Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 63 (2007), 9-20
WODAN ODER WARG:
ZUM BRAKTEATEN NEBENSTEDT I
von Diether Schürr – Gründau
Die Runeninschrift auf dem Brakteaten Nebenstedt I (Hannover)
„wird gewöhnlich gliaugiRu iurnRl transliteriert” (Düwel 2001: 47).
Das erste u ist gewendet, das zweite gestürzt und das r auch. Die
Punktierung des n zeigt an, daß die Lesung nicht sicher ist.
Nebenstedt I nach J. J. A. Worsaae1
Klaus Düwel hat 1977 die Geschichte der Lesung und Interpretation
dieser Inschrift verfolgt, wobei es ihm hauptsächlich auf das letzte
Zeichen ankam, das 1889 ‚verloren ging’. Bedeutsamer ist aber, was
sich daraus für die Lesung des drittletzten Zeichens ergibt: Sowohl
Dietrich 1865: 268 als auch Stephens 1887/88, Bracteates No.7 und
Henning 1889: 130 sahen darin ein g, erst Bugge nahm 1893, 125-127
ein n an, was sich zusammen mit seiner Interpretation uıu r(u)n(o)R
„Jeg (...) vier Runerne” durchgesetzt hat. Nur Antonsen ist 1975, 62f.
zu g zurückgekehrt, während Düwel selbst S. 93f. bemerkte, das Zeichen könne „nicht mit letzter Sicherheit bestimmt werden”, in Anm.16
aber „eher für ein n” plädierte, weil der zweite Schrägstrich „deutlich
kürzer” sei. Nach dem „etwa 5 : 1” vergrößerten Photo S. 90 ist allerdings nicht ganz klar, ob das obere Ende dieses Schrägstrichs wirklich
erhalten ist – der erste Schrägstrich des folgenden Zeichens ist sehr
undeutlich, und auch das obere Ende seiner Senkrechten ist beschä1
Wie Ellmers 1970: 209 Abb.10a.
10
digt: Eine Verwerfung zieht sich von da bis zum oberen Ende des
Schrägstrichs. Und jedenfalls hat das Zeichen zwei kreuzende Schrägstriche, gleicht also weit mehr einem g als einem n, das hier mit seiner
Senkrechten viel Platz gespart hätte, zugunsten des letzten Zeichens,
das nur mit Mühe noch Platz fand.
Düwel ging auf die Begründung für Bugges Deutung nicht weiter
ein, sondern schloß sich ihr an.2 Sie beruht aber auf Voraussetzungen,
die im Grunde seit Edith Marolds Aufsatz „Thor weihe diese Runen”
von 1974 hinfällig sind. Diese Formel ist auf zwei dänischen Runensteinen der Wikingerzeit (mit und ohne Demonstrativpronomen) belegt, während auf einem dritten das Denkmal selbst Objekt ist und ein
schwedischer Stein die Formel ohne Objekt bietet. Sie diente offenbar
dem Schutz der Runensteine. Die Runenformel kehrt außerdem zu einem Stabreimvers erweitert in der sog Canterbury-Formel einer englischen Handschrift wieder: „Thor weihe dich, der Thursen Herr”, wo
sie einem Wundfieberdämon gilt (und Thor zum Riesenkönig gemacht
ist). Hier handelt es sich um einen Exorzismus. Literarische Zeugnisse
schließen sich an: Bei Snorri ‚weiht’ Thor mit seinem Hammer den
Scheiterhaufen Balders und Nannas, ohne daß der Sinn dieser Weihe
klar wird, und an anderer Stelle die Überreste seiner zuvor verzehrten
Böcke, die daraufhin wieder lebendig werden. Im Thrymlied soll der
als Braut verkleidete Thor selbst ‚geweiht’ werden:
„Bringt den Hammer, die Braut zu weihn!
Legt Mjöllnir der Maid in den Schoß!
Mit der Hand der Var weiht uns zusammen.”
