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Small Pleasures: Auf der Suche nach neuen Wohnqualitäten

2023, Zenodo (CERN European Organization for Nuclear Research)

Grobszenarien 31 Von der Konsumentin zur Produzentin 35 Unterwegs-à la Carte

SCHLUSSBERICHT Innosuisse Innovationsprojekt Small Pleasures FH Zentralschweiz Impressum Herausgeber Hochschule Luzern – Technik & Architektur (HSLU T&A) Institut für Architektur (IAR) Kompetenzzentrum Typologie & Planung in Architektur (CCTP) Technikumstrasse 21 CH-6048 Horw hslu.ch/cctp Autorinnen und Autoren Angelika Juppien Richard Zemp © Texte: Angelika Juppien, Richard Zemp Creative Commons Lizenzvertrag Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung-Nicht kommerziell 4.0 International Lizenz Umsetzungspartner und Beirat GKS Architekten Generalplaner AG (Hauptumsetzungspartner) HIG Immobilien Anlage Stiftung Dost Architektur GmbH Stadt Zürich – Amt für Hochbauten – Fachstelle Nachhaltiges Bauen Pensimo Management AG Losinger Marazzi AG Allgemeine Baugenossenschaft Luzern Stadt Luzern – Stadtplanung Stadt Bern – Stadtplanungsamt – Fachstelle Wohnbauförderung Bundesamt für Wohnungswesen BWO Bau- und Wohngenossenschaft Kraftwerk 1 Baugenossenschaft mehr als wohnen Titelbild © Jan Rothuizen Stand Januar 2023 Dieses Projekt wurde gefördert durch die schweizerische Agentur für Innovationsförderung. Innosuisse-Projektnummer 39490.1 IP-SBM Small Pleasures AUF DER SUCHE NACH NEUEN WOHNQUALITÄTEN 2 05 EINLEITUNG Ausgangslage und Vorgehen 11 ARBEITSPAKET 01 Forschungsstand und Fachdiskurs 12 Ressourcen (Konstruktion, Energie) 14 Ökologie und Biodiversität 16 Teilhabe und Zugänglichkeit 16 Digitalisierung, Netzwerke und Kommunikation 20 Mobilität und Infrastruktur 24 Identifizierte Einflussfaktoren/Arbeitsthesen 29 ARBEITSPAKET 02 Grobszenarien 31 Von der Konsumentin zur Produzentin 35 Unterwegs – à la Carte 39 Summer in the City 43 ARBEITSPAKET 02 Fallbeispiele 55 ARBEITSPAKET 03 Szenarienwerkstätten 61 Fuchsloch, Oberwil 81 Kappelenring, Hinterkappelen 95 Saumackerstrasse, Zürich 114 ARBEITSPAKET 04 Workshop Verwaltungen 116 Fuchsloch, Oberwil 122 Kappelenring, Hinterkappelen 126 Saumackerstrasse, Zürich 132 ARBEITSPAKET 05 Umdenkarium 135 Von den eigenen vier Wänden zum Habitat 139 Vom Hier-wohne-ich zum Hier-gestalte-ich-mit 143 Vom Immer-so-weiter zum Immer-wieder-anders 146 Anregungen zu den Fallbeispielen 150 ANHANG 3 4 Ausgangslage und Vorgehen «Die Wohnlichkeit aber wird erst dann zu etwas, was wir bewahren oder gar wiederherstellen können, wenn wir verstehen, dass sie nicht eine Addition bauorientierter Verbesserungen, sondern eine Organisation lebensnotwendiger Subsysteme ist.» (Burckhardt, Lucius: Feser, Jesko und Schmitz, Markus: Wer plant die Planung? Berline, 2018) Lebensmuster, Haushaltsformen, Arbeits- und Mobilitätsverhalten verändern sich. Die Prognosen sind allseits bekannt: Wir leben länger, wir werden gesund alt und haben weniger Kinder. Die Folgen des Klimawandels und der Ressourcenknappheit sind bereits heute spürbar. All diese Veränderungen haben Konsequenzen für die Art, wie wir wohnen werden. So werden wir zum Beispiel näher zusammenrücken, weil wir deutlich weniger Land pro Kopf beanspruchen sollten. Angesichts etablierter Vorstellungen von Wohnkomfort ist dies aber nicht leicht umsetzbar. Es sei denn, man beginnt über neue Wohnqualitäten nachzudenken. Denn Letztere sind nicht einfach proportional zur Wohnfläche, sondern sind vielschichtig und hängen von zahlreichen Aspekten ab. So kann eine andere Auffassung von Wohnqualität durchaus über ein vorwiegend auf die eigene Wohnung bezogenes Leben hinausgehen und damit das Wohlbefinden von der Quadratmeterzahl entflechten. Die Sorgfalt bei der Schaffung orts- und nutzerspezifischer Wohnsituationen und auch die städtebauliche Dimension des Wohnens sind also zentral, wenn es um die Diskussion von Wohnqualitäten geht. Die Behauptung, dass der aktuelle Wohnungsmarkt nach wie vor eine Wohnqualität propagiert, die auf tradierten Auffassungen basiert und damit im Widerspruch zur Agenda sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit steht, ist dabei nicht ganz unplausibel. Die zentrale Frage, die es zu klären gilt, lautet: Welche Vorstellungen, Wünsche und Bedürfnisse, die der aktuelle Wohnungsmarkt unzureichend abdeckt, könnten gerade vor dem Hintergrund des geforderten sparsamen Ressourcenverbrauchs wegweisend sein? In welche Richtung müssen Anbieter von Wohnraum denken und planen, um in solche nachhaltigen Wohnqualitäten zu investieren? Mit der vorliegenden Studie wurde das Ziel verfolgt, diese veränderten Bedürfnisse von Wohnenden und den Meinungsstand von Wohnungsanbietern sowie der öffentlichen Hand in Erfahrung zu bringen, um Lösungsansätze zur Schaffung nachhaltiger Wohnqualität aufzuzeigen. 5 Themen wie innovative Wohnformen und veränderte Wohnbedürfnisse sind bereits seit einiger Zeit im Fachdiskurs angekommen. Auch der Aspekt der Nachhaltigkeit wird seit längerem diskutiert. Und spätestens seit der Annahme des Raumplanungsgesetzes im Jahre 2013 existiert ein breit abgestützter Konsens darüber, dass mit der Ressource Boden haushälterisch umgegangen werden sollte. Konkret mangelt es aber an einer gesamtheitlichen Betrachtungsweise, welche die ökologischen und sozialen Herausforderungen unserer Zeit zum Anlass nimmt, ganz grundsätzlich bisherige Auffassungen von Wohnqualitäten zu hinterfragen. Schliesslich liegt hierin auch die Chance, über neue Wohnqualitäten zu diskutieren. Denn die Erhöhung der Akzeptanz ressourcenschonenden Wohnens gelingt nur dann, wenn wir uns über neue Wohnqualitäten verständigt haben. Das heisst, es ist eine Auffassung von Wohnqualität notwendig, die für die sich zunehmend ausdifferenzierenden Nutzergruppen spezifische Mehrwerte schafft und gleichwohl zu einem haushälterischen Umgang mit den Ressourcen führt. Die Annahme, dass tradierte Vorstellungen von Wohnqualität beispielsweise für die Ablehnung der Dichte mit verantwortlich sind und die sich verändernden Wohnbedürfnisse ausser Acht lassen, ist nicht unbegründet. Die zukünftigen Dynamiken und Treiber für veränderte Wohnbedürfnisse werden so kaum abgebildet. Auch werden wegen dieser retrospektiven Basis innovative Ansätze, die mitunter ein neues Verständnis von Wohnqualität und eine ressourcenschonende Lebensweise fördern könnten, kaum oder erst spät wahrgenommen. Diese Forschungslücke sollte im Rahmen der Untersuchung geschlossen werden, indem bisher vernachlässigte Wohnqualitäten festgemacht werden, die gerade vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden ökologischen und sozialen Herausforderungen erstrebenswert sein könnten. Zentrales Arbeitsinstrument war dabei die sogenannte Szenariotechnik. Dabei wurden anhand der Analyse relevanter Schlüsselfaktoren mehrere alternative Zukunftsszenarien erstellt. Diese erlaubten es, den Wohnwandel als Konsequenz verschiedener sich verändernder Randbedingungen zu untersuchen und die Wünschbarkeit zukünftiger Entwicklungen im Wohnungsbau an Szenarienwerkstätten gemeinsam mit Bewohnerinnen und Bewohnern auserwählter Wohnsiedlungen zu diskutieren und im Nachgang mit den betreffenden Verwaltungen und Eigentümerschaften zu reflektieren. Der Fokus lag dabei bewusst auf dem Mietwohnungsbau für ein «normal» verdienendes Publikum in der Schweiz. Luxuriöses Wohnen wurde bewusst ausgeklammert. Das gemeinsame Arbeiten an den Szenarien half dabei nicht zuletzt, die Rolle der unterschiedlichen Akteure im Wohnungsbau hinsichtlich der gewünschten Veränderungsprozesse zu überdenken und den Austausch und die Integration verschiedener Perspektiven zu fördern. Der Stellenwert, der im aktuellen Fachdiskurs dem Arbeiten mit dem baulichen Bestand im Gegensatz zu Abriss oder Neubau beigemessen wird, hat das Forschungsteam dazu bewogen, die im Rahmen des Forschungsprojektes entwickelten Zukunftsszenarien an 6 bestehenden Wohnbauten zu überprüfen. Der gegenwärtige Wohnbaubestand setzt sich aus sehr vielen älteren Gebäuden zusammen, wobei der Anteil der zwischen 1960 und 1980 erstellten Gebäude am höchsten ist. Wie wirken sich die Szenarien auf den heutigen Wohnbestand aus, resp. mit welchen betrieblichen und baulich-räumlichen Mitteln kann der heutige Wohnbestand auf diese Szenarien reagieren? Mit diesen Fragen «im Gepäck» machte sich das Forschungsteam auf den Weg, um vor Ort und im Austausch mit Bewohnenden, Verwaltungen etc. die Auswirkungen der Zukunftsszenarien anhand bestehender Wohnbauten und Siedlungsrealitäten zu überprüfen. Den Ausgang bildete dabei die folgende übergeordnete Forschungsfrage: Welche Vorstellungen, Wünsche und Bedürfnisse, die der aktuelle Wohnungsmarkt unzureichend abdeckt, könnten gerade vor dem Hintergrund des geforderten sparsamen Ressourcenverbrauchs wegweisend sein und wie lassen sich diese im heutigen Bestand umsetzen? In welche Richtung müssen Anbieter von Wohnraum denken und planen, um in solche nachhaltigen Wohnqualitäten zu investieren? Dies immer im Bewusstsein, dass der Neubau die Ausnahme und der Umbau die Regel sein wird. Der Aufbau des vorliegenden Berichts entspricht den einzelnen Projektphasen (Arbeitspakete). Das erste Kapitel «Forschungsstand und Fachdiskurs» basiert auf einer vertieften Literaturrecherche und gibt einen Abriss über aktuelle soziale und ökologische Herausforderungen und ihren möglichen Einfluss auf das Wohnen. Diese sogenannten «Einflussfaktoren» bilden sodann die Grundlage für die Grobszenarien im darauffolgenden Kapitel. Die insgesamt drei Erzählungen mit unterschiedlichen Foki bilden wiederum ein narratives Gerüst für die Szenarienwerkstätten mit Bewohnenden und Betreibenden. Im nächsten Kapitel werden die entsprechenden Fallstudien vorgestellt. Die einzelnen Szenarienwerkstätten sind im gleichnamigen Kapitel dokumentiert. Gruppenarbeiten, offene Gespräche und die Geschichten der Bewohnerinnen und Bewohner sind der Stoff, aus dem die einzelnen Grobszenarien fertigerzählt werden. In welchem Ausmass die Umsetzungen dieser Szenarien von Organisations- und Entscheidungsstrukturen abhängig sind, kam anlässlich des Workshops mit den Verwaltungen und Eigentümerschaften zum Ausdruck und ist Gegenstand des nächsten Kapitels. Das Kapitel «Umdenkarium» ist Abschluss und Ausblick zugleich: Drei Umdenkanregungen sollen dazu motivieren, jenseits festgefahrener organisatorischer und betrieblicher Pfade nach neuen Wohnqualitäten zu suchen. Januar 2023 7 88 ARBEITSPAKET 01 Forschungsstand und Fachdiskurs 9 10 Forschungsstand und Fachdiskurs Das Forschungsteam hat im Zeitraum von Winter 2020 bis Frühling 2021 rund vierzig Publikationen und Studien, Ausstellungen, sowie Medienberichte und Websites aus dem vorwiegend deutschsprachigen Raum ausgewertet. Dies mit dem Ziel, den Einfluss künftiger sozialer und ökologischer Herausforderungen auf das Wohnen plausibel darzulegen und eine entsprechende Grundlage für die Entwicklung der Zukunftsszenarien im folgenden Studienschritt zu schaffen. Dabei wurden die folgenden fünf Themencluster gebildet. Von Interesse war dabei, wie diese Themen einen Niederschlag in der aktuellen Wohnforschung bereits finden oder finden könnten. Ressourcen (Konstruktion, Energie) Welche Überlegungen betreffend die Organisation von Stoffkreisläufen, die Produktion und Verfügbarkeit von Energie, von Nahrungsmitteln und Baustoffen prägen den aktuellen Fachdiskurs? Ökologie und Biodiversität Welches Verhältnis hat unsere Gesellschaftsepoche zu Natur und Landschaft? Teilhabe und Zugänglichkeit Welche Konventionen, gesellschaftspolitischen Ziele und Werte bestimmen unser Zusammenleben und Handeln? Wie finden die oben diskutierten Themen im soziokulturellen Diskurs ihren Niederschlag? Digitalisierung, Netzwerke und Kommunikation Welcher strukturelle Wandel und welche Phänomene resultieren aus der fortschreitenden Digitalisierung und Automatisierung? Wie wird dies im aktuellen Diskurs thematisiert? Mobilität und Infrastruktur Welche Entwicklungen werden in den Bereichen Mobilität und Infrastrukturen (Bildungs-, Gesundheits- und Versorgungssysteme, öffentlicher Raum) diskutiert? Wie viel Wichtigkeit wird ihrer Rolle als Rückgrat des Zusammenlebens beigemessen? 11 Ressourcen (Konstruktion, Energie) In der Diskussion rund um das Thema der Ressourcenknappheit lässt sich ein Fokus in Richtung eines sogenannten «Metabolismus» beobachten: eine sich an natürlichen Stoffkreisläufen orientierende Vorstellung von Stadt und Architektur (von Borries, F. & Kasten, B. (2019). In dieser Vorstellung funktionieren Städte und Regionen weitgehend als eigene Stoffkreisläufe, d. h. Energie, Nahrungsmittel, Baustoffe, etc. werden nicht mehr «von aussen» in die Stadt gebracht, sondern in der Stadt/Region generiert. In diesem Zusammenhang ist im aktuellen Diskurs (wieder) von der produktiven Stadt die Rede. Im Bauwesen wird zunehmend gefordert, dass alle zum Bauen benötigten Materialien vollständig wiederverwendbar sein sollen, sodass ganze Bauteile einmal selbst wieder zur Ressource werden. Hier ist der Input von Phineas Harper erwähnenswert: Der Kurator der Oslo Architecture Triennale 2019 («Enough: The Architecture of Degrowth») beschrieb prägnant, was unter dem Begriff Degrowth im Bereich der Architektur zu verstehen sein könnte: «Degrowth is a designed reduction of total energy and material use to realign society with planetary limits, while improving people’s lives and distributing resources fairly. It is an economic model that recognises that the route to greater welfare for all is not one of more extraction and expansion, but of more sharing and co-operation.» (https://www.dezeen.com/2019/09/25/oslo-architecture-triennale-architecture-degrowth-phineas-harper/). Neben der Materialebene wird zunehmend auch das Potenzial von Architektur und Stadt als «Motivator für ein ökologisches Umdenken» diskutiert, indem ökologische Aspekte im gebauten Raum konkret für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft erfahrbar werden (BDA 2020). In diesem Zusammenhang wird auch vermehrt darauf hingewiesen, es sei wichtig, bislang aus der Stadt/dem Alltag verbannte Orte, an denen Stoffe produziert, gereinigt, wiederverwertet oder in Energie verwandelt werden, wieder sichtbar werden zu lassen. Oswalt et al. (2016) weist darauf hin, dass wir es heute mit einer «Krise der Repräsentation» zu tun haben, wenn die eigene Lebenswelt nicht die Folgen des eigenen Handelns spiegelt. 12 Die Beziehung von Nahrungsmitteln, gebauten Strukturen und Stoffkreisläufen in der globalisierten Nahrungsmittelproduktion zeige dies eindrücklich. Während sich vor der Industrialisierung die wesentlichen Folgen der Ernährungspraxis in der alltäglichen Lebenswelt der Menschen niedergeschlagen hätten (etwa die Verschmutzung von Wasser und Luft oder die Verödung von Feldern und Wäldern), sei dies heute in weite Ferne gerückt. Dieser «Entfremdung des Menschen von seiner materiell-energetischen Praxis» gelte es entgegenzuwirken, indem diese Prozesse für den Stadtbewohner sichtbar gemacht würden (von Borries, F. & Kasten, B. (2019). Auch im Bereich des «klimagerechten Bauens» lässt sich eine Schwerpunktverschiebung weg von rein bauphysikalischen Aspekten («Wärmedämmung») hin zu ressourcenschonenden/ressourcenerhaltenden Aspekten beobachten: Umbauen statt Neubauten bis hin zur Neubauvermeidung. Auch der gegenwärtige Architekturdiskurs ist davon geprägt. In seinem Positionspapier «Das Haus der Erde. Positionen für eine klimagerechte Architektur in Stadt und Land» aus dem Jahre 2019 tritt etwa der Bund Deutscher Architektinnen und Architekten (BDA, 2020) für eine «Kultur des Pflegens und Reparierens» ein: Bauen müsse vermehrt ohne Neubau auskommen, Priorität komme dem Erhalt und dem Weiterbauen des Bestehenden zu und nicht dessen leichtfertigem Abriss. Je länger desto mehr scheint man sich in der Fachwelt also darin einig zu sein, dass «das nachhaltigste Gebäude das ist, das bereits existiert» (Lehmann 2010). Diese Diagnose bestätigen auch Christoph Grafe und Tim Rieniets, mit der Aussage, der vorhandene Vorrat an Gebäuden sei die wichtigste Ressource für den Wandel der Städte (Grafe, C. & Rieniets, T. (2020). Climatestrike Switzerland schlägt in ihrem Klimaaktionsplan überdies bis 2030 ein Moratorium für den Bau neuer Gebäude vor. Auf das Wohnen bezogen würde dies bedeuten, dass man je länger desto mehr bestehende Gebäude an neue Nutzungen und damit auch an veränderte Wohnformen anpassen muss. Die Vergabe des diesjährigen Pritzker-Preises für Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal dürfte in diesem Sinne sicher eine Signalwirkung haben. 