Charlotte Behr
Orsett-D – ein neuer Brakteatenfund aus Essex
Abstract: In 2015, a gold bracteate from the 6th century was discovered in Orsett,
Essex by metaldetector. Orsett is situated on a gravel terrace above the northern bank
of the Thames valley near the estuary. A noticeably large number of early AngloSaxon settlement finds are known from Orsett itself and its neighbourhood. Whilst
most of them have only been researched very partially, the settlement of Mucking
and its two adjacent cemeteries have been excavated thoroughly and meanwhile also
published in great detail. The settlement area can be interpreted as a central place
in the 5th to 7th centuries with regional and supraregional trading links. The find of
a bracteate probably signifies that in this core area of the later kingdom of Essex the
local elite in the 6th century was in contact with other elite groups in the wider North
Sea area exchanging religious ideas as they were expressed through the iconography
of the bracteates.
Mit über 1000 völkerwanderungszeitlichen Goldbrakteaten, die bisher entdeckt
wurden und zu deren intensiven Erforschung Wilhelm Heizmann über Jahrzehnte
wesentlich beigetragen hat, sind bestimmte Muster ihrer Verbreitung, Ikonographien,
Inschriften, Herstellung und Fundkontexte seit langem untersucht und bekannt.
Auch wenn jeder archäologische Fund neu und anders ist und so, wie er vorliegt, das
Ergebnis vieler individueller Entscheidungen in der Vergangenheit zeigt, so weisen
doch immer wieder ähnliche Funde und Fundumstände darauf hin, dass diese auf
vergleichbare Verhaltensmuster und Vorstellungen zurückgeführt werden können.
Dabei entspricht heute jeder Neufund mehr oder weniger den Erwartungen und kann
dazu dienen, erforschte Muster zu bestätigen, möglicherweise zu verfeinern und zu
ergänzen, oder aber er wirft neue Fragen auf und erfordert neue, revidierte Erklärungsmodelle für seine Interpretation.
Der Brakteatenneufund des Jahres 2015 aus dem ostenglischen Orsett (Abb. 1
und 2), der im fortlaufenden Ikonographischen Katalog der Goldbrakteaten die
Nummer 659 trägt, entspricht in Ikonographie, technischen Details und Fundort
bekannten Schemata.1 Sein Fundort erweitert jedoch das bekannte Verbreitungsgebiet von Brakteatenfunden im frühen angelsächsischen England, denn es ist erst der
zweite Goldbrakteat aus der Grafschaft Essex nach dem 1976 entdeckten Einzelfund
aus Jaywick Sands, dessen Typ ungeklärt ist (IK 285).2 Möglicherweise stammt auch das
1 Im folgenden als IK abgekürzt.
2 Die Ikonographie der Brakteaten war in einem hohen Maß standardisiert, so dass bereits 1869 der
schwedische Archäologe Oscar Montelius die heute noch gültige Klassifikation von Brakteaten’typen’
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Abb. 1: Vorder- und Rückseite des Goldbrakteaten aus Orsett, Essex (IK 659),
Dm 24,1 mm. © The Trustees of The
British Museum.
2005 gefundenen D-Brakteatenmodel (IK 609) aus Essex, dessen Fundort als Metalldetektorfund jedoch geheimgehalten wird und das nur als ‘Essex/Hertfordshireshire
border’ bekannt ist.3 Doch trägt der Fund aus Orsett darüber hinaus auch ein weiteres
Indiz für die Annahme bei, dass in diesem Gebiet Mitglieder einer frühen lokalen Elite
tätig waren. Mit seinen Fundumständen fügt er zudem neue Details zur Interpretation
der Verwendung von Brakteaten im angelsächsischen England bei.
