Laune – somit wohnt auch ihm eine Vis comica
inne, wie dies dem Dialekt allgemein zugeschrieben wird: „Kummt’s esse¡‘ ;
„I hob kca Zaait.“ ; „Mi lesz ma, Mama? Topfestruul¿‘ („Was gibt es heute,
Oma? Topfenstrudel?¨).
Bekanntlich wirkt sich Funktionsverlust und geringer Gebrauch einer Sprache
auch auf ihre Struktur aus. Bestimmte Segmente, Systemeinheiten fallen
aus, die Sprache erodiert, was den Verlust von noch weiteren Funktionen nach
sich zieht. Am prägnantesten zeigt sich der Dialektabbau bei den Ungarndeutschen
nach 1945 im Wortschatz. Betroffen davon ist zum einen der bäuerliche
Grundwortschatz, wobei dieser Befund sehr stark mit wirtschaftlichen und sozialen
Umwälzungsprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg korrespondiert: Kollektivierung
der Landwirtschaft und dadurch Auflösung der Bauernfamilien als
Wirtschaftseinheiten, Industrialisierung, Modernisierung, Zugang zu höheren
Bildungsebenen und dadurch Umstrukturierungen in der Berufsstruktur – um
nur die wichtigsten in Erinnerung zu rufen. Sehr eklatant zeigt sich dieser
Wortschwund im ersten Halbband/Südungarn des Ungarndeutschen Sprachatlas
(UDSA)19, in dem die meisten Belege, die nicht mehr erinnert werden
konnten, eben im bäuerlichen Grundwortschatz zu verzeichnen sind20: Siehe
Abbildung 5.
Wenn dies auch Verluste für die Wissenschaft, allen voran für die Dialektologie
sind, beeinträchtigen sie die Leistungsfähigkeit der Mundarten nur in ge
18Vgl. dazu unter anderem Földes 2005.
19Brenner, Koloman / Erb, Maria / Manherz, Karl [in Zus.arbeit mit Dingeldein, Heinrich
J.]: (2008) Ungarndeutscher Sprachatlas. Südungarn. Erster Halbband. Budapest: ELTE
Germanisztikai Intézet.
20Die Gesamtzahl der Erhebungsorte beträgt 134.
139
Maria Erb
Abbildung
5:
Lemmata des UDSA mit den meisten fehlenden Belegen
ringerem Maße. Eine andere Art des Abbaus, die sich immer mehr abzeichnet,
schränkt dagegen die Ausdrucks-und Appelfunktion der Dialekte erheblich ein
– nicht ohne negative Konsequenzen für ihren Gebrauch. Ihre beeindruckende
Ausdifferenziertheit – vor allem im positiv-oder negativ-expressiven Bereich,
in der Wahrnehmung von Sinneseindrücken, Bewegungsabläufen –, ihr Hang
zu Kraftausdrücken, zur Bildhaftigkeit, zu parömiologischen Einheiten – festen
Wortverbindungen, Redensarten, Sprichwörtern –, gehören im Allgemeinen zu
den Stärken des Dialektes als Varietät. Werden diese abgebaut, haben wir es
mit einer Uniformierung des sprachlichen Ausdrucks zu tun: Dialekte verlieren
nicht nur ihre Vorzüge – sie werden blutleer, farb-und glanzlos –, sondern sind
auch nicht mehr im Stande – wie vor 1945 –, zugleich als Sprache der Nähe und
als Sprache der Distanz zu funktionieren. Nachstehende Auswahlbeispiele aus
meinem Heimatdialekt (Wemend/Südungarn) sollen dies veranschaulichen:
Man isst und trinkt nicht mehr kâx ’hastig’ sondern nur kšwind(ix); es
gibt keinen kc¯ots@t ’männliche Katze: Kater’ mehr, lediglich nur eine kcats;
auch heißt eine ’große, dicke Scheibe Brot’ nicht mehr rag@, sonder nur ’@
kros/tek štek (prôt), will man eine ganze Scheibe Brot haben, verlangt man
ein štek/@
šaiw@
(prôt) nicht aber ein remštek; ein süßes, dickliches Kleinkind
ist höchstens @
koltix ten, aber kein pond@witsj@, wie auch der (meist runde)
Zierkürbis’ kein pond@witsj@
mehr ist‚ sondern nur @n klan@
kcir@ps; ist jemand
nach einer Krankheit oder nach einem Unwohlsein wieder auf dem Wege der
140
Maria Erb
Besserung, dann ist er nicht all¯e@t, @s k¯et’n allenfalls wid@r pez@r; remklrak¯el
tut man auch nicht mehr, man kraišt höchtens laut rem; ein ’kleines Messer
mit Holzstiel, meist von schlechter Qualität’ ist kein šlap@rpeklj@, sondern nur
@
kl¯a (šlext) mez@rje; bei einem Gewitter plitst’ts nur noch, es tut aber nicht
mehr w¯ed@ropkc¯il ’Wetterleuchten’, bei dem nach einem kleinen Blitz/kurzer
Erhellung des Himmels kein Donner folgt; man šmaiG@lt den Leuten nur noch,
aber man mext kca kratsfisj@; das kc¯id@n’kichern, unerzogen rumlachen’ gibst
auch nicht mehr, man laxt nur rem, höchstens trekix; Kinder suchen im Hühnerstall
nur noch nach ¯
ai@r, nicht aber nach kakâtsi; großwüchsige Menschen
sind nicht mehr la w¯i @
p¯on@šta@, sondern nur noch krôs; trinkfeste Menschen
mit einem bedeutenden Alkoholkonsum tren@
fil, aber sauw@
nicht w¯i
@n pi@št@pen@; ein übergewichtiger Mensch hat allenfalls @nk@tixtig@n/tek@n
oaš aber keinen oaš w¯i @n oxtoxtlts pau@r.
Die deutsche Standardvarietät – als Fremdmuttersprache, ohne historische
KontinuitätimKommunikationsprofilderUngarndeutschen –gliedertsichzwar
in letzter Zeit langsam und in generationsmäßiger Staffelung in die Kompetenzstruktur
ein, doch spielt sie im Sprachgebrauch neben Ungarisch und dem
Dialekt bislang eine untergeordnete Rolle. Sie findet in Alltagsinteraktionen
kaum Verwendung – mit der Ausnahme einer Gruppe von engagierten Ungarndeutschen,
meist Intelligenzler, die die Standardvarietät (seltener den Dialekt)
auch in privat-informellen Situationen, nicht zuletzt aus demonstrativen
Zwecken und um andere zum Nachahmen zu animieren, gebrauchen. Auch für
die ungarndeutsche Jugend, die als Standardgeneration bezeichnet wird, ist sie
nicht die Sprache des natürlichen sprachlichen Umgangs, für die Schüler ist
sie die Sprache der Unterrichtsstunden, nicht aber die der Pausen. Dennoch
lässt sich feststellen – betrachtet man die Entwicklungstendenzen der letzten
beiden Jahrzehnte –, dass sie sich in bestimmten Bereichen und Funktionen
zunehmend zu etablieren scheint. Nach der klassischen, auf Komplementarität
ausgerichteten Domänenverteilung zwischen Dialekt und Hochsprache wird sie
in minderheitenbezogenen öffentlichen, offiziellen Situationen (unter anderem
Kulturprogramme, Wettbewerbe, Sitzungen von Minderheitenselbstverwaltungen,
Vereinen) eingesetzt bzw. findet Verwendung in der deutschsprachigen
Schriftlichkeit (unter anderem Korrespondenz, Verträge, Bewerbungen, Presse)
und nicht zuletzt in der Kontakthaltung mit dem deutschsprachigen Ausland.
Abschließend soll noch eine weitere Folge des Sprachverlustes bzw. der
instabilen Sprachsituation kurz tangiert werden: Für Sprachminderheiten ist
die Muttersprache nicht nur ein Kommunikationsmittel, sondern als primäres
Gruppenabzeichen zugleich auch das wichtigste identitätsstiftende Element.
Ihre Muttersprache galt für die Ungarndeutschen bis vor kurzem als die primäre
Bezugsgröße ihrer Selbstbestimmung – wie dies auch den einschlägigen
Angaben der in zehnjährigen Abständen durchgeführten staatlichen Volkszählungen
zu entnehmen ist: Die Bekenntnisdaten zur deutschen Muttersprache
141
Maria Erb
lagen bis 1990 durchgehend immer höher als zur deutschen Identität. Ein deutlicher
Wechsel stellt sich 2001 ein: Fast doppelt so viele bekannten sich zur
deutschen Identität (62.233) als zur deutschen Muttersprache (33.192). Dieser
Unterschied spiegelt einerseits die durch Status-und Funktionsverlust gekennzeichnete
instabile Sprachsituation wider, gleichzeitig signalisiert diese Diskrepanz
aber auch eine Umstrukturierung im Identitätsgefüge, in dem eine deutsche
Identität auch ohne Deutsch als Muttersprache möglich ist. Die Sprache
verliert ihre in dieser Hinsicht bestimmende Rolle, die immer mehr von kulturellen
Repräsentationsformen – allen voran: Tanz, Gesang, Musik, aber auch
Brauchtumspflege – übernommen wird. Dies bekräftigen nicht nur einschlägige
empirische Untersuchungen, sondern auch die Tatsache, dass von allen
Bekenntnisdaten des Jahres 2001 mit 88.416 Personen die Zahl derjenigen am
höchsten lag, die eine Bindung an die deutsche Kultur angegeben haben.
6 Vage Blicke in die Zukunft
Die SprachgegenwartderUngarndeutschen kennzeichnen –nebenUngarischals
konstante Größe – in Hinblick auf die beiden autochtonen Varietäten dynamische
Prozesse und enorme Instabilität: Der Dialekt ist im Gehen, die Standardvarietät
im Kommen begriffen. Dass die Mundart für viele nicht mehr, und die
Standardvarietät noch nicht die Kriterien einer Muttersprache erfüllt, beweisen
auchdieeingangszitiertenZensusdatenausdemJahre2001sehrprägnant: Nur
für 33.192 Personen besitzt Deutsch diesen Status, um 20.000 höher liegt die
Zahl derjenigen, die Deutsch im Familien-und Freundeskreis zwar verwenden
– allerdings ohne dieses Qualitätssiegel. In Anbetracht der erheblichen funktionellen
und strukturellen Verluste einerseits, und der Generationsexklusivität
von Kompetenz und Gebrauch andererseits, muss mit dem Verschwinden des
Dialektes in absehbarer Zeit gerechnet werden. Umso wichtiger ist es, dass der
eigensprachliche Varietätenwechsel zu Gunsten der Standardvarietät beschleunigt
und vollzogen wird. Anzustreben ist die Ausdehnung des Geltungsbereichs
des Deutschen sowohl im Privaten als auch im Öffentlichen und dadurch statt
der rezessiven eine ausgeglichene Zweisprachigkeit. Den Bildungseinrichtungen21
– mit ihrer zentralen Rolle in der Tradierung von Sprache, Kultur und
21Seit 2004 erscheint in der Trägerschaft der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen
und des Ungarndeutschen Forschungs-und Lehrerbildungszentrums die pädagogische Fachzeitschrift
Deutsch revital. Die bisher erschienenen 6 Hefte enthalten vor allem praxisbezogene
Beiträge für alle Stufen des ungarndeutschen Bildungswesens und ermöglichen einen
fachlichen Austausch zwischen den einzelnen Pädagogen und Bildungseinrichtungen. Vor
kurzem (Mai 2010) ist – das erste Mal in der Geschichte der Ungarndeutschen – ein Leitbild
des ungarndeutschen Bildungswesens mit dem Titel „Wurzeln und Flügel“ erschienen –
erstellt von einem Expertenteam, das sich in der zweiten Phase des Projektes ab September
mit der Operationalisierung d.h. der Ausformulierung der nötigen Schritte und Maßnahmen
befassen wird.
142
Maria Erb
Identität – sowie den heranwachsenden Generationen kommt dabei eine Schlüsselposition
zu: Werden sie als Eltern den Status der deutschen Sprache, die sie
als Zweit-und Fremdsprache erlernt haben, ändern und sie als Erst-und Muttersprache
in der Erziehung ihrer Kinder einsetzen, wird das Ungarndeutschtum
auch in Zukunft als Sprachminderheit bestehen bleiben. Denn nicht nur
die Nation, auch die Nationalität lebt in ihrer Sprache!22
Literatur
Bellér, Béla (1973): A nemzetiségi iskolapolitika története Magyarországon
a legújabb korban. In: Baranyai Mûvelõdés 4.
Bleyer, Jakob (Hg.) (1928): Das Deutschtum in Rumpfungarn. Mit
ethnographischen und siedlungsgeschichtlichen Karten [= Volksbücherei des
Sonntagsblattes 2]. Budapest 1928.
Brenner, Koloman/Erb, Maria/Manherz, Karl [in Zus.arbeit mit Dingeld-
ein, Heinrich J.] (2008): Ungarndeutscher Sprachatlas. Südungarn. Erster
Halbband. Budapest 2008.
Deminger, Szilvia: (2004) Spracherhalt und Sprachverlust in einer
Sprachinslesituation [= Variolongua 21]. Frankfurt/M. et. al: Peter Lang.
Deutsch revital. Pädagogische Zeitschrift für das ungarndeutsche Bildungswesen:
(2004–2009) Heft: 1–6. Hgg. von Knipf, Elisabeth / Erb, Maria.
Erb, Maria/Kinpf, Elisabeth (1995): Die Rolle der deutschsprachigen
Massenmedien bei den Ungarndeutschen. In: Manherz, Karl (Hg.): Beiträge
zur Volkskunde der Ungarndeutschen. Bd. 12. Budapest 1995, 28–36.
Erb, Maria / Knipf, Elisabeth: (1998) Sprachgewohnheiten bei den
Ungarndeutschen. Vorergebnisse einer Umfrage. In: Hutterer, Claus J. /
Paurisch, Gertrude (Hgg.): Beiträge zur Dialektologie des ostoberdeutschen
Raumes. Referate der 6. Arbeitstagung für bayerisch-österreichische Dialektologie,
20.–24.09. 1995 in Graz. Göppingen: Kümmerle Vlg. 253–265.
Erb, Maria / Knipf, Elisabeth (2000): Selbstreflexionen zum Ortsdialekt
in den deutschen Ortschaften im Ofner Bergland (Ungarn). In: Greule,
A./Scheuerer, F. X./Zehetner. L. (Hgg.): Vom Sturz der Diphtonge. Beiträge
zur 7. Arbeitstagung für bayerisch-österreichische Dialektologie in Regensburg,
22In Rückgriff auf den Leitsatz der ungarischen Spracherneuerungs-und Sprachkultivierungsbewegung:
„Nyelvében él a nemzet¡‘, „Die Nation lebt in ihrer Sprache¡‘.
143
Maria Erb
1998 [Tübinger Beiträge zur Linguistik 450]. Tübingen: Niemeyer. 217–229.
Erb, Maria (2001): Hansi khumm. spül’ma Tschikosch! -
Ungarische
Lehnwörter in der Kindersprache der neueren deutschen Sprachinselmundarten
von Ungarn bis 1945. In: Canisius, Peter/Gerner, Zsuzsanna/Glauninger,
Manfred Michael (Hrsg.): Sprache – Kultur – Identität. Festschrift für
Katharina Wild zum 60. Geburtstag. Pécs 2001, 63-78.
Erb, Maria (2003): Acculturation Processes and Interethnic Relations
among Germans in Hungary prior to 1945 in the Light of Hungarian Loans.
In: Minority Research. A Collection of Studies by Hungarian Authors 5. 79-88.
Erb, Maria (2004/a): Wo man Gulasch, Pogatscherl und Palatschinken
auftesséken tut –KorpusbasierteUntersuchungenzursemantischenEinbettung
ungarischer Lehnwörter in die neueren deutschen Sprachinselmundarten von
Ungarn. In: Brdar-Szabó, Rita/Knipf, Komlósi, Elisabeth (Hgg.): Lexikalische
Semantik, Phraseologie und Lexikographie: Abgründe und Brücken. Festgabe
für Regina Hessky [= Duisburger Arbeiten zur Sprach-und Kulturwissenschaft
57]. Frankfurt am Main 2004, 79-106.
Erb, Maria (2004/b): Abbau oder Zugewinn? Ungarische Lehnwörter in
den neueren deutschen Sprachinselmundarten Ungarns bis 1945. In: Gaisbauer,
Stephan/Scheuringer, Hermann (Hgg.): Linzerschnitten. Beiträge zur
8. Bayerisch-österreichischen Dialektologentagung, zugleich 3. Arbeitstagung
zu Sprache und Dialekt in Österreich, in Linz, September 2001. Linz 2004,
439–455.
Erb, Maria (2006/a): Ungarische Lehnwörter in den neueren deutschen
Spachinseln. In: Szabó, Dezsõ (Hg.): Ungarndeutsche Minderheitenkunde.
Budapest 2006, 139–167.
Erb, Maria (2006/b): „[...] wail’s Lem es so procht hot [...]“ /„ [...]
mert így hozta az élet“ – A nyelvcsere és a nyelvmegõrzés dimenziói a
magyarországi németeknél a tarjáni közösség példáján [„[...] wail’s Lem
es so procht hot [...]“ / „[...] mert így hozta az élet“ – Dimensionen
des Sprachwechsels und der Sprachbewahrung bei den Ungarndeutschen am
Beispiel der Sprachgemeinschaft von Tarján]. In: Tóth, Ágnes / Vékás, János
(Hgg.): Egység a különbözõségben. Az Európai Unió és a nemzeti kisebbségek
[= Érték és valóság 6]. Budapest 2006, 103–136.
Földes, Csaba (2005): Kontaktdeutsch. Zur Theorie eines Varietätentyps
unter transkulturellen Bedingungen von Mehrsprachigkeit. Tübingen 2005.
144
Maria Erb
Gerner, Zsuzsanna: (2003) Sprache und Identität in Nadasch/
Mecseknádasd. Eine empirische Untersuchung zur Sprachkontaktsituation
und Identitätsbildung in der ungarndeutschen Gemeinde Nadasch [=
Ungarndeutsches Archiv 7]. Budapest: ELTE Germanistisches Institut.
Hock-Englender, Ibolya (et al.): Wurzeln und Flügel. Leitbild des
ungarndeutschen Bildungswesens. Budapest: Landesselbstverwaltung der
Ungarndeutschen.
Hutterer, Claus Jürgen (1968): „Deutsch-ungarischer Lehnwortaustausch“.
Mitzka, Walter (Hrsg.): Wortgeographie und Gesellschaft. Berlin 1968,
644-659.
Hutterer, Claus Jürgen (19912/a): Die deutsche Volksgruppe in Ungarn.
In: Ders. (Hg.): Aufsätze zur deutschen Dialektologie [Ungarndeutsche
Studien 6]. Budapest 1991, 253–280.
Hutterer, Claus Jürgen (19912/b): Hochsprache und Mundart bei den
Deutschen in Ungarn. In: Ders. (Hg.): Aufsätze zur deutschen Dialektologie
[Ungarndeutsche Studien 6]. Budapest 1991, 313–344.
Jäger-Manz, Monika: (2007) Zum Sprachgebrauch der primär mehrsprachig
sozialisierten Kinder in Südungarn. In: Erb, Maria / Knipf-Komlósi, Elisabeth
(Hgg.) Tradition und Innovation. Beiträge zu neueren ungarndeutschen Forschungen
[= Ungarndeutsches Archiv 9]. Budapest: ELTE Germanistisches
Institut. 264–290.
Knipf, Elisabeth: (2001) Dialekt „out“ – Standardsprache „in“. Zur Varietätenwahl
im Sprachgebrauch der deutschen Minderheit in Ungarn. In: Egger,
K./ F. Lanthaler (Hgg.): Die deutsche Sprache in Südtirol. Einheitssprache
und regionale Vielfalt. Wien/Bozen: Folio Verlag. 2001: 99–115.