(Str. 30 nach Genzmer)
Das Verb vígja ist in diesen Zeugnissen also in sehr verschiedener
Funktion belegt. Marold kam in ihrer Analyse zu dem Schluß, man
könne „in der Weihefunktion Thors, die uns skandinavische Zeugnisse
des 10. bis 13. Jahrhunderts belegen, nicht mehr einen alten Zug im
Bild des germanischen Donnergottes sehen, sondern eine historische
Entfaltung der spätheidnischen Religion, gegründet auf der Entsprechung von Thor und Christus und Hammer und Kreuz und auf dem
Vorbild der christlichen Weihepraxis” (1974: 222). Vígja hat dabei die
Bedeutung von benedicere und auch exorcizare angenommen. Aller2
Seine eigene Begründung S. 94 ist ein geradezu klasssischer Zirkelschluß: „geht
man (...) von einem Verb ‚weihen’ aus, dann zieht das ein Objekt nach sich, wozu
nur rūnōR paßt; rechnet man mit diesem Objekt zuerst, ergibt sich unter Hinweis auf
andere Runenformeln am ehesten das Verbum ‚weihen’.”
11
dings übernahm Marold die auf Bugge zurückgehende Deutung der
Brakteateninschrift unbesehen (1974: 205) und war daher zu der Annahme gezwungen, „daß ein religiöser Wandel stattgefunden habe, der
zu diesem Phänomen der Runenweihe durch Thor geführt hat” (1974:
213). Der wirkliche Sachverhalt ist aber der, daß Bugges Lesung von
dieser Runenweihe inspiriert war.3 Die Runenweihe auf dem Brakteaten ist also ein Anachronismus. Folglich ist auch die fragwürdige Lesung n aufzugeben und zu der Lesung g zurückzukehren.
Die Heranziehung der späteren Überlieferung ist für die Deutung
solcher Inschriften sicher unerläßlich, weil sie für sich genommen
kaum verständlich werden. Aber man darf dabei nicht ungebrochene
Tradition voraussetzen, sondern muß auch mit Entwicklung, ‚externen’ Einflüssen und Brüchen rechnen, was es schwermacht, echte
Konstanten zu erkennen. Geschichte hat stattgefunden und damit auch
keineswegs nur oberflächliche Veränderung.
So ist es auch verfehlt, in glïaugiR einen Gott zu erkennen. Diese
Lesung und die Deutung „han med de lysende Øine” gehen ebenfalls
auf Bugges Behandlung der Inschrift im Jahr 1893 zurück. Er verglich
altnordisch eineygr und Báleygr, und er sah auch schon, daß sich diese
Benennung auf das Brakteatenbild beziehen läßt: Ein Männlein mit
großem, kreisrundem Auge, in dem er aufgrund der angenommenen
Weiheformel Thor erkennen wollte. 1970: 209f. erblickte Detlev Ellmers in dieser Benennung „eine genaue Entsprechung zu dem im 13.
Jh. auf Island überlieferten Odinsbeinamen Baleygr” und wollte deswegen nun auf dem Brakteaten Odin selbst erkennen. Düwel wendete
sich 1977: 95 gegen diesen Kurzschluß: „Odin heißt auch Bileygr ‚der
Schwachsichtige’ (dem ein Auge fehlt), und wir wissen nicht, wie
weit die Erfordernisse des Stabreims auch die (Er)findung neuer
Namen mit sich gebracht haben, gerade in den Grimnismál (Str. 47)
und in den πulur, wo diese beiden Odinsnamen nebeneinander
vorkommen” – und neben vielen anderen.4 Da ist der Abstand zwischen dem Zeugnis aus der Völkerwanderungszeit und den literarischen Zeugnissen bedacht. 2001 folgte Düwel aber dann ohne jede
3 Ebenso die Auffassung von wigiþonar auf der Fibel von Nordendorf als Entsprechung von þur uiki. Ein „Kampfdonar” (siehe Marold 1974, 222) ist aber weit wahrscheinlicher. Die Vorfügung von wigi- machte ihn mit wodan reimend.
4
Allerdings erscheint schon bei einem Skalden Ende des 10. Jhs. Norwegen als
Báleygs brúð, Odinsbraut (von See 1980, 38). Für den Binnenreim der skaldischen
Verse war eine Variation Bileygr : Báleygr auch ganz praktisch.
12
Bedenken den Brakteatendeutungen Karl Haucks, der auf ihnen zumeist Wodan/Odin erkennen will, so auch hier.5 Daher führte er nun
Nebenstedt I im Abschnitt „Der göttliche Runenmeister” S. 47ff. an
(mit Abb. 6b) und erklärte: „Der dargestellte Gott spricht und weiht
unter einem seiner Namen GlīaugiR (literarisch ist der Odinsname
Báleygr ,der Flammenäugige’ überliefert) die Runen, die er selbst gefunden hat und darum schriftmächtig beherrscht” (S. 49). Da gibt es
also keine Geschichte mehr, sondern nur noch Gleichsetzung.
