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Ein Raum des Kleinen -Die deutsche Kleinstadt

Wer heutzutage aus einem Bahnhof tritt und seinen Blick nicht gleich nach Taxi oder Bus suchen, sondern einen Augenblick schweifen lässt, um zu sehen, was sich zeigt, wird geneigt sein, einen veralteten Wirklichkeitstest zu versuchen. Wer sich in den Arm kneift, so diese kleine Theorie von gestern, soll herausfinden, ob er träumt oder wacht. Der Test hat ausgedient. Ich habe ihn vor kurzem versucht. Ich spürte Schmerz, musste also wohl wach sein. Aber das Traumbild vor meinen Augen verschwand nicht. Ich wusste, dass ich in einer schönen, alten Kleinstadt angekommen war. Ich kannte sie gut, denn ich hatte dort viele Jahre gelebt und studiert. Aber was mein Blick mir zeigte, hatte nichts mit meiner Erinnerung zu tun. Es war der Anblick eines Überall und Nirgendwo. Vor Dutzenden von Bahnhöfen kleiner und grosser deutscher Städte zeigt sich dieselbe Öde: schwarzer Asphalt mit weissen Linien, Busbahnhof mit gläsernen Wartehäuschen, Reihen von Taxis, kurvende Autos, Stühle einer Café-Kette, dahinter die Fassadenzeile mit Geschäften und Hotel, in der anschliessenden Strasse das Eros Center und Kino für Erwachsene – Vom Bahnhofsausgang nicht zu sehen aber mit Sicherheit da und nach einigen Schritten nicht zu verfehlen. Über der Geschäftigkeit dieses Vorplatzes lag die traurige Öde der Monotonie. Was hilft es da zu wissen, dass die Innenstadt nun einkaufsfreundlich in eine autofreie Zone verwandelt worden ist und die Strassencafes auf einen Besuch warten? Die Langeweile hat die Stadt erfasst, in der ich mich vor Jahren, in meinen ersten Tagen als Student, regelmässig verlief. Das wird mir heute nicht mehr passieren. Das Gassengewirr ist aufgeräumt und übersichtlich geworden. Glatte Schönheit hat die deutsche Kleinstadt erfasst und ihr das letzte Ende bereitet. Die Macht des Internationalismus, nun Globalisierung genannt, scheint mit grossem Erfolg alles Lokale zu absorbieren oder zu marginalisieren. Das neue Guggenheimmuseum in Bilbao wird als ein schlagendes Beispiel für diese Entwicklung genannt. Aus der Sicht vieler Architekturkritiker vertritt der 100-Millionen Dollar Bau die anhaltende " McDonaldisierung " der spanischen Kunst und Architektur. Diese franchise Ideologie wird dadurch unterstützt, argumentiert Dina Smith, " dass das Museum beinahe ausschliesslich vom Zentrum New York aus gemanaged wird. Die meisten neueren Ankäufe waren Arbeiten bekannter amerikanischer Künstler, und die regionale spanische und baskische Kunst war kaum repräsentiert. " 1 Wird es demnächst überhaupt noch einen Platz für das Regionale, das Indigenous, und eine Identifikation mit Heimat geben, wenn, in Luhmanns Worten, " räumliche Grenzen keinen Sinn für funktionale Systeme mit dem Ziel der Internationalisierung mehr haben. " 2 Leben wir in einer Zeit, wenn der spezifische Charakter von Orten als Folge der Rationalisierung und Globalisierung Europas stillschweigend verschwindet? Diese Frage verbindet sich mit einem Werturteil: entweder mit dem Triumph der Moderne oder aber mit einer Aversion gegenüber

Alexa Geisthövel/Habbo Knoch (Hg), Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts Frankfurt ( Campus) 2005. ISBN 9783593377360 Ein Raum des Kleinen - Die deutsche Kleinstadt Bernd Hüppauf Öde - global Wer heutzutage aus einem Bahnhof tritt und seinen Blick nicht gleich nach Taxi oder Bus suchen, sondern einen Augenblick schweifen lässt, um zu sehen, was sich zeigt, wird geneigt sein, einen veralteten Wirklichkeitstest zu versuchen. Wer sich in den Arm kneift, so diese kleine Theorie von gestern, soll herausfinden, ob er träumt oder wacht. Der Test hat ausgedient. Ich habe ihn vor kurzem versucht. Ich spürte Schmerz, musste also wohl wach sein. Aber das Traumbild vor meinen Augen verschwand nicht. Ich wusste, dass ich in einer schönen, alten Kleinstadt angekommen war. Ich kannte sie gut, denn ich hatte dort viele Jahre gelebt und studiert. Aber was mein Blick mir zeigte, hatte nichts mit meiner Erinnerung zu tun. Es war der Anblick eines Überall und Nirgendwo. Vor Dutzenden von Bahnhöfen kleiner und grosser deutscher Städte zeigt sich dieselbe Öde: schwarzer Asphalt mit weissen Linien, Busbahnhof mit gläsernen Wartehäuschen, Reihen von Taxis, kurvende Autos, Stühle einer Café-Kette, dahinter die Fassadenzeile mit Geschäften und Hotel, in der anschliessenden Strasse das Eros Center und Kino für Erwachsene – Vom Bahnhofsausgang nicht zu sehen aber mit Sicherheit da und nach einigen Schritten nicht zu verfehlen. Über der Geschäftigkeit dieses Vorplatzes lag die traurige Öde der Monotonie. Was hilft es da zu wissen, dass die Innenstadt nun einkaufsfreundlich in eine autofreie Zone verwandelt worden ist und die Strassencafes auf einen Besuch warten? Die Langeweile hat die Stadt erfasst, in der ich mich vor Jahren, in meinen ersten Tagen als Student, regelmässig verlief. Das wird mir heute nicht mehr passieren. Das Gassengewirr ist aufgeräumt und übersichtlich geworden. Glatte Schönheit hat die deutsche Kleinstadt erfasst und ihr das letzte Ende bereitet. Die Macht des Internationalismus, nun Globalisierung genannt, scheint mit grossem Erfolg alles Lokale zu absorbieren oder zu marginalisieren. Das neue Guggenheimmuseum in Bilbao wird als ein schlagendes Beispiel für diese Entwicklung genannt. Aus der Sicht vieler Architekturkritiker vertritt der 100-Millionen Dollar Bau die anhaltende “McDonaldisierung” der spanischen Kunst und Architektur. Diese franchise Ideologie wird dadurch unterstützt, argumentiert Dina Smith, “dass das Museum beinahe ausschliesslich vom Zentrum New York aus gemanaged wird. Die meisten neueren Ankäufe waren Arbeiten bekannter amerikanischer Künstler, und die regionale spanische und baskische Kunst war kaum repräsentiert.” Dina Smith, The Narrative Limits of the Global Guggenheim, In Mosaic, vol. 35, No.4, December 2002, p. 98. Wird es demnächst überhaupt noch einen Platz für das Regionale, das Indigenous, und eine Identifikation mit Heimat geben, wenn, in Luhmanns Worten, “räumliche Grenzen keinen Sinn für funktionale Systeme mit dem Ziel der Internationalisierung mehr haben.” Niklas Luhmann, Die Gsellschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1977, S. 890. Leben wir in einer Zeit, wenn der spezifische Charakter von Orten als Folge der Rationalisierung und Globalisierung Europas stillschweigend verschwindet? Diese Frage verbindet sich mit einem Werturteil: entweder mit dem Triumph der Moderne oder aber mit einer Aversion gegenüber der bürgerlichen Kultur, die keinen Raum für das Besondere und Abweichende lasse, da sie überall und stets sich selbst zu begegnen wünsche, ihren Markt, ihre ökonomische Macht, ihre Ansammlung von Kapital und ihr steingewordenes Denken: ihre Architektur als ihre moderne Ordnung von Raum. Als universales Ziel definiere sie sich selbst. Es lässt sich nicht übersehen, dass der gegenwärtig entstehende globale Raum den Anforderungen von Rationalisierung und Modernisierung ausgeliefert oder gar ihr Produkt ist. Aber es ist ebenso offensichtlich, dass eine neue Empfindlichkeit gegenüber einer Spannung aus dem offenem Raum der Internationalisierung und den Orten genuin lokaler Kulturen entsteht. Gibt es Kleinstadt? Methodisches Kleinstadt ist eine unscharfe Bezeichnung. Sie bezieht sich sowohl auf reale Orte als auch auf einen imaginierten Raum, auf einen Ort zum Leben und auf einen vorgestellten oder ausgedachten, mentalen Raum. Eine geschichtliche Rekonstruktion erfordert eine genaue Abgrenzung, die die beiden Dimensionen auseinander hält, damit Kleinstadt als Begriff in Beschreibung oder Analyse anderes als Verwirrung in Disziplinen wie Stadtsoziologie, Architekturgeschichte oder Theorie der Ökonomie erzielt. Im Verständnis der Kleinstadt als Objekt einer historischen Rekonstruktion liegt jedoch nur ein Spezialfall vor. Vom Geist der Kleinstadt kann ein fester Begriff nichts sichtbar machen, denn ihre Grenzen sind unbestimmt. Die Kleinstadt als Objekt und die Kleinstadt als Vorstellung sind nicht auf eindeutige Weise miteinander verknüpft und sollten nicht aneinander gemessen werden. In beiden wirkt ein Netz aus Werten und Normen, die nicht unbedingt übereinstimmen. Das Wort kann nur bedingt als Begriff benutzt werden, da es die Bedingungen der Begrifflichkeit nicht erfüllt. Über Stadt als Genus liesse sich, wie Mack Walkers Studie zeigt, Mack Walker, The German Home Towns. Community, State and General Estates 1648-1871. Ithaca (Cornell U P), 1971. Einigkeit erzielen, nicht aber über die differentia specifica. Sie bleibt reine Interpretation, die vor Willkür nicht zu schützen ist. Das Wort Kleinstadt ist ein Programm und, wie Bloch in seiner Philosophie der Kleinstadt als Heimat bemerkte, erstaunlicherweise eines der Negativität. Das Wort bezieht sich nicht auf positive Fakten, die bekannt sind und deren Anzahl überschaubar wäre. In der Unschärfe liegt die Potenz für das Verständnis einer Wirklichkeit, die nicht aus der Positivität einer Existenz, sondern aus einer Negativität von Abwesenheit zu verstehen ist. Die vorgestellte Kleinstadt kann keine Anleitung zur Beschreibung der wirklichen Kleinstadt abgeben. Denn die Beschreibungen von Vorstellungen erschöpfen sich nicht in den bereits in ihnen enthaltenen Inhalten. Sie verändern stets ihren Gegenstand, der mit jeder neuen Beschreibung neue Schichten gewinnt. Mit dem Wort Kleinstadt und seinem imaginierten Bedeutungshof lässt sich beschreiben, was keiner Kleinstadt im Geschichtsbuch korrespondiert, individuelle und kollektive Bewusstseinszustände, das Urbane als Bildermaschine, Psychosen und fiktive Schicksale. Ihre Wirklichkeit besteht aus Tagträumen und Vorstellungen, deren Gehalt, sowie er in Worte gefasst wird, sich ändert. Die historische Rekonstruktion der Kleinstadt schafft einen mit sich identischen Raum, in dem die Mobilität, das Oszillieren des Raums, seine imaginative Offenheit verschwindet. Über Kleinstadt lässt sich dagegen nur reden, sobald sie aus der geschichtlichen Wirklichkeit so entfernt wird, dass ihre Daten und Statistiken zu einer Oberfläche werden, die durch Bilder der Kunst und des Alltags, Literatur und Rituale grundsätzlich transzendiert wird. Kleinstadt als mentaler Raum kann nur in einer nebelhaften Unschärfe vorgestellt werden. In dieser Unschärfe der Beschreibung wird es möglich, ihren Bewohnern ein Mass an Freiheit zuzuschreiben, das zum auszeichnenden Merkmal wird und in dem sie sich selbst erkennen können, sobald sie das Beschreibungsmuster teilen. In dem Mass, wie dies Wort aus den Zwängen der Anwendbarkeit auf das geschichtliche Phänomen, das wir als Kleinstadt bezeichnen, gelöst wird, kann es zu einer Art kritischem Terminus der Suche werden. Sobald Aufmerksamkeit und Sensitivität für diese Suche geweckt sind, werden universalisierende Theorien der Moderne auf ihren Wirklichkeitsgehalt getestet. Der Komplex Kleinstadt wird dann zu einem Feld für Gedankenexperimente. Im folgenden will ich die Kleinstadt zunächst als einen Lebensraum einführen, bevor ich sie als einen vorgestellten Raum beschreibe. Die Kleinstadt als imaginierter Raum soll unter den Gesichtspunkten von Kommunikation, Widerstand und Kreativität betrachtet werden. Darin lassen sich Bindungen zu drei fundamentalen Traditionen der Urbanität wiederfinden. Das Bedürfnis nach einer politischen Struktur, die das Unmögliche erstrebt und sowohl gesellschaftliche Kohäsion produziert als auch einen Raum für persönliche Freiheit garantiert; die grundlegende Bedeutung von gemeinsamer Sprache und Kommunikation für die Konstruktion dieser Struktur; und drittens Stadt als Raum des Erfinderischen, der freien Zeit des Fragens, der Suche nach Antworten und des Gedächtnisses