13 Ökologie und Biodiversität Im aktuellen Diskurs um die Themen Landschaft, Kunst, und öffentlicher Raum lässt sich eine Neudefinition des Verhältnisses von Mensch und Natur beobachten, die stark angelehnt ist an die These des «Anthropozäns». Der Begriff wurde 2002 vom Nobelpreisträger für Chemie Paul Crutzen geprägt, wonach die Menschen die Erde und ihr Ökosystem so irreversibel und tiefgreifend verändert hätten, dass wir nun selbst zu einem geologischen Faktor geworden seien. Dieses Verständnis prägt denn auch die aktuelle Diskussion um das Verhältnis von Gesellschaft zu Natur und Landschaft: Während in den westlichen Kulturen bisweilen alles Menschengemachte als Gegenpol zur Natur aufgefasst wurde, als sei der Mensch etwas Konträres zur Natur, vertritt der aktuelle Fachdiskurs die Auffassung von Ökosystemen, wonach Natur und Menschengemachtes, resp. Künstliches nicht mehr auseinanderzuhalten seien, sondern ein gemeinsames System bilden. So stellen Eva Horn und Hannes Bergthaller (Anthropozän – Eine Einführung, 2019) fest, dass die Vorstellung einer Natur, die unabhängig vom Menschen existiert, hinfällig ist. Vielmehr – so argumentieren die Autor*innen – verweben sich natürliche und künstliche Umwelten zunehmend. Es entstehen hybride Situationen, in denen sich soziale und natürliche Prozesse zu einem Gewebe verstricken, in dem menschliche und nicht menschliche Akteure zusammenwirken. Genau hier stellt sich die Frage, wie wir mit neuen Formen des Zusammenlebens auch Verantwortung für eine zunehmend hybride Welt übernehmen können und wie wir also zukünftig leben wollen. Auch der Soziologe Ulrich Beck drängt angesichts der globalen Krise in seinem letzten Buch (Metamorphose, München 2017) auf ein adäquates Sich-Einfügen in die Um- oder besser Mitwelt und auf neue Kooperationen. Ähnlich äussert sich die Wissenschaftlerin Donna Haraway (2018), wenn sie mehr Aufmerksamkeit für die vielfältigen Beziehungs- und Lebensformen fordert, in die Menschen eingebunden sind. Denn der Mensch sei nur einer von vielen Akteuren, die in komplexen Abhängigkeiten zueinanderstehen. Auch der französische Philosoph Bruno Latour fordert im «Terrestrischen Manifest» ein neues Verhältnis der Menschen zur Erde und tritt für eine Welt ein, in der das Lokale gegenüber dem Globalen an Bedeutung ge- 14 winnt, um die «Verbindungslosigkeit» zu beenden. «Gesucht wird nicht die Eintracht mit allen diesen übereinander lagernden Akteuren, sondern es soll gelernt werden, wie man von ihnen abhängt. Weder Reduktion noch Harmonie. Nur wird die Liste der Wirkkräfte immer länger, ihre Interessen überlagern sich. Will man sich hier zurechtfinden, müssen alle Forschungskräfte aufgeboten werden.» (Latour. B. 2020) Latour fordert also eine neue Perspektive, in der wir die Erde nicht mit Distanz und Abstand betrachten, sondern vielmehr aus der Nähe und teilnehmend. Es gehe darum, sich an den Boden zu binden, «erdhaft» und gleichzeitig «welthaft» zu werden. Für das Wohnen könnte dies heissen, dass gerade die Beziehungen zu Menschen, Dingen oder Tätigkeiten über die eigenen vier Wände hinaus neu und anders gedacht werden: Statt Isolation vom Aussenraum durch hochdämmende Materialien und technische Infrastruktur könnte Architektur wieder poröser und im Sinne eines resonanten Wohnens Wechselwirkungen zulassen, also wie die Architektin Franziska Wittmann in ihrem Essay «Wie hältst Du es mit dem Klimawandel?» vorschlägt, dem menschlichen Bedürfnis nach vielfältigem Austausch mit der Umgebung nachzukommen und unterschiedliche Temperaturen und Helligkeiten, dichte und weniger dichte Räume oder dumpfe und hallende Akustik als qualitätsvolle Erfahrungen ins Repertoire der (Wohn)Architektur wieder aufzunehmen. Könnte also ein Weniger an Ressourcenverbrauch das Wohnen sogar für neue Qualitäten empfänglich machen, indem das Erfahren von Wetter, Temperaturen und Lichtstimmungen «lebendige Qualitäten» schaffen (Rosa, H. 2020). Ausserdem könnte man im Wohnumfeld weniger auf «domestizierte Aussenanlagen» setzen, sondern als Teil eines städtischen Naturraums auffassen. 15 Teilhabe und Zugänglichkeit Sowohl im öffentlichen als auch im fachlichen Diskurs scheint mittlerweile ein Konsens darin zu bestehen, dass es weniger «Top-down-Planung und mehr Bottom-up-Prozesse» braucht. Inzwischen gehören in vielen Städten und Gemeinden Beteiligungsverfahren zum festen Bestandteil städtischer Transformations- und Entwicklungsprozesse. Dabei ist man sich in soziokulturellen Kreisen einig, dass «nicht alles, was Kooperation heisst, glänzt» (Laimer, C. & Rauth, E. (2015). So wird im gegenwärtigen Diskurs auch eine kritische Bilanz gezogen und festgestellt, dass «es nicht ausreicht, schöne Projekte kooperativ zu entwickeln und umzusetzen» (Laimer, C. & Rauth, E. (2015), denn, so etwa Tatjana Schneider, dabei bestehe immer die Gefahr, dass schlussendlich nicht die ursprünglichen Akteur*innen profitieren (Schneider, T. (2015). Wie soll und kann Kooperation und Bürgerbeteiligung funktionieren? Die Stadt- und Sozialforschung scheint sich darin einig zu sein, dass es nicht nur um Fragen des Eigentums, sondern dass auch Fragen der Organisation und der Steuerung/Governance von Bedeutung sind. Andererseits sorgen gerade ungleiche Eigentumsverhältnisse regelmässig dafür, dass hierarchische Ordnungen und damit die Frage nach der tatsächlichen Entscheidungsmacht unangetastet bleiben, was eben eine Kooperation auf Augenhöhe verunmöglicht. Im aktuellen Diskurs wird denn auch immer wieder die Frage aufgeworfen, inwiefern es hier auch an der Zeit wäre, über andere Formen von Besitz nachzudenken. Immer wieder als Vorbild genannt werden in Presse und Fachliteratur das Revival selbst- oder teilverwalteter Genossenschaftssiedlungen oder selbstinitiierter Quartierprojekte wie etwa Urban Gardening. Der Fokus der Mitgestaltung liegt hier in der eigentlichen Betriebs- und Gebrauchsphase, in der die Bewohnenden ihre Wünsche, Ideen, Wissen und Tatkraft in ihrer konkreten Alltagswelt umsetzen können. In diesem Zusammenhang ist momentan auch in der Umweltpsychologie viel von der sogenannten Selbstwirksamkeit die Rede, resp. von der Wichtigkeit des Wohnumfeldes als Handlungsraum. Das momentan viel diskutierte Konzept der «15-Minuten-Stadt» (siehe auch Mobilität und Infrastruktur) nimmt diesen Ansatz auf, indem es die Idee einer «Stadt der kurzen Wege» um den 16 Gedanken der Teilhabe verbindet. Sozial und infrastrukturell gut funktionierende Quartiere bewirken, dass die Bewohnenden sich vermehrt als Teil des Quartiers fühlen und mehr Zeit darin verbringen, anstelle als Nomaden zwischen Arbeits- und Schlafstätte zu pendeln. Welche Auswirkungen der Einfluss digitaler Medien im Hinblick auf eine kooperative Stadt haben kann, wird gegenwärtig kontrovers diskutiert: So wird immer wieder festgestellt, dass das forcierte Einführen von Partizipation viele Menschen zurücklasse und somit eine Tendenz hin zu «Pseudopartizipation» unterstütze. Indem die partizipativen Möglichkeiten rein auf das geschriebene Wort reduziert würden, bekämen lediglich gebildete, deutschsprachige, technikaffine Menschen eine Stimme, während die Hälfte der Zivilgesellschaft zurückgelassen würde (Ruff, S. (2021). Einige Autor*innen stellen gar fest, dass die Nutzung digitaler Technologien, die einen dialogischen Prozess auch ohne persönliche Anwesenheit ermöglichen sollten, bislang eher «technokratisch und Top-down» gedacht seien und viel zu wenig die urbanen Realitäten widerspiegeln würden (von Borries, F. & Kasten, B. (2019). Urbane Digitalisierung muss also auch mit dialogischer Demokratisierung einhergehen, so könnte man den aktuellen Stand der Diskussion zusammenfassen. Dass die Frage nach der «echten Partizipation im Sinne der Beteiligung auf Augenhöhe» (Ruff, S. (2021) in Zeiten globaler Migration immer auch eine Frage der Zugänglichkeit ist, verdeutlicht der gegenwärtige Diskurs um das Konzept der «Urban Citizenship» oder der «Solidarity Cities», einem Netzwerk verschiedener Städte, die sich zum Ziel gesetzt haben, auch Menschen ohne Pass und Aufenthaltsstatus das Recht und die Möglichkeit zur Teilhabe zu geben. 17 Digitalisierung, Netzwerke und Kommunikation Informationstechnologie und Internet wälzen zunehmend die Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts und damit auch das gesellschaftliche und private Leben um: So werden Lagerarbeiter oder Kassiererinnen ersetzbar, aber auch das Können von Ingenieur*innen und Architekt*innen ist bereits heute zum Teil digital abrufbar. Computer organisieren komplexe logistische Abläufe und Algorithmen ersetzen das Ermessen von Verwaltungsangestellten. (Greffrath, M. 2021) Welche Konsequenzen dies für die (arbeitende) Gesellschaft hat, wird kontrovers diskutiert. Hannah Arendt resümiert etwa «Was uns bevorsteht, ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht. Was könnte verhängnisvoller sein?» (Arendt, H. 2011) Andere, wie beispielsweise der Architekt und MIT-Forscher Carlos Ratti sehen in einer optimalen Vernetzung der Menschen untereinander sowohl ökologische als auch ökonomische Vorteile sowie die Möglichkeit, den Alltag zu erleichtern. Ratti erscheint gerade die Vernetzung der Menschen untereinander entscheidender als die Vernetzung von Städten resp. deren Infrastrukturen. Entsprechend formuliert er «Ambient intelligence and sensing networks will not change the container but the contained; not smart cities but smart citizens» (Ratti, C. 2014). Doch diese Entwicklung ist auch ambivalent und im aktuellen Diskurs wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die ausserordentlich wirkmächtigen Informationstechnologien wirksame gesellschaftliche Rahmenbedingungen brauchen. Gerade weil mit Hilfe von Big Data jegliches Verhalten erfasst, gemessen und registriert wird, um dann u. a. von globalen Technologieunternehmen kommerzialisiert zu werden. In diesem Zusammenhang ist das Plädoyer von Dirk Hebel und Carlos Ratti für mehr Chaos und Anarchie erwähnenswert. In ihrem Artikel «Rettet den Zufall», erschienen am 11.09.2016 in der SZ, stellen sie fest: «Mit zentralisierten Algorithmen, die langsam jede Facette der Gesellschaft organisieren, droht jedoch die datengesteuerte Technokratie Innovation und Demokratie zu erdrücken. Das muss um jeden Preis verhindert werden. Dezentrale Entscheidungsfindung ist essenziell für eine vielfältige Gesellschaft. Umgekehrt basiert datengesteuerte Optimierung auf festgelegten Mustern, die 18 in ihrer momentanen Form genau die Ideen ausschliesst, die überraschend sind und Normen durchbrechen. Aber nur solche Ideen können die Menschheit voranbringen. (…) Ein gewisser Grad von Zufall im Leben ermöglicht neue Denkmuster, die andernfalls fehlen würden.» Ihr Plädoyer setzt auf einen kooperativen Ansatz von menschlicher und künstlicher Intelligenz als Garant für eine kreative, vielfältige und belastbare Gesellschaft. Das Funktionieren der hier beschriebenen Gesellschaft setzt aus Sicht des Soziologen Matthias Greffrath allerdings ein Menschenbild voraus, das seit Aristoteles als «Zoon Politicon» beschrieben wird – «ein soziales und politisches Wesen, ein geselliges und ein Gesetze-machendes Tier», das sich in den demokratischen Institutionen und Netzwerken auf allen Ebenen engagiert, aktiv nach Möglichkeitsräumen sucht, Ausgrenzung ausschliesst und Solidarität fördert. (Greffrath, M. 2021) Es geht hier also einmal mehr um die Frage, welche gesellschaftspolitischen Ziele verfolgt werden sollen, denn , wie Friedrich von Borries und Benjamin Kasten bestätigen, die aktuellen Diskurse um die Konzepte etwa einer Smart City und die dafür benötigten digitalen Einrichtungen würden zwar einen ersten Ausblick auf die in Zukunft allenfalls benötigten Infrastrukturen geben, sie würden aber keineswegs die Frage beantworten, zu welcher Form von Gesellschaft diese Infrastrukturen, resp. die Digitalisierung beitragen sollen (von Borries, F. & Kasten, B. (2020). Je länger desto mehr weisen öffentliche und fachliche Kreise zu Recht darauf hin, dass es dringend eine gesellschaftliche Diskussion darüber brauche, wie die Digitalisierung unsere Gesellschaft prägen sollte, resp. in welchen Lebensbereichen wieviel Digitalisierung für eine wünschenswerte Gesellschaft überhaupt sinnvoll sei. In diesem Zusammenhang (und vor dem Hintergrund der Covid-19 Pandemie) fordert Sabina Ruff (2021) dazu auf, der Bedeutung von Kommunikation mehr Aufmerksamkeit zu schenken, da sie ein Grundbedürfnis des Menschen ist. Weiter stellt sie fest, dass erst im Austausch mit dem konkreten Umfeld Identität hergestellt und gefestigt wird, weshalb es Nähe und Erleben für den Aufund Ausbau nachhaltiger Gemeinschaftsbildungen braucht. Hierfür gelte es (gerade in Zeiten zunehmender Digitalisierung? Anm. d. Autor*innen) 19 Räume und entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen, welche den physisch-sozialen Austausch vor Ort stimulieren (S. Ruff (2021). Führt eine forcierte und zu einseitig auf Marktlösungen fokussierte Digitalisierung zu einer Entfremdung von Menschen zu Menschen und zu ihrer konkreten Lebenswelt? Auf das Wohnen und die Stadt bezogen könnte dies heissen, dass gerade der Nahbereich der Wohnung und das Quartier als konkrete Handlungs- und Wahrnehmungsräume vermehrt an Bedeutung gewinnen könnten, um Handlungen und Selbstwirksamkeit im konkreten Lebensalltag und im Austausch mit dem Quartier zu ermöglichen. Mobilität und Infrastruktur Dass der naheliegendste Ansatz zur umweltverträglichen Gestaltung die Vermeidung von Verkehr ist, darin scheint man sich im aktuellen Fachdiskurs einig zu sein. Dies schlägt sich etwa darin nieder, dass die Diskussionen um die Themen Mobilität und Infrastruktur die Gestaltung der Raumstruktur durch die Mischung von Funktionsbereichen fokussieren (die Stadt der kurzen Wege). Drehten sich in der Vergangenheit die Diskussionen um ein möglichst effizientes öffentliches Verkehrsnetz, welches die Wohngebiete mit den Einrichtungen und Infrastrukturen des täglichen Bedarfes verbinden sollte, denkt man je länger desto mehr über eine optimale Verteilung von Dienstleistungen vor Ort nach. Mit der Corona-Pandemie dürfte sich der Ruf nach einer dezentralen Verteilung städtischer Funktionen verstärkt haben. Ein momentan viel diskutiertes städtebauliches Leitbild ist die sogenannte «15-Minuten-Stadt», wonach jede und jeder innerhalb einer Viertelstunde von der Wohnung aus zu Fuss oder mit dem Fahrrad alles erreichen kann, was es zum Leben braucht (den Arbeitsplatz, Einkaufsmöglichkeiten, Kitas und Schulen, Ärzte, Parks, Freizeit- und Kultureinrichtungen, etc.). Georgia Pozoukidou und Zoi Chatziyiannaki erläutern in ihrer Untersuchung zum Konzept der 15-Minuten-Stadt, es gehe hier nicht einfach um «kurze Wege», sondern um ein Umdenken, indem über eine gerechtere Verteilung von Infrastrukturen im städtischen und regionalen Massstab nachgedacht wird (Pozoukidou G. & Chatziyiannaki Z. (2021). Auch der Climate 20 Action Plan/Klimaaktionsplan zeichnet in seiner Vision das Bild eines kompakten und nutzungsdurchmischten Quartiers, in dem die Menschen sich primär zu Fuss oder mit dem Fahrrad fortbewegen. Dass das hierfür notwendige Näherrücken von Menschen und ihren verschiedenen Aktivitäten eine neue Qualität menschlicher Interaktionen mit sich bringe, die aber erst noch erlernt werden müsse, wird auch hier hervorgehoben. Diese Verdichtung bringe aber auch eine Entdichtung mit sich, da mit der Reduktion des Individualverkehrs die Strassen und Parkplätze für andere Zwecke verfügbar wären. In diesem Zusammenhang spricht der Architekt und Stadtplaner Stefan Bendiks von einer Diversifikation von öffentlichen Räumen und insbesondere Verkehrsräumen. (BDA 2020.2) Andererseits weisen zahlreiche Studien drauf hin, dass mit der viel diskutierten Digitalisierung und Automatisierung die Mobilitätsangebote derart vervielfältigt würden, dass der Druck auf den öffentlichen Raum noch zunehmen wird. Emilia Bruck vom future.lab Research Center weist darauf hin, dass das Verkehrsaufkommen erheblich ansteigen werde, wenn der Einsatz durch automatisierte Fahrzeuge nicht durch entsprechende Rahmenbedingungen gesteuert werde. Der Frage, ob neue technologische Mobilitätsansätze tatsächlich zu einer nachhaltigen Verkehrswende führen, wird im aktuellen Fachdiskurs durchaus auch skeptisch begegnet. Zahlreiche Autor*innen weisen gerade im Diskurs um automatisiertes Fahren auf eine mangelnde Berücksichtigung von räumlich-gestalterischen, gesellschaftlichen und ökologischen Wechselwirkungen hin. Hier stellt sich etwa die Frage, wie sich der Wandel solcher Mobilitätsmuster nicht nur auf infrastrukturelle Anforderungen, sondern vor allem auf das Strassenleben und auf den Stadtraum auswirken. Mit der systematischen Reorganisation des Verkehrssektors kommt Umgestaltung «Pkw-orientierter Strukturen» (Laa, B. et al. (2021) auf die städtebauliche Agenda. Um der Öffentlichkeit den Geschmack und die Möglichkeiten einer anderen Mobilität näherzubringen, veranstaltete die Stadt Rotterdam 2019 den sogenannten «Mobility Challenge». Zwei Monate lang mussten die Bewohnenden ihre Autos in der Garage lassen und stattdessen andere Wege der Mobilität ausprobieren 21 mit dem Resultat, dass Verkehrsräume zu Aufenthaltsräumen für vielfältige Nutzungen wurden. Eine wichtige Erfahrung, die den Bewohnenden zeigte, dass vermeintlicher Verzicht im Endeffekt in vielen anderen Bereichen einen Gewinn bringen kann. Für das Wohnen lassen sich folgende Aspekte festmachen: Erstens die «Erfahrbarkeit» einer anderen Art von Mobilität und Alltagsorganisation, sei dies durch Zusatzangebote im Wohnumfeld, die ein langes Pendeln überflüssig machen. Ein weiterer Aspekt ist die Neuverteilung von Nutzungen: sei dies räumlich, als auch zeitlich, indem die Nutzungen bestimmter Räume nicht rund um die Uhr dem Verkehr vorenthalten ist, sondern auf tageszeitabhängige Bedürfnisse reagieren können. Mit der «Stadt der kurzen Wege» stellt sich die Frage, was dies für einen grossen Teil heutiger Wohnbaustrukturen bedeutet, die ja auf wenige Funktionen ausgelegt sind, wie beispielsweise «Schlafquartiere», um Nutzungsangebote und Infrastrukturen ergänzt werden können. Die Reduzierung der Mobilität geht mit einer räumlichen und zeitlichen Verdichtung von Menschen und Aktivitäten im Quartier einher – was einen grossen Einfluss auf die Art und Weise menschlicher Beziehungsmuster im Nahumfeld haben dürfte. Hier drängen sich etwa Fragen nach neuen Mitwirkungsgefässen im Quartier (siehe auch «Teilhabe und Zugänglichkeit»), Nutzungserweiterungen kollektiver Räume im Wohnumfeld, aber auch Fragen nach dem individuellen Rückzugsraum auf. Aber auch ganz «praktische» Fragen, etwa die Umdeutung und Umnutzung bestehender Infrastrukturen wie Tiefgaragen und Einstellhallen. Bezogen auf die Wohnqualität stellt sich bei der «Stadt der kurzen Wege» und der damit einhergehenden Nähe zu sozialen und infrastrukturellen Angeboten, sowie Arbeits- und Produktionsstätten im Quartier die Frage, was eine Wohnung alles leisten muss, resp. eben gerade nicht (Hubeli, E. (2020). 