Auch die anderen in diesem Abschnitt angeführten Brakteaten
lassen nur mit Gewalt auf einen „göttlichen” Runenmeister schließen:
Ihre Inschriften stützen die wodanistische Brakteatendeutung nicht,
vielmehr beruht die Deutung der Inschriften auf ihr. Das erste Beispiel
dafür soll der Brakteat Sievern-A mit der von Wolfgang Krause r. w. rilu
gelesenen Legende bieten, die zu runoR writu wie auf dem Stein von
Järsberg (Düwel 2001: 36) zu ergänzen und zu korrigieren wäre:6 Das
sei eine „Offenbarungsformel des Gottes Odin”, der damit „seine Verfügung über die Macht der Schrift dokumentiert”. Primär würde eine
solche Verschreibung aber die mangelhafte Schriftbeherrschung des
Herstellers dokumentieren (bei Brakteaten häufig), und in Järsberg ist
es ein erilaR, der diese Formel gebraucht. Es ist also Willkür, die IchForm auf einen Gott zu beziehen. Man müßte also auch noch eine Tabuisierung der Götternamen postulieren.
Paradoxerweise ist der bei Düwel folgende Abschnitt mit „Irdische
Runenmeister?” überschrieben, als ob es weniger sicher sei, daß die da
angeführten Schreiberverse auf den Brakteaten Tjurkö I (Abb. 6d), wo
„für Kunimund” geschrieben wurde, und den Brakteaten von Eskatorp
und Väsby, wo ein erilaR „malte”, solche ‚Runenmeister’ nennen. Das
kehrt die Beweislage um und illustriert noch schlagender, wie fatal
5
Die ideologische Voraussetzung dafür bildete der Wodanismus Otto Höflers.
Hauck hatte den traurigen Mut, 1965 einen Aufsatz Höflers von 1941 wiederabzudrucken („Ergänzte Fassung”, S. 52ff.), der da in der deutschen Heldensage die „germanische Seele” wiederfand und in ihr die Amoral der SS. Er sollte in dem Sammelband eine „Forschungswendung” gegen Heusler „beleuchten” (S.IX), die für
Haucks Verständnis von Bilddenkmälern bestimmend blieb. Wie nahtlos sich Haucks
Deutungen in Höflers Vorstellungen einfügten, zeigt dessen Besprechung von 1972.
Eine nüchterne Kritik von Haucks Argumenten für Wodan bietet Kathryn Starkey
1999, die aber in Anm. 3 mit „See also Höfler” nur sehr lakonisch auf seine
Abhängigkeit hinweist. Nur sie erklärt aber, warum Hauck alles auf Wodan beziehen
wollte.
6 Nach den Photos bei Hauck 1970, Abb. 6 sieht das zweite Zeichen wie ein þ aus.
13
sich der Anschluß an Hauck auf Düwels Verständnis der Braketateninschriften auswirkte.
Die altnordische Überlieferung spräche zunächst eher dafür, „Glühauge” auf Thor zu beziehen. So bemerkt Snorri zu seinem Kampf mit
der Midgardschlange:
„Man kann mit Recht sagen, daß niemand etwas wirklich Furchtbares
gesehen hat, der es nicht mit ansah, wie Thors Augen der Schlange
entgegensprühten und die Schlange von unten her ihn anstierte und
Gift ausblies”
(Diederichs 1987, 157).
Das wird von einem Bild inspiriert sein. Im Thrymlied erschrickt der
Riese vor dem Blick des verkleideten Gottes:
„Wie furchtbar sind Freyjas Augen!
Wie Feuer flammt es aus Freyjas Blick!”
(Str.27 nach Genzmer).