Der Anhänger wurde am 27. Mai 2015 mit einem Metalldetektor in einem Feld
ohne weitere Beifunde entdeckt.4 Er ist fast vollständig erhalten, nur einige Teile des
gebördelten Golddrahtes, mit dem die Goldscheibe ursprünglich umgeben war und
der nun zum Teil lose ist, fehlen. Der Golddraht hat deutliche Abnutzungsspuren,
wie auch die Öse, die aus sechs Wulsten bestand. Sie war auf beiden Seiten auf der
Scheibe aufgelötet und verdeckte dabei den oberen Teil des Tierkopfes. Golddraht
und Öse gleichen in Machart und Fixierung den kentischen Goldbrakteaten.
Der Anhänger ist an zwei Stellen stark verbogen, so dass die Darstellung teilweise verborgen ist. Die Verformungen wirken so, als sei der Anhänger bereits vor
der Niederlegung gefaltet worden und nicht erst, als er bereits in der Erde war, etwa
durch die Einwirkung von einem Pflug. Das Goldblech wurde nach seiner Entdeckung
nicht wieder aufgebogen, um den Modelabdruck vollständig sichtbar zu machen, da
die Knicke als Teil der ‘Biographie’ des Objektes interpretiert werden und deswegen
erhalten bleiben sollen. Jedoch ist auf der Rückseite ein deutlicher Abdruck, der für
die Rekonstruktionszeichnung hilfreich war.5
definierte und sie mit A bis F bezeichnete. Das Motiv der A-Brakteaten ist ein anthropomorphes Haupt
im Profil, B-Brakteaten sind gekennzeichnet von einer oder mehrerer anthropomorphen Figuren,
C-Brakteaten zeigen ein anthropomorphes Haupt über einem Vierbeiner und F-Brakteaten nur einen
Vierbeiner. Zu diesen Darstellungen können begleitende Tiere, abstrakte Zeichen und Inschriften hinzugefügt sein. D-Brakteaten sind charakterisiert von einem oder mehreren in sich oder ineinander
verschlungener Tiere. (Munksgaard 1978, 338). Es gibt nur sehr wenige Brakteaten, die keinem dieser
Typen zugeordnet werden können.
3 Behr 2010, 48–49.
4 Portable Antiquities Scheme ESS-4FF212: https://finds.org.uk/database/artefacts/record/id/730248
Treasure 2015T471.
5 Der Brakteat wurde, nachdem er als Schatzfund registriert und evaluiert worden ist, mittlerweile an
den Finder zurückgegeben und nicht von einer der öffentlichen archäologischen Sammlungen erworben. Es ist also fraglich, ob er für weitere archäologische Forschungen in der Zukunft zur Verfügung
stehen wird. Ein Photo des nun aufgebogenen Anhängers findet sich in Essex Detector Society (find of
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Abb. 2: Rekonstruktionszeichnung des Orsett-Brakteaten von Jane Sandoe.
Der Durchmesser ist 24,1 mm und das Gewicht, noch im ungereinigten Zustand,
2,35 g. Der Goldgehalt beträgt an der Oberfläche 88–89%, außerdem 10–11% Silber
mit einem geringen Anteil Kupfer und entspricht damit den durchschnittlichen Goldund Silberanteilen der D-Brakteatenfunde aus Kent.6
Auch ikonographisch ist Orsett-D ein enger Verwandter mehrerer Funde aus
Kent und kann in Analogie zu ihnen ins frühe 6. Jahrhundert datiert werden. Das
Motiv zeigt ein in seine Gliedmaßen verschlungenes Brakteatentier, wie es typisch für
D-Brakteaten aus der Formularfamile D10 ist, die in Kent, aber auch Nordfrankreich,
Jütland und Schonen gefunden wurden.7 Der Kopf, dessen scherenförmiger Schnabel
losgelöst ist, ist nach links gewandt. Im Schnabel befindet sich ein Detail, das, vergleichbar mit sehr ähnlichen Bildelementen auf den formularverwandten kentischen
Brakteaten IK 495 aus Sarre und eventuell auch IK 456 aus King’s Field (Abb. 3), hier
ist die Darstellung um 180° gedreht, wohl ein menschliches Bein mit Fuß darstellt.