Knipf, Elisabeth: (2003) Sprachwahl und kommunikative Handlungsformen
bei der deutschen Minderheit in Ungarn. In: Mattheier, K. / Keel, W. (Hgg.):
German Language Varieties Worldwide: Internal and External Perspektives/
Deutsche Sprachinseln weltweit: Interne und externe Perspektiven.
Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag. 269–283.
Kosáry, Domonkos (1980): Mûvelõdés a XVIII. századi Magyarországon
[Bildung in dem Ungarn des 18. Jahrhunderts]. Budapest 1980.
145
Maria Erb
Manz, Adelheid: (2007) Zur Sprachkompetenz und zum Sprachgebrauch
der deutschen Minderheit in Frankenstadt/Baja zu Beginn des dritten Jahrtausends.
In: Erb, Maria / Knipf-Komlósi, Elisabeth (Hgg.) Tradition und
Innovation. Beiträge zu neueren ungarndeutschen Forschungen [= Ungarndeutsches
Archiv 9]. Budapest: ELTE Germanistisches Institut. 223–265.
Mollay, Károly (1989): A német–magyar nyelvi érintkezések [Deutschungarische
Sprachkontakte]. In: Balázs, János (Hg.): Nyelvünk a Duna-tájon.
Budapest 1989, 231–290.
Schirmunski, Viktor (1930): Sprachgeschichte und Siedlungsmundarten.
In: Germanisch romanische Monatsschrift, Jg. 18., H. 3/4, 113–122; 171–188.
Schwob, Anton (1971): Wege und Formen des Sprachausgleichs in neuzeitlichen
ost-und südostdeutschen Sprachinseln [= Buchreihe der Südostdeutschen
Historischen Kommission 25]. München 1971.
Weidlein, Johann (19792): Das deutsche Schulwesen in Ungarn. In: Ders.
(Hg.): Pannonica. Ausgewählte Abhandlungen und Aufsätze zur Sprach-
und Geschichtsforschung der Donauschwaben und Madjaren. Schorndorf:
Selbstverl. des Verf. 400–406.
Wiesinger, Peter (1983): Deutsche Dialektgebiete außerhalb des deutschen
Sprachgebietes: Mittel-, Südost-und Osteuropa. In: Besch, Werner/Knoop,
Ulrich/Putschke, Wolfgang/Wiegand, Herbert Ernst (Hrsgg.): Dialektologie:
Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung. 1. Teilband.
(HSK. Handbücher zur Sprach-und Kommunikationswissenschaft 1.2), Berlin
– New York 1983, 900-930.
Wild, Katharina (2003): Zur komplexen Analyse der ‚Fuldaer’ deutschen
Mundarten Südungarns [= Ungarndeutsches Archiv 6]. Budapest 2003.
Weber-Kellermann, Ingeborg/Schenk, Annemie (1977): Deutsche in
Südosteuropa. In: Zeitschrift für Volkskunde, 43–59.
146
Goethe, Golf, Adolf und die Toten Hosen. Das
Bild der Ungarn von Deutschland und den
Deutschen
Dr. Gábor Kerekes (PhD)
Germanistisches Institut
Eötvös-Loránd-Universität
Rákóczi út 5.
1088 Budapest
1 Einleitung
Der vorliegende Beitrag geht der Frage nach, was für ein Bild über Deutschland
inUngarnvorherrschte, wieundaufwelcheWeiseDeutschlandunddiedeutsche
Kultur in Ungarn vertreten waren und welches Bild sich in Ungarn auf Grund
welcher Repräsentanten Deutschlands verbreitet und festgesetzt hat. Hierbei
muss ebenfalls die Rolle des Ungarndeutschtums angesprochen werden, da es
zum Bild der Ungarn über die Deutschen und Deutschland mit beigetragen
hat.
2 Deutschland und Ungarn bis 1945
Eine umfassende Untersuchung der Beziehungen zwischen Deutschland und
Ungarn darf natürlich nicht erst mit dem Jahr 1989 beginnen, können doch
die beiden Nationen auf eine mehr als tausendjährige gemeinsame Geschichte
zurückblicken. Bereits mit der Gründung des ungarischen Staates im Jahre
1000 beginnen die direkten Beziehungen mit Deutschland, in denen es natürlich
im Laufe der Zeit neben friedlichen Phasen und Erscheinungen – so bereits
seit der Staatsgründung Ungarns immer wieder die Ansiedlung von Deutschen
in Ungarn – auch eine Reihe von kriegerischen Ereignissen gab, doch liegen
die letzten unmittelbaren militärischen Konfrontationen zwischen Deutschland
und Ungarn im fernen Mittelalter, so dass aus der Perspektive der ungarischen
Menschendes20. und21. JahrhundertsimFalleDeutschlandsdieangenehmen
Erinnerungen deutlich überwiegen, während dies hinsichtlich der unmittelbar
benachbarten Länder – mit der Ausnahme Österreichs – nicht unbedingt der
Fall ist.
147
Gábor Kerekes
Im ungarischen Allgemeinbewusstsein verankert findet sich eine Reihe historischer
Persönlichkeiten, die entweder als Deutsche aus Deutschland kommend
beziehungsweise als Ungarn einige Zeit in Deutschland lebend und von
dort zurückkehrend in der Geschichte Ungarns eine wichtige Rolle spielten. In
diese Reihe der deutschen Persönlichkeiten, derer man in Ungarn bis in unser
Jahrhundert immer noch gedenkt, gehört bereits die erste ungarische Königin,
die aus Bayern stammende Herzogstochter Gisela (ca. 984-1060), in den
Jahren 995-1038 Gemahlin König Stephan I., des Nationalheiligen Ungarns.
Ebenso die gleichfalls aus Bayern stammende Herzogin Elisabeth Amalie Eugenie
(1837-1898), heute besser bekannt als Sisi beziehungsweise Sissi, die ab
1867 als Königin von Ungarn große Verehrung genoss, da man ihr einen nicht
unwesentlichen Einfluss auf ihren Mann Franz Joseph I. in der Frage des Ausgleichs
zwischen Österreich und Ungarn zuschrieb und zudem ihre Sympathie
für Ungarn allgemein bekannt war. (Erstaunlicherweise war diese Verehrung
eine derart tief verwurzelte Angelegenheit, dass sie selbst die stalinistische Führung
Ungarns nicht einmal in den 1950er Jahren anzutasten wagte. Zu keinem
Zeitpunkt stand die Frage zur Debatte, ob denn die nach der Königin
benannte Elisabethbrücke, der Stadtteil Elisabethstadt sowie die nach ihr benannte
Straße – letztere sogar den Namen Straße der Königin Elisabeth ÿ[ung.
Erzsébet Királyné útja] tragend – in Budapest alle einen neuen Namen erhalten
sollten, während in anderen Fällen mit Umbenennungen nicht gezögert
wurde.)1
Zeitlich zwischen den beiden Herzoginnen aus Bayern liegend gab es noch
viele andere historische Personen, die im ungarischen Deutschlandbild verankert
sind:
Der Drucker des ersten Buches in Ungarn, András Hess (Andreas Hess),
stammte aus Deutschland. Seine Herkunft verschwindet ebenso im Nebel der
Geschichte wie nach seiner Tätigkeit in Buda zu Beginn der 1470er Jahre sein
weiterer Lebensweg.
Heltai Gáspár (Caspar Helth, 1490 oder 1510-1574) stammte aus einer sächsischen
Familie aus Siebenbürgen, erlernte das Ungarische erst ab 1536 und besuchte
1543 die Universität in Wittenberg. Die dort auf ihn wirkenden Impulse
1Soviel sei zum Umgang mit Königin Elisabeth an dieser Stelle noch gesagt: Gerade in
ihrem Fall hat sich in den vergangenen 20 Jahren auf Grund des Einflusses von Deutschland
und des dort vorherrschenden Sissi-Bildes eine deutliche Verschiebung beobachten lassen.
Während in Ungarn das traditionelle Elisabeth-Bild sich auf die souveräne Frau und Königinbezog, der Ungarn viel zu verdanken hat (vgl. Kerekes 1998), setzt sich seit der Übernahme
der vor der politischen Wende in Ungarn verbotenen Sissi-Filme mit Romy Schneider in der
Hauptrolle und der Veröffentlichung von Übersetzungen etlicher Mädchen-undJugendbücher
sowie von Sissi-Romanheften des Bastei-Verlages immer stärker das Image des jungen Mädchens
oder zumindest der jugendlichen Königin durch, das zumeist das Gesicht der 1982 in
Paris verstorbenen Schauspielerin erhält. Ganz gleich, wie man diese Akzentverlagerung wertet,
unübersehbar ist, wie hier sich ein in Deutschland entstandenes und verbreitetes Image
gegenüber der ungarischen Tradition durchsetzt.
148
Gábor Kerekes
machten ihn nicht nur zu einem Reformator, sondern er war maßgeblich an der
1555 herausgegebenen Bibelübersetzung ins Ungarische beteiligt und war einer
der bedeutendsten Autoren der ungarischen Literatur des 16. Jahrhunderts.
Doch auch wenn wir uns ungarischen Künstlern zuwenden, finden sich enge
Verknüpfungen zu Deutschland und den Deutschen. Nicht nur die deutsche
Literatur war spätestens seit dem 18. Jahrhundert für die ungarischen Autoren
(so auch für die bedeutendsten unter ihnen, etwa Ferenc Kazinczy, Mihály
Vörösmarty) ein Vorbild und eine Inspirationsquelle, sondern auch die deutsche
Sprache: Sie ermöglichte für viele von ihnen als Vermittlersprache den Zugang
zur englischen und französischen Literatur. Bei einer Reihe von Shakespeare-
und Molière-Übersetzungen bildete der deutsche Text die Grundlage. Die erste
ungarische Hamlet-ÜbersetzungfertigteKazinczyaufGrundeinerdeutschsprachigen
Vorlage an. Goethe und Schiller, Tieck und Uhland gehörten zu den in
Ungarn bekannten, gelesenen, zitierten und übersetzten Autoren, wobei – bis
in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein – die Lektüre der deutschsprachigen
Literaturen zu einem großen Teil in deutscher Sprache geschah (vgl.
Kerekes 1987). Erst mit der immer stärker werdenden Magyarisierung im 20.
Jahrhundert, die übrigens ungeachtet der sich verändernden politischen Ausrichtung
des Landes beinahe das ganze Jahrhundert hindurch bestand, nahm
die Lektüre dieser Literatur in ungarischer Sprache zu.
Deutschland war jedoch nicht nur in den Sprachkünsten von Bedeutung für
ungarische Künstler. Eine kaum zu überschätzende Rolle spielte die Münchner
Akademie der Bildenden Künste, an der unter anderem bei Piloty, aber auch
nach dessen Wirken später für die ungarische bildende Kunst bedeutende Maler
studierten wie etwa István Csók, Károly Ferenczi, Simon Hollósy und Pál
Szinyei Merse, von denen Ferenczi mit seinem Gemälde Oktober und Szinyei
mit seinem Bild Picknick im Mai auch den Zuschauern der WDR-Produktion
100(0) Meisterwerke bekannt sein müssten, widmete man ihnen doch jeweils
eine ganze Folge. Die Ungarn bildeten – vor den Polen – die zahlenstärkste
Künstlerkolonie in München, Károly Lyka listete mehr als 200 ungarische Namen
als Studenten in München auf (vgl. Lyka 1912).
Die Kontakte zwischen Deutschland und Ungarn existierten aber nicht nur
auf der Ebene der hohen Politik und innerhalb der Sphäre der auch international
anerkannten Ausübenden der schönen Künste. Bereits seit dem 16.
Jahrhundert besuchten ungarische Studenten Universitäten, Hochschulen und
Schulen in Deutschland. Die Sitte, als Wanderstudent im Ausland zu lernen,
bezeichnet man auf Ungarisch als „peregrináció“ (Peregrination, eigentlich:
Wallfahrt, wobei der ungarische Begriff keine religiös-kirchliche Konnotation
beinhaltet). Diese Peregrination der ungarischen Studenten lässt sich an über
50 Universitäten und Hochschulen in Deutschland belegen, wobei die Skala
der besuchten Institutionen sowohl regional als auch dem Ausbildungsangebot
nach sehr breit gefächert war. Zu den von ungarischen Studenten besuchten
149
Gábor Kerekes
Universitäten und Hochschulen gehören norddeutsche (Christian-Albrechts-
Universität zu Kiel, Universität Rostock, Ernst-Moritz-Arndt-Universität
Greifswald) ebenso wie süddeutsche (Ludwig-Maximilians-Universität München,
Handelshochschule München, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen
beziehungsweise Nürnberg), im Osten liegende (Albertus-Universität zu
Königsberg, Schlesische Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau) ebenso
wie im Westen beheimatete (Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg, AlbertLudwigs-
Universität Freiburg in Breisgau, Rheinisch-Westfälische Technische
Hochschule Aachen). Ungarische Studenten waren an den alten und auch
heute noch international bekannten Universitäten (Ruprecht-Karls-Universität
Heidelberg, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Universität Leipzig, GeorgAugust-
Universität Göttingen, Universität Wittenberg) unter den Studierenden
ebenso zu finden wie an Institutionen, die sich spezialisiert hatten, ganz
gleich ob auf Handel (Handelshochschule Berlin, Akademie für Sozial-und
Handelswissenschaften zu Frankfurt am Main, Städtische Handels-Hochschule
Köln, Handelshochschule zu Leipzig), Technik (Technische Hochschule beziehungsweise
Universität Berlin-Charlottenburg, Technische Hochschule Darmstadt,
Technische Hochschule beziehungsweise Universität Carolo-Wilhelmina
zu Braunschweig, Bergakademie Freiberg), Veterinärmedizin (Tierärztliche
Hochschule Berlin), Forstwirtschaft (Forstliche Akademie beziehungsweise
Hochschule Tharandt) oder natürlich auch auf künstlerische Bereiche wie das
Kunstgewerbe (Königliche Kunstgewerbeschule in Nürnberg), die Musik (Königliche
akademische Hochschule für Musik Berlin, Königliche Akademie der
Tonkunst München, Großherzogliche Musikschule Weimar) sowie die Bildende
Künste und dies über die oben bereits erwähnte Münchner Akademie hinaus
auch an anderen Orten (Königliche Akademische Hochschule für die bildenden
der Künste zu Berlin, Königliche Kunstakademie zu Düsseldorf, Königliche
Kunstakademie Dresden, Großherzogliche Staatliche Hochschule für bildende
Kunst in Weimar) (vgl. Leipold 2008, Szögi 2001, Békési 1993).
Die angeführten Beispiele für traditionelle Kontakte zwischen Deutschland
und Ungarn, die wesentlichen Einfluss auf das Deutschlandbild der Ungarn
hatten und haben, sind nur willkürlich herausgegriffene Beispiele aus einem
dichten Geflecht der Verbindungen zwischen den beiden Ländern, doch nichtsdestoweniger
bezeichnend.
Am Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahmen
mit der allgemeinen Verbesserung der Mobilität, den umfassenderen Reisemöglichkeiten
die Kontakte zwischen Deutschland und Ungarn weiter zu, Schichten
der Gesellschaft, für die früher eine Reise nicht möglich war, machten nun eigene
Erfahrungen mit Deutschland. Zugleich wurde mit der Einführung des
Qualitätssiegels „Made in Germany“ noch vor dem Ersten Weltkrieg vielen Ungarn
bewusst, woher die Industrieprodukte stammten, die sie zum Teil benutzten.
Die Nähmaschinen, Fahr-und Motorräder von Opel sowie später deren
150
Gábor Kerekes
PKWs sowie die PKWs von Daimler-Benz und BMW wurden auch für den
einfachen Mann auf der Straße in Ungarn zu einem Begriff für die solide Industrieproduktion
Deutschlands. Die deutsch-ungarischen Beziehungen bildeten
ein dichtes Netzwerk. In Budapest erschien mit dem Pester Lloyd (1854-1945)
eine angesehene Tageszeitung, in der unter anderem auch Thomas Mann publizierte,
dessen Werke – so wie auch die anderer deutscher Autoren – zugleich
in Ungarn in der Übersetzung zugänglich waren. Darüber hinaus gab es in
diesem Zeitraum in Budapest sowie auch landesweit eine ansehnliche Zahl an
regelmäßig erscheinenden deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften, auch
solche, die teilweise Artikel in deutscher Sprache veröffentlichten. Obwohl es
einen unübersehbaren Magyarisierungsdruck von staatlicher Seite gab und die
Zahl der deutschsprachigen Presseerzeugnisse in diesen Jahrzehnten kontinuierlich
abnahm, blieb die herausragende Stellung der deutschsprachigen Kultur
in Ungarn – noch – weitgehend ungebrochen.
Das Land der Dichter und Denker war in dieser Zeit vielen Ungarn ein
Vorbild, so auch dem Dichter Attila József, einem der bedeutendsten Vertreter
der ungarischen Lyrik des 20. Jahrhunderts, für den sich Deutschland in
Thomas Mann manifestierte, dem er mit seinem Gedicht Thomas Mann üdvözlése
(Begrüßung Thomas Manns) anlässlich des Besuchs des Nobelpreisträgers
1937 in Budapest seine Verehrung, gleichzeitig jedoch auch die Angst um die
Kulturwerte Europas zum Ausdruck bringen wollte.
Das Land der Richter und Henker wurde Ungarn bald danach zum Verhängnis.
Im Zweiten Weltkrieg war das Königreich Ungarn aus Angst vor
der Sowjetunion und in Hoffnung auf deutsche Hilfe bei der Wiederherstellung
des im Friedensvertrag von Versailles/Trianon verkleinerten Staatsgebietes des
so genannten „historischen Ungarn“ Verbündeter Deutschlands. Zwar gab es
auch in der ungarischen politischen Führungsschicht unterschiedliche Meinungen
und auch Kräfte, die mit den angelsächsischen Mächten sympathisierten,
doch konnten letztere sich nicht durchsetzen, und Ungarn gelang nicht jenes
Kunststück, das Rumänien vollbrachte: Im Weltkrieg an der Seite Deutschlands
zu kämpfen, dann die Fronten zu wechseln, um sich auf Seiten der Sieger
wieder zu finden. Ungarn sollte dafür einen hohen Preis zahlen müssen.