22 23 Identifizierte Einflussfaktoren/Arbeitsthesen Ressourcen – schonend zu wohnen kann heissen … • Städte und Regionen als eigene Stoffkreisläufe in den Blick zu nehmen, • Erfahrbarkeit von energetischen und materiellen Prozessen im Alltag möglich zu machen. • die Folgen des eigenen Handelns sichtbarer zu machen. • Umbauen statt Neubauten zu fördern. • die Kultur des Pflegens und Reparierens zu fördern. Ökologie und Biodiversität können für das Wohnen bedeuten … • das Verhältnis von Menschen und Natur als gemeinsames System neu zu definieren, Natur- und Menschengemachtes nicht mehr auseinander zu halten, sondern als Gewebe zu verstehen. • die Verantwortung für eine zunehmend hybride Welt anzunehmen. • die Bedeutung und Notwendigkeit neuer Kooperationen in den Fokus zu nehmen. • die Verbindungslosigkeit zu beenden und Beziehungen zwischen Menschen, Dingen oder Tätigkeiten im Sinne eines resonanten Wohnens neu zu denken. (Hartmut Rosa) • das Wohnen wieder empfänglicher für «lebendige» Qualitäten zu machen. Teilhabe und Zugänglichkeit können für das Wohnen heissen … • weniger Top-down Planung und mehr Bottom-up Prozesse zu unterstützen. • über andere Eigentumsformen und Besitzverhältnisse nachzudenken, um die Fragen nach der tatsächlichen Entscheidungsmacht in den Blick zu nehmen. • mehr Nähe der städtischen Funktionen innerhalb der Nachbarschaft statt mehr Erreichbarkeit der städtischen Funktionen im weiteren Umfeld. • Wohnungen und ihr Wohnumfeld vermehrt als Handlungsräume zu begreifen und die Selbstwirksamkeit der Bewohnenden zu fördern. 24 Digitalisierung, Netzwerke und Kommunikation können das Wohnen unterstützen … • durch den kooperativen Ansatz von menschlicher und künstlicher Intelligenz. • mittels dezentraler Entscheidungsfindungen als Alternative zu datengesteuerter Optimierung nach festgelegten Mustern. • durch eine breit angelegte gesellschaftliche Diskussion zu den gewünschten Qualitäten – also in welchen Lebensbereichen wieviel Digitalisierung wünschenswert ist und warum. • als Ergänzung zum Austausch mit dem konkreten Wohnumfeld und seinen vielfältigen Handlungs- und Wahrnehmungsräumen. Mobilität und Infrastruktur können Wohnraum verändern, indem … • dezentrale Organisation von Funktionsbereichen zu mehr nutzungsgemischten und kompakten Quartieren führen. (15 Min. Stadt) • Diversifikation von öffentlichen Räumen neue resp. andere Nutzungen im Wohnumfeld ermöglichen und neue Handlungs- und Erfahrungsräume erschliessen können. • neue Beziehungsmuster im Nahumfeld entstehen, die zu Transformationen von bestehenden Infrastrukturen führen können. • andere Standards gefragt sind. (Was muss eine Wohnung leisten und was nicht?) • Automatisierung und Digitalisierung von Mobilität zu mehr Druck auf den öffentlichen Raum führen können. 25 26 ARBEITSPAKET 02 Grobszenarien 27 28 Grobszenarien Aufgrund der in AP01 festgemachten Einflussfaktoren wurden drei Grobszenarien entwickelt. Sie bilden ein narratives Gerüst für die Szenarienwerkstätten mit Bewohnenden und Beitreibenden. Die Werkstätten haben zum Ziel, unter Einbezug verschiedener Akteur*innen die Konsequenzen für das Wohnen vor Ort im konkreten Fallbeispiel in Bezug auf bauliche, betriebliche und soziokulturelle Aspekte des Wohnens festzumachen. Das Format dient auch dazu, die jeweiligen Chancen und Probleme sowie die möglichen Konfliktpotenziale bei der Schaffung neuer Wohnqualitäten im Bestand darzulegen, um sie in den Arbeitspaket AP04 und AP05 mit verschiedenen Expertinnen und dem Beirat zu diskutieren. Es wurde der Ansatz der normativen Szenarien verfolgt, d. h. die Beschreibungen wünschenswerter Zukünfte und unterschiedliche gesellschaftliche Zielvorstellungen stehen im Fokus. Als Zeithorizont wurde ungefähr 2030 bestimmt. Dieses Jahr wird im öffentlichen und fachlichen Diskurs als wichtiger Meilenstein genannt, um gesellschaftliche, ökologische und ökonomische Prozesse auf die Erreichung der Nachhaltigkeitsziele auszurichten. Parallel zur Entwicklung der Grobszenarien fand eine Projektrecherche statt, mit dem Ziel, vier geeignete Fallbeispiele ausfindig zu machen, anhand derer die folgenden Grobszenarien situations- und akteursspezifisch konkretisiert und weiterentwickelt werden. 29 30 «Die Konsumentin als Produzentin» Vor fünf Jahren fand die Internationale Konferenz «Global Land Summit» 2025 statt. Zum ersten Mal wurde die Notwendigkeit einer globalen Landwende diskutiert. Tatsächlich wird der zukunftsfähige Umgang mit Land je länger desto mehr ernst genommen: Biologische Diversität, Klimaschutzziele und nachhaltige Ernährungssicherheit sollen hoffentlich bald zum Alltag gehören. Man ist sich nämlich zunehmend darin einig, dass das Land als globales Gemeingut eingestuft werden sollte und dass alle dafür die Gestaltungsverantwortung übernehmen sollten, und zwar auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene. Eine grosse Rolle spielt dabei die Landwirtschaft und in der Konsequenz unser Ernährungsstil. Deshalb finden im Quartiersverein jetzt regelmässig Kurse und Workshops statt, an denen wir lernen, wie sich unser Ernährungsstil auf die Produktion von Nahrungsmitteln und damit auch auf das Klima und auf die Biodiversität auswirken. In der Tat haben auch in unserem Quartier die Bewohnenden damit begonnen, den Konsum tierischer Produkte massiv zu reduzieren. Nicht immer aus purer Überzeugung, vielmehr ist es eine Reaktion auf die steigenden Lebensmittelpreise: Seitdem die ehemals ausgelagerten, sogenannten «externalisierten Kosten» nun vom Verbraucher übernommen werden müssen, überlegt man es sich zweimal, bevor man in das Regal greift. Und Tomaten aus der Dose gibt es im Supermarkt schon seit langem nicht mehr. Nicht nur wegen der vielen Ernteausfälle, zumal sich im Süden Spaniens – in Huelva und Almeria – Überschwemmungen aufgrund extremer Niederschläge mit Dürreperioden und sinkenden Grundwasserspiegeln abwechseln. Nein, auch der Mangel an Rohstoffen für die 31 Verpackungsproduktion und die Abkehr von Verpackungsorgien zwingen uns alle, die Produktion und den Konsum von Lebensmitteln umzudenken. Unter anderem zeigt sich das daran, dass nun vermehrt mit innovativen Formen innerstädtischer Lebensmittelproduktion experimentiert wird. Unter dem Schlagwort «Essbare Stadt» wurden in den letzten Monaten zahlreiche Projekte initiiert, darunter Aquaponic, Insektenzucht, Algenreaktoren, bodenlose Pflanzenzucht, Vertical Farming, usw. Für die einen eine Zumutung, für die anderen eine logische Konsequenz, beginnen die Leute sich notwendigerweise von ihrer Rolle als Konsumierende zu verabschieden. Das ist mit vielen Hürden verbunden. Allen voran: Wie soll jemand bitte schön seinen Joghurt selber herstellen, wenn jahrzehntelang der wählerische Griff ins Kühlregal gereicht hat? Von Eingemachtem kaum zu sprechen. Es sind aber nicht nur das Know-how und die Zeit, die fehlen. Auch der nötige Platz oder die Ausrüstung: Ein Wildschwein in einer Standard-Einbauküche zu zerlegen oder Käse in hochwärmegedämmten Kellern zu lagern, gelingt auch nach x Versuchen nicht. Jetzt, wo das Essen vermehrt da produziert wird, wo es konsumiert wird, spürt man auch, wie der ganze Güterverkehr insgesamt zurückgegangen ist. Jedenfalls werden auch die Wege vom Produzenten zum Konsumenten kürzer – seit Kooperationen zwischen unserem Quartier und den Landwirten im Umfeld bestehen. Aber nicht nur Essen wird transportiert, sondern auch Wissen: Die Quartierbewohnerinnen und Quartierbewohner geben ihre Erfahrungen zum Beispiel im Umgang mit Reparatur von Küchenmaschinen oder der intelligenten Verwertung von Abfällen weiter. Und dank dieses Wissensaustauschs verstehen wir auch bei Begriffen wie 32 «regionale Kreislaufwirtschaft und Wertschöpfungsketten» nicht mehr Bahnhof, sondern es ist klar, wie und wo wir konkret ansetzen können. Ausserdem organisieren wir uns auch über unsere Stadt hinaus: Onlineplattformen stellen den Betrieb für eine nachhaltige Ernährung und Landwirtschaft auch überregional und international sicher. So nimmt der Abfallberg konstant ab. Auch deshalb, weil «hat einen Makel» und «ist nicht mehr Mode» als Argumente für einen Neukauf ziemlich out sind. Ein neues Bewusstsein hat die verstaubten Werkzeugkisten und Reparaturratgeber aus der Senke geholt. Aber nicht nur hardwaremässig ist man auf dem Reparaturtrip. Auch das Internet wurde nun zur Plattform von Ideen: Vieles wird nun von Vielen programmiert und aufgebaut, tausende von Reparatur- und Bauanleitungen werden offen ins Netz gestellt und das Internet wird lokaler. So kann man sich schnell informieren, wo man in der Nachbarschaft frische Eier bekommt, wer was in der Nähe repariert, etc. Reparieren, produzieren, sich lokal engagieren ist nun etwas Notwendiges, denn die Zeiten der Massenimportware ist definitiv vorbei. Man muss sich freilich auch umorganisieren. Entgegen der Behauptung, die Arbeit würde uns ausgehen, stellt sich genau das Gegenteil ein: Man arbeitet mehr als früher – aber anders und vor Ort im Quartier. Und man pendelt nicht mehr so oft, seit man nun auch die Bau- und Zonenordnung dahingehend angepasst hat, dass Produzenten eben anders wohnen und den Boden anders nutzen als früher in der Konsum- und Dienstleistungsgesellschaft. In unserem Wohnquartier ist noch allerhand zu tun, damit wir die Kurve kriegen. 33 34 «Unterwegs – à la Carte» Einerseits war es sicher etwas nostalgisch, als der letzte benzinbetriebene Citroën vom Band lief, um dann in das Luzerner Verkehrshaus zu reisen. Andererseits war nun endlich vollzogen, was jahrzehntelangen zähen Verhandlungen bedurfte: die sogenannte Mobilitätswende. Nicht nur die Automobilkonzerne stellten sich dagegen. Auch die Konsumentinnen und Konsumenten, die befürchteten, sie würden plötzlich nirgendwo hinkommen. Leider hatte sich auch der grosse Hoffnungsträger, das batteriegetriebene Elektroauto, als ein mangelhafter Versuch gezeigt, das Problem der CO2-Emissionen in den Griff zu bekommen. Denn an gewohnten Mobilitätsmustern wurde ja nicht gerüttelt. Erst eine veränderte städtebauliche Organisation mit einer besseren dezentralen Nutzungsverteilung machte das hohe Mobilitätsaufkommen über mittlere und längere Distanzen unnötig. Plötzlich ist spürbar, wie viel Raum auf den Strassen vorhanden ist, der nun anders genutzt werden kann. Immer mehr Verkehrsräume wandeln sich zunehmend in Möglichkeitsräume. Nicht nur für Mobilität, sondern auch für Aufenthalt und für neue Formen der kollektiven Nutzungen – nicht von heute auf morgen und oft noch in der Theorie. In der Praxis gestaltet sich die Umgestaltung von Strassenräumen und Erdgeschosszonen als herausfordernd: Welche Nutzungen entfallen, wenn wir nicht mehr so oft und weit hin- und herumpendeln müssen? Und welche Nutzungen braucht es, wenn wir uns vermehrt im Quartier aufhalten, versorgen und hier arbeiten? Dass der Bäcker um die Ecke nun doch nicht sein Geschäft schliessen möge, obschon er die letzten Jahrzehnte rote Zahlen geschrieben hat und auch der Quartierladen sein Angebot bitte 35 nochmals überdenken möge, hierfür brauchte es viel Überzeugungsarbeit und realistische Nutzungskonzepte. Bisher lautete das Motto, «ehemals dezentral organisierte Dienstleistungen und Einrichtungen des täglichen Bedarfs, an einem zentralen Ort zusammenführen.» Work and live smart! Schlanke und effiziente Strukturen! Less is more! Dass man durch diese Zentralisierung gleichzeitig den Mobilitätsbedarf, resp. die Abhängigkeit gewisser Stadtteile von einem «Zentrum» ankurbelte, war in der fossilen Welt ja kein Problem. Immerhin hatte die Coronapandemie in den Jahren 2020 bis 2022 einen Vorgeschmack gegeben, wohin die Reise gehen müsste, wenn man plötzlich längere Zeit im Quartier bleiben muss. Aber auch gut ein Jahrzehnt danach sind nicht alle von der Mobilitätswende überzeugt. Kurze Wege, ja – aber die Wohnnutzung im Erdgeschoss aufzuheben und für neue Nutzungen zur Verfügung zu stellen, oder auch nur über die Parzellengrenzen hinauszudenken, war alles andere als einfach. Zu sehr war noch die funktionsgetrennte und autogerechte Stadt in den Köpfen – mehr als wir gedacht hätten. Es brauchte erst einmal kollektive Erlebnisse der «Entschleunigung», um gemeinsame Zielvorstellungen für eine künftige Mobilitätskultur zu entwickeln. Denn bei der «Post-Pendler-Stadt», wie sie nun von Stadtplaner*innen und Architekt*innen mantraartig genannt wird, geht es nicht allein um technische Lösungen, sondern vielmehr darum, Mobilität in der Stadt ganz grundsätzlich neu zu denken, den individuellen motorisierten Verkehr drastisch zu reduzieren und den Stadtraum neu zu verteilen. Kurz: die Transformation von der S-Bahn-Stadt zur 10-Minuten-Stadt. Das heisst, auch die Agglomerationsgemeinden so zu organisieren, dass man ganz viel leben und erleben kann. So gesehen bietet unser Quartier 36 tatsächlich mehr Möglichkeiten. Dies gilt auch über die Formen des Fortbewegens: Wir sind vielleicht langsamer, aber auch vielfältiger unterwegs. Wo früher die Bushaltestelle war, bieten nun so genannte Mobility Hubs (über den Namen lässt sich streiten) öffentliche und Sharing-Angebote (wieder ein solcher Begriff) für Velos, E-Scooter oder Carsharing an einem Ort. Was aber fast noch spannender ist, es sind nicht nur einfach Orte des Wartens und Ankommens, sondern zunehmend auch Orte des informellen Austauschs und des zwanglosen Aufenthalts, die allen zugänglich sind – vergleichbar mit Biergärten, Cafés oder Bibliotheken. Und das in unserem Quartier! Früher musste man mit dem Bus in die nächste Stadt fahren, um etwas zu erleben. Lustig, erst jetzt kapiere ich, was dieser Soziologe (Ray Oldenburg) mit «Dritte Orte» meinte: All die Orte, die zwischen meiner zugegebenermassen etwas vernachlässigten Wohnung und meinem seit längerem menschenleeren Büro in der Kernstadt an Bedeutung gewinnen werden. Während der rechte Fuss der älteren Generation noch unbewusst nach dem Gaspedal verlangt, sind die Jungen schon angekommen. Oder besser: abgefahren. Gerade für sie wird der flexible Zugriff auf die ganze Vielfalt an Mobilität zu einem Spiel. Mobil zu sein bedeutet jetzt Abwechslung, Vernetzung und Erlebnis. Das Auto ist nun genauso altmodisch, wie der Gedanke, etwas aus Prestige zu besitzen. Der Kettler-Heimtrainer steht jetzt im Mobility-Hub (wieder dieser Name!) und Geranien werden jetzt auf den jetzt nicht mehr benötigten Parkplätzen gepflegt. Einzig mit den schon damals viel zu gross dimensionierten Tiefgaragen weiss niemand so richtig etwas anzufangen. In unserem Wohnquartier ist noch allerhand zu tun, damit wir die Kurve kriegen. 37 38 «Summer in the City» Bis zu 80 Tage haben wir jährlich Spitzenwerte von 45 Grad. Nachts fühlt sich das etwa so an, wie damals in der südfranzösischen Stadt Montelimar. An Schlafen ist nicht mehr zu denken. Und der Kälteraum, den sie in der Siedlung eingerichtet haben, ist natürlich derart überbelegt, dass ich trotzdem in meinen eigenen vier Wänden bleibe und lieber allein schwitze. Beim letzten Wolkenbruch sind Teile der Klimaanlage einfach weggefegt worden – die Reparatur dauert länger als vorgesehen. Die Technik kommt nicht mehr mit und produziert eh zu viel Abwärme. Wie gut nur, dass ich nicht in einer dieser Wohnsiedlungen aus den 2020er Jahren lebe – die nun auch spöttisch «Aquarium» oder «Solarium» genannt werden. Einige der grossdimensionierten Südfenster mussten neulich sogar zugemauert werden, denn was nützt die schönste Aussicht, wenn man sie nicht geniessen kann? Der Witz der Sache – moosige, ehemals als Schattenloch disqualifizierte Aussenräume gehören heute mithin zu den beliebtesten Aufenthaltsorten. «Grün und schattig ist Trumpf!». Das gilt auch für den sogenannten «Beschattungs- und Kühlungsplan», einem baulich-räumlichen Hitzeschutzkonzept, das jede Quartierverwaltung ausarbeiten und dem Bundesamt für Klimaschutz zur Genehmigung vorlegen muss. In der Regel heisst dies: Der Baumbestand in der Stadt wird massiv erhöht. An jeder Ecke wird ausserdem experimentiert mit begrünten Fassaden und Dächern. Nicht so einfach, denn die meisten Pflanzenarten sind mit der Situation überfordert. Im Sommer regnet es viel zu wenig und im Winter zu viel. Und wenn es im Sommer regnet, dann wolkenbruchartig, 39 sodass der Boden schlicht und einfach überfordert ist. So hat jede Stadt ihr «Regenwassermanagement». Speicherräume werden geschaffen, die wie Schwämme funktionieren: im Strassenraum, in Parks und sogar auf Dachflächen. Damit das Wasser stetig abfliesst und durch Verdunstungskälte kühlt, werden sogenannte «Trittsteinbiotope» erstellt und ehemals überdeckte Bäche wieder offengelegt. Die Aussenräume im Quartier werden also je länger desto mehr so umgestaltet, dass hitzeresistente Pflanzen und Materialien zum Einsatz kommen (d. h. Materialien, die sich nicht zu stark überhitzen und wenig Strahlungswärme abgeben). Trotz der vielen Probleme, welche mit der Subtropisierung unseres Quartiers einhergehen, gibt es doch einen positiven Nebeneffekt: Die Solarpanels werden jetzt zu einer ernstzunehmenden Alternative zur zentralisierten Stromerzeugung. Wir produzieren nun in der Siedlung unseren eigenen Strom. Immerhin ein kleiner Tropfen auf dem heissen Stein. Was aber auffällig ist, sind nicht so sehr die Solarpanels, sondern die helle Farbigkeit und die kleinräumige Bebauungsstruktur, welche schon fast mediterrane Züge annehmen: schattige Strassen und Plätze, reflektierende Farben an den Fassaden. Und es wird auch alles poröser. Durchbrüche und offene Aussparungen in Gebäuden und Mauern sollen ein «Durchlüften» des Quartiers ermöglichen. Mediterran ist aber zunehmend auch der Tagesablauf der Bewohnerinnen und Bewohner: Gearbeitet und gelernt wird in den frühen Morgenstunden und abends, dazwi- 40 schen hat man für andere Dinge Zeit (Siesta, Badi, Schattenbaden …). Die Freizeit findet also in der verlängerten Mittagspause und spätabends statt (so etwa wie früher in Madrid). Gegessen wird nach 21 Uhr. Die Hausordnung wurde demgemäss angepasst, die Ruhezeiten neu festgelegt. Da nun auch in unseren Breitengraden die Schul-Sommerferien drei Monate dauern, stellt sich die Frage, wohin mit den Kindern. Hier organisieren wir uns im Quartier zunehmend selbst. Alles ist etwas langsamer während der Hitzezeit. Das spart auch Energie: Nicht mit energiefressenden Klimaanlagen im Büro wird man der Situation Frau oder Herr. Das Problem der Überhitzung müsse auf der «übergeordneten städtebaulichen Ebene und durch alltags-organisatorische Massnahmen» gelöst werden, heisst es in der kantonalen Hitzeschutzverordnung. Was die Klimaschutzmassnahmen im Konkreten für unser Quartier und das Zusammenleben bedeutet, darüber wird während der kühlen Abendstunden hitzig diskutiert. Für unsere Wohnsiedlung ist nämlich noch allerhand zu tun, damit sie die Kurve kriegt. 