für dies Zusammenspiel. In einer Zeit kultureller Umstürze, in der die fragile Kombination dieser Tendenzen aus dem Gleichgewicht geriet, machte die Kultur der Kleinstadt einen Beitrag zu ihrer Stabilisierung und dem Bedürfnis nach einem Minimum an Kontinuität. Die Entwicklung der Kleinstadt als einem Raum dieses Versöhnungsversuchs endet in Albträumen und dem allmählichen Verschwinden dieses Raums der Urbanität im frühen 20. Jahrhunderts aus der Welt und dem Bild der Welt. 3 Von der kleinen Stadt zur Kleinstadt: Stadt-Land-Kleinstadt: Empirie In der bisher einzigen substantiellen historischen Studie über die deutsche Kleinstadt definiert Mack Walker diese ungewöhnliche politische und gesellschaftliche Einheit als einen besonderen Ort, der als Residenzstadt im politisch zersplitterten Deutschland nach dem Ende des Dreissigjährigen Kriegs entstand und bis in die Zeit der Reichsgründung von 1871 bestehen blieb. Walker versucht, das historisch Besondere der Kleinstadt zu erfassen und führt für amerikanische Leser den Terminus home town ein, um deutlich zu machen, dass es Unterschiede zwischen der, rein quantitativ gesprochen, kleinen Stadt und der deutschen Kleinstadt dieser Periode, zwischen ihr und der amerikanischen small town gab. Sie war mehr und etwas anderes als eine kleine Version grosser Städte. Während der langen Phase des Übergangs von der Gesellschaft des frühen Manufakturwesens in den Hochkapitalismus begleitete die Kleinstadt eine, wie es im Nachhinein erscheint, unvermeidliche Entwicklung, indem sie deren innere Mechanik aus einer teilnehmend besorgten Position verfolgte und mit distanzierter Anteilnahme nicht mitmachte. Die Kleinstadt entwickelte ihre Eigenart in einer Spannung sowohl im Verhältnis zur Grosstadt als auch zum Land. Sie bildete einen Gegensatz zur Anonymität der Stadt, wie Georg Simmel sie nach 1900 beschrieb, Georg Simmel, Die Grosstädte und das Geistesleben, in: G.S., Gesamtausgabe, hg.v. Otthein Rammstedt, Frankfurt 1988 ff, Bd. 7. Vgl. den Versuch von Ernest Bramststedt, Aristocracy and the Middle Classes. London 1953. und zum Beharrungsvermögen des bäuerlichen Landes, das durchaus keine Idylle war, dennoch der Kleinstadt sehr fern stand. Innerhalb dieser politischen und soziologischen Zusammenhänge holt Walker die empirische Realität der Kleinstadt ins historische Gedächtnis. Die historische Soziologie beschreibt ihre Basis als ein bürgerliches Milieu von moderatem Wohlstand: Handwerker, Beamte, Juristen, Ärzte und Apotheker, Kaufleute und kleine Aristokraten, Lehrer und Professoren, pensionierte Beamte und Offiziere, wenig Armut und nicht die neue Verelendung des für die Entwicklung der Industriegesellschaft charakteristischen Proletariats. Aus dieser relativen Homogenität bildete sich eine politische und soziale Einheit mit eigenen politischen Strukturen und sozialen Einrichtungen, aus denen oft eine räumliche Ordnung folgte und, besonders bemerkenswert, eine eigene Zeit. Der Unterschied zur zunehmend homogenisierten Zeit und einer nach ökonomischer Effizienz strebenden Raumordnung der grossen Städte war offensichtlich. Die Zeit der Kleinstadt verlief langsamer als die der individuellen Existenz und die Zeit in den modernen politischen und ökonomischen Einrichtungen der grossen Städte, die sich unter dem Druck der Modernisierung beständig anpassten und wandelten. Tendenzen der Beharrung standen im Zentrum ihrer Sozialstruktur und im Vergleich mit der modernen Stadt lässt sich eine Entschleunigung beobachten. Eine zentrale Beobachtung in Walkers Rekonstruktion ist die Isolation der Kleinstadt. Denn aus den Quellen ergibt sich, dass es so gut wie keine politischen und administrativen Eingriffe von aussen in die inneren Angelegenheiten der Kleinstädte gab. Walker S. 31 Gemälde, Zeichnungen und Lithographien des 18. und 19. Jahrhunderts geben einen visuellen Eindruck dieser Isolation. Sie betonen die Stadtmauer, das Erbe aus Zeiten vor der Erfindung der modernen Artillerie, die nun im 19. Jahrhundert als visuelles Zeichen dafür stand, dass Wachstum und die mit dem Fortschritt unvermeidlich verbundene räumliche Ausdehnung der Grosstädte die Kleinstädte nicht erfassten. Walker S. 32 4 Kleinstadt und Metropole: leben und kämpfen Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde in Europa die Grosstadt der Ort, an dem Geschichte und gewiss Kultur- und Literaturgeschichte gemacht wurde. Grosstädte und besonders die Metropolen formten die Gravitationszentren im Zeitalter der Nationalstaaten und der in und aus ihrem politischen Leben konstituierten Nationalliteraturen. Das 19. Jahrhundert erlebte den Aufstieg der Literaturgeschichte im Rahmen der Nationalstaaten. Die Metropolis liess neue Lebensformen entstehen, veränderte Gattungen des Schreibens, vom Roman zum Feuilleton, und Stile des Performativen. Balzacs Romane führten die Leser in das neue Grosstadtleben ein, und eine ganze Romanindustrie folgte. Für die Grosstadtmentalität im späteren Jahrhundert wurde der Flaneur auf den Strassen von London oder Paris paradigmatisch und seit Poe und Baudelaire ausgiebig beschrieben. Der Roman des 19. Jahrhunderts wurde zu einem Genre der Zentralisierung vor allen anderen Genres. Franco Moretti, Atlas of the European Novel 1800-1900, London, New York 1998, S. 165. Von Balzac zu Dickens und Joyce boten Metropolen wie Paris, London, Moskau oder Dublin die gesellschaftlichen und die räumlichen Bedingungen für die narrative Entfaltung des Gesellschaftsromans. Die Topographie der Grosstadt schuf die kognitive und emotionale Karte für den Roman, der im Zeitalter der Industrialisierung und Urbanisierung den Höhepunkt seiner langen Geschichte erlebte, auf immer diffizilere Weise gesellschaftliches Leben reflektierte und dabei immer umfangreicher wurde und zu Romanzyklen führte. Die Geschichte der westeuropäischen Literaturen entwickelte sich um einige wenige Zentren, meist die nationalen Hauptstädte. Dort wurden die Normen und Ideale entwickelt, nach denen die Welt leben und schreiben musste, um nicht aus der Welt herauszufallen. Zugleich schufen die zunehmende Bedeutung des Geldes und der anonyme Markt die Voraussetzungen zur Auflösung aller Formen und Stile, individueller und kollektiver normativer Einstellungen und Lebensformen, die seit dem frühen 20. Jahrhundert endgültig verschwanden – Anzeichen der beständig veränderten Soziologie der Städte. Im Gegensatz zur Zentralisierung und Urbanisierung dieser Epoche stand das Land, eng mit Vorstellungen von Rückständigkeit und Starre assoziiert, die nicht ohne reale Grundlagen waren. Im Lauf des 19. Jahrhunderts wandelte sich die frühere Idealisierung des Lands zunehmend in die Abwertung einer Anti-Moderne und verlor in einer Umgebung der Fortschrittsbegeisterung ihre Attraktivität. Aus der Perspektive der Rastlosigkeit des kreativen Geistes, der zum Inbegriff der Urbanität wurde, erschien das immobile Land als die Welt von gestern. Das Leben in den Grosstädten beschrieb die Literatur. In den Theorien der entstehenden Soziologie suchen wire s vergeblich. Dies Leben war nicht ideal, sondern “hart, artifiziell und kompliziert.” Moretti, S. 120. In vielen Englischen Romanen des 19. Jahrhunderts wünschten sich nur wenige, in der Stadt zu leben. Eine Trennung zwischen dem einzelnen und dem Lebensraum der Städte war die Folge der antagonistischen Bedingungen der modernen Grosstadt. Das Stadtleben erschien als “unauthentisch” und hatte keine Alternative lediglich als Folge des Mangels und im Roman als Folge einer blossen narrativen Konvention. “London… war dumm, arrogant, grotesk, aggressiv” und konnte nur dadurch vermieden werden, dass es lediglich um die Romanfiguren herum oder “besser noch ausserhalb der Personen, nicht innen und als Teil von ihnen existierte.” Moretti, S. 1202. In Deutschland gehört Bettina von Arnims Buch über die Armut und Armseligkeit des Lebens in der Grosstadt (1843), dem König von Preussen gewidmet, zu dieser harten Kritik an den Lebensverhältnissen in den sich industrialisierenden und proletarisierenden Städten, eine Kritik, die wenig später Friedrich Engels in seiner politisch-ökonomischen Studie über die englischen Industriestädte aufnahm. Eine intensiv studierte Reaktion des 19. Jahrhunderts auf die Bedingungen der Grosstadt war die europäische Haltung der Langeweile, boredom, ennui. Für Baudelaire war der ennui eine Reaktion auf das modernisierte Paris Haussmanns, ort der Gleichförmigkeit ohne Überraschungen an dem die kunstferne Fotografie und andere Formen der Technisierung und Abstrahierung des Lebens im Zeitalter moderner Technologie gediehen. Für andere war die Langeweile eine spezifische Entwicklung der modernen Grosstadt, in der fundamentale Fragen des Seins zu psychischer Starre führten. Die Beziehung zwischen dem Prozess der Modernisierung und dem Problem schwindender Bedeutung waren, schreibt Goodstein, die ursprüngliche raison d’être für die Langeweile. Elizabeth Goodstein, The Modernization of Subjetivity. Boredom and Georg Simmel’s Reading of Metropolitan Life. Simmel Newsletter Bd. 8, Nr. 2, Winter 1998, S. 94. Dies., Experience without Qualities. Boredom and Modernity. Stanford (SUP), 2004. Ihre Schlussfolgerung, dass die Langeweile den Skeptizismus “demokratisiert” habe ist für die Haltung zum Leben in den Metropolen zweifellos zutreffend. Dies ist die milde Version der Langeweile. In individuellen Biographien lesen wir vom Zusammenhang mit Hysterie, Neurosen und Psychosen. Und im politisch-intellektuellen Leben der Zeit lässt sie sich, in einer radikalisierten Form, mit dem Entstehen des Anarchismus in Russland und Paris zusammensehen. Sein Ort war die Grosstadt. Je härter das Leben wurde, desto grösser war das Bedürfnis nach Flucht und Kompensation. Die spezifische Kultur der Städte, Theater, Oper und Operette, Varietés und Vergnügungszentren, alle Formen des Spiels und bald das neue Kino, entwickelten sich als Kompensationen für den Druck und die Anomien des Lebens in der Stadt. Sie teilten daher im Urteil der Kritiker das Unauthentische der Städte. Die Lebensbedingungen der Grosstädte fu/hrten zu Gegenwelten, in denen die Vororte oder, für die kleine Schicht der Aristokratie, Landsitze und komfortable Villen den bedrohten Lebensformen ein Refugium versprachen. Um 1900 reagierte Georg Simmel mit einer alternativen Sicht, in der das Leben der modernen Grosstadt nicht als Malaise bewertete, sondern Formen der physiologischen und mentalen Anpassung an die neuen Bedingungen des Lebens in der Grosstadt beschrieb. Er beobachtete eine Reihe von kognitiven und emotionalen Veränderungen, die ihr Profil aus dem Unterschied zu traditionellen Lebensstilen gewannen. Anstatt das Inhumane der modernen Grosstadt zu verurteilen, versuchte er, das Neue an ihr als Lebensform zu beschreiben. Er beobachtete eine “Intensivierung des Nervenlebens”, das sich an die raschen und ununterbrochenen Reize der Grosstadt anpasse und die psychischen Grundlagen für das Entstehen eines neuen Typs von Existenz schaffe. Georg Simmel, Die Grosstädte und das Geistesleben, S. 116-131. Alle folgenden Simmel-Zitate aus diesem Band. Geschwindigkeit und Unvorhersehbarkeit von Ereignissen sowie eine “Intellektualisierung” der erlebten Wirklichkeit zeichnen nach seiner Analyse den Alltag der Grosstadt aus und machen ein spontanes oder traditionales Verhalten in dieser überwältigenden urbanen Umwelt unmöglich. Die Beschleunigung aller Prozesse nimmt er als die Grundlage der Kommunikationslosigkeit und einer Intellektualisierung aller affektiven Beziehungen wahr. Der kalkulierende und rasch reagierende “Verstand”, eine “Steigerung des Bewusstseins” werden zum Zentrum des Verhaltens unter diesen herausfordernden Lebensbedingungen. Die Psyche werde gleichsam eingekapselt, und