Die Ungarn, die Deutschen und die Ungarn-
deutschen von 1945 bis zur Aufweichung des
politischen Systems in den 1960/70er Jahren
Nach dem Zweiten Weltkrieg war auch in Ungarn unter dem Druck der Siegermächte
alles Deutsche verpönt. Das schmerzhafteste Opfer hierfür musste das
Ungarndeutschtum, das nach einzelnen Schätzungen vor dem Ersten Weltkrieg
noch rund 2 Millionen Menschen (vgl. Fata 1999: 18) und danach in der Zwi
151
Gábor Kerekes
schenkriegszeit etwa 550.000-600.000 Personen umfasst hatte (vgl. Fata 1999:
18sowieNawratil2007: 68)zahlen. IndenJahren1946-48wurdenetwa170.000
Menschen aus ihrer Heimat Ungarn vertrieben. Die Minderheit wurde durch
die ungarisch bagatellisierend als „Aussiedlung“ (ung. „kitelepítés“) bezeichnete
Vertreibung erschüttert und auf eine Gesamtzahl von etwa 270.00 (vgl. Nawratil
2007: 68) und 200.000 (vgl. Tóth 2006: 331) reduziert. Die Vertreibung
war letztlich auf Initiative mehrerer unterschiedlicher ungarischer politischer
Kräfte durchgeführt worden, die sich auf nicht existente internationale Beschlüsse
und Verordnungen beriefen. Eine besonders prominent-unrühmliche
Rolle spielte hierbei die konservative Nationale Bauernpartei, deren Generalsekretär
Imre Kovács u. a. in seiner Rede am 10. April 1945 alle Ungarndeutschen
als vermeintliche Nazis und Hitlersympathisanten hinstellend mit den für
das Ungarndeutschtum zu einem Trauma gewordenen Worten resümierte: „Die
Schwaben sind mit einem Bündel gekommen. Jetzt sollen sie auch mit einem
Bündel gehen. Sie sollen am Schicksal der Deutschen teilhaben. Wir werden
die Schwaben aussiedeln.“(Manherz 1998 a: 39)2
Betroffen waren all jene Schwaben, wie man die Ungarndeutschen in Ungarn
zu bezeichnen pflegt, die sich bei der Volkszählung von 1941 als Deutsche
bekannt hatten. Ihnen sollte die Staatsbürgerschaft aberkannt, ihr Hab und
Gut konfisziert, und sie selbst vertrieben werden (vgl. ebd.). Dies erklärt
auch, warum bei späteren Volkszählungen in Ungarn die Zahl der sich zu ihrem
Deutschtum Bekennenden vermutlich weit unter der sich tatsächlich zur
deutschen Volksgruppe, zur deutschen Kultur zugehörig Fühlenden lag. Genau
wird sich nie mehr feststellen lassen, wie viele Personen aus Angst vor befürchteten
späteren Vergeltungsmaßnahmen lieber ihr Deutschtum verheimlichten
– ob diese Angst vor Sanktionen nun begründet oder unbegründet war, mag
dahingestellt sein. Nachprüfbar sind lediglich die Zahlen der Volkszählung von
2001, bei der sich 62.233 Personen als zur deutschen Nationalität zugehörig
bekannten (vgl. Népszámlálás 2001: tabl05). Die Zahl derer, die für sich das
Gefühl einer Bindung an die kulturellen Werte und die Traditionen des Ungarndeutschtums
deklarierten, lag zugleich mit 88.416 Personen deutlich höher
(vgl. Népszámlálás 2001: tabl06), während das Deutsche als Muttersprache
nur von 33.792 Befragten angegeben wurde (vgl. Népszámlálás 2001: tabl07).3
Die Vertreibung, dann Enteignung der Ungarndeutschen und die – alle betreffende
–Kollektivierung gingnach1945mitderÄchtungalles Deutschenein
2Der ungarische Wortlaut: „A svábság egy batyuval jött ide. Egy batyuval is menjen.
Most osztozzanak a németek sorsában. A svábokat ki fogjuk telepíteni.“(vgl. Manherz 1998
b: 37)
3Die Idee der „Aussiedlung“ der Ungarndeutschen war allerdings kein Novum, das erst
nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden wäre. Bereits in der Zwischenkriegszeit gab es erste
Überlegungen seitens der „ungarischen Sozialpolitiker“ hierüber: „Eine Aussiedlung der
Ungarndeutschen hätte das Nationalvermögen beträchtlich vermehrt, da diese ihre wichtigsten
Werte, den Boden und die landwirtschaftliche Ausrüstung, nicht hätten mitnehmen
können.“(Ungváry 2006: 117)
152
Gábor Kerekes
her. Das Deutsche oder der Deutsche war in der offiziellen Sprachregelung und
Propaganda mehr oder weniger zum Synonym für das Böse geworden. Selbst
außerhalb des Arbeitsplatzes und offiziell-politischer Begegnungsräume konnte
manals(Ungarn)DeutscheroderalsSympathisantdesDeutschenimmerwieder
auf Anfeindungen stoßen: Beinahe jedes Jahr folgte bis in die 1980er Jahre ein
propagandistischer sowjetischer Weltkriegsfilm mit entsprechend humanen Sowjetsoldaten
und niederträchtigen deutschen Landsern. Im Fernsehen, etwa in
polnischen Fernsehserien, rollten vier gloriose Panzersoldaten mit ihrem Hund
beinahe die gesamte deutsche Ostfront auf. Heroische polnische Ritter trieben
die schon im Mittelalter sadistischen und feigen deutschen Ritter in den
wohlverdienten Untergang. Mehr oder weniger unausgesprochen wehte in der
Propaganda der nicht gerade zarte Hauch der Minderwertigkeit des Deutschtums
und des Deutschen durch alle Ecken und Ritzen.
Für die Ungarndeutschen war an eine Nationalitätenkultur in der eigenen
Muttersprache zunächst nicht zu denken, die „Volksrepublik Ungarn“ und ihre
offizielle Kulturpolitik verhinderten bis in die 1970er Jahre praktisch jedwedes
kulturelles und vor allem literarisches Leben des Ungarndeutschtums. Zwar
beinhaltetedie 1949erVerfassungdesLandesdieFormulierungder garantierten
Gleichberechtigung aller Nationalitäten, doch war diese bis 1955 nicht mehr als
nur eine leere Floskel. 1955 wurde immerhin der Kulturverband der Deutschen
Werktätigen in Ungarn gegründet, der einerseits schon in seinem Namen keine
Zweifel über die ihm von der ungarisch-stalinistischen staatlichen Kulturpolitik
zugedachte politische Mission aufkommen lassen sollte, der aber andererseits
zumindest eine institutionalisierte Form für die Ausübung von Minderheiten-
rechten und – sicherlich eingeengt durch Rücksichtnahmen und Kompromisse –
eine erste Form der Minderheitenvertretung darstellte. Eine deutschsprachige
ungarische Zeitung gab es erst ab 1957. 1969 wurde der Kulturverband – angesichts
der sich abzeichnenden Entspannungspolitik zwischen Ost und West,
die zwar durch die Niederschlagung des Prager Frühlings im Jahr zuvor nicht
unerheblich getrübt worden war – in Demokratischer Verband Ungarnländischer
Deutscher umbenannt, das heißt man verzichtete im Namen demonstrativ
auf die „Werktätigen“. Spätere Umbenennungen in den Jahren 1978 zum
Demokratischen Verband der Ungarndeutschen und 1989 zum Verband der Ungarndeutschen
veranschaulichen, welche politischen Veränderungen sich in den
folgenden Jahrzehnten abgespielt hatten.
Dies alles ist vor dem Hintergrund, dass noch hundert Jahre zuvor die
deutschsprachige Kultur in Ungarn eine bedeutende Rolle gespielt hatte, eine
Tragödie. Allerdings eine knapp ein Jahrhundert umfassende Tragödie, zu der
die gemeinsamen und entschlossenen Magyarisierungsbestrebungen aller Schattierungen
und Seiten des ungarischen politischen Lebens sowohl vor als auch
nach 1945 beigetragen hatten, so dass man sich in Ungarn sich heute zumeist
gar nicht bewusst ist, dass – um nur aus den verschiedensten Lebens-und
153
Gábor Kerekes
Kulturbereichen ganz wenige Namen zu nennen – z. B. der Komponist der
ungarischen Nationalhymne Ferenc Erkel (Franz Erkl, 1810-1893), der 1848er
General Artúr Görgey (Arthur Görgey, 1818-1916), der Architekt des Budapester
Parlamentsgebäudes Imre Steindl (Emerich Steindl, 1839-1902), der Bierbrauer
Antal Dreher (Anton Dreher, 1841-1921), der zu den populärsten ungarischen
Autoren der Vorkriegszeit gehörende, später von den Kommunisten
geächtete Ferenc Herczeg (Franz Herzog, 1863-1954), die legendäre Schauspielerin
Gizi Bajor (Gisela Beyer, 1893-1951), der im vergangenen Jahrzehnt auch
international eine Renaissance erlebende Schriftsteller Sándor Márai (Alexander
Großschmid, 1900-1989), der weltberühmte Fußballspieler Ferenc Puskás
(Ferenc Purczeld, 1927-2006) den Reihen des Ungarndeutschtums stammten.
Sie alle werden von den meisten Ungarn als reine Ungar, ohne ungarndeutsche
Wurzeln gesehen.
Die unbestreitbar konsequente Magyarisierung hatte zugleich auch deshalb
Erfolg, weil sich den sich Assimilierenden in der ungarischen Gesellschaft –
natürlich nur im Falle der Verleugnung der eigenen deutschen Herkunft – Aufstiegschancen
anboten. Dies führte im 20. Jahrhundert zu dem, was von
manchen Ungarndeutschen auch heute noch als der „Verrat der eigenen Intellektuellen“
bezeichnet wird und als dessen Ergebnis das Ungarndeutschtum
des Großteils seiner Intelligenz (im Sinne von „intellektuelle Schicht“) beraubt
worden ist.
Eine Änderung begann erst – zunächst zögerlich, dann immer schneller – im
Laufe der siebziger Jahre einzusetzen, als die politische Führung des Landes –
auch als Alibi vor der Weltöffentlichkeit – eine langsame (Selbst-)Organisation
des kulturellen Lebens der Minderheiten zuließ. Damit sollte einerseits die
Toleranz des politischen Regimes unterstrichen werden, andererseits steckte
dahinter auch die unausgesprochene Absicht und Hoffnung, die Lage der ungarischen
Minderheit in Rumänien in Richtung auf Erleichterungen hin beeinflussen
zu können, in dem man sich den Minderheiten innerhalb der Landesgrenzen
Ungarns gegenüber selbst als großzügig präsentierte.4
Als Ergebnis des massiven staatlichen Drucks war die traditionelle Verbundenheit
zu Deutschland und dem Deutschen in Ungarn vielleicht unterdrückt,
jedoch nie wirklich ausgemerzt worden. Mit der Entspannungspolitik und der
langsamen Öffnung der Grenzen für Einreisende sowie später – alle drei Jahre
ein Mal – dann für ins westliche Ausland reisende Ungarn wurden alte Bindungen
neu geknüpft, der Plattensee (Balaton) wurde auch zum Treffpunkt
der Ost-und Westdeutschen, die sich im Ostblock in Ungarn am freiesten und
offensten treffen konnten.
Natürlich war die Volksrepublik Ungarn ein integrierter Bestandteil des
4Wobei man in Ungarn nur übersah, dass nicht einmal alle hier in Ungarn lebenden nationalen
Minderheiten zusammen den prozentualen Anteil allein der in Rumänien beheimateten
Ungarn erreichten, weshalb (auch) aus diesem Grunde die in Rumänien erhoffte Änderung
in der Attitüde der dortigen Staatspolitik gegenüber der ungarischen Minderheit ausblieb.
154
Gábor Kerekes
so genannten Ostblocks, eingegliedert in sowohl das militärische als auch das
wirtschaftliche Bündnis, also in den Warschauer Vertrag – beziehungsweise
Pakt, wie er im Westen hieß – und in den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe
– beziehungsweise Comecon. Eine russische Oberhoheit war auch in Ungarn
weder zu übersehen noch zu leugnen.
Zugleich besaß Ungarn nach dem 1956er Volksaufstand und dem beginnenden
innenpolitischen Tauwetter der 60er Jahre, das im Vergleich zum Westen
natürlich nur ein relatives Tauwetter war, aber sich nicht mehr rückgängig machen
ließ, eine Stellung im Ostblock, die im Westen durch die Slogans vom
„Gulaschkommunismus“ beziehungsweise der „lustigsten Baracke im Lager“
bekannt war und benannt wurde.
Problematisch für das ungarische Leben ab dem Ende der 1970er Jahre war,
dass die politische Dominanz auf allen Gebieten des Lebens ebenso vorhanden
war wie ein – wenn auch limitierter – freier Wettbewerb.5
Zusammenfassend gilt also: Ungarn besaß liberale Ansätze, doch das darf
nicht zu dem Trugschluss verleiten, dass diese überall, in allen Bereichen des
Lebens anzutreffen gewesen wären.
Zur innenpolitischen Situation in Ungarn in dieser Zeit muss noch gesagt
werden, dass im Grunde die direkte, offene Kritik am Staat, am politischen Systemkonsequentunterdrücktwurde.
WurdendemOstblockentgegengerichtete
Ideen als solche ausgesprochen, wurden als feindlich angesehene Symbole, Namen
und Lehren benutzt, dann war der Staat mit seiner – im Vergleich zu den
anderen Ostblockländern allerdings ziemlich dilettantischen – Polizei zur Stelle.
Wurden kritische Bemerkungen mit der vermeintlichen Absicht, das „eigene sozialistische
System zu reformieren“, vorgebracht, und als feindlich eingestufte
Symbole nicht benutzt, dann ließ der Staat die Agierenden meistens – wenn
auch nicht immer – gewähren.6
Die politische Komponente spielte bei allen Dingen, so natürlich vor allem
bei der Veröffentlichung ausländischer Literatur eine zentrale Rolle, dabei zeigen
die Veröffentlichungen ein sehr gemischtes Bild. Selbstverständlich war die
LiteraturderDDRbestens vertreten: dielinientreuenSeghers,Marchwitza,Jo
5Das heißt konkret, dass es zum Beispiel in der Wirtschaft neben maroden Großbetrieben
mit unfähigen, korrupten, vom Staat eingesetzten Firmenleitern schon Managertypen gab,
die nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten agierten. Im wissenschaftlichen Leben finden
wir Lebenswerke, die auf tatsächlichen Forschungen und Ergebnisse fußen. Oder um ein
banaleres Thema zu nennen: in Budapest konnte man zu einer Zeit bereits ohne weiteres als
Ungar für ungarisches Geld (west)deutsche, österreichische, aber auch französische, amerikanische
und englische Presseerzeugnisse wie etwa den Spiegel, den Stern, die Süddeutsche
Zeitung, Le Figaro, Newsweek, Time kaufen, als es z. B. in „Berlin – Hauptstadt der DDR“
Unter den Linden keine gute Idee war, sich mit einem dieser Blätter sehen zu lassen.
6So war es unmöglich, mit einer amerikanischen Fahne durch ungarische Straßen zu ziehen,
ohne Aufmerksamkeit zu erregen, Orwells 1984 und Animal Farm wurden ebenso nicht
verlegt, so wieauch der Existenzialismus als bürgerlich dekadente Weltsicht von derObrigkeit
zurückgewiesen wurde.
155
Gábor Kerekes
hannes R. Becher, Bredel, Noll, Kant, Strittmatter, Görlich wurden übersetzt,
aber ebenso auch Christa Wolf, Stephan Heym und Christoph Hein, deren von
der staatlichen Linie abweichende Haltung in Ungarn mitrezipiert wurde, die
aber gerade mit dem Argument, dass es Autoren eines sozialistischen Bruderstaates
sind, leichter veröffentlicht werden konnten. Der politische Gesichtspunkt
spielte natürlich auch bei westlichen Autoren eine Rolle, was teils zu
Verzerrungen im Bild von der jeweiligen Literatur führte. So wurden aus der
Bundesrepublik mit Vorliebe die kritische Töne anschlagenden Autoren, wie
Max von der Grün, Bernt Engelmann und Günter Wallraff verlegt, so dass
man meinen konnte, sie stellten den Hauptstrom der westdeutschen Gegenwartsliteratur
dar.
Aber zum Glück bedeutete die Politik nicht alles. Günter Grass’ Blechtrommel
lag schon 1974 – wenn auch um die hinsichtlich des Auftretens der Roten
Armee im Zweiten Weltkrieg kritischen Passagen gekürzt – auf ungarisch vor,
die Bedeutung des Autors wurde nicht in Frage gestellt, und ebenso konnte
man alle wichtigen Romane und Erzählungen Heinrich Bölls auf ungarisch lesen,
bis auf Ansichten eines Clowns, der wegen des einen DDR-kritischen Kapitels
verspätet, allerdings auch so noch lange vor der politischen Wende, im
Jahre 1982 auf ungarisch erschien. Doch konnte der, der sich für die deutsche
Literatur interessierende, diese aber nur auf Ungarisch Lesende, auch Romane
und Erzählungen von Siegfried Lenz, Walter Jens, Martin Walser, Wolfgang
Koeppen kennen. Auch „Sensationen“ aus dem Bereich der E-Literatur wie
Lothar-Günther Buchheims Das Boot, lagen schon früh, ebenfalls 1982, auf
ungarisch vor.
Hinsichtlich der deutschen Autoren, die dem so genannten kulturellen Erbe
zuzurechnen waren, gab es kaum Probleme. Die wichtigsten Werke von Büchner,
Fontane, Grabbe, Heine, Lessing, Schiller, Storm und anderen waren in
ungarischer Übersetzung zugänglich, welche Johann Wolfgang von Goethe seinesgleichen
weit überragte. Er war der am häufigsten übersetzte deutsche Autor
mit vielen Einzelveröffentlichungen und bekam zuerst 1963 eine fünfbändige
und dann in den 1980er Jahren eine weitere, repräsentative, vom Design des Titelblattes
her in der Gestaltung an die Umschläge der Reihe Heyne Geschichte
des Wilhelm Heyne Verlages in den 1970-80er Jahren erinnernde mehrbändige
SammlungseinerausgewähltenWerke, dieetwadoppeltsoumfangreichwarwie
die 1963er Publikation. Darüber hinaus ist die Zahl der in ungarischer Sprache
zugänglichen Biographien über sein Leben und Schaffen sowie seiner Epoche
beträchtlich. Von den deutschen Autoren des 20. Jahrhunderts war bis zur
politischen Wende Thomas Mann der dominierende Autor, mit einer zwölfbändigen
Werkausgabe in den 1960er Jahren, während danach verstärkt Hermann
Hesse veröffentlicht wurde, dessen beinahe gesamtes Lebenswerk inzwischen in
ungarischer Sprache vorliegt (vgl. Kerekes 2005).
Ungarn braucht sich angesichts der Leistung seiner Verlage, Lektoren und
156
Gábor Kerekes
Übersetzer nicht zu schämen. Vor allem dann nicht, wenn man bedenkt, dass
Ungarnein Land mit10 MillionenEinwohnern ist, also demMaßstab nach etwa
mit Bayern oder Belgien und darüber hinaus in vielen anderen Dingen noch
mit Portugal auf einem Niveau zu sehen ist. Ein Ungar, der des Deutschen
nicht mächtig ist, sich aber trotzdem für moderne Literatur interessiert, kann
sich dank der in Übersetzungen vorliegenden deutschen Literatur einen ganz
guten Überblick in diesem Bereich verschaffen.
Blickt man von heute aus auf die Buchveröffentlichungen der vergangenen
fünfzig Jahre zurück, so muss man zu folgender paradoxen Feststellung gelangen:
Das vorerst letzte goldene Zeitalter der ungarischen Übersetzungsliteratur
stellen die1970er und 1980er Jahredar, währenddanach die sich durchsetzende
Marktwirtschaft nach der politischen Wende zwar viele neue Verlage mit eigener,
freier Verlagspolitik mit sich brachte, diese Verlage aber – bis auf einige
wenige – nun mehr in erster Linie ökonomische Überlegungen anstellen, anstellen
müssen oder anstellen zu müssen glauben, wodurch nicht nur die Zahl der
Veröffentlichung moderner ausländischer Literatur zurückgegangen ist, sondern
auch das Niveau der Übersetzungen.7
Die hohe Qualität der Übersetzungen vor der politischen Wende war außer
der mehrfachen Kontrolle auch dem Umstand zu verdanken, dass eine große
Zahl von ungarischen Intellektuellen, die in den 1950er und 1960er Jahren politische
Probleme mit dem Regime hatten und nicht unter eigenem Namen
veröffentlichen durften, als Übersetzer und Redakteure bei Verlagen arbeiten
konnten – quasi als eine Möglichkeit der „Bewährung“. Hatten sie dort über
Jahre zuverlässig gewirkt, durften sie gegebenenfalls wieder eigene Werke veröffentlichen.
Das heutige Glück des Fehlens von politisch motivierten Veröffentlichungsverboten
und das heutige Unglück der ausschließlich auf Gewinn
kalkulierten Veröffentlichungen führte inzwischen in den Jahren nach der politischen
Wende zu einer bedeutenden prozentualen Abnahme der Zahl der guten
Übersetzungen in Ungarn.8
7Währendinder„kommunistischenZeit“ jedeÜbersetzungmehrfachauf –auch –sprachliche
und stilistische Korrektheit kontrolliert worden war, da man sich unter den Funktionären
der staatlichen Kulturpolitik im Falle einer falschen oder minderwertigen Übersetzung vor
einer Blamage fürchtete – was damals ja ein Politikum darstellte und nicht einfach als fachliches
Versagen gewertet worden wäre, sondern für die Betroffenen noch ganz andere Folgen
hätte haben können –, sparen viele der nach der politischen Wende gegründeten Verlage, nun
mehr von den alten Ängsten unbeschwert, aus ökonomischen Gründen an der Kontrolle derÜbersetzungen – was man, leider, diesen manchmal auch deutlich ansehen kann.