41 42 Fallbeispiele Für die Überprüfung der Szenarien im konkreten Wohnumfeld und unter Einbezug von Bewohnerschaft und Verwaltung, wurde eine Auswahl von insgesamt vier Fallbeispielen getroffen. Dabei galten die folgenden Auswahlkriterien: Gebräuchliche Wohntypologien Die Fallbeispiele stehen jeweils für eine zeittypische Haltung im Wohnungsbau und stammen vorzugsweise aus Bauperioden, die im heutigen Gebäudebestand stark vertreten sind. In der Auswahl vertreten sind Wohnbauten aus den 1930er-, 1950er-, 1970er- und 1990er – Jahren. Die städtebaulichen Typologien umfassen den Zeilenbau, die städtische Randbebauung, das Hochhaus und Mischformen. Die Palette der Aussenräume umfasst Mietergärten, «Abstandsgrün», parkähnliche Landschaften, Hinterhöfe, Strassenräume und Wohngassen. Die Erdgeschossnutzungen umfassen Wohnen, Gewerbe, Gastronomie oder Gemeinschaftsräume. Unterschiedliche städtebauliche Settings Die vier Beispiele befinden sich in unterschiedlichen Wohnumfeldern, sowohl im urbanen als auch im suburbanen Kontext mit einer entsprechenden infrastrukturellen Einbettung. Die eine Hälfte befindet sich im städtischen Kontext, einmal in einem infrastrukturell gut erschlossenen Quartier mit hoher Nutzungsdurchmischung, einmal in einem städtischen Wohnquartier mit geringer Nutzungsdurchmischung, aber hoher Erschliessungsqualität. Die anderen beiden Beispiele befinden sich in Wohnquartieren von Agglomerationsgemeinden mit einer geringen Nutzungsdurchmischung und nahegelegenen Natur- und Landschaftsräumen. Bezahlbares Segment Es wurden Mietobjekte im bezahlbaren Segment ausgewählt, wobei auf unterschiedliche Bauträgerschaften geachtet wurde. Vertreten sind neben Baugenossenschaften auch Anlagestiftungen und gemeinnützige Stiftungen, sowie kommunale Bauträgerschaften. 43 44 Breitenlachen I, Luzern Breitenlachen, Luzern. Luftbild, ohne Massstab, genordet (Google Maps Bilder © GeoContent, Maxar Technologies, Kartendaten © 2020. [abgerufen 03.02.2021] Steckbrief Adresse Jungfrauweg 2, 4, 6, Margritenweg 1 – 6, Mönchweg 1 – 8, 10, 6005 Luzern Lage Städtisches Wohnquartier mit geringer Nutzungsdurchmischung und hoher Erschliessungsqualität Bauträgerschaft Allgemeine Baugenossenschaft Luzern Rechtsform Wohnbaugenossenschaft Architektur nicht bekannt Bauperiode 1931 – 1935, letzte Renovation 2004 Raumprogramm 119 Wohnungen mit 3 bis 4 Zimmern 45 46 Fuchsloch, Oberwil ZG Fuchsloch, Oberwil. Luftbild, ohne Massstab, genordet (Google Maps Bilder © GeoContent, Maxar Technologies, Kartendaten © 2020. [abgerufen 03.02.2021] Steckbrief Adresse Fuchsloch 10 – 18, Widenstrasse 44 – 52, 6317 Oberwil bei Zug Lage Wohnquartier am Rande von Zug Bauträgerschaft Verein Barmherzige Brüder Zug Rechtsform Verein als Eigentümer, Bewirtschaftung durch private Immobilienverwaltung Architektur Kuhn Fischer Partner Architekten, Zürich Bauperiode 1992 – 1996 Raumprogramm 98 Wohnungen mit 2.5 bis 5.5 Zimmern, 5 Reiheneinfamilienhäuser, Gemeinschaftsräume, Kindergarten 47 48 Kappelenring, Hinterkappelen BE Kappelenring Hinterkappelen BE. Luftbild, ohne Massstab, genordet (Google Maps Bilder © GeoContent, Maxar Technologies, Kartendaten © 2020. [abgerufen 03.02.2021] Steckbrief Adresse Kappelenring 4, 3032 Hinterkappelen BE Lage Agglomerationsgemeinde von Bern Bauträgerschaft HIG Immobilien Anlage Stiftung Rechtsform private Anlagestiftung als Eigentümerin, Bewirtschaftung durch private Immobilienverwaltung. Architektur nicht bekannt Bauperiode 1973, letzte Renovation: 2003 Raumprogramm 63 Wohnungen mit 1 bis 5.5 Zimmern 49 50 50 Saumackerstrasse, Zürich Saumackerstrasse, Zürich. Luftbild, ohne Massstab, genordet (Google Maps Bilder © GeoContent, Maxar Technologies, Kartendaten © 2020. [abgerufen 03.02.2021] Steckbrief Adresse Saumackerstrasse 42, 44, 48 Lage städtisches Quartier in Zürich Bauträgerschaft Stiftung PWG Rechtsform öffentlich-rechtliche Stiftung als Eigentümerin und Bewirtschafterin Architektur nicht bekannt Bauperiode 1955 Raumprogramm 40 Wohnungen sowie 4 Gewerberäume mit Büronutzung und Restaurant 51 52 ARBEITSPAKET 03 Szenarienwerkstätten 53 zur ladung statt ftswerk Zukun Ein Einladungsflyer für das Fallbeispiel «Fuchsloch» in Oberwil bei Zug (Juppien/Zemp, HSLU). WAS? Wie bereiten wir unser Quartier auf die Zukunft vor? Wie machen wir unsere Siedlung im Hitzesommer gut bewohnbar? Wie nutzen wir unsere Aussenräume, wenn die Wassermelone nicht mehr aus Spanien importiert wird? Wo reparieren wir unsere Kaffeemaschine und das Bügeleisen, wenn es heisst: „Fertig, Schluss mit Wegwerfen“? Was können wir konkret in unserem Alltag und in unserer Siedlung tun, um das Wohnen auf eine wünschenswerte Zukunft hin zu gestalten? WER? Wir sind ein Wohnforschungsteam der Hochschule Luzern. Uns interessiert, welche Wohnbedürfnisse heute noch zu wenig berücksichtigt werden und in Zukunft plötzlich wichtiger werden könnten. Ihre Meinung ist gefragt! WO UND WANN? Deshalb laden wir alle Bewohnerinnen und Bewohner der Siedlung Fuchsloch herzlich zu unserer Zukunftswerkstatt✳ mit anschliessendem Apéro ein! Der Anlass findet statt am Montag, 26. September, von 18 bis 20 Uhr im Gemeinschaftsraum Fuchsloch 16 Weitere Infos und Anmeldung: [email protected] Infos zum Forschungsprojekt: https://www.hslu.ch/de-ch/hochschule-luzern/forschung/projekte/ detail/?pid=5557 ✳ Wir werden gemeinsam mögliche Zukunftsgeschichten über den Alltag im Jahre 2030 in der Siedlung Breitenlachen erfinden und diskutieren. Da wir als Wohnforschende natürlich nicht wissen, wie der Alltag in Ihrer Siedlung aussieht und was den Bewohnerinnen und Bewohnern in Zukunft wichtig wäre, sind wir auf Ihr Wissen angewiesen! 54 Szenarienwerkstätten Das Forschungsteam hat im Zeitraum von August bis Oktober 2022 pro Fallbeispiel je eine Zukunftswerkstatt mit Bewohnerinnen und Bewohnern durchgeführt. Die Zukunftswerkstätten fanden entweder direkt in den Gemeinschaftsräumen der Überbauungen oder in geeigneten Räumlichkeiten im Quartier statt. Für jede Veranstaltung wurden vom Forschungsteam in einem ersten Schritt Einladungsflyers gestaltet, die dann von den zuständigen Verwaltungen um ein Begleitschreiben ergänzt an die verschiedenen Haushalte verteilt wurden. In einem zweiten Schritt machte das Forschungsteam die Bewohnerschaft vor Ort und im direkten Austausch auf die Szenarien-Werkstätten aufmerksam. Eine Ausnahme bildete das Fallbeispiel Fuchsloch in Oberwil bei Zug, da hier bereits über die Einladungsflyer eine grosse Anzahl von Teilnehmerinnen und Teilnehmer gewonnen werden konnte. Im Gegensatz dazu musste die Zukunftswerkstatt für das Fallbeispiel «Breitenlachen 1» in Luzern aufgrund ausbleibender Anmeldungen abgesagt werden. Gemäss der Beiratssitzung vom 7. März 2020 wurden den einzelnen Fallbeispielen jeweils zwei der drei Zukunftsszenarien zugeordnet. Aufgrund der hohen Anmeldezahl konnten beim Fallbeispiel «Fuchsloch» alle drei Zukunftsszenarien besprochen werden. Bei allen anderen Fallbeispielen wurden wie geplant jeweils zwei Zukunftsszenarien besprochen. Fuchsloch, Oberwil (ZG): «Von der Konsumentin zur Produzentin» «Summer in the City» Zusätzlich: «Unterwegs – à la Carte» Kappelenring, Hinterkappelen (BE): «Von der Konsumentin zur Produzentin» «Summer in the City» Saumackerstrasse, Stadt Zürich: «Von der Konsumentin zur Produzentin» «Summer in the City» 55 Ablauf Die Szenarienwerkstätten dauerten jeweils zwei Stunden. Für die Moderation wurden erfahrene Umsetzungspartnerinnen beigezogen, während das Forschungsteam die Rolle des teilnehmenden Beobachters einnahm. Die teilnehmende Beobachtung ist eine klassische Methode der qualitativen Sozialforschung, wobei die Forschenden am Geschehen teilnehmen, ohne aktiv mitzuwirken und den Lauf der Dinge zu beeinflussen. Ablauf Szenarienwerkstatt Zemp, HSLU). Workshop Siedlung(Grafik: Saumackerstrasse – Zürich Setting: 3 Tische mit 4 Stühlen (für ca. 10 Personen), Sitzordnung wird von der Verfahrensleitung erstellt. Wann Was Wer 9.00 0. Begrüssung Angelika Jupien 09.05 1. Input zum Projekt «Small Pleasures» generell (5 Min.) Richard Zemp 2. Ziel und Ablauf des Abends (5 Min.) Richard Zemp 3. Input zur Standortanalyse (5 Min.) Cédric Flüeler 4. 2 Szenarien vorstellen (5 Min.) Richard Zemp 9.30 - Szenario 1: «Von der Konsumentin zur Produzentin» - Szenario 2: «Summer in the City” Arbeit in Kleingruppen (40 Min.) Moderation: Die Teilnehmer werden in 2 Kleingruppen aufgeteilt und besprechen jeweils ein Szenario Rachel Gaudenz / Cédric Flüeler Was wäre wenn? (20 Min.) • Was bedeutet das diskutierte Szenario für Sie / Ihren Lebensalltag / Ihre Siedlung / Ihr Quartier? • Ist Ihr gegenwärtiges Wohnumfeld / Ihr Wohnraum auf das diskutierte Szenario vorbereitet? Was wäre für das Szenario nötig? (20 Min.) • Welche baulich-räumlichen Veränderungen im Innenund im Aussenraum wären in diesem Szenario für Sie wichtig? • Welche zusätzlichen Angebote wären in diesem Szenario wichtig? 10.10 Präsentation der Gruppenergebnisse (je 10 Min.) Moderation: Jeweils ein Sprecher präsentiert kurz die Ergebnisse seiner Gruppe Rachel Gaudenz 10.30 Gemeinsame Diskussion. (30 Min.) Moderation: 11.00 Abschluss / Apéro Rachel Gaudenz 56 Ablauf der Szenarienwerkstatt für das Fallbeispiel «Saumackerstrasse» (Juppien/Zemp, HSLU Flüeler/Gaudenz, Dost) Einführung Zur Einstimmung wurden die Teilnehmenden darum gebeten, ihre Wohnsituation kurz darzulegen, indem sie Punkte auf grosse Fragebogen-Plakate kleben mussten. Im Gegensatz zu individuellen Fragebögen, die jeder für sich ausfüllt, konnten so erste Gespräche zum Kennenlernen angestossen werden. Fragebogen-Plakat für das Fallbeispiel «Fuchsloch» (Flüeler/Gaudenz, Dost) 57 Arbeiten in Kleingruppen Nach der Einführung wurden die einzelnen Grobszenarien (siehe hierzu Zwischenbericht AP02) vorgestellt. Dabei wurden die Grobszenarien nicht einfach 1:1 vorgelesen, sondern unter Berücksichtigung von Ort und Zusammensetzung der Teilnehmerschaft entsprechend vermittelt. Auch wurde jeweils die Zielsetzung der Workshops klar kommuniziert, wie auch der Umstand, dass die Workshops im Rahmen eines an der Hochschule angesiedelten Forschungsprojektes durchgeführt werden und keinen direkten Bezug zur strategischen und inhaltlichen Weiterentwicklung der jeweiligen Bauträgerschaften haben. Danach konnten sich die Teilnehmenden den einzelnen Szenarien zuordnen. Die so gebildeten Kleingruppen bearbeiteten jeweils ein Szenario, wobei die Auseinandersetzung anhand zweier Frageimpulse erfolgte. Arbeit in Kleingruppen, Szenarienwerkstatt Fallbeispiel «Fuchsloch» (Foto: Gaudenz, Dost) Beim ersten Fragenimpuls ging es darum herauszufinden, wo die Bewohnenden Chancen aber auch Schwächen in der jetzigen Situation sehen, die bei dem entsprechenden Szenario im Jahr 2030 berücksichtigt werden müssten. Beim zweiten Fragenimpuls ging es darum, Lösungsvorschläge oder Ideen zu entwickeln, die beim entsprechenden Szenario aus ihrer Sicht zielführend wären. Dabei ging es nicht nur um bauliche Massnahmen, sondern gerade auch um mögliche veränderte Formen von Alltagsgestaltung sowie Organisations- und Entscheidungsstrukturen. 58 Präsentation und Diskussion im Plenum Rund die Hälfte der Zeit nahm die Diskussion im Plenum ein. Jede Szenariogruppe stellte hierfür ihre zentralen Anliegen oder Aspekte möglicher Veränderungen vor und gab damit konkrete Anreize für die anschliessende Diskussion. Dabei wurden nicht nur die Stichworte aus den Szenarien-Workshops strukturiert zusammengefasst. Die Grobszenarien aus AP02 wurden vielmehr von den Bewohnerinnen und Bewohnern aus ihrer Sicht weitererzählt. So sind aus den anfänglich drei Grobszenarien, die den Bewohnerinnen und Bewohnern als Grundlage dienten, sieben unterschiedliche Szenarien entstanden. Bemerkenswert ist bei diesen (neuen) Szenarien zweierlei: Erstens existiert bereits eine hohe Affinität und Sensibilisierung zu Fragen der Nachhaltigkeit, Klimawandel und veränderten Haushaltsformen seitens der Bewohnerschaften und zweitens sind die Vorschläge der Bewohnerinnen und Bewohner konstruktiv und direkt auf die jeweils bestehenden Wohnsituationen bezogen. Priorisierung der Vorschläge im Plenum, Szenarienwerkstatt Fallbeispiel «Fuchsloch» (Foto: Gaudenz, Dost) 59 60 Szenarienwerkstatt Fuchsloch Steckbrief Wann 26. September 2022, Wo Gemeinschaftsraum, Fuchsloch 16 Moderation Rachel Gaudenz, Dost Architektur und Stadtentwicklung (Umsetzungspartnerin) Teilnehmende Beobachtung Angelika Juppien und Richard Zemp, Hochschule Luzern 61 Szenarienwerkstatt Fuchsloch Szenario «Die Konsumentin als Produzentin» Fragenimpuls 1: • Was bedeutet das diskutierte Szenario für Sie/Ihren Lebensalltag/Ihre Siedlung/Ihr Quartier? • Ist Ihr gegenwärtiges Wohnumfeld/Ihr Wohnraum auf das diskutierte Szenario vorbereitet? Stichworte: • Obstbäume stehen bereits jetzt zur freien Ernte zur Verfügung, viele wissen dies aber nicht • Wer einen Garten will, findet in der Nähe Grundstücke zum Gärtnern • Es gibt bereits einen Bauernhofladen im Quartier • Volg ist in der Nähe (regionale Produkte) • Ökimobil (mobile Wertstoff-Sammelstelle) • Repair-Café im Quartier (Angebot ausbauen!) • Anschlagbretter für Informationsaustausch vorhanden (wer bietet was an?) 62 Fragenimpuls 2: • Welche baulich-räumlichen Veränderungen im Innen- und im Aussenraum wären in diesem Szenario für Sie wichtig? • Welche zusätzlichen Angebote wären in diesem Szenario wichtig? Stichworte: • Laubengänge für kletternde Obst- und Gemüsepflanzen nutzen • Leute motivieren, sich die Laubengänge produktiv anzueignen • Bring- und Holtag oder Standort für Abgabe von nicht Brauchbarem • Zentrales Kühlhaus zur Aufbewahrung von Lebensmitteln • Seewasserwärme nutzen • Gemeinschaftsgarten/Hochbeete z. B. anstelle ungenutzter Velounterstände • Mitsprache und Austausch mit Eigentümerschaft 63 64 64 Fuchsloch 2030: «Die Konsumentin als Produzentin» Unsere Siedlung wurde 1992 als «zukunftsweisendes Wohnmodell» konzipiert – dies sollte auch im neuen Jahrtausend so bleiben! Und so fassten wir uns Mut, und begannen (dem Pioniergeist unserer Siedlung zu Ehren) mit dem Ausprobieren. Ist etwas dran an der «produktiven Stadt» oder ist das ein Hirngespinst? Nun, grosse Veränderungen beginnen bekanntlich im Kleinen: So begannen wir das Markenzeichen unserer Siedlung, nämlich die Laubengänge, intensiv für kletternde Obst- und Gemüsepflanzen zu nutzen. Zu Beginn musste man die Leute geradezu motivieren, sich die Laubengänge produktiv anzueignen. Seit die Verwaltung nun offiziell den Anbau von Nutzpflanzen in und um das Haus unterstützt, legen die Bewohnenden aber richtig los. Aber nicht nur die Laubengänge wurden zu Nährböden für Essbares: Für die ungenutzten Velounterstände entlang der Wohngasse, für die man jahrelang nach alternativen Nutzungen gesucht hat, fand sich eine im wahrsten Sinne des Wortes «produktive» Lösung! Hier sind nämlich unsere Gemeinschaftsgärten und Hochbeete untergebracht. Klar, nicht jede und jeder hat einen grünen Daumen – aber allein die Bereitschaft, es gemeinsam auszuprobieren, löst einen Lernprozess aus, von dem wir alle profitieren. Es sind aber nicht nur das Know-how und die Zeit, die man für solche Experimente braucht. Auch der nötige Platz oder die Ausrüstung sind wichtig: Das vor Ort Geerntete sprengt wohl die Kapazitäten unserer Einbaukühlschränke. So utopisch die Idee eines «Kühlhüslis» vor acht Jahren noch tönte, so froh sind wir nun darum, dass die eingeschossigen Abstellpavillons bei den Gemeinschaftsräumen jetzt doch noch umgenutzt wurden: Das eine eben als Kühlhaus, das andere als Werkstatt und Gartenschuppen respektive als Lager für unseren Bring- und Holtag. Da kann man ungebrauchte Gegenstände lagern, die 65 bei Bedarf mitgenommen werden dürfen. Das ist im Moment die Situation. Wie es in ein paar Jahren aussieht, wissen wir nicht. Und so sind die eingeschossigen Abstellpavillons im wahrsten Sinne des Wortes Möglichkeitsräume. Unabdingbare Voraussetzung, dass während der Betriebsphase die Nutzung von Räumen immer wieder den laufenden Bedürfnissen angepasst werden kann, ist der Austausch mit der Eigentümerschaft respektive mit der Verwaltung. Für letztere ist das Ganze auch eine neue Herausforderung. Wo früher gewohnt wurde, wird jetzt auch produziert, gegärtnert, geflickt, diskutiert. Aber auch auf der Seite der Bewohnerschaft, braucht es ein Fingerspitzengefühl: schliesslich geht es nicht mehr darum, Forderungen oder Wünsche bei der Verwaltung zu deponieren. Vielmehr geht es darum, für die neuen Nutzungsansprüche gemeinsam nach niederschwellig umsetzbaren