das Verhalten mit der geringst möglichen Anteilnahme an Emotion und subjektivem Ich gesteuert. Das Ergebnis dieser Transformationen des modernen Ichs belegt er mit dem Wort blasé. Keine psychische Qualität sei so paradigmatisch für das Leben in der Grosstadt wir die Haltung der “Blasiertheit”. In ihr vermutet er die letzte Rettung eines von den überwältigenden Reizen der Grosstadt überforderten Nervensystems, das in der Blasiertheit sich von allen affektiven Bindungen und Beurteilungen fernhält und durch die Haltung der Indifferenz in beziehungslose Quantitäten verwandelt. Blasiertheit ist Simmels mentalitätsgeschichtlicher Ausdruck für den älteren philosophischen Begriff des Solipsismus. Was ihn in Simmels Verständnis jedoch unterscheidet, ist seine Funktionalität. Er versteht unter Blasiertheit die subjektive Form von Anpassung und die Bewältigung neuer Lebensbedingungen. Sie ermögliche den Individuen, ein Selbst zu entwerfen, das ihre Integration in den unabänderlichen Wandel der Daseinsbedingungen erleichtere. Was er als die geschichtliche Erscheinungsweise des Geldes, des pekuniären Prinzips im Leben der Moderne, bezeichnet, überschneidet sich weitgehend mit den Daseinsprinzipien im Leben der modernen Grosstadt. Die im Verhältnis zu der Aufnahme- und Anpassungsfähigkeit des Individuums disproportionale Geschwindigkeit, mit der sich der urbane Raum verändert, ist die konzentrierte Reflexion der Beschleunigung und rastlosen Innovation als Prinzip der Moderne. Der durch dies Prinzip erforderte Lebensstil, meint Simmel, erfasse die psychische Welt des Erlebens, den élan vital der Individuen, ihre Schicksale und deren gesellschaftliche Verknüpfung und alles, was sich als Lebenskultur der Moderne bezeichnen lässt. Es ist offensichtlich, dass viele spätere Analysen der Moderne und der Grosstadt als Lebensraum hier vorbereitet sind. Insbesondere lassen sich Benjamins Thesen zur Grosstadtkultur als einer neuen Erlebniswelt der Zerstreuung und des Schocks als eine Fortsetzung von Simmels Phänomenologie der Lebensstile lesen. Diese Phänomenologie des Grosstadtlebens speiste sich aus dem Kontrast zum Land als der anderen und früheren Existenzform. Es ist jedoch eine Simplifikation, die Verhältnisse auf eine binäre Opposition von Stadt und Land reduzieren und etwa den englischen und französischen Gesellschaftsroman als das Medium der Moderne der deutschen Dorf- und Landliteratur entgegenstellen zu wollen. Die soziologisch-räumlichen Beziehungen sind weit weniger klar geschieden, die Übergänge fliessend und die Unterschiede unscharf. Clark schlägt vor, Provinzialismus als nichts anderes denn den geographischen Abstand vom Zentrum, wo die Entwicklung weiter fortgeschritten ist und die Benutzer der städtischen Einrichtungen mehr verlangen, zu verstehen, während die provinziellen Künstler sich auf einen Kampf mit dem herrschenden Stil einlassen mussten.” Kenneth Clark, Provincialism, in: K. Vlark, Moments of Vision and other essays, New York 1981, S. 50-62; Clark entwickelt eine komplexe Argumentation, um den unabhängigen Geist der modernen Künstler der Provinz zu illustrieren. Eine solche Sicht setzt ein homogenes Feld voraus und lineare Kräfte, die zwischen Zentrum und Peripherie wirken. Es baut auf einer räumlichen Vorstellung auf, in der eine Nationalkultur ihre Eigenart aus Abständen, aus Nähe, Ferne und deren Überwindung, in einer auf das Zentrum-Peripherie-Verhältnis fixierten Kultur aufbaut. Als Folge einer wachsenden Distanz vom Zentrum nimmt – wie in Newtons Gravitationsmodell - die zentripetale Kraft ab. Sie behält aber stets ihre definierende Macht, auch in den entferntesten Aussenstellen der Kolonialmächte, etwa auf einer Südseeinsel des Englischen Imperiums. Ein bemerkenswertes Beispiel für die Unterschiede zwischen einer solchen Theorie und der Stadt der Einbildungskraft ist die Zentrum-Peripherie-Beziehung ist Hermann Brochs Roman “Der Tod des Vergil”. Die entfernte Hauptstadt Rom wird durch Konversationen und Fieberträume Vergils in der Kleinstadt Brundisium an der Peripherie des Imperiums beständig anwesend gemacht. Diese Kleinstadt ist in der Tat nichts als der Ort von Mangel und Abwesenheit, die durch Phantasie besiegt werden soll. Bei genauerer Betrachtung ist dieses Kraftfeld alles andere als einheitlich und gleichmässig strukturiert. Die moderne Systemtheorie spricht von der Zentrum-Peripherie-Beziehung, nennt sie jedoch “eine Form der Differenz.” Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, op. cit., S. 667. Diese Differenz ist nie durch eine Linearität der Abstände charakterisiert. Die Kräfte der Kohäsion, Repulsion und Gravitation des homogenen newtonischen Raums wirken nur in der Theorie kultureller Kreativität und Produktion. Der vorgestellte Raum ist poly-zentrisch, die Unterschiede sind unbestimmt und die Trennungslinie unscharf. Französische Provinzstädte können modern sein, ohne doch die Lebensbedingungen von Paris zu imitieren. Subzentren entwickeln ihre eigenen Gravitationsfelder. Es gibt kein homogenes Feld, sondern eine undefinierte Vielzahl an Kräften, die sich gegenseitig überschneiden und aufheben, ein Feld der Pluralität und widersprüchlichen Bewegungen mit regionalen Zentren und Gegenzentren, die sich auch unter den Bedingungen starker Zentralisation, die besonders intensiv in Frankreich wirkte, erhielt und deren Vielfalt aus der Perspektive des Postkolonialismus gegenwärtig entdeckt wird. In Deutschland verlief die Entwicklung anders. Hier bildeten Kolonien keine Herausforderung der Kraft des Zentrums, und es war nicht die Opposition von Hauptstadt und Provinz, aus der sich, wie in England oder Frankreich, das kulturelle Feld entfaltete. Vielmehr entstand etwas drittes, das der Kulturhistoriker Wilhelm Riehl mit dem Wort “individualisiertes Land” bezeichnete. Diese Bezeichnung hat grosse Ähnlichkeit mit dem Wort ‘critical Regionalism’, das Kenneth Frampton vor wenigen Jahren in die Diskussion über die gegenwärtige Architektut einführte. Dewr Kulturhistoriker (und Maler) Wilhelm Heinrich Riehl war wohl der erste, ethnographische Methoden in die Geschichtsschreibung einführte und zu einem der Begründern der Volkskunde wurde. (Geramb sprach von “Anthropogeographie”.) Er unterschied zwischen Deutschlands Norden und Süden, wo unter dem Einfluss von Berlin und von Wien ein zentralisierter Raum entstanden sei , während die geographische und politischen Regionen zwischen den Einflusszonen der Zentren sich zu poly-zentralen Regionen entwickelt hätten. Er hatte allerdings keinen sinn für die aus solchen Spannungen entstehenden Bewegungen, sondern hielt am Ideal der Konstanz und Stabilität fest und sprach gern von “Kräften der Beharrung”. Riehl, Die bürgerliche Gesellschaft, Stuttgart, 1853, and Riehl, Land und Leute, Stuttgart, 1855, pp. 132-217. Hier entstanden Räume, die sich vom Sog der Zentren und der Kraft ihrer kulturellen und ideologischen Dominanz frei hielten. Diese Räume waren auf ihre Weise urban, aber weit weniger vereinheitlichend und zwingend als die Grosstadt, öffneten Alternativen, Gelegenheiten für Entscheidungen, der Teilnahme oder der Distanzierung, förderten die Bildung von Freundschaften und Freundeszirkeln, ohne den Zwang der Stadt, dazu zu gehören oder beständig dabei gewesen zu sein. Wahrnehmung auf sich zu ziehen und selbst einen exklusiven Mittelpunkt zu bilden. Seit dem 17. Jahrhundert war die Korrespondenz eine Domäne der Gelehrten, Kaufleuten und Schriftsteller, die in Deutschland, anders als in Frankreich und England, mit kleinen Städten und weniger mit den Metropolen verbunden waren. In einem Aufsatz diskutiert Wilfried Barner die kuilturelle Bedeutung dieser breiten Bewegung: ‘Gelehrte Freundschaft im 18. Jahrhundert. Zu ihren traditionalen Voraussetzungen’, in idem., Frauenfreundschaft - Männerfreundschaft, pp. 23-45, Maiken Umbach fügt einen unerwarteten Gruppe von Briefautoren hinzu, nämlich die Herrscher der deutschen Provinzsaaten, und argumentiert, dass auch für diesen Briefwechsell das Wort Freundschaft zutreffe. Seit der Publikation von Jacques Derrida’s The Politics of Friendship, London, New York, 1997 hat ein kleiner Strom von Publikationen zu diesem Thema eingesetzt. Es war ein architektonischer und politisch-sozialer Raum, der seine eigenen Beziehungsnetze schuf und vor dem Blasierten, das Simmel charakteristisch für die Grosstadt nannte, schützte. Die Kleinstadt bildete ein Drittes, das die Opposition zwischen Stadt und Land verunklärte und den Machtkampf zwischen Zentrum und Peripherie unterlief. Die Kleinstadt war das Produkt der Unvermeidbarkeit von Industrialisierung und Urbanisierung und zugleich die Fortsetzung einer traditionellen Gemeinschaft, die zum Absterben verurteilt war. Nur in dem Mass, wie der Ort der Kleinstadt in der Spur der Destruktion des Individuellen und Affektiven im öffentlichen Leben, die der ungezügelte Imperativ zur Rationalität, Produktivität und Geldwirtschaft der Moderne hinterlässt, bestimmt wird, geht die Frage nach der Kleinstadt über die blosse historische Rekonstruktion eines verlorenen Flecks auf der Karte der Moderne hinaus und kann für die Fragen des Raums in der Moderne Aufschluss liefern. Ambivalenz definierte die Stellung, die die Kleinstadt in der Topographie der kollektiven mentalen Karte während der 150 Jahre ihrer Existenz einnahmen. Sie blieb gleichermassen distanziert von der Stadt, unter deren Bedingungen Subjektivität verschwand, und dem Land oder Dorf, als der ideologischen Oppositionen zum Urbanen. Ihre eigentümliche Position in dem gespannten Verhältnis zwischen Stadt und Land war gleichermassen durch Partizipation und Negativität bezeichnet. Ihr Widerstand gegen die Positivität von Fortschritt und Rationalisierung beruhte auf politischen Traditionen lokaler und kommunaler Freiheit und in der Mitte des 19. Jahrhunderts zeitweise auch auf einer Tradition christlicher Häresie. Sie entflocht die eindimensionalen Machtverhältnisse, indem sie viele kleine Zentren schuf und damit auch die Peripherie auflöste, viele Peripherien entstehen liess und eigene Räume für die Ausbildung kultureller Unterschiede zwischen polyzentrischen und aus der Ferne unsichtbaren Gruppierungen und Bewegungen ermöglichte. Es gibt zahlreiche Beispiele, in denen Kleinstädte wie Königsberg, Heidelberg oder Freiburg genuine Alternativen ausbildeten, ein Gegengewicht gegen die Attraktionen eines Zentrums ausübten. Sie boten in den Biographien einzelner, Kant, Herder, Carus, Carl Ludwig Schleich, Max Weber, Martin Heidegger und viele andere liessen sich nennen, eine Alternative und boten die Wahl, in der Ferne zum Zentrum eigenbestimmte Felder für Arbeit und Kommunikation zu entwickeln. Die Kleinstadt und das Neue Denken, schreiben und leben in der Kleinstadt waren nie Ableger der Metropolen und nicht derivativ. In ihrem Bericht über Deutschland, auf ihren Reisen von 1803 und 1804 beruhend, spricht Madame de Stael von Kotzebues Drama “Die Kleinstädter” und verglich Frankreich, wo alle Aufmerksamkeit sich auf Paris richte, mit Deutschland, wo, wie sie meinte, die Kleinstädte, von denen sie nicht nur Weimar in Augenschein genommen hatte, “ein ganzes Reich der Imaginationen, ernsthaften Studien und reiner Benevolenz” schufen. Germanine de Stael, Über Deutschland, hg. Sigrid Metken, Stuttgart 1962, S. 116. Sie erlebte Weimar als einen Ort, dessen Bewohner “das Universum bewohnten” und “durch Lektüre und eine Weite des Denkens den engen Grenzen der dominierenden äusseren Umstände” entkamen. De Stael, S. 119. Die neuesten Entwicklungen der europäischen Kunst und Literatur wurden innerhalb der bescheidenen und beengten äusseren Verhältnisse diskutiert. Im Gegensatz zu ihren Erwartungen führte die räumliche Enge, schreibt sie, nicht zur