8Ausführlich zu all den Fragen siehe Bart 2000.
157
Gábor Kerekes
4
Das Deutschlandimage in Ungarn in den Jahren
der politischen Wende
Trotz aller antideutscher Agitation und später trotz aller antikapitalistischer
Propaganda in den 1950-1970er Jahren war das Bild der Ungarn über die
Deutschen positiv geprägt, wobei der Umstand auffällt, dass man trotz des
Vorhandenseins der DDR in erster Linie die Bundesrepublik Deutschland als
das „Land der Deutschen“ wahrnahm, was auch mit dem etwas verqueren und
unentschlossenen Umgang des „Ersten Arbeiter-und Bauernstaates auf deutschem
Boden“ mit der Frage der nationalen Selbstdefinition zusammenhing.
Viel stärker dürfte dabei aber etwas anderes eine Rolle gespielt haben, worauf
der amerikanische Historiker John Lukacs mehrfach hingewiesen hat: „Der
Kommunismus ging in Ungarn deshalb unter, weil schon seit vielen Jahren niemand
mehr an ihn geglaubt hatte, nicht einmal die Parteimitglieder.“ 9
(Lukacs
2001: 227) Dementsprechend hat man in Ungarn auch die DDR als Staat nicht
wirklich gemocht, zwar ihre militärisch-polizeilich-organisatorische Stärke respektiert,
doch die ostdeutschen Durchschnittsbürger im Grunde bemitleidet.
Der Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik hat sich in Ungarn in den
Köpfen der Menschen mehr oder weniger von alleine durchgesetzt und wurde
durch die Abneigung gegen das im sozialistischen Lager bestehende politische
System und die allgemeine Bewunderung für die Wirtschaftsleistung des Westens
unterstützt.
Für viele Ungarn spielten Deutschland und die deutsche Sprache in der Anknüpfung
an die (westliche) Welt immer noch eine bedeutende Rolle. Viele
Personen aus dem Bereich des wissenschaftlichen und künstlerischen Lebens,
darunter auch so international bekannte ungarische Intellektuelle wie der Komponist
György Kurtág (im Jahre 1971), die Schriftsteller György Konrád (1977)
und László Krasznahorkai (1987) waren als Stipendiaten des DAAD in der
Bundesrepublik. Für den Durchschnittsungarn gehörte die Bundesrepublik
Deutschland zu den begehrten Reisezielen, die er vor der politischen Wende
legal alle drei Jahre einmal anvisieren durfte, zu Hause war aber für viele München
durch die Europäische Zentrale von Radio Free Europe und die ungarischsprachigen
Sendungen, die 1951-1993 ganztägig ausgestrahlt wurden, ein
Begriff. Hier fanden sowohl an politischen Informationen als auch an frischer
Popmusik Interessierte viele Informationen. Die Bundesrepublik Deutschland
war für den Durchschnittsungarn in erster Linie als das Land von Volkswagen,
Opel, Mercedes Benz, BMW, Grundig, Schneider, BASF, Gerd Müller, Sepp
Maier, Franz Beckenbauer und Bayern München sowie deutsches Bier ein Begriff.
Im Vergleich zu den anderen Ostblockstaaten fanden sich in Ungarn im
Meer der Ladas, Trabants und Wartburgs ungleich viel mehr westliche – und
9„A kommunizmus azért bukott meg Magyarországon, mert már sok-sok éve senki sem
hitt benne, még a párttagok sem.“(deutsche Übersetzung von mir, G.K.)
158
Gábor Kerekes
unter ihnen dominant deutsche – PKWs, die auf wer weiß welche Weise ins
Land gekommen waren, jedenfalls in der überwiegenden Mehrheit nicht über
die streng kontrollierten Kanäle des zentralen staatlichen PKW-Handels. Im
Bereich Sport gehörten besonders die westdeutschen Fußballer, die 1972 Europameister
sowie 1974 Weltmeister geworden waren, und von den Klubs vor
allem die dreimaligen Europapokalsieger (1974, 1975 und 1976), von Bayern
München zu den Sportidolen. Deutsches Bier gab es dafür in Ungarn bis in die
Zeit nach der politischen Wende nur ganz selten, und dann auch nur solches
aus der DDR, Berliner Pilsner oder Radeberger.
Erste Erscheinungen der politischen Aufweichung sind nachträglich leichter
zu deuten als es in ihrer Zeit möglich war. Neben den kleinen Zeichen, die sich
schleichend und in Form von politisch-wirtschaftlichen Erleichterungen und im
ideologisch-kulturellen Bereich in der Veröffentlichung des einen oder anderen
bis dahin nicht zugelassenen Textes äußerten, gab es auch spektakulärere Anzeichen
für eine Veränderung. Zumindest ungewöhnlich war es, als 1982 nach
dem Tod des sowjetischen Parteichefs Breschnew am 10. November in Ungarn
öffentliche Großveranstaltungen, wie z. B. der ausverkaufte viertägige
Konzertmarathon der über die Bundesrepublik und die dortigen Schallplattenveröffentlichungen
bei Bellaphon international halbwegs bekannt gewordenen
ungarischen Rockgruppe Omega am 11-14. November nicht aus Trauergründen
abgesagt wurden. Hier zeigte sich, dass der wirtschaftliche Gesichtspunkt
bereits wichtiger war als der ideologische.
Neben den bereits erwähnten Veröffentlichungen westdeutscher Literatur
trat auch der Neue deutsche Film seinen Siegeszug in den intellektuellen Kinos
an, die Lebenswerke von Werner Herzog, Wim Wenders, Rainer Werner
Fassbinder und Volker Schlöndorff konnte man in Ungarn im Wesentlichen
schon vor 1989 kennen lernen. Die deutschen Weltstars der ernsten Musik
blieben in dieser Zeit zwar noch aus, die Berliner Philharmoniker gaben ihr
erstes Konzert in Ungarn in Budapest erst am 1. Mai 2005, jedoch für eher
nach Rock-und Popmusik hungernde Jugendliche waren die ersten, in kleinen
Hallen stattfindenden Budapester Konzerte der Toten Hosen (erstmals 1983,
seitdem vielfach und regelmäßig) und das in der Budapester Sporthalle vollkommen
ausverkaufte Konzert der damals auf dem Höhepunkt ihrer Karriere
stehenden Nena am 4.10.1985 sicherlich erinnerungswürdige Ereignisse. Ihnen
waren bereits die – ebenfalls ausverkauften – Auftritte der elektronische
beziehungsweise Instrumentalmusik spielenden deutschen Gruppen Kraftwerk
(1981, Kleinstadion, ung. Kisstadion) und Tangerine Dream (1982, Sporthalle,
ung. Sportcsarnok) vorausgegangen. Auf allen Konzerten trugen die Musiker
die Songtexte deutsch vor, im Umgang mit dem Publikum schwankten sie in
der Kommunikation zwischen Deutsch und Englisch.
All dies deutete bereits damals an, dass in Ungarn ideologische Gesichtspunkte
gegenüber kommerziellen Erwägungen im Vergleich zu den Jahrzehnten
159
Gábor Kerekes
davor in den Hintergrund zu treten begannen. Die wirkliche Tragweite der Veränderungen
begann sich in der Dimension der deutsch-ungarischen Kontakte
abzuzeichnen, als 1987 die Eröffnung eines Goethe-Institutes in Budapest vertraglich
geregelt und 1988 dann das Institut in der Budapester Innenstadt – in
dervornehmenGegendnebendemStaatlichenOpernhaus –tatsächlicheröffnet
wurde.
Das Vorbild Deutschland – genauer: Bundesrepublik Deutschland – hat
auch bei der politischen Umgestaltung Ungarns im Jahr der politischen Wende
1989/90 eine wesentliche Rolle gespielt, ganz gleich, ob man hierbei an den
von beinahe allen ungarischen politischen Kräften immer wieder als Ideal angeführten
Grundsatz der „sozialen Marktwirtschaft“ oder etwa an die „Fünf-
Prozent-Klausel“ denkt, die direkt aus dem deutschen Wahlrecht ins ungarische
übernommen wurde.
Als im Sommer 1990 die Verträge mit Opel über Investitionen in Ungarn
geschlossen werden, wird das allgemein mit großer Genugtuung zur Kenntnis
genommen. Spätestens jetzt begannen auch die größten Zweifler an einer
politischen Umgestaltung des Landes daran zu glauben, dass die Zeit des Kommunismus
vorbei war.
5
Das Bild von Deutschland und den Deutschen
in Ungarn seit der politischen Wende
Angesichts des bisher Ausgeführten dürfte es nicht überraschen, dass in Ungarn
ein sehr positives Bild von Deutschland besteht. Konkrete Belege dafür findet
maninMeinungsumfragensowiedenDatenderKultur-undWirtschaftssphäre.
2002 ging das Meinungsforschungsinstitut Gallup in Ungarn unter anderem
der Frage nach, wie durch die Befragten in verschiedenen Ländern das Nationalbewusstsein
und damit zusammenhängende Aspekte eingeschätzt werden
(www1). Man fragte nach den unmittelbar an Ungarn angrenzenden Ländern
sowie nach Deutschland, Frankreich, Polen und Tschechien.
Erstaunlicherweise kam man zu dem Ergebnis, dass laut den Befragten der
nationale Zusammenhalt (ung. „nemzeti összetartozás“) in Deutschland als
weitaus am stärksten (und in der Ukraine als weitaus am schwächsten) vermutet
wird. Im Falle Deutschlands spielten bei diesem Urteil offensichtlich
der Mauerfall und die Bilder der Vereinigung sowie all das, was man über den
„Aufbau Ost“ gehört hatte, eine Rolle.
In der gleichen Umfrage stellte man auch die Frage, in welchem Land man
leben möchte. Die ungarischen Befragten hatten die Möglichkeit, selbst ein
Land ihrer Wahl zu nennen. Ungarn war für 67% die erste Wahl, an zweiter
Stelle standen die USA (6%) und an dritter Deutschland (4%). Nur von 2%
wurden Kanada, die Schweiz, Österreich und England genannt. Dies deutet
160
Gábor Kerekes
darauf hin, dass objektiv betrachtet Deutschland das von allen anderen Ländern
der Erde am meisten bevorzugte Land für den Durchschnittsungarn ist,
denn obgleich die USA von 6% genannt wurden, so scheint doch dahinter viel
mehr das von Hollywood, MTV und McDonald‘s geprägte Image des unerreichbaren
Märchen-und Schlaraffenlandes zu stecken. Die Antworten dürften
mit dem Bewusstsein im Hinterkopf gegeben worden sein, dass die Wahrscheinlichkeit
nur sehr gering sein dürfte, tatsächlich jemals im Ausland oder gar in
Amerika leben zu können.10
Zur Nuancierung der Frage, inwieweit für viele Ungarn die USA eine Art
unerreichbares Traumland darstellen, während Deutschland für sie eine real erfahrbare
Größe darstellt, mag die Frage der Beherrschung von Fremdsprachen
in Ungarn behilflich sein. In einer Untersuchung des Gallup-Instituts im Jahre
2001 stand Ungarn unter 13 Ländern an elfter Stelle hinsichtlich der Kenntnis
derwestlichengroßenFremdsprachen(www2). LediglicheinViertelderUngarn
behauptete von sich, auf irgendeinem Niveau an einem Gespräch in englischer,
französischer oder deutscher Sprache teilnehmen zu können. Als wichtigste
Fremdsprachen wurden das Englische und das Deutsche genannt, wobei 14%
der Befragten von sich behaupteten, sie könnten an einer englischen, und 13%,
sie könnten an einer deutschen Konversation teilnehmen. An nächster Stelle
folgte das Französische mit 2%, was zumindest die prominente Stellung der
deutschen Sprache in der ungarischen öffentlichen Meinung unterstreicht. Verbindet
mandie DatenderbeidenErhebungenmiteinander, soist unübersehbar,
dass während es in der Beherrschung der offiziellen ersten Landessprache der
USA und Deutschlands nur einen geringen Unterschied (etwa 8%) zwischen den
Befragten Ungarn gibt, sich aber ein Drittel mehr der Ungarn für die USA als
möglichen Wohnort aussprechen als für Deutschland – was ein Indiz für den
Desiderativcharakter der Angaben für die USA ist.11
Im Übrigen sei zur Frage der Sympathie der Ungarn für Deutschland und
10Dass es bei dieser Prozentzahl eher um Träumerei als um reale Möglichkeiten sowie
sicherlich nicht in erster Linie um Interesse an der angelsächsischen Kultur ging, deuteten
ja bereits die relativ mageren 2% an, die sich für das real-geographisch von Ungarn aus
leichter erreichbare England trotz der Queen, Shakespeare, Beatles und Manchester United
als Wunschland aussprachen.
11Im Spiegel der Zahlen der an den Gymnasien das Deutsche Lernenden Schüler sowie
der zum Universitätsstudium zugelassenen Bewerber lässt sich angesichts der Daten aus dem
vergangenen Jahrzehnt beobachten, wie die Zahl der sich für das Deutsche Interessierenden
in Ungarn abnimmt. Verzerrt werden die möglichen Schlussfolgerungen aber durch die Tatsachen,
dass wir es hier 1. mit immer geburtenschwächeren Jahrgängen zu tun haben, 2.
die Kosten für das Weiterlernen und das Studium in diesem Zeitraum rapide zugenommen
haben und 3. staatlicherseits eine Drosselung der Zahl der zum Studium Zugelassenen vorgenommen
worden ist. Im Wissen um diese Gesichtspunkte dürfte das Maß der Abnahme des
Interesses für das Deutsche und die deutsche Kultur, das sich zum Beispiel in den Zahlen der
zum Universitäts-und Hochschulstudium des Deutschen in Ungarn zugelassenen Bewerber
widerspiegelt, zwar nicht zu leugnen, jedoch weniger dramatisch sein, als das auf den ersten
Blick erscheint (vgl. dazu den Beitrag von Rada in diesem Band).
161
Gábor Kerekes
das Deutsche kurz angemerkt: die positive Einschätzung beruht auf Gegenseitigkeit,
denn auch das Bild der Deutschen über Ungarn ist ein recht gutes,
wie dies eine internationale Untersuchung des Gallup-Institutes im Jahre 2000
ergab (www3). 76% der Deutschen haben über Ungarn ein positives bis eher
positives Bild, welches besser als das der Österreicher mit 72% oder gar der
Franzosen mit 45% war.
Die positive Einschätzung des Deutschen erstreckt sich in Ungarn auch auf
die Bewertung des Ungarndeutschtums durch die ungarische Bevölkerung. Das
Meinungsforschungsinstitut Medián ging zwischen 1995 und 2007 vier Mal der
Frage nach, wie die Ungarn ihre Minderheiten beurteilen. Dabei lagen die
Sympathiewerte für die Ungarndeutschen 1995 an zweiter, danach aber immer
an erster Stelle. (Das Ungarndeutschtum tauschte hier den Platz mit dem
Judentum.) Die Werte für das Ungarndeutschtum betrugen auf einer Skala
von 100 Punkten: 1995: 55, 2002: 57, 2006: 55 und 2007: 56 Punkte. (Die
des Judentums 57, 52, 50 und 50). Weniger gut, mit fallender Tendenz wurden
die Chinesen und mit steigender Tendenz die Rumänen sowie konstant die
„Neger“ (sic!) eingeschätzt. Deutlich weniger Sympathie zeigt sich gegenüber
den „Arabern“ (sic!) und noch weniger gegenüber den „Zigeunern“ (sic!) –
ein Problem, vor dessen Lösung die ungarische Gesellschaft anscheinend ratlos
steht.
Im Vergleich mit den Juden, den Slowaken und „Zigeunern“ werden die
Ungarndeutschen als die leiseste, fleißigste und sauberste Minderheit angesehen,
deren Aggressivität, Rachsucht und Geiz am niedrigsten ausgeprägt sei
(www4). Im Zusammenhalt würden sie von den Juden und „Zigeunern“, hinsichtlich
der Bewahrung der Traditionen von den Juden und in ihrer Lebensfreude
von den „Zigeunern“ übertroffen. Nur die Slowaken werden für noch
weniger raffiniert gehalten als die Ungarndeutschen. In Stolz, Ausdauer, Disziplin,
Sauberkeit, Fleiß und Pflichtbewusstsein übertreffen also die Ungarn-
deutschen die anderen Minderheiten, während sie am wenigsten neidisch und
angeberisch sind.
Wie groß das Interesse in Ungarn für Deutschland, die deutsche Geschichte
und Kultur ist, zeigen auch die Buchveröffentlichungen sowie die Theater-und
Filmaufführungen zu diesen Aspekten in Ungarn.
Nur als Eindruck soll hier kurz eine Auswahl von Werken stehen, die im
Themenkreis Deutschland und deutsche Geschichte in den vergangenen zwanzig
Jahren bei seriösen ungarischen Verlagen in ansprechenden Editionen erschienen
sind:
1. von ungarischen Autoren:
Kövics, Emma: Az európai egység kérdése és Németország 1919-1933
[Die Frage der europäischen Einheit und Deutschland 1919-1933]. Budapest:
Akadémiai Kiadó 1992, 219 S.
162
Gábor Kerekes
Weiszhár, Attila / Weiszhár, Balázs: Német királyok, római császárok.
[Deutsche Könige, römische Kaiser]. Budapest: Maecenas Kiadó, 1998,
238 S.
Dr. Pátrovics, Péter: Német kulturális és országismereti kislexikon [Kleines
deutsches kulturelles und landeskundliches Wörterbuch]. Debrecen:
Tóth Kiadó, 2000, 240 S.
Györffy, Miklós: Német-magyar kulturális szótár [Deutsch-ungarisches
Kulturwörterbuch]. Budapest: Corvina 2003, 248 S.
Németh, István: Németország története a XX. században [Geschichte
Deutschlands im 20. Jahrhundert]. Budapest: Aula Kiadó, 2004, 622 S.
Felkai, Gábor: A német szociológia története a századfordulótól 1933-ig
[Die Geschichte der deutschen Soziologie von der Jahrhundertwende bis
1933]. 2 Bände. Budapest: Századvég Kiadó, 2006, 543 und 600 S.
Mogyorósi, Géza: Német kancellárok (1949-tõl napjainkig) [Deutsche
Kanzler (Von 1949 bis in unsere Tage)]. Budapest: Kapu Könyvek,
2006, 88 S.
Ormos, Mária: Németország története a 20. században – Az egységtõl az
egységig [Die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert – Von der
Einheit zur Einheit]. Budapest: Rubicon-Ház Bt., 2008, 400 S.
Németh, István: A német császárság 1871-1918 – Összegzés és dokumentumok
[Das deutsche Kaiserreich 1871-1918 – Bilanz und Dokumente].
Budapest: L’Harmattan Kiadó, 2009, 372 S.
2. Übersetzungen aus dem Deutschen:
Mann, Golo: Németország története 1919-1945 [Geschichte Deutschlands
1919-1945]. Budapest: Balassi Kiadó, 1997, 190 S. Deutscher Originaltitel:
Deutsche Geschichte 1919-1945.
Kohl, Helmut: Németország egységét akartam. Budapest: Zrínyi Kiadó,
1998, 300 S. Deutscher Originaltitel: Ich wollte Deutschlands Einheit.
163
Gábor Kerekes
Elias, Norbert: A németekrõl [Über die Deutschen]. Budapest: Helikon
Kiadó, 2002, 395 S. Deutscher Originaltitel: Studien über die Deutschen
Görtemaker, Manfred: A Német Szövetségi Köztársaság története. Budapest:
Korona Kiadó, 2003, 847 S. Deutscher Originaltitel: Geschichte
der Bundesrepublik Deutschland.
Winkler, Heinrich August: Németország története a modern korban
[Geschichte Deutschlands in der modernen Zeit] I-II. Budapest: Osiris
Kiadó, 2005, 1248 S. Deutscher Originaltitel: Der lange Weg nach Westen.