Diese Schilderungen haben mehr Gewicht als das willkürliche Herausgreifen eines von vielen Odinsnamen, der nirgendwo motiviert wird,
und den zweiten Vers (þicci mér ór augom eldr of brenna) hatte
schon Bugge herangezogen. Aber feurige Augen kommen in der
altnordischen Überlieferung noch öfters vor, bei Ungeheuern und
Helden, und so ist es auch Willkür, dabei nur an Götter zu denken,
statt die ganze Palette der Verwendungen dieses Motivs zu berücksichtigen. Und das dargestellte Männlein ist nicht nur „eine Männerfigur mit überdimensioniertem Auge” (Düwel 2001: 47): Das
unterschlägt alle anderen Charakteristika, weil sie gar nicht zu einem
Gott passen (und auch nicht zu einer Runenweihe). Es ist ja nackt,
sein Mund weit geöffnet, die rechte Hand umfaßt das Kinn, die linke
bedeckt die Scham. Mit dieser Gestik dürfte eine höchst irdische
Notlage bezeichnet sein, so drastisch, daß es schwer zu begreifen ist,
wie man darin je einen Gott erkennen und mehr als ein Jahrhundert
daran festhalten konnte.
Diese Signalisierung einer Notlage engt aber die Wahlmöglichkeiten für „Glühauge” ein – und läßt daran denken, wie im Völundlied
die Königin vor dem Blick des Helden erschrickt:
„Seine Augen gleichen dem gleißenden Wurm”
(Str. 17 nach Genzmer).
Das signalisiert hier die drachengleiche Wut des seines Hortes beraubten und versklavten Meisterschmieds, der daraufhin auch noch gelähmt wird. Und so könnte auch hier statt der Wut Wodans oder Thors
ohnmächtige Wut gemeint sein, die der Not entspringt.
Alles weitere hängt von der Deutung der folgenden Zeichensequenz
14
ab. Die Alternative zu Bugges Deutung ist, uïurgR als eine glïaugiR
analoge Personenbezeichnung aufzufassen. Das hatte schon Henning
1889 angenommen (freilich RE. URGZ gelesen), und dazu kann man
auf dem Brakteaten Seeland II hariuha haitika:farauisa vergleichen,
wo zwei analoge und auch lautähnliche Benennungen aufeinanderfolgen.7 Das legt also die Annahme eines Kompositums uï-urgR nahe.
Für das Erstglied kann Bugges Zurückführung auf *wīh- beibehalten
werden.. Mit der Lesung auch des zweiten u als [w] ergibt sich [wrgR], womit das zweite Glied unschwer zu *wargaR ergänzt werden
kann – um die Ergänzung von Vokalen kommt man ja bei keinem
Deutungsversuch herum, und glïaugiRu vor dem Männlein ist so groß
geschrieben, daß für die Fortsetzung hinter ihm nur sehr wenig Platz
blieb: Das erklärt diese Verkürzung. Von einem dritten Wort fand
gerade noch der erste Buchstabe l Platz.
Das germanische *wargaz ist zuerst um 470 latinisiert als uargus in
einem Brief des Bischofs Apollinaris Sidonius von Clermont belegt,
mit der Erklärung hoc enim nomine indigenas latrunculos nuncupant
(Jacoby 1974, 31). Es hat sich zu einem überaus negativ aufgeladenen
Wort entwickelt, wie die christliche Stabreimdichtung zeigt: Im altsächsischen Heliand ist Judas, der sich selbst erhängt, ein uuarg an
uurgil (v.5167), im althochdeutschen Muspilli der Antichrist der
uuarch (v.39), und im altenglischen Beowulf Grendel, der Nachfahre
Kains, ein heorowearh hetelic (v.1267). Dagegen wird in Maxims II
der Warg schroff dem Weisen kontrastiert und ist nichts als ein VerĀ sceal snotor hycgean
brecher:
ymb þysse worulde gewinn – wearh hangian,
fægere ongildan þæt hē ǣ r fācen dyde
manna cynne.
(v. 54ff.)8
7
Noch ähnlicher wären sie, wenn man zu hari-u<i>ha „Heerweiher” ergänzen
würde, und dann könnte dem das Speerzeichen korrespondieren, das hier in die häufige Bildformel ‚Kopf über Pferd’ eingefügt ist (siehe Düwel 2001: 48 Abb.6c). Diese
Inschrift ist ebenfalls mit der von Järsberg zu vergleichen, so daß der mögliche
Bildbezug für die Darstellung eines ‚Runenmeisters’ – oder seine Identifizierung mit
einem Vorbild? – sprechen könnte. Auf Heerweihe durch Speerwurf wird die Inschrift
auf dem Lanzenschaft von Kragehul bezogen (Düwel 2001: 28), in der sich wiju
herauslösen läßt, das Vorbild für Bugges Lesung uıu auf dem Brakteaten. Die
Fortsetzung der Brakteaten-Inschrift lautet gibu auja. Damit läßt sich auf dem Runenstein von Stentoften (Schweden) hAþuwolAfR gAf j „Haduwolf gab ein gutes Jahr”
(Düwel 2001: 21) vergleichen.