Klaustrophobie, sondern wurde in Konzentration und intellektuelle Produktivität verwandelt, das Gegenteil von dem, was Benjamin später als die Kultur der Zerstreuung oder Simmel als die Indifferenz des Blasierten in der Grosstadt bezeichneten. Ihre idealisierte Bewertung trug zum Entstehen eines Bildes bei, das seine eigene Dynamik entwickelte, die wiederum zu einer eigenen mentalen Wirklichkeit des Kleinstadtbewusstseins führte. Ein erstaunlicher Raum von künstlerischer und kultureller Produktivität entstand, der einen nennenswerten Beitrag zum Begriff und den Praktiken der Moderne machte. Es entbehrt nicht einer gewissen Groteske, dass das Wort “Weltliteratur” in einer abgelegenen deutschen Kleinstadt geboren wurde. Als eine Erweiterung von Rousseaus citoyen und Kants Vision eines Vernunftbürgers der ganzen Welt, wurde Goethes Wort signifikant für ein Denken, das aus einem scheinbar abgelegenen und verschlossenen Innen kam, aber die engen Grenzen eines provinziellen Ortes überstieg. Die Kleinstadt schuf einen vorgestellten Raum, in dem Subjektivität entworfen werden konnte, auch ihre Irrationalität – in einem Spannungsverhältnis zu den Forderungen nach Rationalität der modernen Stadt – und in der das konkret Besondere, auch Abwegige und Skurrile einen Raum fanden – im Kontrast zu Universalismus und Uniformität der Aufklärung. Sie war zugleich ein Ort für den eminent modernen Kampf des Selbst, einen Platz in einer zunehmend abstrakt strukturierten Alltagswelt der instrumentellen Vernunft zu finden. Unter diesen Bedingungen war es die Kleinstadt, die ein Leben des Unzeitgemässen, wie Nietzsche, oder der ungleichzeitigen Widersprüche, wie Ernst Bloch diese unangepassten Existenzen nannte, zuliess. Die Muster von Effizienz und Zeitmanagement liessen sich hier ausser Gefecht setzen und eine Authentizität erhielt sich, die unter anderen Bedingungen verblasste und tabuisiert war. Die literarischen Beispiele für Transformationen der Spannung zwischen der Kleinstadt und dem offenen Raum der Welt in ästhetische Kreativität sind zahlreich. Jean Pauls Romane schwingen zwischen kleinstädtischer Enge und der grenzenlosen Weite der Imagination, die eine Liebe für das Skurrile, Abwegige, Exzentrische des Menschlichen einschliesst. Die Anfangsseiten von Gottfried Kellers “Der grüne Heinrich” preisen die Kleinstädte am Oberrhein und dem Bodensee. Gottfried Keller, Der Grüne Heinrich, in: Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe, ed. Clemens Heselhaus, Müchen, 1958, pp. 9-11. Keller verknüpft ihr Bild mit Verkehr, Reise, Handel und offenem Geist. Zu einer Zeit, als in den literarischen Präferenzen der Hauptstadt nationalistische und konservative Ideen dominierten, war es Weimar, wo moderne französische Kunst von Cézanne, Manet, Gaughuin oder Rodin gefeiert wurde. Eine Ausstellung in Weimar "Aufstieg und Fall der Moderne" (1999/2000), illustrierte auf kenntnisreiche Weise die Anfänge und machte die Bedeutung des Anti-Zentrumns deutlich. Die “Mathildenhöhe” in Darmstadt wäre ein weiteres Beispiel. Rodin widmete dieser Provinzstadt vierzehn moderne Guaschen, die dort ausgestellt wurden. Die Kleinstadt war auch am Triumph des Modernismus beteiligt, aber diese Beteiligung sollte sich als zweischneidig herausstellen. Hier stieg sie nicht zum Höhepunkt ihrer Innovationskraft auf, sondern bereitete sich ihr eigenes Ende. Van de Velde, Gropius und andere gründeten das Bauhaus in Weimar, und die nächste Station war Dessau, eine andere Kleinstadt. Das Bauhaus lässt sich gewiss nicht als das Kind des Kleinstadtgeistes bezeichnen. Aber sein hypermoderner Internationalismus wurde in der Abgeschiedenheit der Kleinstadt entworfen. Diese Innovation kam aus einem Ort, an dem, wie Madame de Stael hundert Jahre zuvor beobachtet hatte, in engen Gassen ein Universalismus des Geistes ausgebrütet wurde, der die innovativen Zentren der weiten Welt reflektierte. Als Vertreter von Dada und des Konstruktivismus 1922 sich in Weimar versammelten, sandten sie ein Signal in die weite Welt, dass die deutsche Kleinstadt noch immer nicht ins Obskure verfallen war, sondern ihr Potential, offenen Raum für die Einbildungskraft und künstlerische Kreativität zu schaffen, erhalten hatte. Dennoch: die Kleinstadt befand sich nun auf dem Weg der Selbstauflösung. Ihre Kraft, den Prozess der Modernisierung von einer eigenen Position und mit einer eigenen Identität distanziert korrigierend zu begleiten, hatte sich erschöpft. Sie wurde nun zu einem kleinen Ausläufer der Grosstadt. Damit hatte sie ihre Existenzberechtigung, die sich immer nur aus der Spannung zwischen dem Raum des kleinen und dem gigantischen der Moderne ableitete, verloren. Die vorgestellte Kleinstadt verfiel zu einem isolierten Sonderfall mit Zügen der blossen Einbildung und den Eigenschaften von Hirngespinsten. Was blieb, war eine Kategorie des Katasteramtes. Es ist das entscheidende Paradox der Kleinstadt, dass folgenreiche Analysen und Experimente mit der Konstruktion der Moderne unter ihren Auspizien entstanden aber ihr nicht freundlich waren, sondern sich gegen sie selbst kehrten und letztlich zu ihrem Untergang führten. Dieser Verfall war nicht allein die Folge veränderter politischer Verhältnisse. Die Kleinstadt als mentaler Raum hatte sich durch ihren Solipsismus stets am Rand des Autismus bewegt. Was nun übrig blieb, empfand der eingefleischte Grosstädter Ulrich im Musils Roman “Der Mann ohne Eigenschaften” als einen bizarren Verfall. Er hatte Wien mit der Bahn verlassen und war in eine Kleinstadt gereist. Ihr erster Anblick nach dem Verlassen des Bahnhofs regte ihn zu einer allgemeinen Reflexion an, die über diese eine Stadt hinaus ins Generelle der Kleinstadt wies: ”Diese Stadt hatte eine Geschichte, und sie hatte auch ein Gesicht, aber darin passten die Augen nicht zum Mund oder das Kinn nicht zu den Haaren, und über allem lagen die Spuren eines stark bewegten Lebens, das innerlich leer ist.” Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Gesammelte Werke Bd. 3, Reinbek 1978, S. 672. Dieser Kommentar fasst das Ende einer langen Geschichte zusammen, die mit einer grossen Hoffnung begonnen hatte. Rationalisierung von Raum und retardierende Kleinstadt Im Unterschied zur historischen Kleinstadt war die Kleinstadt als mentaler Raum eine Erfindung des späten 18. Jahrhunderts. Diese Erfindung war locker verbunden mit den Kleinstädten auf Karten, in Reiseführern und in den Beschreibungen von Reisejournalen. Ihr Entstehen war unauflöslich mit einer Spannung zu der gleichzeitig entstehenden industrialisierten Grosstadt in der sich rasch wandelnden physischen und mentalen Geographie des industriellen Zeitalters verknüpft. Kleinstadt gab einem phantasierten Raum, besonderen Lebensstil und einer intellektuellen Haltung einen Namen. Der Raum dieser Vorstellungen und Phantasien war letztlich realer als die Stadt aus Stein. Die Kleinstadt besetzte einen Platz in der Genesis der modernen Mentalität, an dem die Moderne nicht zurückgewiesen wurde. Gemessen an der Politik, dem sich ansammelnden Kapital wie auch dem reinen Reichtum an Geld und Besitz, der Geschwindigkeit, schieren Grösse und der heraufziehenden Informationsgesellschaft, die sich in den Metropolen der Europäischen Nationen konzentrierten, führte sie ein Schattendasein an der Peripherie, von dem aus sie jedoch einen sanften Widerstand ausübte. Alon Confino, The Nation as a Local Metaphor: Württemberg, Imperial Germany and National Memory 1871-1918, Chapel Hill and London, 1997, stellt eine Hierarchie her und interpretiert “Heimat” als ein Hilfsmittel für das übergeordnete Ziel der Nationenbildung. Es scheint gerechtfertigt, die Kleinstadt als ein retardierendes Element und zugleich als den Versuch zu einem komplementären Weg in die moderne Welt zu interpretieren, weniger konsistent, weniger glanzvoll und letztlich weniger einflussreich im Sinn von politischer Macht und kultureller Überzeugungskraft, dennoch mit einer eigensinnigen Hartnäckigkeit. In Kunst und Literatur entwickelte sich die Kleinstadt zu einem vorgestellten Raum, der sich gleichermassen von der Grosstadt als architektonischem und intellektuellem Ort wie dem Ländlichen und Dörflichen distanzierte. “Innovative nineteenth-century literary and arts movements connected with names such as Poe, de Quincy, and Baudelaire created artificial paradises to which Germany offered its own dream in stone: Weimar as the city of the arts.” Gerd Theile, The Weimar Myth: From City of the Arts to Global Village, in: Unwrapping Goethe’s Weimar. Essays in Cultural Studies and Local Knowledge. Hg.v. Burkhard Henke, Susanne Kord and Simon Richter, Woodbridge 2000, S. 310-327. Für das später entstehende Biedermeier-Idyll lieferte Laube's Reise durch das Biedermeier das Modell. Distanziert von der inneren Mechanik der Modernisierung, nahm die Kleinstadt aus einer teilnehmend besorgten Position Anteil und erhielt einen besonderen Raum für spezifische Formen der kognitiven und emotionalen Produktivität, für Reflexion und Reflexivität, die Suche nach Identität und die Transformation von Tradition in neue Wege des Denkens und Erinnerns. Als paradigmatisch für eine Verbindung von geographischem Ort und mentalem Raum liessen sich das Göttingen Lichtenbergs und der Hain-Dichter, das Königsberg von Kant und Hamann, das Jena Schellings und der Romantiker, Weimar mit Wieland, Goethe, Schiller, Herder, das Tübingen Hölderlins, Hegels, Schellings, das Heidelberg der Romantiker, das zum romantischen Heidelberg wurde, nennen. Dies waren Orte, deren Namen nicht nur die physische Anwesenheit von Dichtern, Philosophen und Gelehrten und ihrer Anhänger und Zirkel beschwor, sondern mit ihren Namen verbanden sich kollektive Phantasien, Räume des Wissens, Ahnens und Träumens. Kleinstadt war der Name für die architektonische Repräsentation eines Idealtypus von vorgestelltem Leben. Dieser phantasierte Ort verschmolz das Kleine der Kleinstadt mit der Idee einer urbanen Kultur, die unter dem gigantischen Projekt im Zeitalter der Technologie, eine neue Welt der Maschinen, Fabriken und des technologischen Denkens zu schaffen, zu verschwinden drohte. Die Architektur der Kleinstadt gab der Kleinstadt als phantasiertem Raum Nahrung. Denn die Spuren, die das vor-moderne Denken im Arrangement von Strassen, Plätzen, kleinen und grossen, öffentlichen und privaten, profanen und sakralen Bauten hinterlassen hatte, waren der sichtbare Widerspruch zu einer Ästhetik, die geometrische Ordnung und die Abstraktion der wissenschaftlich-technologischen Epoche normativ machte. Das Ziel der modernen Stadt lässt sich als die unbegrenzte Rationalisierung von Raum beschreiben. Die Kleinstadt war dagegen der Ort zum Erhalten von Grenzen und Beschränkungen. Das kam rein visuell zum Ausdruck durch die verworren verwirrende, krumme und undurchsichtige Anatomie der alten Stadt. Sie sollte durch klare architektonische Formen und eine übersichtliche Strassenführung nach geometrischen Idealformen ersetzt werden. Das Ideal war Symmetrie und perfekte geometrische Formen, die dem abstrakten Klarheitsideal des kalkulierenden Denkens der instrumentellen Rationalität entsprachen - unerreichbar, aber mit Macht und allen Mitteln der Planung und modernen Technologie verfolgt. Das Ideal der geometrisch klaren Ordnung beherrschte das Denken seit Descartes und Newton und wurde in der Planung des Urbanen zur materialisierten mathematischen Ordnung. Sie hielt das Weltall im Gleichgewicht und sollte auch die menschlichen Lebensräume ordnen. In Karlsruhe wurde die Idee der mathematischen Ordnung und die korrespondierernde absolutistische Ordnung des Staates in Stadtplanung verwandelt. Die geomerische Symmetrie, nach der das Strassensystem von Manhattan angelegt wurde, ist ein anderes Beispiel dieses Denkens. Der urbane Raum sollte nach dem Ideal der Maschine gestaltet werden. Dies Ideal der städtischen Ordnung hinterliess tiefe Spuren, die bis in Konstruktionen von Städten der Gegenwart reichen. In einer Welt, die alles, was bisher konkret und greifbar gewesen war, durch geometrische Konstruktionen zu ersetzen suchte und ins Abstrakte auflöste, musste die Ordnung der mittelalterlichen Stadt Carl Haase (ed), Die Stadt des Mittelalters, 3 Bd., Darmstadt 1969-73; Karl Gruber, Die Gestalt der deutschen Stadt. Ihr Wandel aus der geistigen Ordnung der Zeiten, München 1977; P. Zucker, Entwicklung des Stadtbildes. Die Stadt als Form, München, Berlin, 1923; Cord Meckseper, Kleine Kunstgeschichte der deutschen Stadt im Mittelalter, Darmstadt 1982. nun als Ordnungslosigkeit erscheinen. Die musste gebannt und verbannt werden. Der Raum der Kleinstadt blieb lange Zeit ein retardierendes Moment, in dem sich der Sinn für das Ungeplante und systemlos Konkrete erhalten und entfalten konnte. Gemessen an der rationalen Raumplanung erschienen die Relikte der Vergangenheit archaisch, aus einer Zeit vor dem Anfang der Moderne als der Zeit, in der der Mensch zu einer Funktion von Waren- und Informationsströmen wurde. Unsaubere Stadtviertel, in denen sich die Gassen wanden wie die Würmer, wo es keine glatte Fassade gab und alle Formen krumm und verdreht waren, mussten ausradiert werden. Raum für rationale Planung solle durch die Destruktion des Alten freigelegt werden. Dies geschah oft gegen entschlossenen Widerstand der Bewohner dieser Viertel. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte Stdte Viertel und oft grossere Räume bewahrt, die sich seit dem Mittelater kaum verändert hatten. Sie kännen auch in grösseren Städten als Kleinstadt in der Stadt verstanden werden. Sie wurden dann nicht länger toliriert, galten als Sicherheitsrisiko und Verstoss gegen die neuen hygienischen Standards und wurden oft als Brutstätten für Epidemien bezecinet. Stadtplaner entschieden, diese Viertel zu schleifen mund waren sich des tiefen Einschnitts in die Strukturen und Lebenswelten wohl bewusst. Meist hatten Fotografen den Auftrag, Monate bevor die Destruktionsabrbeuit began, den Gebäude, Strassen, Plätze und das Leben im Offenen zu dokumentieren. Tausende von Fotografien dieser Stadtteile entstanden und lagern in Archiven. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts, und insbesondere nach Haussmanns radikaler Stadterneuerung von Paris, wurde das System aus Boulevards, begradigten Strassen und Plätzen, an denen sie sich sammelten und wieder in die vier Himmelsrichtungen auseinanderstrebten, zum Modell. Dieser Wandel in der Auffassung des urbanen Raums hatte zwei Seiten. Er schuf das Vergnügen, über den öffentlichen Raum zu herrschen, da er der Ästhetik der abstrakten Symmetrie und Geometrie unterworfen wurde, doch zugleich unterwarf dies Planen alle, die in diesen neuen Räumen lebten, einer rigiden Ordnung. Die Metropole als geographischer ebenso wie als mentaler Raum, als Raum der Idee der Nation, der Zentralisation, Rationalisierung, politischen Herrschaft und der modernen Technik, der Maschinen und Apparate, der Medien und beginnenden Soziologie waren durch das Ideal der systematischen, wissenschaftlich angeleiteten Planung miteinander vernetzt. Im Unterschied dazu bewahrte die Kleinstadt eine Enge, ihre krummen Strassen und Gassen und die Abwesenheit einer geometrischen Ordnung. Ihr Raum blieb so krumm wie Kant, der vor der Epoche der Maschinen schrieb, einmal das Holz, aus dem der Mensch gemacht sei, nannte. Sie erhielt mit ihrem unregelmässigen, ungeordneten Raum für die physische Bewegung zugleich einen Raum, in dem das krumme Denken nicht verpönt war und an den ihre Bewohner daher emotional gebunden waren, ohne, im Gegensatz zu den Bewohnern der industrialisierten Grosstädte, zu wünschen, anderswo zu sein. Die Kleinstadt funktionierte als ein Mikro-Raum, der für bestimmte Lebensweisen und Kommunikationsformen konstitutiv war, in denen die Moderne eine leise Resonanz fand und zugleich Widerstand erfuhr. Die Distanz zur Metropole schuf einen Raum, in dem sich das Vernacular auch unter den aggressiven Bedingungen der Modernisierung erhalten konnte. Die Distanz der Kleinstadt, real und vorgestellt, sorgte für einen Schutz. Provinzialismus ist nicht eine Funktion der geographischen Distanz von Zentren, sondern ein Bewusstseinszustand und ein Sinn von Inferiorität, In Deutschland ist Weimar zweifellos die herausragende Beispiel einer Kleinstadt. Unter den zahltreichen Publikationen über den “Musentempel” gibt es einige, die vom dem Mythos Weimar unter dem Gesichtspunkt von Raum und Ort handeln. Einer dieser Versuche aus der Kulturgeschichtlichen Schule von Raymond Williams ist Walter H. Bruford, Culture and Society in Classical Weimar 1775-1805, Cambridge 1962; neuer und feuilletonistisch: Peter Merseburger, Mythos Weimar, Stuggart 1998, 3rd ed. 1999; Die erste Veröffentlichung, die konventionelle Bilder mit Fotografie verband und in kurzen Texten die Atmosphäre des Ortes einzufangen suchte, war das kleine Buch des Goethe-Bewunderers Wilhelm Bode, Damals in Weimar, Leipzig 1922. und die Kunst, Literatur und das Leben der Kleinstadt waren nicht defensiv, sondern sie entwickelten ein Bewusstsein ihrer innovativen Kraft und unabhängigen Standards, ohne den Blick beständig auf Paris, London, Berlin oder Wien zu richten. Die Identifikation mit diesem Ort als einem Raum der Differenzen war eine Reaktion auf den Nachdruck, mit dem die moderne Welt auf Anpassung und standardisierte Werte, Normen und Praktiken beharrte. Ihr Vernacular war ein aktiver Beitrag zu einer Verwirrung und Vernebelung von klaren Verhältnissen der Herrschaft und Abhängigkeit. Sie sah keinen Anlass zu kriechen, vor der Herrschaft der Grösse und Autorität der Zentren sich zu verstecken und sich zu verkriechen. Sie schuf einen distanzierten Raum zum schreiben, denken und leben, weder autonom noch der Dominanz eines Zentrums unterworfen. 6 Die vorgestellte Kleinstadt: 6.1 sanfter Widerstand Gegen die Anziehungskraft der aggressiven Grosstadt und ihrer Uniformität erhielt sich in ihr eine Gegenkraft der Vielfalt und des Eigensinns. Sie war weder der Raum für Eskapismus noch der Enge, Morbidität und Beharrung. Der Furor der Produktivität und Effizienz, der alles Widerständige erfasste und erbarmungslos einebnete oder ausstiess, schloss auch den Raum ein, den das Wort Kleinstadt bezeichnet. Dieser Raum bewahrte dennoch eine Distanz und öffnete die Möglichkeiten eines Denkens von Subjektivität, das Widerstand leistete. Dies Denken konnte nicht aus einer Position eines unbestimmbaren Aussen kommen, sondern musste einen Ort im Weg dieses Sturms einnehmen. Es bewahrte Prinzipien von Ethik und eine Stabilität, die jenseits der Grenzen dieses Ortes der Modernisierung zum Opfer fielen. Es kann dennoch nur innerhalb der Spur ihrer Zerstörungen bestimmt werden. Diese Position der Kleinstadt war nicht unschuldig oder naiv idyllisch. Sie störte. Sie änderte die Palette der kulturellen Distinktionen. Sie mischte sich ein und verwirrte das Machtspiel zwischen Zentrum und Peripherie, das im Zentrum der Ausbildung des modernen Europas ausgetragen wurde. Es wäre naiv, diesen Kampf um Herrschaft als einen schmerzlosen Übergang zwischen Entwicklungsphasen zu verstehen oder von einer blossen Neuverteilung des Wissens und der Mittel zur kulturellen Produktion zu sprechen. Das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie war ein Konflikt um Machtverteilung. Cf. Peter J. Hugill and D. Bruce Dickson (eds), The Transfer and Transformation of Ideas and Material Culture, Texas A and M University Press, 1988, bes.: Torsten Hägerstrand, Some Unexplored Problems in the Modeling of Culture Transfer and Transformation of Ideas and Material Culture. In diesem Verhältnis störte und verwirrte die Kleinstadt. Aus der Perspektive eines Nationalisten, wie etwa Treitschke, war die einflussreiche Position, die die deutsche Kleinstadt im literarischen und kulturellen Leben einnahm, zutiefst bedauerlich. Er beklagte sie als ein Hindernis auf dem Weg Deutschlands in den Aufstieg zur starken Nation mit einer machtvollen Kapitale von Weltgeltung. “Die handvoll trübseliger Kleinbürger im Parterre des weimarischen Theaterschuppens waren kein Volk […] Es fehlte den Deutschen überhaupt, wie Goethe klagte, eine Nationalkultur.” ‘Die goldenen Tage von Weimar’, in Treitschke, Bilder aus der deutschen Geschichte, Bd. 2, Leipzig, 1911, S. 1-25, hier S.11. Treitschke assoziierte die Fülle an Theatern im dezentralisierten Deutschland mit “Anarchie,” die, wie er ohne Begeisterung hinzufügte, auch einen Geschmack von unbeschränkter Freiheit bot. S.12. Im zunehmend internationalisierten Verkehr wurden Paris und London zu den Zentren der Orientierung und der Macht über die geistige und moralische Orientierung Europas und der europäisierten Welt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts übernahmen Berlin und Wien eine annähernd vergleichbare Position mit wesentlich geringerem Radius. Die Position der Kleinstadt innerhalb dieses Raums der Machtverhältnisse war zunächst die eines Widerstands gegen die Reibungslosigkeit und Totalität der Neuordnung des Raums nach den politisch-kulturellen Imperativen der Rationalisierung und Geometrisierung. Das aktive Kleinstadtbewusstsein führte notwendig zu einem Zusammenstoss mit dem Denken und in-der-Welt-sein nach dem Modell der Metropole. Das Erhalten des Vernacular war, wie Bloch nach Nietzsche argumentierte, ein Widerstand gegen die Umwertung aller Werte, die die Welt, wie wir sie kennen, von Grund auf verändert. Als in der Folge der radikalen Veränderungen seit dem späten 18. Jahrhundert die allgemeingültigen moralischen Werte verschwanden, wurde die alte philosophische Frage nach dem richtigen und guten Leben erneut gestellt. Die imaginierte Kleinstadt war nicht die Antwort aber der Versuch einer Reaktion. Sie funktionierte als ein Gegengewicht zu den wachsenden Unsicherheiten und dem Verlust an Orientierung. Sie folgte nicht dem Imperativ der rationalisierten Ordnung und widerstand der Macht der schieren Grösse. Sie konnte weiterhin als unordentlicher Raum von überschaubarer Grösse und damit als eine Externalisierung vom Eigenem erfahren werden. Sie bot Vertrautheit, verbreitete eine Stimmung von Sicherheit und Schutz vor den Verletzungen, die von der Modernisierung dem einzelnen zugefügt wurden. Sie erhielt eine eigene Zeit, unabhängig von der Zeit der gesellschaftlichen Rationalisierung und erhielt einen Raum für die Zeit individueller Biographien, abgeschirmt von der machtvollen Standardisierung der Metropolen, und der wachsenden Belanglosigkeit des Landlebens enthoben. Die Kleinstadt war urban, doch sie war zugleich ein Ort, an dem der Konflikt der modernen Geschichte zwischen Freiheit und Notwendigkeit, charakteristisch für das Grosstadtleben, zugunsten von individueller Selbstbestimmung ausser Kraft gesetzt zu sein schien. Das Kleinstadtidyll des Biedermeiers, die harmonisierten Städte der Reisebilder Laubes und seiner Zeit, waren nichts als die Trivialisierung dieses Konflikts zu einem Ende in Gemütlichkeit. Die Kleinstädte Heines, Büchners, Immermanns oder Raabes machten diesen Konflikt sichtbar. Die Unabhängigkeit der Kleinstädte ermöglichte einen kulturellen Partikularismus, der das Entstehen autonomer Räume förderte. ‘Stadtluft macht frei!’ war einmal die Sentenz der Leibeigenen gewesen. Wenn sie ihren Herren länger als hundert Tage entkommen waren und in der Stadt gelebt hatten, waren sie von den Banden der Leibeigenschaft frei. Eine Kulturgeschichte der Kleinstadt könnte aus dem Geist dieser Autonomie geschrieben werden, die elementar für das Selbstverständnis