Haffner, Sebastian: Egy német története. Budapest: Európa Könyvkiadó,
2005, 360 S. Deutscher Originaltitel: Geschichte eines Deutschen.
Kieslich,Sabine: Az ezerarcú Németország [Das tausendgesichtige Deutschland].
Pécs: Alexandra Kiadó, 2006, 428 S. Deutscher Originaltitel:
Deutschland.
Haffner, Sebastian: Az elárult forradalom – Németország 1918-19 [Die
verratene Revolution – Deutschland 1918-19]. Budapest: Európa Könyvkiadó,
2007, 308 S. Deutscher Originaltitel: Die deutsche Revolution.
Haffner, Sebastian: A Német Birodalom hét fõbûne az elsõ világháborúban.
Budapest: EurópaKönyvkiadó,2008,208S.DeutscherOriginaltitel:
Die sieben Todsünden des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg.
3. Übersetzungen aus anderen Sprachen:
Fulbrook, Mary: Németország története [Geschichte Deutschlands]. Budapest:
Maecenas 1993, 264 S. Originaltitel: A Concise History of
Germany.
Fulbrook, Mary: A német nemzeti identitás a holokauszt után [Die deutsche
Nationalidentität nach dem Holocaust]. Budapest: Helikon Kiadó,
2001, 365 S. Originaltitel: German National Identity after the Holocaust.
Bailey, George: Németek – Egy rögeszme története [Die Deutschen –
Geschichte einer Besessenheit]. Budapest: Európa Könyvkiadó, 2003,
164
Gábor Kerekes
632 S. Originaltitel: Germans. The Biography of an Obsession.
Stürmer, Michael: A Német Birodalom [Das Deutsche Reich]. Budapest:
Európa Könyvkiadó, 2005, 200 S. Originaltitel: The German Empire.
Stern, Fritz: Öt Németország és egy élet [Fünfmal Deutschland und ein
Leben]. Budapest: Park Könyvkiadó, 2009, 640 S. Originaltitel: Five
Germanies I have known.
Ein Kapitel für sich stellt die in ungarischer Sprache vorliegende sehr umfangreiche
Literatur über die Nazizeit, die emblematischen Gestalten des Dritten
Reiches, den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg dar, wobei sich zu diesem
Themenbereich sowohl in der Seriosität als auch in der Wirkungsabsicht
sehr unterschiedliche Veröffentlichungen in ungarischer Sprache finden. Allein
derzeit gibt es über 100 ungarischsprachige Veröffentlichungen, die aktuell im
Buchhandel zu haben sind und die den Namen „Hitler“ in ihrem Titel führen.
Einerseits gibt es in ihrem Geschichtsbild seriöse Publikationen, so etwa die
Veröffentlichungen von Guido Knopp in ungarischer Sprache, über dessen PräsentationsstildieMeinungenzwarauchinDeutschlandgeteiltsind,
dochdessen
Absicht, politische Korrektheit und historische Ausgewogenheit in der Darbietung
der historischen Faktenüber jeden Zweifel erhaben sein dürften.12
Für die
politisch gegenüber dem Nationalsozialismus als Gegenkraft gegen den Marxismus
eine eher relativierende Position einnehmende Leserschaft liegt Ernst Noltes
Der Faschismus in seiner Epoche seit 2003 auf Ungarisch vor (A fasizmus
korszaka [Das Zeitalter des Faschismus]. Budapest: Kairosz 2003, 670 S.).
Nur in einzelnen Verkaufsstellen konnten und können sich Interessenten mit
einer ungarischen Übersetzung von Mein Kampf eindecken, so zum Ende des
vergangenen Jahrtausends mit einer Neuveröffentlichung einer 1935er Übersetzung
(Harcom. Budapest: Stoker kft. O.J. [1997], 496 S.) oder zuletzt 2007
in einer Neuübersetzung, in der das Vorwort des Übersetzers Gyula Ungvári
keinen Zweifel darüber zulässt, dass er Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion als
einen vollkommen legitimen Akt der Selbstverteidigung betrachtet (Harcom.
Budapest: Gede 2007, 623 S. beziehungsweise S. 49).
12Ne féljünk Hitlertõl! [Keine Angst vor Hitler!] Budapest: Magyar Könyvkiadó 1997, 322
S. [Deutscher Originaltitel: Hitler – eine Bilanz]; Hitler segédei [Hitlers Helfer]. Budapest:
Magyar Könyvklub 2001, 359. S.; Hitler gyermekei [Hitlers Kinder]. Budapest: Magyar
Könyvklub 2004, 376 S.; A nagy menekülés [Die große Flucht]. Budapest: Mérték Kiadó
2004, 376 S.; Históriák – Történetek a történelem árnyékában [Geschichten – Geschichten
im Schatten der Geschichte]. Budapest: Mérték Kiadó 2006, 392 S. [Deutscher Originaltitel:
History – Geheimnisse des 20. Jahrhunderts]; Hitler menedzserei [Hitlers Manager]. Budapest:
M-érték kiadó 2008, 400 S.; Göring – Egy karrier története. [Göring – Geschichte einer
Karriere]. Budapest: M-Érték kiadó, 2009, 272 S.)
165
Gábor Kerekes
Die hier angedeutete Bandbreite der moralisch-politischen Bewertung und
der Natur des Interesses an Veröffentlichungen zur Nazizeit und zum Zweiten
Weltkrieg zeigt die unterschiedlichen Motivationen von Verfassern, Herausgebern
und Lesern: Aufklärung, Auseinandersetzung, aber auch politische
Agitation und unübersehbar Geschäftemacherei, da es eine Vielzahl von Publikationen
gibt, die lediglich zeigen, dass ihre Herausgeber bei dem lukrativen
Geschäft mit der „Nazithematik“ mitverdienen wollen. Ein sehr exotisches
Beispiel ist in diesem Geschäftszweig der schon seit den 1970er Jahren publizierende
ungarische Trivialschriftsteller István Nemere, der unter dem deutsch
klingenden Pseudonym Stefan Niemayer reißerische Bücher zur Thematik der
Nazizeit verfasst.13
Die Praxis der Wahl von Pseudonymen, die eine gewisse Authentizität
der Ausgabe suggerieren sollen, ist international nichts Ungewöhnliches, in
Deutschland vor allem im Bereich der Trivial-und Heftchenliteratur (Wahl von
adligen Frauennamen als angebliche Autorinnen für Liebesromane im Adelsmilieu
beziehungsweise amerikanisch klingenden Namen für Krimis) eine alltägliche
Angelegenheit, man denke nur an die Romanhefte des Bastei-Verlages.
Im Rahmen der Nazithematik ist dieser Kniff auch in Ungarn mehrmals angewandt
worden, ein anderer Autorenname, der auf mehreren Dutzend Bänden
steht, lautet sehr deutsch klingend „Kurt Rieder“, doch dahinter verbirgt sich
der Ungar Zoltán Géczi.
Diese Veröffentlichungen von „Niemayer“ und „Rieder“ sowie einer handvoll
anderer Personen sind nichts anderes als krude zusammengeschusterte Texte
ohne allzu genaue Faktentreue, die bestenfalls halbwegs logisch gehalten sind.
Das Positivste, was man im Zusammenhang mit ihnen konstatieren kann, ist,
dass sie zumindest versuchen, halbwegs politisch korrekt zu bleiben, und jedenfalls
keine rückwärts gerichtete Propaganda betreiben.14
Die gleiche Verteilung von seriöser Forschung, populärer Aufklärung, Geschäftemacherei
und Propaganda ist im Rahmen der sich mit der Nazithematik
beschäftigenden Übersetzungen aus andere Sprachen auf dem ungarischen
Buchmarkt nachzuvollziehen: Ian Kershaws Hitler-Biographie sowie anderer
seiner Bücher sind ebenso ins Ungarische übersetzt wie mehrere BBC-
Dokumentationen zu dieser Thematik, die ebenfalls in Buchform zugänglich,
während dies auch für eine Vielzahl oberflächlicher internationaler Darstellun
13Bisher hat er schon 19 Bücher unter diesem Namen herausgebracht, in deren Zusammenhang
das Wort „Niveau“ sicherlich fehl am Platze ist. Es genügt vielleicht darauf hinzuweisen,
dass Nemere für 2009 insgesamt 19 Bücher angekündigt hat, mit denen er – wenn alle erscheinen
– die Liste seiner Veröffentlichungen (www5) auf insgesamt 527 Bände aufgestockt
haben wird.
14Auch die Struktur der Verlage, die diese Bücher herausbringen, ist nicht eindeutig klärbar,
zumeist existiert keine Anschrift, sondern nur eine E-Mail-Adresse von ihnen, weshalb
auch der begründete Verdacht besteht, dass hinter mehreren Verlagsnamen (u. a. Puedlo,
Anno, Vagabundus) der gleiche Besitzer steht.
166
Gábor Kerekes
gen und die Neuveröffentlichung einiger apologetischer Texte aus den 1930er
Jahren zutrifft.
Das Interesse für die deutsche Kultur erstreckt sich in Ungarn auch auf die
so genannte schöngeistige Literatur Deutschlands, so dass sehr schnell Übersetzungen
von Werken auf Ungarisch vorliegen, die auf dem deutschen Buchmarkt
als bedeutend und wichtig erachtet werden, aber genauso auch auf die nichtfiktionale
Literatur.
Über die hohe Zahl von Übersetzungen literarischer Werke aus dem Deutschen
hinaus sagt auch der Umstand deutlich etwas über die Wertschätzung
der deutschen Literatur und Kultur aus, dass es auch in Ungarn veröffentlichte
Literaturgeschichten speziell über die deutsche Literatur und weiterhin
(die deutsche Literatur beinhaltend) über die europäische sowie die Weltliteratur
gibt. Diese Art der Darstellung kann in Ungarn auf eine mehr als ein
Jahrhundert alte Tradition zurückblicken.
Es wurden seit 1900 folgende Literaturgeschichten zur deutschsprachigen
Literatur beziehungsweise zur europäischen sowie zur Weltliteratur in Ungarn
veröffentlicht:
1. Ungarischsprachig:
Sime, James: A német irodalom története [Die Geschichte der deutschen
Literatur]. Athenaeum: Budapest. 3. Auflage 1900. Übersetzt aus dem
Englischen von Dávid Angyal.
Heinrich, Gusztáv: A német irodalom története [Die Geschichte der
deutschen Literatur]. Budapest: Franklin 1922 (Überarbeitete Ausgabe
der zuerst 1886-1889 in zwei Bänden erschienenen deutschen Literaturgeschichte
bis zum Ausgang des 17. Jahrhunderts.)
Motz, Atanáz: A német irodalom története [Die Geschichte der deutschen
Literatur]. Budapest: Szent István Társulat 1925.
Juhász, Andor: A világirodalom élettörténete [Die Lebensgeschichte der
Weltliteratur]. Budapest: Révai 1927.
Pukánszky, Béla: A német irodalom kis tükre [Kleiner Spiegel der deutschen
Literatur]. Budapest: Magyar Szemle Társaság 1930.
Babits, Mihály: Az európai irodalom története [Die Geschichte der europäischen
Literatur]. Budapest: Nyugat 1934 (vielfach neu aufgelegt).
167
Gábor Kerekes
Upton Sinclair: Upton Sinclair irodalomtörténete [Upton Sinclairs Literaturgeschichte].
Budapest: Epocha 1937, erw. 1944. Übersetzt von
Sándor Benamy. Amerikanischer Originaltitel: Mammonart.
Szerb, Antal: A világirodalom története [Die Geschichte der Weltliteratur]
Budapest: Révai 1941. (vielfach neu aufgelegt).
Lukács, György: Az újabb német irodalom rövid története [Kurze Geschichte
der neueren deutschen Literatur] Budapest: Athenaeum 1946.
Titel der deutschsprachigen Ausgabe: Deutsche Literatur während des
Imperialismus. Eine Übersicht ihrer Hauptströmungen, Berlin 1945 (von
der 4. Ausgabe: Deutsche Literatur im Zeitalter des Imperialismus).
Benedek, Marcell: Világirodalom [Weltliteratur]. In drei Bänden. Budapest:
Minerva 1968/69.
Halász, Elõd: A német irodalom története [Geschichte der deutschen
Literatur]. Budapest: Gondolat 1971, 1987.
Györffy, Miklós: A német irodalom rövid története [Kurze Geschichte der
deutschen Literatur]. Budapest: Corvina 1995.
Gintli, Tibor / Schein, Gábor: Az irodalom rövid története [Kurze Geschichte
der Literatur]. Band 1. Pécs [Fünfkirchen]: Jelenkor 2003.
Band 2. Pécs [Fünfkirchen]: Jelenkor 2007.
Madarász, Imre (Hrsg.): Világirodalom [Weltliteratur]. Budapest: Pannonica
2004.
Pál, József (Hrsg.): Világirodalom [Weltliteratur]. Budapest: Akadémia
2005.
2. Deutschsprachig:
Siptár, Ernõ: Überblick über die deutsche Literaturgeschichte. Budapest:
Lehrbuchverlag/Tankönykiadó 1965.
Tarnói, László: Deutsche Literaturgeschichte II. Budapest: Lehrbuchverlag/
Tankönykiadó 1978.
168
Gábor Kerekes
Bartyik, Beate / Thomas, Regine: Deutsche Literaturgeschichte III-IV.
Budapest: Lehrbuchverlag/Tankönykiadó 1984, 1988, 1992; Budapest: Nationaler
Lehrbuchverlag/Nemzeti Tankönyvkiadó 2002.
Keiner, Karl / Kerekes, Gábor: Deutsche Literatur. Szombathely [Steinamanger]:
BDTF 1994.
Weiterhin ist die Zahl der Veröffentlichungen zu einzelnen Epochen (etwa
Klassik), Autoren (z. B. Schiller) oder zu Werken oder Werkgruppen der deutschen
Literatur ein Indiz für die Wertschätzung des Deutschen, doch ist die
Zahl dieser Publikationen so hoch, dass allein ihre Aufzählung an dieser Stelle
nicht möglich ist.
Möchte man diese ersten Eindrücke konkretisieren und betrachtet man den
Anteil der Werke von deutschen Autoren innerhalb der ins Ungarische übersetzten
Bücher (also inklusive Sach-und Fachliteratur), so wird das bisher
Ausgeführte bestätigt: auch in dieser Hinsicht ist der bedeutende Anteil des
Deutschen nicht zu übersehen (www6). Blickt man auf den Zeitraum 20052008
zurück, so sind jedes Jahr etwa 2 Millionen Exemplare von 600-700 Titeln
deutscher Autoren in ungarischer Sprache erschienen (vgl. Tabelle 1).
Jahr Titel Exemplare
2005 670 2031264
2006 637 2233402
2007 747 2129105
2008 689 1801139
Tabelle
1:
Titel deutscher Autoren erschienen in ungarischer Sprache
Um dies in einer aussagekräftigen Relation zu sehen, sollen hier auch die
gleichen Zahlen für Autoren aus den USA (siehe Tabelle 2), aus Großbritanien
(siehe Tabelle 3) , aus Österreich (siehe Tabelle 4) und aus Frankreich (siehe
Tabelle 5) angeführt werden.
Jahr Titel Exemplare
2005 1552 7736704
2006 1631 7541255
2007 2098 9377446
2008 1957 8130943
Tabelle
2:
Titel amerikanischer Autoren erschienen in ungarischer Sprache
Da diese Zahlen sich auf alle übersetzten Einzelveröffentlichungen ins Ungarische
(also etwa auch technische und pharmazeutische Texte) beziehen, ist
169
Gábor Kerekes
Jahr Titel Exemplare
2005 599 1984524
2006 520 2026177
2007 587 2036036
2008 702 2439099
Tabelle
3:
Titel englischer Autoren erschienen in ungarischer Sprache
Jahr Titel Exemplare
2005 13 27526
2006 13 29655
2007 17 42204
2008 7 15000
Tabelle
4:
Titel österreichischer Autoren erschienen in ungarischer Sprache
Jahr Titel Exemplare
2005 209 591095
2006 188 522384
2007 228 665908
2008 272 888495
Tabelle
5:
Titel französischer Autoren erschienen in ungarischer Sprache
die Zahl der aus Deutschland stammenden Publikationen unübersehbar hoch,
was auch im Vergleich zu den Übersetzungen aus den USA stimmt, wenn man
dabei die Größe und das wirtschaftliche Gewicht von Deutschland mit dem der
Vereinigten Staaten nicht aus den Augen verliert.
Wirft man dann noch einen Blick auf die Veröffentlichungen aus Russland
stammender Texte, so sind die Zahlen hier – sicherlich auch noch als eine
ReaktionaufdiebeinahefünfzigJahredauerndeBesetzungundBevormundung
Ungarns durch die Sowjetunion – erstaunlich niedrig (vgl. Tabelle 6).
Macht man die umgekehrte Probe und untersucht die Zahlen der in Ungarn
veröffentlichten fremdsprachlichen Publikationen, so finden sich folgende
Angaben zu der Zahl der Titel (siehe Tabelle 7).
Gemessen an all den bereits erwähnten Gesichtspunkten sind auch diese
Zahlen ein Beleg für die herausragende Stellung der deutschen Kultur und
Sprache in Ungarn.
Ein Bereich, in dem das Deutsche sich aber nicht in dem Maße durchsetzen
konnte wie in den bisher erwähnten, ist die Gattung des Films. Ein Blick auf
die Herkunftsländer der in Ungarn in den Kinos aufgeführten Filme in den
Jahren 2001-2005 zeigt, dass die Dominanz der US-amerikanischen Filme im
170
Gábor Kerekes
Jahr Titel Exemplare
2005 56 128792
2006 46 229327
2007 53 136238
2008 51 99334
Tabelle
6:
Titel russicher Autoren erschienen in ungarischer Sprache
Jahr Englisch Deutsch Französisch Russisch
2005 260 100 12 7
2006 109 61 11 5
2007 147 59 7 6
2008 230 68 16 6
Tabelle
7:
In Ungarn veröffentlichte fremdsprachliche Publikationen
Augenblick unüberwindbar zu sein scheint, und auch Frankreich in Ungarn den
Status einer cineastischen Großmacht besitzt, während sichder deutscheFilm –
rein quantitativ – abgeschlagen mit dem fünften Platz15
begnügen muss (siehe
Tabelle 8).
Jahr 2001 2002 2003 2004 2005
Zahl der aufgeführten
Filme
164 182 212 226 220
Herkunftsland:
USA 93 108 109 112 103
Frankreich 21 20 30 23 22
Ungarn 23 19 21 28 17
Großbritannien 5 5 5 6 6
Italien 1 -4 5 4
Russland 1 -1 2 1
Tabelle
8:
In Ungarn gezeigte Filme
Ohne an dem Umstand, den die Zahlen widerspiegeln, etwas ändern zu können
sei einschränkend zumindest soviel gesagt: Viele deutsche Filme kommen
in Ungarn erst gar nicht ins Kino, weil sie entweder gleich im ungarischen Fernsehen
gesendet oder aber auf DVD herausgegeben werden. Die überwiegende
Mehrheit der Kinos hat sich auf Publikumsfilme spezialisiert, die gemeinhin
als „Blockbuster“ oder als „Popcorn-Kino“ bezeichnet werden. Da der Anteil
15Központi Statisztikai Hivatal [Zentrales Amt für Statistik]: Mozik és filmek adatai 20012005
[Daten der Kinos und Filme 2001-2005]. Budapest: KSH 2006, S. 26
171
Gábor Kerekes
solcher Produktionen am deutschen Film gering ist, kommen auch wenige deutsche
Filme in die ungarischen Kinos. Seltene Ausnahmen wie Goodbye Lenin
oder Der Schuh des Manitu schaffen es aber auch in Ungarn ein Erfolg zu
werden.