Lösungen zu suchen. Was nicht ohne weiteres niederschwellig umsetzbar ist, ist ein gewisser Kulturwandel im Umgang und im Unterhalt der Bausubstanz unserer Siedlung. Wir haben aber bereits Erfolg: die Repair-Café-Philosophie hat nun auch unsere Siedlung erreicht. Wurde früher ein kaputter Backofen selbstverständlich durch einen neuen ersetzt, sieht das die Verwaltung nun etwas anders: Er wird, wenn immer möglich, repariert. Ausserdem erweist sich die Architektur unserer Siedlung, welche ihr Architekt in den 90ern mit einem «Hauch von Unfertig» beschrieb, als äusserst hilfreich für Bewohnende. Sie verstehen sich nicht mehr so sehr als Konsumenten sondern vielmehr als Mitproduzentinnen ihres eigenen Lebensraums. So lassen sich ohne grossen Aufwand Wohnungen in Grösse und Ausstattung verändern, Gemeinschafträume problemlos umnutzen usw. So vieles musste also gar nicht komplett neu geschaffen werden! Auch die Obstbäume stehen ja schon seit mehreren Jahrzehnten vor diesem ganzen Tralala um die «Essbare Stadt» zur 66 freien Ernte zur Verfügung. Vielleicht aus Bequemlichkeit, oder aus purem Unwissen, liessen die meisten «Fuchslöchler» das Fallobst massenhaft liegen. Hier brauchte es auch Aufklärungsarbeit, damit sich das Verhalten der Leute langsam änderte. Geändert hat sich auch der Bezug zum Umfeld – Stichwort «Kooperationen». Hier haben wir uns dafür eingesetzt, dass unser Quartier regelmässig von den Landwirten im Umfeld beliefert wird. Das findet auch unsere Verwaltung eine gute Sache, weshalb wir gemeinsam beschlossen haben, im Fuchsloch einen kleinen Hofladen zu bauen. Das klingt jetzt alles einfach – ist es aber nicht. Zumindest zu Beginn, mussten wir Abnahmeverträge abschliessen und die Leute aus dem Quartier für diese Sache gewinnen. Kurz: der administrative Aufwand ist nicht zu unterschätzen. Hier geht es nicht zuletzt auch (oder gerade!) darum, Verantwortlichkeiten neu festzulegen. Denn nicht nur unsere Nahrung wird anders organisiert, sondern auch die Wissens- und Informationswege im Quartier: Die Quartiersbewohnerinnen und Quartierbewohner geben ihre Erfahrungen zum Beispiel im Umgang mit Reparatur von Küchenmaschinen oder der intelligenten Verwertung von Abfällen weiter. Und dank dieses Wissensaustauschs verstehen wir auch bei Begriffen wie «regionale Kreislaufwirtschaft und Wertschöpfungsketten» nicht mehr Bahnhof. Sondern es ist klar, wie und wo wir konkret ansetzen können. Und man wird nicht mehr belächelt, wenn man den Leuten aus dem Quartier erklärt, dass man nun eine Quartiersau hat, die wertvolle Arbeit leistet, wenn man dann trotzdem mal zu viel Gemüse eingekauft oder produziert hat. Was ich der Leserschaft noch mitgeben möchte? Vielleicht das: Ein zukunftsweisendes Wohnmodell braucht viel Organisation und einen langen Atem. Und dies auf allen Seiten. Aber vielleicht sprechen sie noch mit der Verwaltung? 67 Szenarienwerkstatt Fuchsloch Szenario «Unterwegs – à la Carte» Fragenimpuls 1: • Was bedeutet das diskutierte Szenario für Sie/Ihren Lebensalltag/Ihre Siedlung/Ihr Quartier? • Ist Ihr gegenwärtiges Wohnumfeld/Ihr Wohnraum auf das diskutierte Szenario vorbereitet? Stichworte: • Von unserem Quartier aus lassen sich in 15 Minuten grundsätzlich die wichtigen täglichen Bedürfnisse abdecken (ausser Arbeit/Dienstleistungen, die nicht im 15-Minuten-Radius sind) • Der Individualverkehr hat immer noch ein viel zu hohes Gewicht 68 Fragenimpuls 2: • Welche baulich-räumlichen Veränderungen im Innen- und im Aussenraum wären in diesem Szenario für Sie wichtig? • Welche zusätzlichen Angebote wären in diesem Szenario wichtig? Stichworte: • Photovoltaik auf die Dächer mit Sanierung! • Car-Sharing-Angebote ausbauen/vereinfachen/ differenzieren • Private Pkw-Zufahrt ins Quartier muss stark eingeschränkt werden • ÖV optimieren (andere Routen und kleinere Fahrzeuge sowie tiefere Fahrfrequenz während der Randzeiten sind erwünscht) • Zentrale Abholstelle für Lieferdienste (Lieferdienste vereinheitlichen/zusammenführen) • Tiefgarage anpassen an E-Mobilität 69 70 Fuchsloch 2030: «Unterwegs – à la Carte» In unserem Quartier lassen sich eigentlich schon seit langem die wichtigsten täglichen Bedürfnisse in Fusswegdistanz abdecken, zumindest was den Einkauf von Lebensmitteln und die Naherholung betrifft. Klar, wo es noch Nachholbedarf gab, war bei den Dienstleistungsangeboten. Auch Arbeitsplätze hatten wir im Quartier nicht wirklich. Hierfür mussten wir immer in den Bus nach Zug steigen oder in unser Auto. Das hat sich aber seit der Post-Corona-Phase schlagartig verändert. Der Lockdown ist weg, das Home-Office bleibt. Und mit dem Home-Office verbringen nun auch viel mehr Menschen viel mehr Zeit in unserer Siedlung. Dies wiederum gab den entscheidenden Impuls, dass sich Kleingewerbe, Dienstleistungen und Gastronomie im Quartier lohnten. Plötzlich war mehr Nachfrage da. Auch in unserer Siedlung hat sich die Nachfrage nach bestimmten Räumen und Nutzungsangeboten geändert: Einerseits neue Räume für neue Formen der Zusammenarbeit und andererseits Angebote, welche dem Bedürfnis nach Austausch und gemeinsamer Kaffeepause der Home-Office-Worker entgegenkommen. Es stellte sich als Glücksfall heraus, dass unsere Siedlung mehrere Gemeinschaftsräume besitzt. So konnten wir Plätze für CoWorking einrichten, ohne dass man denen, die das Angebot gar nicht nutzen möchten, etwas wegnimmt. Bis jetzt ging die Rechnung jedenfalls auf. Wenn die Auslastung der Gemeinschaftsräume weiterhin steigt, muss man sich wohl fragen, wo Ausweichmöglichkeiten im Umfeld der Siedlung sind. Eines ist jedenfalls klar, mit der Stadt der kurzen Wege steigt das Angebot von Zusatzräumen vor der Wohnungstür. Und für die, 71 die trotz allem pendeln, gab es in den letzten Jahren wichtige Neuerungen. Da der Pendlerverkehr abgenommen hat, profitieren wir jetzt von kleineren Bussen mit Elektroantrieb und optimierten Routen. Die Bushaltestelle wurde zum Mobility Hub. Das Wort erschreckt auf den ersten Blick. Tatsächlich ist es eine gute Sache. Hier kann man nicht nur auf den Bus warten, Car- und Bikesharing-Angebote wahrnehmen, sondern auch sein Paket abholen. Es wurde nämlich eine zentrale Abholstelle eingerichtet. Das ist nötig, weil der Zugang zu unserer Siedlung für alle motorisierten Fahrzeuge gesperrt ist. Die anfängliche Idee der Siedlung, eine autofreie Wohn- und Spielgasse für Gross und Klein einzuführen, wurde also doch noch Realität. Das heisst aber nicht, dass wir in einer autofreien Welt leben würden. Das Auto hat in unserem Alltag lediglich nicht mehr den gleichen Stellenwert wie von einigen Jahren. Ansonsten sind wir gerne und oft auch mit unseren E-Bikes unterwegs. Das hinterlässt Spuren: In unserer Tiefgarage gibt es nun Ladestationen und eine kleine Velo-Werkstatt. Ansonsten suchen wir für Teile der Tiefgarage nach neuen Nutzungen – eine Herausforderung, weil der Boden der Tiefgarage dem Gefälle der darüberliegenden Wohngasse folgt. Dass E-Mobilität nur grün ist, wenn der Strom von der Sonne kommt, ist uns selbstverständlich klar. Deshalb haben wir auch eine Photovoltaikanlage installiert und uns an das Solar-Energie-Netz des Quartiers angeschlossen. Der Verwaltung gebührt ein grosses Kompliment. Sie hat sich nach anfänglichem Zögern auf dieses und andere Experimente eingelassen. Aber vielleicht sprechen Sie auch noch direkt mit der Verwaltung, wenn Sie hierzu genaueres erfahren möchten. 72 73 Szenarienwerkstatt Fuchsloch Szenario «Summer in the City» Fragenimpuls 1: • Was bedeutet das diskutierte Szenario für Sie/Ihren Lebensalltag/Ihre Siedlung/Ihr Quartier? • Ist Ihr gegenwärtiges Wohnumfeld/Ihr Wohnraum auf das diskutierte Szenario vorbereitet? Stichworte: • Schmale Grundrisse (Querlüften problemlos möglich) • Bereits jetzt viel Grünraum im Umfeld • Bereits jetzt Pflanzen auf Laubengängen, könnte aber noch intensiviert werden • Seebadi im Quartier 74 Fragenimpuls 2: • Welche baulich-räumlichen Veränderungen im Innen- und im Aussenraum wären in diesem Szenario für Sie wichtig? • Welche zusätzlichen Angebote wären in diesem Szenario wichtig? Stichworte: • • • • • • • • • • • • • • Kühlung über Erdsonde Wasserschutz (Starkregen) Umsetzung Fassadenbegrünung Baumbestand erweitern Weinberge Begegnungsräume schaffen (wie im Süden) Energetische Sanierung (Solarpanels, sommerlicher Wärmeschutz) Seewasser-Fernwärme Regenwasser nutzen Dachbegrünung Spielplätze neu gestalten (beschatten) Grössere Balkone Nachhaltige Heizung Querlüften (Verhaltensänderung) 75 76 Fuchsloch 2030: «Summer in the City» Seit auch in unserer Siedlung diverse Anpassungen an den Klimawandel vorgenommen wurden, passt der Name «Fuchsloch» sogar noch besser. Die Waldgrenze, die vorher oberhalb unserer Siedlung verlief, wurde nun bis die Zwischenräume unserer Bebauung ausgedehnt. Wir wohnen also in einem Übergangsgebiet zwischen Wald und Quartier. Wo früher eine grüne Wiese war, die bei Starkregenereignissen zum Sumpf wurde und während des Sommers kaum noch grün war, kühlen und stabilisieren Bäume das Mikroklima am Hang und in unserer Siedlung. Ein willkommener Nebeneffekt: Auch Insekten haben sich nun vom «zukunftsweisenden Wohnmodell» unserer Siedlung überzeugt. Kurz und gut, wir wohnen in einem kleinen Ökosystem, wo es keine klare Trennung zwischen Natur und Architektur mehr gibt. Vielmehr ist es ein Miteinander. Stichwort Laubengänge: Während in anderen Siedlungen mühsam noch eine Fassadenschicht angebracht werden musste, ist bei unserer Siedlung das Rankgitter für die Fassadenbegrünung schon da. Dass man der Natur in unserer Siedlung so viel Platz einräumt, tönt auf den ersten Blick selbstverständlich, ist es aber nicht. Die Idee, die Natur zu kontrollieren und das Unkraut fernzuhalten, ist noch stärker in unseren Köpfen, als wir meinen. Und mal ganz ehrlich, auch wir sind uns nicht immer so sicher, ob unser Siedlungsbild noch mit «gepflegt» im herkömmlichen Sinne beschrieben werden könnte. Spätestens im Sommer ist es dann ganz schnell vorbei mit der Ziergartenromantik. Dann zählt nur noch eines: schattenspendende Bäume und üppiger Pflanzen- 77 wuchs, so viel wie möglich. Und dann haben wir natürlich hie und da auch mediterrane Nutzpflanzen eingeführt. Weinreben, Feigen und Mispeln geniessen das milde Klima. Alles in allem ist Klimaerwärmung aber gar nicht lustig und auch nicht billig: Der klimagerechte Umbau unserer Siedlung hat auch einiges gekostet. Genannt sei hier die nachträglich intensivierte Dachbegrünung, die vergleichsweise günstig war. Die Umplatzierung und Neugestaltung von Nutzungsangeboten im Aussenraum und die Vergrösserung der privaten Aussenräume, sprich Balkone, die nun als Sommerzimmer fungieren war hingegen schon eine grössere Investition. Da die Raumhöhen der Wohnungen mit 2.40 m für ein zunehmend mediterranes Klima recht niedrig sind und sich der Raum relativ schnell erwärmt, denkt die Verwaltung nun darüber nach, den sommerlichen Wärmeschutz an der Fassade zu verbessern. Und auch der bereits existierende Wärmeschutz ist den Sturmböen nicht gewachsen. Dies bedingt einerseits weitere nachträgliche Investitionen an der Gebäudehülle und ausserdem einen erhöhten Reparatur- und Instandhaltungsaufwand. Deshalb ist es wichtig, dass unsere Bewohnerinnen und Bewohner ihre sommerlichen «Schutzschilder» besser hegen und pflegen. Ein laufendes Projekt ist «Raining Fuchsloch». Hier setzen wir uns dafür ein, dass das in kurzer Zeit und in grossen Mengen anfallende Regenwasser stetig versickern und auch genutzt werden kann. Die ganze Beschattungsvegetation ist nämlich durstig. Hierfür haben wir mehrere Zisternen angelegt und ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem auf den Laubengängen 78 und in den Zwischenräumen anlegen lassen. Wir, das ist die Arbeitsgruppe Klima und Aussenraum, gebildet von Bewohnerinnen und Bewohnern, die mit ihrem Fachwissen die Verwaltung unterstützen. Die Zusammenarbeit zwischen Siedlungsverein und Verwaltung hat sich nicht nur im Zusammenhang mit der Anpassung unserer Wohnsiedlung an den Klimawandel als zielführend erwiesen. Die erhöhte Mitsprachemöglichkeit und die Wertschätzung des Engagements der Siedlungsbewohnerschaft wird als echte Wohnqualität empfunden. Schliesslich hat die Kooperation zwischen Siedlungsverein und Verwaltung dazu beigetragen, die niedrigen Mieten beizubehalten. Und so dient unsere zukunftsweisende Siedlung aus dem Jahr 1992 auch im neuen Jahrtausend als Pionierprojekt. 79 tatt f kun ng adu Einl 80 Zu zur rks tswe Szenarienwerkstatt Kappelenring Steckbrief Wann 24. Oktober 2022, Wo Gemeinschaftszentrum Kipferhaus, Hinterkappelen Moderation Regula Aepli, Allgemeine Baugenossenschaft Luzern, (Umsetzungspartnerin) Teilnehmende Beobachtung Angelika Juppien und Richard Zemp, Hochschule Luzern 81 Szenarienwerkstatt Kappelenring Szenario «Die Konsumentin als Produzentin» Fragenimpuls 1: • Was bedeutet das diskutierte Szenario für Sie/Ihren Lebensalltag/Ihre Siedlung/Ihr Quartier? • Ist Ihr gegenwärtiges Wohnumfeld/Ihr Wohnraum auf das diskutierte Szenario vorbereitet? Stichworte: • Es gibt bereits ein Repair-Café im Quartier • Restaurant/Café im Quartier als Treffpunkt für den Erfahrungsaustausch • Quartier-Infotafel bei Bushaltestelle 82 Fragenimpuls 2: • Welche baulich-räumlichen Veränderungen im Innen- und im Aussenraum wären in diesem Szenario für Sie wichtig? • Welche zusätzlichen Angebote wären in diesem Szenario wichtig? Stichworte: • Aufhebung der Wohnnutzung im EG, dafür Bastelund Werkstattraum sowie grosse Gemeinschaftsküche/Beiz (da gut erschlossen und direkter Zugang zum Aussenraum!) • Kooperation mit Hofläden • Obstbäume pflanzen (Apfel, Birne, Kirsche) • Zusammenleben organisieren (momentan «lebt man eher für sich») • Zuständigkeiten regeln • Nutzgärten im Umfeld • Tavolata, zusammen kochen • Siedlungsfest 83 84 84 Kappelenring 2030: «Die Konsumentin als Produzentin» Zunächst ging es darum, dieses «Jeder-wohnt-für-sich» durch die Möglichkeit des ungezwungenen Miteinanders und des Mitdenkens zu ersetzen. Erstaunlich, wie schnell man dabei merkte, wie gross das Bedürfnis nach mehr nachbarschaftlichem Austausch und nach wohnungsergänzenden Räumen für handwerkliche Tätigkeiten eigentlich war! Dies bewog uns, zu handeln. Zuerst begannen wir mit niederschwelligen Aktionen und noch ohne den Einbezug der Verwaltung und der Eigentümerschaft. Wir organisierten eine monatliche Tavolata und ein jährliches Siedlungsfest. Mit der Zeit nahmen solche Aktivitäten einen festen Platz im Siedlungsleben und uns wurde bewusst, dass Wohnqualitäten zu einem grossen Teil von den Möglichkeiten des Mitgestaltens und des Schaffens ausserhalb der eigenen vier Wände bestimmt werden. Die einen nennen es «produktives Quartier», wir nennen es ganz einfach «geglückter Wohnalltag». Interessant ist, dass wir dafür gar nicht so viel ändern mussten, wir mussten uns nur zusammenschliessen und die Dinge, die da waren, anders nutzten. Unser Haus ist nun mal ein Wohnhochhaus, aber das heisst keineswegs, dass wir alle gerne anonym für uns wohnen. Und selbst ein Wohnhochhaus hat jenseits der effizient aufeinander gestapelten Wohnungen, Spielräume und Extraflächen, die man produktiv nutzen könnte. Nehmen wir zum Beispiel die Eingangshalle, die in ihrer Grosszügigkeit eine verpasste Chance darstellt. Sie könnte viel mehr als nur ein Durchgangsraum sein. Darin waren wir 85 uns alle einig. Den Beginn machte die Litfasssäule. Hier konnte man ganz einfach auf Aktivitäten aufmerksam machen, um zum Beispiel neue Nachbarinnen und Nachbarn zu treffen. Und muss man eigentlich bei einem Wohnhochhaus bis ins Erdgeschoss wohnen? Diese Frage schien uns je länger desto mehr legitim zu sein. Wo sollten wir sonst produktiv tätig sein, wenn nicht im Erdgeschoss, das so gut sichtbar und mit dem direkten Zugang zum Aussenraum so ausserordentlich praktisch liegt. Als vor fünf Jahren die Familie Meier aus dem Erdgeschoss auszog, entschied man sich deshalb zusammen mit der Eigentümerschaft einen entsprechenden Vorschlag zu machen und Wohnnutzung im Erdgeschoss aufzuheben. Der Mietausfall wurde auf die restlichen 63 Wohnungen umgelegt. Aber das war es uns wert. Mit kleinstmöglichen Eingriffen entstand ein Bastel- und Werkraum mit Gemeinschaftsküche und angeschlossenen Lagerräumen, da unsere Keller eher klein sind. Über den direkten Zugang zum Garten konnten wir ganz einfach unsere Obsternte «einfahren» und lagern. Ja, sie haben richtig gelesen – Obsternte, und dass bei einem Wohnhochhaus! Mit der Initiative «essbare Aussenräume» des Kantons Bern, wurden auch bei uns in Hinterkappelen am Kappelenring die Aussenräume umgekrempelt. Wo früher Rasenflächen waren, sind jetzt Wildwiesen und Obstbäume. Ein willkommener Nebeneffekt: Das Mikroklima ist sehr angenehm. Es muss an dieser Stelle nochmals eindrücklich betont werden, dass das einen Kulturwandel voraussetzte und dass die Bereitschaft für einen solchen unter der Bewohnerschaft erstaunlich 86 hoch war. Nein, das ist keine Sozialromantik, sondern eine Menge Arbeit, die manchmal auch kräftezehrend sein kann. Aber trotzdem: Die Lebenswelt nicht allein zu geniessen, sondern diese produktiv mitzugestalten und dabei Selbstwirksamkeit zu erfahren, wird von Vielen am Kappelenring als Wohnqualität empfunden. Hierfür braucht es geeignete Angebote und Räume und schliesslich auch einen langen Atem und den Mut, etwas Neues auszuprobieren. Und dies auf allen Seiten. Auch die Verwaltungen und die Eigentümerschaften haben diesen Ball aufgenommen. Jedenfalls sind wir uns darin einig, dass man in Zeiten der «produktiven Stadt» nicht einfach private Wohnflächen vermieten kann, sondern die Bewohnerschaft mit Zusatzangeboten darin unterstützt, über die eigenen vier Wände hinaus produktiv zu sein. Hierfür wird aus den Nebenkosten auch ein