Dieses Detail ist auch auf dem jütländischen Brakteaten aus Snorup (IK 521) dargestellt. Auf diesem Brakteaten sind auch die kleinen Zacken, die den Kopf rahmen,
abgebildet, die sich auf Orsett-D und den kentischen Anhängern aus Sarre, IK 495 und
the month, May) http://www.essexdetectorsociety.org/page15.htm. Morten Axboe, Kopenhagen, sei
auch an dieser Stelle für seinen Hinweis gedankt.
6 La Niece 2015; s. zum Vergleich Chadwick Hawkes/Pollard 1981, 351–362 und Behr 2010, passim.
Goldbrakteaten aus anderen Gegenden Englands haben tendenziell geringere Goldanteile.
7 Pesch 2007, 286–290.
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Abb. 3: Goldbrakteat aus King’s Field,
Kent (IK 456), Dm 27,8 mm.
© The Trustees of The British Museum.
494 und Bifrons, IK 411, wie auch auf IK 440 aus Hérouvillette, Normandie, wiederfinden. Ein Teil des hinteren Beins ist nur sehr schlecht zu erkennen und mit Hilfe des
Abdruck auf der Rückseite und in Analogie zu anderen Darstellungen der Verwandten
aus der Formularfamilie auf der Zeichnung mit einem Fuß rekonstruiert. Die engen
ikonographischen und technischen Parallelen mit den kentischen Funden lassen vermuten, dass Orsett-D aus demselben Werkstattkontext stammt.8
Der Fundort in Essex entspricht insofern den meisten anderen englischen Brakteatenfundorten, als sie entweder nahe der Ostküste oder in der Nähe eines Flusses, der
an der Ostküste ins Meer mündet, gefunden wurden. Der D-Brakteat wurde etwa 5 km
vom nördlichen Themseufer entfernt entdeckt. Orsett gehört zur Verwaltungseinheit
Thurrock, die direkt östlich an Greater London anschliesst. Der Ort Orsett liegt auf
einer Kiesterrasse oberhalb des Themsetales, worauf wohl auch der Ortsname, der
seit dem 10. Jahrhundert belegt ist, hinweist: aengl.‘ora’ bedeutet in etwa Böschung,
Uferwall und aengl. ‘sea∂’ Grube, Wasserloch und könnte auf die umliegende Marsch
anspielen.9 Schon in römischer, möglicherweise vorrömischer Zeit führte ein wichtiger Nord-Süd verlaufender Verbindungsweg an Orsett vorbei nach Chelmsford, der
von Higham in Kent kommend vermutlich an einer Stelle bei East Tilbury die Themse
überquerte, wo sie sich verengt.10
Aus dem Feld, in dem der Brakteat entdeckt wurde, sind bisher ausser einer silbernen verzierten Riemenzunge aus dem 9. Jahrhundert keine weiteren angelsächsischen Funde bekannt geworden.11 Doch gibt es in Orsett bereits andere Fundstellen
mit angelsächsischen Siedlungsspuren, die in mehreren archäologischen Ausgrabungen untersucht worden sind.12 Bei Orsett Cock, benannt nach dem lokalen Pub,
knapp 2 km östlich des Brakteatenfundorts wurden bei Grabungen 1976 ausser eisenzeitlichen und römischen Siedlungsfunden auch fünf Grubenhäuser, eine kleine