8 Der versübergreifende Reim der charakterisierenden Verben hycgean und hangian
15
Das dem Beleg bei Sidonius zeitlich nahestehende Kompositum [wêw(a)rg(a)R], dem ein altnordisches *vé-vargr entsprechen würde,
dürfte etwa “Tempelräuber” bedeuten.
Es ist einigermaßen verblüffend, daß die Glieder dieses Kompositums in einer Stabreimformel wiederkehren, die in den skandinavischen Sprachen noch fortlebt. Belegt ist sie als vargr í véum schon
am Beginn der Völsungasaga: „Da kam es aus, daß Sigi den Knecht
erschlagen und den Ermordeten versteckt hatte, und man nannte ihn
Wolf an der Weihestätte, und er durfte jetzt nicht in der Heimat
bleiben bei seinem Vater”.9 Vergleichbar erscheint ‚Elefant im Porzellanladen’. Es handelt sich also um eine brandmarkende Metapher, bei
der vargr aber eher die Bedeutung „Unhold” als „Räuber” oder die nur
nordische Bedeutung „Wolf” haben dürfte (vgl. Jacoby 1974: 118f.).10
Der Sinn ist daher nicht der gleiche, aber ein Zusammenhang wird
zwischen diesen Wortverbindungen wohl schon bestehen. Und vé hat
in beiden Fällen steigernde Funktion, den schlimmstmöglichen vargr
bezeichnend.
Auch diese zweite Benennung läßt sich auf das Bild beziehen, obwohl sie in eine Richtung führt, die dem oben angestellten Vergleich
mit Völund genau entgegengesetzt ist. Auch „Tempelräuber” kann
aber die dargestellte Notlage erklären, als Folge des Verbrechens, so
daß die Wut ohnmächtig bleiben wird. Und darüber hinaus legt es eine
Deutung für die acht das Männlein umgebenden und vollkommen
seinem Auge gleichenden Kreise nahe: Goldmünzen, die das geraubte
Gut veranschaulichen, während der Räuber zumindest seiner Kleidung
beraubt ist, vielleicht auch der Nahrung: Soll er etwa inmitten des
Goldes erfrieren und/oder verhungern? Aber womöglich signalisiert
die linke Hand nicht Schamgefühl, sondern einen noch
empfindlicheren Verlust: Qui fanum effregerit, et ibi aliqid de sacris
tulerit, ducitur ad mare, et in sabulo, quod accessus maris operire
wird beabsichtigt sein. Ein vargr „hängt” auch im Grimnirlied Str.17 westlich vom
Tor Walhalls, wie im Hamdirlied Str.19 ein vargtré westlich von Jörmunreks Burg
steht (ein Ausdruck für den Galgen, der auch im Heliand v.5563 und im Altenglischen belegt ist; siehe Jacoby 1974: 57f.).
9 Hermann 1985: 9, Kursivdruck von mir.
10 Er verweist zu der Formel aber S. 120 Anm. 34 nur auf Fynning 1971: 947, wo
VARG I VEUM für alle drei Sprachen gebucht ist. Der Ausdruck bezeichnet heute
auch einfach eine persona non grata. Es handelt sich dabei um einen in der Stabreimdichtung geläufigen Typ: Personenbezeichnung plus reimende Ortsbestimmung.
16
solet, finduntur aures eius, et castratur, et immolatur diis, quorum
templa uiolauit (Additamentum 11 de honore templorum zu der nur in
einem Druck von 1557 erhaltenen Lex Frisionum).11 Wenn diese
Bestimmung so zu verstehen wäre, daß der offenbar auch entkleidete
Tempelräuber nicht getötet, sondern vom Blutverlust geschwächt der
Flut – und damit „den Göttern” – überlassen wurde, wäre die Strafe
ähnlicher. Aber das Ohr des Männleins ist jedenfalls nicht gespalten.