Budget gesprochen. Es ist aber nicht nur eine finanzielle Frage, sondern eine Frage von Ansprechpersonen und Zuständigkeiten. Unser Siedlungscoach hat jedenfalls viel zu tun. Aber vielleicht fragen sie hierzu noch die Verwaltung … 87 Szenarienwerkstatt Hinterkappelen Szenario «Summer in the City» Fragenimpuls 1: • Was bedeutet das diskutierte Szenario für Sie/Ihren Lebensalltag/Ihre Siedlung/Ihr Quartier? • Ist Ihr gegenwärtiges Wohnumfeld/Ihr Wohnraum auf das diskutierte Szenario vorbereitet? Stichworte: • Bereits jetzt sehr viel grün • In den Wohnungen ist es auch bei hohen Aussentemperaturen kaum heiss (auch bei SW-Ausrichtung) • Lüften ist rund um die Uhr möglich (keine Lärmbelastung von aussen) • Jugendliche haben kaum geeignete Räume im Umfeld • im Sommer weichen sie auf kühle Eingangshalle aus, was zu Konflikten mit Bewohnerschaft führt • Es fehlen gedeckte Aussenräume/wenige Nutzungsangebote für warme Jahreszeit im Aussenraum • Anschluss an Fernwärmenetz verpasst (immer noch Ölheizung) 88 Fragenimpuls 2: • Welche baulich-räumlichen Veränderungen im Innen- und im Aussenraum wären in diesem Szenario für Sie wichtig? • Welche zusätzlichen Angebote wären in diesem Szenario wichtig? Stichworte: • Sonnenkollektoren für Warmwasser • Gedeckter Aussenraum mit Feuerstelle • Sonnengeschützter Aufenthaltsraum im Innern (Eingangshalle hat Potenzial für Umnutzung!) • Fassadenbegrünung • Es braucht mehr Orte zum Zusammensein, Basteln und Werken ums Haus herum (Räume für Tätigkeiten im Freien werden immer wichtiger!) • Steckdosen im Freien 89 90 Hinterkappelen 2030: «Summer in the City» Als sich vor acht Jahren ein Forschungsteam der Hochschule Luzern nach Hinterkappelen traute und wissen wollte, wie es sich in unserem Hochhaus während des Sommers so lebt, waren sie sichtlich von unseren Antworten überrascht. Entgegen ihren Erwartungen bekamen sie zu hören, dass es sich in unseren Wohnungen auch in Hitzesommern sehr gut lebt – und dass sogar in Wohnungen mit bei Süd-West-Ausrichtung. Das liegt wohl daran, dass wir auch im Sommer von einer ruhigen Lage profitieren und die Querlüftung also jederzeit möglich ist. Ausserdem weht hier oben immer ein frisches Lüftchen. Anders sieht es im Aussenraum aus. Dieser zeigte sich vor acht Jahren nicht wirklich als schattige Oase. Sicher, es gab vereinzelt Bäume. Die waren allerdings trotz des temporären Schattenwurfs der Hochhäuser der Hitze klar unterlegen. Das fanden wir aber nicht weiter schlimm, denn damals schätzten wir vor allem die vielen schattigen und attraktiven Naherholungsgebiete in der Umgebung. Aber jetzt, wo der Sommer sich von seiner heissesten Seite zeigt, ist man froh um möglichst kurze Wege zum nächsten Schattenplatz – vor allem im hohen Alter. Dies führt dazu, dass die Auslastung der schattigen Plätze ihre Grenzen erreicht hat. Hier zeigt sich häufig auch ein Generationenkonflikt. Auch die Jugend braucht Schatten und einen kühlen Kopf. 91 Kurz und gut, die Anpassung an den Klimawandel betraf bei uns vermehrt den wohnungsnahen Aussenraum. In einem ersten Schritt wurde ein Antrag an die Eigentümerschaft gestellt, um ein Beschattungs- und Pflanzkonzept erarbeiten zu lassen. Damit der vermehrte Aufenthalt in den wohnungsnahen Aussenräumen, das Wohnen in der Überbauung tatsächlich bereichert und nicht beeinträchtigt, wurde eine Wohn- und Architekturpsychologin beigezogen. Diese brachte die verschiedenen Bedürfnisse und Nutzungsansprüche der Bewohnerschaft in Erfahrung und machte Empfehlungen für die Zonierung und Gestaltung des Aussenraums. Es hat sich bestätigt, dass die Jugendlichen zu wenig geeignete Treffpunkte hatten und dass sie gerade während der warmen Jahreszeit deshalb zu «Störfaktoren» wurden. Die Anpassung des Aussenraums an den Klimawandel ging also Hand in Hand mit der Abklärung der verschiedenen Nutzungsansprüche. Ein willkommener Nebeneffekt der Fassadenbegrünung und des höheren Baumbestands ist es, dass Pflanzen dem Stress entgegenwirken. Jedenfalls empfinde ich den Lärm der Jugendlichen weniger störend, seitdem ich auf eine begrünte Fassade blicke und auf reich bepflanzte Zwischenräume hinunterschaue. Aber auch sonst gibt es im und um das Haus mehr Möglichkeiten der Hitze zu entkommen. Man hat nun nicht nur die Wahl zwischen dem Rumhängen in der Wohnung und der überfüllten Badi. Sondern man kann einfach nur mit dem Lift nach unten fahren und sich an einen schattigen Platz hinpflanzen. Unsere Siedlung ist in die Jahre gekommen und ein Hochhaus – und 92 ob ein Hochhaus heute noch so pionierhaft ist, sei dahingestellt. Was aber sicher wegweisend ist, und darauf sind wir zugegebenermassen auch ein bisschen stolz, ist die Art und Weise, wie die Eigentümerschaft und die Verwaltung in Zusammenarbeit mit Fachspezialisten und der Bewohnerschaft einen Umbau an den Tag gelegt hat, der über den eigentlichen sommerlichen Wärmeschutz hinausgeht und sogar neue Wohnqualitäten schafft. Ich würde ihnen also dringend empfehlen, die Sache mit der Eigentümerschaft und der Verwaltung zu besprechen. 93 statt uku erk nftsw du ur Z ng z Einla 94 Szenarienwerkstatt Saumackerstrasse Steckbrief Wann 24. September 2022 Wo Gemeinschaftszentrum GZ Badenerstrasse 658, Zürich Moderation Rachel Gaudenz, Dost Architektur und Stadtentwicklung (Umsetzungspartnerin) Teilnehmende Beobachtung Angelika Juppien und Richard Zemp, Hochschule Luzern 95 Szenarienwerkstatt Saumackerstrasse Szenario «Die Konsumentin als Produzentin» Fragenimpuls 1: • Was bedeutet das diskutierte Szenario für Sie/Ihren Lebensalltag/Ihre Siedlung/Ihr Quartier? • Ist Ihr gegenwärtiges Wohnumfeld/Ihr Wohnraum auf das diskutierte Szenario vorbereitet? Stichworte: • Im Quartier ist der Konsum sehr präsent. Es gibt diverse Endverteiler. • Gewerbe- und Handwerksbetriebe sind eher unterrepräsentiert oder im Strassenbild kaum sichtbar. • Die Badenerstrasse hat für mögliche (Nutzungs-) Veränderungen viel Potenzial • Für das Szenario ist zu bedenken, dass Arbeit im Vergleich zum Material (noch) teuer ist. Wird sich dieses Verhältnis wirklich ändern? • Im Haus gibt es eine gute Durchmischung: Familien, WGs und Kleinhaushalte, multikulturelle Bewohnerschaft. Wir sind gut miteinander vernetzt. • Die PWG ist cool, aber könnte trotzdem mehr machen. 96 Fragenimpuls 2: • Welche baulich-räumlichen Veränderungen im Innen- und im Aussenraum wären in diesem Szenario für Sie wichtig? • Welche zusätzlichen Angebote wären in diesem Szenario wichtig? Stichworte: • Niederschwellige Zugänge für Austausch und Info wären wichtig. Soziale Netzwerke wie z. B. Tauschbörsen gewinnen an Bedeutung • Vernetzung wird immer wichtiger, auch über das Haus hinaus. • Mehr Mischnutzungen – also Handel und produzierendes Gewerbe im EG – wären wünschenswert. Professionalisierung bleibt und Freiwilligenarbeit immer noch eher gering. • Leerstehende Büro- und Dienstleistungsflächen werden unbürokratisch umgenutzt. 97 Stichworte zu Fragenimpuls 2 (Fortsetzung) • Die städtischen (Aussen-)Räume spielen zunehmend wichtige Rolle: Trottoirs, Nischen und Plätze, aber auch Dachflächen werden intensiver genutzt und teilweise umgedeutet. • Es gibt wieder «fliegende Händler» und «mobile Gewerbetreibende», die auch Reparaturen anbieten. • Städtische und lokale Mitnahme-Posten sind Teil des Stadtbildes. • Eigenproduktion in Stadt ist aber nicht romantisch. Sie fordert Koordination und Reglemente für Umnutzung und Umdeutung von Räumen, auch um die Qualität der Produkte zu gewährleisten. 98 99 100 100 Saumackerstrasse 2030: «Die Konsumentin als Produzentin» Jetzt, wo auch bei uns in Zürich-Altstetten vermehrt da produziert und repariert wird, wo man wohnt, spürt man auch, wie sich unser Quartier allmählich verändert. Es könnte am besten beschrieben werden mit einem engmaschigen Netz von Wohnen, Arbeiten und kulturellem Leben. Dies ist möglich, weil die meisten Produktionen nicht mehr störend für ein Wohnumfeld sind, sondern im Gegenteil. Dass die Rechnung für alle aufgeht, liegt vor allem daran, dass die Leute sich vermehrt dort aufhalten, wo produziert und konsumiert wird. So nimmt die Auslastung von Infrastruktur und Einrichtungen zu, was in unserem Quartier bessere Angebote ermöglicht, die auf die Bedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner zugeschnitten sind. Hierfür sind die Kooperationen zwischen unserem Quartier und den Landwirten im Umfeld unglaublich wertvoll. Als echte Wohnqualität empfinden wir auch den unkomplizierten Zugang zu Informationen zu laufenden Projekten und Angeboten im Quartier. Seit unsere Vermieterin mitmacht beim Netzwerk «produktive Badenerstrasse», dient unser Treppenhaus nicht nur als Verkehrsraum, sondern wird je länger je mehr auch zum Informationsraum: Auf dem Monitor kann man sich zu aktuellen Entwicklungen im Quartier informieren. Als Bewohnerin oder Bewohner kann man hier aber auch selbst aktiv werden und Dinge unkompliziert direkt kommunizieren. Wenn jemand das Gefühl hat, es bleibt nur bei der digitalen Kommunikation, liegt falsch. Der direkte persönliche Austausch 101 ist keineswegs zum Erliegen gekommen, sondern wurde eher angeregt. Immer mehr Netzwerke wie beispielsweise Tauschbörsen gewinnen an Bedeutung. Dass die «Zürcher Gemeinschaftszentren» ein Ladenlokal gemietet hat, stellt sich als wahrer Glücksfall dar. So finden hier regelmässige Tauschbörsen und Reparaturworkshops statt. Auch bei uns werden Büro- und Dienstleistungsflächen unbürokratisch umgenutzt. Ein Beispiel ist die junge Familie, die das ehemalige Architekturbüro im Ladenlokal an der Badenerstrasse übernommen hat, um hier Limonade und Apfelwein herzustellen. Hierfür mussten sie in eine spezifische Infrastruktur investieren, die sich längerfristig auszahlen muss. Kurzfristige Zwischennutzungen kommen also in den meisten Fällen nicht in Frage. Das heisst, dass zumindest für die nächsten Jahren die Erdgeschossnutzung festgelegt ist. Festgelegt heisst aber noch lange nicht für allemal festgefahren. So öffnet sich der kleine Fabrikladen mit einem Rampenverkauf Freitag abends zur Badenerstrasse und ist ein echter Anlaufpunkt für Gross und Klein. Damit verändert sich aber auch das Wohnen zunehmend. Klar, einerseits profitiert man von hochwertigen und nachhaltigen Produkten und Dienstleistungen und dies bei einer nach wie vor günstigen Miete. Andererseits wird es aber umso wichtiger, den Innenhof als Rückzugsort zu stärken, gerade weil das Leben auf dem Trottoir vor unserem Gebäude immer lauter wird. Wir haben uns zusammen mit der Verwaltung deshalb dazu entschieden, den Innenhof nicht als 102 produktive Fläche auszuweisen, sondern dem Rückzug der Bewohnerschaft zuzuordnen. Die Verwaltung ist mit neuen Fragestellungen konfrontiert: Denn mit der produktiven Stadt konkurrenzieren sich (erneut) Wohn- und Gewerbenutzung. Es sind langwierige und zähe Aushandlungsprozesse nötig. Wer darf was und wo produzieren? Welche flankierenden Massnahmen sind nötig? Ist es legitim Wohnnutzungen zugunsten produktiver Flächen aufzugeben, wie dies in einigen Fällen in unserem Quartier passiert ist? Wie gewährleistet man die Professionalisierung und die Qualität der Nahrungsmittelproduktion im städtischen Raum? Alles Fragen, mit denen sich nicht nur die Quartiermanager, sondern auch unsere Verwaltung auseinandersetzen muss. Alles halb so romantisch … 103 Szenarienwerkstatt Saumackerstrasse Szenario «Summer in the City» Fragenimpuls 1: • Was bedeutet das diskutierte Szenario für Sie/Ihren Lebensalltag/Ihre Siedlung/Ihr Quartier? • Ist Ihr gegenwärtiges Wohnumfeld/Ihr Wohnraum auf das diskutierte Szenario vorbereitet? Stichworte: • Diversität der Bewohnerschaft gross. Gute Durchmischung und Vernetzung: Familien, WGs und Kleinhaushalte, multikulturelle Bewohnerschaft. • Innenhof wird bereits heute für verschiedene Aktivitäten genutzt, als Spielplatz für Kinder, als Grillplatz im Sommer, als informeller Durchgang alternativ zum Strassenraum. • Parkplätze nehmen (noch) zu viel Raum ein. Es gibt kaum Grünraum und der Autoverkehr im Innenhof ist für die Kinder gefährlich. • Grundrisse sind gut – gerade auch hinsichtlich der Durchlüftung. • Aussenräume, die sich zum ruhigen und eher schattigen Hofraum orientieren, wären wünschenswert. 104 Fragenimpuls 2: • Welche baulich-räumlichen Veränderungen im Innen- und im Aussenraum wären in diesem Szenario für Sie wichtig? • Welche zusätzlichen Angebote wären in diesem Szenario wichtig? Stichworte: • Schattiger Hofbereich besser und vielfältiger nutzen: Mehr (Fassaden-) Begrünung erhöht Attraktivität. Hof wird zum wichtigen Kommunikationsraum. Ein Wasserspiel bietet Abkühlung an heissen Tagen. • Ateliers an der Badenerstrasse orientieren sich neu zum Hof. • Zusammenarbeit zwischen PWG, Migros und BVK würde attraktive Durchwegung ermöglichen und den Hof an den städtischen Aussenraum anbinden. • Hofseitige Laubengänge, die auch als Terrassen genutzt werden können stellen direkte Beziehung zum Hof her und bieten Raum für schattengebende vertikale Begrünung. 105 Stichworte zu Fragenimpuls 2 (Fortsetzung) • Vertikale Erschliessung auf der Fassadenaussenseite (Laubengang). Jetzige innenliegende Treppenhäuser gleichzeitig umnutzen als Raum für interne Wohnungserschliessungen (Maisonette), mehr Zimmer oder vertikale Lüftungskanäle. • Dachterrasse bietet zusätzlichen Aussenraum • Solaranlage: dezentrale Energieversorgung ermöglichen. • Öffentliche Strassenräume (Saumackerstrasse und Badenerstrasse) werden intensiver begrünt und tragen zur Kühlung bei und erhöhen Aufenthaltsqualität in heissen Sommertagen. • Gentrifizierung nimmt durch attraktivere Aussenräume und klimagerechten Stadtumbau ohne Gegensteuer zu. 106 107 108 Saumackerstrasse 2030: «Summer in the City» Bis zu 80 Tage haben wir jährlich Spitzenwerte von 45 Grad. Nachts fühlt sich das etwa so an, wie damals in der südfranzösischen Stadt Montelimar. Wie gut, dass sich die Verwaltung vor 5 Jahren dazu entschieden hat, die hofseitige Fassade um eine zusätzliche Laubengangschicht zu ergänzen. Nicht nur, dass jetzt kletternde Nutzpflanzen entlang der Konstruktion wachsen und ihre Früchte direkt vor meinem Schlafzimmerfenster heranreifen. Ich geniesse vor allem auch das schattenspendende Blattgrün. Dies hat wiederum einen wohltuenden Einfluss auf das Mikroklima im Innenhof, der sich jetzt – um ein Wasserspiel ergänzt – als Soforthilfe während des Sommers anbietet. Wohnqualität heisst für uns je länger desto mehr, schattige und lauschige Plätze während des heissen Sommers vor Wohnungstür. Überhaupt wird der Hof nun zum wichtigen «Aussenhaus», wo kommuniziert, gegrillt und gespielt wird. Es wird aber auch laut. Wie gut nur, dass unsere Wohnungen zweiseitig orientiert sind. Sie werden sich jetzt fragen: Was ist aus den Treppenhäusern geworden, da ja ein Laubengang die vertikale Erschliessung neu sicherstellt? Nun, hier liess sich die Verwaltung etwas ganz Spezielles einfallen. Die ehemaligen Treppenhäuser dienen neu als grosse Lüftungskamine, welche die heisse Luft aus allen Wohnungen abführt. Genau, werden sie jetzt sagen, wie bei den alten Ägyptern. So neu ist die Sache nicht, aber effizient! 109 Es dürfte Ihnen aufgefallen sein, dass unser Wohngebäude auch nach oben gewachsen ist. Die Dachterrasse hat sich jedoch während des Betriebs nicht bewährt. Es war der grosse Wunsch der Bewohnerschaft, das Dach umzukrempeln, um Platz für eine Dachterrasse und eine Solaranlage zu schaffen. Die sonnenhungrige Solaranlage kommt voll auf ihre Kosten, die schattenhungrigen Bewohner*innen eher nicht. Aber «für die Katz» war die Dachterrasse nicht. So arbeitet unsere Verwaltung mit dem städtischen Gartenbauamt zusammen und stellt die Dachterrasse zur Verfügung für das Testen hitze- und starkregenresistenter Dachbegrünungen. Auch sonst arbeitet unsere Verwaltung mit anderen Akteurinnen und Akteuren zusammen, um das Hitzeproblem in den Griff zu bekommen respektive die Aufenthaltsqualiät auch über die eigenen Wände hinaus erträglich zu machen. Ein Beispiel ist das Projekt «Pocket-Trails»: Schattige Fuss- und Radwege verbinden die einzelnen Höfe und Aussenräume parzellenübergreifend miteinander. Kurz und gut, ein lauschiges Wegenetz jenseits asphaltierter Hauptstrassen. Ein verbreitetes Problem zeigt sich leider auch hier: «Green Gentrification». Die attraktiven Begrünungsmassnahmen wie beispielsweise an der Badener- und Saumackerstrasse führen freilich dazu, dass nun alle auf der «Schattenseite des Lebens» Wohnraum suchen. Dies spiegelt sich bereits in den Immobilienpreisen. Den Rest der Geschichte kennen wir. Hier bedarf es unbedingt einer gut durchdachten Gegensteuer, damit klima- 110 gerechte Stadtplanung nicht zu neuen sozialen Ungerechtigkeiten und Spannungen auf dem Wohnungsmarkt führt. Es gibt hier also viele offene Fragen und Zielkonflikte, auf die Antworten gefunden werden müssen. Als Mieterschaft von relativ günstigen Wohnungen ist der grüne Umbau der Stadt zweischneidig und es nimmt uns wunder, wie die PWG sich zu den laufenden Entwicklungen im Quartier positioniert. 111 112 ARBEITSPAKET 04 Workshop Verwaltungen 113 Workshop Verwaltungen Die Ergebnisse und Interviews aus den Szenarienwerkstätten wurden dokumentiert und im Anschluss mit den Verwaltungen der drei Fallstudien in einem gemeinsamen Online-Workshop reflektiert. Das Augenmerk des Workshops lag dabei auf der Frage, wie die verschiedenen Auffassungen von nachhaltiger Lebensweise und Wohnqualität aus Sicht der Nutzenden mit den organisatorischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen seitens der Verwaltungen und Eigentümerschaften zusammengebracht werden können. Hierzu erhielten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Workshops im Vorfeld die dokumentierten Ergebnisse der Szenarienwerkstätten – als tabellarische Zusammenfassung und ergänzend als (Weiter-)Erzählung der sieben Grobszenarien. Diese bildeten die Grundlage für die Rückmeldungen und Stellungnahmen der Verwaltungen, die in sogenannten Breakoutsessions im Workshop vorbereitet wurden. 