von einzelnen und literarisch-intellektuellen Gruppen bis in die Zeit blieb, als die Kultur des bürgerlichen Kapitalismus diese Freiheitstradition unter dem wachsenden Gewicht der Kulturindustrie, ihrer Massen und Medienmogulen erstickte. Vom mentalen Raum der Kleinstadt ging ein spezifisches Engagement aus. Das Zeitgerechte der Gegenwart und ihre profane Anbetung des Fortschritts konnte die Kleinstadt trotz ihrer retardierenden Funktionen nicht umkehren. Aber sie war der Ort eines milden Widerstands. Wenn Goethe im Epos “Hermann und Dorothea” die religiösen Flüchtlinge von 1731 aus Salzburg in eine Gruppe von Flüchtlingen umformte, die dem revolutionären Umsturz von 1789 in Paris entkommen war, entwarf er die Dichotomie der Moderne schlechthin. Revolution, Umsturz und radikale Veränderungen bringen Gefahr, Entwurzelung und Todesdrohungen mit sich, und sie sind zugleich der Versuch, sichere und vernünftige Lebensverhältnisse zu schaffen. Revolution und Gewalt werden als Versuch legitimiert, vor den Bedrohungen einer feindlichen Natur und dem politischen Terror vor-moderner Gesellschaften zu schützen. Vor diesem inneren Widerspruch in der Zivilisation der Moderne fliehen Goethes Flüchtlinge an einen Ort der Ruhe und Gelassenheit: die Kleinstadt. Goethe spricht von der idealisierten Kleinstadt als dem “glücklichen Winkel”, in dem selbstlose und fürsorgliche Menschen leben, die auf das Elend der Flucht mit emotionaler Zuneigung reagieren und inmitten einer bedrohlichen Welt die verlorene Sicherheit wiederherstellen. In diesem Epos ist es der Stolz der Kleinstadt, “klein wie sie sein mag,” so human und aufgeklärt modern zu sein, wie das Ideal der aufgeklärten Moderne fordert. Was das Besondere dieser Kleinstadt ausmacht, ist ihre Stabilität, die sie mit dem idealisierten Bild der griechischen Antike in der Lesart Winckelmanns verbindet. Die Moderne ist repräsentiert durch revolutionären Umsturz, aber zugleich hat der Raum der Kleinstadt, die sich in ihr erhielt, ausreichend Kraft, die Destruktion im Schicksal von einzelnen zu hindern und ihnen eine Heimat zu versprechen. In der Zeit von politischer Destruktion und Chaos schafft die Einbildungskraft im Raum der Kleinstadt ein Lebensideal wie nie zuvor in der Geschichte. In Goethes Kleinstadt lässt sich ein Gegenentwurf zur Moderne sehen. Er ist programmatisch charakterisiert durch die Abwesenheit von Tragik. Im Unterschied zu den “Wahlverwandtschaften” und anderen Texten Goethes über die Liebe öffnet die Kleinstadt dieses Epos den Raum für Liebe ohne Drama und tiefe Konflikte zwischen den Geschlechtern. Die Kleinstadt bildete den idealen Raum für eine Liebe, die der Verwirklichung des neo-klassischen Ideals von Humanität nahe kommt und eher den Namen Freundschaft verdient. Solange wir zwischen Politik und sozialer Kultur unterscheiden, können wir die Kleinstadt als den Raum für die Nuancen und Ambivalenzen und dialogischen Formen der Kommunikation aus einer sanften Opposition zur Politik verstehen. Die idealisierte Freundschaft meidet die Politik und baut an einer Gegenwelt der Opposition zur zunehmenden Unterstellung des Privaten unter zentralisierte Autoritäten. Die Subjekte dieser Freundschaftsbeziehungen bewahren sich vor der internalisierten und anonymen Kontrolle des Innenlebens. Nach Simmel war die Grosstadt der Sitz der Geldwirtschaft und der ihr korrespondierenden Einstellungen. Das unkalkulierte Vertrauen, das im Ideal der Freundschaft wirkt, bildet den extreme Gegensatz zu dieser auf der abstrakten Rationalität des Geldes beruhenden Grosstadtkultur. Den architektonischen, politischen und mentalen Rahmen für einen urbanen Raum jenseits der durch die Geldwirtschaft definierten Grosstadt bildete die einzigartige Kleinstadt. Der auf dem Kalkulieren und dem Prinzip des Pekuniären beruhende “rein verstandesmässige Mensch” muss gegenüber allem Individuellen der anderen Person indifferent sein, meint Simmel, da solche Beziehungen das rationale Kalkül grundsätzlich überschreiten, so wie das Subjektive keinen Platz im Prinzip des Pekuniären hat. Nach dem Zerfall der metaphysischen Systeme schuf sich das einsame Individuum unter den Bedingungen der revolutionären Moderne in der Kleinstadt einen profanen Raum für die Begegnung mit anderen ebenso isolierten Subjekten. In dieser Zeit entwickelte sich Freundschaft als eine konstitutive Kraft der sozialen Kultur. Ihre emotionalen Bindungen entlasteten von der Dominanz des Politischen und rechtfertigten persönliche Präferenzen und nicht egalitäre Ideale, affektive Motivationen und nicht Entscheidungen nach rationalen Kategorien. Die Kombination von Kleinstadt und Freundschaft kann mit einer anti-politischen Einstellung identifiziert werden, die für die Jugend des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Deutschland charakteristisch war. Es war wohl in erster Linie diese Kombination, die dem undramatischen Stück “Hermann und Dorothea” eine erstaunliche Popularität im deutschen Theaterpublikum und unter den deutschen Kleinstadt-Intellektuellen des 19. Jahrhunderts verlieh. Wilhelm von Humboldt gab in seiner Besprechung der Hoffnung Ausdruck, dass dies Bild der Kleinstadt zu einer Erneuerung der epischen Literatur führen möge, die sich der Zukunft dieses Bürgertums widme. Diese Hoffnung verwirklichte sich nicht, sondern teilte das Schicksal der Kleinstadt, die sich als Raum einer sanften Opposition überlebte. 6.2 Subjekt Eine andere Dimension im Wort Kleinstadt weist aus dieser Diskussion hinaus und stellt die Frage nach dem Zusammenhang von Raum und Denken, Raum und Subjekt. Kleinstadt ist eine Bezeichnung nicht nur für Distanz zur Metropole und eine retardierende Funktion, sondern ebenso für eine Mentalität, eine Art des Denkens über Produktivität und Kreativität, und nur solange beides zusammen gedacht wird, ergibt sich ein Bild der Beziehung zwischen Raum und Moderne, Kleinstadt und dem Zeitalter der Industrialisierung. Die Kleinstadt war kein Ort der Simplizität ohne ein Bewusstsein der Rationalisierung, sondern zeugte von einer tiefen Komplexität, die sich dem nicht sensibilisierten Blick entzog. Sie baute auf dem Kosmos von Moral und Wissen auf, der mit dem unübersetzbaren Wort Bildung bezeichnet wurde. Comitas oder Freundlichkeit der gesellschaftlichen Beziehungen luden das Leben der Kleinstadt mit einem Aspekt der civil society auf, der im kalten Wind der Grosstädte nicht überlebte. Diese Zivilität funktionierte auf zwei Ebenen. Sie bestimmte die Praktiken des Alltags, die Wieland, Goethe, Schiller, Herder auf ein theoretisch-literarisches Niveau zu heben und zu idealisieren suchten, und es wirkte ebenso in den Diskursen von Philosophie, Philologie oder Kunstkritik, die sich an der Schwelle zur Ausdifferenzierung in wissenschaftliche Disziplinen befanden. Sie standen im 18. und frühen 19. Jahrhundert in Deutschland nicht zuletzt dank der Kommunikationsformen der Kleinstadt in Blüte. Aus diesem mentalen Milieu war Alexander von Humboldt aufgebrochen, und zu ihm kehrte er nach einer anti-imperialistischen Eroberung einer ganzen Welt zurück. Er hatte weder politische Eroberungen gemacht, noch trugen seine Werke zur entstehenden Wissensproduktion im Sinn der ausdifferenzierten Disziplinen des spezialisierten 19. Jahrhunderts bei. Er baute an einem Wissen, das in den Horizont der Bildung gehörte und nicht den Fetischen Fortschritt und Grösse diente. Die Kleinstadt lieferte die notwendige, unaufgeregte Stille und den Abstand zur Normalität der Hysterie der Moderne, die für die Reflexion als einer Einstellung notwendig ist. Hier und nur hier konnte der Idealismus des 19. Jahrhunderts entstehen, der ganze Welten im Kopf schuf und in Bewegung hielt, die inzwischen unter der Ausdifferenzierung des Wissens ihren Geist aufgegeben haben, deren Elemente aber das Denken, soweit es überhaupt noch wagt, sich Welt vorzustellen and auszudenken, noch immer bewegt, selbst wenn es sich auf dem schwankenden Boden der Deterritorialisierung, Virtualisierung und Dekonstruktion bewegt. Zu einer Zeit, in der die Industrialisierung und ihr Synonym, die Urbanisierung, sich zur Bedrohung des Daseins steigerten, und die Symptome und Folgen der Destruktion in Literatur, Kunst und Philosophie dargestellt und analysiert wurden, wurde die Kleinstadt zum Ausnahmeort, an dem sich Widerstand gegen den Verlust der Subjektivität an die Strukturen der Moderne regte und mit Opposition gegen die Absorbtion in den anonymen Strom der Rationalisierung und zweckorientierten Produktion von Wissen experimentiert werden konnte. Die Grosstadt lockte mit unbegrenzter Freiheit. Aber dafür war ein Preis zu zahlen. Ihre Literatur zeugte von der schutzlosen Auslieferung an eine unkontrollierbare Umwelt, die zur Fremdwelt wurde. Im Gegensatz zu Orten der Isolation und Einsamkeit, die alle Bindungen lösen und auflösen, die Waldhütte oder das Hotelzimmer, bot die Kleinstadt einen Raum für die Kultivierung von Beziehungen nach dem Modell der Freundschaft. Abgeschirmt von der Beschleunigung und Kommerzialisierung des Lebens in den Städten, aber ebenso distanziert von den Anachronismen der Suche nach festen Identitäten und nach Authentizität des zurück-zum-Mythos-Diskurses, wurde die Kleinstadt zum Raum, in dem sich das kulturelle Gedächtnis vor dem Verschwinden der Vergangenheit retten konnte. Das ostentative Unbeteiligtsein, von dem Simmels Grosstadtanalyse spricht und das durch den Verlust an Bindung auch einen Verlust von Erinnerung bedeutet, vermied die Kleinstadt. Das Affektive und Nicht-Rationale gedieh, ohne in der binären Opposition zwischen falscher Erinnerung an eine idealisierte Vergangenheit und dem Verschwinden des Erinnerns gefangen zu sein. Die Kleinstadt wirkte wie ein Einbruch von Wirklichkeit in die artifizielle Konstruktion der modernen Stadt. In ihr bewahrte sich die Kraft einer kollektiven Erinnerung, in der noch die Wirklichkeit der griechische Polis nachschwang, in die zunehmend sich abstrahierende Gegenwart. Ein Beispiel findet sich in einem Grosstadtroman der klassischen Moderne, Robert Musils “Der Mann ohne Eigenschaften”. Der Tod seines Vaters gibt Ulrich den Anlass, die Metropole zu verlassen und in eine Kleinstadt zu reisen. Dieser Ortswechsel war die notwendige Voraussetzung für einen Durchbruch, den Beginn einer ganz neuen Handlung im Roman, dem Wiederfinden einer “vergessenen” Schwester und der verlorenen Erinnerungen beim Betrachten von Fotoalben und durch die sinnliche Erfahrung von Haus und Wohnung und Garten. Aus diesen Elementen des Kleinstädtischen beginnt der Roman ein Experiment mit dem Leben, das unter dem Namen “der andere Zustand” auf einer anderen Ebene als der empirischen Erfahrungswelt die verlorene Wirklichkeit zurückbringen und in die Zukunft hineinführen soll. 6.3 Kommunikation Zunächst war die Kleinstadt ein Versuch, urbane Strukturen der Kommunikation, in denen der Platz des Anderen gesichert war, in die Moderne hinein zu erhalten. Für den Platz des Anderen in der Kommunikation sorgten die Strukturen einer begrenzten und überschaubaren Öffentlichkeit. Bewohner der Kleinstadt konnten zu einem Berufsstand, einer Religion, einem Club oder einer Geheimgesellschaft gehören, und sie hatten darüberhinaus die besondere Mitgliedschaft in ihrer Stadt, die überschaubar war wie ihre Clubs und Vereine und Werte und Tugenden pflegte, die die Bedeutung der anderen Mitgliedschaften relativierten. Durch die Verbindung institutionalisierter Mitgliedschaften mit der informellen Teilhabe an einer imaginierten Gemeinschaft setzte die Kleinstadt eine partikulare Tradition der Opposition gegen zentrale Autoritäten fort und verhinderte zugleich die Isolation des einzelnen, der ein Gefühl für das eigene Selbst entwickeln konnte, ohne den zu hohen Preis