Der Brakteat Nebenstedt I steuert also tatsächlich etwas zu unserem
Bild von der Religion des Nordens in der Völkerwanderungszeit bei,
aber sozusagen im Negativ.
Wie paßt nun diese Deutung von Bild und Beischrift zu dem, was
wir von den Brakteaten wirklich wissen? Sie beginnen mit Imitationen
„römisch. Goldmedaillons des 4. Jhs., die als kaiserliche Ehrenzeichen
ausgegeben wurden” (Düwel 2001: 44), und sind so erst einmal Zeugnisse für die nachhaltige Wirkung dieser Vorbilder und damit auch für
das Bild, das sich die Stämme im hohen Norden vom Kaiser machten.
Und man darf annehmen, daß auch die kaiserliche Vergabepraxis imitiert wurde. Eine Inschrift wie uiniR ik „Freund (bin) ich” (Sønder
Rind, mit einem äußerst kruden Kriegerbild) erklärt sich so – und
nicht als Kundgebung Odins (Ellmers 1970: 226 und Düwel 2001: 49)
– am einfachsten.12 Und dazu paßt das öfters belegte laþu „Einladung”
und tawol aþodu = tawo laþodu auf dem Brakteaten Trollhättan-A
(Düwel 2001: 48, Abb. 6a, mit atypischem π) an, wo „ich mache” einer Ableitung vorausgeht. Er zeigt das noch dem Kaiservorbild nahe
Brustbild eines Mannes, der in der erhobenen Hand eine Münze oder
einen Brakteaten halten dürfte. Die Deutung, daß hier „ein Brakteat,
wie die Darstellung zeigt,” der „Herbeiholung seiner tiergestaltigen
Helfer” durch Odin diene (Düwel 2001: 47), kann sich nur auf deren
Fehlen berufen.
Noch klarer auf eine solche Vergabepraxis weist die angelsächsische
Inschrift auf dem frühen, von Hines um 475 datierten Brakteaten von
Undley (Suffolk). Er kombiniert Vorder- und Rückseite eines Medail11
Nach Lex Frisionum (Eckhardt 1982: 102f.) zitiert..
Vergleiche dazu auch altenglisch goldwine für Könige. Eine schöne Studie über
die Bedeutung des Goldes in der Welt der altenglischen Heldendichtung ist Leisi
1952/53, der sie wohl mit Recht für etwas Altes hält. Königliche Geschenke nach Art
der Heldendichtung sind die meist leichtgewichtigen Brakteaten (2 – 6 Gramm) aber
nicht. Daß sie in der Regel eine Öse haben, muß nicht für Amulette sprechen, wie sie
die lange Tradition religiöser Deutungen voraussetzt.
12
17
lons und zeigt den behelmten Kopf der VRBS ROMA – aber mit Bart
– über der Wölfin mit den Zwillingen. Auf drei Binderunen folgt hier
reimend mægæ·medu „dem/der Verwandten Lohn” (Hines–Odenstedt
1987: 78f. und ebenso Eichner 1990: 316).13 Damit dürfte mehr als einem Verwandten ein solcher Brakteat zugedacht gewesen sein. Odenstedt dachte an ein „ancient equivalent of the modern mass-produced
inscribed medals, congratulatory cards, etc.”.
Und Haucks zentrales Postulat einer Umfunktionierung der Kaiserportraits zu Wodanbildern ist alles andere als plausibel.14 Denn der
„für Kunimund” hergestellte Brakteat Tjurkö I ist in dem Vers wurte
runoR an walhakurne mit der Kenning „Welschenkorn” bezeichnet
(Düwel 2001: 51f.), die erst verständlich wird, wenn man sie auf den
beim Antritt des Konsulats Goldmünzen in die Menge werfenden
Kaiser bezieht.15 Sogar die viel späteren Heldenlieder kennen noch
diesen Ursprung des Goldes: Die Schätze Gunnars im Alten Atlilied
sind kominn ór hǫ ll Kiárs (Str. 7 am Ende der Aufzählung), und im
Hildebrandslied ist mit cheisuring sogar ein pfundschweres Kaisermedaillon erinnert:16 Aus ihm sind die Armreife des Helden gemacht, die
er vom Hunnenkönig bekommen hat und nun seinem Sohn bi huldi
geben will: Eine Vergabekette, die zeigt, daß es nicht auf den
Materialwert ankam, sondern auf das im Gold materialisierte Prestige,
das letztlich vom Kaiser ausging. Der sollte ausgerechnet in der die
Völkerwanderungszeit nicht überdauernden Brakteatenmode vergessen und verdrängt worden sein? Ein so schroffer Traditionsbruch
ist unwahrscheinlich. Es soll nicht bestritten werden, daß auf den
Brakteaten ausnahmsweise ein Gott wie Tyr vorkommen kann und
13 „Noch nicht befriedigend gedeutet” (Düwel 2001: 71) sind also allein die Binderunen. Die Inschrift paßt nur nicht zur wodanistischen Brakteatendeutung und wird
deswegen beiseitegeschoben.