114 Um die Rückmeldungen und die anschliessende Diskussion zu strukturieren, bearbeiteten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit Hilfe der digitalen Pinnwand «Padlet» die folgenden Leitfragen in den Breakoutsessions, die dann im Plenum gemeinsam diskutiert wurden: • Was bedeutet dieses Szenario für Ihre Organisation/Baugenossenschaft/Firma? • Welche Auswirkungen hätte das Szenario auf Verwaltung, Betriebskonzept und Unterhalt ihrer Siedlung? • Risiken und Gefahren? Gelegenheiten und Chancen? • Wenn dieses Szenario Wirklichkeit werden sollte, inwieweit könnte Ihre Organisation dazu beigetragen haben? Die Ergebnisse der Diskussionen hat das Forschungsteam dokumentiert mit dem Ziel aufzuzeigen, wie und mit welchen Stellschrauben seitens der Verwaltungen reagiert werden könnte, um vorhandene Potenziale nachhaltiger Lebensweise und Wohnqualität in den Siedlungen vor Ort zu unterstützen. Dabei wurden mögliche Handlungsfelder in den Bereichen «Betriebskonzept und Hausordnung», «Vermietung und Verwaltung» und «Haus und Quartier» zusammengefasst. Diese wurden dann in Bezug gesetzt zu den aus Sicht der Bewohnenden wichtigsten Aspekten eines zukunftsfähigen, nachhaltigen und qualitätvollen Wohnens. Entstanden ist das Umdenkarium, das als Diskussionsgrundlage und Orientierungshilfe dienen kann, wie in Zeiten gesellschaftlicher Veränderungen und Ressourcenknappheit nachhaltige Wohnqualitäten ganz konkret in der Alltagsrealität angesetzt werden könnten. 115 Sicht der Verwaltung Fuchsloch Szenario «Die Konsumentin als Produzentin» Fragenimpuls: • Was bedeutet dieses Szenario für Ihre Organisation/Baugenossenschaft/Firma? • Welche Auswirkungen hätte das Szenario auf Verwaltung, Betriebskonzept und Unterhalt Ihrer Siedlung? Stichworte: • Bedeutender Mehraufwand betreffend Kosten, Investition und Arbeit, da die Eigenverantwortung aus diversen Erfahrungen höchstens kurzfristig funktioniert. • Umsetzung von Bring- und Abholtagen funktioniert nur, wenn die Verwaltung/Eigentümerschaft alles organisiert und auf eigene Kosten entsorgt. • Wenn wir an die meisten unserer Mieterkühlschränke denken, dann werden wir keinesfalls ein zentrales Kühlhaus aufstellen. • Seewasserwärme nutzen? Wie soll die den Berg hoch? 116 • Die Velounterstände werden gut genutzt. Auch um alte Gegenstände, auch Velos gratis zu entsorgen • Mieter-Eigentümer-Verwaltungs-Versammlungen hatten wir die ersten paar Jahre. Aufgrund auftretender Unzufriedenheiten bis zu Streitigkeiten inkl. Beleidigungen an Eigentümerschaft/Verwaltung (weil die Wünsche teilweise utopisch, baugesetzwidrig und bei denjenigen, die umgesetzt wurden, meist nach kurzer Zeit das zugesicherte Mieterengagement ausgeblieben ist), wurden diese abgeschafft und auch nicht mehr eingeführt. • Wer hegt, pflegt und putzt die Quartiersau? 117 Sicht der Verwaltung Fuchsloch Szenario «Mobilität à la Carte» Fragenimpuls: • Was bedeutet dieses Szenario für Ihre Organisation/Baugenossenschaft/Firma? • Welche Auswirkungen hätte das Szenario auf Verwaltung, Betriebskonzept und Unterhalt Ihrer Siedlung? Stichworte: • Photovoltaik auf den Dächern, eventuell auch Fassade ist in Abklärung. • Unser Mobility-Auto in der Liegenschaft (Eigentümerschaft hatte die Einkaufskosten übernommen) wurde nahezu kaum genutzt und der Standort durch die Mobility aufgelöst • Private Zufahrt ist stark eingeschränkt. Funktioniert nur so gut, wie sich die Mieterschaft inklusive deren Besucher daran hält (FFZ-Zufahrt muss nämlich jederzeit gewährleistet sein.) Mobile Poller/Schranken wurden mehrfach durch Mieter abgetrennt. 118 • Busverbindung Mo – Fr tagsüber von 06.00 Uhr – 21.45 Uhr im Viertel-Stunden-Takt vorhanden. • Tiefgarage an E-Mobilität anzupassen ist zurzeit nur mit sehr hohen Kosten möglich. 119 Sicht der Verwaltung Fuchsloch Szenario «Summer in the City» Fragenimpuls: • Was bedeutet dieses Szenario für Ihre Organisation/Baugenossenschaft/Firma? • Welche Auswirkungen hätte das Szenario auf Verwaltung, Betriebskonzept und Unterhalt Ihrer Siedlung? Stichworte: • Kühlung über Erdsonde – an dieser Lage unmöglich, weil nicht erlaubt! • Fassadenbegrünung bei unserer aktuellen Eternitplatten nicht möglich. Zudem gibt es viele Mieter, die das Ungeziefer scheuen. • Energetische Sanierung (in Bearbeitung/Planung ist der Heizersatz) • Nutzung der Seewasserwärme nicht möglich, da nicht erschlossen. • Sämtliches Regenwasser versickert in Retensionsbecken und Natur. • Dachbegrünung ist im Mindestmass vorhanden. 120 • Spielplätze: Neubeschattung wird umgesetzt • Grössere Balkone – momentan nicht umsetzbar • Nachhaltige Heizung in Planung 121 Sicht der Verwaltung Hinterkappelen Szenario «Die Konsumentin als Produzentin» Fragenimpuls: • Was bedeutet dieses Szenario für Ihre Organisation/Baugenossenschaft/Firma? • Welche Auswirkungen hätte das Szenario auf Verwaltung, Betriebskonzept und Unterhalt Ihrer Siedlung? Stichworte: • Aufhebung Wohnung im EG für gemeinschaftliche Räume bedeutet Rückgang Mieterträge • Allenfalls könnte die Eingangssituation angepasst werden • Ertragsausfall kompensieren mit Buchung der gemeinschaftlichen Räume • Ausbaukosten • Aufwand Facility Manager • Regelung Zuständigkeiten  Siedlungscoach • Erstellung Betriebskonzept 122 Risiko: • wird nicht genutzt • Kosten/Nutzen • interne Konflikte (Nutzung/Hinterlassung/Lärm) Chancen: • • • • • • Entwicklung einer Siedlungsidentität höhere Mieterzufriedenheit Verminderung Fluktuation, da Mehrwert erschaffen Vertrauensbildung resp. Bindung der Mietenden Generationenverbindendes Wohnen Umgang mit Littering  soziale Nachhaltigkeit  Partizipative Mitentwicklung von Nutzungsmöglichkeiten (Raumbedürfnisse) 123 Sicht der Verwaltung Hinterkappelen Szenario «Summer in the City» Fragenimpuls: • Was bedeutet dieses Szenario für Ihre Organisation/Baugenossenschaft/Firma? • Welche Auswirkungen hätte das Szenario auf Verwaltung, Betriebskonzept und Unterhalt Ihrer Siedlung? Stichworte: Auswirkung: • Investitionskosten für Solaranlage und Heizungsersatz  bereits in Prüfung • Investitionskosten für gedeckte Aussenräume • Aufwand Facility Manager • Regelung Zuständigkeiten (wer ist verantwortlich) • Erstellung Betriebskonzept Risiko: • wird nicht genutzt • Kosten/Nutzen • interne Konflikte 124 Chancen: • Soziale Nachhaltigkeit • ökologische Nachhaltigkeit • Entwicklung einer Siedlungsidentität • höhere Mieterzufriedenheit • Verminderung Fluktuation • Umgang mit Littering 125 Sicht der Verwaltung Saumackerstrasse Szenario «Die Konsumentin als Produzentin» Fragenimpuls: • Was bedeutet dieses Szenario für Ihre Organisation/Baugenossenschaft/Firma? • Welche Auswirkungen hätte das Szenario auf Verwaltung, Betriebskonzept und Unterhalt Ihrer Siedlung? Stichworte: • Gewerbe statt Büro/Laden  Lärm, Lagerfläche, Zufahrt • Gewerbe statt Restaurant  fehlender Treffpunkt, Vernetzung, Verpflegung, Veranstaltungen, keine Abendbelebung, Aussennutzung, weniger Investitions-/Unterhaltskosten Eigentümer • Frage: Durchmischung Haus gut, welchen Einfluss hat EG-Nutzung, wie wird Vernetzung besser? • Nutzung Dachfläche unklar (Giebeldach) 126 Sicht der Verwaltung Saumackerstrasse Szenario «Summer in the City» Fragenimpuls: • Was bedeutet dieses Szenario für Ihre Organisation/Baugenossenschaft/Firma? • Welche Auswirkungen hätte das Szenario auf Verwaltung, Betriebskonzept und Unterhalt Ihrer Siedlung? Stichworte: • Zusätzliche Kontrollen, allenfalls verbunden mit Reinigungsarbeiten • Mehrkosten für Gartenpflege • zeitliche Einschränkungen bei der Nutzung, falls Lärmimmissionen • betr. schattiger Hof und Wasserspiel: 2017/2018 neu gestaltet mit Baum, Büschen. Erschwernis: Tiefgarage mit Rampe und Zufahrt • Beim Wasserspiel fragt es sich, ob das in trockenem Sommer (wie dieses Jahr) überhaupt zu vertreten ist • Atelier Richtung Hof: Wie lösen? Nutzungskonflikt mit Wohnungsmieter (ruhiger Hof vs. Hauptstrasse) 127 Stichworte (Fortsetzung): • Zusätzliche Kontrollen, allenfalls verbunden mit Reinigungsarbeiten • Mehrkosten für Gartenpflege • zeitliche Einschränkungen bei der Nutzung, falls Lärmimmissionen • betr. schattiger Hof und Wasserspiel: 2017/18 neu gestaltet mit Baum, Büschen. Erschwernis: Tiefgarage mit Rampe und Zufahrt • Beim Wasserspiel fragt es sich, ob das in trockenem Sommer (wie dieses Jahr) überhaupt zu vertreten ist • Atelier Richtung Hof: Wie lösen? Nutzungskonflikt mit Wohnungsmieter (ruhiger Hof vs. Hauptstrasse) • Durchwegung mit Nachbarparzellen: Reinigung, unerwünschte Personen, kaum Wegverkürzung, Kostenteiler? 128 • Frage, wie und ob Personen, die nicht Mietendende (bzw. deren Gäste) sind, weggewiesen werden sollen? • Treppenhäuser umnutzen??? Wie??? • Dachterrasse – wie realisieren? Unterhalt, Betrieb, Reinigung, Kontrolle • Solaranlage – sinnvoll, Fläche wegen Ausrichtung beschränkt • öffentl. Strassenraum stärker begrünen – Platzverhältnisse prüfen • Gentrifizierung: abhängig vom Vermieter 129 130 ARBEITSPAKET 05 Auf der Suche nach neuen Wohnqualitäten: ein «Umdenkarium». 131 «Umdenkarium» «Die Logik der Erneuerung und Entwicklung blickt allzu oft über das Hier und Jetzt hinaus und sieht nur das, was sein könnte. Die eigentliche Kunst besteht darin, sowohl das Bestehende als auch das Mögliche zu sehen und sie beide genau, klar und mit Sorgfalt zu betrachten.»1 Wie sollten wir angesichts ökologischer und sozialer Herausforderungen wohnen? Und was sind dabei mögliche Gestaltungsspielräume? Diese Fragen bildeten die Basis für die Auseinandersetzung mit den Bewohnerschaften und den Verwaltungen. Dabei ging es ganz gezielt darum, die grossen Themen des Wandels auf den Massstab der Alltagsrealität herunterzubrechen und konkrete Handlungsfelder abzustecken. Während der Untersuchung stellte sich zunehmend heraus, dass die Betriebsphase die eigentliche Schlüsselphase ist. Wie bereits Lucius Burckhardt in seiner Hypothese zur Kontraproduktivität formuliert hat, bewirkt «Jeder neue Entwurf (…) im Gebrauch Änderungen, und diese Änderungen ziehen die Notwendigkeit neuer Entwürfe nach sich.»2 In diesem Sinne entspricht Wohnqualität weniger einem idealen Endzustand. Vielmehr entsteht Wohnqualität durch vielfältige Austausch- und Interaktionsprozesse mit der Wohnumgebung und mit dem Wohnumfeld. Die Suche nach «neuen» Wohnqualitäten – so der Untertitel der vorliegenden Studie – ist in diesem Sinne nie abgeschlossen und gerade darin, nämlich in diesem Suchen, liegt eine spezifische Qualität. Voraussetzung hierfür sind baulich-räumliche sowie organisatorische Rahmenbedingungen, die ein solches «Suchen» nicht als Störfaktor, sondern als ganz grundsätzliches Bedürfnis unterstützen. Kurz und gut: Solange die Wohnenden suchen, identifizieren sie sich mit dem Wohnumfeld und möchten darin etwas verändern und bewirken. Das Gegenteil wäre Resignation oder eine vermeintliche Zufriedenheit mit der Wohnsituation.3 132 Gerade in Zeiten grosser Unsicherheiten steht Wohnqualität in direktem Zusammenhang mit dem Bedürfnis nach positiver Veränderung und Selbstwirksamkeit. Die Qualität und Anpassbarkeit des gebauten Lebensraums an veränderte Bedingungen und die jeweiligen Organisations- und Entscheidungsstrukturen bedingen sich also unmittelbar. So drängt sich gerade bei der Schaffung neuer Wohnqualitäten im Bestand neben der baulich räumlichen Frage ein Re-Design traditioneller Rollen von Mieterschaft, Verwaltung und Eigentümerschaft auf. Gerade auch die moderierende Rolle bei anstehenden Veränderungen während der Betriebsphase durch Siedlungscoaches oder soziokulturellen Animatorinnen dürfte in Zukunft noch stärker an Bedeutung gewinnen. Planung und Verwaltung gehen dabei zunehmend taktisch vor, indem während der Betriebsphase die Spielregeln und Spielräume immer wieder von Neuem definiert werden. Im Idealfall geschieht dies in Absprache mit der Bewohnerschaft und mit der Unterstützung einer professionellen Moderation. Drei Anregungen zum Umdenken: «Von den eigenen vier Wänden zum Habitat» soll dazu anregen, das Beziehungsspektrum über die Wohnung hinaus zu erweitern. Während der Szenarienworkshops wurde immer wieder die Wichtigkeit parzellenübergreifender Gestaltungs- und Aushandlungsprozesse betont. Es geht hier also nicht bloss um die Versorgung mit Infrastrukturleistungen im Quartier, sondern um das Erfahren von Selbstwirksamkeit und Mitverantwortung im Wohnumfeld angesichts ökologischer und gesellschaftlicher Veränderungen. Bei der Selbstwirksamkeit setzt im Besonderen die zweite Anregung an: Vom «Hier-wohne-ich» zum «Hier-gestalte-ich-mit» plädiert für einen Rollenwechsel von der blossen Mietkonsumentenschaft hin zu einer Quartierbewohnerschaft, die ihre eigene Wirksamkeit in ihrem Lebensumfeld wahrnimmt. Dass Quartier und Wohnumfeld solche Erfahrungen unterstützen, bedingt eine Gestaltbarkeit und Formbarkeit. Hierfür ist nicht zuletzt auch ein gewisser Kulturwandel auf Seiten der Verwaltungen, Behörden und der Bewohnerschaft nötig. In diese Richtung zielt die dritte Anregung: «Vom Immer-so-weiter zum Immer-wieder-neu» ist Anregung und Fazit zugleich. 133 134 © Jan Rothuizen Umdenkanregung 1: Von den eigenen vier Wänden zum Habitat! «Wir sind nicht isolierte Punkte in einem neutralen Raum, sondern nehmen Plätze und Orte ein, folgen Orientierungen und erfahren Situationen in einem durch eine Vielzahl von Bedeutungslinien durchzogenen Beziehungsgefüge, dem wir eben dadurch zugehören, dass wir es bewohnen.»4 Die Qualität von Austausch- und Interaktionsprozessen der Bewohnenden mit ihrer Wohnumwelt bestimmen die emotionale Verknüpfung mit dem eigenen Umfeld und somit auch die Wohnqualität ganz wesentlich mit. Die grosse Bedeutung von Kooperation und Vernetzung mit dem Quartier bringt auch die Philosophin Ute Guzzoni auf den Punkt, wenn sie feststellt, dass wir eben keine «isolierten Punkte in einem neutralen Raum» seien. An den Szenarienwerkstätten betonten die Bewohnenden sehr oft die Bedeutung von gelingenden Austausch- und Interaktionsprozessen mit der Wohnumwelt und mit dem Umfeld als Basis für weitere Veränderungsprozesse. Die Bedeutung des Aussenraumes als kollektiver Aneignungsraum liegt auf der Hand. Und doch: In der Praxis ist die Verwaltung in der Regel die einzige verantwortliche Instanz, resp. weitere beauftragte Hauswartungen oder Planende. Berücksichtigt man, dass das Wohnen im Grunde aus nichts anderem als auch Aneignungsprozessen besteht, wird die emotionale Verknüpfung und Ortsverbundenheit mit dem Wohnumfeld damit erschwert. Diese ist wiederum die Voraussetzung dafür, dass Bewohnende ein Verantwortungsgefühl für ihr Wohnumfeld entwickeln und Veränderungen aktiv mitgestalten. Im Szenario «Summer in the City» wurde in allen drei Szenarienwerkstätten intensiv über die zunehmende Bedeutung des Aussenraums als parzellenübergreifender Aktionsraum diskutiert, in welchem für das gesamte Quartier Massnahmen zur Verbesserung des Hitzeproblems umgesetzt werden können. Es scheint also eine Art kritische Masse zu brauchen, damit Veränderungen durch lokale Akteurinnen und Akteure umgesetzt oder initiiert werden können. Auch in den Szenarien «Mobilität à la Carte» und «Von der Konsumentin zur Produzentin» plädierten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Szenarienwerkstätten dafür, vermehrt mit unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren im Quartier zu kooperieren. Dies, um Nutzungsangebote im 135 Quartier besser mit dem nahen Wohnumfeld zu verknüpfen, aber auch um lokales Wissen und Angebote insgesamt besser nutzbar zu machen. Alles Massnahmen, die durch Vernetzung und Dezentralisierung den Alltag wieder lokaler verankern. Somit wird ein Beitrag an einen ressourcenschonenden Umgang geleistet und gleichzeitig die Wohnqualität im Quartier verbessert. Wie wichtig die gelingende Vernetzung über die eigene Wohnung für eine hohe Wohnzufriedenheit unter zukünftig veränderten Bedingungen ist, zeigt letztlich auch die Diskussion des Szenarios «Die Konsumentin als Produzentin». Gerade wenn kollektive Verhaltensänderungen notwendig werden, sind gemeinsam gemachte Lern- und Erfahrungsprozesse zunehmend bedeutungsvoll. Indem der Austausch von Wissen, Kompetenzen und Erfahrungen rund um gemeinsame Probleme und Anliegen gefördert wird, wird das bestehende Potenzial der Bewohnerschaft, aber auch der Verwaltungen aktiviert. Neue Perspektiven und Denkprozesse können durch diese Aktivierung von Ressourcen angeregt und kreative Netzwerke unterstützt werden. Die zunehmenden Ansprüche an Vernetzung und Aneignungsmöglichkeiten über die eigenen Wände hinaus sind mit ganz konkreten Fragestellungen verbunden. Allen voran: Welche Anpassungen in Gestalt und Betrieb sind notwendig, um verschiedene Nutzungsmöglichkeiten im Aussenraum zu ermöglichen und dem Bedürfnis nach einer Erweiterung des Wohnalltags ins Wohnumfeld entgegen zukommen? Wie wird man den unterschiedlichen Aktivitäts- und Ruhebedürfnissen der verschiedenen Akteurinnen und Akteure gerecht? Hier sind nicht nur baulich-räumliche Massnahmen gefragt, wie zum Beispiel die Einführung eines Info-Bretts im Treppenhaus, der Ausbau von Mitnahmeposten im Quartier oder grössere Massnahmen wie das Anbringen einer zusätzlichen Fassadenschicht, sondern vielmehr auch betriebliche Reglemente oder organisatorische Instrumente. Diese reichen von einfachsten Vorschlägen, wie beispielsweise Tauschbörsen im nahen Umfeld, Repair-Cafés, Mittagstische, 136 Handreichungen im Alltag, also Massnahmen, um das Wohnen für neue Synergien zwischen Wohnung und Wohnumfeld empfänglich zu machen. Gleichzeitig stellen sie eine Herausforderung an den Betrieb und an die Verwaltungen dar. Gilt es doch, Verantwortlichkeiten jenseits der «eigenen vier Wände» neu zu denken und zu moderieren, wobei gerade auch der Austausch mit angrenzenden Nachbarschaften und Gemeindevertreter*innen immer wichtiger wird und auf geeignete Gefässe angewiesen ist. Auch Eigentümerschaften und Verwaltungen werden also zunehmend über «isolierte Problemlösungen» hinausdenken müssen, indem sie sich fragen: Was ist bereits da? Welche Angebote bestehen, respektive fehlen? Welche Qualität haben diese Angebote und wie kann die eigene Siedlung einen ergänzenden Beitrag zum Quartier leisten? Inwiefern kann die Siedlung von der bestehenden Infrastruktur profitieren? Kurz und gut: Die sorgfältige Analyse des Vorgefundenen und die Vernetzung mit verschiedensten Wissensträgern im Umfeld – wie beispielsweise Quartiersvereinen und weiteren bestehenden Netzwerken – erweitern den Verantwortungs- und Tätigkeitsbereich von Eigentümerschaften und Verwaltungen. 