der Isolation, den die Grosstadt für die Befreiung der Subjektivität forderte, zahlen zu müssen. Diese informelle Mitgliedschaft bildete ein konstitutives Element in der Auseinandersetzung zwischen Zentralisierung und dem Vernacular, Diskurssteuerung und Kreativität aus dem Krummen und Unscharfen. Maiken Umbach, ‘The Politics of Sentimentality and the German Fürstenbund 1779-1785’, The Historical Journal, 41, 1998, pp. 679-704, beleuchtet Goethes Vorstellung von Politik aus dem gespannten Verhältnis zwischen Weimar und Berlin. Der Aufsatz ist ein vorbildliches Beispiel für die Interpretation von Sprache und Stil als Bedeutungsträger politischer Handlungen. Die politische Interpretation von Freundschaft kommt jedoch zu Ergebnissem die den hier vorgeschlagenen diametral entgegenbstehen. Zu den wichtigsten Eigenschaften der Kleinstadtkultur gehörte, dass sie im öffentlichen Diskurs Verhältnisse zu schaffen suchte, für die die moderne Stadt keinen physischen und keinen mentalen Raum mehr hatte. Die agora war verschwunden. Aber ihre Kommunikationsstrukturen suchten nach Möglichkeiten der Restituierung einer dialogischen Kultur der Überzeugung aus direktem Kontakt, die den politischen und gesellschaftlichen Institutionen der Moderne fremd ist. Wenn die moderne Stadt unbegrenzte Emanzipation und Freiheit zur intellektuellen Produktivität anbot, so sorgte sie gleichermassen für das Entstehen von Formen der Kontrolle über die Produktion und der Herrschaft über Subjekte. Der Abbau von Hierarchien und die zunehmende Realisierung des Gleichheitsideals in der Kommunikation gingen Hand in Hand mit der Destruktion alter sozialer und kommunikativer Praktiken, die nun durch unbeeinflussbare Strukturen offener und anonymer Märkte ersetzt wurden. Die unbeschränkten Möglichkeiten der Meinungsäusserung und der Publikation waren die andere Seite der Normierung des Individuellen durch die Marktgesetze, die keine Ohren zum Hören und keine Stimme zum Reden haben. Alte Geflechte des gesellschaftlichen Verkehrs und der Kommunikation wurden zerrissen, die Subjekte isoliert und den Gesetzen des zügellosen Marktes ausgesetzt. Unter den Bedingungen der Kleinstadt entwickelten sich andere Formen der Kommunikation, die ein höheres Mass an Oralität bewahrten und statt der Gleichheit im Austausch von symbolischen Werten auf dem anonymen Markt zu weichen, die Ungleichheiten der direkten, persönlichen Kommunikation erhielten. In der Kleinstadt lebte eine Kultur der öffentlichen Institutionen und Clubs, die der Kommunikation dienten und Anwesenheit erforderte: Dialog, eingebettet in lebendige Beziehungen physischer Präsenz und leiblicher Nähe. Das bekannteste Beispiel dürfte die Tafelrunde der Herzogen Anna Amalia sein, die Georg Melchior Kraus Bild aus dem “Wittumspalais” für die Abbildung in Schulbüchern gerecht machte. Daran gemessen waren die Clubs der Grosstädte leer und blosse Fortsetzungen des Geschäftslebens. Trotz ihrer offensichtlichen Stilisierung war die bekannte Szene des ersten Treffens von Schiller und Goethe paradigmatisch. Sie trafen sich nach einem Vortrag im Club, begannen ein intensives Gespräch über gemeinsame wissenschaftliche und philosophische Interessen und vereinbarten einen Briefwechsel. Einer der ersten Briefe war Schillers vergleichende Analyse ihrer Charaktere, Literaturbilder und Welthaltungen, dem dann ein lebenslanger, beinahe täglicher Austausch von Briefen folgte. Dieser Beginn einer lebenslangen Freundschaft könnte als Urszene der vorgestellten Kleinstadt gelten. Die Kommunikation kleiner, urbaner Gemeinschaften war die positive Seite eines schillernden Verhältnisses zwischen dem Bewahren einer absterbenden Vergangenheit und dem Heraufziehen von Abstraktion und rastloser Intellektualität. Sie ist von der mittelalterlichen Stadt, die um ein Zentrum der Kommunikation, Verehrung und Begegnung mit Transzendenz herumgebaut wurde, und der Abwesenheit eines Zentrums der Kommunikation moderner Grosstädte gleich weit entfernt. Vor dem Zusammenbruch aller autoritativen Kommunikation in modernen, industrialisierten Gesellschaften schützte die Kleinstadt eine Weile. Sie bewahrte eine Dimension der direkten und polyzentrischen Kommunikation durch Oralität. Mit dem Siegeszug der Medialität, der am Ende des 19. Jahrhunderts begann, wurde dieser Versuch anachronistisch. Wenn Husserl in der IV. Cartesianischen Meditation die Frage stellt: “wie komme ich aus meiner Bewusstseinsinsel heraus…?”, Edmund Husserl, Cartesianische Meditatationen, Hamburg 1977, S. 86. so lässt sich durchaus sagen, dass er das Grundproblem des Kleinstadtbewussteins auf die Ebene phänomenologischer Reflexion hebt. “Wie kann, was in meinem Bewusstsein als Evidenzerlebnis auftritt, objektive Bedeutung gewinnen?” ist das Grundproblem nicht nur der frühen Phänomenologie, sondern ebenso des Kleinstadtbewusstseins: wie kann aus der Isolation des modernen Subjekts eine Kommunikation mit der Welt entstehen, die über den Anspruch subjektiver Einsichten hinausgeht? In einer Distanz zum grenzenlos offenen Weltbegriff der Moderne machte sich die Kleinstadt an den Versuch, eine Raumwelt des Kleinen zu entwerfen, in die sich die Horizonte der einzelnen einbetten liessen. Husserls Theorie dieser Horizonte wehrte sich gegen ihre Abstrahierung in linguistische Strukturen, eine “Intellektualisierung”, wie Simmel meinte. Gegen die Verflüchtigung der Subjekte und ihres Bewusstseins von Welt in das Spiel linguistischer Zeichen kämpfte Husserls Kommunikationstheorie gemeinsam mit den Dilettanten der Moderne, das heisst, mit Liebhabern, mit den Liebhabern der Kleinstadt, die sich den Rationalisten der Metropolen nicht ausliefern wollten. Madame de Staël hatte naiv diese Frage dadurch für bereits beantwortet betrachtet, dass die Inhalte der Kommunikation in deutschen Kleinstädten ihr aus Paris vertraut waren. Die Frage war aber nicht, worüber gesprochen wurde, sondern wie Kommunikation zwischen Subjekten, die sich aus ihrer je solipsistischen Selbstbestimmung verstehen, überhaupt möglich ist. Husserl gibt sich in den Meditationen alle Mühe, das “in voller Konkretion genommene Ego,” das er mit Leibniz Wort als Monade bezeichnet, aus der Isolation der epoché zu lösen und in die Kommunikation mit Welt zu führen. Aber sobald das Ich aus der isolierten und selbstbezüglichen Monade konstituiert wird, ist der Zugang zur Welt verbaut. Die V. Meditation kann das Problem nicht lösen und scheitert an der selbst gestellten Frage, ob “eine Phänomenologie, die Probleme des objektiven Seins lösen… wollte, nicht als ein transzendentaler Solipsismus zu brandmarken [sei].” Husserl S. 91 Ganz ohne einen abwertenden Nebenton gesprochen, ist Husserls Kommunikationstheorie in den Meditationen ein Entwurf im Mentalitätsrahmen der Kleinstadt. Ihr Experiment mit dem Raum denkt Räume der Kommunikation, in denen sich der moderne Solipsismus der Subjekte rückgängig machen lässt und sie sich nicht als isolierte Objekte unter anderen isolierten Objekten verstehen, sondern nach dem Modell der idealisierten Freundschaft aus dem wechselseitigen Verständnis mit dem je anderen erfahren. Dies Ideal korrespondierte der philosophisch-politischen Definition des 18. Jahrhunderts, meint Simmel, Vgl. u.a.Simmel, Hauptprobleme der Philosophie, Leipzig 1911, Viertes Kapitel: “Von den idealen Forderungen”. die eine Philosophie des ethischen Sollens entwickelt habe. Die Ideale Freiheit und Gleichheit sollten mit der unklaren und spät eingeführten Forderung nach Brüderlichkeit verschmolzen werden. Dieser Philosophie des Subjekts aus dem “Sollen” stelle das 19. Jahrhundert eine andere Form der Subjektivität und des Individualismus entgegen: die isolierte Einzigartigkeit des Individuums als eines Zentrums von Macht und Beherrschung der Natur. Diese Konzeption des Ichs setzte sich von dem Ideal des 18. Jahrhunderts scharf ab. An diesen beiden Prinzipien der modernen Subjektivität trennen sich die Theorien der Kommunikation. Husserls Kommunikationstheorie lässt sich als ein Versuch interpretieren, das Ideal des 18. Jahrhunderts wiederzubeleben. Will man die Assoziation mit den spezifischen Räumen des Urbanen aufrechthalten, ist das der Versuch, philosophisch an die Kommunikationsformen der Kleinstadt anzuknüpfen. Saussure und Wittgenstein haben keinen Zutritt zur Kleinstadt. Aber durch blossen Ausschluss verschwindet das Problem, das sie entdeckten, nicht aus der Welt. Das Kommunikationsproblem der Moderne verlagert Husserl nicht, wie sein Schüler Heidegger, in die Frage nach einer Wiederbelebung der verlorenen Authentizität. Heideggers archaisierende Interpretation der Dichter, Hölderlins vor allen anderen, sucht nach einem Ausweg durch die Rückkehr zum Anfang, er mag vor der griechischen Aufklärung liegen oder in germanischen Thing, dessen Wiederbelebung im modernen Ding aus dem Solipsismus der isolierten Objekte herausführen soll, dem Ding und dessen Nähe zum germanischen Versammlungsplatz des Thing, an dem gesprochen, verhandelt und authentisch kommuniziert werde. Husserls Versuch, den Solipsismus des modernen Ichs zu überwinden, führt in die vor-medialen Strukturen einer Kommunikationsgemeinschaft, in der sich die der Kleinstadt erkennen lassen. Und wie Husserls Versuch, aus der Isolation des cogito auszubrechen und in einem zweiten Schritt eine duale Kommunikationsstruktur zu entwickeln, in einer beziehungslosen Leere steckenbleibt, so scheitert auch das Modell der Kleinstadt an den Strukturen der heraufziehenden modernen Mediengesellschaft. Die Beziehung selbst muss als erstes und darf zugleich nicht als abstraktes Regelsystem von Zeichen gedacht werden, soll die unüberwindbare Isolation von entleerten Subjekten vermieden werden. Nur so wäre die Falle des Solipsismus zu vermeiden, in der die frühe Phänomenologie endete, und die auch das Experiment Kleinstadt letztendlich nicht vermeiden konnte. 6.4 Albträume Ein Bild der Kleinstadt als homogener Raum wäre eine Täuschung. Ihre Sonderstellung hatte ihren Preis, und die Literatur der Kleinstadt vertuschte ihn nicht. Sie war der paradigmatische Ort der Ambivalenz. Was Ulrich empfand, als er in Musils Roman den Kleinstadt-Bahnhof verliess, waren die stets unter der Oberfläche verborgenen Eigenschaften der Kleinstadt. Er “fühlte etwas ‘seelisch Stoffloses’, darin man sich so verlor, dass es die Neigung zu zügellosen Einbildungen erweckte.” Die Zügellosigkeit hatte stets zu den dunklen Seiten der Kleinstadt gehört. Für Ulrich wird die Kleinstadt zum Ort des (drohenden) Inzests. Zügellosigkeit schlug in diesen Jahren schnell in die Depressionen des Provinziellen um. Sie hatte aber zeitweise entscheidend zu ihrer Attraktion beigetragen. “Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus” hatte Müller seinen Wanderer über sein Verhältnis zur Kleinstadt klagen lassen und damit den melancholischen Ton des geliebten Weltschmerzes getroffen. Die Bindungen, die die Kleinstadt anbot, korrespondierten den bürgerlichen Sehnsüchten: das Mädchen sprach von Liebe und die Mutter gar von der Ehe. Wu/nsche, die zugleich Bedrohungen waren und in Angst stürzten. Während die Kleinstadt Subjektivität vor den Fragmentierungen der Grosstadt abschirmte und die Bedingungen für besondere Formen der Kreativität schuf, war ihre Struktur ebenso auf Einengungen, Grenzen und die Beschneidung von Freiheiten und Unterwerfung von Subjektivität angelegt. So wurde aus dem Ort der Sicherheiten und des Vertrauens leicht ein Ort der Albträume, an dem die “schwarzen Schwingen der Metaphysik” (Hölderlin) den Geist umschwirrten. Die Kleinstadt war auch das Stein gewordene dunkle Unbewusste der Zeit. Sie war seit ihrer Erfindung ein Mittel zur Reduktion von Unsicherheiten durch eine Trennung von innen und aussen, aber sie bot nur gegen