8 Pesch 2007, 36.
9 Reaney 1935, 165.
10 Thornhill 1976, 123; Hirst/Clark 2009, 442–444.
11 Portable Antiquities Scheme ESS-71CA07 https://finds.org.uk/database/artefacts/record/id/607060
12 Carter 1998, 1–10.
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Grube und eine Rinne ausgegraben, in denen Keramik gefunden wurde, die ins 5. und
6. Jahrhundert datiert werden kann und enge Parallelen mit Keramikfunden aus dem
nahegelegenen Mucking aufweisen.13 1983 wurden im östlich direkt daran anschliessendem Areal, das nach Barrington’s Farm benannt ist, noch drei weitere Grubenhäuser, zwei Pfostenlöcher und ein Graben gefunden, wiederum mit angelsächsischer Keramik, außerdem einigen wenigen Eisenfunden, darunter einer Klinge mit
Tülle, Schlacke, einem Fragment einer Webgewichts, sowie einer Spindel.14 Obwohl
die Befunde sehr fragmentarisch sind, schloss Tyler, dass sie Teil einer beachtlichen
Siedlung gewesen waren.15
Wenige Hundert Meter südlich dieser Siedlungsspuren wurden 1975 bei Ausgrabungen einer neolithischen Anlage auch zwei angelsächsische Ringgraben-Gräber
untersucht, die ins 7. oder 8. Jahrhundert datiert werden können.16 In einem der
Gräber wurde eine Tasche oder ein Bündel mit einer außergewöhnlichen Ansammlung von verschiedenen Metallgegenständen und einer Schieferperle gefunden, die
am ehesten als ungewöhnliche Amulettsammlung interpretiert werden kann.17
Die Entdeckungen von Orsett sind keine vereinzelten angelsächsischen Funde,
sondern gehören zu einer Häufung von Fundstellen in Thurrock, die auf relativ dichte
Besiedlung in den ersten nachrömischen Jahrhunderten, die generell von wenigen
und oft schwer datierbaren archäologischen Funden charakterisiert sind, hinweisen.18 Aus einem Umkreis von etwa 5 km sind angelsächsische Funde aus North Stifford, Chadwell St Mary, West Tilbury, Linford and Mucking bekannt.
Zu dem Fundplatz Ardale School in North Stifford, knapp 5 km westlich von
Orsett gelegen, gehören neben einem Pfostengebäude und fünf Grubenhäusern eine
Brand- und neun Erdbestattungen. Mit Hilfe der Grabbeigaben und Scherben, die für
die frühmittelalterliche Keramik typische Magerung mit Gras aufweisen, lassen sich
die Siedlungsspuren ins 6. und 7. Jahrhundert datieren.19 Keramikscherben datieren
auch das Pfostengebäude im nahe gelegenen Stifford Clays in diese Zeitperiode.20 Gut
2 km südlich von Orsett wurden in Chadwell St Mary mehrere Fragmente verzierter
Urnen, ein Grubenhaus sowie einige Gruben und Pfostenlöcher gefunden.21 Aus der
benachbarten Fundstelle Gun Hill in West Tilbury stammt ein Grubenhaus, das mit
13 Carter 1998, 70–73, 102–06; Baker 2006, 113.
14 Milton 1987.
15 Tyler 1996, 108.
16 Hedges/Buckley 1985, 5.
17 Webster 1985.
18 Baker 2006, 131.
19 Wilkinson 1988, 42–57; Hamerow 1993, 95; Mirrington 2013, 239 betonte die besonders starke und
frühe Konzentration dieser Keramikware in den Siedlungen im Raum Thurrock.