6 Auf Deutsch über Deutschland in Ungarn
Ein weiterer Gesichtspunkt, der eine kurze Betrachtung verdient, wäre der
Aspekt, inwieweit heute in Ungarn Medien in deutscher Sprache zugänglich
sind. In den ungarischen Bibliotheken findet sich ein alter deutschsprachiger
Buchbestand, doch wird – je nach den finanziellen Möglichkeiten – dieser Bestand
immer weiter aufgestockt.
Hinsichtlich der Printmedien ist es in Ungarn – genauer gesagt in den zentralen
Lagen der Großstädte – kein Problem, an Druckerzeugnisse aus Deutschlandzukommen.
Verständlicherweisekannesnichtalleexistierendendeutschen
Veröffentlichungen auch in Ungarn im Handel geben, dies wäre schon rein wirtschaftlich
unsinnig. Doch trotzdem überrascht es, welch eine breite Angebotspalette
deutscher Zeitungen und Zeitschriften in Ungarn erhältlich ist – wobei
sie seit etwa der Jahrtausendwende in Budapest noch am Tag ihres Erscheinens
vorliegen. Ganz gleich, ob man an Tageszeitungen (F.A.Z., Die Welt,
Süddeutsche Zeitung, Bild), an seriöse Wochenzeitungen und Magazine (Die
Zeit, Der Spiegel, Focus, Stern mit all ihren Sondernummern) oder an Boulevardmagazine
und so genannte „Frauenzeitschriften“ der gehobenen (Bunte,
Freundin, Für Sie) oder der einfachen Art (Bild der Frau, Super Illu, OK’,
Neue Post, Goldenes Blatt und andere) denkt.16
Vergleicht man das Angebot
der aus Deutschland stammenden Druckerzeugnisse, so sind sie stärker vertreten
als die angloamerikanischen Veröffentlichungen – von den französischen
und italienischen ganz zu schweigen. (Und hierbei sind zu den deutschsprachigenVeröffentlichungen
dieebenfalls erhältlichenösterreichischenundSchweizer
noch gar nicht hinzugerechnet.)
Im Grunde ist nur ein Bereich der deutschsprachigen Zeitschriften in den
vergangenenJahren gescheitert, und zwarsindesdiedeutschsprachigenComics
und Kindermagazine. Man mag zwar über Donald Duck und die verschiede
16Das Angebot geht aber noch weiter: eine Vielzahl von Auto-und Motorradzeitungen
(Auto – Motor – Sport, Auto Bild, Motor Klassik, Sport Auto, Wohnmobil, Motorradnews,
EasyRiders u. a.),mehrereFernsehzeitungen(TV-Spielfilm,TV-Movie,TV-Direkt,NurTV,
TV 4 x 7 u. a.), Computerfachzeitschriften sowohl seriöse (Chip, PC Welt, PC Magazin) als
auch solche für PC-Spieler (Gamestar, PC Games), Modellbaumagazine (Modelleisenbahner,
Modellfahrzeug u. a.), populär-bis pseudowissenschaftliche Lektüren (z. B. P.M.), Rock-
und Popmagazine (Rock Hard, Musik Express, Bravo), Hobbymagazine (z. B. Eisenbahnkurier,
Fisch und Fang) sowie eine breite Palette an Rätselzeitschriften aus Deutschland ist
in der Budapester Innenstadt erhältlich – mehr als bei manch einem Zeitschriftenhändler in
Deutschland.
172
Gábor Kerekes
nen – letztlich ja amerikanischen – Superhelden-Comics lächeln, doch stimmt
es etwas nachdenklich, dass gerade der Bereich der Printmedien, der sich an
die Jüngsten wendet, an die man normalerweise doch die Hoffnung knüpft,
sie würden Sprachen lernen wollen, vollkommen eingeknickt ist. Vielleicht ist
der Grund aber auch ein banalerer: Hier hat sich eine ähnliche Entwicklung
vollzogen wie bei den Fernsehprogrammen: Die Comics aus Deutschland waren
sowieso nur Übersetzungen der amerikanischen Originalausgaben, die es
inzwischen auch in ungarischer Sprache gibt, ungleich billiger als die deutschen
Ausgaben. Ebenso sieht es mit den Kindermagazinen aus, die zumeist angelsächsischer
Herkunft waren. Doch Bussi Bär, um ein Beispiel aus Deutschland
zu nennen, ist als Buci Maci in ähnlicher Ausstattung auf Ungarisch erhältlich
und noch dazu deutlich billiger. In diesen Fällen handelt es sich bei den deutschen
und den ungarischen Ausgaben im Wesentlichen um identische Produkte,
mit einem deutlich unterschiedlichen Preis. Im Falle der oben erwähnten anderen
Zeitschriftenpublikationen muss man aber feststellen, dass es nur ganz
wenige ungarische Publikationen gibt, die in Umfang, Informationsmenge und
–dichte sowie Druckqualität an die deutschen Vorbilder herankommen. Und
dies stimmt nicht nur, wenn man an die Qualitätszeitungen und -zeitschriften
denkt, auch die Fernseh-, die Computer-und Musikzeitschriften sowie die Boulevardblätter
aus Deutschland haben im Augenblick mehr zu bieten als ihre
ungarischen Pendants. In diesem Umfeld besitzt selbst die Bunte einen gewissen
Status.
Bei den elektronischen Medien ist der Zugang zu den einzelnen Radiosendern
aus Deutschland schon seit Jahrzehnten unproblematisch, eine viel attraktivere
und aufwühlendere Erfahrung stellte für viele Menschen der Empfang
westlicher Fernsehsender dar, der Ende der achtziger Jahre möglich zu werden
begann. Zur Zeit der politischen Wende entstanden in Ungarn die ersten Kabelanbieter,
die auch relativ viele deutschsprachige Kanäle anboten, zumeist
ARD, 3SAT, RTL, SAT1, PRO7 und ORF. Später kamen dann VOX, RTL
II, Kabel 1 und noch weitere Sender hinzu, die Zunahme im Angebot deutschsprachiger
Fernsehprogramme war für die daran Interessierten eine angenehme
Erfahrung. Die Entwicklung hat aber nach der Jahrtausendwende eine umgekehrte
Richtung genommen. Tendenziell nahm nach dieser Zeit die Zahl der im
jeweiligen Angebot der ungarischen Anbieter eingespeisten deutschsprachigen
Sender kontinuierlich ab – in dem Maße, wie immer weitere neue ungarische
Sender entstanden sind, die auf Kosten der deutschen Kanäle in das Angebot
eingespeist werden wollen, und durch die die deutschen Sender langsam ersetzt
werden. Bei manch einem Anbieter gibt es heute im Extremfall keinen einzigen
deutschen Sender mehr.
Doch ist dank des technischen Fortschritts ist der Empfang aller deutscher,
über Satellit frei empfangbarer Fernsehsender, in Ungarn absolut kein Problem
mehr. Die Kosten für eine Satellitenanlage zum Empfang über Astra entspre
173
Gábor Kerekes
chen denen von etwa fünf bis sechs Monaten Kabelfernsehen. Für all jene, die
ein Abonnement bei einem deutschen Pay-Sender eingehen wollen, bleibt die –
natürlich in ihrer Umsetzung etwas mühsamere – Möglichkeit, dies in und über
Wien zu tun.
Im Rahmen der persönlichen deutschsprachigen Begegnung mit deutscher
KulturkommtdemGoethe-InstituteinebesondereRollezu, wobeihierüberdie
kulturellen Veranstaltungen des Institutes hinaus besonders die Tätigkeit der
Bibliothek hervorgehoben werden muss, da im Rahmen der anderen Tätigkeit
– Vorträge, Lesungen, Konferenzen, Aufführungen etc. – die Tendenz nicht
zu übersehen ist, die jeweilige Veranstaltung auch für Besucher attraktiv zu
machen, die des Deutschen nicht mächtig sind, weshalb oft auch eine simultane
Übersetzung angeboten wird.
Bei Auftritten deutscher Künstler in Ungarn ist generell die Tendenz zu beobachten,
dass bei der Kommunikation mit dem Publikum nicht selten auf das
Englische zurückgegriffen wird. Während die in den ungarischen elektronischen
MedienhäufigmitebendiesenKünstlernaufEnglischgeführtenInterviewsauch
darauf zurückgeführt werden könnten, dass die jeweiligen Fragenden das Deutsche
nicht beherrschen, so scheint bei dem direkten Kontakt die Sprachwahl –
sofern man nicht eine Fehlinformation durch die Veranstalter annehmen will –
durch die dem modernen demokratischen Deutschland charakteristische Furcht
davor motiviert zu sein, im Falle des Gebrauchs des Deutschen im Ausland
quasi als „Sprachimperialist“ dazustehen. So entsteht die zwiespältige Situation,
dass bei Auftritten in Ungarn deutsche Künstler, die in ihrem Programm
Werke in deutscher Sprache vortragen, das Publikum auf Englisch ansprechen.
Bei Politikerinterviews sieht es ähnlich aus – so etwa in den ungarischen Medien
mehrfach auch im Falle von Joschka Fischer, dessen Familie ja selbst eine
ungarndeutscheFamiliewarundderdeshalbübereigeneKenntnissedersprachlichen
Situation in Ungarn verfügen dürfte.
7
WirtschaftlicheVerbindungenzwischenDeutschland
und Ungarn
Die bisher aufgezählten Angaben könnte man vielleicht als bloße Eindrücke
abqualifizieren, doch ein Blick auf die Fakten im Bereich von Wirtschaft, Handel
und Verkehr zeigen deutlich die engen Verbindungen zwischen Deutschland
und Ungarn. Für Ungarn ist Deutschland der wichtigste Außenhandelspartner17,
während umgekehrt Ungarn nur an 15. Stelle für Deutschland18
kommt.
Auch im Tourismus stellt Deutschland einen wichtigen Faktor für Ungarn dar.
17Központi Statisztikai Hivatal: Statisztikai Tükör [Statistischer Spiegel]. Jg. III. Nr. 145
S. 3
18Központi Statisztikai Hivatal: Statisztikai Tükör. Jg. III. Nr. 145 S. 1
174
Gábor Kerekes
Im Jahre 2008 kamen 3,1 Millionen deutsche Touristen nach Ungarn. Während
sie zahlenmäßig damit nur 8 % der nach Ungarn einreisenden Touristen
ausmachten, sind 20 % der Einnahmen aus dem Tourismus auf die Deutschen
zurückzuführen, die insgesamt 212 Milliarden Forint ausgaben.
Von der Gesprächsdauer der von Ungarn aus ins Ausland initiierten Telefonanrufen19
gingen 2008 90% nach Europa, und innerhalb dessen die meisten
(19%) nach Deutschland, gefolgt von den benachbarten Ländern Rumänien
(13%) und Österreich (11%). Die Dominanz der Anrufe nach Deutschland ist
seit Jahren konstant, im Jahre 2007 waren 25,8% aller von Ungarn aus ins
Ausland initiierten Anrufe nach Deutschland20
gerichtet.
Die deutschen PKWs, aber auch die Nutzfahrzeuge haben in Ungarn
einen guten Ruf. Besonders beliebt sind bei den ungarischen Käufern die
Mittelklasse-und Kleinwagen von Opel und Volkswagen, wobei – ähnlich wie
in Deutschland – der VW Golf einen besonderen Nimbus besitzt. Sieht man
von den Verlaufszahlen ab, so besitzen die deutschen Hersteller, deren Wagen
in die Luxuskategorie gehören, ein besonders hohes Ansehen, allen voran
Daimler-Benz und Porsche sowie BMW und Audi. Betrachtet man dann,
um die andere Seite dieser Medaille zu beachten, die Statistiken im Bereich
Autodiebstahl, so ist die Vorliebe der Kriminellen dominant für Volkswagen,
und innerhalb der Modellpalette der Wolfsburger für den VW Golf weder zu
übersehen noch ist sie überraschend. An zweiter Stelle rangieren in dieser Statistik
traditionell die Autos von Opel. Erst danach folgen die Marken Renault
und Suzuki, wobei letztere in Ungarn auf Grund der Suzukifabrik in Esztergom/
Gran sehr weit verbreitet ist und geradezu den Status eines Volksautos
genießt. Die niedrigen Werte für Audi, BMW, Mercedes und Porsche in dieser
Statistik hängen allerdings auch mit den für ungarische Verhältnisse hohen
Preisen der Wagen zusammen, weshalb von ihnen nur wenigere Exemplare
auf den Straßen Ungarns zu finden sind, so dass sie auch nur weniger häufig
gestohlen werden können (www7).
Für die sportlich Interessierten Ungarn wird Deutschland in den vergangenen
20 Jahren in erster Linie von den international relativ erfolgreichen
Fußballklubs wie Bayern München und Borussia Dortmund sowie durch erfolgreiche
Einzelsportler wie Steffi Graf, Boris Becker und Michael Schumacher
repräsentiert. Von Lothar Matthäus erhoffte man sich vergeblich, er könnte als
ungarischer Nationaltrainer – in den Jahren 2004-2005 – mit der Auswahl die
Qualifikation zur WM schaffen. Die Spiele der Bundesliga werden von ungarischen
Fernsehsendern gern gezeigt, von ungarischen Pay-TV-Sendern auch in
Direktübertragung.
Im Alltag sind die Handelsketten Aldi, Lidl, Schlecker, dm (drogerie markt)
19Központi Statisztikai Hivatal: Statisztikai Tükör. Jg. III. Nr. 116 S. 3
20Központi Statisztikai Hivatal: Távközlés, Internet 2004 [Fernmeldewesen, Internet]. Budapest:
KSH 2005, S. 26.
175
Gábor Kerekes
und Plus für viele Ungarn fester Bestandteil beim Einkauf, die Liste der Produkte
aus Deutschland ist schier endlos, ob es sich nun um Persil oder Beck’s
handelt.
8 Fazit
Deutschland und die deutsche Kultur werden in Ungarn in einem sehr breiten
Spektrum wahrgenommen und rezipiert. Dabei umfasst dieses Spektrum so
gut wie alle Bereiche des politischen und kulturellen Lebens sowohl hinsichtlich
der politischen Orientierung als auch der verschiedenen kulturellen und
subkulturellen Erscheinungen.
Die politischen Parteien Deutschlands werden von den ungarischen Parteien
beobachtet, dabei lehnen sich die jeweiligen politischen Richtungen in
erster Linie gerne an die Erfahrungen und Aussagen ihrer Schwesterparteien in
Deutschland an. Ebenso sieht es im kulturellen Bereich aus: Sowohl Schöpfungen
der deutschen Hochkultur der Gegenwart werden in Ungarn übernommen,
alsauchdieProduktederUnterhaltungsindustrie. WährendPinaBausch,Werner
Herzog, Günter Grass, Sebastian Haffner, Rüdiger Safranski für die einen
wichtige Leitbilder sind, vergnügen sich die anderen mit Tokio Hotel, Alarm für
Cobra 11, Konsalik, den Romanheften des Bastei-Verlages – und die deutschen
Vorbilder werden in Ungarn sowohl in der Hoch-als auch in der Trivialkultur
als Vorbild genutzt, um nicht zu sagen „abgekupfert“, oder gar plump nachgeahmt.
Insgesamt kann man feststellen, dass kaum ein Bereich dessen, was
in Deutschland im Bereich von Politik, Wissenschaft sowie Hochkultur und
populärer Kultur anzutreffen ist, in Ungarn nicht bekannt ist.
Die Frage nach dem Deutschlandbild im Ungarn der Gegenwart lässt sich
nur in der Hinsicht beantworten, dass es weitgehend eine positive Konnotation
besitzt. Möchte man eine präzisere Bestimmung dessen, womit Deutschland
für welche Werte steht, dann muss vorher genau umrissen werden, um welches
Deutschlandbild welchen Bereichs der ungarischen Gesellschaft es sich handelt.
Denneineskannmandeutlichfeststellen: EsgibtkeineinheitlichesDeutschlandbild
in Ungarn, sondern verschiedene Deutschlandbilder der verschiedenen
Kulturen, Subkulturen und gesellschaftlichen sowie politischen Strömungen.
Dabei gibt es zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Gruppen sowie Subkulturen
und ihrem Deutschlandbild kaum Übergänge. Ob Anne-Sophie Mutter,
derVolkswagenGolf, dieBöhsenOnkelz, derHarz, AlbrechtDürer, Ludwigvan
Beethoven, Marlene Dietrich, Ernst Jünger, Albert Einstein, Alarm für Cobra
11, Pina Bausch, Lothar Matthäus, Hans-Dietrich Genscher, Harald Schmidt,
Michael Schuhmacher oder Frau Holle für den einen oder anderen Ungarn das
Deutsche symbolisieren, mag unterschiedlich sein, das einzig verbindende bei
alledem ist die positive Konnotation, die Deutschland besitzt: unter anderem
für die ungarischen Autonarren, die ungarischen Literaturfreunde, die ungari
176
Gábor Kerekes
schenHausfrauen, dieungarischenCineasten, dieungarischenFußballfans, aber
auch Hooligans, die ungarischen Philosophen und Soziologen, die ungarischen
Hobbyangler und Naturfreunde, aber auch für die Technikfreaks, die ungarischen
Punks und die ungarischen Skins, die ungarischen Wagnerverehrer, und
die ungarischen Germanisten sowieso.
Literatur
Bart, István (2000): Világirodalom és könyvkiadás a Kádár-korszakban
[Weltliteratur und Buchpublikation in der Kádár-Ära]. Budapest 2000.
Békési, Imre/Jankovics, József/Kósa, László/Nyerges, Judit (Hg.) (1993):
Régi és új peregrináció. Magyarok külföldön, külföldiek Magyarországon [Alte
und neue Peregrination. Ungarn im Ausland, Ausländer in Ungarn]. Band
I-III. Budapest/Szeged 1993.
Fata, Márta (1999): Rudolf Hartmann – Das Auge des Volkskundlers.
Tübingen 1999.
Kerekes, Gábor (1987): Die deutsche Literatur in den Zeitschriften
„Jelenkor“ und „Társalkodó“. In: Budapester Beiträge zur Germanistik. Band
18 Budapest 1987, 51-65.
Kerekes, Gábor (1998): Gyula Krúdy und Kaiser Franz Joseph I. In:
Leopold R. G. Decloedt (Hg.): An meine Völker. Bern 1998, 97-112.
Kerekes, Gábor (2005): Hermann Hesses Rezeption in Ungarn bis ins Jahr
2002. In: Kerekes Gábor / Erdõdy Orsolya (Hg.): Hermann Hesse – Humanist
und Europäer. Budapest 2005, 77-96.
Leipold, Árpád (2008): Zöld peregrinációban. Magyarországi diákok erdészeti
tanulmányai Ausztria, Németország és Svájc felsõoktatási intézeteiben
1811-1919 [In grüner Peregrination. Forstwissenschaftliche Studien ungarischer
Studenten an Hochschulinstitutionen Österreichs, deutschlands und der
Schweiz 1811-1919]. Erdészettörténeti Közlemények. LXXVI. Budapest 2008.
Lukacs, John (2001): Két világ között [Zwischen zwei Welten]. In:
Lukacs, John: Visszafelé...Utazások 1945-1996[Zurück...Reisen 1945-1996].
Budapest 2001, 200-230.
Lyka, Károly (1912): Magyarok a mücheni képzõmûvészeti akadémián
1824-1890 [Ungarn an der Münchner Akademie der Bildenden Künste 1824
177
Gábor Kerekes
1890] In: Mûvészet 11. Jahrgang 1912 Nr. 5. 178-188.
Manherz, Karl (Hg.) (1998a): Die Ungarndeutschen. Budapest 1998.
Manherz, Károly (Hg.) (1998b): A magyarországi németek [Die Ungarn-
deutschen]. Budapest 1998.
Metzler, Oskar (1985): Gespräche mit ungarndeutschen Schriftstellern.
Budapest 1985.
Nawratil, Heinz (2007): Schwarzbuch der Vertreibung 1945 bis 1948. Das
letzte Kapitel unbewältigter Vergangenheit. München 2007.
Szende, Béla (Hg.) (1979): Bekenntnisse – Erkenntnisse. Ungarndeutsche
Anthologie. Budapest 1979.