die Bedrohung von aussen einen Schutz. Vor den Drohungen, Erniedrigungen und Verletzungen aus dem Innen konnte sie keinen Schutz bieten. Das gehörte zur paradoxen Lage der Kleinstadt. Ihre idealtypische Situation stand in Opposition zur Realität ihrer Umgebung, und sie versetzte Subjektivität in eine zweideutige Relation zur modernen Wirklichkeit. Ihre Sicherung der Autonomie schuf einsame Seelen, den bösen Träumen von Isolation und Hilflosigkeit ausgesetzt, die sich durch Kommunikation nicht auflösen liessen. Für die autonome Seele wurde die andere autonome Seele zum ersten Objekt des Begehrens. Dagegen blieb das Ideal der Freundschaft machtlos. Einsamkeiten potenzierten sich. Aus diesen Begehren schuf die vorgestellte Kleinstadt einen psychischen Raum, von der Natur ebenso wie von den Verletzungen der Modernisierung beschützt, aber zugleich auch abgetrennt, so dass das Individuum frei war und die von Produktivität freigesetzte Zeit hatte, in seine tiefsten Abgründe zu blicken. Unter einer Oberfläche der Harmonie war die Kleinstadt ein Treibhaus für Konflikte und unkontrollierte Ausbrüche kranker Seelen. Hier wurden die Dramen der Natur nicht durch die synthetischen Realitäten der Grosstädte ersetzt und die Anomien der Grosstadt nicht durch eine Vergnügungsindustrie kompensiert und trivialisiert. Die Städter zahlten zu ihrem Selbstschutz den Nachtwächter, der, mit Horn und Pike ausgerüstet, vergeblich gegen die Gespenster kämpfte, gegen die sich schützen wollte, wer in der Kleinstadt Ruhe suchte. Im ärgsten Falle entpuppte sich der Nachtwächter selbst als der Agent des Bösen. Karl Philip Moritz hoffnungsloser Anton Reiser und die pietistischen Ursprünge der masochistischen Suche nach dem tiefsten und dunkelsten Grund des Selbst benötigten die Kleinstadt als physische Basis und als mentale Konstellation. Die moderne Autobiographie ist die Gattung der Kleinstadt. Der Raum der inneren Zerrissenheit in Goethes Faust, Hölderlins Heidelberg, E.T.A Hoffmanns verrückte Orte, die nur entfernt dem Berlin ähnelten, das der Leser aus anderen Berichten kannte, Bonaventuras Kleinstadt des Nachtwächters und der dunklen Träume sind Beispiele für die psychologischen Abgründe, die sich hinter einer freundlichen Erscheinung verbargen. In ihr liesse sich die heimliche Wiederkehr der verdrängten Natur vermuten. Im Dunklen fielen die Verhüllungen, und die Kleinstadt verwandelte sich in ein Schreckenskabinett, auf dessen krummen Bahnen die losgelassene Phantasie ihren Amoklauf beginnen konnte. Die Geschichte des modernen Ichs entfaltet sich zwischen den Extremen absoluter Freiheit in einer Welt ohne Grenzen und der Sehnsucht nach einem festen Ort der Sicherheiten und des Vertrauens. Diese beiden Pole haben ihre jeweilige Kehrseite: Angst vor dem Offenen und Hass auf die Repressionen durch Bindung oder Melancholie und Depression. Thomas Bernhardhat wohl das Idyll so radikal wie kein anderer verfolgt und die obsessiven Bilder der Verzeiflung an der Kleinstadt ins Äusserte gesteigert. (Frost, 1964); andere Beispiele wären Franz Innerhofer (Schöne Tage, 1974), Josef Haslinger (Der Tod des Kleinhäuslers Ignaz Hajek, 1985) und Dramen von Franz Xaver Kroetz, Rainer Werner Fassbinder, Martin Sperr oder Elfriede Jellinek. Das Land, das Dorf, die kleine Stadt sind Orte, an denen Hass ausgebrütet wird und Melancholie und Depressionen die Seele verdunkeln. Die Freude, ein Heim und eine Heimat zu haben, verkehrte sich leicht ins Gegenteil und führte in die Krisen von Klaustrophobie. Die Zwänge des Raums und die repressive Herrschaft von eingemauerten Räumen über das Subjekt waren verstörende Erfahrungen und wurden zum Topos des Schreckens in der Literatur und Kunst des 19. Jahrhunderts. Die Kleinstadt, von der offenen Welt isoliert, bewegte sich um sich selbst, machte ihre Plätze und Gassen zu Gefängnissen, die jedem, der sich in diesen geschlossenen Räumen bewegte, die Luft zum Atmen nehmen konnte. Wenn man von einem spezifisch magischen Realismus der deutschen Literatur im 19. Jahrhundert sprechen kann, so ist die Kleinstadt in Romanen, nach E.T.A. Hoffmann oder Tieck, von Storm, Raabe, Stifter, Keller, Mörike der Raum, in dem das Magische eindringt und die Vernunft der Moderne verkehrt. Dieser Raum band den einzelnen wie mit magischen Banden, verweigerte das Recht, sich zu entfernen oder einen autonomen Raum des Eigenen herauszuschneiden. Diese Herrschaft mit den unsichtbaren Mitteln der Internalisierung steht hinter dem Glück, sich aus dem Zwang entfernen, sich unsichtbar machen zu können, von dem etwa Mörike spricht, wenn er ins Phantasieland Orplid flieht oder Bloch, wenn er sich ins Baumhaus erhebt. Der Raum der Kleinstadt war nie frei von der Gefahr, zur Materialisierung von Angst und Melancholie in Stein zu werden, die Häuser und Salons in Brutstätten der Angst und Teufelspakte zu verwandeln, in denen die unheimlichen Doppelgänger entstanden oder Peter Schlemiehl seinen Schatten verkaufte. Sobald die Häuser verlassen wurden, entstanden aus den Zwischenräumen der Plätze und Strassen die Bühne für die Auflösung des Ichs. Noch in Benjamins Miniaturen aus der Kinderwelt im Berlin um 1900 lebt diese Doppelbödigkeit der Orte und Dinge der Stadt fort. Freud macht seine Beobachtung, dass das Heimliche nichts als die Kehrseite des Unheimlichen bilde und das eine leicht in sein Gegenteil umschlage, am Beispiel von Hoffmann, dem exemplarischen Autor des gespenstisch Unheimlichen in der Mitte kleinstädtischer Normalität. Freuds Beobachtung gilt für das Leben in der Kleinstadt in exemplarischer Weise und, so liesse sich mit einiger Berechtigung sagen, konnte nur am Leben der Kleinstadt gemacht werden. Wörter wie “Heimtücke” oder “heimsuchen” machen Gebrauch von der Verkehrung des Wortes “Heim” in sein Gegenteil. Wo anders als in einer deutschen Kleinstadt hätte Dr. Fautus seinen Pakt mit dem Teufel schliessen können, und wo anders hätte Thomas Manns Dr. Faustus das Ende von Humanismus und Bildung ausbrüten können also in einer deutschen Kleinstadt? Nichts konnte so unheimlich werden wie der alte vertraute Ort der kleinstädtischen Sicherheiten. 7 Das Ende In dieser Ambivalenz aus Vertrauen und Angst war das Vernacular der entscheidende Begriff für die Raumkonstellation emotionaler Bindung, Liebe oder Hass, die auf ihre Weise den Weg in die Moderne des Urbanen und der Welt der Apparate und ihrer zweiten Wirklichkeit bahnte. Das Entstehen eines Bewusstseins von Postmoderne war nötig, um diese moderne Dimension der Kleinstadt wahrnehmen zu können. Das Ende der Kleinstadt setzte mit der Krise der Zivilisation der Moderne am Ende des 19. Jahrhunderts ein. Der Blick aus der Perspektive ihrer modernen Verächter muss die Sicht auf die Kleinstadt als einen produktiven Ort in der Modernisierung verstellen. Als Raum eines anderen Wegs in die Moderne, den sie in realen und vorgestellten Welten über mehr als hundert Jahre eingenommen hatte, kann sie nur wahrgenommen werden, sobald sie aus dem Vergleich ex post fest mit der erfolgreichen Metropole der Nationalstaaten erlöst wird. Sie war nie der reine Ort der Kreativität und nie der Ort rein provinzieller Sterilität oder Depression, sondern stets eine fragile Mixtur, eine ambivalente Mischung aus in sich widersprüchlichen Kräften. Poeten und Philosophen rebellierten um 1900 gegen die falschen Ideale und die Enge der Gegenwart aus Hass auf die Kleinstadt. Sie wurde zum Ort des Aufstandes und Vatermords. Sie stellten sich nun extreme Orte der Natur wie das Hochgebirge oder das Meer oder der Vor-Zivilisation wie die Südsee vor, aus denen sie die Bilder einer Gegenwelt zur Grosstadt entwerfen konnten. Ebenso bedeutend wurde der vorwegnehmende Traum vom Schlachtfeld eines Krieges, auf dem das Musterstück der Moderne und bürgerlichen Rationalität, die Grosstadt, in Schutt und Asche versinken würde, wie es Georg Heyms Gedichte und Tagebuchaufzeichnungen erträumten. Die Phantasien der Kleinstadt hatten ausgedient. Sie konnte verlacht oder schlicht ignoriert werden, da sie den Punkt der Versteinerung überschritten habe und zum sterilen Fossil geworden sei. Egon Schieles Kleinstadtbilder, “Tote Stadt” benannt, zeigen solche Fossile. Nietzsches Zarathustra erfährt diese Stadt als den Ort der Philister und flieht in die Berge und Wälder. Brechts “Baal” und seine frühen Gedichte erklärten dieser Welt der kleinstädtischen Philister, der Enge und Hipokrisie den Krieg. In ihren Wohnungen stank es nach verwesenden Leichen, wie im Schrank des Elternmörders Apfelboeck der „Hauspostille“. Nun konnte die Grosstadt in einem neuen Licht gesehen werden, und das war nicht das Zwielicht der Kleinstadt, sondern das grelle Licht der neuen Bogenlampen. Benn, Döblin, Brecht und Musil schufen Bilder der Großstadt, aus denen die Faszination sprach. Sie zerstörten aus Begeisterung über das Neue und Grosse der Grosstadt oder aus blankem Zynismus jeden Aspekt des vernacular, des positiv besetzten Konkreten und Vertrauten im Raum der Kleinstadt. Die Kleinstadt wurde nun hohl und leer, und nur die Großstadt hatte den als grenzenlos vorgestellten Raum für die Widersprüche, Feindseligkeiten und den Untergang auf hohem Niveau. An die Stelle von Werthers Kleinstadtschicksal, an dessen Ende eine Kugel und eine lange, sprachgefüllte Agonie stand, trat nun die Grosstadt als Ort des brutalen Lebenskampfes, nach dem Muster des Kriegs, als geräuschvolle aber kommunikationsarme und substanzlose Verlängerung des Schlachtfelds in den Frieden. Die Apokalypse braucht die Gosstadt. Als 1925 das Projekt einer modernistischen architektonischen und künstlerischen Zukunft in Weimar aufgegeben wurde, übernahm eine finstere Ideologie den Ort. Sie hatte ihren Ursprung nicht im Geiste der Kleinstadt. Aber es ist ebenso festzuhalten, dass die Kleinstadt, einmal in den offenen Kampf mit dem Zentrum gezwungen, keine Kraft für eine politische Auseinandersetzung hatte. Globalisierungstheorien argumentieren gern weiterhin auf einer abstrakten Makro-Ebene, auf der Fragen nach der Kleinstadt irrelevanbtwerden. Lefèvres einflussreiche Theorie des Kapitalismus als einer Strategie zur “Produktion von Raum” konzentriert sich auf die Organisation und Reorganisation von territorialen Trennungen von Macht und Arbeit mit dem Ziel, productive Räume für die Vermehrung von Kapital zu schaffen. Für soche Teorien sind die Beobachtungen Simmels keine Fussnote wert und Fragen nach Heimat und dem Eigensin des Vernacular und seiner retardierenden Funktion erscheinen wie der Luxus im Denken von marginalen Philosopphen aus der Welt von gestern. Das Augenmerk ist strikt auf die Konzentrationen von Kapital und Macht in den global cities gerichtet. Vgl. Anm. 3 und Michael Hardt und Antonio Negri, Empire, Cambridge, London 2000; Robert Went, The enigma of Globalization. A Journey to a new Stage of Capitalism, London, New York (Routledge) 2002. Dieser Krieg war für sie von Anfang an verloren. Von 1929 an bildeten die Nationalsozialisten die Landesregierung in Thüringen und Innenminister Frick begann seine Attacken gegen die “Negerkultur” und seinen Kampf für eine nationale und völkische Wiedergeburt der reinen deutschen Kunst. Auch in dieser Hinsicht war der Nationalsozialismus modern. Die Partei mag in den Kleinstädten disproportional stark gewählt worden sein, ihre Ideologie war die der Grosstadt, je grösser desto besser. Die Monumentalbauten und die kolossalen Aufmarschstrassen legen Zeugnis vom Wahn der Grösse und Zentralisierung ab. Das Eigene der Kleinstadt schrumpfte zur Unsichtbarkeit und war zu schwach und unscheinbar, um diesem Angriff etwas entgegenzusetzen. Im Raum der Kleinstadt hatte ein sanfter Widerstand lange Zeit überlebt. Nun gilt es, andere Räume zu entdecken um die Kraft zum Eigensinn zurückzugewinnen.