20 Wilkinson 1988, 23–24; Hamerow 1993, 95.
21 Hirst/Clark 2009, 448.
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Hilfe von Scherben ins 6. Jahrhundert oder etwas später datiert werden kann. Weitere
Grubenhäuser zeichnen sich durch Bewuchsspuren ab.22
Tilbury wurde bereits von Beda in seiner Historia Ecclesiastica erwähnt, denn
hier errichtet Bischof Cedd, während er die Ostsachsen unter König Sigeberht um die
Mitte des 7. Jahrhunderts missionierte, ein Kloster ‘quae Tilaburg cognominatur… in
ripa Tamensis’ (HE III 22). Die genaue Lage des Klosters, ob in East oder West Tilbury,
konnte bisher nicht nachgewiesen werden.23 Auch wenn Beda nur die Klostergründung ohne weitere Details erwähnt, so ist doch anzunehmen, dass sie, in Analogie
mit anderen Klostergründungen während der Missionsperiode, auf königlichem Land
stattfand.24 Eventuell gehörte das Land in Tilbury bereits im frühen 6. Jahrhundert,
lange bevor ostsächsische Könige überliefert sind, Angehörigen der Oberschicht.25
Die bei weitem bedeutendste der angelsächsischen Siedlungen um Orsett ist
Mucking. Sie lag knapp 2 km östlich von Orsett Cock auch auf einer Kiesterrasse über
dem Flußbett der Themse. Vom Meer kommend ist es die erste, etwa 30 Meter hohe
Erhebung am nördlichen Ufer der Themsemündung und damit von herausragender
strategischer Bedeutung.26 Bei den Ausgrabungen, die 13 Jahre, von 1965 bis 1978,
dauerten, wurde das Areal intensiv archäologisch untersucht, bevor es durch den
fortschreitenden Kiesabbau zerstört wurde.27 Während dieser Grabungen wurden
zahlreiche Hinweise auf Siedlungsphasen seit dem Neolithikum entdeckt.28 Reiche
Funde der provinzialrömischen Siedlung mit vier zeitgleichen Friedhöfen konnten
ins 1. und 2. Jahrhundert datiert werden, ab der Mitte des 3. Jahrhunderts werden die
Funde jedoch sehr spärlich. Kontinuität mit der angelsächsischen Siedlung konnte
nicht festgestellt werden.29
Die frühesten Indizien für angelsächsische Besiedlung haben Hirst und Clark mit
Hilfe einiger sehr früher Gräber und Lucy auf Grund sehr spät datierter römischer
Keramik, die in einigen frühen angelsächsischen Grubenhäusern zum Vorschein
kam, ins zweite Viertel des 5. Jahrhunderts datiert.30 Diese Siedlungsphase war wahrscheinlich zeitgleich mit der direkt westlich, jenseits eines Weges gelegenen Siedlung
in Linford, von der fünf Grubenhäuser, ein Pfostengebäude und die Gräben einer Einfriedung bekannt sind.31 Es sind damit die frühesten angelsächsischen Siedlungen,
22 Hamerow 1993, 95.
23 Mirrington 2013, 355.
24 Higham/Ryan 2013, 158–159.
25 Der älteste namentlich bekannte Ahn des ostsächsischen Königshauses war Sledd, der vermutlich
im späten 6. Jahrhundert lebte. (Yorke 1990, 46).
26 Hamerow 1993, 2–4; Hirst/Clark 2009, 444.
27 Hamerow 1993, 1.
28 Evans/Appleby et al 2016.
29 Lucy/Evans et al 2016.
30 Hirst/Clark 2009, 683–4; Lucy 2016.
31 Barton 1962.
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die bisher untersucht werden konnten. Die jüngsten angelsächsischen Funde aus
Mucking stammten aus dem späten 7. Jahrhundert, die Siedlung wurde wohl Ende
des 7. oder Anfang des 8. Jahrhunderts aufgegeben und das Areal anschliessend landwirtschaftlich genutzt.32
Aus diesen drei Jahrhunderten konnten mindestens 23 Pfostengebäude, 203