Szögi, László (2001): Magyarországi diákok németországi egyetemeken és
fõiskolákon 1789-1919. [Ungarländische Studenten an deutschen Universitäten
und Hochschulen 1789-1919]. Budapest 2001.
Tóth, Ágnes (2006): Zum Vorgehen gegen die deutsche Minderheit in
Ungarn 1945-1946. In: Kochanowski, Jerzy / Sach,Maike (Hg.) 2006: Die
„Volksdeutschen“ in Polen, Frankreich, Ungarn und der Tschechoslowakei.
Mythos und Realität. Osnabrück 2006.
Ungváry, Krisztián (2006): Zur Genese der „Deutschenfrage“ in Ungarn.
In: Kochanowski, Jerzy / Sach, Maike (Hg.) 2006: Die „Volksdeutschen“ in
Polen, Frankreich, Ungarn und der Tschechoslowakei. Mythos und Realität.
Osnabrück 2006.
Internetquellen
www1:http://www.gallup.hu/Gallup/orszagkep/020329c.htm
2009-1027
heruntergeladen 27.10.2009
www2:http://www.gallup.hu/gallup/release/mo_eu_020322.htm#
heruntergeladen 27.10.2009.
www3:http://www.gallup.hu/Gallup/orszagkep/0105_1.htm
2009-1027
14.06 heruntergeladen 27.10.2009.
178
Gábor Kerekes
www4:http://www.median.hu/object.ad137cad-29f5-4fd8-8a3a-b28531f9d8d7.
ivy
2009-11-01 heruntergeladen 01.11.2009.
www5:http://www.nemere.hu/konyvek%20evszam.htm
27.10.2009.
www6:http://statinfo.ksh.hu/Statinfo/themeSelector.jsp?page=
2&szst=ZKZ
heruntergeladen 28.10.2009.
www7:http://totalcar.hu/magazin/kozelet/lopas04/
heruntergeladen
15.08.2009.
Népszámlálás 2001 [Volkszählung 2001]: Angaben zur Volkszählung in
Ungarn im Jahre 2001. Im Internet unter:http://www.nepszamlalas.hu/
hun/kotetek/04/tabhun/tabl05/load05.html
[29.07.2009]
http://www.nepszamlalas.hu/hun/kotetek/04/tabhun/tabl06/
load06.html
[29.07.2009]
http://www.nepszamlalas.hu/hun/kotetek/04/tabhun/tabl07/
load07.html
[29.07.2009]
179
Wirtschaftsdeutsch in Ungarn
András Komáromy
Germanistisches Institut
Eötvös-Loránd-Universität
Rákóczi út 5.
1088 Budapest
1 Vorbemerkungen
Das Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, die gegenwärtige Situation des Sprachenprofils
‚Wirtschaftsdeutsch‘ in Ungarn darzustellen. Ein Bereich innerhalb
des DaF-Unterrichts, der aus sprachenpolitischer Sicht beziehungsweise für die
heutige Unterrichtspraxis eine immer größer werdende Rolle zu spielen scheint.
Dies ist einerseits durch das europaweit steigende Interesse an Fachsprachen
zu erklären (vgl. Kurtán/Silye 2006), andererseits durch den wiederum internationalen
Trend, die Bildungsinhalte auf allen Ebenen pragmatischer und
marktorientierter zu gestalten.
DieseTendenzwirdindernächstenZukunftvoraussichtlicherhaltenbleiben
und sich sogar verstärken, da ab 2011 die Arbeitsmärkte der deutschsprachigen
Mitgliedsländer der EU auch für ungarische Staatsbürger frei zugänglich sein
werden. In Anbetracht der relativ hohen Arbeitslosenquote in Ungarn (zurzeit
10,3 %) beziehungsweise der durchschnittlich höheren Vergütung in Deutschland
wird Wirtschaftsdeutsch (sowie die deutsche Sprache generell) für mehrere
Berufsgruppen eine hohe Attraktivität haben (www1).
Der Begriff ‚Wirtschaftsdeutsch‘ gilt trotz seiner Komplexität und Vagheit
als allgemein akzeptierter und verwendeter Oberbegriff für ein bestimmtes
Sprachenprofil. Man denke nur an die Kursangebote in Sprachschulen beziehungsweise
an Hochschulen und an die standardisierten Sprachprüfungen der
akkreditierten Prüfungsstellen, welche die generalisierende Bezeichnung „Wirtschaftsdeutsch“
(oder „Berufsdeutsch“) in ihrem Namen tragen. Der (außersprachliche)
Faktor ‚Wirtschaft‘ lässt dabei – trotz großer Vielfalt der verschiedenen
Branchen und Geschäftstätigkeiten – eine gewisse Vereinheitlichung zu,
die für das Sprachenprofil die Angabe bestimmter grundlegender und wiederkehrender
Kommunikationssituationen (wie geschäftliche Korrespondenz, Messebesuch
usw.) und fachlicher Themenbereiche (wie Marketing, Finanzwesen,
EU usw.) ermöglicht.
180
András Komáromy
Da es im gebotenen Rahmen nicht möglich ist, auf alle Aspekte der Thematik
einzugehen, werden folgende Einschränkungen gemacht:
a. In erster Linie wird die Situation auf dem ungarischen Arbeitsmarkt
geschildert – gestützt auf statistische Erhebungen und die Ergebnisse einer von
mir selbst durchgeführten Umfrage bei ungarischen Firmen mit Kontakten zum
deutschsprachigen Wirtschaftsraum.
b. Bei der Darstellung des Bildungsangebots wird auf die Hochschulebene
fokussiert, da dieser eine führende Rolle bei der Entwicklung fachsprachlicher
Kompetenzen im Bildungssystem zukommt (vgl. Kurtán/Silye 2006: 6). Dies
bedeutet die Ausklammerung der Fachoberschulen mit wirtschaftlicher OrientierungundderErwachsenenbildungbeziehungsweisederTätigkeitvonSprachschulen
und Privatlehrern, wobei jedoch erwähnt werden muss, dass das Thema
auch in diesen Bereichen eine gewisse Relevanz besitzt.
Deutsch-ungarische Wirtschaftsbeziehungen
Deutschlands Rolle wird nicht nur durch die Medien verdeutlicht, auch die
starke Präsenz deutscher Unternehmen und die außerwirtschaftliche Relevanz
betonen die regen wirtschaftlichen Beziehungen.
Dies belegen auch die neuesten Zahlen des ungarischen Zentralen Statistischen
Amtes (www2). Dem Konjunkturbericht zufolge ist Deutschland
der wichtigste Außenhandelspartner Ungarns: 24,5 % des gesamten Imports
(6441,6 Mio. Euro) und 26,2 % des gesamten Exports (7442,5 Mio. EUR)
wurden zwischen Januar und Juni 2009 mit Deutschland abgewickelt. Damit
steht Deutschland bezüglich beider Angaben eindeutig an erster Stelle, im
Import gefolgt von China mit 1773,7 Mio. Euro und im Export von Frankreich
mit 1523,9 Mio. Euro. Der klare Vorsprung hinsichtlich der wirtschaftlichen
Beziehungen wird umso deutlicher, wenn man neben Deutschland weitere
deutschsprachige Länder wie Österreich und die Schweiz hinzunimmt. So
betrachtet kommen 31,7 % der Importe aus diesen Ländern und 32 % der
Exporte gehen dorthin. Was diese Länder für den ungarischen Außenhandel
noch attraktiver macht, ist die Tatsache, dass die Außenhandelsbilanz mit
Deutschland und der Schweiz aus ungarischer Sicht positiv ist (1000,9 Mio.
Euro beziehungsweise 122,5 Mio. Euro).
Auch bei den Direktinvestitionen in Ungarn spielt Deutschland eine eminent
wichtige Rolle. Laut Angaben der Deutsch-Ungarischen Industrie-und
Handelskammer (DUIHK) (Bestand 2006) haben deutsche Direktinvestitionen
einen Anteil von 27 %, für die DACH-Länder insgesamt beträgt dieser Anteil
40,7 % (www3). Auch hier kommt Deutschland eine führende Rolle zu. An
zweiterStellederRanglistestehendieNiederlandemiteinemAnteilvon13,2%.
DasVolumenderDirektinvestitionenausDeutschlandmachtmehralsdasDoppelte
aus. Führende Branchen waren Fahrzeugbau, Verkehr und Telekommuni
181
András Komáromy
kation, Handel und Gastgewerbe sowie Energie-und Wasserversorgung. Laut
Angaben der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland beschäftigen deutsche
Unternehmen in Ungarn rund 250.000 Mitarbeiter (www4).
Die Zufriedenheit deutscher Investoren mit dem Standort Ungarn kann als
relativ hoch eingeschätzt werden: 80,4% der hier ansässigen Firmen würden ihr
Vermögen wieder in Ungarn investieren (www5). Diese Zahl gibt Anlass zur
Vermutung, dass die Vorreiterrolle Deutschlands für die ungarische Wirtschaft
auch in Zukunft anhalten wird. (Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrags
wurde in Kecskemét trotz „Wirtschaftskrise“ der Grundstein für das erste Werk
der Daimler-Benz AG in Mittelosteuropa gelegt, wodurch ab 2012 2500 neue
Arbeitsplätze geschaffen werden. Parallel zum Werk wurde auch eine Zweigstelle
der Deutschen Schule Baja im September 2009 ins Leben gerufen.)
Die Förderung der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen von deutscher Seite
erfolgt in einem sog. 3-Säulen-Modell durch die Kooperation der Außenhandelskammer
(AHK), des Wirtschaftsreferates der Deutschen Botschaft und der
Bundesagentur für Außenwirtschaft (bfai). Die DUIHK in Budapest bietet
einen umfassenden Informationsservice und weitere Dienstleistungen für ihre
900 (!) Mitglieder und für deutsche Investoren an. Des weiteren gibt sie regelmäßig
Publikationen heraus, die relevante landesspezifische wirtschaftliche
Informationen über den Standort Ungarn auch in deutscher Sprache beinhalten.
Auch die Webseite des ungarischen Steuer-und Finanzprüfungsamtes
wendet sich direkt an deutschsprachige Steuerzahler in Ungarn. Neben Englisch
und Französisch werden Steuerrechtsnormen und sonstige Informationen
für ausländische Investoren auch auf Deutsch zur Verfügung gestellt.
DiegenaueZahlderFirmenmitdeutschem/deutschsprachigemHintergrund
kann schwer geschätzt werden, aus den oben vorgestellten Zahlen geht jedoch
hervor, dass sie einen bedeutenden Anteil am Wirtschaftsgeschehen in Ungarn
haben. Was dasUmfeldvon WirtschaftsdeutschinUngarnbetrifft,muss jedenfalls
auch eine beträchtliche Zahl von Dienstleistungs-beziehungsweise Export/
Importunternehmen als potenzielles Hinterland für Wirtschaftsdeutsch hinzu
gerechnet werden.
3
DieRollederdeutschenSprachebeideutschen
Firmen in Ungarn
Die für Ungarn so wichtigen wirtschaftlichen Kontakte zu Deutschland müssten
auch für den Deutschunterricht und das Profil ‚Wirtschaftsdeutsch‘ günstige
Bedingungen bedeuten. Vor diesem Hintergrund ist die allgemeine und immer
stärker werdende Vorliebe für Englisch als erste (und meistens leider einzige)
Fremdsprachenichtdirekterklärbar, dieGründehierfürmüsstennochermittelt
182
András Komáromy
und die Konsequenzen für die Sprachpolitik gezogen werden (vgl. auch die
Diskussionen im JuG 2007 und 2008) (JuG).
Eine mögliche Erklärung dafür könnte sein, dass nach den Erhebungen einer
onlineJobbörsein68%deraktuellenStellenanzeigenFremdsprachenkenntnisse
als Anforderung angegeben werden, wobei in 64 % der Fälle Englischkenntnisse
undlediglichin13%derFälleDeutschkenntnisseerwartetwerden(www6). Immerhin
ist damit das Deutsche an zweiter Stelle, die nächste Fremdsprache in
der Rangliste der Erwartungen ist das Französische mit nur 3,8 %. Verblüffend
ist jedoch das Ergebnis einer Umfrage der Ungarischen Industrie-und Handelskammer:
2003 waren 58 % der Firmen unzufrieden mit den Berufseinsteigern,
unter den häufigsten Problemen wurden mangelnde Fremdsprachenkenntnisse
genannt (vgl. Fazekas 2006: 18), was eine erhebliche Asymmetrie zwischen
der Ausbildung und den Erwartungen des Arbeitsmarktes erkennen lässt (vgl.
auch Kurtán/Silye 2006: 9).
Um die tatsächliche Rolle der deutschen Sprache in geschäftlichen Kontakten
beschreiben zu können, müssten Ergebnisse großangelegter empirischer
Untersuchungen vorliegen, die zurzeit ein Desiderat darstellen.1
Um diesen Umstand zu ändern und wichtige Informationen über die Rolle
der deutschen Sprache im Geschäftsleben zu erhalten, haben wir am Germanistischen
Institut der Eötvös-Loránd-Universität eine kleine Umfrage bei
Großunternehmen (Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern) mit Kontakten
zum deutschsprachigen Raum in ungarischer Sprache durchgeführt.2
Die
Auswahl der befragten Unternehmen erfolgte aufgrund des jährlich erscheinenden
Mitgliederverzeichnisses der DUIHK (Kontakter 2008).
Die Fragen (vgl. Anhang 1) bezogen sich allgemein auf die Rolle der deutschen
Sprache in der Firmenkommunikation. Um uns einen ersten Überblick zu
verschaffen, haben wir bei der Gestaltung des Fragebogens folgende Faktoren
berücksichtigt:
1. Welcher Art sind die Beziehungen zu Deutschland / deutschen Firmen?
2. Spielen Deutschkenntnisse bei der Mitarbeiterauswahl eine Rolle? Wie
werden diese geprüft?
3. In welchen Kommunikationssituationen wird Deutsch verwendet?
4. Werden neben Deutsch auch andere Fremdsprachen benutzt?
Welche
Rolle kommt dabei dem Deutschen zu?
5. Werden den Mitarbeitern Deutschkurse angeboten?
1mit der einzigen Ausnahme von Dannerer 1992, in dem aber die Verhältnisse kurz nach
der Wende dargestellt werden
2An dieser Stelle möchte ich mich bei meiner Kollegin Katalin Horváth und bei Tamás
Magyar für die Hilfe bei der Erhebung und Auswertung der Daten bedanken.
183
András Komáromy
Den ausgewählten 119 Unternehmen wurden die Fragebögen per E-Mail zugeschickt,
von denen 35 (knapp 30 %) ausgefüllt zurückgeschickt wurden (dies
entspricht einer Mitarbeiterzahl von mindestens 17.500). Da eine sehr große
Zahl auch von kleinen und mittelständischen Unternehmen mit deutschem Hintergrund
in Ungarn tätig ist, haben wir auf die Befragung dieser aus Zeitgründen
verzichtet. Es ist jedoch anzunehmen, dass bei diesen wegen der engeren
persönlichen Kontakte zwischen den Mitarbeitern Deutschkenntnisse eine noch
größere Rolle spielen als bei großen Unternehmen. Dies könnte jedoch nur in
einer viel umfangreicheren und umfassenderen Untersuchung bewiesen werden.
Was die Kontakte zu Deutschsprachigen betrifft, haben 83 % unserer antwortgebenden
Firmen eine deutsche Mutterfirma, bei 20 % ist auch das Management
deutsch, 60 % der Unternehmen haben deutsche Kunden und bei 40 %
der Gesellschaften arbeiten auch deutsche Mitarbeiter. Diese Verhältnisse verraten
an sich ziemlich viel über mögliche Kontaktsituationen mit Deutschsprachigen.
Ob die Kommunikation in diesen Situationen tatsächlich auf Deutsch
erfolgt, kann anhand der weiteren Ergebnisse nur mit Vorsicht behauptet werden.
Über die Bedeutung der deutschen Sprache in den einzelnen Firmen werden
die Fragen folgendermaßen beantwortet (vgl. auch Abb. 1 beziehungsweise
Tab. 1 im Anhang): Bei 48,6 % der Firmen ist Deutsch die wichtigste Fremdsprache,
bei 14,3 % ist Deutsch gleichrangig mit anderen Fremdsprachen und
bei 37,1 % spielt die deutsche Sprache überraschenderweise eine untergeordnete
Rolle. In allen Fragebögen bis auf zwei wurde neben Deutsch auch Englisch
als weitere gebräuchliche Fremdsprache genannt. Andere Fremdsprachen
sind, neben Deutsch, Spanisch (viermal), Französisch (dreimal), Italienisch und
Russisch (jeweils zweimal) beziehungsweise Slowakisch und Rumänisch (jeweils
einmal)(Siehe Abbildung 1).
Die Situationen, in denenauf Deutsch kommuniziert wird, zeigeneine breite
Streuung. Folgende Rangliste zeigt die verschiedenen Antworten (in Klammern
steht die jeweilige Anzahl der Antworten):
Kontakt halten mit Kunden(24), Kontakt halten mit der Mutterfirma (13),
Meetings, Besprechungen und Sitzungen(13), Veranstaltungen(5), Ergebnisberichte
für das Management (5), Weiterbildungen, Trainings, Workshops (5),
Einweisung (5), Verhandlung (4), Dokumentation (3), Gespräche mit Kollegen
(3), Rezeption (2), Ausstellungen (1), Werkbesuche (1), Präsentation (1),
technische Besprechungen (1), Fachliteratur und Fachzeitschriften (1), ausländische
Projekte (1), IT-Support (1). Die ersten drei häufigsten Antworten
stellen Situationen dar, die sehr flexible und gut fundierte allgemeinsprachliche
Kompetenzen und auch Fachsprachenkenntnisse in Wort und Schrift erfordern.
Aus den Antworten lässt sich weiterhin darauf schließen, dass die Mitarbeiter
im Durchschnitt über einen Komplex von fremdsprachlichen Kompetenzen
verfügen müssen.
Ein wichtiger Motivationsfaktor für Deutschlernende ist, wie wichtig
184
András Komáromy
Abbildung
1:
Wichtigkeit der deutschen Sprache in der Firma
Deutschkenntnisse bei der Auswahl von Mitarbeitern sind (vgl. Abb. 2
und Tab. 2 im Anhang). Von den vier Antwortmöglichkeiten wurde die erste
von keiner Firma gewählt: Unter den Antwortgebenden gibt es demnach kein
Unternehmen, bei dem in allen Positionen Deutschkenntnisse erwartet werden.
Bei 57,1 % bilden Deutschkenntnisse eine Voraussetzung in einigen Positionen.
Von den insgesamt 20 Großunternehmen, die diese Antwort angaben, haben 15
die Antwort weiter spezifiziert. Demnach sind die Stellen, in denen Deutschkenntnisse
erwartet werden, vor allem im Management (8 Antworten) und in
administrativen Bereichen (5 Antworten) zu finden. Daneben wurden noch
Kontaktpflege (3 Antworten), Logistik, Beschaffung, IT, Marketing, Vertrieb,
HR, Controlling (jeweils 2 Antworten) sowie PR (1 Antwort) genannt. Bei
37,1 % der Firmen bedeuten Deutschkenntnisse einen Vorteil für den Bewerber
und lediglich bei 5,7 % spielen Sprachkenntnisse überhaupt keine Rolle (Siehe
Abbildung 2.
Wie Sprachkenntnisse bei den Bewerbern geprüft werden, ist einerseits ein
wichtiger Orientierungsfaktor für Fremdsprachenlerner, andererseits kann dieser
Punkt gleichzeitig auch als eine gewisse Kritik an Prüfungsmethoden und
am Unterricht des Wirtschaftsdeutschen interpretiert werden. Die Firmen vertrauen
nämlich wenig auf erworbene Zertifikate und absolvierte Kurse ihrer
185
András Komáromy
Abbildung
2:
RollederdeutschenSprachkenntnissebeiderAuswahlderMitarbeiter
Mitarbeiter (vgl. Abb. 3 und Tab. 3 im Anhang): 45, 7% der Firmen verlassen
sich ausschließlich auf ihren firmeninternen Test, der in insgesamt 74,3%
der Antworten als Option vorkommt. Lediglich 20 % der Firmen erkennen
Sprachdiplome als Nachweis der Sprachkenntnisse der Bewerber an. Das lässt
sich sicherlich mit der oben erwähnten Unzufriedenheit mit den Sprachkenntnissen
der Mitarbeiter und den daraus folgenden schlechten Erfahrungen in
Verbindung bringen und muss als Warnsignal für die Prüfungsstellen gedeutet
werden (Siehe Abbildung 3).