14 Seebold 1992 verfolgt die Weiterentwicklung des Kaiserbilds vor allem durch
Zusätze (Vogel, Eber oder Pferd, Runen) und interpretiert das als „eine Umdeutung
des römischen Kaisers zu einem idealen germanischen König” (S.304).
15 Dieses Motiv und sein Fortwirken bis hin zu Goldkenningar wie „Krakis Getreide” sollen an anderer Stelle verfolgt werden: Da lassen sich auch Kontinuität und
Wandel fassen. Wichtig ist zunächst, daß auch in walhakurn das zeitgenössische
Verständnis der Brakteaten faßbar wird. Kunimund, für den sicher mehr als das eine
erhaltene Exemplar von der Matrize gepreßt wurde, wird sie auch großzügig verteilt
haben und legte Wert darauf, an das kaiserliche Vorbild zu erinnern.
16 Das hat Norbert Wagner 1975 gezeigt. Anders als Wagner scheint es mir durchaus wahrscheinlich, daß es sich bei den bouga um ein Armreifpaar handelt.
18
daher vielleicht auch Odin zu erwarten wäre. Seiner Identifizierung
steht aber gerade der Höfler-Haucksche Wodanismus im Weg, der
Wodan oder wenigstens einen Wodan-Bezug17 überall sehen wollte
und damit blind für Unterschiede und alles andere war. Und man
sollte schon damit rechnen, daß auch ‚germanisierte’ Kaiserbilder
noch als Kaiserbilder aufgefaßt wurden.
Auf dem Brakteaten Nebenstedt I tritt jedoch an die Stelle des Kaisers ein Schurke, der Tempelgold geraubt hat und dafür leiden muß.
Gemeinsam ist ihnen der Goldbezug, aber ein stärkerer Kontrast ist
nicht denkbar. Ein so ungewöhnliches Motiv kann auch erklären, warum hier die Inschrift das Bild erläutert. Ohne sie könnten wir den Sinn
des Bildes auch gar nicht erkennen. Und ein solches Motiv läßt sich
als apotropäisch verstehen, vergleichbar mit dem auf Brakteaten öfters
belegten ‚Formelwort’ alu, dessen apotropäische Funktion „alu dem
Missetäter” am Ende der Inschrift auf der Steinplatte von Eggja (Düwel 2001: 41) erweist.18 Stattdessen erscheinen hier der Missetäter und
sein Schicksal selbst. Das dem goldhütenden Drachen vergleichbare
„Verschlingungsungeheuer” (Hauck) der zahlreichen D-Brakteaten
könnte die gleiche Funktion haben, indem es die Verschlingung des
Missetäters – und nicht die Odins – veranschaulicht. Der leidende
Schurke dürfte damit ein in die Brakteaten-Ikonologie und -Phraseologie passendes Motiv sein.
Zugrunde liegt „Glühauge – Tempelräuber – l”19 und dem Bild vielleicht eine Sage,20 die von Goldgier und ihrer Bestrafung handelte wie
17
Sicher fernzuhalten von den Brakteaten sind Balderes uolo aus dem 2. Merseburger Zauberspruch und Freyrs Pferd Blóðughófi: Es ist keine neue Erkenntnis, daß
uolo nur auf den pullus asinae der Evangelien zurückgehen kann, der Spruch also
kein heidnisches Urgestein ist (Eichner–Nedoma 2000/01: 52ff.), und der Pferdename
weist nicht auf einen blutenden Huf – ebensowenig wie Grendel Zahnbluten hat, weil
er blódigtóð heißt: „mit blutigen Zähnen” (ebenda, 112). Pferdeheilung ist also kein
annehmbares Brakteatenthema. Die Pferde der C-Brakteaten haben oft Brust- und
Bauchgurt, was für Wagenpferde spricht und damit zu Seebolds Deutung (siehe
Anm.14) passen würde.