Grubenhäuser und 27 Gruben identifiziert werden. Außerdem konnten zwei Friedhöfe untersucht werden, wobei Friedhof 1 mit 51 bis 63 Erdbestattungen nur unvollständig ergraben werden konnte, dagegen wurde Friedhof 2 mit 468 Brand- und 336
Erdbestattungen vollständig erfasst. Die Grabfunde der beiden Friedhöfe mit einigen
reich ausgestatteten Gräbern, jedoch ohne Goldfunde, zeigen eine sozial deutlich
gegliederte Gesellschaft. Dieser Befund spiegelte sich in den Siedlungsfunden jedoch
nicht wider.33 Während die Entwicklung der Siedlung und die Beziehung zwischen
der Siedlung und den Friedhöfen noch kontrovers diskutiert werden, so kann man
doch ein gutes Bild von den wirtschaftlichen Aktivitäten der Bewohner gewinnen.34
Abgesehen von Hinweisen auf landwirtschaftliche Tätigkeiten, fanden sich zahlreiche archäologische Belege für verschiedene Handwerke. Dazu gehören Werkzeuge für
Holzverarbeitung, für die Bearbeitung von Knochen, wie auch für Schmiedearbeiten,
wobei der Fund einer Fibelgussform zeigt, dass nicht nur Eisen verarbeitet wurde,
sondern auch Buntmetalle. Lederverarbeitung und Textilarbeiten spielten ebenfalls
eine wichtige Rolle.35 Zahlreiche Grabbeigaben und Siedlungsfunde, wie etwa römische Glas -und Bronzegefäße, Keramik aus Nordfrankreich, Elfenbein oder Almadine
bezeugen, dass die Bewohner von Mucking Zugang zu regionalen und überregionalen
Austausch- und Handelsnetzen hatten. Dabei zeigen sich besonders bei der Keramik
der frühen Phase im 5. und 6. Jahrhundert enge Verbindungen nach Kent, in den ElbeWeser-Raum, nach Nordfrankreich und der Provinz Drenthe in den Niederlanden.36
Powlesland erwog bereits 1997, dass die Siedlung Mucking wegen ihrer relativen
Größe und großen Zahl importierter Gegenstände die Funktion eines Zentralortes ausgedehnter landwirtschaftlicher Grundbesitztümer innegehabt habe.37 Die landwirtschaftliche Produktion lieferte wohl genug Überschuss um die Importe zu ermöglichen.
Während die archäologischen Funde, die strategische und verkehrsgünstige Lage
und die dichte Besiedlung es wahrscheinlich machen, dass Mitglieder einer lokalen
Elite in Orsett, Mucking und Umgebung tätig waren, so ist es doch nicht möglich, das
Ausmaß der Einflusszone und die Organisation dieses möglichen Zentralortes näher
zu bestimmen.
32
33
34
35
36
37
Hirst/Clark 2009, 445.
Hirst/Clark 2009, 761.
Hirst/Clark 2009, 764–766.
Hirst/Clark 2009, 764–766.
Hamerow 1993, 314.
Powlesland 1997, 134.
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Die Umstände, unter denen Mucking und Umgebung im frühen 5. Jahrhundert
wieder besiedelt wurden und die Herkunft der neuen Bewohner und ihrer Anführer
werden kontrovers diskutiert. Die archäologischen Funde zeichnen sich durch spätrömische, kontinental-germanische und neue, weder im provinzialrömischen noch
in germanischen Kontexten beobachtete Merkmale aus. So ist etwa das zeitliche und
räumliche Nebeneinander von Brandbestattungen, wie sie in kontinental-germanischen Gebieten und Erdbestattungen, die typisch waren für die spätrömischen Friedhöfe, ungewöhnlich. Auch die Grabbeigaben, um nur einerseits die Gürtelbeschläge
zu nennen, die als Zeichen römischer militärischer oder ziviler Autorität verstanden
werden und andererseits die Fibeln, die germanische Formen haben, demonstrieren
anschaulich die Komplexität der Bevölkerungsentwicklung.