65,7 %, das heißt die Mehrheit der Arbeitgeber bieten den Mitarbeitern die
Möglichkeit, an vom Arbeitgeber organisierten Deutschkursen teilzunehmen.
Der Grund dafür könnte einerseits sein, dass die vorhandenen Sprachkenntnisse
der Arbeitnehmer als unzureichend beurteilt werden, besser gesagt, den
(speziellen) Anforderungen des Tätigkeitsbereiches der Angestellten nicht ganz
entsprechen. Andererseits könnte eine Notlage dazu geführt haben, dass Mitarbeiter
mit entsprechenden Fach-aber fehlenden Sprachkenntnissen aufgenommen
worden sind. In beiden Fällen müssen jedoch schwerwiegende Konsequenzen
für die Fremdsprachenpolitik beziehungsweise die Effektivität des Fremdsprachenunterrichts
gezogen werden, da der bestehende Bedarf des Marktes
anscheinend nicht ganz gedeckt werden kann.
186
András Komáromy
Abbildung
3:
Wie werden die Sprachkenntnisse geprüft?
Die sonstigen Anmerkungen in den Fragebögen, die in relativ großer Zahl
freiwillig angegeben wurden und an dieser Stelle (ins Deutsche übersetzt) in
ihrem Wortlaut zitiert werden, zeugen davon, dass das Englische eine immer
wichtigere Rolle bei der geschäftlichen Kommunikation auch bei deutschen Firmen
spielt. Wichtig scheint mir dabei festzuhalten, dass in vielen Fällen der
große Vorteil angesprochen wurde, den man hat, wenn man deutsche Kollegen,
Partner oder Kunden in ihrer Muttersprache anspricht.
•
Obwohl die Eigentümer Deutsche sind, ist die Arbeitssprache Englisch,
auf Deutsch wird wenig kommuniziert.
•
Früher haben viele deutsche Kollegen bei der Firma gearbeitet, heute
haben wir ausländische Mitarbeiter, mit denen wir aber auch auf Deutsch
kommunizieren.
•
Obwohl das Deutsche die offizielle Arbeitssprache ist (bei der Kommunikation
mit dem Geschäftsführer, in Meetings), wird bei ausländischen
Projekten und bei der Korrespondenz in wichtigen, den Konzern betreffenden
Angelegenheiten immer mehr Englisch benutzt. Englisch ist auch
die gemeinsame Sprache auf größeren internationalen Treffen und Besprechungen.
187
András Komáromy
•
Das Deutsche wird vom Englischen schrittweise zurückgedrängt, trotzdem
ist es ein wichtiger Standortvorteil, wenn man Deutsch kann (die deutschen
Kollegen sind immer positiv überrascht, wenn wir außer Englisch
auch Deutsch können). Neben den offiziellen Informationen (Englisch)
erfährt man in informellen deutschsprachigen Gesprächen wichtige Sachen.
•
Am besten ist es, wenn Kenntnisse in beiden Sprachen vorliegen, heute
werden aber auch nur Englischkenntnisse akzeptiert.
•
Bei Ingenieuren werden heute lediglich Englischkenntnisse erwartet.
•
Wir sind ein internationales Unternehmen, seit 1996 ist die offizielle
Arbeitssprache Englisch.
•
Die meisten Bewerber verfügen über ein Sprachdiplom (das wird auch
in den Vorstellungsgesprächen immer wieder hervorgehoben), aber in der
Praxis sind sie nicht einmal in der Lage, über sich selbst 10 sinnvolle
und korrekte Sätze zu äußern, geschweige denn Telefonate mit den Kunden
zu führen und mit ihnen zu verhandeln. Andererseits sprechen unsere
Partner mit Vorliebe Deutsch, sie vertreten sogar ziemlich aggressiv die
Meinung, dass wir mit ihnen auf Deutsch kommunizieren müssen. Dabei
wollen sie nicht einmal auf ihren Dialekt verzichten. Dies ruft bei vielen
Missfallen hervor, die dann (dem Trend entsprechend) Englisch präferieren.
•
Bis 2002 war die erste Fremdsprache in der Firma das Deutsche. Bis zu
diesem Zeitpunkt haben wir auch Deutschunterricht für die Mitarbeiter
organisiert. Ab 2003 wurde das Englische die Sprache der externen Kontaktpflege,
doch ist es von Vorteil, Deutsch sprechen zu können, weil wir
so mit den Mitarbeitern unserer Mutterfirma reibungslos kommunizieren
können.
•
Die offizielle Sprache unseres multinationalen Unternehmens mit Sitz in
Deutschland ist das Englische, jedoch kommt es oft vor, dass die deutschen
Kollegen ihre Muttersprache verwenden, da es für sie bequemer ist.
Für uns bedeutet die Übersetzung aber Extrakosten und einen Zeitverlust,
da unsere Mitarbeiter eher Englisch beherschen. Unser deutscher Geschäftsführer
bevorzugt aus diesem Grund das Englische (auch mit seinen
deutschen Kollegen), was in deutsch-ungarischer Relation ja demokratischer
ist, da Englisch für beide Parteien eine Fremdsprache ist. Mit nicht
deutschen ausländischen Partnern verwenden wir in den meisten Fällen
Englisch.
188
András Komáromy
•
Im Oktober 2009 fusionierte unsere Firma mit dem japanischen TDK,
so wird das Englische eine immer größere Rolle in der firmeninternen
Kommunikation spielen.
Bildungsangebot und Prüfungsmöglichkeiten
Aus den Ergebnissen der Umfrage ist darauf zu schließen, dass die Nachfrage
auf dem Markt für Wirtschaftsdeutsch-Kurse ziemlich groß ist, zumindest lässt
die Tatsache, dass bei 65,7 % der befragten Firmen solche Kurse den Mitarbeitern
angeboten werden, dies erkennen. Dementsprechend ist das Angebot auch
relativ hoch: Die meisten Sprachschulen haben sich auch auf dieses Segment
spezialisiert. EswärefürdieZukunftwichtigzuerkunden,wieindiesenKursen
gearbeitet wird und wie hoch die Zufriedenheit der Firmen mit der Effektivität
des Deutschunterrichts ist.
Seit der Einführung der modularen BA-und MA-Ausbildung in Ungarn
(2006) sind spezielle fachsprachliche Kurse in Wirtschaftsdeutsch nicht nur
an wirtschaftlichen Universitäten und Fachhochschulen zu belegen, sondern
auch in germanistischen Studiengängen. So bieten zum Beispiel Germanistische
Institute der Eötvös-Loránd-Universität (Budapest), der Universität Debrecen
und der Katholischen Pázmány Péter Universität im Rahmen der neuen
Bachelor-Studiengänge Module/Spezialisationen in Wirtschaftsdeutsch an, um
– im Sinne der Grundsätze des Bologna-Prozesses – den Erwartungen des Arbeitsmarktes
entgegen zu kommen. Da die Ergebnisse unserer Umfrage gezeigt
haben, dass Deutschkenntnisse neben den Führungspositionen auch in weiteren
administrativen Bereichen eine Voraussetzung sind, kann behauptet werden,
dass hier ein tatsächlich existierender Bedarf vermutet wurde. In Debrecen
gibt es sogar eine enge Zusammenarbeit mit einem großen Unternehmen der
IT-Branche (vgl. Katschthaler 2008), was die Bestimmung der Kursinhalte
der Spezialisierung auf BA-Ebene und die Weiterbildung der Absolventen betrifft
– eininder traditionsreichen ungarischen Germanistik bisher unbekanntes
jedoch nachahmungswertes Phänomen. Vor dem Hintergrund obiger Ausführungen
kann vermutet werden, dass eine umfassende Erkundung der Nachfrage
hier noch mehr Möglichkeiten der besseren Zusammenarbeit aufdecken würde.
Obige Tendenz wird höchstwahrscheinlich auch positive Auswirkungen auf die
Lehrerausbildung haben und die Zahl der Lehrkräfte, die auch Wirtschafts-
deutsch unterrichten können, erhöhen.
In Bezug auf den Fachsprachenunterricht auf Hochschulebene kommen Kurtán/
Silye (2006: 10 ff.) bei der Beschreibung der Lage zu folgenden Schlussfolgerungen:
•
In den letzten Jahren entstanden Forschungsgemeinschaften auf dem Gebiet
der Fachsprachenforschung, was eine begrüßenswerte Tendenz ist, da
189
András Komáromy
es eine positive Auswirkung aufdie Qualität derfachsprachlichen Bildung
habenwird –esgiltnun, dieseGemeinschaftenzufördernundihneneinen
institutionellen Rahmen zu bieten.
•
Der Fachsprachenunterricht weist jedoch gewisse Mängel und Widersprüche
auf, da trotz der Wichtigkeit von Fachsprachenkenntnissen bei
dem Eintritt auf den Arbeitsmarkt der fachsprachliche Unterricht bei der
Entwicklung der BA-und MA-Studiengänge nicht gebührend beachtet
wurde.
Beim letzten Punkt muss bemerkt werden, dass in wirtschaftswissenschaftlichen
und militärischen Studiengängen im Gegensatz zu anderen Fächern fachliche
Sprachprüfungen auf B2-Niveau als Ausgangsbedingungen gefordert werden
(vgl. Kurtán/Silye 2006: 56 ff.), wodurch die Relevanz von Wirtschafts-
deutsch im Rahmen der fachsprachlichen Ausbildung eindeutig wird.
Auch bei den Sprachprüfungen ist das Angebot sehr breit. Insgesamt gibt
es zurzeit sieben verschiedene Prüfungssysteme zur Bewertung der Kenntnisse
in Wirtschaftsdeutsch auf zwei oder sogar drei Niveaustufen: ÖSD Diplome
des Österreich Instituts, Zertifikat Deutsch für den Beruf und Prüfung Wirtschaftsdeutsch
des Goethe Instituts, GazdálKODÓ (Székesfehérvár), OECONOM
(Corvinus Universität, Budapest), Prüfungen der Wirtschaftshochschule
Budapest, der Technischen Universität Budapest sowie Zöld út (Gödöllõ). Die
einzelnen Prüfungen weisen große Unterschiede auf. Ein grundlegender Unterschied
ist, ob sie auch Transfer-oder Übersetzungsaufgaben enthalten oder
auf einsprachige Aufgaben reduziert sind. Weitere Unterschiede bestehen in
den einzelnen Aufgabentypen, in den zu produzierenden Textsorten und dem
Ausmaß an erwarteten wirtschaftswissenschaftlichen Kenntnissen. Einige Prüfungen
scheinen sehr stark am Studiengang der veranstaltenden Hochschule
ausgerichtet zu sein, einige erheben den Anspruch, international gültige Nachweise
der wirtschaftssprachlichen Kenntnisse zu sein.
Trotz des großen Angebots, das wahrscheinlich darauf zurückzuführen ist,
dass für die Diplome in Ungarn fachliche Sprachprüfungen verlangt werden
(Studierende vor ihrem Diplom sind ja die wichtigste Zielgruppe für diese Prüfungen),
isteserstaunlich, dassnurwenigeFirmendieseZertifikateakzeptieren.
An dieser Stelle sei angemerkt, dass eine kritische Prüfung der verschiedenen
Testsysteme im Einklang mit den tatsächlichen Erwartungen des Arbeitsmarktes
nötig wäre – dies betrifft auch die international eingesetzten Prüfungen des
Goethe Instituts und des Österreich Instituts –, sonst könnte die Gefahr bestehen,
dass die Prüfungen ihren ursprünglich formulierten Zielsetzungen nicht
gerecht werden können.
190
András Komáromy
5 Schlussbemerkungen
Insgesamt lässt sich feststellen, dass die (außersprachlichen) Bedingungen für
das Sprachenprofil Wirtschaftsdeutsch in Ungarn sehr günstig sind. Im Zeitalter
des Englischen als ‚Lingua franca‘ bekommt man immer häufiger die Devise
zu hören: „Englisch ist ein Muss, Deutsch aber ein Plus“. Dass es keine leere
Losung ist, ist in Anbetracht der ungarischen Verhältnisse und der Ergebnisse
unserer Umfrage klar. Die Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind für KandidatenmitFremdsprachenkenntnissen
deutlichbesser – inqualifiziertenPositionen
sind Fremdsprachenkenntnisse sogar eine Voraussetzung. Dabei spielt in Ungarn
neben Englisch das Deutsche immer noch eine eminent wichtige Rolle
unter den Fremdsprachen.
Für eine erfolgreiche Fremdsprachenpolitik wären großangelegte Untersuchungen
über den tatsächlichen Bedarf dringend nötig. Die Ergebnisse könnten
auch bestehende Probleme besser aufdecken (vgl. die untergeordnete Rolle von
Sprachprüfungen) beziehungsweise Richtlinien für die Bestimmung von Kursinhalten
geben. Eine stärkere Ausrichtung des Sprachunterrichts an Hochschulen
und Universitäten auf die tatsächlichen Erwartungen des Arbeitsmarktes wäre
eine wünschenswerte Entwicklung in der Zukunft.
6 Literatur
Dannerer, Monika (1992): Wirtschaftsdeutsch in Ungarn. Eine empirische
Studie über Bedarf und Probleme. In: Info DaF 19, 3 (1992), 335-349.
JuG 2007 = Masát, András/Tichy, Ellen (Hg.): Jahrbuch der ungarischen
Germanistik 2007. Budapest/Bonn: 2008.
JuG 2008 = Böttger, Lydia/Masát, András (Hg.): Jahrbuch der ungarischen
Germanistik 2008. Budapest/Bonn: 2009.
Katschthaler, Karl (2009): Germanistikunterricht in Ungarn und Deutsch
als europäische Lingua franca. In: Böttger, Lydia/Masát, András (Hg.): Jahrbuch
der ungarischen Germanistik 2008. Budapest/Bonn 2009, 26-27.
Internetquellen
www 1: http://www.magyarorszag.hu/hirkozpont/hirek/
foglalkoztatas/ksh20091029.html, 5.11.2009
www 2: http://portal.ksh.hu/pls/ksh/docs/hun/xftp/gyor/kul/
kul20909.pdf, 5.11.2009
191
András Komáromy
www 3: http://www.ahkungarn.hu/fileadmin/user_upload/
Dokumente/Wirtschaftsinfos/HU/Statistik/Ungarn_2008_web.pdf,
5.11.2009
www 4: http://www.budapest.diplo.de/Vertretung/budapest/de/05/
Wirtschaftliche__Zusammenarbeit/Bilaterale__WiBeziehungen__Seite.
html, 5.11.2009
www 5: http://www.ahkungarn.hu/fileadmin/user_upload/
Dokumente/Bereich_CC/Publikationen/Konjunktur/2009/KB_MOE_2009_
FINAL.pdf, 5.11.2009
www 6: http://www.frissdiplomas.hu/index.php?s=1&f=3&hir=177,
3.12.2009
Fazekas, Márta (2006): Az idegennyelv-tudás, mint kulcskompetencia
a magyar oktatási intézményekben az európai uniós ajánlások
tükrében [Fremdsprachenkenntnisse als Schlüsselkompetenz im
Spiegel der EU-Empfehlungen].http://www.okm.gov.hu/europai
uniooktatas/
tanulmanyok/tanulmanyok heruntergeladen am 5.11.2009.
Kurtán, Zsuzsa/Silye, Magdolna (2006): A szaknyelvi oktatás a magyar
felsõoktatás rendszerében [Fachsprachenunterricht im ungarischen Hochschulsystem].
http://www.okm.gov.hu/europai-unio-oktatas/tanulmanyok/
tanulmanyok
heruntergeladen am 5.11.2009.
7 Anhang
Tab. 1: Wichtigkeit der deutschen Sprache in der Firma
Frequency Percent Valid
Percent
Cumulative
Percent
Valid am wichtigsten 17 48,6 48,6 48,6
gleichrangig mit
anderen Fremdsprachen
5 14,3 14,3 62,9
spielt eine untergeordnete
Rolle
13 37,1 37,1 100,0
Total 35 100,0 100,0
192
András Komáromy
Tab. 2: Die Rolle der deutschen Sprachkenntnisse bei der Auswahl
von Mitarbeitern
Frequency Percent Valid
Percent
Cumulative
Percent
Valid Voraussetzung
in einigen Positionen
20 57,1 57,1 57,1
kann von Vorteil
sein
13 37,1 37,1 94,3
zählt nicht 2 5,7 5,7 100,0
Total 35 100,0 100,0
Tab. 3: Wie werden Sprachkenntnisse geprüft?
Frequency Percent Valid
Percent
Cumulative
Percent
Valid allgemeines
Sprachdiplom
4 11,4 12,1 12,1
firmeninterner
Test
16 45,7 48,5 60,6
allgemeines und
fachliches Sprachdiplom
und
firmeninterner
Test
4 11,4 12,1 72,7
allgemeines und
fachliches Sprachdiplom
3 8,6 9,1 81,8
fachliches Sprachdiplom
und firmeninterner
Test
1 2,9 3,0 84,8
allgemeines
Sprachdiplom
und firmeninterner
Test
5 14,3 15,2 100,0
Total 33 94,3 100,0
Missing keine Antwort 2 5,7
Total 35 100,0
193
András Komáromy
Tab. 4: Fremdsprachenunterricht für die Mitarbeiter
Frequency Percent Valid Percent
Cumulative
Percent
Valid ja 23 65,7 65,7 65,7
nein 12 34,3 34,3 100,0
Total 35 100,0 100,0
194
András Komáromy
1. Welche Beziehungen hat Ihre Firma zu Deutschen / deutschen
Firmen? (Auch mehrere Antworten sind möglich)
a. Wir haben eine deutsche Mutterfirma.
b. Unser Management ist deutsch.
c. Wir haben deutsche Kunden.
d. Wir haben auch deutsche Mitarbeiter.
e. Sonstiges:
___________________________________________
2. Sind Deutschkenntnisse ein Faktor bei der Auswahl künftiger
Mitarbeiter?
a. Ja, Deutschkenntnisse sind in allen Positionen eine
Voraussetzung.
b. In bestimmten Positionen sind Deutschkenntnisse eine
Voraussetzung: _______________________________________
c. Es ist keine Voraussetzung, kann aber von Vorteil sein.
d. Zählt nicht. (Gehen Sie zu Frage 4!)
3. Wie werden die Sprachkenntnisse der Bewerber geprüft?
a. anhand eines allgemeinen Sprachdiploms
b. anhand eines fachlichen Sprachdiploms
c. mit Hilfe eines firmeninternen Tests
d. Sonstiges: ____________________________________
4. Zählen Sie einige wichtige oder häufig vorkommende Situationen
auf, in denen auf Deutsch kommuniziert wird. (z.B.: Einweisung,
Kontaktpflege, Veranstaltungen, Besprechungen usw.)
_______________________________________________________
_______________________________________________________
195
András Komáromy
_______________________________________________________
___________________________________________________
5. Benutzen Sie neben dem Deutschen auch andere Fremdsprachen
in ihrer Firma?
a. Ja, folgende: _____________________________________
b. Nein. (Gehen Sie zu Frage 7 über!)
6. Unter den Fremdsprachen ist Deutsch…
a. am wichtigsten.
b. gleichrangig mit den anderen Fremdsprachen.
c. nicht am wichtigsten.
7. Können/müssen Ihre Mitarbeiter an von der Firma organisierten
deutschen Sprachkursen teilnehmen?
a. Ja. b. Nein.
8. Anmerkungen
_______________________________________________________
_______________________________________________________
_______________________________________________________
___________________________________________________
196