18 Es dürfte also den Gegensatz zu laþu bezeichnen.
19 Wollte man auch den Sinn dieser Abbreviatur erraten, so wäre nicht an das Formelwort laukaR „Lauch” (so Düwel) zu denken, sondern entweder an laþu, das im
Kontrast zu den Bezeichnungen des Männleins stünde, oder aber an „Leid”, das zu
ihnen passen würde.
20
So, wie zur gleichen Zeit in der christlichen Kunst ein Erhängter mit einem
Geldbeutel zu Füßen eben Judas ist. Römische Sage erinnert der Brakteat von Undley, und im frühen 8. Jh. kehrt mit ausführlicher Runenerläuterung die „Wölfin in der
19
später das Völundlied, das Alte Atlilied und der Waltharius.21 Darin
kann man auch eine Konstante fassen, die über die Völkerwanderungszeit hinausreicht: Goldgier war natürlich auch bei den
noch lange heidnischen Germanen im Norden verwerflich, und der
Waltharius unterscheidet sich von den altnordischen Liedern nicht in
diesem Punkt, sondern vor allem im Verzicht auf ein Rachemotiv.
Die Rückkehr zur Lesung g führt also nicht nur zu einer neuen Deutung der Inschrift und des Bildes, sondern ergibt auch eine auf den
Brakteaten meines Wissens bisher nicht vermutete Bildfunktion. Der
Brakteat Nebenstedt I bezeugt weder Thors Runenweihe (Bugge) noch
eine Runenweihe Wodans (Ellmers, Hauck und Düwel), sondern
bietet das Schreckbild eines Warg, das die Folgen der Goldgier
ausmalt.
Die Deutung der Brakteatenbilder und -Inschriften bleibt freilich ein
riskantes Geschäft an der Grenze unserer Verständnismöglichkeiten.
Sie sind uns nun einmal ferner und fremder als ihre römischen Vorbilder, und daran wird keine Anstrengung etwas ändern. Es wäre daher
auch notwendig, sie nüchterner zu betrachten, statt ihre „religionsgeschichtliche Bedeutung” als „außerordentlich hoch” zu veranschlagen
(so abschließend Düwel 2001: 55).
Literatur
Antonsen, Elmer H., 1975: A Concise Grammar of the Older Runic Inscriptions,
Tübingen.
Bugge, Sophus, 1893: Norges Indskrifter med de ældre Runer Bd.1. Christiania 18911903, 2. Lieferung.
Diederichs, Ulf (ed.), 1987: Germanische Götterlehre, 2. Auflage, Köln.
Dietrich, Franz E. Chr., 1865: Inschriften mit deutschen Runen auf den hannöverschen
Goldbracteaten und auf Denkmälern Holsteins und Schleswigs, in: Germania 10,
Stadt Rom” auf Franks Casket wieder, das auch den Kaiser Titus bei der Eroberung
Jerusalems zeigt. Das muß aber nicht bedeuten, daß Brakteat und Casket eine angelsächsische Tradition verbindet: Das Thema konnte jederzeit neu aus der fortbestehenden antiken Tradition entlehnt werden.
21 Wenn Höfler 1941 erklärte: „Nicht die Bestrafung von Schlechten verewigt das
Heldenlied, sondern den Gang großer Menschen durch große Taten, die geschehen
müssen” (in Hauck 1965: 72), ist das nur als Rückprojektion einer Verdrängung jeden
Unrechtsbewußtseins verständlich. Das leere „groß” ersetzt eine Bewertung und
verrät so das schlechte Gewissen, aber darüber triumphiert die durch nichts zu
erschütternde, geradezu masochistische Identifikation mit den alten Helden: „Nichts
ist stärker, nichts härter als sie” (S. 67).
20
257-305.
Düwel, Klaus, 1977: Die 15. Rune auf dem Brakteaten von Nebenstedt I. in: H.-J.
Häßler (ed.), Studien zur Sachsenforschung, Hildesheim, 89-96.
— 2001: Runenkunde. 3., vollständig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart/ Weimar.
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