Die archäologischen Beobachtungen sind mit unterschiedlichen Szenarien erklärt
worden. Vertreter der spätrömischen Provinzialverwaltung oder einzelner civitates
könnten Söldner aus dem Weser-Elbe-Raum angeworben haben, nachdem die römische Armee abgezogen worden war und keinen Schutz gegen Feinde und Piraten
mehr bot, und diese am Themseufer angesiedelt haben. Es könnten jedoch auch neue
Männer aus der Provinz das Machtvakuum nach dem Ende der römischen Herrschaft
als Chance genutzt haben, Gefolgsleute anzuwerben, Land zu besetzen und Herrschaft
auszuüben. Alternativ könnte es auch möglich gewesen sein, dass Angreifer oder Einwanderer aus dem germanischen Raum die Möglichkeit sahen, Land zu nehmen, sich
unter ihrem Anführer zu etablieren und römische Objekte und Sitten anzunehmen,
etwa um ihre Legitimation zum Ausdruck zu bringen.38 Der Zusammenbruch der provinzialrömischen Verwaltung mit dem Verfall der dazu nötigen Infrastruktur macht es
wahrscheinlich, dass die politische Organisation im 5. und 6. Jahrhundert auf lokale
und personenbezogene Strukturen konzentriert war.39
Der Brakteat aus dem frühen 6. Jahrhundert ist ein in Thurrock sehr seltener Goldfund und gehörte am ehesten wohl zu einem Mitglied dieser neuen nachrömischen
Elite, das mit diesem Anhänger und seiner spezifischen Ikonographie Zugehörigkeit
zu der religiösen Gedankenwelt der Brakteaten zum Ausdruck brachte. Ikonographie
und technische Details bestätigen die schon lange beobachteten engen Verbindungen
der materiellen Kultur dieser süd-östlichen Region Essex mit derjenigen Kents.40 Doch
im Gegensatz zu den Brakteatenfunden aus Kent, die stets in reich ausgestatteten
Frauengräbern als Teil der Halskette oder des Brustschmucks entdeckt worden waren,
ist Orsett-D ein Einzelfund.41 Aussagen über Fundumstände eines Metalldetektorfundes sind immer bis zu einem gewissen Grad mit Unsicherheit behaftet, doch deutet
das Fehlen jeglicher Funde in der direkten Umgebung der Fundstelle, die auf einen
38
39
40
41
Zusammenfassend Hirst/Clark 2009, 766–770; Lucy 2016.
Scull 1992, 14; Nicolay 2014, 350.
Hamerow 1993, 61–63, 95–96.
Chadwick Hawkes/Pollard 1981, 331–337.
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Orsett-D – ein neuer Brakteatenfund aus Essex
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aufgepflügten Friedhof hinweisen könnten, daraufhin, dass es sich um eine rituelle
Zerstörung und Niederlegung des Anhängers gehandelt haben könnte, vergleichbar
etwa den Funden aus Undley in Suffolk (IK 374), Binham in Norfolk (IK 630,2) oder
Bridlington Area in Humberside (IK 607), die auch verbogen oder gefaltet als Einzeloder Hortfunde entdeckt worden waren.42 Das jedoch würde bedeuten, dass dem
Anhänger, der vermutlich aus einem kentischen Werkstattkontext stammte, in Essex
eine unterschiedliche rituelle Funktion und Bedeutung gegeben wurde.
Abgesehen von ihrer schmückenden Rolle hatten Ikonographie und Material
der goldenen Anhänger vermutlich noch weitere Konnotationen. Dazu gehörten ihre
Rolle als Amulette, ihre Sichtbarmachung religiöser Ideen und Mythen, ihre stilistischen Verbindungen nach Skandinavien oder auch ihre formellen Beziehungen zu
römischen Vorbildern. Orsett-D ist kein Zeugnis für skandinavische Einwanderer,
sondern ein Indiz dafür, dass die herrschende Gruppe im Raum Orsett/Mucking nicht
nur Teil eines regionalen und überregionalen Handelsnetzwerkes war, sondern auch
teilhatte an der Gedankenwelt der Brakteaten, wie sie im Medium ihrer Bilder mit
Angehörigen anderer Eliten im Nordseeraum ausgetauscht wurden.43
Die Assoziation von Brakteaten mit Zentralorten und der Anwesenheit von
Mitgliedern der gesellschaftlichen und politischen Elite ist in Skandinavien, Norddeutschland und der niederländischen Küste seit langem beobachtet worden.44 Auch
im angelsächsischen England lassen sich Verbindungen zwischen Brakteatenfunden
und Orten, die mit lokalen Eliten, später auch Königen in Verbindung standen, diskutieren. Zu den Beispielen aus dem östlichen Kent in Eastry und Lyminge, aus Suffolk
in Lakenheath und Rendlesham und aus Norfolk in Binham kann man wohl nun auch
Orsett/Mucking im süd-östlichen Essex zählen.45
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