137 138 © Jan Rothuizen Umdenkanregung 2: Vom Hier-wohne-ich zum Hier-gestalte-ich! «Damit die Welt erkennbar wird, muss sie zu einem Laboratorium werden.»5 Während der Szenarienwerkstätten wurde von den Bewohnenden immer wieder die folgende Fragen in den Raum gestellt: «Wo können wir unsere Anliegen platzieren und wie können wir etwas bewirken?» Gerade in Zeiten grosser Veränderungen scheint die Förderung von Selbstwirksamkeit durch baulich-räumliche und/oder organisatorische Massnahmen eine wichtige Voraussetzung für ein «resonantes» Wohnen zu sein. Resonanz beschreibt Hartmut Rosa als «eine Art und Weise des Verbundenseins mit der Welt, bei der tatsächlich in uns so was zu schwingen beginnt. (…) wo wir auch das Gefühl haben, wir können da draussen sozusagen Klänge erzeugen, also Dinge in Schwingung bringen.»6 Das Bedürfnis, etwas zu bewirken und das Bedürfnis nach Verbundenheit und Verwurzelung gehen also Hand in Hand. Dabei spielt gerade das Wohnumfeld, also der Raum «vor den eigenen vier Wänden» eine wichtige Rolle für die Wohnqualität. Identifikation mit dem Wohnumfeld findet also dann statt, wenn dieses Umfeld auf meine Anliegen und Bedürfnisse «antwortet». Fehlen Möglichkeiten zur Selbstbestimmung und geben die Verwaltung als auch die Wohnbaustruktur keine Antwort auf mein Selbstbestimmungsbedürfnis, so kann das zu Resignation führen. Damit ein Wohnumfeld zu einem Resonanzraum werden kann, sind Veränderungsund Gestaltpotenziale auf baulich-räumlicher, organisatorischer oder programmatischer Ebene gefragt. In den Szenarienwerkstätten hat sich für alle drei Szenarien deutlich herausgestellt, dass die Aussicht auf Verbesserung der Wohnsituation in der Siedlung und im Quartier an einen gelungenen Austausch mit der Verwaltung oder Eigentümerschaft geknüpft ist. Eine gestörte oder unzureichende Kommunikation mit der Verwaltung resultiert in ein Gefühl der Hilflosigkeit und einem abnehmenden Verantwortungsgefühl für die Wohnumgebung. Ausgehend von der Erkenntnis, dass in allen drei 139 Szenarien ein erhöhter Grad an Selbstwirksamkeit und Mitbestimmung Voraussetzung zur Schaffung neuer Wohnqualitäten ist, stellen sich den Verwaltungen die folgenden Fragen: Wie können also Bewohnende auch im Mietwohnungsbau ihre Ideen zum Gebrauch der Innen- und Aussenräume ihrer Siedlung einbringen? Und welche Beteiligungsstrukturen existieren, die Bewohnenden als Mitgestaltende ihrer eigenen Lebensräume anzuerkennen? Gerade in den Diskussionen zum Szenario «Summer in the City» zeigte sich, dass die Veränderungen, die mit dem Klimawandel und seinen Folgen verbunden sind, die Bewohnenden stark beschäftigen. Es zeigte sich, dass die Bewohnenden bereits Lösungs- und Handlungsansätze überlegt hatten, um in ihrem Alltag konkret auf eine Verbesserung der Situation hinzuwirken. Jedoch ist ihnen unklar, wo sie diese Ideen platzieren können und ob diese Anliegen überhaupt Gehör finden. Aus der Architekturpsychologie ist bekannt, dass in jedem Menschen Handlungs- und Bewegungsbedürfnisse auf der einen Seite und Entspannungs- und Ruhebedürfnisse auf der anderen Seite existieren. Interessant ist zu beobachten, dass seit der Industrialisierung die Aktivitätsbedürfnisse immer weniger dem Wohnumfeld zugeschrieben wurden. Bis heute überwiegt die Auffassung, dass die Wohnung einzig und allein sogenannte Passivitätsbedürfnisse zu erfüllen habe. Das Bedürfnis nach Aktivität und Aktion steht grundsätzlich für das Bedürfnis nach geistigen und körperlichen Tätigkeiten unterschiedlichster Art. Je nach Lebensphase sind diese beiden Bedürfnisse stark vorhanden. Indessen zeigte sich in allen Szenarienwerkstätten, dass unabhängig vom Alter und der Art der Erwerbstätigkeit vermehrt Möglichkeiten gesucht werden, aktiv zu sein. Spätestens im Szenario «Die Konsumentin als Produzentin» wurde die Bedeutung von Räumen und Angeboten, die über die reine Wohnnutzung hinausgehen, vertieft diskutiert. Oft gingen solche Bedürfnisse mit dem Wunsch nach körperlicher Betätigung und Naturverbundenheit einher. Hierzu gehörten verschiedene Formen des Gärtnerns. Immer wieder wurden aber auch Tätigkeiten genannt, die in der Wohnung keinen Platz 140 haben, wie das Reparieren von Gegenständen, das Werken und Basteln bis hin zu kollektiven Ereignissen, wie Mittagstischen, Angeboten für Spiel- und Freizeit. Auch die Nähe professioneller Erwerbsarbeit, sei dies Gewerbe oder Dienstleistung, wurden als Beitrag an eine Stadt der kurzen Wege und einer Kultur des Reparierens und Pflegens geschätzt. Die Umdeutung und Umnutzung bestehender Verkehrsräume, wie Tiefgaragen, Innenhöfe, Strassenräume und Trottoirs bewerteten die Teilnehmenden im Szenario «Mobilität à la Carte» unterschiedlich. Einerseits wird die Chance erkannt, die Aufenthaltsqualität im Quartier zu verbessern, andererseits weisen die Bewohner auf mögliche Gentrifizierungsgefahren hin, die auch beim klimagerechten Stadtumbau nicht haltmachen werden. In diesem Sinne gälte es Nachhaltigkeit umfassend zu verstehen und nicht nur Teilaspekte zu fokussieren. Die Verwaltungen sind sich dieser Verantwortung auch bewusst. Es dürfe nicht sein, dass der Umbau in eine klimagerechte und nutzungsdurchmischte Stadt der kurzen Wege im Widerspruch zu Bezahlbarkeit und sozialer Nachhaltigkeit steht. 141 142 © Jan Rothuizen Umdenkanregung 3: Vom Immer-so-weiter zum Immer-wieder-neu! «Unsichtbares Design. Damit ist heute gemeint: das konventionelle Design, das seine Sozialfunktion selber nicht bemerkt. Damit könnte aber auch gemeint sein: ein Design von morgen, das unsichtbare Gesamtsysteme, bestehend aus Objekten und zwischenmenschlichen Beziehungen, bewusst zu berücksichtigen imstande ist.»7 An allen Szenarienwerkstätten und Workshops wurde von den Bewohnerschaften und den Verwaltungen die Notwendigkeit zur Verhaltensänderung betont. Ein Weiter-so wurde angesichts der ökologischen und gesellschaftlichen Veränderungen eher kritisch betrachtet. Dass Verhaltensänderungen mitgetragen werden, ist daran geknüpft, dass die Sinnhaftigkeit und die positiven Konsequenzen im konkreten Wohnumfeld und im Alltag spürbar werden. Dies bedingt positive Erfahrungen, die wiederum dadurch ermöglicht werden können, dass das Wohnumfeld solche Verhaltensänderungen reflektiert. Kurz gesagt: Jede Verhaltensänderung wird nach einer gewissen Zeit als wirkungslos wahrgenommen, wenn das Wohnumfeld nicht darauf reagiert, sei dies baulichräumlich oder organisatorisch. Verhaltensänderungen werden hingegen dann als sinnvoll und als Mehrwert betrachtet, wenn das Wohnumfeld darauf positiv reagiert und die eigene Wirksamkeit auf eine positive Weise konkret erfahrbar wird. Hierfür braucht es baulich-räumliche Strukturen, die eine solche Verhaltensänderung «beantworten» – also Innen- und Aussenräume, die umgedeutet, umgeformt oder an veränderte Bedingungen angepasst werden können. Wie könnte das Leben und Wohnen in unserer Siedlung sein? Diese Frage weist darauf hin, wie bedeutungsvoll Strukturen sind, die Raum für Reaktion, Improvisation und Spekulation geben. Dabei handelt es sich eben nicht nur um bauliche Strukturen, sondern vielmehr auch um die scheinbar nicht sichtbaren organisatorischen und betrieblichen Systeme, wie Organisations- und Nutzungskonzepte, Hausordnungen und Entscheidungsstrukturen, die gerade in der Betriebsphase eine entschei- 143 dende gestaltende Rolle spielen. Wie können Anliegen der Bewohnerschaft platziert werden? Wie sind die Entscheidungsprozesse und Verantwortlichkeiten geregelt? Wer spielt welche Rolle im Gestaltungs- und Transformationsprozess? Fragen, die die These von der Betriebsphase als Gestaltungsphase unterstützen und zugleich darlegen, dass Eigentümerschaften, Verwaltungen und Bewohnerschaften im moderierten Zusammenspiel «ihren Wandel» gestalten können. Gerade den Verwaltungen kommt in diesem System eine wichtige Rolle zu, um ein fein ausbalanciertes System von Ressourcen, erweitertem Netzwerk und Spielräumen zu gestalten und moderieren zu lassen. Ganz im Sinne von Lucius Burckhardt wäre also ein verändertes Gestaltungs- oder Designverständnis hilfreich, dass das «unsichtbare Gesamtsystem, bestehend aus Objekten und zwischenmenschlichen Beziehungen, bewusst zu berücksichtigen imstande ist». 144 Endnoten 1 2 3 4 5 6 7 Dall, A. (2020). Das Problem mit der Zukunft. In O. Bahner, M.B. & L. Holzberg (Hrsg.), Sorge um den Bestand. Zehn Strategien für die Architektur. (S. 37 – 47). Jovis. Burckhardt, L. (2004). Wer plant die Planung? Architektur, Politik und Mensch, Hrsg. Jesko Fezer u. Martin Schmitz, Berlin S.194. Martin Schmitz Verlag. Aus der Architekturpsychologie ist bekannt, dass Bewohnende, welche ihre suboptimale Wohnsituation auf absehbare Zeit nicht ändern können, entweder resignieren oder sich mit der Situation arrangieren, indem sie ihre Erwartungen heruntersetzen. In Umfragen, äussern sich diese Personen paradoxerweise als Zufrieden mit ihrer Wohnsituation, wes halb man auch vom «Zufriedenheitsparadoxon» spricht. Guzzoni, U. (2017). Wohnen und Wandern. Freiburg, München: Karl Alber. S 119 Latour, Bruno: «Zirkulierende Referenz» Archplus 238. S. 22 Hartmut Rosa im Gespräch mit Katrin Heise (05.03.2016) https://www.deutschlandfunkkultur.de/soziologe-rosa-ueber-sein-buch-resonanz-ent schleunigung-ist-100.html (9.12.22) Lucius Burckhardt: Wer plant die Planung? Architektur, Politik und Mensch, hrsg. von Jesko Fezer u. Martin Schmitz, Berlin 2004, S.199 Martin Schmitz Verlag. 145 Handlungsanregungen Fallbeispiele Betriebskonzept und Hausordnung VON DEN EIGENEN VIER WÄNDEN ZUM HABITAT Fuchsloch, Oberwil Siedlungsübergreifende Nutzungsangebote wie etwa Tauschbörsen, Repair-Café oder mobile Werkstoffsammelstellen, Informationskanäle schaffen und pflegen. Kappelenring, Hinterkappelen Nutzungskonzept für den Aussenraum in Zusammenarbeit mit den Nachbarseigentümer*innen und den Bewohnerschaften der einzelnen Liegenschaften entwickeln und während der Anfangsphase begleiten, Verantwortlichkeiten an einzelne Schlüsselpersonen aus der Bewohnerschaft übertragen. Saumackerstrasse, Zürich Betriebskonzept über die Parzelle hinaus denken, indem Zusatzräume im Innen- und Aussenraum vermittelt werden. VOM «HIER-WOHNE-ICH» ZUM «HIER GESTALTE-ICH-MIT» Fuchsloch, Oberwil Mitsprache der Bewohnerschaft durch geeignete Gefässe fördern. Beispielsweise durch die Bildung eines Bewohner*innenvereins, welcher die einzelnen Anliegen in strukturierter und abgestimmter Form an die Verwaltung weiterleitet. Einführen einer Siedlungsverfassung zur Klärung der Zuständigkeiten. Das Know-how der Bewohnerschaft z. B. durch die Bildung von Arbeitsgruppen zu auserwählten Themen nutzen. Kappelenring, Hinterkappelen Betriebskonzept für die Nutzung und Finanzierung der Zusatzräume im Erdgeschoss. Kleine Handreichungen im Alltag, sich treffen und besuchen sind Dinge, die bereits im Kleinen stattfinden und die durch Massnahmen wie ein gut sichtbares Infobrett im Eingangsbereich, Nachbarschaftskaffee, etc. gefördert werden könnten und würden gerade in der Typologie des Hochhauses dem Klischee des Anonymen entgegenwirken. Saumackerstrasse, Zürich Bilden von informierten und interessierten Nachbarschaften durch verschiedene Massnahmen und Aktionen, wie etwa Infotafel im Treppenhaus, Hoffest, Tauschbörse, kleine Projekte im Aussenraum, etc. VOM «IMMER-SO-WEITER» ZUM «IMMER-WIEDER-ANDERS» 146 Fuchsloch, Oberwil Anstehende Veränderungsprozesse als Teil der gelebten Siedlungskultur verstehen und engagierte Bewohnerinnen und Bewohner in ihren Anliegen wenn immer möglich unterstützen. Kappelenring, Hinterkappelen Siedlungsverfassung, welche die Zuständigkeiten zwischen Hausverein, Siedlungscoach und Verwaltung klärt. Aufstellen eines jährlichen Budgets für die Moderation und Begleitung von nachbarschaftsfördernden Prozessen durch einen Siedlungscoach (zumindest während der Anfangsphase). Saumackerstrasse, Zürich Hof in seiner Bedeutung als Ort des Rückzugs und des Austausches stärken durch neue Zonierung und Materialisierung. Offenlassen von «Möglichkeitsräumen» für nachbarschaftsfördernde Projekte, wie z. B. gemeinsame Gemüsebeete, Spielnachmittage, etc. Vermietung und Verwaltung Haus und Quartier Verändertes Rollenverständnis: Von der Verwaltung hin zur Vermittlung, welche die Bedürfnisse der Bewohnerschaft in die Quartiersentwicklung hineinträgt und Kooperationen mit der Gemeinde eingeht. Mehr Dienstleistungen und Gewerbe im Quartier. Kooperation mit den Eigentümerschaften der Nachbarsgebäude und mit der Quartiersentwicklung der Gemeinde. Initiieren eines Ideenfindungsprozesses mit der Bewohnerschaft der betreffenden Liegenschaften am Kappenring. Neugestaltung des im jetzigen Zustand hierarchielos strukturierten Aussenraumes, sorgfältige Zonierung und Differenzierung der einzelnen Aussenbereiche für Rückzug und Austausch. Berücksichtigung unterschiedlicher Altersgruppen und Tätigkeiten. Vermehrt den Dialog mit der städtischen Quartiersentwicklung suchen (Gestaltung Erdgeschosszone – Bürgersteig Badenerstrasse) Handlungs- und Gestaltungsspielräume über die eigenen Parzellengrenzen hinausdenken und Kooperationen eingehen mit den Verwaltungen der Nachbarschaftsparzellen. Knappes Aussenraumangebot kompensieren durch räumliche Durchlässigkeit im Quartier, sorgfältige Zonierung des Aussenraums, damit persönlicher Rückzug der Bewohnerschaft dabei nicht beeinträchtigt wird. Atmosphärische Qualität der Badenerstrasse durch Begrünung und Umgestaltung des Bürgersteigs erhöhen. Team um eine Fachperson aus dem Bereich der Moderation/ soziokulturellen Entwicklung ergänzen, welche zwischen den Anliegen der Bewohnerschaft, der Eigentümerschaft und der Verwaltung vermittelt. Architektonisches Konzept setzt bewusst auf die aktive Bespielung der erweiterten Laubengänge durch die Bewohnerschaft. Diesen Aspekt könnte man noch weiter fördern und z. B. auf den günstigen Einfluss einer Begrünung auf das Mikroklima hinweisen. Initiieren eines Ideenfindungsprozesses mit der Bewohnerschaft betr. der Umnutzung des Erdgeschosses, Begleitung während der Betriebsphase durch geeignete Person (aus Bewohnerschaft oder Verwaltung). Anbieten von wohnungsergänzenden Zusatzräumen für gemeinschaftliche Veranstaltungen und Tätigkeiten durch die Aufhebung der Wohnnutzung im EG und/oder durch die Umgestaltung der Eingangshalle. Verantwortungsgefühl und Engagement für das Zusammenleben durch geeignete Massnahmen fördern, z. B. Bildung von Interessengruppen oder Einbezug in anstehende Entwicklungen. Aufenthaltsqualität im Hof und in den Erschliessungsräumen verbessern, Aneignungsräume im Haus und im Quartier anbieten. Trotz knapper finanzieller und personeller Ressourcen, mögliche Handlungsspielräume für die Weiterentwicklung der Siedlung zusammen mit der Eigentümerschaft identifizieren und transparent kommunizieren. Potenzial des architektonischen Konzeptes betr. Flexibilität und Anpassbarkeit besser nutzen, um auf Bedürfnis nach veränderten Haushaltsformen und die Nutzung des Aussenraums zu reagieren. Zu überprüfen wäre die Einführung eines Hausvereins, der die Bedürfnisse der Bewohnerschaft in Kooperation mit einem möglichen Siedlungscoach bespricht und die entsprechenden Prozesse vorbereitet. Geeignete Räume als Begegnungs- und konkrete Aktionsorte, die die Aneignung fördern und somit die Ortsbindung stärken. Gerade weil es das Anliegen der Verwaltung ist, günstigen Wohnraum anzubieten, sollte man sich der Herausforderung stellen, zusammen mit den Bewohnenden eine gute Balance zwischen Bezahlbarkeit und hoher Wohnqualität zu suchen. Letztere könnte geschaffen werden, indem die Mitsprachemöglichkeiten im Rahmen konkreter Projekte ausgebaut würden und das Wohnen in der eigenen Wohnung um Zusatzangebote wie Gemeinschaftsflächen im Innen- und Aussenraum ergänzt würde. Grenze zwischen Innen und Aussen auf der Hofseite neu denken: Wohnen zum Hof ermöglichen durch neue Fassadenschicht mit grösseren privaten Aussenräumen, die zugleich den persönlichen Aneignungsspielraum erweitern. 147 148 Anhang 149 Literaturverzeichnis Achermann, S. & Sigrist, S. (2017). Wie wir morgen leben: Denkanstösse für das Zeitalter der Langlebigkeit. NZZ Libro. Arendt, H. (2011). Vita activa oder Vom tätigen Leben. (10. Aufl.). Piper Barthel, S., von Mende, J., Oswalt, P. & Schmidt, A. (2016). Projekte für die essbare Stadt. Bauwelt, 37, 34 – 45. Bauer, T. (2019). Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt (19. Auflage). Reclam. BDA Bund Deutscher Architekten (2020). BDA-Denklabor «Don’t waste the crisis» Einfach weniger. Reduktion als architektonischer Mehrwert. https://www.bdabund.de/denklabor/. BDA Bund Deutscher Architekten (2020.2). BDA-Denklabor «Don’t waste the crisis». Mobilität, aber wie? 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